Streit und Streitvermeidung im Familienunternehmen: Festschrift für Lutz Aderhold zum 70. Geburtstag 9783504387235

Aus Anlass des 70. Geburtstags von RA Prof. Dr. Lutz Aderhold haben sich über 30 Freunde, Kollegen und Weggefährten des

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Streit und Streitvermeidung im Familienunternehmen: Festschrift für Lutz Aderhold zum 70. Geburtstag
 9783504387235

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Streit und Streitvermeidung im Familienunternehmen Festschrift für Lutz Aderhold

STREIT UND STREITVERMEIDUNG IM FAMILIENUNTERNEHMEN FESTSCHRIFT FÜR LUTZ ADERHOLD ZUM 70. GEBURTSTAG herausgegeben von

Hubertus Freiherr von Erffa Gunther Lehleiter Thorsten Prigge

2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06062-6 ©2021 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Am 28.03.2021 feierte Lutz Aderhold seinen 70. Geburtstag. Die alles überschattende pandemische Situation verhinderte leider, eine angemessene Feier auszurichten, so dass allen nur die Möglichkeit blieb, ihm aus der Ferne zu gratulieren. Diese Festschrift zu seinem 70. Geburtstag ist als Dank für sein Wirken und die gemeinsame Zeit entstanden. Lutz Aderhold ist im März 1951 in Magdeburg geboren, von wo aus ein Umzug nach Düsseldorf erfolgte. Er machte dort im Frühjahr 1970 das Abitur und begann das Studium der Jurisprudenz noch im gleichen Jahr an der Universität zu Köln. Er betrat damit Neuland, war doch bis dahin keiner in seiner Familie in dieser Profession unterwegs. Beide Staatsexamina legte er mit hervorragenden Noten ab –  das erste sogar als bestes Examen in NRW –, um sich fortan seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Harm Peter Westermann und seiner Dissertation an der Universität Bielefeld zu widmen. Noch heute wird „Das Schuldmodell der BGB-Gesellschaft“ als Standardwerk in dem Bereich zitiert. Der Versuchung, in die Lehre zu gehen, hat er widerstanden, ohne damals schon zu wissen, dass er viele Jahre später mittels Honorarprofessur an der Universität zu Münster tätig sein würde. Seine berufliche Tätigkeit begann er in Dortmund in der Kanzlei Trawny und Spieker. Nach Zusammenschlüssen zur Sozietät Aulinger & Spieker folgte per 01.01.2000 der Wechsel in die Aderhold v. Dalwigk Knüppel Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, womit erstmals eine Kanzlei seinen Namen trug. Nach zahlreichen erfolgreichen Jahren als „Rechtsarm“ der RölfsPartner-Gruppe machte sich dieser „Rechtsarm“ unter dem bis heute geführten Namen Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH selbständig. Lutz Aderhold selbst wurde früh Notar und hat sich seit vielen Jahren auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts und der Schiedsgerichtsbarkeit als feste Größe etabliert. Recht bald zog es ihn auf das Feld der Familiengesellschaften. Hier konnte Lutz Aderhold seine unternehmerische Neigung auf Augenhöhe mit den Mandanten und profundem Verständnis deren jeweiliger Situation zu guten, oftmals auch von den Mandanten nicht im ersten Zug bedachten Lösungen führen. Tritt er heute auf, begleitet ihn der Ruf des „elder statesman“, was sich indes nicht auf die (nur teilweise) grau ge­ wordenen Haare stützt, sondern sich durch seinen immensen Erfahrungsschatz begründet. Wir danken ihm für seine hohe soziale Kompetenz, mit der er – trotz seines gewaltigen beruflichen Arbeitspensums – die Geschicke der Kanzlei entscheidend mitbestimmt. Frei von Allüren und Attituden ist Lutz Aderhold ein geduldiger Zuhörer und ein stets vermittelnder kluger Kopf, was nicht selten auch Gegner anerkennend nach Mandatsbeendigung anmerken. Immer wieder führte dies dazu, dass ein früherer Kontrahent der künftige Mandant wurde. Neben der schon zeitintensiven beruflichen Tätigkeit kam die noch aus universitären Zeiten herrührende wissenschaftliche Tätigkeit nie zu kurz. Lutz Aderhold kommentiert seit vielen Jahren das Gemeinschaftsrecht im Erman, das Recht der BGB-Gesellschaft im Handbuch der V

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Vorwort

Personengesellschaften und ist Co-Autor weiterer Veröffentlichungen. Nach Jahren der Lehrtätigkeit an der Universität zu Münster folgte die Verleihung der Honorarprofessur im Jahr 2009. Mit einem gewissen Bedauern hat er mit Erreichen der Altersgrenze das Notariat abgeben müssen, steht aber den jüngeren Notarkollegen gerne mit Rat und Tat zur Seite. Erst jüngst hat er begonnen, mit Rücksicht auch auf die Familie, ein bisschen kürzer zu treten, um dabei schmunzelnd festzustellen, dass ihm das schwer fällt. Lutz Aderhold ist mit Leib und Seele Anwaltspersönlichkeit, auch wenn manchmal zu hören ist, dass das Segeln an der Möhne aber ein bisschen mehr werden dürfe. Diese Festschrift ist von vielen Freunden, aber auch der akademischen Welt begleitet worden. Im Mittelpunkt steht mit dem „Recht der Familiengesellschaften“ das besondere Steckenpferd des Jubilars, das aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet wird. Die Herausgeber, ihre Sozien und die Autoren ehren mit dieser Festschrift einen herausragenden Menschen, der mit seiner Begabung und seinem gewinnenden Wesen der Grundpfeiler einer beachteten Anwaltskanzlei, ein guter Freund und wichtiger Ratgeber ist. Dortmund, Düsseldorf und Leipzig, im Mai 2021 Dr. Gunther Lehleiter LL.M.

Thorsten Prigge

Hubertus Freiherr von Erffa

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Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Lutz Batereau Das Aufsichtsratsmandat in der Kreditgenossenschaft – ein Spagat zwischen Reputation und Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Winfried Born Zwischen Luxus und Askese – Bandbreiten bei Ehegatten- und Kindesunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Michael Brenscheidt Erwerb von Beteiligungen an Aktiengesellschaften in Osteuropa nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Barbara Dauner-Lieb Die Ehegatteninnengesellschaft – Ein Fall geglückter Rechtsfortbildung?! . . 59 Thomas Feltes Polizeigewalt, ein starker Staat und die Ängste der Deutschen − Wo stehen wir im Jahr 2021? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Barbara Grunewald Die Notgeschäftsführungsbefugnis – ein allgemeines Prinzip des Bürgerlichen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Heribert Heckschen Die Abfindung des ausscheidenden GmbH-Gesellschafters . . . . . . . . . . . . . . 101 Maike Hellnick Die Folgen der Erbschaftsteuer für Familienunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . 131 Ulrich Irriger Unbeabsichtigte Beteiligungsdisparität in als GmbH & Co. KG verfassten ­Familienunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Raphael Koch Vorausschauende Vertragsgestaltung in Familienunternehmen – Im Spannungsfeld zwischen der Erhaltung des Familiencharakters und der Vermeidung lästiger Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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Inhalt

Michael Kohler Streitvermeidung in Familienunternehmen durch eine Familienstiftung . . . 181 Wilhelm Krekeler Strafrechtliche Risiken bei der Beratung von Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . 199 Dirk Helge Laskawy und Friedrich Vosberg Mediation – Ein Verfahren zur Vermeidung und Beilegung von Streit in ­Unternehmerfamilien und Familienunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Gunther Lehleiter und Christian Hoppe Die Abschreibung von Geschäftsguthaben – Theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung in der Genossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Karlheinz Lenkaitis Ehebezogene Zuwendungen im Pflichtteilsergänzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . 289 Walter G. Paefgen Der Sitz der Gesellschaft bürgerlichen Rechts − de lage lata und de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Tido Park Familienunternehmen und Wirtschaftsstrafrecht – eine Fallstudie . . . . . . . . 331 Thomas Rautenberg Planung eines neuen Stadtteils in den Sechzigern – Ein Vergleich mit der ­Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Jochem Reichert Compliance in mittelständischen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Thomas Reichmann Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen Das integrierte, an der Unternehmensgesamtplanung ­orientierte ­Risiko-Controlling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Georg Rotthege Zur Geschäftsführer-Abberufung in der paritätischen ­Zwei- Mann-GmbH 407 Ingo Saenger Plädoyer für eine Neujustierung der Ausfallhaftung für ausstehende ­Stammeinlagen bei der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Susanne Szameitat und Barbara Wenker Familienunternehmen in der Sanierung, besondere Hürden und Chancen . 437 Herbert Tschersich Die funktionelle Zuständigkeit bei den Gerichten für „Streitigkeiten aus ­Versicherungsvertragsverhältnissen“ im Sinne von § 72a Satz 1 Nr. 4 und § 119a Satz 1 Nr. 4 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 VIII

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Inhalt

Georg van Hall Besonderheiten der Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften . . 475 Jürgen Weidemann Der Strafrichter soll es richten, oder: Lehren aus Leerverkäufen bei Cum-ex-Geschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Wolfram Wessely Eine Projektentwicklung als Abenteuerreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Harm Peter Westermann Recht und Ethos in der (künftigen) rechtsfähigen „FreiberuflerPersonengesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Udo Wittler Familienunternehmen in der Krise „Hilfe durch eine unbekannte Größe, die Genossenschaft?“ . . . . . . . . . . . . . . . 537

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Autorenverzeichnis Batereau, Lutz Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Born, Winfried Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht bei Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Dortmund, Honorarprofessor an der Ruhr-Universität ­Bochum Brenscheidt, Michael Dr. iur., LL.M. (Texas Law), Wirtschaftsjurist Dauner-Lieb, Barbara Dr. Dr. h. c., Universitätsprofessorin, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht und Europäische Privatrechtsentwicklung an der Universität zu Köln Feltes, Thomas Dr. iur., M.A. (Päd.), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhles für Krimi­ nologie und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum (bis 2019), Rechtsanwalt und Gutachter Grunewald, Barbara Dr., Emeritierte Professorin an der Universität zu Köln, Direktorin des Instituts für Gesellschaftsrecht Heckschen, Heribert Dr., Notar, Heckschen & van de Loo – Notare, Honorarprofessor an der TU Dresden Hellnick, Maike Steuerberaterin, Geschäftsführerin der H.H. Unternehmensgruppe, Dortmund Hoppe, Christian Dr., Rechtsanwalt und Partner bei Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Dortmund Irriger, Ulrich Dr., Rechtsanwalt und Notar, Partner bei Kümmerlein, Simon & Partner Rechtsanwälte mbB, Essen Koch, Raphael Dr., LL.M. (Cambridge), EMBA, Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Unternehmensrecht, Europäisches Privat- und Internationales Verfahrensrecht an der Universität Augsburg

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Autorenverzeichnis

Kohler, Michael Dr., Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, Partner bei audalis Kohler Punge & Partner, Dortmund/Berlin Krekeler, Wilhelm Dr., Rechtsanwalt, Krekeler Rechtsanwälte, Dortmund Laskawy, Dirk Helge Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Mediator (Universität Bielefeld) und Partner bei Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Leipzig/München Lehleiter, Gunther Dr., LL.M., Rechtsanwalt, Geschäftsführender Gesellschafter bei Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Dortmund Lenkaitis, Karlheinz Dr., Rechtsanwalt und Notar a.D., AULINGER Rechtsanwälte | Notare, Bochum/ Essen, Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Paefgen, Walter G. Dr. iur., Außerplanmäßiger Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen Park, Tido Dr., Rechtsanwalt und Partner bei PARK | Wirtschaftsstrafrecht. Rechtsanwälte PartGmbB, Dortmund, Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Uni­ versität Münster Rautenberg, Thomas Dr. iur., Rechtsanwalt und Of Counsel bei Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Frankfurt am Main Reichert, Jochem Dr., Rechtsanwalt und Partner bei SZA Schilling, Zutt & Anschütz Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Mannheim, Honorarprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Reichmann, Thomas Dr., Universitätsprofessor (em.) an der TU Dortmund, geschäftsführender Gesellschafter der CIC GmbH in Dortmund sowie Gründungsherausgeber der Zeitschrift Controlling Rotthege, Georg Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, ROTTHEGE | WASSERMANN PartGmbB von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, Düsseldorf/Essen Saenger, Ingo Dr. iur., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Gesellschaftsrecht, Direktor des Instituts für Internationales Wirtschaftsrecht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster XII

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Szameitat, Susanne Dr., Rechtsanwältin, Partnerin bei Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Düsseldorf Tschersich, Herbert Dr., Vorsitzender Richter am Landgericht Dortmund a.D. van Hall, Georg Dipl.-Kfm., Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, Dozent an der Akademie für Steuern, Recht und Wirtschaft, Köln Vosberg, Friedrich Rechtsanwalt und Counsel bei Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Leipzig Weidemann, Jürgen Dr., apl. Professor an der Ruhr-Universität Bochum, Rechtsanwalt, Kanzlei ­Weidemann und Pigorsch, Dortmund Wenker, Barbara Dr., Rechtsanwältin und Partnerin bei Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Düsseldorf Wessely, Wolfram Dr., Rechtsanwalt, Geschäftsführender Gesellschafter einer Immobilienfonds­ gesellschaft Westermann, Harm Peter Dr. iur., Dres. iur. h. c., Universitätsprofessor (em.) an der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen Wittler, Udo VV a.D. der BAG Bankaktiengesellschaft Hamm, einer auf Restrukturierung, ­Sanierung und Abwicklung von notleidenden Krediten, Immobilien und ­Beteiligungen spezialisierten Bank; GF einer Beratungsgesellschaft

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Das Aufsichtsratsmandat in der Kreditgenossenschaft – ein Spagat zwischen Reputation und Risiko Inhaltsübersicht I. Problemstellung II. Ursachen und Kompetenzen 1. Vertrauensverlust, Finanzmarktkrise, ­legislatorische Reaktion 2. Der Aufsichtsrat als Adressat a) Eignung, sachliche Kompetenz b) Zuverlässigkeit c) Weiterbildungsgebot

d) Bankaufsichtliches Regelwerk, Risikoorientierung e) Ausschussbildungspflicht? f) Evaluation, Effizienzprüfung g) Zwischenfazit 3. Prüfungsschwerpunkt, Aufsichtsrat 4. Haftungsverschärfung, Pflichtenkollision III. Schlussbemerkungen

I. Problemstellung Zum Titel der dem Jubilar zugedachten Festschrift passt ein Blick auf die genossenschaftliche Großfamilie, die ihren persönlichen Bezug unter das Motto „Einer für alle, alle für einen“ gestellt hat.1 In dieser Großfamilie haben die Mitglieder des Aufsichtsrates Sorge dafür zu tragen, dass die Geschäftsleitung integer ist, persönlich und ökonomisch auf dem Teppich bleibt, Gewinne generiert, gleichwohl davon absieht, Risiken einzugehen, die von der Genossenschaft nicht mehr autonom verkraftet werden können. Die Parallele zur Familie wird dadurch unterlegt und verstärkt, dass der Aufsichtsrat in der Kreditgenossenschaft nur aus dem Kreis der Mitglieder bzw. der Mitgliedervertreter stammen kann. Die Einbindung externer Fachleute in das Aufsichtsorgan ohne das Vorliegen einer Mitgliedschaft, d.h. unternehmensfremder Experten, wie sie bei der Kapitalgesellschaft durchaus möglich ist und deshalb ohne Rücksicht auf eine Anteilseignerschaft auch praktiziert wird, ist bei der Genossenschaft ausgeschlossen. Eine Ausnahme vom Erfordernis der Mitgliedschaft als Voraussetzung für die Wahl in den Aufsichtsrat kennt die Genossenschaft ausschließlich bei Arbeitnehmervertretern, die auch ohne Mitgliedschaft unter Beachtung der Drittelparität in den Aufsichtsrat entsandt werden können, deren familiärer Bezug auch ohne Mitgliedschaft in der Unternehmenszugehörigkeit zu sehen ist.2 Kommt regelmäßig, jedenfalls mehrheitlich, nur das Mitglied der Genossenschaft in deren Aufsichtsrat, so konnte es in der Vergangenheit nicht verwundern, dass in der lokal gebundenen oder regional aufgestellten Genossenschaft die Einwerbung und 1 Vgl. § 1 GenG; vgl. auch Alexandre Dumas der Ältere in „Die drei Musketiere“. 2 Vgl. § 1 Abs. 3 DrittelbG und § 6 Abs. 3 S. 2 MitbestG.

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die Wahl in den Aufsichtsrat zu einer gewünschten (weiteren) Renommee-Verstärkung der zur Amtsübernahme bereiten Mitglieder geführt hat. Dabei war weniger das Interesse am Bankgeschäft im engeren Sinne maßgeblich, als der mit der Zu­ gehörigkeit zum Aufsichtsgremium verbundene gesellschaftliche Verstärker für das Mitglied, aber auch für sein persönliches Umfeld. Demgemäß ist das Aufsichtsratsmandat in der Kreditgenossenschaft für lange Zeit als Ehrenamt gesucht und gesehen worden. Diese Idylle ist seit langem vorbei. Mit Beginn des abgelaufenen Jahrzehnts hat sich das Anforderungsprofil an die Mitglieder von Aufsichtsorganen in Banken und Sparkassen grundlegend verändert, ja massiv verstärkt. Die Zeiten des Aufsichtsrats- und Verwaltungsratsmitgliedes im Ehrenamt gehören − auch wenn sie persönlich nur bedingt realisiert werden konnten − der Vergangenheit an. Unverkennbar entwickelt sich nicht nur bei den größeren Banken, sondern auch in den kleineren Häusern die Aufsichtsratstätigkeit in die Richtung einer zunehmenden Professionalisierung des Aufsichtsgremiums3 verbunden mit nicht unbeachtlichen Haftungsrisiken, im Regelfall ohne adäquate Kompensation von Aufwand und Haftung.

II. Ursachen und Kompetenzen Betrachtet man die Ursachen dieser grundlegenden Änderungen, so sind sie vielschichtig. Was ist passiert? 1. Vertrauensverlust, Finanzmarktkrise, legislatorische Reaktion Neben einem seit langem zu beobachtendem Vertrauensschwund gegenüber Banken ist ursächlich für diese Entwicklung ohne jeden Zweifel die schwere Finanzmarkt­ krise der Jahre 2007/2008.  Sie hatte spürbare Auswirkungen auf ganze Instituts­ gruppen – so die Landesbanken –, auf Spezialinstitute – so die Hypo Real Estate, die IKB –, zwangsläufig auch bei den Genossen. Die immensen, die Existenz bedrohenden Verluste mussten zu Teilen über die Einbindung der öffentlichen Hände aufgefangen werden. Sie haben in der Konsequenz den Ruf nach der Verantwortung und Haftung der Verantwortlichen laut werden lassen und zu einem verstärkten, vor allem auch politisch motivierten Aktivismus der Gesetz- und Verordnungsgeber geführt.4 Dabei hat sich eine äußerst rege Umtriebigkeit nicht nur mit Blick auf die 3 Vgl. Lutter, Professionalisierung des Aufsichtsrates, DB 2009, 779 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 7. Aufl. 2020; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2019, § 41 Rz. 8; Preußner, Risikomanagement und Compliance in der aktienrechtlichen Verantwortung des Aufsichtsrats unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts (BilMoG), NZG 2008, 574 ff. 4 Vgl. u.a. Basel Committee on Banking Supervision vom 4.10.2010; Europäische Kommis­ sion, Green Paper on Corporate Governance in financial institutions and remuneration ­policies vom 2.6.2010; Wohlmannstetter in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, S.  906  ff.; EBA Guidelines on Internal Governance (GL 44) vom 27.9.2011, S. 3 f.

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Das Aufsichtsratsmandat in der Kreditgenossenschaft

Vergangenheitsbewältigung − so zum Thema der Haftung von Geschäftsleitern und Aufsichtsräten für Fehlentscheidungen − ergeben, sondern auch mit Blick auf die Anforderungen an die Mitglieder von Aufsichtsorganen, bei denen die Sorgfaltsgebote sukzessive erweitert, verstärkt und konkretisiert worden sind. Dieser Prozess hat reflexartig auch die genossenschaftlichen Kreditinstitute getroffen, obwohl es diesen ungeachtet der Verwerfungen im Bankgewerbe bis heute gelungen ist, Schieflagen in der genossenschaftlichen Familie über den eigenen Sicherungsverbund zu bereinigen. Die ohne Differenzierung zwischen den Institutsarten durch die Finanzmarktkrise ausgelöste, jedenfalls verstärkte Reaktion der Politik hat mit der durch mehrfach wiederholte und nachgebesserte Überarbeitungen des Kreditwesengesetzes, der KWGNovelle mit Wirkung vom 1.1.2015, in den Jahren 2014/2015 auf der Grundlage der VO (EU) Nr.  575/2013 einen allerdings nur vorläufigen Abschluss gefunden.5 Die den Aufsichtsrat adressierenden Regelungen finden sich nunmehr abgegrenzt von den Sanktionen der staatlichen Aufsicht für den Fall von Fehlentwicklungen6 zusammengefasst in §  25d KWG. Sie sind keineswegs die ausschließliche Quelle in dem kaum noch übersehbaren normativen Anforderungswirrwarr, mit dem die Honoratioren in genossenschaftlichen Aufsichtsräten inzwischen zugeschüttet werden. So haben die den Aufsichtsrat adressierenden Regelungen ihre Entsprechung in einer Fülle von Vorläufern und auch Nachfolgern gefunden, die hier nur kurz angesprochen werden sollen, die sich zu Teilen unmittelbar, zu weiteren Teilen jedenfalls mittelbar an die Mitglieder von Aufsichtsorganen richten. So wurden mit dem Gesetz zur Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht vom 29.9.7.20097 sowohl im KWG als auch im VAG8 Regelungen zur Kontrolle der Mitglieder von Aufsichtsorganen eingeführt. Diese sind dann – u.a. – durch das Gesetz zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung von Kreditinstituten, zur Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute und zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organhaftung (Restrukturierungsgesetz) vom 9.12.20109 weiterentwickelt worden. Bedeutsam ist dabei u.a. die Verdoppelung der Verjährungsfrist im Fall möglicher Haftung für Pflichtverletzungen nicht nur für Vorstände, sondern gleichermaßen für Aufsichtsräte auf nicht weniger als zehn Jahre10, wobei der Fristbeginn nicht mit dem Zeitpunkt der pflichtwidrigen Handlung oder Unterlassung gleichzusetzen sein dürfte, sondern (erst) mit dem Zeitpunkt, zu dem aus dem Pflichtverstoß ein Schaden dem Grunde nach entstanden und erkennbar geworden ist.11 Bedenkt man, dass der Aufsichtsrat einer Bank in der Rechtsform der AG und der eG im Wege schlichter Verweisung auf die Haftungsnorm für den Vorstand (bei nur anderem Pflichtenprofil) diesem in der Haftung (nicht in der Dotierung) gleich 5 Detaillierte Hinweise zur Entwicklung der KWG-rechtlichen Normen bei Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 1 ff. 6 Vgl. § 36 KWG. 7 Vgl. BGBl. I, S. 2305. 8 Versicherungsaufsichtsgesetz. 9 Vgl. BGBl. I, S. 1900. 10 Vgl. § 93 Abs. 6 AktG und § 52a KWG. 11 Ellenberger in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 199 BGB Rz. 28 f.

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gestellt ist, so stellt allein die Verlängerung des Verjährungszeitraums bei massiv geschärftem Pflichtenprofil eine nicht unbeachtliche Belastung dar. Die Ausgestaltung der Kontrolle der Mitglieder von Aufsichtsorganen ist zudem Teil eines umfangreichen Prozesses der Harmonisierung von aufsichtsrechtlichen Vorschriften in Europa. Hierzu gehören u. a. das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über den Zugang der Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen12, das Gesetz zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes ebenso wie eine Fülle von Leitlinien, etwa der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde, z.B. der Leitfaden zur Beurteilung der fachlichen Qualifikation und persönlichen Zuverlässigkeit. Hierzu gehören die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Vergütungssysteme von Instituten, so die inzwischen allseits bekannte Institutsvergütungsverordnung13; Erfahrungen aus der Prüfungspraxis sind in den wiederholt überarbeiteten MaRisk, den Mindestanforderungen an das Risikomanagement, verarbeitet worden, in denen wesentliche Verschärfungen in den Bereichen Kapitalplanung, Risikosteuerung, Risikocontrolling, Compliance und Liquiditätssteuerung nicht nur den Vorstand eines Kreditinstituts, sondern inzwischen auch den Aufsichtsrat unmittelbar einbinden.14 Das Ehrenamt muss sich noch einmal auf die Schulbank setzen und Wissen in Intervallen aktualisieren (wenn es überhaupt je ausreichend vorhanden war). Mit ganzen Paketen, so dem CRD-IV-Regulierungspaket zur Umsetzung von Basel II in der Europäischen Union15, sind die Landesgesetzgeber zu gesetzlichen Aktivitäten aufgefordert worden, insbesondere solchen mit Blick auf eine bessere Eigenmittelausstattung von Kreditinstituten, auf die Harmonisierung von Liquiditätsregeln, die intensive Überwachung von Risiken durch Geschäftsleiter und Aufsichtsräte, mit Anforderungen an die Risikosteuerung und Nachhaltigkeit der Geschäftsstrategie, so der Begrenzung und Deckelung der variablen Vergütung, insbesondere mit Anweisungen zur Stärkung der Rechte (damit auch Pflichten) der Aufsichtsorgane. Zu alledem kommen Anforderungen aus Empfehlungen und Geboten, die die Stärkung des ehrbaren Bankkaufmanns zum Gegenstand haben. Zu erwähnen ist der Corporate Governance Kodex in seinen immer wieder geschärften Erscheinungsformen.16 2. Der Aufsichtsrat als Adressat Das KWG-rechtliche Konzentrat für Mitglieder von Aufsichtsorganen und damit auch Verwaltungsräten von Sparkassen findet sich in §  25d KWG, einer erkenn12 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/… EU über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Anpassung des Aufsichtsrechts an die Verordnung (EU) Nr. … 2012 über die Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen (CRD IV Umsetzungsgesetz), BR-Drucks. 510/12 S. 142. 13 Institutsvergütungsverordnung vom 16.12.2013, BGBl. I S.  4270, zuletzt geändert durch Art. 1 der VO vom 15.4.2019, BGBl. I, S. 486. 14 Vgl. auch Art. 88 und 91 RL 2013/36/EU (Capital Requirements Directive); weitere Nachweise bei Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 1 ff. 15 BGBl. I, S. 3395. 16 Zuletzt DCGK 2020, Bundesanzeiger v. 20.3.2020.

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Das Aufsichtsratsmandat in der Kreditgenossenschaft

bar  mit anwaltlicher Hilfestellung implementierten Norm, die in nicht weniger als 12 Absätzen ohne gelungene, nicht einmal versuchte Abgrenzung zu anderen Gesetzen, etwa zu aktienrechtlichen Regelungen oder landesgesetzlichen Regelungen in Sparkassengesetzen, den Aufsichtsrat und seine Mitglieder adressiert. Die eigens für die Mitglieder des Aufsichtsorgans eines Kreditinstituts nach KWG produzierte Gesetzesschöpfung hat in kürzester Zeit nach ihrem Inkrafttreten Änderungen und Klarstellungen provoziert17, musste mit einem norminterpretierenden Merkblatt der Bankenaufsicht von nicht weniger als 50 eng bedruckten Seiten erläutert werden.18 Wie stellt sich danach der Gesetzgeber den Aufsichtsrat einer Bank respektive den Verwaltungsrat einer Sparkasse vor? Wie sind Rechte und Pflichten gestaltet, wie soll sich der Aufsichtsrat als Gremium aufstellen? a) Eignung, sachliche Kompetenz Die Legaldefinition der materiellen Qualifikationsvoraussetzungen findet sich Absatz 1 des den Aufsichtsrat behandelnden § 25d KWG. Danach müssen die Mitglieder des Aufsichtsorgans eines Instituts, einer Finanzholdinggesellschaft oder einer gemischten Finanzholdinggesellschaft „zuverlässig“ sein, die „erforderliche Sachkunde“ zur Wahrnehmung der Kontrollfunktion sowie zur Beurteilung und Überwachung der Geschäfte, die das jeweilige Unternehmen betreibt, besitzen und der „Wahrnehmung ihrer Aufgaben ausreichend Zeit widmen.“19 Bei der Prüfung, ob die erforderliche Sachkunde vorhanden ist, berücksichtigt die Aufsicht den Umfang und die Komplexität der vom jeweiligen Institut betriebenen Geschäfte. Wie wir sehen, stellt der Gesetzgeber zunächst als Postulat für die Übernahme eines Aufsichtsratsmandats drei Anforderungen heraus, die Sachkunde, die Zuverlässigkeit und das Element der verfügbaren Zeit zur Wahrnehmung der Aufgaben im Mandat. Weiter erläutert werden diese Anforderungen nicht. Sie sind Gegenstand der aufsichtlichen Prüfung, deren Umfang über die Lektüre einer umfassend ausgestalteten Anzeigepflicht20 allenfalls erahnt werden kann. Auch die interpretierenden Erläuterungen der Bankenaufsicht nebst Fehlerkorrekturen helfen nur wenig weiter. Etwas spitz formuliert, hat der nach §  25d Abs.  1 KWG geklonte Aufsichtsrat beachtliche Kenntnisse, ein hohes Maß an Integrität und unheimlich viel Zeit zu haben – Merkmale, die nicht unbedingt gebündelt auftreten, die auch bei Personen mit der Neigung zum öffentlichkeitswirksamen Auftreten nicht immer anzutreffen sind. Wird die nach § 25d Abs. 1 KWG geforderte Sachkunde nicht näher erläutert, so erfährt der geneigte Leser auch durch die Lektüre des nachfolgenden §  25d Abs.  2 17 Z.B. Gesetz zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes, BGBl. I, S. 934; DGSD-Umsetzungsgesetz vom 28.5.2015, BGBl. I 2015, S. 786; Abwicklungsmechanismusgesetz vom 2.11.2015, BGBl. I 2015, S. 1864. 18 Vgl. BaFin, Merkblatt zur Kontrolle der Mitglieder von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und VAG vom 3.12.2012, BA53-FR 1903 − 2012/003. 19 § 25d Abs. 1 KWG. 20 BaFin, Merkblatt zur Kontrolle der Mitglieder von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB vom 3.12.2012.

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KWG keine wirkliche Hilfe. Die genannte Bestimmung befasst sich zwar mit der Qualifikation des Aufsichtsgremiums, führt hierzu aus, das Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan müsse „in seiner Gesamtheit die Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen haben, die zur Wahrnehmung der Kontrollfunktion sowie zur Beurteilung und Überwachung der Geschäftsleitung des Instituts notwendig sind.“ Dass diese scheinbare Entlastung des Einzelmitglieds ihre Tücken hat, liegt auf der Hand. Auf erste Sicht ist es zwar tröstlich, dass das Aufsichtsorgan nur „in seiner Gesamtheit“ die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen zur Wahrnehmung seiner Aufgaben haben muss  – wir sprechen hier von der sogenannten „Schwarmintelligenz“.21 Wie ein Blick auf die Verlautbarungen der Aufsicht und auf verfügbares Entscheidungsmaterial der Gerichte belegt, hilft der Hinweis auf die begrenzte Kompetenz des Einzelmitglieds im schwarmintelligenten Aufsichtsrat nur wenig. So hat das OLG Stuttgart in einer den vormaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Piëch bei VW adressierenden Entscheidung im ersten Leitsatz hervorgehoben: „Bei Geschäften, die wegen ihres Umfangs, der mit ihnen verbundenen Risiken oder ihrer strategischen Funktion für die Gesellschaft besonders bedeutsam sind, muss jedes Aufsichtsratsmitglied den relevanten Sachverhalt erfassen und sich ein eigenes Urteil bilden; dies umfasst regelmäßig auch die eigene Risikoanalyse.“22

Zugrundeliegender Sachverhalt war die freimütige Äußerung des prominenten wirtschaftserfahrenen, nicht uneitlen Piëch in einem Gespräch mit Journalisten, ihm sei nicht gelungen, sich Klarheit über die Risiken aus den Optionsscheingeschäften der Porsche Holding zu verschaffen, diese könne man auch nicht hinreichend aus den Geschäftsunterlagen ablesen.23 Die Sachkunde eines jeden einzelnen Mitglieds muss jedenfalls so weit reichen, dass das Mitglied des Aufsichtsrates im Stande ist, die vorgelegten Unterlagen einschließlich Bilanz und Prüfungsbericht selbstständig zu verstehen, ggf. Ergänzungen zu fordern und aufgrund dieser Informationen die Situation des Unternehmens und die Tätigkeit der Geschäftsleitung und die zu treffenden Entscheidungsgegenstände zu beurteilen.24 Zum Beleg dieser Kompetenz darf sich das Aufsichtsratsmitglied auch nicht außenstehender Berater bedienen, ihre Inanspruchnahme würde dem Leitbild eines selbstständigen persönlichen Verständnisses im Rahmen der eigenverantwortlichen Amtsausübung entgegenstehen.25 Der Hinweis auf die „Schwarmintelligenz“ des Aufsichtsgremiums ist auch deswegen nicht hilfreich, insbesondere von der Haftungsseite nicht entlastend, weil Aufsichtsräte jedenfalls in der Lage sein müssen, ihre persönlichen Defizite zu erkennen und diese über die Inanspruchnahme von Informationen, Schulungen und die Beachtung von

21 Vgl. RegBegr. BT-Drs. 17/10974, S. 87; Art. 91 Abs. 7 CRD IV; Dreher in FS Hoffmann-­ Becking, 2013, S. 313 ff.; Semler in FS für K. Schmidt, 2009, S. 1489. 22 OLG Stuttgart v. 29.2.2012 − 20 U 3/11, BeckRS 2012, 5280. 23 OLG Stuttgart v. 29.2.2012 – 20 U 3/11, BeckRS 2012, 5280. 24 Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 32.  25 Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 18.

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Beobachtungs- und Kontrollpflichten zu kompensieren.26 Besonders prekär ist, dass nach einer jüngeren Entscheidung des Bundesgerichtshofs das Aufsichtsratsmitglied im Falle des Vorhandenseins und des Gebrauchs von Spezialkenntnissen, d.h. von Kenntnissen, die über die erforderlichen Mindestkenntnisse und Fähigkeiten hinausgehen, einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab, d.h. dem des jeweiligen Berufstandes, unterliegt. Es ist gegenüber der Gesellschaft verpflichtet, diese besonderen Fachkenntnisse einzusetzen. Zur Begründung wird durchaus nachvollziehbar angeführt, dass die Wahl in den Aufsichtsrat nicht selten wegen der besonderen Fachkenntnisse erfolgt.27 Rechtsanwälte, insbesondere aber Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, also gerade die typischen Aufsichtsräte in der Genossenschaft, haben deshalb heute zu bedenken, dass sie allein aufgrund ihrer beruflichen Ausrichtung im Krisenfall einer strengeren Haftung unterliegen können als die übrigen Aufsichtsratsmitglieder. Dies gilt sowohl im Verhältnis zu der Gesellschaft und möglichen Außengläubigern der Gesellschaft, als auch im Bereich des Innenausgleichs unter den Mitgliedern des Aufsichtsgremiums. In besonderer Weise gefährdet ist dabei der sogenannte „unabhängige Experte“, der über einen ganz besonderen Sachverstand zu verfügen hat, allerdings nur in kapitalmarktorientierten Gesellschaften − nicht in Kreditgenossenschaften − zwingend zu etablieren ist.28 Nach dieser klangvollen Position drängt sich heute niemand mehr! b) Zuverlässigkeit Auch zum Erfordernis der Zuverlässigkeit in § 25d Abs. 1 KWG finden sich in den nachfolgenden Absätzen keine wirklich praxistauglichen Hinweise des Gesetzgebers. Befragt man das ausgereichte Merkblatt, so fehlt die erforderliche Zuverlässigkeit dann, wenn „persönliche Umstände nach der allgemeinen Lebenserfahrung die Annahme rechtfertigen, dass diese, d.h. die Umstände, die sorgfältige und ordnungsgemäße Wahrnehmung des Kontrollmandats beinträchtigen können.“29 Welche Umstände nach wessen Lebenserfahrung relevant sind, bleibt offen, dürfte auf Sachbearbeiterebene in der BaFin und EZB geklärt werden. § 25d KWG spricht das Erfordernis der Zuverlässigkeit auch in Abs.  3 bei der Regelung möglicher Interessenkonflikte an. Hier konzentriert sich der Gesetzgeber insbesondere auf die zahlenmäßige Begrenzung der Mandate von Aufsichtsräten sowie auf die Begrenzung von Aufsichtsratsmandaten, die durch Geschäftsleiter wahrgenommen werden. In liebevoll, aber nicht zwingend verständlich ausgearbeiteten Schaubildern werden die Begrenzungs- und Überschneidungstatbestände erläutert.30 26 Wenzel/Kurfels, Strategieüberwachung: Vertrauen ist gut, Sachkunde ist besser, Der Aufsichtsrat 2010, 101 f.; Leuschner/Wolfgarten, Neue Corporate-Governance Anforderungen an Verwaltungs- und Aufsichtsräte von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten, WPg 2015, 355 ff. 27 BGH v. 29.9.2011 − II ZR 234/09, DB 2011, 2484. 28 Zum Experten König in Orth/Ruter/Schichold (Hrsg.), Der unabhängige Finanzexperte im Aufsichtsrat, 2013; vgl. auch § 100 Abs. 5 AktG i.V.m. § 264d HGB. 29 BaFin, Merkblatt zur Kontrolle von Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB vom 3.12.2012. 30 BaFin, Merkblatt zur Kontrolle von Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB vom 3.12.2012.

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Die Begrenzung der Höchstzahl von Aufsichtsratsmandaten hat berechtigte Kritik vor allen Dingen dort hervorgerufen, wo sie den Besonderheiten kreditwirtschaftlicher Verbundgruppen sowohl im Bereich der Genossenschaftsbanken als auch im Bereich der Sparkassenfinanzgruppe nicht ausreichend Rechnung trägt.31 Die genannten Gruppen sind dezentral strukturierte Verbundorganisationen, die bei einer Selbstständigkeit ihrer Mitglieder in der Gesamtgruppe gewährleisten müssen, dass ihre Leistungsfähigkeit sichergestellt ist. Um Interessenkonflikte im Aufsichtsrat geht es auch bei § 25d Abs. 5 KWG. Danach darf die Ausgestaltung der Vergütungssysteme für Mitglieder des Verwaltungs- oder Aufsichtsorgans im Hinblick auf die wirksame Wahrnehmung der Überwachungsfunktion keine Interessenkonflikte erzeugen; bedeutet im Klartext: Der Aufsichtsrat darf nicht gekauft werden, soll sich aber auch nicht unter Wert engagieren. Eine exakte Vorstellung über den Aufwand des Kreditinstitutes für die Wahrnehmung der anspruchsvollen Aufgaben seines Aufsichtsorgans findet sich weder im Gesetz noch ergibt sich hier Konkretes aus den Erläuterungen in den diversen Merkblättern der Aufsicht. Die Daumengröße liegt bei 0,1 – 0,2 Promille der Bilanzsumme. Ein Betrag, der den Einsatz vor allen Dingen gut verdienender Freiberufler ökonomisch kaum rechtfertigt! c) Weiterbildungsgebot Dass das Merkmal der erforderlichen Sachkunde keine statische Position ist, die nur im Zuge der ersten aufsichtlichen Eignungsprüfung zu bedenken ist, folgt aus den für Banken jeder Größenordnung geltenden Regelungen in §  25d Abs.  4 und Abs.  6 KWG. Nach § 25d Abs. 4 KWG haben Kreditinstitute angemessene personelle und finanzielle Ressourcen einzusetzen, um den Mitgliedern des Aufsichtsorgans die „Einführung in ihr Amt zu erleichtern und die Fortbildung zu ermöglichen“, die zur Aufrechterhaltung der erforderlichen Sachkunde notwendig sind. Die Regelung unterstreicht die Notwendigkeit der ständigen Fort- und Weiterbildung, eine Aufgabe, die bei einer inflationär um sich greifenden Regulatorik schon als Herkulesaufgabe beschrieben werden kann. Sie erleichtert nur die fiskalische Seite für das Aufsichtsratsmitglied, indem das Institut verpflichtet wird, Mittel für die Fortbildung und die Aufrechterhaltung der Sachkunde bereitzustellen, § 25d Abs. 4 KWG. d) Bankaufsichtliches Regelwerk, Risikoorientierung Anspruchsvoll ist die gesetzliche Regelung in § 25d Abs. 6 KWG auch mit Blick auf die bankaufsichtsrechtlichen Regelungen. Das Aufsichtsorgan und seine Mitglieder haben die Geschäftsleiter auch im Hinblick auf die Einhaltung der „einschlägigen bankaufsichtsrechtlichen Regelungen“ zu überwachen. Wie der Zugang zu dem aufsichtlichen Regelwerk gesichert eröffnet wird, bleibt offen. Die Aufsichtsräte müssen  – insoweit wird die in Abs.  1 geforderte Sachkunde weiter aufgefächert – der ­Erörterung von „Strategien, Risiken und Vergütungssystemen für Geschäftsleiter und 31 Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 49 ff.

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Mitarbeiter ausreichend Zeit widmen“. Was „ausreichend“ ist, bleibt gleichermaßen offen. Was unter „Strategien und Risiken“ alles zu verstehen ist, kann man nur er­ ahnen. Gesichert ist, dass der genossenschaftliche Aufsichtsrat die Einhaltung der aufsichtsrechtlichen Kennziffern wie die Eigenmittelquote, Liquiditätskennziffern, Leverage Ratio, Großkreditvorschriften etc. zu bedenken hat. Fragen der ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation sind ebenso zu beachten wie die Einhaltung der Mindestanforderungen nach der MaRisk, die in der seit 2012 geltenden Fassung auch den Aufsichtsrat adressiert.32 Zu den Strategien gehört die Geschäfts- und die Risikostrategie, die Handelsstrategie, die Vergütungsstrategie, die Auslagerungsstrategie und die IT-Strategie; weiter hat der Aufsichtsrat ein angemessenes Risikosteuerungsund Kontrollsystem ebenso wie die Vergütungssysteme für Geschäftsleiter und Mitarbeiter sicherzustellen und zu kontrollieren.33 Dabei muss der Aufsichtsrat seinen Pflichten nicht nur im Rahmen von Sitzungen, sondern jederzeit nachkommen, muss deshalb die Geschäfts- und Risikosituation des ihm anvertrauten Instituts fortlaufend beobachten.34 e) Ausschussbildungspflicht? Sollte das geneigte Aufsichtsratsmitglied der Auffassung sein, damit den gesamten Katalog seiner Aufgaben im Groben erfasst zu haben, so befindet es sich in einem deutlichen Irrtum. § 25d KWG hält in seinen Abs. 7 ff. Vorgaben für die Bildung von Ausschüssen bereit, die deshalb die Anforderungsprofile verstärken, weil die Mitglieder der Ausschüsse die zur Erfüllung der jeweiligen Ausschussaufgaben erforder­ lichen „besonderen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen“ haben sollen.35 Dies könnte auf erste Sicht zwar deshalb dem Aufsichts- oder Verwaltungsrat einer „normalen“ Bank üblicher Größenordnung gleichgültig sein, weil die Verpflichtung zur Bildung von Ausschüssen sich nach § 25d Abs. 7 KWG nur an größere Häuser mit einem Bilanzvolumen von mehr als 15 Mrd. Euro wendet.36 Damit fallen jedoch kleinere Häuser, d.h. solche mit einem Bilanzvolumen von weniger als 15 Mrd. Euro, keineswegs durch den Rost. Einmal kann die Bankenaufsicht Organisationspflichten mit Blick auf Ausschussbildungen auch kleineren Häusern mit einem Bilanzvolumen unterhalb 15 Mrd. Euro auferlegen.37 Zum anderen ist anerkannt, dass die für Mitglieder von Ausschüssen geltenden Anforderungen vom Gesamtaufsichtsrat dann zu 32 MaRisk 2012, AT 4.1 Tz. 5; Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 78 und 80. 33 Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 78 und 79; EBA, Guidelines on Internal Governance vom 27.9.2011, Abschnitt III Titel II B Nr.  19 Rz. 2; CEBS, Guidelines on Remuneration Policies and Practices vom 10.12.2010 Rz. 42– 46. 34 Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 81. 35 § 25d Abs. 7 S. 3 KWG; vgl. König in Orth/Ruter/Schichold (Hrsg.), Der unabhängige Finanzexperte im Aufsichtsrat, 2013, S. 51; RegBegr. BT-Drs. 17/10974, S. 87 f. 36 Die Dortmunder Volksbank, in deren Geschäftsbereich der Jubilar ansässig ist, liegt mit rd. 9 Mrd. Euro Bilanzvolumen unter der Grenze. 37 § 25d Abs. 7 S. 5 KWG.

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beachten sind, wenn eine Ausschussbildung nicht erfolgt ist. Der Gesamtaufsichtsrat muss sich ohne Ausschussbildung gewissermaßen als omnipotent verstehen.38 Sind Ausschüsse gebildet worden, entweder obligatorisch oder aufgrund eigener Willensentscheidung des Gesamtaufsichtsrates (z. B. bei personell überbesetzten Aufsichtsgremien nach erfolgter Verschmelzung), so kommen folgende Ausschüsse in Betracht: – Risikoausschuss (= Kreditausschuss) – Prüfungsausschuss (= Revisionsausschuss) – Nominierungsausschuss und – Vergütungskontrollausschuss Nimmt man die Pflichtenprofile, die für die den Gesamtaufsichtsrat unterstützenden Einzelausschüsse definiert worden sind, so drängt sich die Frage auf, was von der Seite der Anforderungen her den Aufsichtsrat vom Vorstand einer Bank unterscheidet. Nur auszugsweise: Der Risikoausschuss (= Kreditausschuss) „berät das Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan zur aktuellen und zur zukünftigen Gesamtrisikobereitschaft und -strategie des Unternehmens und unterstützt es bei der Überwachung der Umsetzung dieser Strategie durch die obere Leitungsebene“. Er wacht darüber, dass „die Konditionen im Kundengeschäft mit dem Geschäftsmodell und der Risikostruktur des Unternehmens im Einklang stehen“. Soweit dies nicht der Fall ist, „verlangt der Risikoausschuss von der Geschäftsleitung Vorschläge, wie die Konditionen im Kundengeschäft in Übereinstimmung mit dem Geschäftsmodell und der Risikostruktur gestaltet werden können.“39 Wie all dies von einem stinknormalen Aufsichtsrat gleich welcher Qualifikation geleistet werden soll, sagt der Gesetzgeber nicht. Geeignete Adressaten dieser anspruchsvollen Aufgabe wären allenfalls vormalige Mitglieder der Geschäftsführung, die nach der Amtsniederlegung in den Aufsichtsrat wechseln, eine gerade nicht geförderte Veranstaltung! Und weiter: Der Risikoausschuss „prüft, ob die durch das Vergütungssystem gesetzten Anreize die Risiko-, Kapital- und Liquiditätsstruktur des Unternehmens sowie die Wahrscheinlichkeit und Fälligkeit von Einnahmen berücksichtigen.“40 Weil der Gesetzgeber immerhin gemerkt hat, dass diese Aufgaben mit den Aufgaben des sogenannten Vergütungskontrollausschusses kollidieren können, hat er ohne Auflösung von Kollisionen vorsorglich klargestellt, dass „die Aufgaben des Vergütungskontrollausschusses nach Absatz 12 […] unberührt [bleiben].“41 Dieser, d.h. der Vergütungskontrollausschuss, überwacht insbesondere die „angemessene Ausgestaltung der Vergütungen für die Leiter der Risikokontrolling-Funktion und der Compliance-Funktion sowie solcher Mitarbeiter, die einen wesentlichen Einfluss auf das Gesamtrisikoprofil […] haben“.42 38 Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, § 25d KWG Rz. 89. 39 § 25d Abs. 8 S. 4 KWG. 40 § 25d Abs. 8 S. 5 KWG. 41 § 25d Abs. 8 S. 6 KWG. 42 § 25d Abs. 12 S. 2 Ziff. 1 KWG.

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Nimmt man den Prüfungsausschuss (= Revisionsausschuss), so ist dieser gleichermaßen feingliedrig organisiert. Bei ihm wird etwa die Überwachung „des Rechnungslegungsprozesses, […] die Wirksamkeit des Risikomanagementsystems, insbesondere des internen Kontrollsystems und der Internen Revision“43 verortet. Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses muss über Sachverstand auf den Gebieten des Rechnungslegungswesens und der Abschlussprüfung verfügen. Der Nominierungsausschuss44 hat sich zunächst mit der Ermittlung von Bewerbern für die Besetzung einer Stelle in der Geschäftsleitung und bei der Vorbereitung von Wahlvorschlägen für die Wahl der Mitglieder des Verwaltungs- oder Aufsichtsorgans zu beschäftigen (was insofern erstaunt, als hier das Aufsichtsorgan seine eigene Nachfolge definiert, obwohl hierzu die Vertreterversammlung, Hauptversammlung oder Träger berufen sind!). Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben werden wiederum Vorgaben gemacht, die zu weiten Teilen den Governance-Regeln und Compliance-­ Vorgaben folgen. Der Vergütungskontrollausschuss hat schließlich nicht nur die angemessene Ausgestaltung der Vergütungssysteme mit Rücksicht auf das „Risiko-, Kapital- und Liquiditätsmanagement […] zu bewerten“45 (wie geht das alles?), er bereitet vielmehr die Beschlüsse des Aufsichtsorgans in toto „über die Vergütung der Geschäftsleiter vor und berücksichtigt dabei besonders die Auswirkungen der Beschlüsse auf die Risiken und das Risikomanagement des Unternehmens; den langfristigen Interessen von Anteilseignern, Anlegern, sonstiger Beteiligter und dem öffentlichen Interesse ist Rechnung zu tragen.“46 Schöner kann man die eierlegende Wollmilchsau nicht beschreiben! Berücksichtigt man, dass der Aufsichtsrat auch gehalten ist, die Pflege der Eigenanlagen im Depot A - ein immer schwierigeres Unterfangen, etwa Eigenanlagen im Immobilienbereich - zu überwachen, wird der Aspekt der nicht fernliegenden Überforderung immer relevanter. f) Evaluation, Effizienzprüfung Über die klassische Effizienzprüfung von börsennotierten Unternehmen nach dem Deutschen Corporate Governance Kodex hinaus muss der Aufsichtsrat „regelmäßig, mindestens einmal jährlich“ eine Bestandsaufnahme seiner eigenen Arbeit vorlegen, die sich auf Qualifikationen und Kenntnisse der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder, auf die Aufgabenerfüllung durch einzelne Ausschüsse und den Gesamtaufsichtsrat erstreckt.47 Damit die Neigung zur Zeichnung eines möglichst positiven Bildes reduziert wird, soll neben die subjektive „Selbstreflektion“ eine „objektive Bestandsaufnahme“ treten. Vorgeschlagen wird eine „modulare“ Vorgehensweise, die mit einem so-

43 § 25d Abs. 9 KWG 44 § 25d Abs. 11 S. 2 Nr. 1 KWG 45 § 25d Abs. 12 S. 2 Ziff. 1 KWG. 46 § 25d Abs. 12 S. 2 Ziff. 2 KWG. 47 § 25d Abs. 11 S. 2 Ziff. 4 KWG.

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genannten „Kick-Off-Meeting zur Strukturierung der Effizienzprüfung“48 beginnt. Es bedarf keiner besonderen Phantasie, dass diese Bespiegelung des Aufsichtsgremiums in eigener Sache in der Regel nur als lästige Pflichtaufgabe abgewickelt wird, wenn sie nicht Anreiz für den Bau potemkinscher Dörfer ist. g) Zwischenfazit Wie derart anspruchsvoll formulierte Aufgaben von einem normalen Aufsichtsrat, sei er im Gesamtgremium, sei er in Ausschüssen versammelt, geleistet werden sollen, bleibt das Geheimnis des Gesetzgebers. Nimmt man jedenfalls den Aufsichtsrat einer Genossenschaftsbank oder den Verwaltungsrat einer Sparkasse, so zeigt allein ein Blick auf die dort vertretenen Berufe, dass die Divergenz zwischen dem Vorstellungsbild des Gesetzgebers und der Wirklichkeit kaum größer sein könnte. Dies wäre noch erträglich, wenn man in der neuen gesetzlichen Regelung nur eine Entlastungsmaßnahme der Politik und des Gesetzgebers erblicken wollte. Für Aufsichtsräte ist sie jedoch deshalb relevant, weil die normativen Anforderungen von heute die Haftungsgrundlagen in der Zukunft abbilden. 3. Prüfungsschwerpunkt, Aufsichtsrat Die Erkenntnis, dass man mit diesen Anforderungen im Berufsleben stehende und aktive und wirtschaftserfahrene Bewerber bereits auf der Ebene der Mandatsübernahme abschreckt, weil Sachkunde und zeitliche Verfügbarkeit sich selten in einer Person bündeln, hat den Gesetz- und Verordnungsgeber nicht beeindruckt, wie sich aus den Fragestellungen der Bankenaufsicht bzw. Bundesbank dann ergibt, wenn das Aufsichtsgremium und dessen Mitglieder als Prüfungsschwerpunkt nach § 30 KWG ins Visier genommen werden. Nur einige der Fragen: – Sind die Geschäftsordnungen für Vorstand und Aufsichtsrat im Hinblick auf die gesetzlichen, aufsichtlichen und satzungsmäßigen Vorgaben angemessen und werden diese eingehalten (gelebte Praxis)? – Werden die Anforderungen an die Sachkunde und die Zuverlässigkeit der Aufsichtsratsmitglieder erfüllt? – Gibt es Weiterbildungsmaßnahmen amtierender Aufsichtsratsmitglieder? – Wie hoch ist die Teilnahmequote der einzelnen AR-Mitglieder? Bestehen Zweifel am persönlichen Zeitansatz? – Ist ein Mitglied – oder ein Unternehmen, für das es tätig ist oder eine ihm nahestehende Person – Kreditnehmer des beaufsichtigten Institutes und bestehen ggf. Hinweise, dass sich aus diesem Umstand Interessenkonflikte ergeben können? – Gibt es anderweitig Anhaltspunkte für einen möglichen Interessenkonflikt eines Mitglieds des Aufsichtsrates?49 48 Röhm-Kottmann/Ries, Effizienzprüfung nach § 25d KWG, Board 1/2015, 11 − 14 bei juris. 49 Prüfungsschwerpunkt, Vorgabe der BaFin an die gesetzliche Prüfung.

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Dass sich in den Prüfungsberichten bei der Bearbeitung der genannten Fragen nicht selten kleinteilige bis hin zu auch kleinkarierten Prüfungsfeststellungen finden, soll nicht verschwiegen werden. Golfreisen oder andere organisierte Veranstaltungen mit Geschäftspartnern des Kreditinstitutes unter Mitnahme der Ehefrauen des Aufsichtsrates werden recht humorlos an den Haken genommen, sie sind passé. 4. Haftungsverschärfung, Pflichtenkollision Nicht unerwähnt bleiben kann schließlich, dass die im letzten Jahrzehnt massiv verstärkten Anforderungen an das ordentliche und gewissenhafte Aufsichtsratsmitglied nicht nur von aufsichtsrechtlicher Relevanz sind, vielmehr auch zu haftungsrechtlichen Konsequenzen führen, die gerade potenziell qualifizierte Bewerber davon abhalten dürften, das Amt des Aufsichtsrates anzustreben. Wie ein Blick in das Aktienrecht oder das Genossenschaftsrecht zeigt, gilt für Aufsichtsräte in Gesellschaften der Rechtsform der AG bzw. der Genossenschaft der gleiche Sorgfaltsmaßstab wie für Vorstandsmitglieder. Die Haftungsnormen für Aufsichtsräte verweisen schlicht auf die Haftungsnormen für die Geschäftsführung.50 Für Aufsichtsräte gilt der gleiche Sorgfaltsmaßstab wie für Vorstandsmitglieder lediglich mit anderem Inhalt insofern, als die Aufsichtsratsmitglieder nicht die Leitungs-, sondern die Kontrollverantwortung innehaben. Pflichtverletzungen der Aufsichtsratsmitglieder können neben dem fehlenden Einschreiten gegen erkannte oder erkennbare Pflichtverletzungen des Vorstandes insbesondere sein: Ungenügende Kontrolle der Berichtspflichten des Vorstandes bzw. unzureichende Information; kein Einschreiten gegen den Abschluss ­zustimmungspflichtiger Geschäfte; Ausübung des Amtes, ohne sich ein eigenes Bild von der Geschäftstätigkeit zu machen; Verletzung der Pflicht zur Überwachung des Risikofrüherkennungssystems.51 Die Prüfung, ob Ergänzungen, Erweiterungen oder Verbesserungen der Risikoabschirmung erforderlich sind, obliegt gleichermaßen dem Aufsichtsrat. Es ist deshalb auch unter haftungsrechtlicher Perspektive anerkannt, dass der neuzeitliche Aufsichtsrat zur Erfüllung seiner Beratungs- und Überwachungsfunktionen deutlich intensiver engagiert sein muss, als dies etwa vor der Finanzkrise gefordert worden ist.52 Um den geschärften Anforderungen zu genügen, ist der Aufsichtsrat nicht nur berechtigt, sondern im Einzelfall sogar verpflichtet, am Vorstand vorbei leitende Mitarbeiter, so etwa den Leiter der Innenrevision oder Prüfer, zu befragen. Ein Recht, im Einzelfall sogar eine Pflicht, die nicht als zwingend vertrauensbildend für das Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat angesehen werden kann. Die Berichtspflicht des Vorstandes in Richtung Aufsichtsrat dreht sich mehr und mehr in die Richtung einer Informationspflicht des Aufsichtsrats und seiner Einzelmitglieder mit 50 § 116 S. 1 AktG i.V.m. § 93 AktG und § 41 GenG i.V.m. § 34 GenG. 51 Vgl. insb. MA-Risk seit 2012, dort AT 4.1 Rz. 5. 52 Schaffland in Lang-Weidmüller, GenG, 36. Aufl., § 41 Rz. 8; Preußner, Risikomanagement und Compliance in der aktienrechtlichen Verantwortung des Aufsichtsrats unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts (BilMoG), NZG 2008, 574 ff.; Lutter in Allmendinger/Dorn/Lang/Lump/Steffek (Hrsg.), Corporate Governance nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, S. 139 ff.

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dem Ergebnis, dass wir das duale System, das zwischen Geschäftsführung und Aufsicht trennt, verlassen und in ein Boardsystem geraten, das eine Abgrenzung nicht, jedenfalls nicht gleichermaßen, vorhält. Der schmale Grat, auf dem sich der Aufsichtsrat bei der Wahrnehmung der deutlich verschärften Anforderungen bewegt, zeigt sich bei einem Blick auf ein jüngst an den Vorstand einer Bank gerichtetes Abberufungsverlangen der BaFin. Zur Begründung des Verlangens finden sich zentral zwei Vorwürfe, die deutlich machen, wie dünn die Luft bei der Abgrenzung von Verantwortlichkeiten geworden ist, so wörtlich: „Der Aufsichtsrat greift veranlasst durch seinen Vorsitzenden bewusst und massiv in die lt. §§ 27 und 28 GenG allein dem Vorstand vorbehaltenen Aufgabenbereiche ein. Das vom Aufsichtsrat zu verantwortende variable Vergütungssystem entspricht nicht den Anforderungen der Institutsvergütungsverordnung, da es überwiegend qualitative und wenig nachvollziehbare Kriterien aufweist. Die Vergütungsregeln können zu einer zunehmenden Abhängigkeit der Geschäftsleitung von den Vorstellungen des Aufsichtsrates und damit zu einer betriebswirtschaftlichen Fehlsteuerung der Bank führen.“53

Fazit: Der Aufsichtsrat soll den Vorstand intensiv überwachen, darf es aber nicht übertreiben. Wie der Aufsichtsrat dieses Dilemma lösen kann, bleibt offen. Obwohl er nach der Rechtsprechung die Segnungen der Business Judgement Rule54 beanspruchen, d.h. sich auf ein haftungsfreies Aufsichtsratsermessen berufen kann, hilft dies deshalb wenig weiter, weil im Rahmen der notwendigerweise nach der Handlung oder Unterlassung des Aufsichtsrates erforderlichen Rückschau nahezu immer ein objektiver Pflichtverstoß auszumachen sein wird. Der Ritt auf der Rasierklinge wird auch nicht dadurch komfortabler, dass Aufsichtsräte ebenso wie Vorstände von Kreditinstituten regelmäßig über eine D&O-Versicherung eingedeckt sind, die dann gezogen werden kann, wenn der Aufsichtsrat wegen der Versäumung von Pflichten oder der nicht legitimierten Inanspruchnahme von Rechten zur Haftung gebeten wird. Ohne auf dieses Thema im Detail eingehen zu können, genügt die Bemerkung, dass die Erfahrungen mit der Leistungsfreude der D&O-Versicherungen eher negativ sind. Ihr Vorhandensein provoziert Regresse. Werden diese dann schlagend, ziehen sich die Versicherer nicht selten sowohl bei der Eindeckung einer Haftung als auch der Inanspruchnahme der Abwehrdeckung zurück. Es genügt festzuhalten, dass die verschärfte Haftung keineswegs über das Ruhekissen einer Versicherung kompensiert werden kann, dass vielmehr das Bestehen einer Versicherung den Regress gegen den Aufsichtsrat geradezu provoziert, zumal bei diesem in der Regel fahrlässiges Fehlverhalten anzunehmen ist, das − anders als wissentliche Verstöße − unter die Versicherungsabdeckung fällt.

53 Originaltext aus Prüfungsbericht. 54 BGH v. 21.4.1997 − II ZR 195/95, BGHZ 135, 254; inzwischen für die Genossenschaft geregelt in § 41 GenG i.V.m. § 34 Abs. 1 S. 2 GenG.

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Das Aufsichtsratsmandat in der Kreditgenossenschaft

III. Schlussbemerkungen Wertet man diese Entwicklung, so kann und muss sie sehr kritisch gesehen werden. Sie ist bereits im historischen Ausgangspunkt verfehlt. Nicht der Mangel besonderer Fähigkeiten als Aufsichtsrat war Ursache für das Scheitern von Banken. Von der Finanzmarktkrise in besonderer Weise getroffen worden sind Banken mit nicht selten durchaus hoch qualifizierten Aufsichtsräten. Zu verweisen ist auf Landesbanken, wie die entschwundene Sachsen LB, die vormalige WestLB, die HSH Nordbank, aber auch die IKB und die Hypo Real Estate, sämtlichst Institute, bei denen in den Aufsichtsgremien besonders qualifizierte Vertreter der Anteilseigner − z.B. Sparkassenvorstände, Direktoren von Landschaftsverbänden, Sparkassenpräsidenten und ähnliche hochqualifizierte Personen aus Wirtschaft und Politik vorhanden waren. Gefehlt hat hier ein nachhaltiges Marktmodell und damit die gebotene Beschränkung auf das Machbare und Beherrschbare. Gefehlt hat nicht selten auch Bescheidenheit und gesunder Menschenverstand. Weitere Ursachen dürften ein Overbanking ebenso – vor allem bei den Öffentlich-Rechtlichen – Eitelkeiten und Befindlichkeiten der Politik gewesen sein. Mit der unverkennbaren Verschärfung und Individualisierung der Sorgfaltsgebote an Aufsichtsratsmitglieder verwässert sich die Abgrenzung zwischen dem Geschäfts­ führungsorgan und der Aufsicht über die Geschäftsführung. Das dem deutschen Gesellschaftsrecht eigene duale Prinzip, das zwischen Geschäftsführung und Aufsicht trennt, wird mehr und mehr in die Richtung einer diffusen Gesamtverantwortung aufgegeben. Hierzu trägt als die jüngste „politische Beruhigungspille“ der Referentenentwurf für das „Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz“ (FISG) bei, das auf das Wirecard-Debakel reagieren will55 − wenngleich kriminelles Vorstandsverhalten erfahrungsgemäß nicht oder kaum für den Aufsichtsrat erkennbar ist. Den erhöhten Anforderungen an die Aufsichtsräte steht weder auf der Aufwandsnoch der Haftungsseite eine entsprechende Kompensation gegenüber. Da nach ­jüngerer Rechtsprechung Aufsichtsratsmitglieder, die über beruflich erworbene Spezialkenntnisse verfügen, einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab unterliegen56, ist zu befürchten, dass allein mit Blick auf die erheblichen Haftungsrisiken gerade erfolgreiche, qualifizierte Berufsträger auf die Übernahme von Aufsichtsratsverantwortung dankend verzichten. Zu erwarten ist die Amtswahrnehmung durch zumindest semiprofessionelle Funktionäre, die so viel „Fracksausen“ haben dürften, dass sie die ihnen anvertrauten Gesellschaften, insbesondere genossenschaftliche Banken, mehr behindern als fördern.

55 Referentenentwurf des Bundesministeriums für Finanzen und des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz. 56 BGH v. 20.9.2011 − II ZR 234/09, DB 2011, 2484 ff.

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Zwischen Luxus und Askese – Bandbreiten bei Ehegatten- und Kindesunterhalt Inhaltsübersicht A. Einleitung und Begriffe

C. Kindesunterhalt

I. Unterhalt

I. Normalfall: Unterhalt nach Düsseldorfer Tabelle 1. Grundsätze 2. Bedarfsbestimmung nach Tabellensätzen a) Kindesunterhalt b) Exkurs: Betreuungsunterhalt 3. Wechselmodell

II. Bedarf III. Struktur des Anspruchs B. Ehegattenunterhalt I. Normalfall: Quotenberechnung II. Sonderfall: Konkrete Bedarfsbestimmung 1. Maßstab 2. „Schallgrenze“ 3. Veränderungen 4. Darlegungs- und Beweislast 5. Fallgruppen a) Unterschiedliches Ausgabeverhalten b) Schönheit III. Auswirkungen des neuen Unterhaltsrechts

II. Sonderfall: Besonders gute Lebens­ verhältnisse 1. Minderjähriges Kind 2. Volljähriges Kind 3. Fortschreibung der Tabelle a) Bisher: keine Fortschreibung b) Aktuell: Fortschreibung möglich D. Ergebnis und Beurteilung

Trennungen und Scheidungen kommen „in den besten Familien“ vor, ihre Folgen sind deshalb auch bei Selbständigen oder in Familienunternehmen ein Thema. Aber längst nicht alle dort Tätigen sind so vorsichtig, die Trennungs- und Scheidungsfolgen durch Ehevertrag zu regeln; dann kommt es häufig zu Auseinandersetzungen. Im Familienrecht wird der Ehegattenunterhalt in der Mehrzahl der Fälle nach einer Quote der Einkommensdifferenz berechnet, der Kindesunterhalt auf der Grundlage der Düsseldorfer Tabelle. Bei „besseren“ Lebensverhältnissen sind dagegen in beiden Bereichen konkrete Feststellungen notwendig. In der Rechtsprechung spiegelt sich das Spannungsverhältnis zwischen der Berücksichtigung individueller Verhältnisse einerseits und objektiven Gesichtspunkten anderseits wieder. Die daraus resultierenden Probleme werden nachfolgend untersucht.

Der Autor ist Mitglied der Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft am Standort Dortmund und Honorarprofessor der Ruhr-Universität Bochum. – Jubilar und Autor kennen sich seit den 1970er-Jahren aus gemeinsamen Zeiten an der Universität Bielefeld.



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A. Einleitung und Begriffe I. Unterhalt Sind die Verhältnisse der Beteiligten intakt, spricht man von dem in §§ 1360 ff. BGB geregelten Familienunterhalt. Er soll den gesamten Lebensbedarf der Familie (einschließlich des Bedarfs der Kinder) bei bestehender Lebensgemeinschaft sichern. Gerichtet ist er nicht auf die Zahlung von Geld,1 sondern auf Bedarfsbefriedigung durch häusliche Arbeitsleistungen und finanzielle Beiträge.2 Sicherlich wird es in vielen Ehen in diesem Bereich Differenzen geben, zum einen hinsichtlich der häuslichen Arbeitsleistung (die männlichen Anteile erscheinen aus Sicht der Ehefrauen oft noch steigerungsfähig), zum anderen in Bezug auf die finanziellen Beiträge (Stichwort Haushaltsgeld). Dennoch kommen gerichtliche Auseinandersetzungen beim Familienunterhalt in der Praxis so gut wie nie vor. Ein ganz anderes Bild ergibt sich bei gestörten Verhältnissen; der Streit um das „liebe Geld“ beginnt meist schon kurz nach der Trennung von Eheleuten. Wer nicht für sich selbst aufkommen kann, ist auf fremde Hilfe angewiesen; nach dem Subsidiaritätsgrundsatz sind dafür in erster Linie die im Gesetz vorgesehenen Unterhaltspflichtigen zuständig. In diesem Bereich geht das Gesetz von drei Grundverhältnissen aus: der Ehe (oder Lebenspartnerschaft), der Verwandtschaft in gerader Linie, schließlich der gemeinsamen Elternschaft. Wer in welchem Umfang unterhaltsberechtigt und -verpflichtet ist, wird vom Gesetz im Einzelnen an verschiedenen Stellen geregelt, und zwar für Ansprüche – der Kinder gegen ihre Eltern (§§ 1601 ff. BGB), – der Eltern gegen ihre Kinder (ebenso), – des getrenntlebenden Ehegatten (meist der Frau) gegen den anderen Ehegatten (§ 1361 BGB),3 – des geschiedenen Ehegatten gegen den anderen Ehegatten (§ 1569 BGB),4 – der unverheirateten Mutter gegen den Kindesvater (§ 1615l BGB)5. 1 BGH v. 22.1.2003 – XII ZR 2/00, FamRZ 2003, 363, 366 mit Anm. Scholz, FamRZ 2003, 514. 2 Zu den Unterschieden zwischen Familien- und Trennungsunterhalt vgl. OLG Düsseldorf v. 24.1.1992 – 6 UF 140/91, FamRZ 1992, 943.  3 Der nicht erwerbstätige Ehegatte wird in der Trennungsphase regelmäßig stärker geschützt, der „status quo“ ist aufrechtzuerhalten, vgl. von Pückler in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 1361 BGB Rz. 1.  4 Nach der Scheidung ist die Verantwortung füreinander reduziert; es gilt verstärkt der Grundsatz der wirtschaftlichen Eigenverantwortung. 5 Hier steht Unterhalt für die Dauer des Mutterschutzes (drei Jahre) im Vordergrund (§ 1615l Abs. 2 Satz 3 BGB). Im Ausnahmefall kommt eine Anspruchsverlängerung nach Billigkeit in Betracht (§ 1615l Abs. 2 Satz 4 BGB), wobei den Kindesbelangen entscheidende Bedeutung zukommt (§ 1615l Abs. 2 Satz 5 BGB).

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II. Bedarf Beim Bedarf handelt es sich um die Summe aller Mittel, die eine Person benötigt, damit sie in ihrer konkreten Situation ein menschenwürdiges Leben führen kann.6 Zu nennen sind hier in erster Linie Elementarbedürfnisse (Nahrung, Wohnung, Kleidung), aber auch geistige und kulturelle (Erholung, Freizeit, Bildung) und auch gehobene Bedürfnisse, solange sich diese (beim Ehegattenunterhalt) im Rahmen des ehelichen Lebenszuschnitts halten.7 Auch wenn das Gesetz in § 1610 Abs. 1 BGB vom „Maß des zu gewährenden Unterhalts“ spricht, ist der Lebensbedarf nicht identisch mit dem Unterhaltsanspruch; für diesen ist der Bedarf – neben Anspruchsgrundlage, Bedürftigkeit und Leistungsfähigkeit – nur eine Anspruchsvoraussetzung unter mehreren.8 Welches „Maß“ zu gewähren ist, wird im Gesetz an verschiedenen Stellen geregelt: – Beim nachehelichen Unterhalt bestimmt sich das Maß des Unterhalts gemäß § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB nach den ehelichen Lebensverhältnissen. – Beim Trennungsunterhalt kann ein Ehegatte von dem anderen gemäß § 1361 Abs. 1 Satz 1 BGB den nach den Erwerbs- und Vermögensverhältnissen der Eheleute angemessenen Unterhalt verlangen. – In Altfällen (nachehelicher Unterhalt nach altem Recht) besteht gemäß § 58 Abs. 1 EheG ein Anspruch auf den „nach den ehelichen Lebensverhältnissen“ angemessenen Unterhalt. Der BGH hat schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass die genannten Bestimmungen eine inhaltsgleiche Regelung der „ehelichen Lebensverhältnisse“ darstellen, die für die Unterhaltsbemessung maßgebend sind.9 Diese Einheitlichkeit ist in der Praxis zu begrüßen, denn die „ehelichen Lebensverhältnisse“ sind damit der zentrale Maßstab für die Höhe jedes Anspruchs auf Ehegattenunterhalt. Der Bedarf bemisst sich hier immer nach den gleichen Maßstäben, ganz egal, ob es sich um Trennungsunterhalt, nachehelichen Unterhalt oder um Unterhalt nach altem Recht handelt.10 Zu berücksichtigen ist in allen Fällen auch der Zweck der Bedarfsbestimmung. Durch die Anknüpfung des vollen eheangemessenen Unterhalts (§ 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB) an die ehelichen Lebensverhältnisse wollte der Gesetzgeber einen sozialen Abstieg

6 Langeheine in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, vor § 1601 Rz. 22; § 1610 Rz. 9, 11. 7 Hülsmann in Hoppenz, 9. Aufl. 2009, § 1578 BGB Rz. 47.  8 Langeheine in MünchKomm. BGB, vor § 1601 Rz. 20; § 1610 Rz. 10. 9 BGH v. 7.6.1989 – IV b ZR 63/88, NJW-RR 1989, 1154 = FamRZ 1990, 258. 10 Born, NJW 2008, 3089.

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des bedürftigen Ehegatten vermeiden,11 und zwar vor dem Hintergrund, dass das erreichte eheliche Lebensniveau regelmäßig als Ergebnis der Leistungen beider Ehegatten anzusehen ist.12 In systematischer Hinsicht wird die Frage der Bedarfsbestimmung im Ehegatten- wie im Verwandtenunterhalt auf unterschiedliche Weise gelöst: – Ein auswärts wohnender Student bekommt eine Regelpauschale, für ihn wird also ein fester Bedarf angesetzt. Zurzeit nach A. 7 der Düsseldorfer Tabelle 860 Euro zzgl. (nach A. 9) Krankenversicherungsbeitrag und Studiengebühren. – Noch zu Hause lebende Kinder haben einen Bedarf, der nach der Düsseldorfer Tabelle bestimmt wird und sich an den Einkünften des barunterhaltspflichtigen Elternteils orientiert. – Obwohl nur als Hilfsmittel für die Praxis konzipiert, wird die Düsseldorfer Tabelle von der Rechtsprechung im Grundsatz wie ein Gesetz behandelt. – Ein Mindestbedarf ist in § 1612 a BGB geregelt. – Der Bedarf eines (getrenntlebenden oder geschiedenen) Ehegatten bestimmt sich im Normalfall nach einer Quote der Einkommensdifferenz, in Sonderfällen (bei „gehobenen“ Lebensverhältnissen) in Form konkreter Darlegung der einzelnen Bedürfnisse.

III. Struktur des Anspruchs Die Struktur des Unterhaltsanspruchs unterscheidet sich von sonstigen, auf Zahlung einer Geldsumme gerichteten Ansprüchen. Dort gilt üblicherweise der Grundsatz „Geld hat man zu haben“. Beim Unterhalt dagegen kommt man zu einem Anspruch nur dann, wenn beim Schuldner auch eine hinreichende Leistungsfähigkeit vorliegt. Anders ausgedrückt: Die Ehefrau kann so bedürftig sein, wie sie will; wenn der Ehemann als Schuldner nicht genügend verdient, gibt es gleichwohl keinen Unterhaltsanspruch. Zur Klärung der Leistungsfähigkeit dient der Auskunftsanspruch nach § 1605 BGB.13 Unterhaltsrechtlich bedürftig ist nicht, wer seinen Bedarf aus zurechenbaren eigenen Mitteln befriedigen kann. Nur wer dazu (ganz oder teilweise) nicht imstande ist, wird insoweit als unterhaltsberechtigt angesehen (§  1602 Abs.  1 BGB). Im Rahmen der Leistungsfähigkeit ist von Bedeutung, inwieweit der Schuldner  – bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen – in der Lage ist, den Bedarf des Gläubigers 11 BT-Drucks. 7/650, S. 136. 12 BGH v. 17.12.2008 – XII ZR 9/07, BGHZ 179, 196 = NJW 2009, 588 mit Anm. Born, NJW 2009, 593. 13 Ausführlich zu Auskunfts- und Belegpflichten nach § 1605 BGB s. Born, NZFam 2020, 857.

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ohne Gefährdung seines eigenen Unterhalts zu befriedigen (§ 1603 Abs. 1 BGB). Die Schwelle, bis zu der der Schuldner als leistungsfähig anzusehen ist, wird je nach Wertigkeit des Anspruchs unterschiedlich beurteilt, was in der verschiedenen Höhe des Selbstbehalts zum Ausdruck kommt.14 Die Bandbreite reicht hier bei Ansprüchen minderjähriger Kinder von einem Selbstbehalt von 1.080 Euro bzw. 880 Euro (Schuldner ist erwerbstätig bzw. nicht erwerbstätig) bis zu 2.000 Euro gegenüber einem Anspruch bedürftiger Eltern. Der Umstand, dass sich der Schuldner gegenüber Unterhaltsansprüchen minderjähriger Kinder besonders stark einschränken muss, hängt mit der besonderen Schutzbedürftigkeit des minderjährigen Kindes zusammen. Unterliegt es noch der allgemeinen Schulpflicht oder ist jünger als 15 Jahre, darf es von Gesetzes wegen (§ 2 Abs. 3, § 5 Abs. 1, § 7 Abs.  1 Jugendarbeitsschutzgesetz) nicht arbeiten und kann seinen Bedarf deshalb nicht durch Erwerbstätigkeit decken. Auch soweit minderjährige Kinder – ausnahmsweise  – mit leichten Arbeiten beschäftigt werden dürfen, besteht für sie keine Erwerbsobliegenheit.15 Nur in Ausnahmefällen (z.B. bei unterhaltsbezogenem Fehlverhalten) kann – in Abweichung von der tatsächlich vorliegenden finanziellen Situation  – aufseiten des Schuldners ein fiktives Einkommen berücksichtigt werden. Geht es um die erweiterte Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB, wenn der Mindestunterhalt des mehrjährigen Kindes nicht gesichert ist, wird der Schuldner häufig so behandelt, als könne er weitere Einkünfte aus einer Nebentätigkeit erzielen.16

B. Ehegattenunterhalt I. Normalfall: Quotenberechnung In der Mehrzahl aller zur Entscheidung anstehenden Fälle wird der Bedarf grundsätzlich nicht nach den einzelnen, zur Aufrechterhaltung des ehelichen Lebensstandards benötigten Mitteln bemessen, sondern – pauschal – nach einer Quote des für Unterhaltszwecke zur Verfügung stehenden prägenden Einkommens. Das hat vorwiegend praktische Gründe: Zum einen ist es die Konsequenz aus der Tatsache, dass in den meisten Fällen der erreichte Lebensstandard nach Trennung und Scheidung mit Hilfe des verteilbaren Einkommens nicht aufrechterhalten werden kann, weil zwei Haushalte nun einmal teurer sind als einer. Deshalb wird von den Gerichten wenigstens dieses verteilbare Einkommen angemessen gequotelt, weil ohnehin nicht mehr zur Verteilung zur Verfügung steht.17

14 Guhling in Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. 2020, § 5 Rz. 1 ff. 15 Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 52.  16 Dose in Wendl/Dose, § 1 Rz. 97 ff. 17 Siebert in Wendl/Dose, § 4 Rz. 772. 

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Zum anderen dient die Quotierung der Verfahrensbeschleunigung, weil anderenfalls – mit erheblichem Zeit- und Darlegungsaufwand – die einzelnen Bestandteile des Bedarfs ermittelt und vortragen werden müssten. Dem „Massenphänomen Unterhalt“ könnte die Praxis aber dann nicht gerecht werden.18 Die Praxis wählt ganz überwiegend eine 3/7-Quote (und nicht die Hälfte), weil auf Seiten des Schuldners zum einen der mit einer Berufstätigkeit verbundene höhere Aufwand berücksichtigt und zum anderen gleichzeitig ein Anreiz zur Aufrechterhaltung dieser Erwerbstätigkeit geschaffen werden soll.19 Aktuell hat der BGH entschieden, den Erwerbstätigenbonus von 3/7 auf 1/10 zu senken, sofern der berufsbedingte Aufwand vorab berücksichtigt wird.20 Dazu steht nicht in Widerspruch, dass das Einkommen des Berechtigten in Fällen konkreter Bedarfsberechnung (s. unten unter II.) voll – also nicht verringert um einen Bonus – auf seinen Bedarf anzurechnen ist.21 Der Vorwegabzug des „Anreizes“ widerspricht auch nicht der Gleichwertigkeit der Erwerbstätigkeit des Schuldners mit der Familienarbeit des anderen Ehegatten; denn auch bei diesem wird aufgrund der Surrogat-Rechtsprechung (die frühere Hausfrauentätigkeit wird später durch Erwerbstätigkeit ersetzt) nach Aufnahme der Berufstätigkeit der Bonus vorweg abgezogen.22 Bei sonstigen Einkünften, die nicht auf Erwerbstätigkeit beruhen (z.B. Arbeitslosengeld, Zinsen, Mieteinkünfte, Wohnwert), wird dagegen kein Bonus berücksichtigt. Konsequent ist auch, dass ein strikt hälftiger Ansatz auch dann gewählt wird, wenn der Schuldner ins Rentenalter gewechselt ist.23 Sofern „Mischeinkünfte“ vorliegen, z.B. in Form von Kapitalzinsen oder Wohnvorteil  neben Erwerbseinkünften, ist auf eine entsprechende Differenzierung zu achten.24

18 BGH v. 25.9.2019  – XII ZB 25/19, NJW 2019, 3570 Rz.  28, besprochen von Born, NJW 2019, 3555.  19 BGH v. 8.9.2004 – XII ZB 92/03, FamRZ 2004, 1867; BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 98/97, FamRZ 1999, 367, 370; BGH v. 29.1.1992 – XII ZR 239/90, FamRZ 1992, 539, 541. Kritisch („überholtes Relikt aus dem Ehegesetz“) Gerhardt, FamRZ 2013, 834; kritisch auch Siebert in Wendl/Dose, § 4 Rz. 781.  20 BGH v. 13.11.2019 – XII ZB 3/19, NJW 2020, 238 mit Anm. Graba, NJW 2020, 243. S. dazu Born, LMK 2019, 424170. 21 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 197/08, NJW 2011, 303 Rz. 26 ff. mit Anm. Born, NJW 2011, 306. 22 BGH v. 8.9.2004 – XII ZB 92/03, FamRZ 2004, 1867. 23 BGH v. 8.9.2004 – XII ZB 92/03, FamRZ 2004, 1867. 24 Born, FamRZ 2013, 1613, 1616.

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II. Sonderfall: Konkrete Bedarfsbestimmung 1. Maßstab Wenn es um die Frage geht, welcher Maßstab für die Bemessung des Ehegattenunterhalts anzulegen ist, dann „beißen“ sich zwei Grundsätze: – Im Ausgangspunkt ist die individuelle Lebensführung der Eheleute maßgebend; – dieser Ansatz unterliegt aber einer Korrektur durch eine objektivierte Sichtweise.25 Aufgrund dieser Einschränkung ist der Lebensstandard maßgebend, der  – auf der Basis des verfügbaren Einkommens – vom Standpunkt eines vernünftigen Betrachters als angemessen erscheint.26 Konkret hat das zur Folge, dass – der Maßstab im Falle einer übertrieben sparsamen Lebensführung angehoben wird,27 – dagegen der Maßstab bei verschwenderischer Lebensführung abzusenken ist.28 Die Rechtsprechung in diesem Bereich ergibt ein „buntes Bild“:29 Einerseits wurden Jagdschloss und eigene Pferdehaltung ebenso als zu luxuriös angesehen wie Motorboot und Helikopter-Skiing.30 Andererseits waren 15.000 DM Unterhalt für eine Ehefrau nicht unangemessen bei monatlichen Einkünften des Ehemannes von 70.000 DM; hier wurden auch Urlaubskosten von jährlich 30.000 DM gebilligt.31 Eine direkte Sättigungsgrenze gibt es nicht;32 allerdings ist im Einzelfall zu entscheiden, ob jedenfalls indirekt eine Obergrenze anzunehmen ist in Form des Kriteriums, dass die Ausgabe „sinnvoll und billigenswert“ sein muss.33 25 BGH v. 20.11.1996 − XII ZR 70/95, NJW 1997, 735 = FamRZ 1997, 281; BGH v. 4.11.1981 − IV b ZR 624/80, NJW 1982, 1645 = FamRZ 1982, 151.  26 BGH v. 4.7.2007 − XII ZR 141/05, NJW 2008, 57 = FamRZ 2007, 1532 mit Anm. Maurer; OLG Hamm v. 20.11.1992 – 5 UF 55/92, FamRZ 1993, 1089.  27 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532; OLG Hamm v. 20.11.1992 – 5 UF 55/92, FamRZ 1993, 1089.  28 OLG Düsseldorf v. 9.2.1996 – 6 UF 38/95, FamRZ 1996, 1418; Siebert in Wendl/Dose, § 4 Rz. 464 f. Kritisch gegen „Konsum als Lebenszweck“ Schwab, FamRZ 1982, 456, 458. 29 Born, FamRZ 2013, 1613, 1617 unter Ziff. 2 b) mit weit. Nachw. 30 OLG Koblenz v. 17.12.1984 – 13 UF 652/84, FamRZ 1985, 480; OLG Köln v. 25.11.1991 – 10 UF 105/91, FamRZ 1992, 322, 324. 31 OLG Hamm v. 13.2.1998 – 5 UF 187/97, FamRZ 1999, 723. 32 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, NJW 2010, 3372 = FamRZ 2010, 1637 mit Anm. Borth; Vomberg, FF 2012, 436, 437.  33 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, NJW 2010, 3372 Rz. 27 = FamRZ 2010, 1637 mit Anm. Borth; Siebert in Wendl/Dose, § 4 Rz. 765, 766. 

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Die Korrektur durch den objektiven Maßstab findet dort ihre Grenze, wo der Maßstab der ehelichen Lebensverhältnisse verlassen wird und Einkünfte des Schuldners zugrunde gelegt werden, die zu keiner Zeit für die Ehe prägend gewesen sind.34 2. „Schallgrenze“ Wie erwähnt, ist der Quotenunterhalt (s.o. unter I.) der Normalfall und damit sozusagen „das tägliche Brot“ des Unterhaltsrechtlers. Dagegen liegt ein Ausnahmefall dann vor, wenn aufseiten des Schuldners deutlich überdurchschnittliche Einkünfte vorhanden sind. Hier wird von der Rechtsprechung eine konkrete Bedarfsbemessung für erforderlich gehalten, weil regelmäßig vermutet werden kann, dass besonders hohe Einkünfte nicht ausschließlich für die Lebenshaltung (dazu dient der Unterhalt) verwendet, sondern auch zur Vermögensbildung oder zu anderen Zwecken eingesetzt werden.35 Diese anderen Teile können deshalb keine Grundlage für eine Unterhaltsbemessung darstellen. Bei einem Einsatz dieser Teile für die Vermögensbildung partizipiert der Berechtigte daran über den Zugewinnausgleich, sofern dieser – wie vielfach bei „besseren“ Verhältnissen üblich – nicht durch Ehevertrag ausgeschlossen worden ist. Die „Schallgrenze“, ab der nicht mehr nach Quote, sondern im Wege der konkreten Bedarfsbestimmung vorzugehen ist, wurde bisher sehr uneinheitlich bestimmt.36 Im Einzelnen: – Vielfach37 wird lediglich auf „sehr gute“ Einkommensverhältnisse abgestellt; – von anderer Seite wird die Grenze bei einem Bedarf von 5.100 Euro gesehen;38 – teilweise wurde die Grenze bei einem Bedarf von über 4.000 bzw. 2.500 Euro gezogen;39 – nach anderer Ansicht wird auf ein Übersteigen des doppelten Höchstbetrages der Düsseldorfer Tabelle durch die gemeinsamen Einkünfte (zurzeit also 11.000 Euro) abgestellt40. Der BGH hatte bisher die Grenze der obersten Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle gebilligt.41 34 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 mit Anm. Maurer. 35 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, NJW 2010, 3372 = FamRZ 2010, 1637 mit Anm. Borth. 36 Übersicht bei Siebert in Wendl/Dose, § 4 Rz. 766.  37 So in Nr.  15.3 verschiedener unterhaltsrechtlicher Leitlinien, vgl. Beilage zu NJW Heft 8/2020; Übersicht unter www. heiss-born.de. 38 OLG Köln v. 24.1.2012 – 4 UF 137/11, FamRZ 2012, 1731. 39 So in Ziff.  15.3 der Leitlinien des OLG Frankfurt und des OLG Jena. 40 So in Ziff.  15.3 der Leitlinien des OLG Koblenz und des OLG Oldenburg. 41 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, NJW 2010, 3372, 3373 Rz. 27 = FamRZ 2010, 1637 mit Anm. Borth.

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Dies erschien sinnvoll auch deshalb, weil auch beim Kindesunterhalt oberhalb dieser Grenze keine automatische Fortschreibung der Tabellensätze in Betracht kommt, sondern eine konkrete Darlegung eines weitergehenden Bedarfs erforderlich ist (s. dazu unten unter C. II. 3).42 Vor kurzem hat der BGH die bisherige „Schallgrenze“ verdoppelt, sodass nunmehr bis zu Einkünften von 11.000 Euro nach Quote gerechnet werden kann,43 was teilweise auch schon in den Leitlinien umgesetzt wurde.44 Das bedeutet im Ergebnis, dass sich die Unterhaltsgläubigerin in den meisten Fällen die Mühe einer konkreten Darlegung ihres Bedarfs auf der Grundlage einschlägiger Checklisten45 ersparen und stattdessen ihren Unterhaltsanspruch nach Quote berechnen kann. Denn bis zu der genannten Grenze besteht die Vermutung eines vollständigen Verbrauchs der Einkünfte für Unterhaltszwecke. Nur dann, wenn die Gläubigerin behauptet, dass während des Zusammenlebens auch Einkünfte oberhalb der „Schallgrenze“ für den Konsum (und damit für Unterhaltszwecke) eingesetzt worden seien, hat sie dafür die Darlegungs- und Beweislast.46 Der Schuldner hat die Möglichkeit, die Vermutungswirkung auch unterhalb der „Schallgrenze“ zu erschüttern, etwa durch konkrete Darlegung (z.B. Haushaltsbuch) von geringeren Ausgaben als von der Gläubigerin nach Quotenberechnung zugrunde gelegt.47 3. Veränderungen Bei späteren Veränderungen ist wie folgt zu unterscheiden: – In Fällen konkreter Bedarfsbestimmung kommt eine Erhöhung des Bedarfs regelmäßig nicht in Betracht. Die Unterhaltsgläubigerin kann also z.B. keine Erhöhung unter Hinweis darauf verlangen, das Einkommen des Schuldners sei gestiegen.48 In Betracht kommt aber eine Berufung auf die Geldentwertung und eine dadurch eintretende Erhöhung des Bedarfs.49

42 Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665, 670.  43 BGH v. 15.11.2017 – XII ZB 503/16, NJW 2018, 468 mit Anm. Born, NJW 2018, 470. 44 Ziff. 15.3 der Leitlinien des OLG Hamm, Jena, Koblenz, Oldenburg, Schleswig. 45 Born in Heiß/Born, Handbuch Unterhaltsrecht, Kap. 22 Rz. 97a; Born, FamRZ 2013, 1613, 1618; Born, FamFR 2012, 145, 147; Vomberg, FF 2012, 436, 442; Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665; Büte, FuR 2005, 385. 46 BGH v. 25.9.2019  – XII ZB 25/19, NJW 2019, 3570, besprochen von Born, NJW 2019, 3555. S. zur geänderten Rechtsprechung des BGH auch Schwamb, NZFam 2020, 847. 47 OLG Hamm v. 23.4.2020 – II- 2 UF 152/19, NJW 2020, 3115 mit Anm. Born, NJW 2020, 3121. 48 BGH v. 15.11.1989 – IV b ZR 95/88, NJW-RR 1990, 194 = FamRZ 1990, 280. 49 OLG Köln v. 11.10.2012 – II-12 UF 130/11, FamRZ 2013, 1134; s. dazu Graba, FamFR 2012, 536.

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– Eine Verringerung des konkreten Bedarfs kann eintreten, wenn die Einkünfte des Schuldners, z.B. beim Eintritt in den Ruhestand, sinken; in diesen Fällen kommt ein Wechsel zur Quotenberechnung in Betracht.50 Bei Wegfall eines früheren Ausgabeverhaltens ist dahin zu unterscheiden, dass – selbstgewählte Einschränkungen auf Seiten der geschiedenen Ehefrau keine Abänderung zugunsten des Ehemannes rechtfertigen,51 – ein Wegfall personaler Grundlagen, z.B. früherer „großer“ Geschenke, teurer Hobbys oder Repräsentationskosten einer Politikergattin dagegen für eine Reduzierung spricht.52 Als praktische Konsequenz könnte sich z.B. ergeben, dass eine Ehefrau, die während der Ehe stark geraucht hat (mit der Folge eines entsprechenden Ansatzes für Zigaretten beim Bedarf), keine Kürzung hinnehmen muss, sofern sie sich das Rauchen abgewöhnt. Umgekehrt dürfte sie aber dann, wenn sie nach Trennung/Scheidung z.B. aus Kummer mit dem Rauchen anfängt, gewisse Schwierigkeiten haben, weil ihr Ehemann einen trennungsbedingt eingetretenen Umstand (mit der Folge fehlender Prägung) geltend machen könnte. 4. Darlegungs- und Beweislast Im Falle der Notwendigkeit, den Bedarf konkret darzulegen, ist eine exemplarische Schilderung der Ausgaben in den einzelnen Lebensbereichen unter Nachweis entsprechenden Konsumverhaltens notwendig, aber auch ausreichend; erforderlich ist nur ein Umfang, der dem Gericht als Schätzgrundlage (§ 287 ZPO) dienen kann.53 Je länger die Ausgaben zurückliegen, umso weniger Belege stehen regelmäßig zur Verfügung; schon von daher wird sich die Ehefrau auf exemplarische Angaben beschränken müssen. Ein Rückschluss von den Gesamtausgaben für die Familie auf die Einzelbedürfnisse der Ehefrau kommt allenfalls bei allgemeinen Positionen (z.B. Essen und Trinken, Haushaltsartikel) in Betracht. In Fällen eines individuellen Ausgabeverhaltens (s.u. unter Ziff. 5 a) wird ein Rückschluss dagegen ausscheiden. Denn z.B. bei Mode, Schuhe oder Friseur kommt man mit einer einfachen Teilung nicht zu sachgerechten Ergebnissen. 50 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, NJW 2003, 1796 = FamRZ 2003, 848 mit Anm. Hoppenz. 51 BGH v. 16.1.1985 – IV b 62/83, NJW 1985, 1343 = FamRZ 1985, 582, 583; Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665, 668 unter Ziff. 3.1. 52 S. dazu OLG Hamm v. 10.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603, wo die Ehefrau Golf und Tennis wegen Rückenbeschwerden nicht mehr ausübte und die Kosten der entsprechenden Mitgliedschaft vom Gericht nicht anerkannt wurden. Allerdings bleibt hier unberücksichtigt, dass eine Mitgliedschaft auch aus sozialen/gesellschaftlichen Gründen beachtlich sein kann. 53 OLG Hamm v. 10.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603; OLG Köln v. 9.5.2001 – 27 UF 136/99, FamRZ 2002, 326. 

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5. Fallgruppen a) Unterschiedliches Ausgabeverhalten Hier wird deutlich, dass man die Gesamtausgaben der Familie (Ausgaben für Kinder schon herausgerechnet) nicht einfach teilen kann, wenn man den korrekten Bedarf der Unterhaltsgläubigerin ermitteln will. – Friseur: während die Ausgaben beim Ehemann (trotz vielleicht steigender Tendenz unter den Aspekten Tönen/Färben) in der Mehrheit der Fälle im Bereich von 15 bis 25 Euro pro Besuch liegen mögen, betragen die Ausgaben der Ehefrauen im Regelfall ein Vielfaches.54 – Kosmetik: Trotz Anti-Aging-Bestrebungen der Werbeindustrie ist hier nach wie vor ein gewisses „Gefälle“ festzustellen in der Form, dass Ehefrauen für Pflegeprodukte, Schminke und Parfüm deutlich mehr ausgeben als der Ehemann für sich selbst. – Mode: auch in gehobener Position wählen die Ehemänner (von Einzelfällen mit Maßkonfektion abgesehen) meist den „soliden“ Auszug. Deshalb stehen in der Rechtsprechung die Ausgaben auf Seiten der Ehefrau im Vordergrund. Hier ist eine relativ große Bandbreite festzustellen: So wie es Fälle gibt, in denen trotz sehr guter wirtschaftlicher Verhältnisse eher sparsam eingekauft wird, so gibt es umgekehrt Ehen, in denen trotz beschränkter Einkünfte stets mit der Mode gegangen und sehr viel für Kleidung ausgegeben wird. Neben dem Bereich der Schuhe trifft der Praktiker auch bei Unterwäsche immer wieder auf die Situation, dass der Ehemann sein dortiges eigenes Niveau (Doppelripp, Modell „Karl-Heinz“) schlicht auf den Bereich der Ehefrau überträgt und damit nur begrenzte Begeisterung auslöst, weil dort ein anderes Niveau praktiziert wird, für welches sich der Ehemann (dies jedenfalls hinsichtlich der Anschaffungskosten) in Zeiten des Zusammenlebens vielleicht weniger interessiert hat. b) Schönheit Dieser Bereich ist durch eine Entscheidung des BGH55 in den Blickpunkt geraten. Die 1952 geborene Ehefrau verlangte nachehelichen Unterhalt von monatlich 4.300 Euro. Streit bestand vor allem über die Höhe ihres (konkreten) Bedarfs und die Frage der eigenen Erwerbstätigkeit; daneben ging es um Herabsetzung und Befristung. Von BGH wurden Kosmetikaufwendungen in Höhe von monatlich 105  Euro nicht beanstandet. Der Ehemann scheiterte mit seinem Einwand, die Ehefrau müsse nach der Trennung nicht mehr als Unternehmergattin repräsentieren; entscheidend war

54 Deshalb sind in der Checkliste von Büte, FuR 2005, 385 schon vor vielen Jahren bis zu 200 Euro monatlich angesetzt worden. 55 BGH v. 18.1.2012 – XII ZR 178/09, NJW 2012, 1144 mit Anm. Börger = FamRZ 2012, 517 mit Anm. Born; zu der Thematik eingehend Born, FamFR 2012, 145.

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für das Gericht allein die Angemessenheit dieser Aufwendung auf der Grundlage der ehelichen Lebensverhältnisse. Die – pro Jahr verlangten – Kosten für künftige kosmetische Operationen von 1.800 Euro wurden dagegen nicht anerkannt. Nach Ansicht des BGH handelt es sich um einen Sonderbedarf, der für jeden Einzelfall geltend zu machen sei.56 Auch wenn es denkbar erscheine, dass die Operationen aufgrund altersbedingter Erscheinungen notwendig würden, lasse sich keine feste Zeitspanne zur Wiederholung bestimmter Maßnahmen (z.B. Fettabsaugung) festlegen, und eine Pauschalierung komme nicht in Betracht. Vor diesem Hintergrund sind die unterschiedlichen Standpunkte in diesem Bereich vorgezeichnet: – Der Ehemann wird häufig geltend machen, bei der Ehefrau liege ein überzogenes Ausgabeverhalten vor; nach dem Ende der Ehe könne sie für entsprechende „Luxusausgaben“ von ihm keine weitere Unterstützung in Form von Unterhalt erwarten. – Die Ehefrau wird dagegen vermutlich anführen, dass derartige Ausgaben mit zunehmendem Alter zwangsläufig entstünden und dass der Ehemann – eine weiter bestehende Ehe unterstellt – derartige Ausgaben unter dem Aspekt eines repräsentativen Aussehens der Ehefrau sicherlich unterstützt haben würde. Dogmatisch könnte dem Standpunkt der Ehefrau entgegengehalten werden, dass es sich um einen trennungsbedingten (und damit nicht zu berücksichtigen) Aufwand handeln könnte. Andererseits kann man sich fragen, ob Schönheitsoperationen inzwischen nicht schon zum Standard gehören, jedenfalls bei gehobenen Lebensverhältnissen. Wenn Ehe nur noch als Lebensabschnitt angesehen wird,57dann erscheint die „Verbesserung“ des optischen Erscheinungsbildes nach einer Scheidung als naheliegende Ausgabe, weil man ja wieder „neu auf dem Markt“ ist. aa) Exkurs: Bedarf und Stichtag Da sich das Maß des nachehelichen Unterhalts nach den ehelichen Lebensverhältnissen bestimmt (§ 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB), müsste alles eigentlich ganz einfach sein insofern, als das Ende der Ehe für die Bedarfsbestimmung maßgebend ist. So einfach war es aber schon früher nicht, daran hat sich bis heute nichts geändert.

56 Der BGH verweist hier auf seine frühere Entscheidung BGH v. 15.2.2006 – XII ZR 4/04, NJW 2006, 1509 = FamRZ 2006, 612 mit Anm. Luthin. 57 Das kommt auch in der Unterhaltsrechtsreform zum 1.1.2008 (vgl. dazu Born, NJW 2008, 1) zum Ausdruck.

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(1) Frühere Rechtsprechung Hier bestand Klarheit insoweit, als der Bedarf den Anspruch auf nachehelichen Unterhalt nach oben begrenzt58 und die Rechtskraft der Scheidung  – jedenfalls im Grundsatz – als entscheidender Stichtag für die Bestimmung der ehelichen Lebensverhältnisse angesehen wurde.59 Nachträgliche Änderungen der Verhältnisse sollten (mit Ausnahme der SurrogatFälle) grundsätzlich ohne Auswirkung bleiben,60 außer in den Fällen, in denen zum Zeitpunkt der Scheidung – eine spätere Veränderung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war – und diese Erwartung die ehelichen Lebensverhältnisse im Zeitpunkt der Scheidung bereits mitgeprägt hatte.61 Begründet wurde dies mit dem Gedanken der nachehelichen Solidarität. Der Bedürftige sollte auch an solchen späteren Einkommensverbesserungen teilhaben, deren Grund in der Ehe gelegt worden war und die sich im Zeitpunkt der Scheidung schon abgezeichnet hatten. Für die Prägung war ausreichend, dass die Ehegatten ihren Lebenszuschnitt im Hinblick auf die bevorstehende Entwicklung gestalten konnten.62 Bei einem späteren Wegfall von Unterhaltsverpflichtungen wurde ein enger zeitlicher Zusammenhang als wichtiges Indiz für die Beurteilung der Frage angesehen, ob die ehelichen Lebensverhältnisse durch die unerwartete Änderung schon geprägt worden waren;63 fiel die Unterhaltspflicht gegenüber einem Kind weg, wurde dieser Wegfall in der Regel als eheprägend angesehen.64 Andererseits wurde vom BGH schon damals betont, der Bedarf sei nicht als statische, sondern als dynamische Größe anzusehen.65 Das hatte verschiedene Unklarheiten zur Folge. Einerseits wurde eine übliche Beförderung des Unterhaltsschuldners als in den ehelichen Verhältnissen „angelegt“ angesehen und deshalb als bedarfsprägend berücksichtigt.66 58 So ausdrücklich die damaligen Leitlinien zahlreicher Oberlandesgerichte, vgl. Born, FamRZ 1999, 541 in Fn. 2. 59 BGH v. 24.11.1993 – XII ZR 136/92, NJW 1994, 935 = FamRZ 1994 1028. 60 BGH v. 7.6.1989 – IV b ZR 63/88, NJW-RR 1989, 1154 = FamRZ 1990, 258. 61 BGH v. 7.6.1989 – IV b ZR 63/88, NJW-RR 1989, 1154; BGH v. 3.6.1987 – IV b ZR 64/86, NJW-RR 1987, 1218. 62 BGH v. 11.2.1987 – IV b ZR 20/86, NJW 1987, 1555 = FamRZ 1987, 459, 461. 63 BGH v. 16.3.1988 – IV b ZR 40/87, NJW 1988, 2034; BGH v. 11.5.1988 – IV b ZR 42/87, NJW 1988, 2101. 64 BGH v. 20.7.1990 – XII ZR 73/89, NJW 1990, 2886 = FamRZ 1990, 1085, 1087. 65 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, NJW 1992, 2477; BGH v. 15.11.1989 – IV b ZR 3/89, NJW- RR 1990, 323. 66 BGH v. 6.5.1982 – IX ZA 1/82, NJW 1982, 1982; OLG Köln v. 21.1.1992 – 4 UF 170/91, FamRZ 1993, 711.

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Andererseits wurde dies abgelehnt für den Fall, dass die Ehefrau nach Älterwerden der Kinder eine Berufstätigkeit aufnahm mit der Folge der für sie ungünstigeren Anrechnungsmethode.67 Nicht ganz stimmig erschien auch, dass einerseits (wohl zu Recht) eine Prägung der ehelichen Lebensverhältnisse durch die Pflegebedürftigkeit der Eltern im Alter abgelehnt wurde mit der Begründung, der Anfall entsprechender Kosten sei regelmäßig nicht absehbar,68 andererseits eine Prägung durch eine nach Trennung und vor Scheidung anfallende Erbschaft bejaht wurde.69 (2) Zwischenetappe: Wandelbare eheliche Lebensverhältnisse (a) Rechtsprechung Anfang 2003 wurde vom BGH ausgeführt, nach der Scheidung eintretende Einkommensverminderungen seien bei der Bedarfsbemessung von der Unterhaltsgläubigerin hinzunehmen, sofern sie nicht auf einer Verletzung der Erwerbsobliegenheit des Schuldners beruhten oder durch freiwillige berufliche oder wirtschaftliche Dispositionen des Schuldners veranlasst seien und von diesem durch zumutbare Vorsorge aufgefangen werden könnten.70 Im Frühjahr 2006 wurde vom BGH entschieden, das Hinzutreten vorrangiger oder gleichrangiger weiterer Unterhaltspflichten nach Scheidung müsse sich schon auf den Unterhaltsbedarf des geschiedenen Ehegatten auswirken.71 Anfang 2007 wurde daran festgehalten, dass auch nach dieser neuen Rechtsprechung zu den „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen“ eine Einkommenserhöhung aufgrund „Karrieresprungs“ nicht als eheprägend zu berücksichtigen sei, während etwas Anderes für eine Verringerung des Einkommens aufgrund des Eintritts des Schuldners in eine Religionsgemeinschaft gelte.72 Zum Stichwort „neue Kinder“ wurde ein vorläufiger Schlusspunkt im Februar 2008 gesetzt. Hier nahm der BGH – entgegen seiner früheren Rechtsprechung –73 eine bedarfsprägende Wirkung durch die Unterhaltspflicht des Schuldners auch für ein erst 67 BGH v. 4.11.1987 – IV b ZR 81/86, NJW-RR 1988, 514; BGH v. 23.4.1986 – IV b ZR 34/85, NJW 1987, 58. 68 OLG Hamm v. 22.8.1997 – 13 UF 107/97, NJWE-FER 1998, 25 = OLGR 1997, 277 = FamRZ 1998, 621 (Ls.). 69 BGH v. 8.6.1988 – IV b ZR 68/87, NJW-RR 1988, 1282; OLG Hamm v. 6.8.1997 – 5 UF 299/05, NJW-RR 1998, 6; OLG Hamm v. 20.2.1992  – 1 UF 528/90, FamRZ 1992, 1184, 1186. 70 BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, BGHZ 153, 358 = NJW 2003, 1518 = FamRZ 2003, 590 mit Anm. Büttner. 71 BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, BGHZ 166, 351 = NJW 2006, 1654 = FamRZ 2006, 765 mit Anm. Büttner. 72 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, NJW 2007, 1961 mit Anm. Graba, NJW 2007, 1968.  73 BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 98/97, NJW 1999, 717 = FamRZ 1999, 367 mit Anm. Graba.

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nach Rechtskraft der Scheidung geborenes Kind an und machte grundsätzliche Ausführungen zum Einfluss späterer Änderungen auf den Bedarf.74 (b) Kritik Diese Rechtsprechung war von Anfang an erheblicher Kritik ausgesetzt.75 Von Brudermüller wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber den Maßstab der „ehelichen Lebensverhältnisse“ nicht durch denjenigen der „jeweils aktuellen Verhältnisse“ ersetzt habe.76 Von Seiten des Verfassers77 wurde kritisiert, es erscheine systematisch wenig stimmig, dass das (frühere) Erfordernis des „Angelegtseins“ in Bezug auf bedarfsprägende spätere Veränderungen bei den Verschlechterungen des Einkommens aufgegeben worden sei, bei den Verbesserungen dagegen nicht. Gleiches gelte für den Umstand, dass ein „Stichtagsrest“ bei der Frage des Karrieresprungs verblieben sei, während im Rahmen der Verschlechterung zeitliche und inhaltliche Einschränkungen nicht mehr bestünden und die Grenze erst bei einem unterhaltsrechtlichen Fehlverhalten gezogen werde. Auch von anderer Seite wurde beanstandet, dass – lange nach Scheidung in neuer Beziehung oder Ehe geborene – neue Kinder nichts mehr mit der früheren Ehe zu tun hätten. Man könne die frühere (ungewollt oder sogar gewollt) kinderlose Ehe nicht im Nachhinein zu einer Ehe mit Kindern umfunktionieren; deshalb komme keine Bedarfsprägung durch eine Unterhaltspflicht für nach Scheidung geborene Kinder in Betracht.78 Trotz dieser zahlreichen Kritikpunkte blieb der BGH bei seiner Auffassung zu den „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen“, was den Verfasser zu dem Hinweis veranlasste, eine Korrektur komme wohl nur noch durch das Bundesverfassungsgericht in Betracht.79 (c) Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht Durch Beschluss vom 25.1.2011 wurde die vom BGH entwickelte Rechtsprechung zu den „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen“ vom Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbin74 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, NJW 2008, 1663 mit Anm. Born, NJW 2008, 1669 = FPR 2008, 303 mit Anm. Graba = FamRZ 2008, 968 mit Anm. Maurer. 75 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Graba, FamRZ 2008, 1217, 1222; Büttner/Niepmann, NJW 2008, 2391, 2394; Born, NJW 2008, 3089. 76 Brudermüller in Palandt, Nachtrag zur 67. Aufl. 2008, § 1578 BGB Rz. 8. 77 Born, NJW 2008, 3089, 3091 unter III.; Born, NJW 2009, 594. 78 OLG Celle v. 18.7.2007 – 15 UF 236/06, FF 2007, 262 mit Anm. Born; OLG Celle v. 11.4.2007 15 UF 221/06, FamRZ 2007, 1818, besprochen von Born, FD-FamR 2007, 230098; Graba, FPR 2008, 309, 310 unter 6; Graba, FamRZ 2008, 1217, 1223. 79 Born, NJW 2008, 3089, 3095 unter V. 4; Born, NJW 2009, 594. S. auch Norpoth, FamRZ 2009, 26, der einen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip sieht.

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dung mit Art. 20 Abs. 3 GG für verfassungswidrig erklärt. Vom Gericht wurde die geäußerte Kritik dahin bestätigt, dass mit der Berücksichtigung des Unterhalts des neuen Ehegatten bereits beim Bedarf jeglicher Bezug zu den ehelichen Lebens­ verhältnissen (§  1578 Abs.  1 BGB) verloren gehe und die  – vom Gesetzgeber normierte – Unterscheidung zwischen Bedarf und Leistungsfähigkeit aufgehoben würde.80 (d) Rückkehr zum Stichtagsprinzip Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war Anlass für den BGH, eine Rückkehr zum Stichtagsprinzip vorzunehmen.81 Danach bleibt es (wie früher) dabei, dass nach Rechtskraft der Scheidung eintretende Veränderungen nur dann als „prägend“ und somit bedarfsbestimmend anzusehen sind, wenn sie – entweder unabhängig von der Ehescheidung eintreten, z. B. im Fall des Rentenbeginns82 – oder bei Scheidung bereits angelegt und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten waren, z.B. bei Wegfall von Darlehensverpflichtungen83 bzw. Kindesunterhalt,84 unverschuldeter Einkommensminderung85 oder bei Unterhaltspflichten für ein vor Rechtskraft der Scheidung (ehelich oder außerehelich) geborenes Kind.86 In Bezug auf das „Seitensprungskind“ hat der BGH die Maßgeblichkeit der Rechtskraft der Scheidung als Stichtag erst kürzlich bestätigt.87 Der „fruchtbare Fremdgänger“ profitiert (im Sinne einer Bedarfsprägung zu Lasten der Ehefrau) von Abzügen für Kindes- und Betreuungsunterhalt also nur dann, wenn das Kind vor Rechtskraft der Scheidung geboren wird. Der Kritik ist zuzugeben, dass 80 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, NJW 2011, 836 = FamRZ 2011, 437. S. dazu Götz/ Brudermüller, NJW 2011, 801; Maurer, FamRZ 2011, 849; Born, FF 2011, 136. Kritisch gegen das Bundesverfassungsgericht Siebert in Wendl/Dose, § 4 Rz. 428, die davon ausgeht, das Bundesverfassungsgericht habe das vom BGH zugrunde gelegte „Rechenwerk vom Grundsatz her nicht verstanden“ (S. 977). 81 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, BGHZ 192, 45 = NJW 2012, 384 = FamRZ 2012, 281 = FF 2012, 118 mit Anm. Born; vgl. Dose, FF 2012, 227. Für eine völlige Abkehr vom Stichtagsprinzip dagegen Obermann, NZFam 2014, 577. 82 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848. 83 BGH v. 4.11.2015 – XII ZR 6/15, FamRZ 2016, 203 Rz. 21. 84 BGH v. 16.3.1988 – IV b 40/87, FamRZ 1988, 701. 85 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, BGHZ 192, 45 = FamRZ 2012, 281 Rz. 24 = FF 2012, 118 (Ls.) mit Anm. Born. 86 BGH v. 7.5.2014 – XII ZB 258/13, NJW 2014, 2109 = FamRZ 2014, 1183 mit Anm. Graba; BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, BGHZ 192, 45 = FamRZ 2012, 281 = FF 2012, 118 (Ls.) mit Anm. Born. 87 BGH v. 25.9.2019  – XII ZB 25/19, NJW 2019, 3570 Rz.  32, besprochen von Born, NJW 2019, 3555.

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dies Zufallsentscheidungen begünstigt; andererseits ist nicht zu verkennen, dass in anderen Bereichen (z.B. beim Zugewinnausgleich) aus Gründen der Praktikabilität ebenfalls mit einem festen Stichtag gearbeitet wird. Da man den Eintritt der Rechtskraft durch verfahrensbezogene Maßnahmen verzögern kann, könnte es sich anbieten, als Stichtag nicht auf die Rechtskraft der Scheidung, sondern bereits auf die Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags abzustellen.88 Aus dogmatischer Sicht ist damit „die Welt wieder in Ordnung“. Auf der Basis der aktuellen Rechtsprechung ist die praktische Handhabung dagegen erneut komplizierter geworden, denn es sind Doppelberechnungen vorzunehmen, und der zunächst ermittelte Bedarf muss im Rahmen der Leistungsfähigkeit (außer bei zusätzlich vorhandenen Einkünften auf Seiten des Schuldners) korrigiert werden.89 Das widerspricht dem erklärten Ziel der Unterhaltsrechtsreform, durch die neue Rangordnung Doppelberechnungen nach Möglichkeit zu vermeiden.90 bb) Anwendung Was bedeuten diese Grundsätze nun für Schönheitsoperationen? Sind diese „angelegt“, oder sind sie „mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten“? Der Alterungsprozess ist nicht in der Ehe angelegt, sondern bereits in der menschlichen Existenz. Deshalb dürfte es regelmäßig Tatfrage sein, ob man – bei gedachtem Fortbestand der Ehe  – die Durchführung einer Schönheitsoperation unterstellen kann. Gerade weil man in diesem Bereich häufig den Eindruck gewinnt, dass die Betroffenen vor sich selbst geschützt werden müssen, was sich auch an der steigenden Anzahl der plastischen Operationen zeigt,91 erscheint es sachgerecht, dass die Gerichte im Rahmen der objektiven Überprüfung der geltend gemachten Positionen gerade auch in diesem Bereich untersuchen, ob die Ausgaben „sinnvoll und billigenswert“ sind. Dies sowie die Frage der hohen Wahrscheinlichkeit wird nur im Einzelfall zu entscheiden sein. Klargestellt hat der BGH, dass derartige Ausgaben rechtlich als Sonderbedarf anzusehen sind. Aufgrund seiner Unregelmäßigkeit kann ein Sonderbedarf nicht als laufende Position geltend gemacht werden, was bereits für sich allein gegen eine Ein­ 88 Born, NJW 2019, 3555, 3556; Borth in Schwab/Ernst, Handbuch Scheidungsrecht, 8. Aufl. 2019, § 8 Rz. 1087 a.E. 89 Deshalb kritisch Siebert in Wendl/Dose, § 4 Rz. 128. 90 BT-Drucks. 16/1830, 24. 91 Zum Zahlenmaterial vor einigen Jahren Born in FS Brudermüller, 2014, S.  37, 43 unter Fn. 46; Born, FamRZ 2013, 1613, 1620 unter Fn. 82. Aktuell (FAZ online v. 7.4.2020): Nach Angaben des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft der plastischen, rekonstruktiven und ästhetischen Chirurgie sind Schönheits-OPs bei Männern in den letzten fünf Jahren um 10 % gestiegen, bei Frauen um 6 %. Ein Wachstum von 20 % gibt es – bei beiden Geschlechtern gleich – im Bereich von Botox und Fillern. Tendenz: die Männer holen auf; nicht ohne Grund setzt die Werbung auf bekannte Gesichter wie Joachim Löw (Gesichtscreme) und Jürgen Klopp (Zähne und Haare gerichtet).

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beziehung in den monatlichen Unterhalt spricht. Dagegen wird sich das weitere Erfordernis der außergewöhnlichen Höhe angesichts des Preisniveaus solcher Eingriffe vermutlich leichter bejahen lassen.

III. Auswirkungen des neuen Unterhaltsrechts Einschränkungen musste eine Ehefrau mit hohen Unterhaltsansprüchen schon aufgrund der Entscheidung des BGH vom 12.4.200692 hinnehmen, denn in dieser Entscheidung wurde die Abschaffung der Lebensstandardgarantie vorgenommen; das Prinzip „einmal Chefarztgattin – immer Chefarztgattin“ hatte ausgedient. Eine weitere Einschränkung ergab sich dann durch die Gesetzesreform zum 1.1.2008;93nach neuem Recht ist inzwischen entscheidend, ob die Bedürftigkeit der Ehefrau auf ehebedingte Nachteile94 zurückzuführen ist oder ob sich ihr Anspruch auf Ehegattenunterhalt aus dem Gesichtspunkt der nachehelichen Solidarität rechtfertigt.95 Relevant werden diese Fragen im Rahmen der – zum 1.1.2008 eingeführten – Vorschrift des § 1578 b BGB.96 Die Vorschrift ermöglicht in denjenigen Fällen, in denen eine auf Dauer angelegte unbeschränkte Unterhaltspflicht unbillig wäre, eine Begrenzung der Anspruchshöhe oder (gegebenenfalls nach einer Übergangsfrist) den vollständigen Wegfall des Anspruchs. Der Zweck liegt in der stärkeren Betonung der wirtschaftlichen Eigenverantwortung des geschiedenen unterhaltsbedürftigen Ehegatten. Andererseits soll sichergestellt werden, dass der Berechtigte einen Ausgleich für solche Nachteile erhält, die bei ihm dadurch entstanden sind, dass er wegen der Rollenverteilung in der Ehe (insbesondere der Kinderbetreuung) nach der Scheidung seinen eigenen Unterhalt nicht oder nicht ausreichend sicherstellen kann.97 Im Ergebnis hat die Vorschrift – in Umsetzung der Entscheidung des BGH vom 12.4.2006 – das Ende der Lebensstandardgarantie festgeschrieben.

92 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, NJW 2006, 2401 = FamRZ 2006, 1006 mit Anm. Born. 93 S. dazu Born, NJW 2008, 1. 94 BGH v. 17.2.2010 – XII ZR 140/08, NJW 2010, 1598 mit Anm. Born, NJW 2010, 1603 = FamRZ 2010, 629. 95 BGH v. 2.3.2011  – XII ZR 44/09, NJW 2011, 1284 mit Anm. Born, NJW 2011, 1288 = FamRZ 2011, 713. Zu Ehe und nachehelicher Solidarität s. Dose, FamRZ 2011, 1341 sowie aktuell Schürmann, NZFam 2020, 837.  96 Ausführlich dazu Born, NJW 2018, 497; Bömelburg in Wendl/Dose, § 4 Rz. 1000 ff. 97 BT-Drucks. 1/1830, S. 18. 

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Es liegt auf der Hand, dass daraus erhöhte Schwierigkeiten der Sicherung eines hohen Bedarfsniveaus resultieren. Denn – bereits durch die objektive Bedarfskontrolle wird jeder vom Gericht als übertrieben empfundene „Luxus“ aussortiert; vieles wird nicht als „sinnvoll und billigenswert“ angesehen werden.98 – Aufgrund der Anspruchsbeschränkung nach §  1578 b BGB ergeben sich weitere Einschränkungen: – Im Bereich des ehebedingten Nachteils muss sich die Ehefrau mit den Schwierigkeiten aufgrund der sekundären Darlegungslast auseinandersetzen.99 – Im Rahmen der nachehelichen Solidarität führt die Billigkeitsprüfung nur ausnahmsweise zu einem dauerhaften Unterhaltsanspruch, zumal die Aufwertung des Kriteriums der Ehedauer im Rahmen der Neufassung des § 1578 b BGB nur zur „Klarstellung“ der bisherigen BGH-Rechtsprechung gedient hat.100

C. Kindesunterhalt I. Normalfall: Unterhalt nach Düsseldorfer Tabelle 1. Grundsätze Wenn Eltern getrennt leben, haften sie für den Unterhalt ihrer Kinder als Teilschuldner nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen. Bei Schaffung des BGB war die Hausfrauenehe die typische Eheform; daraus resultiert das sogenannte Residenzmodell (nach der Trennung der Eltern lebt das Kind bei einem Elternteil) und somit beim Unterhalt in den meisten Fällen das Prinzip: „Mutter betreut, Vater bezahlt“. Diese beiderseitigen Leistungen werden vom Gesetz als gleichwertig angesehen (§ 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB). Gelegentliche Differenzen, die man in der Praxis immer wieder hört, ändern daran nichts. Die zahlungspflichtigen Väter beklagen sich häufig darüber, bei Kindern im Teenager-Alter finde von Seiten der Mutter so gut wie keine Betreuung mehr statt, während die eigene Zahlungspflicht unverändert weiterlaufe und mit höherem Kindesalter sogar steige. Die Mütter werfen den Vätern dagegen häufig Bequemlichkeit vor und machen geltend, dass die Betreuung des Kindes gerade in problematischen 98 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, NJW 2010, 3372 Rz. 27 = FamRZ 2010, 1637 mit Anm. Borth; Siebert in Wendl/Dose, § 4 Rz. 765. 99 BGH v. 26.10.2011  – XII ZR 162/09, NJW 2012, 74 mit Anm. Born, NJW 2012, 77 = FamRZ 2012, 93 mit Anm. Viefhues. Eingehend zur Beweislast Born, NJW 2010, 1793. 100 BGH v. 20.3.2013 – XII ZR 120/11, NJW 2013, 1447 = FamRZ 2013, 864 mit Anm. Born; BGH v. 20.3.2013 – XII ZR 72/11, NJW 2013, 1530 = FamRZ 2013, 853 mit Anm. H ­ oppenz, jeweils unter Rz. 35 unter Hinweis auf Born, NJW 2013, 561, 563 und Borth, FamRZ 2013, 165, 167; Graba, FamFR 2013, 49.

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Phasen (z.B. Pubertät) deutlich aufwendiger sei als die „einfache“ Zahlung von Geld. Der Umfang der erforderlichen Betreuung dürfte von der jeweiligen Lebensphase der Kinder abhängen, also in gewissen „Wellenbewegungen“ verlaufen.101 Gerade aufgrund der Abschaffung des „Altersphasenmodells“,102 wonach sich der Umfang der erforderlichen Kindesbetreuung (mit der Folge unterschiedlich starker Einschränkung bei einer Berufstätigkeit der Mutter) nicht mehr nach einem altersabhängigen „Raster“ richtet, sondern  – für ehelich wie nichtehelich geborene Kinder gleichermaßen – ein Unterhaltsanspruch des betreuenden Elternteils grundsätzlich nur für eine „Basiszeit“ von drei Jahren nach der Geburt des Kindes besteht (§ 1570 Abs. 1, § 1615 l Abs. 2 Satz 3 BGB) und für die Zeit danach eine Verlängerungsmöglichkeit nach Billigkeit vorgesehen ist (§ 1570 Abs. 1 Sätze 2, 3, § 1615 l Abs. 2 Satz 4 BGB),103 kommt der Notwendigkeit einer konkreten Darlegung des erforderlichen Betreuungsunterhalts eine besondere Bedeutung zu. Nach § 1610 Abs. 1 BGB muss der Barunterhalt den gesamten Lebensbedarf des Kindes abdecken, also – die Grundbedürfnisse (Ernährung, Kleidung, Wohnung und Heizung), – die Mittel für eine Teilnahme am sozialen Leben (Erholung, Freizeitgestaltung, angemessene kulturelle Bedürfnisse), – daneben zum Teil auch individuelle Bedürfnisse für Mehrbedarf, z.B. bei Behinderung oder Krankheit.104 Ab einem bestimmten Lebensalter gehört auch das Taschengeld zum Lebensbedarf, ohne dass darauf allerdings ein Rechtsanspruch bestünde. Denn die Eltern dürfen mit der Gewährung von Taschengeld legitimerweise auch erzieherische Zwecke verfolgen, sodass ihnen dazu die Einzelheiten überlassen bleiben müssen.105 Anders ist die Situation beim haushaltsführenden Ehegatten: Hier wird ein Anspruch auf Taschengeld angenommen.106

101 Siehe dazu Born, FPR 2013, 152, 156; Born, FF 2009, 92, 100. 102 S.  dazu Dose, FPR 2012, 129; Schilling, FPR 2012, 454; Born, NJW 2012, 3004; Born, FamFR 2011, 481. 103 Zur Anspruchsverlängerung eingehend (mit Checklisten) Born, NJW 2015, 534; Born, NZFam 2014, 776; zur Darlegungs- und Beweislast in diesem Bereich Born, FPR 2013, 152. 104 BGH v. 25.11.1992  – XII ZR 164/91, FamRZ 1993, 417; BGH v. 23.10.1985  – IV b ZR 52/84, FamRZ 1986, 48. 105 Langeheine in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 1610 Rz. 12. 106 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 140/96, FamRZ 1998, 608. 

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2. Bedarfsbestimmung nach Tabellensätzen a) Kindesunterhalt Beim Kindesunterhalt ist eine Bedarfsbestimmung nach Tabellensätzen in der Praxis ganz allgemein üblich. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Düsseldorfer Tabelle im Jahre 2012 wurde nochmals der Vorteil betont, den eine Pauschalisierung in einem „Massengeschäft“ bietet, wie es Unterhaltsverfahren nun einmal sind.107 Die sich aus der Tabelle ergebenden Beträge sind Erfahrungswerte, die den Lebensbedarf des Kindes – ausgerichtet an seinem Alter und den Lebensverhältnissen der Eltern – auf der Grundlage von durchschnittlichen Lebenshaltungskosten typisieren mit dem Ziel, eine möglichst gleichmäßige Behandlung von gleichen Lebenssachverhalten zu erreichen.108 Wohl mehr Wunsch als Realität ist allerdings die Aussage, ein nach der Tabelle gewonnenes Ergebnis müsse stets auf seine Angemessenheit für den zu entscheidenden Einzelfall überprüft werden.109 Eine solche Überprüfung geschieht weniger in Bezug auf Einzelheiten zum Bedarf als vielmehr im Rahmen der Frage, ob nicht bei unter- oder überdurchschnittlicher Anzahl von Unterhaltsberechtigten eine Herauf- oder Herabstufung in andere Einkommensgruppen gerechtfertigt ist (diese Möglichkeit ist vorgesehen unter A. 1 der Düsseldorfer Tabelle). Weil die Pauschalisierung zur Befriedigung und Beruhigung des Unterhaltsrechtsverhältnisses geschaffen wurde,110 scheidet eine Anhebung des Tabellenunterhalts wegen besonderer Ausgaben z.B. für Geburtstage, sonstige Feste oder für Kleidung aus. Dagegen können zusätzliche Zahlungen zu erbringen sein im Falle eines regelmäßigen Mehrbedarfs, z.B. bei krankheitsbedingten Mehrkosten oder teuren Hobbys oder bei (unregelmäßig auftretendem) Sonderbedarf, z.B. im Falle von vorübergehend notwendigen Nachhilfestunden, Schulabschlussfahrten oder Kosten für Implantate.111 Die Düsseldorfer Tabelle macht das Einkommen des barunterhaltspflichtigen Elternteils zum Kriterium für die Höhe des Bedarfs. Der darin liegende Vereinfachungs­ effekt lässt sich nicht bestreiten. Bedenken sind allerdings angebracht, weil sich die Lebensstellung des Kindes (bei zusammen- wie bei getrenntlebenden Eltern) regelmäßig von beiden Elternteilen ableitet112 und der Bedarf des Kindes damit jedenfalls 107 Zur Entwicklung der Tabelle s. Otto, FamRZ 2012, 837; zur Tabelle selbst s. ausführlich Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 315 ff. 108 BGH v. 13.10.1999 – XII ZR 16/98, FamRZ 2000, 358. 109 BGH v. 19.7.2000 – XII ZR 161/98, FamRZ 2000, 1492; BGH v. 13.10.1999 – XII 16/98, FamRZ 2000, 358.  110 BGH v. 8.2.1984 – IV b ZR 52/82, FamRZ 1984, 470, 472. 111 Zum Mehrbedarf s. Klinkhammer in Wendl/Dose, §  2 Rz.  232  ff.; zum Sonderbedarf s. Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 237, § 6 Rz. 1 ff. 112 So bereits vor Jahren zu Recht Scholz, FamRZ 2006, 1728, 1729.

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dann höher liegt, wenn beide Eltern erwerbstätig sind. Dem hat der BGH jetzt (in einer Grundsatzentscheidung zum Wechselmodell; s. dazu unten unter Ziff.  3)113 Rechnung getragen und anerkannt, dass auch ein im Residenzmodell betreutes Kind regelmäßig einen höheren Lebensstandard hat, wenn der allein oder überwiegend betreuende Elternteil ebenfalls Einkommen erzielt. Als Konsequenz ist in diesen Fällen (ebenso wie bei Geschwistertrennung) der Bedarf des Kindes nach dem zusammengerechneten Einkommen beider Eltern zu ermitteln.114 Die Düsseldorfer Tabelle ist für die Bemessung des angemessenen Unterhalts i.S.d. § 1610 BGB lediglich ein Hilfsmittel im Sinne einer Richtlinie, worauf in der Tabelle selbst unter A 1 hingewiesen wird. Da die Richtsätze der Tabelle somit nur eine Empfehlung darstellen, bleibt es Unterhaltsschuldner wie Unterhaltsgläubiger unbenommen, aus ihrer Sicht erforderliche Abweichungen von den Tabellensätzen vorzutragen.115 b) Exkurs: Betreuungsunterhalt Die pauschale Betrachtungsweise, die beim Betreuungsunterhalt in Form eines altersbezogenen „Rasters“ vorhanden war, wurde im Zuge der Abschaffung des sogenannten „Altersphasenmodells“ aufgegeben.116 Stattdessen ist jetzt eine Einzelfall-Betrachtung erforderlich mit der Folge einer konkreten Darlegung der Betreuungsbedürftigkeit des jeweiligen Kindes, was erheblichen Mehraufwand erfordert.117 Hier ist ein Eingehen auch auf die jeweilige Lebensphase des Kindes erforderlich, dessen Betreuungsbedürftigkeit nicht linear mit steigenden Alter abnimmt, sondern regelmäßig in „Wellenbewegungen“ verläuft. Dazu denke man nur an den Wechsel von der Grundschule zur weiterführenden Schule oder die Veränderungen aufgrund der Pubertät, wodurch auch bisher unauffällige Kinder vorübergehend „aus der Spur“ geraten können.118 113 BGH v. 11.1.2017 – XII ZB 565/15, BGHZ 213, 254 = NJW 2017, 1676 mit Anm. Graba, NJW 2017, 1680 = FamRZ 2017, 437 mit Anm. Schürmann = FF 2017, 110 mit Anm. Seiler; s. dazu Born in LMK 2017, 387646. 114 BGH v. 11.1.2017 – XII ZB 565/15, FamRZ 2017, 437 Rz. 25; BGH v. 15.2.2017 – XII ZB 201/16, FamRZ 2017, 711 mit Anm. Maaß = NZFam 2017, 312 mit Anm. Graba, NZFam 2017, 314. 115 Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 317. 116 S. dazu Dose, FPR 2012, 129; Schilling, FPR 2012, 454; Born, FPR 2013, 152; Born, NJW 2012, 3004.  117 Zur Kritik an der vollständigen Abschaffung des „Altersphasenmodells“ und für ein Raster (i.S. einer widerlegbaren Vermutung) mit der Möglichkeit von Abweichungen bei entsprechendem Sachvortrag Born, FF 2017, 236, 247 unter d) aa), auch unter Hinweis da­ rauf, dass der Gesetzgeber den Wechsel zu Einzelfall-Entscheidungen nicht gefordert hat (BT-Drucks. 16/1830 S.  17). Für ein modifiziertes Altersphasenmodell auch Norpoth, FamRZ 2011, 874; Maurer, NJW 2011, 1586. 118 Born, FPR 2013, 152, 156; Born, FF 2009, 92, 100. 

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Nicht selten wird das betreffende Kind aber auch „krankgeredet“ mit dem Ziel, dass der betreuende Elternteil länger in den Genuss von Betreuungsunterhalt kommt. Hier reicht es nicht aus, dass auf das Vorliegen einer bestimmten Krankheit des Kindes hingewiesen wird. Vielmehr muss konkret vorgetragen werden, welche Auswirkungen die Krankheit hat und warum sie eine Betreuung gerade durch den Elternteil erfordern soll.119 Das gilt selbst dann, wenn es sich um ein sogenanntes „Problemkind“ handelt.120 3. Wechselmodell Jedenfalls seit Einführung der gemeinsamen elterlichen Sorge (§ 1626 BGB)121 kann man feststellen, dass sich viele Kinder – über kurze Besuchskontakte ein oder zweimal im Monat hinaus  – häufiger und länger beim umgangsberechtigten Elternteil aufhalten mit der Folge, dass sich dieser Umgang teilweise einer Mitbetreuung an­ nähert. In diesem Bereich ist manches streitig und vieles im Fluss. Der BGH hat die Schwierigkeiten gesehen, die sich bei der Frage ergeben, ob noch ein „normaler“ Umgang (ohne Auswirkungen auf die Barunterhaltspflicht) vorliegt oder schon eine Mitbetreuung in so großen Umfang, dass daraus auch unterhaltsrechtliche Konsequenzen gezogen werden müssten. In seiner „50 %-Entscheidung“ hat der BGH122 klargestellt, dass auch die Ausübung eines großzügigen Umgangsrechts für sich allein nicht zur teilweisen Erfüllung des Unterhalts führt und deshalb die Zahlungspflicht nicht reduziert wird. Das lässt unberücksichtigt, dass der umgangsberechtigte Elternteil (meist der Vater) in diesem Fall erhebliche Aufwendungen hat und gleichzeitig bei der Kindesmutter nicht unerhebliche Ersparnisse eintreten.123 Das in der Literatur für diese Fälle vorgeschlagene „Trostpflaster“ in Form einer Herabstufung um eine oder mehrere Gruppen der Düsseldorfer Tabelle124 hat der BGH inzwischen als Korrekturmöglichkeit anerkannt.125

119 BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 (Asthma); BGH v. 6.5.2009 – XII ZR 114/08, FamRZ 2009, 1124 mit Anm. Borth (ADS). 120 Ausführlich dazu Viefhues, FF 2011, 153. Zur „Mimosen-Einrede“ Born, NJW 2008, 1, 8.  121 S. dazu Born, FamRZ 2000, 396. Ohne Antrag eines Elternteils (§ 1671 BGB) bleibt es auch nach Trennung und Scheidung bei der gemeinsamen Sorge, außer bei Gefährdung des Kindeswohls i.S. von § 1666 BGB und der Notwendigkeit familiengerichtlicher Maßnahmen. 122 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 161/04, NJW 2007, 1882; s. dazu Born, NJW 2007, 1859. 123 Deshalb zu Recht kritisch Luthin, FamRZ 2007, 710; Born, NJW 2007, 1859, 1861. 124 Born, NJW 2007, 1859, 1861; Born, FPR 2008, 88; Kaiser, FPR 2008, 143, 147; RaketeDombek, FF 2007, 200, 201. 125 BGH v. 12.3.2014 – XII ZB 234/13, NJW 2014, 1958 = FamRZ 2014, 917 mit Anm. Schürmann, besprochen von Born, LMK 2014, 358226.

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Aktuell unterschieden werden drei Fallgruppen: – übliches Umgangsrecht: Grundsätzlich keine Berücksichtigung von Umgangskosten; Ausnahme: Mangelfall. – annäherndes Wechselmodell: Herabstufung in der Düsseldorfer Tabelle, Erfüllungswirkung von entlastenden Aufwendungen. – Paritätisches Wechselmodell: Bedarf nach den zusammengerechneten Einkommen der Eltern, anteilige Unterhaltspflicht.126 Für diesen dritten Fall hat der BGH in einer Grundsatzentscheidung festgehalten, dass – sich der Unterhaltsbedarf nach dem beiderseitigen Einkommen der Eltern bestimmt, – der Bedarf zusätzlich die infolge des Wechselmodells entstehenden Mehrkosten umfasst, – grundsätzlich beide Elternteile für den Barunterhalt des Kindes einzustehen haben.127 Zu unterscheiden ist zwischen solchen Kosten, die zu einer teilweisen Bedarfsdeckung führen, und anderen Kosten, die reinen Mehraufwand für die Ausübung des Umgangsrechts darstellen und den anderen Elternteil nicht entlasten.128 Liegt dagegen kein strenges (paritätisches) Wechselmodell vor, sondern „nur“ ein umfangreicher Umgang, dann stellen z.B. Kosten für die Vorhaltung eines Kinderzimmers zur Ausübung des Umgangs keinen Mehrbedarf des Kindes dar und bleiben unterhaltsrechtlich unberücksichtigt; begründet wird das damit, es erscheine typischerweise angemessen und ausreichend, die Kinder in den Räumlichkeiten mit unterzubringen, die dem individuellen Wohnbedarf des Unterhaltsschuldners entsprechen.129 Nach Ansicht des BGH liegt noch kein Wechselmodell vor, wenn das Kind etwa zu 1/3 vom Unterhaltsschuldner betreut wird, ebenso wenig dann, wenn es regelmäßig fünf von 14 Tagen sowie die Hälfte der Schulferien beim Unterhaltsschuldner lebt und dort betreut wird.130 126 Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 449. 127 BGH v. 11.1.2017 – XII ZB 565/17, BGHZ 213, 254 = NJW 2017, 1676 mit Anm. Graba, NJW 2017, 1680 = FamRZ 2017, 437 mit Anm. Schürmann = FF 2017, 110 mit Anm. Seiler; s. dazu Born in LMK 2017, 387646.  128 BGH v. 12.3.2014 – XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917 mit Anm. Schürmann; s. dazu Born, LMK 2014, 358226. 129 BGH v. 12.3.2014 – XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917 Rz. 35; MAH Familienrecht/Bömelburg, 5. Aufl. 2020, § 6 Rz. 138. 130 BGH v. 21.12.2005  – XII ZR 126/03, FamRZ 2006, 1015 mit Anm. Luthin; BGH v. 12.3.2014 – XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917 Rz. 16; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 161/04,

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II. Sonderfall: Besonders gute Lebensverhältnisse Die Einkommensgruppe 10 der Düsseldorfer Tabelle (als höchste Gruppe) endet bei einem verfügbaren Einkommen von zurzeit 5.500 Euro. Für den darüber liegenden Bereich gibt die Tabelle keine Empfehlungen, sodass eine Ausfüllung dieses Bereichs der Rechtsprechung vorbehalten bleibt. 1. Minderjähriges Kind Hier stehen sich zwei Grundsätze gegenüber: – Einerseits ist von Bedeutung, dass das Kind nur eine abgeleitete, aber noch keine selbständige Lebensstellung (§ 1610 Abs. 1 BGB) erreicht hat, was für ein Abstellen auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern spricht.131 – Andererseits wird die Lebensstellung des minderjährigen Kindes während seiner Schul- und Ausbildungszeit in erster Linie durch sein „Kindsein“ geprägt.132 Der BGH vertritt einerseits in ständiger Rechtsprechung, dass es für den Bedarf des Kindes – selbst bei besonders hohen Einkünften der Eltern – keine Sättigungsgrenze gibt.133 Andererseits wird betont, dass ein minderjähriges Kind zwar die Befriedigung seines (auch gehobenen) Lebensbedarfs, aber keine Teilhabe am Luxus verlangen kann;134 daraus wird gefolgert, dass dem Kind auch bei sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern nicht das geschuldet wird, was es wünscht, sondern was es braucht.135 Praktisch gelöst wurde das Problem dadurch, dass der BGH – über die Höchstsätze der Düsseldorfer Tabelle hinaus – eine automatische Fortschreibung der Beträge bisher ausdrücklich abgelehnt (s. unten unter 3a)136 und stattdessen – auch bei einer nur geringfügigen Überschreitung der Tabellenhöchstsätze – eine konkrete Darlegung eines die Höchstsätze übersteigenden weiteren Bedarfs verlangt hat.137

FamRZ 2007, 707 mit Anm. Luthin = FF 2007, 197 mit Anm. Rakete-Dombek = JuS 2007, 873 mit Anm. Wellenhofer. 131 BGH v. 16.6.1993 – XII ZR 49/92, FamRZ 1993, 1304, 1306; BGH v. 23.2.1983 – IV b ZR 362/81, FamRZ 1983, 473. 132 BGH v. 4.6.1986 – IV b ZR 51/85, FamRZ 1987, 58; BGH v. 26.10.1983 – IV b ZR 13/82, FamRZ 1984, 39; BGH v. 23.2.1983 – IV b ZR 362/81, FamRZ 1983, 473; Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 202. 133 BGH v. 11.4.2001 – XII ZR 152/99, FamRZ 2001, 1603; Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 226; Kohlenberg in Heiß/Born, EL 59, Kapitel 12 Rz. 21.  134 BGH v. 23.2.1983 – IV b ZR 362/81, FamRZ 1983, 473. 135 Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 227. 136 BGH v. 23.4.1980 – IV b ZR 527/80, FamRZ 1980, 665, 669. 137 BGH v. 13.10.1999 – XII ZR 16/98, FamRZ 2000, 358 mit krit. Anm. Deisenhofer.

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In dieser Entscheidung hat der BGH klargestellt, dass es dem Kind freisteht, einen höheren Unterhaltsbedarf darzulegen und zu beweisen. Im Hinblick auf die Verdoppelung der „Schallgrenze“ beim Ehegattenunterhalt in Zusammenhang mit der Quotenberechnung (s.o. unter B. II. 2) wird daraus teilweise ein Bedürfnis hergeleitet, auch beim Kindesunterhalt über eine rechnerische Fortschreibung jenseits der Höchstbeträge der Tabelle nachzudenken,138 was inzwischen vom BGH für zulässig gehalten wird (s. unter 3b). In der Instanzrechtsprechung wird deutlich, dass  – auch bei Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles – regelmäßig nur eine maßvolle Anhebung der Zahlbeträge über die Höchstgrenze hinaus in Betracht kommt.139 2. Volljähriges Kind Auch hier kommt nur die Deckung eines (auch gehobenen) Lebensbedarfs in Betracht, nicht aber eine Teilhabe am Luxus. Zu unterscheiden ist nach der konkreten Lebenssituation: – Lebt das volljährige Kind noch im Haushalt eines Elternteils, ergeben sich keine Abweichungen zu den für das minderjährige Kind geltenden Grundsätzen. Der Unterhalt ist der 4. Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle zu entnehmen, sodass im Ergebnis ein einkommensabhängiger „Volljährigkeitszuschlag“ gewährt wird. – Hat das Kind dagegen (z.B. als Student) einen eigenen Haushalt, wird nach A. 7 der Düsseldorfer Tabelle ein Festbedarf (derzeit 860 Euro) angenommen. Allerdings liegt insofern eine gewisse Benachteiligung des Kindes mit eigenem Haushalt vor, als es nicht sehr viel mehr erhält als das noch zu Hause lebende Kind (bei  Einstufung des barunterhaltspflichtigen Elternteils in Gruppe 10 sind es nur 216 Euro mehr). Von dem Mehrbetrag wird aber kaum der zusätzliche Aufwand für Wohnkosten und eigene Verpflegung zu bestreiten sein. 3. Fortschreibung der Tabelle a) Bisher: keine Fortschreibung Die Auffassung des BGH war bisher eindeutig: eine Fortschreibung der Tabelle kommt nicht in Betracht, selbst wenn es nur um eine geringfügige Überschreitung der Tabellenhöchstsätze geht (s.o. unter Ziff. 1).

138 Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 227 a.E., 341. 139 OLG Hamm v. 27.5.2010 – 3 UF 234/09, FamRZ 2010, 2080 (Musikunterricht für zwei Instrumente, Reiten); KG v. 30.4.2002 – 18 UF 190/01, KGR Berlin 2002, 216 = BeckRS 2002, 30256953 (konkret dargelegter Grundbedarf zzgl. Kosten für Skifahren, Tennis, Schwimmen und Judo). Weitere Einzelfälle bei Kohlenberg in Heiß/Born, Kapitel 12 Rz. 21.

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Zwischen Luxus und Askese – Bandbreiten bei Ehegatten- und Kindesunterhalt

Die Zurückhaltung der Rechtsprechung hängt vermutlich auch mit der Überlegung zusammen, dass schon aus erzieherischen Gesichtspunkten keine automatische Fortschreibung der Tabelle über den Bereich ihrer Höchstsätze hinaus vorgenommen werden sollte. Denn wenn z.B. beim geschiedenen Ehegatten eine Bedarfsbegrenzung nach oben für erforderlich gehalten wird danach, was man „vernünftigerweise“ auch für einen gehobenen Bedarf ausgeben kann (s.o. unter B. II 1), weil das „eheliche Band“ zerschnitten ist und sich der Berechtigte dauerhaft auf eine geänderte Lebensstellung einzurichten hat, dann gilt dies erst recht für das Kind, das – anders als der Ehegatte, der sich bei Heirat auf eine Fortdauer des Zusammenleben einrichtet – früher oder später dem Eintritt einer eigenen und selbstständigen Lebensstellung entgegensieht. Weder durch Herkunft noch durch Ausbildung lässt sich unter heutigen Verhältnissen vorhersagen, ob dem Kind später eine besonders gute Lebensstellung zukommen wird. Umso wichtiger erscheint es dann, nicht durch außerordentlich luxuriöse Bedarfsbemessung im Kindesalter Vorstellungen zu wecken, die später aus eigener Lebensstellung heraus nicht fortgesetzt werden können.140 Stellt man auf das Alter des Kindes ab, wird man bei kleinen Kindern eine Anhebung über die Tabellensätze hinaus eher restriktiv handhaben müssen, während man bei älteren Kindern großzügiger sein kann; denn naturgemäß hat die erzieherische Komponente in jüngeren Jahren noch einen höheren Stellenwert. Nicht unberücksichtigt bleiben sollte ein gewisses soziales Gefüge in der Form, dass der Unterhalt eines Studenten im Grundsatz die Nettoeinkünfte eines Referendars oder angehenden Akademikers nicht übersteigen sollte.141 Eine „Notbremse“ zieht das OLG Brandenburg dadurch, dass es (in Ziffer 13.1 der Leitlinien) die Erhöhung des Unterhalts bei guten wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern auf den doppelten Regelsatz des im eigenen Haushalt lebenden volljährigen Kindes beschränkt. Bei der Art des Bedarfs kann zunächst von Bedeutung sein, welche Verhältnisse zur Zeit der intakten Familie vorgelegen haben; denn es ist regelmäßig zu prüfen, ob das Kind nach Trennung der Eltern einen erhöhten Bedarf wegen Fortführung von früheren Aktivitäten (z.B. Klavierunterricht, Tennisstunden) geltend macht oder ob es um die Aufnahme von besonders teuren Betätigungen geht, die früher nicht ausgeübt wurden. Auch wenn im „Fortführungsfall“ Großzügigkeit angebracht sein könnte,142 bedeutet das umgekehrt nicht, dass sich in den „Aufnahme-Fällen“ zwangsläufig besondere Schwierigkeiten der Akzeptanz ergeben müssten. 140 Hamm/Weichselgartner, NZFam 2020, 332, 334; Born in MünchKomm. BGB, 7.  Aufl. 2017, § 1610 Rz. 152. 141 Klinkhammer in Wendl/Dose, § 2 Rz. 230. Allerdings wurden schon 1987 einer studierenden Tochter eines vielfachen Millionärs monatlich 1.700 DM zuerkannt (BGH v. 4.6.1986 – IV b ZR 51/85, FamRZ 1987, 58), einer studierenden Tochter von Eltern mit je 12.000 DM Einkommen ein Betrag von 1400 DM (OLG Düsseldorf v. 10.1.1992 – 6 UF 90/91, FamRZ 1992, 981). 142 OLG Düsseldorf v. 28.4.1993 – 5 UF 155/92 und 5 UF 178/92, FamRZ 1994, 767; OLG Düsseldorf v. 10.1.1992 – 6 UF 90/91, FamRZ 1992, 981, beide für volljährige Kinder.

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Dies liegt daran, dass bestimmte Aktivitäten für ein Kind üblicherweise erst ab einem gewissen Alter in Betracht kommen. Zu unterscheiden ist auch danach, ob die begehrte Bedarfserhöhung auf Sonderbedarf oder auf Mehrbedarf zurückzuführen ist. Im Ergebnis muss – gerade auch vor dem Hintergrund der hier einschlägigen Entscheidung des BGH –143 regelmäßig empfohlen werden, eine konkrete Darlegung des erhöhten Bedarfs vorzunehmen.144 b) Aktuell: Fortschreibung möglich Nunmehr hat der BGH in einer – für die amtliche Sammlung vorgesehenen – Entscheidung zur Auskunftspflicht einen Kurswechsel vorgenommen und für das üb­ liche Residenzmodell (das Kind lebt ganz überwiegend bei einem Elternteil) eine Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle über den bisherigen Höchstbetrag hinaus zugelassen.145 Begründet wird das im Wesentlichen wie folgt: Die Teilhabe an der Lebensführung gilt auch für Kinder von Eltern, die in besonders günstigen Verhältnissen leben. Eine Gewöhnung des Kindes an diese Verhältnisse (im Sinne einer längeren Zeit des Zusammenlebens mit dem gut verdienenden Elternteil) ist nicht erforderlich; systematisch passt das zur Bedarfsbestimmung beim Ehegattenunterhalt auch ohne jegliches Zusammenleben.146 Unabhängig davon ist es lebenstypisch, dass sich der Bedarf mit zunehmendem Alter des Kindes erhöhen kann, z.B. bei Aufnahme eines teuren Hobbys. Der BGH sieht keine Gefahr, dass sich im Falle der Fortschreibung der Tabelle beim Kind ein „Luxusniveau“ einstellen könnte. Hier wird darauf hingewiesen, dass die Steigerungssätze in der Tabelle am Mindestunterhalt orientiert sind und die Beteiligungsquote des Kindes am Elterneinkommen (degressiv) stetig abnimmt; daneben bleibt die Darlegung eines konkreten Bedarfs möglich.147 143 BGH v. 13.10.1999 – XII ZR 16/98, FamRZ 2000, 358 mit krit. Anm. Deisenhofer. 144 Vgl. dazu BGH v. 4.6.1986 – IV b ZR 51/85, FamRZ 1987, 58. Dort hat der BGH einer 26-jährigen Studentin (bei hohem Einkommen des Vaters) Barunterhalt von monatlich 1.700 DM auch nur nach konkreter Darlegung des Bedarfs zugesprochen. Eine solche Darlegung findet sich ebenfalls in BGH v. 11.4.2001 – XII ZR 152/99, FamRZ 2001, 1603 (monatlich 2.200 DM einschließlich Krankenvorsorgeunterhalt bei Ausbildung zum Konzertpianisten); OLG Hamm v. 27.5.2010 – II-3 UF 234/09, FamRZ 2010, 2080 (monatlich 1.150 Euro einschließlich 200 Euro Krankenversicherung für 16-jährige Schülerin); großzügiger dagegen OLG Hamm v. 21.4.1995 – 5 UF 293/94, FamRZ 1995, 1005 (auch ohne konkrete Darlegung einzelner Ausgabepositionen Erhöhung des Regelbedarfs für auswärts untergebrachten Studenten von 950 DM auf 1.300 DM). 145 BGH v. 16.9.2020 – XII ZB 499/19, BeckRS 2020, 29627, NJW 2020, 3721 mit Anm. Born, NJW 2020, 3724 = FamRZ 2021, 28 m. Anm. Borth. 146 BGH v. 19.2.2020  – XII ZB 358/19, NJW 2020, 1674 mit krit. Anm. Born, NJW 2020, 1677. Krit. auch Witt in seiner Anm. zu dieser Entscheidung in FamRZ 2020, 918, ebenso Löhnig, NZFam 2020, 477. 147 BGH v. 16.9.2020 − XII ZB 499/19, NJW 2020, 3721 Rz. 22.

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Zwischen Luxus und Askese – Bandbreiten bei Ehegatten- und Kindesunterhalt

Im Übrigen kann das Kind neben den Tabellenbeträgen, die den Regelbedarf ab­ decken, einen Mehrbedarf geltend machen, der nicht in die Steigerungsbeträge der Tabelle einkalkuliert ist.148 Gerade hier ist die Auskunft erforderlich, weil beim Mehrbedarf eine anteilige Haftung des betreuenden Elternteils in Betracht kommt. Dann aber muss das Kind die Einkünfte kennen, um die Haftungsquote berechnen zu können.149 Es ist zu erwarten, dass die Düsseldorfer Tabelle nach oben erweitert (fortgeschrieben) wird, wobei der BGH die Bildung größerer Einkommensgruppen empfiehlt.150 Viele Verfahren dürften dadurch einfacher werden, denn die Notwendigkeit der Ermittlung von auf das Kind entfallenden Kosten, etwa für Urlaubsreisen (anteilig), Privatunterricht oder Hobbys entfällt. Angesichts der zweifachen „Dämpfung“ (degressive Abnahme schon im Rahmen der bisherigen Tabellenstufen; jetzt Hinweis auf größere Einkommensgruppen) wird das Kind aber u.U. besser stehen, wenn es anstelle der – jetzt möglich gewordenen – Fortschreibung der Tabelle seinen erhöhten Bedarf – wie bisher – konkret darlegt.

D. Ergebnis und Beurteilung 1.  Die Rechtsprechung im Bereich des Unterhaltsrechts lässt sich als „Massengeschäft“ ohne Kategorisierung nicht bewältigen; dem dient die Quotenberechnung beim Ehegattenunterhalt ebenso wie die Bemessung des Kindesunterhalts nach der Düsseldorfer Tabelle. Besonders guten Lebensverhältnissen kann als Sonderfall durch konkrete Bedarfsbestimmung Rechnung getragen werden; hier ist detaillierter Vortrag gefragt. Aber auch beim Quotenunterhalt besteht immer wieder die Notwendigkeit, besonderen Umständen durch eine differenzierte Beurteilung Rechnung zu tragen. Beim Betreuungsunterhalt hat der Wegfall des früheren „Altersphasenmodells“ zu erheblicher Mehrarbeit für Anwaltschaft und Gerichte geführt; für die Praxis tauglicher wäre ein altersabhängiges Raster bei widerleglicher Vermutung, so dass Abweichungen im Einzelfall jederzeit vorgetragen werden könnten. 2. Individuelle Beurteilung und Kategorisierung stehen zueinander nicht in Widerspruch, sondern bedingen einander. Bei Beginn einer Fallbearbeitung sollte man sich Klarheit darüber verschaffen, in welchem Bereich man sich befindet und wie dort die rechtlichen Kriterien und Rahmenbedingungen aussehen. Daran sollte sich die Bearbeitung orientieren, damit man sich sowohl mit gefestigten Grundsätzen als auch erforderlichen Abweichungen des Einzelfalls hinreichend konkret auseinandersetzen kann. 148 BGH v. 16.9.2020 − XII ZB 499/19, NJW 2020, 3721 Rz. 24. 149 BGH v. 16.9.2020 − XII ZB 499/19, NJW 2020, 3721 Rz. 26. Zur Darlegungspflicht des Kindes s. BGH v. 7.12.2016 − XII ZB 422/15, NJW 2017, 1317 mit Anm. Born, NJW 2017, 1321. 150 BGH v. 16.9.2020 − XII ZB 499/19, NJW 2020, 3721 Rz. 22.

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Winfried Born

3. Der beste Weg zu einem gerechten Ergebnis ist die intensive und detaillierte Vertiefung des Anwalts in den einzelnen Fall, sei es im gerichtlichen Verfahren oder in der außergerichtlichen Verhandlung. Das zeigt sich ohne weiteres in den untersuchten Bereichen: Je mehr Substanz in Form von Angaben zum Bedarf, zur unterhaltsrechtlichen Bedürftigkeit oder Leistungsfähigkeit vorliegt, desto eher wird man ein für die Mandantschaft zufriedenstellendes Ergebnis erreichen können. Wer Lutz Aderhold kennt, wird bestätigen, dass er diese Ansätze in seinen wirtschaftsrechtlichen Arbeitsbereichen (anwaltlich wie notariell) perfekt umzusetzen versteht. Im Rahmen gemeinsamer Projekte habe ich erlebt, dass er juristische Ansatzpunkte fand und konstruktive Ideen entwickelte, auf die bis dahin niemand gekommen war. Diese bemerkenswerte Verbindung von juristischer Brillanz und praktischer Umsetzung findet man selten, sie ist ein Glücksfall für die Mandantschaft – und die Kollegen, die den Vorzug haben, mit ihm arbeiten zu dürfen. Möge er den Mandanten und uns in seiner Schaffenskraft mit Gesundheit und Freude an der Arbeit noch viele Jahre erhalten bleiben!

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Michael Brenscheidt

Erwerb von Beteiligungen an Aktiengesellschaften in Osteuropa nach der Wende Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Erwerb einer Beteiligung an einer ­Aktiengesellschaft in Polen über die Börse

III. Erwerb einer Beteiligung an einer ­Aktiengesellschaft in Rumänien durch Privatisierung

I. Einleitung Als langjähriger Geschäftsführer, mehr denn als Wissenschaftler, fühlt sich der Verfasser sehr geehrt, diese Festschrift mit einem kurzen Bericht erlebter M&A-Praxis aus der Zeit der Wende ergänzen zu dürfen. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 ergriffen viele westdeutsche Konsumgüterhersteller, Autokonzerne, Banken und Versicherungen die Chance, ihre hohen Marktanteile in Westdeutschland auf den Osten auszudehnen. Die Erschließung weiterer neuer Märkte bot sich durch die Öffnung Osteuropas an. 1989/1990 wurden in allen Ostblockstaaten die kommunistischen Regierungen gestürzt und durch freie gewählte neue Regierungen ersetzt. Der damals größte deutsche Getränkekonzern, die Brau und Brunnen AG, mehrheitlich im Besitz der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank, erwarb innerhalb ­weniger Monate nach der Wende mehrere Brauereien und alkoholfreie Getränkebetriebe in Ostdeutschland. Dadurch war der Konzern mit Ausnahme des Freistaats Bayern fast flächendeckend in Deutschland mit seinen Produkten präsent. Zum Konzern gehörten fast einhundert Biermarken, mehrere Coca-Cola Abfüllbetriebe und Mineralwasserbrunnen wie Apollinaris. Im Bierexport und im Ausland war Brau und Brunnen allerdings schwach und kaum vertreten. Um sich die zu Zeiten des Ostblocks verschlossenen Märkte in Osteuropa erschließen zu können, erschien es sinnvoller, im möglichst nahen Ausland Brauereien mit dort etablierten Marken zu erwerben, technisch zu modernisieren und durch modernes Marketing rasch Marktanteile zu gewinnen, statt völlig unbekannte deutsche Biermarken in ferne Länder oder europäische Märkte physisch zu exportieren. Das strategische Ziel war Wachstum durch Unternehmenskäufe in Osteuropa. Es wurden alle osteuropäischen Märkte im Hinblick auf folgende Kriterien eingehend untersucht: politisches Risiko, gesetzliche Rahmenbedingungen, Eigentums­ garantien, Konvertierbarkeit der Währung, Möglichkeit der Repatriierung des ein­ 47

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Michael Brenscheidt

gesetzten Eigenkapitals, Investitionshilfen wie Steuervorteile, zollfreier Import von Maschinen und Anlagen, Inflation und Arbeitslosigkeit. Dann wurden die einzelnen Getränkemärkte untersucht in Bezug auf Marktgröße, Nahrungsmittelausgaben, Pro-Kopf-Verbrauch von Bier, Wettbewerbsumfeld, Existenz von nationalen Marken und Rentabilität der lokalen Brauereien. Interessant waren vor allem große Biermärkte mit geringem Wettbewerb und niedrigen Eintrittsbarrieren. Aus diesem Grund waren kleine Märkte wie Albanien, ­Estland, Lettland und Litauen uninteressant. Als zu unsicher wurden das ehemalige Jugoslawien und die Länder der alten Sowjetunion angesehen. In der ehemaligen Tschechoslowakei mit nach Pilsner Brauart hergestellten Bieren und Ungarn bestand bereits verhältnismäßig hoher Wettbewerb. Im Ergebnis wurden das Nachbarland Polen mit 40 Millionen Einwohnern und Rumänien, das mit 23 Millionen Einwohnern zweitgrößte Land Osteuropas, als die attraktivsten Biermärkte identifiziert. Mit der Gründung der Holdinggesellschaft Brau und Brunnen International GmbH (BBI) und dem Fokus auf die Übernahme von Brauereien im Ausland (zunächst in Osteuropa) und dem Aufbau starker, nationaler Marken in den Zielmärkten Polen und Rumänien sollte im Ausland gelingen, was in Deutschland keine Brauerei bzw. Braugruppe auch nur annähernd erreichte: einen Marktanteil von etwa 10%, wohlgemerkt unter Berücksichtigung einer angemessenen Rendite. Nach dem Ende der sowjetischen Dominanz im Ostblock wurden Anfang der neunziger Jahre in fast allen Ländern Osteuropas neue Investitions- und Wirtschaftsgesetze nach westlichem Vorbild erlassen. Diese Gesetze wurden von Anwälten englischer und amerikanischer Großkanzleien entworfen, die weltweit tätig waren und entsprechendes internationales Knowhow besaßen. Die prae-gesetzgebende Tätigkeit dieser Kanzleien wurde vom Internationalen Währungsfonds, der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie der Europäischen Gemeinschaft finanziert. Allen diesen neuen Gesetzen war gemein, ausländische Investitionen durch erhebliche Zoll- und Steuervorteile möglichst attraktiv zu machen. Die maroden Staatsbetriebe in den Comecon-Ländern benötigten dringend westliches Knowhow und Geld zur Renovierung. So erhielten Investitionen in Produktionsunternehmen in Rumänien zum Beispiel vollständige Steuerbefreiung für fünf Jahre. Dividenden konnten steuerfrei ins Ausland transferiert werden. Investitionen in Handelsunternehmen hatten nur eine Steuerbefreiung von zwei Jahren. Allerdings konnte die Handelsfirma nach Ablauf der Steuerbefreiung liquidiert und das Geschäft mit einer neuen Gesellschaft fortgeführt werden, wieder mit einem „tax holiday“. Aber auch nach Ende der Steuerfreiheit lagen die Einkommen- und Körperschaftssteuersätze in den meisten osteuropäischen Ländern nur bei ca. 15% und waren neben den niedrigen Löhnen für westliche Investoren äußerst attraktiv. Neue Maschinen aus dem westlichen Ausland konnten in der Regel zollfrei eingeführt werden. Und neue Maschinen waren die Voraussetzung für die Produktion von Lebensmittelprodukten, die westliche Qualitätsstandards haben sollten. So eröffneten sich in Osteuropa unmittelbar nach der Wende große Chancen für westliche Unternehmen, kostengünstig Produktionen aufzubauen und hungrige 48

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Erwerb von Beteiligungen an Aktiengesellschaften in Osteuropa

Märkte mit westlichen Produkten von hoher Qualität zu bedienen. Dadurch konnten auch mutige Mittelständler und kleinere Konzerne, die das Risiko nicht scheuten, neue Märkte erobern. Brau und Brunnen war als kleiner unter großen Braukonzernen mit seinen frühen Akquisitionen in Polen und Rumänien der erste größere Investor im ehemaligen Ostblock.

II. Erwerb einer Beteiligung an einer Aktiengesellschaft in Polen über die Börse In Polen gehörten auch nach der Wende alle Unternehmen dem Staat, zumeist in der Rechtsform der Aktiengesellschaft verfasst. Abgesehen von einigen strategisch besonders wichtigen Unternehmenszweigen, etwa die Versorgung, sollten die meisten Staatsbetriebe im Rahmen der Transformation von der Staats- zur Marktwirtschaft privatisiert werden. Bereits im Sommer 1991 wurden mit Direktoren des polnischen Staatsfonds erste Gespräche über eine mögliche Beteiligung von BBI an einer der beiden bekannten Brauereien, Zywiec oder Okocim, geführt. Diese beiden Betriebe lagen im Süden Polens und produzierten die mit Abstand berühmtesten Biere im Land. Der Direktor des Staatsfonds teilte sehr höflich, aber bestimmt mit, dass eine Beteiligung an Z ­ ywiec oder Okocim nicht realisierbar wäre, bot aber Besichtigungen und Gespräche mit Direktionen anderer im Staatsbesitz befindlicher Brauereien an. So wurden eine Reihe von Betrieben mit Brauingenieuren und Anlagenexperten in Augenschein genommen. Zur Wendezeit gab es wohl keine Brauerei in Osteuropa, deren Leitungen und Abfüllanlagen sowie Kronenkorken und damit auch die Produkte westlichen Qualitätsstandards und Ansprüchen genügen konnten. Oft hatten die Biere nur eine Haltbarkeit von wenigen Tagen und waren danach ungenießbar. Rostfreie Inox Bierleitungen waren damals im gesamten Ostblock unbekannt und Kronenkorken wurden teilweise noch im Handbetrieb hergestellt. Auch die besichtigten Brauereien in Polen waren ziemlich heruntergekommen und es hätte unverhältnismäßig großer Investitionen in die Technik bedurft. Das Ziel, eine maßgebliche Beteiligung an einer großen und national möglichst bedeutenden Brauerei in Polen zu erwerben, schien im Sommer 1991 ziemlich aussichtlos, und die Risiken, auf der grünen Wiese eine neue Brauerei mit einer in Polen unbekannten, deutschen Marke zu errichten, waren zu groß. Nachdem die Warschauer Börse, die seit Kriegsbeginn 1939 geschlossen war, im ­April 1991 mit dem Handel von fünf Wertpapieren öffnete, wurden Ende 1991 auch die Aktien von Okocim und Zywiec zum Handel an der Börse zugelassen. An drei Tagen pro Woche wurden jeweils für 2 Stunden von 10:00 bis 12:00 Uhr insgesamt acht polnische Aktien an der Börse gehandelt. Es bestand nun die rechtliche Möglichkeit, über die Börse Aktien zu erwerben. Das konnte auch der polnische Staatsfonds nicht verhindern. Aber wie sollte ein deutscher Getränkekonzern unter Be49

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Michael Brenscheidt

rücksichtigung der deutsch-polnischen Geschichte und Nachkriegsvergangenheit taktisch vorgehen? Brau und Brunnen strebte eine Beteiligung von mindestens 25,1% an. Das neue ­polnische Aktiengesetz sah jedoch explizit eine Anzeigepflicht vor, sobald ein Unternehmen 10% oder mehr an einer börsennotierten polnischen Aktiengesellschaft erwerben sollte. Blieb ein Aktionär unter der 10%-Grenze, bestanden keinerlei Meldepflichten. Da nicht bekannt werden sollte, dass Brau und Brunnen Okocim-Aktien kaufte, musste der Aktienkauf über mindestens drei verschiedene Gesellschaften als Erwerber von Aktienpaketen abgewickelt werden. Es wurde Kontakt zu einer Merchant Bank in London aufgenommen, einer Investment Bank, die auch Erfahrung hatte mit feindlichen Übernahmen von Unternehmen. Schon beim ersten Gedankenaustausch bestand Einigkeit darüber, dass man bei der Umsetzung eines derartigen Beteiligungserwerbs sehr vorsichtig sein müsste. Verschiedene Szenarien wurden ventiliert und im Ergebnis wurde folgende Strategie beschlossen. BBI mandatierte die Merchant Bank zur Gründung von drei limited companies (NewCos) in Jersey/Channel Islands, mit einem gezeichneten Kapital von je einem britischen Pfund pro Gesellschaft. Diese NewCos sollten an der Warschauer Börse Aktien von Okocim erwerben, jeweils finanziert durch die Merchant Bank mit Übernahmeverpflichtung seitens Brau und Brunnen. Für die erste NewCo kauften im Auftrag der Merchant Bank polnische Börsenhändler an jedem Handelstag in kleinen Mengen Aktien von Okocim auf. Bereits nach weniger als drei Monaten gelang es so, vollkommen unbemerkt 9,9% des Aktienkapitals von Okocim zu einem sehr günstigen Preis zu erwerben. Bei der ersten Hauptversammlung der Aktionäre von Okocim im Sommer 1992 wurde die NewCo durch eine polnische Anwältin, ihrerseits Mitarbeiterin einer internationalen britischen Wirtschaftskanzlei, vertreten. Die Merchant Bank gründete nun eine zweite NewCo, welche wiederum ein weiteres Aktienpaket in Höhe von 9,9% erwerben konnte, ohne einer Meldepflicht zu unterliegen. Anfang 1994 wurde über eine dritte Gesellschaft ein weiteres Aktienpaket erworben und das Ziel war nach etwas mehr als zwei Jahren erreicht: Die Merchant Bank hielt nun etwas mehr als 25,1% der Aktien und Stimmrechte an Okocim, war größter Aktionär und verfügte über eine Sperrminorität. Es wurde Kontakt mit dem Okocim-Vorstand aufgenommen und ihm mitgeteilt, dass eine britische Bank mehrere kleine Aktienpakete erworben hätte und Brau und Brunnen diese Aktien zum Kauf angeboten habe. Es bestünde großes Interesse seitens der deutschen Braugruppe an einer strategischen Partnerschaft und freundschaftlichen Kooperation mit Okocim, wenn der Vorstand der Okocim Brauerei die deutsche Beteiligung keinesfalls als feindlich, sondern als konstruktiv, partnerschaftlich und willkommen ansähe. Die Antwort des Okocim-Vorstands war zumindest nicht ablehnend. So wurde der polnische Vorstand für eine Arbeitswoche nach Dortmund eingeladen. Es wurden verschiedenen Betriebe mit modernsten Anlagen besichtigt und Präsentationen über 50

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Erwerb von Beteiligungen an Aktiengesellschaften in Osteuropa

Marketing, Mediawerbung und den harten Wettbewerb in Deutschland gehalten. Im Ergebnis wurde eine Beteiligung von Brau und Brunnen an Okocim über den Erwerb der Channel Island-Gesellschaften auch seitens des Vorstandes von Okocim gebilligt und begrüßt: Der Weg für eine „freundliche Übernahme“ war geebnet. So übernahm BBI Anfang 1994 die drei NewCos mit den Okocim-Aktienpaketen, bestellte zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat und stellte dort den Vorsitzenden. Da andere westliche Banken ebenfalls Aktienpakete an Okocim als Finanzbeteiligung erworben hatten, führten informelle „vote pooling“-Gespräche mit diesen Banken zu einer konstruktiven Zusammenarbeit, sodass der polnische Staatsfonds nicht mehr viel Einfluss auf die Unternehmensführung ausüben konnte. Letztendlich konnte Okocim von Brau und Brunnen mit nur 25,1% der Stimmen strategisch und unternehmerisch nahezu beherrscht und wie ein inhabergeführtes Unternehmen gestaltet werden. BBI hatte Glück: Kurze Zeit nach der Übernahme der Beteiligung von Okocim durch BBI wurde das polnische Aktiengesetz geändert; dabei wurde die Anzeigepflicht für Beteiligungen an börsennotierten Gesellschaften von 10% auf 5% reduziert – „lex Okocim“. Doch der juristische Beteiligungserwerb war erst der Anfang, die eigentliche Arbeit sollte jetzt erst beginnen. Es wurden Berater aus Deutschland engagiert, die eine technische Betriebsanalyse erstellten und Vorschläge zur Verbesserung der Produktion und Haltbarkeit des Bieres machten. Die notwendigen Maßnahmen wurden innerhalb von 18 Monaten umgesetzt. Junge Vertriebs- und Finanzvorstände wurden eingestellt. Ein deutscher Marketingmanager und eine internationale Werbeagentur entwarfen eine äußerst erfolgreiche nationale Kampagne. Das Produktsortiment wurde gestrafft, moderne Aufmachungen mit Bergmotiv und gesundem Quellwasser entwickelt. In Polen wurde das Dosenbier eingeführt. Durch westliches Knowhow wurde der Bierabsatz bereits im Jahre 1994 um fast 50% gesteigert und ein Marktanteil von 10% erreicht. 1996 benötigte Okocim für eine Produktionserweiterung erhebliche Investitionen in Technik und Vertrieb. Durch eine Kapitalerhöhung sollte zusätzliches Eigenkapital zugeführt werden. Brau und Brunnen hatte nicht die Mittel, um bei der Kapitalerhöhung mitzuziehen und ihren Einfluss zu wahren. Deshalb wurde die Beteiligung nach Verhandlungen mit mehreren internationalen Braukonzernen Ende 1996 mit hohem Gewinn an die Carlsberg Gruppe aus Dänemark verkauft.

III. Erwerb einer Beteiligung an einer Aktiengesellschaft in Rumänien durch Privatisierung1 Rumänien war mit 23 Millionen Einwohnern und 35 betriebenen Brauereien der zweitgrößte Biermarkt in Osteuropa. Hohe Importzölle von rund 300% auf Importbiere schotteten den Markt vor ausländischen Bieren ab. Bierpreise mussten auf1 Brenscheidt, Das bärenstarke Bier – Erfolg mit Marketing und neuer Technik in Brenscheidt (Hrsg.), Kein Gurt − nirgends: Erlebnisse deutscher Manager in Rumänien, 2011, S. 36 ff.

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Michael Brenscheidt

grund der niedrigen Kaufkraft der rumänischen Bevölkerung nach unten angepasst werden. Und die Inflation war sehr hoch. Deshalb war der Pro-Kopf-Verbrauch von ca. 35 Litern im Vergleich zu Deutschland (ca. 120 l) und der Tschechoslowakei (>140 l) sehr gering. Doch die Wachstumschancen waren beträchtlich, da die rumänische Bevölkerung seinerzeit bereits einen verhältnismäßig hohen Anteil ihres Einkommens für gutes Essen und Trinken ausgab. Anfang 1992 wurde von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds erheblicher politischer Druck auf die rumänische Regierung ausgeübt, endlich staatliche Industriebetriebe – alle in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft – zu privatisieren. Die Regierung sollte den Beweis antreten, dass der Systemwechsel tatsächlich stattgefunden hatte und gelebt wurde. Zwei Firmen wurden von der rumänischen Regierung als Pilotprojekte ausgewählt: die Brauerei Ursus S.A. in Cluj-Napoca und eine Textilfabrik im Nordosten Rumäniens. Während ein italienischer Investor Interesse an der Textilfabrik hatte, zeigte von den internationalen Brauereikonzernen nur die deutsche Brau und Brunnen AG Interesse, in den rumänischen Biermarkt zu investieren. Die „Privatisierung“ der Ursus Brauerei in Cluj-Napoca (deutsch: Klausenburg) wurde Anfang Juni 1992 in den größten Tageszeitungen Rumäniens auf vier Seiten groß angekündigt und beworben. Die Marke „Ursus“ (urs = der Bär) war national unbedeutend und kaum bekannt, das Bier wurde nur regional vertrieben. Cluj-Napoca war und ist bis heute mit etwa 400.000 Einwohnern die zweitgrößte rumänische Stadt, im Herzen von Transsylvanien (deutsch: Siebenbürgen) gelegen. Der Bierausstoß von Ursus lag 1992 bei maximal 400.000 hl Bier pro Jahr, was in etwa 4% des rumänischen Biermarktes entsprach. Wie in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks, erhielten Bürger Voucher, die sie bei der Privatisierung von Staatsbetrieben gegen Aktien eintauschen konnten. Durch die Anzeigenkampagne in den Zeitungen wurden die rumänischen Bürger aufgerufen, sich an der Privatisierung von Ursus zu beteiligen und Voucher gegen Ursus Aktien einzutauschen. Eine Aktie kostete damals umgerechnet wenige deutsche Pfennige. Bis zum 30. Juni 1992 erwarben ca. 9.500 rumänische Bürger und zwei rumänische Banken Aktien an der Ursus Brauerei AG. Diese privaten Aktionäre hielten mit insgesamt 51% also die Mehrheit am Aktienkapital, eine rumänische Mehrheit war politisch auch gewünscht. Eine Minderheitsbeteiligung von 49% verblieb zunächst beim rumänischen Staat. Somit war die Ursus Brauerei die erste rumänische Aktiengesellschaft, die nicht allein dem Staat gehörte, sondern auch private Aktionäre hatte. Nach der erfolgten Teilprivatisierung wurden die verbleibenden 49% vom Staatsfonds im Juli 1992 wiederum in ganzseitigen Zeitungsinseraten ausgeschrieben und Investoren aus dem Ausland angeboten. Der Verkauf des restlichen Aktienpakets von 49% sollte bis Ende September 1992 abgeschlossen sein. Der Terminplan für den zweiten Teil der Privatisierung war vom Internationalen Währungsfonds und der rumänischen Regierung vorgegeben worden. Im August 1992 fand ein erster Besprechungstermin mit der rumänischen Privati­ sierungsbehörde in Bukarest statt. Bereits vor dieser Besprechung hatten wir drei 52

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Erwerb von Beteiligungen an Aktiengesellschaften in Osteuropa

wichtige Erkenntnisse gewonnen: Erstens, dass ausländische Brauereikonzerne nicht Schlange standen, um in Rumänien zu investieren. Zweitens, dass ein seriöser deutscher Braukonzern in Rumänien als ausländischer Investor sehr willkommen war. Und drittens, dass die Voll-Privatisierung von Ursus unter keinen Umständen scheitern dürfe: man wollte in Rumänien politisch eine erfolgreiche Privatisierung, quasi als Beweis für den politischen Wechsel weg vom Staatseigentum, hin zum Privateigentum. Der westlichen Welt und ausländischen Investoren sollte bewiesen werden, dass man in Rumänien tatsächlich investieren konnte. Dank dieser günstigen Konstellation konnte ein exklusives Verhandlungsrecht für den Erwerb der 49%-Beteiligung für BBI vereinbart werden. Ein Preis wurde nicht vereinbart, nur, dass BBI bis 30.9.1992 alleiniger Verhandlungspartner ohne Konkurrenten war. Auf der Basis dieses exklusiven Verhandlungsrechts wurde in acht Wochen eine umfassende Due Diligence bei Ursus durchgeführt. Maßgeblichen Anteil an der Entscheidung, Ursus-Aktien zu erwerben, hatte der damalige rumänische Generaldirektor. Er hatte mit seiner Persönlichkeit und seinem entschlossenen Führungsstil überzeugt, trotz des politischen und wirtschaftlichen Risikos, die Privatisierung durchzuführen und bei Ursus zu investieren. Der studierte Maschinenbauingenieur sprach sehr gut Deutsch und führte die Belegschaft von ca. 400 Mitarbeitern straff und diszipliniert. In Rumänien war es damals üblich, dass Generaldirektoren nahezu alle Entscheidungen allein zu treffen hatten: von Investitionen in Maschinen und Anlagen, über den Kauf von Fahrzeugen und Rohstoffen, ja selbst bis zum Erwerb von Klopapier. Durch die sozialistische Prägung wurden Entscheidungen nie im Team, sondern immer nur vom ersten Mann bzw. der ersten Frau gefällt, eine Mittelmanagementebene mit Entscheidungsbefugnis war in der Praxis nicht existent. Auch bestand ständig die große Angst, Fehlentscheidungen zu treffen und dann von den vorgesetzten Direktoren bestraft oder gar entlassen zu werden. Dieses Symptom war in Rumänien besonders stark ausgeprägt, stärker als in Polen. Mit der Hilfe eines englischen, in Rumänien tätigen Wirtschaftsprüfers von einer der großen internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften wurden die Bücher und Bilanzen von Ursus geprüft. Es sollte ermittelt werden, ob etwaige Verbindlichkeiten der Brauerei gegenüber dem Staat bestanden. Insbesondere sollte festgestellt werden, ob alle Sozialabgaben entrichtet waren und ob Steuerverbindlichkeiten bestanden. Ein Englisch sprechender, rumänischer Rechtsanwalt sah die Gründungsdokumente, Satzung und Hauptversammlungsprotokolle von Ursus ein. Er prüfte die Teilprivatisierung und Grundstückeigentumsverhältnisse sowie andere wesentliche Umstände, die für einen Beteiligungserwerb von Bedeutung waren. Rumänische Bodensachverständige prüften die Betriebsgrundstücke von Ursus auf Altlasten. Deutsche Anlagentechniker und Braumeister ermittelten den mittelfristigen Investitionsbedarf der Brauerei. Obwohl Ursus ein sehr gut geführter Betrieb war, musste die technische Ausstattung an vielen Stellen verbessert werden. Vor allem Rohrleitungen, Gärtanks und Abfüllanlagen erwiesen sich als Problembereiche. Sie waren bakteriologisch nicht einwandfrei, wodurch die Haltbarkeit des Bieres drastisch herab53

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gesetzt war. So betrug die Haltbarkeit gemäß den rumänischen Etiketten seinerzeit im Winter 10–14 Tage, im Sommer sogar nur sieben Tage. Ende September 1992 unterbreitete BBI dem rumänischen Staatsfonds fristgemäß ein Angebot für den Erwerb von 49% der Aktien der Ursus Brauerei. Ohne über die Höhe des Kaufpreises zu verhandeln, wurde das erste Angebot akzeptiert und der Kaufvertrag über den Erwerb des Aktienpakets unterzeichnet. Der Kaufpreis betrug lediglich 1.215.000,00 DM, inkl. des Brauereigrundstücks sowie anderer betrieblicher Grundstücke, die zur Brauerei außerhalb von Klausenburg gehörten. Mit Wirkung vom 1.  Oktober 1992 war BBI nun Besitzer des größten Aktienpakets der Ursus Brauerei. Vor der ersten Hauptversammlung der nunmehr privatisierten Ursus S.A. wurden informelle Gespräche mit dem Vorstand einer rumänischen Bank geführt, die im Rahmen der Teilprivatisierung ein Aktienpaket erworben hatte. Ziel der Gespräche war nicht ein „vote pooling“ agreement, ein solches war nach dem rumänischen Aktiengesetz verboten. Man wollte sich aber kennenlernen und über die strategischen Absichten einen Gedankenaustausch führen. Da die beiden rumänischen Banken insgesamt 8% des Aktienkapitals hielten und sich 43% der Aktien im Streubesitz der über das ganze Land verteilten Kleinaktionäre befanden, war mit dem Aktienpaket von 49% eine komfortable Stimmenmehrheit in der Hauptversammlung garantiert. Bei der ersten Hauptversammlung der Aktionäre im November 1992 waren von den etwa 9.500 rumänischen (Klein-)Aktionären nur ca. 1.100 anwesend. Der Großteil der zahlreichen Kleinaktionäre war weder anwesend noch vertreten. Wegen der gleichwohl großen Zahl der Aktionäre fand die Versammlung in der Stadthalle in Cluj statt. Die rumänischen Banken waren über die strategische Führung durch einen deutschen Braukonzern erfreut und stimmten sämtlichen Anträgen des größten Aktionärs zu. Somit konnte bei allen Abstimmungen über Beschlüsse eine sehr komfortable Mehrheit von gut 85% der Stimmen in der Hauptversammlung erreicht werden. Zwei Vertreter von BBI wurden in den Verwaltungsrat gewählt. Dieser ist das oberste Management-/Exekutivorgan einer rumänischen Aktiengesellschaft. Der Vorsitz im Verwaltungsrat und der Geschäftsführung wurde gesichtswahrend dem langjährigen, aber noch relativ jungen Generaldirektor überlassen, mit dem kollegial alle wesentlichen, insbesondere strategischen Entscheidungen abgesprochen wurden. Nach der Übernahme der Aktienmehrheit im Herbst 1992 musste ein Berg von Problemen bewältigt werden: technische und organisatorische Modernisierung der Brauerei sowie Aufbau einer schlagkräftigen Vertriebsorganisation, die das Bier nicht nur an durstige Konsumenten verteilt, sondern auch aktiv verkauft. Im Jahre 1992 war Marketing weder präsent in Rumänien noch verstanden die primär in die neue Brauereitechnik verliebten rumänischen Kollegen, wie wichtig es war, eine relativ unbekannte Marke langfristig national aufzubauen. Das Bier wurde 54

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in der Vergangenheit stets zur schnellen Verteilung produziert. Werbung war weder üblich noch notwendig. Die Brauerei mit ca. 400.000 hl Ausstoß war für die Stadt und Umgebung von Cluj auch nicht übermäßig groß und das Bier wurde der Brauerei von den Konsumenten vor allem im Sommer geradezu aus den Händen gerissen. Der Generaldirektor wollte sämtliche Investitionen fast nur in die Technik stecken. Um zunächst eine gute Qualität des Bieres zu erzielen, wurden sämtliche Rohrleitungen und Tanks der Brauerei durch neuwertige oder neue, nicht rostende EdelstahlAnlagen ersetzt und neue oder neuwertige Bierfilteranlagen höchster Qualität installiert. Nur diese Neuausstattung garantierte später bakteriell einwandfreies Bier mit einer Haltbarkeit von mehreren Monaten anstatt  – wie zuvor  – nur weniger Tage. Viele der Rohre und Anlagen stammten von still gelegten Brauereien der Brau und Brunnen-Gruppe aus Deutschland. Die technische Neuausrichtung der Brauerei war vor allem für die deutschen Techniker ein enormer Kraftakt und dauerte fast zwei Jahre. Während die Brauerei und das Bier in dieser Zeit auf deutsches Qualitätsniveau gebracht wurden, hatten die Marketingexperten genügend Zeit, um an mehreren Standorten in Rumänien Geschmackstests durchzuführen. Diese wurden kombiniert mit umfangreichen Verbrauchertests zum Produkt und dessen Erscheinungsbild sowie der Entwicklung einer Marketingstrategie für „Ursus Pils“, und ganz neu: „Ursus Premium Pils“. Zum ersten Mal trug ein rumänisches Bier das Prädikat „Premium“; es unterschied sich vom Ursus Pils und allen anderen rumänischen Bieren durch eine sehr hochwertige Ausstattung und einen etwas höheren Alkoholgehalt. In den letzten zwei Monaten in 1994 wurde Ursus jeden Abend kurz vor acht im ersten rumänischen Fernsehen mit insgesamt zweiundvierzig Werbespots à dreißig Sekunden beworben. Die Qualität des Bieres war mittlerweile wie bei deutschen Bieren sehr gut und die Haltbarkeit hatte westeuropäisches Niveau erreicht. Das Ergebnis der Geschmackstests war, dass rumänische Verbraucher ein etwas bitteres Bier bevorzugen als die Bayern, Österreicher oder Ungarn. Folglich wurde das Bier etwas bitterer gehopft. Auf dem Etikett wurde dem Ursus-Bär eine Krone aufgesetzt und das Produkt mit dem Slogan „König der Biere“ vermarktet. Für den Werbespot wurde ein Braunbär von einem Zoo für einen Tag ausgeliehen. Der Spot wurde in der freien, unberührten Natur der Karpatenlandschaft gedreht und erwies sich als überaus erfolgreich, zumal das Wasser für die Biere aus den natürlichen Quellen der Karpaten kommt, die im Spot auch dargestellt wurden. Schon nach wenigen Wochen hatte sich der Held der Werbekampagne im nationalen Fernsehsender, der „Ursus-Bär“, den zunehmend anspruchsvollen rumänischen Biertrinkern eingeprägt. Das Erscheinungsbild der Flaschen war erstklassig, ausgestattet mit einem hochwertigen Etikett auf Golddruck, und entsprach höchsten deutschen „Premium“-Ansprüchen. Die Bankiers der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank waren ziemlich entsetzt über den mutigen Einstieg von Brau und Brunnen in eine rumänische Brauerei. Sie glaubten nicht daran, dass dieses Investment jemals eine passable Rendite erwirtschaften würde. Schon gar nicht glaubte man in München, dass „Ursus“ eine Divi55

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dende auszahlen würde. Tatsächlich war es nicht einfach, schon 1993 eine Dividende für die dreimonatige Beteiligung von Brau und Brunnen an „Ursus“ vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1992 zu erhalten. Da Ursus S.A. bis zum 30.6.1992 ein 100 %-iges Staatsunternehmen war, musste für das erste Halbjahr 1992 ein Jahresabschluss für den damaligen Staatsbetrieb (in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft) aufgestellt werden. Während des Quartals vom 1. Juli bis 30. September 1992 war Ursus teilprivatisiert, da rumänische Bürger und Banken 51% des Aktienkapitals erworben hatten. Auch für dieses Vierteljahr musste die gemischte Gesellschaft (staatlich/privat) eine Bilanz für das dritte Quartal 1992 erstellen. Da BBI als ausländischer Investor mit Wirkung vom 1. Oktober 1992 als neuer ausländischer Großaktionär hinzukam, musste für das letzte Quartal 1992 wiederum eine eigenständige Bilanz angefertigt werden. Das Geschäftsjahr 1992 verlief gut für „Ursus“, die Brauerei verdiente gutes Geld, und für das letzte Vierteljahr 1992 stand Brau und Brunnen mit seinem Aktienpaket von 49% ein Gewinn von umgerechnet ca. 85.000 DM zu. In der Hauptversammlung der Aktionäre 1993 wurde dann beschlossen, dass alle Aktionäre eine Dividende erhalten sollten. Für die armen rumänischen Kleinaktionäre war dies ein wichtiges Zeichen, der Beweis, dass man mit Aktien auch Geld verdienen konnte. Für Brau und Brunnen stellte sich die Frage, wie man das Geld aus Rumänien herausbekommen konnte. Das war seinerzeit ziemlich schwierig und verlangte kreatives Denken. Eine italienische Modefirma ließ schon Anfang der 90er Jahre in Rumänien Textilien in Lohnfertigung produzieren. Mit dieser Firma wurde folgendes vereinbart: die Ursus Brauerei zahlte einen Betrag in Höhe der auf BBI entfallenden steuerfreien Dividende an die rumänische Textilfabrik als Entgelt für die Lohnfertigung für die Modefirma. Die etwa 85.000,00 DM, die Ursus an die rumänische Textilfabrik überwies, wurden dann kurze Zeit später von einem deutschen Geschäftspartner der italienischen Textilfirma an BBI überwiesen. Durch dieses Dreiecksgeschäft konnte bewiesen werden, dass man tatsächlich schon 1993, wenn auch über Umwege, Dividenden aus Rumänien nach Deutschland transferieren konnte. Die in Rumänien steuerfreie Dividende von 85.000 DM auf ein Investment von 1,215 Mio. DM entsprach einer Rendite von etwa 7%. Diese 7% wurden aber nicht in einem vollen Jahr, sondern in einem Zeitraum von nur drei Monaten vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1992 erwirtschaftet. Wegen der hohen Nachfrage musste die Produktion der Brauerei erweitert werden. Den Ausbau der Produktionskapazitäten finanzierte BBI über ein Darlehen. Durch technische Investitionen in die Kapazität der Brauerei konnte Ursus 600.000 hl Qualitätsbier pro Jahr herstellen und abfüllen. Durch Umwandlung des Darlehens in Aktien konnte die Beteiligung von BBI im Jahre 1994 auf 74 % erhöht werden. Im Rahmen einer weiteren Privatisierung wurde 1995 eine zweite Mehrheitsbeteiligung an einer Brauerei in Südrumänien erworben. Diese Brauerei wurde durch hochwertige deutsche Maschinen und Anlagen der geschlossenen Elbschlossbrauerei in Hamburg technisch optimiert und die Abfüllkapazität erweitert. Somit konnte der gesamte rumänische Markt flächendeckend mit Bier bedient werden und BBI war mit ihren rumänischen Beteiligungen und einem Marktanteil von gut 10% klarer Marktführer. 56

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Nationale Marktforschung im Frühjahr 1995 ergab, dass „Ursus“ mit Abstand das bekannteste rumänische „fast moving consumer good“ war. Natürlich gab es ausländische Produkte, die stark im Fernsehen beworben wurden, wie z.B. Coca-Cola oder Colgate, doch „Ursus“ war durch den Werbespot im Fernsehen die bekannteste Marke rumänischen Ursprungs schlechthin. Der gesamte finanzielle Aufwand für die Werbespots, inklusive renommierter internationaler Agentur- und Werbezeit sowie Miete des Bären, belief sich auf weniger als 200.000 DM und war für deutsche Verhältnisse außerordentlich gering. Diese frühe Investition hat sich für „Ursus“ sehr bezahlt gemacht. Noch heute ist Ursus vom Image die bekannteste und beliebteste Biermarke in Rumänien. Im November 2011 konnte der Verfasser Ursus Bier auf Mallorca genießen! Zur Reduzierung ihrer erheblichen Verbindlichkeiten aus dem Biergeschäft in Deutschland verkaufte die Brau und Brunnen AG ihre Beteiligungsgesellschaft BBI, inklusive der rumänischen Beteiligungen, Ende 1996 an die südafrikanische Brauereigruppe South African Breweries. Auch bei diesem Geschäft stimmte die Rendite, wenngleich ein langfristiges Halten des Investments sehr viel einträglicher gewesen wäre. So endeten sechs spannende Manager-Jahre im „wilden Osten“.

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Die Ehegatteninnengesellschaft – Ein Fall geglückter Rechtsfortbildung?! Inhaltsübersicht I. Zueignung

3. Schlussfolgerungen

II. Problemstellung: Persönliche Lebens­ gemeinschaft bei Gütertrennung 1. Die Ehe als gleichberechtigte Lebens­ gemeinschaft 2. Gütertrennung und Familienarbeit 3. Gütertrennung und dual career

IV. Weitere Anforderungen an einen ­schlüssig zustande gekommenen ­Gesellschaftsvertrag? 1. Wille zur gesellschaftsrechtlichen ­Bindung als Fiktion? 2. Zur Aussagekraft einer Gütertrennungsvereinbarung 3. Die Ehe als rechtsgeschäftsferne Zone

III. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft 1. Überblick: Eine wechselvolle Geschichte 2. Zu den Voraussetzungen einer Ehegatteninnengesellschaft

V. PS zur Methode: Analogie oder Rechtsfortbildung?

I. Zueignung Am Anfang des juristischen Wirkens von Lutz Aderhold stand 1981 „Das Schuldmodell der BGB-Gesellschaft“. Die Arbeit vermittelte mir wichtige Einsichten zur Struktur der BGB-Gesellschaft für meine Habilitationsschrift, „Unternehmen in Sondervermögen“, 1998. Die beiden Werke gehörten zu der kaum noch zu überschauenden Fülle von Stimmen im Schrifttum, die die Entscheidung „Weißes Roß“ vom 29.1.2001 vorbereiteten, in der der BGH (rechtsfortbildend?) die Rechtssubjektivität der BGBGesellschaft anerkannte, mit der Konsequenz der unbeschränkten Haftung der Gesellschafter analog § 128 HGB. Inzwischen zeichnet sich ab, dass sich der Gesetzgeber der BGB-Gesellschaft annehmen wird. Ob diese Reform mehr bringen wird als eine Kodifikation der vom BGH vollzogenen Modellbildung erscheint freilich zweifelhaft. So bleibt die Grundsatzfrage offen, ob der Gesamthand in Zukunft überhaupt noch eine relevante Funktion verbleibt. Wie komplex diese Fragestellung ist, zeigt etwa die Habilitationsschrift von Andreas Diekmann, „Gesamthand und juristische Person“, 2019. Auch zahlreiche praktische Themen werden ausgeblendet, so etwa die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die BGB-Gesellschaft Verbraucherin sein kann und welche Anforderungen bei Gelegenheitsgesellschaften an den Rechtsbindungswillen zu stellen sind. In der aktuellen Reformdiskussion ebenfalls nicht adressiert wird die praktisch bedeutsame sog. Ehegatteninnengesellschaft,1 die Antwort des Bundesgerichtshofs auf die Probleme einer beruflichen/unternehmerischen Zu1 Die folgenden Überlegungen sind durch eine Anfrage aus der Praxis inspiriert.

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sammenarbeit von Ehegatten. Sie ist Gegenstand der folgenden Zeilen, die Lutz Ader­ hold in hohem Respekt für seine Arbeit zugeeignet sind.

II. Problemstellung: Persönliche Lebensgemeinschaft bei Gütertrennung 1. Die Ehe als gleichberechtigte Lebensgemeinschaft Das Familien- und Erbrecht des BGB hat die Ehe als persönliche Lebensgemeinschaft im Blick (§ 1353 – eheliche Lebensgemeinschaft). Auch wenn populäre Fernsehsendungen den Eindruck vermitteln könnten, dass bei jungen Eheschließenden zunächst einmal die Hochzeit als romantisches Event im Mittelpunkt steht und nicht der Ehealltag, stellt sich doch meistens schnell die Erkenntnis ein, dass man von Luft und Liebe allein nicht leben kann. Das BGB adressiert die materiellen Grundlagen der persönlichen Lebensgemeinschaft einer Ehe in bemerkenswerter Reihenfolge unter „Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit“ (§  1356). Dabei überlässt das Gesetz den Ehegatten die Entscheidung, wie sie diese Aufgaben frei und selbstverantwortlich untereinander verteilen. Im Rahmen der von ihnen in gemeinsamer Entscheidung getroffenen Arbeits- und Aufgabenzuweisung sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die jeweiligen Beiträge als gleichwertig anzusehen und zwar unabhängig von ihrer ökonomischen Bewertung am Markt. Diese Linie leitet das BVerfG aus Art. 6 GG ab, der die Ehe nur als partnerschaftliche, gleichberechtigte Gemeinschaft der Ehegatten schütze.2 Das Postulat der Gleichwertigkeit aller arbeitsteilig geleisteten Beiträge zur ehelichen Lebensgemeinschaft wird im gesetzlichen Güterstand durch den Halbteilungsgrundsatz des Zugewinnausgleichs für die Beendigung der Ehe durch Scheidung oder Tod abgebildet. Er bewirkt für die Einverdienerehe, dass geleistete Familienarbeit als gleichwertig berücksichtigt ausgeglichen wird. Für die Doppelverdienerehe kompensiert er Einkommens- und spätere Vermögensunterschiede, die sich daraus ergeben können, dass einer der Ehepartner zugunsten der Karriere des anderen und der Familie beruflich zurückgesteckt hat. Beispiel: Ein Ehegatte wählt die Richterlaufbahn, während der andere Partner in einer Großkanzlei wird. 2. Gütertrennung und Familienarbeit Am Anfang aller Schwierigkeiten steht die Gütertrennung. Nach §§ 1408, 1414 BGB können die Ehegatten den gesetzlichen Güterstand mit der Folge aufheben, dass Gütertrennung eintritt. Gütertrennung mag dann zu systemgerechten Ergebnissen führen, wenn die Vermögenssphären der beiden Ehepartner von Anfang bis Ende der Ehe scharf auseinandergehalten werden, die beiden Ehepartner also vermögensmäßig miteinander umgehen wie mit fremden Dritten und im Übrigen beide völlig unabhängig voneinander ein auskömmliches Einkommen erzielen. Diese Ehekonstellation ist freilich statistisch sicherlich ein Ausnahmefall. Für junge Eheschließende mit Kinderwunsch erscheint Gütertrennung im Regelfall ungeeignet und gefährlich. Rut2 BVerfG v. 5.2.2002 − 1 BvR 105/95 ua, NJW 2002, 1185.

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Die Ehegatteninnengesellschaft – Ein Fall geglückter Rechtsfortbildung?!

schen die Eheleute im Zuge der Familiengründung dann nämlich mehr oder weniger freiwillig unter dem Druck der realen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in das Modell einer klassischen Einverdienerehe oder begnügt sich einer der Ehepartner zugunsten der Familie mit einer Teilzeitbeschäftigung, dann bleibt sein Einsatz für die Familie und den anderen Ehepartner bei Ende der Ehe unberücksichtigt. Durch die Gütertrennung wird das verfassungsrechtliche Postulat der Gleichwertigkeit von Erwerbstätigkeit und Haushaltsführung, moderner formuliert Familienarbeit/Carearbeit, unterlaufen und damit der Familienarbeit ökonomisch jeder Wert genommen, auch wenn ohne diese Familienarbeit des einen Partners die erfolgreiche Erwerbstätigkeit des anderen Partners gar nicht möglich gewesen wäre. Dies gilt insbesondere für die Unternehmerehe, in der häufig die Familienarbeit des Partners ganz selbstverständlich zum Geschäftsmodell des Unternehmers gehört, andererseits aber auch andere Interessenträger (Mitgesellschafter, Arbeitnehmer, Gläubiger) zu berücksichtigen sind.3 Der Bundesgerichtshof hat sich bekanntlich erst unter dem Druck des Bundesverfassungsgerichts veranlasst gesehen, dieses Problem als Pro­blem anzuerkennen; er sieht in §  1408 BGB eine klare gesetzgeberische Entscheidung für eine umfassende Vertragsfreiheit im Ehevertragsrecht, die grundsätzlich auch zulasten einer Teilhabe des nicht berufstätigen Vertragspartners ausgeübt werden kann und versucht die Herausforderungen mithilfe einer (allerdings deutlich zu begrenzten) Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle der üblichen Gütertrennungsverträge unter Rückgriff auf eine sog. Kernbereichslehre in den Griff zu bekommen.4 Diese restriktive Linie der Rechtsprechung wird vom Schrifttum ganz überwiegend abgelehnt; eine Konsolidierung der Entwicklung im Sinne der verfassungsrechtlich gebotenen Anerkennung von Familienarbeit ist freilich nicht abzusehen.5 3. Gütertrennung und dual career Nach §  1356 Abs.  2 sind beide Ehepartner berechtigt, erwerbstätig zu sein, das ist heute ganz selbstverständlich. Es gibt kein gesetzliches Eheleitbild mehr, die Einverdienerehe wird häufig belächelt, der Wunsch vieler Familien nach Teilzeitmodellen zumindest für einen Partner beklagt. Allerdings haben die Ehegatten gem. §  1356 Abs. 2 Satz 2 bei der Wahl und Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit auf die Belange des 3 Siehe zum Gesamtkomplex ausführlich Kalss/Dauner-Lieb, Unternehmerehe: Die Beiträge der Ehepartner zum Familienunternehmen, GesRZ 2019, 374. 4 BVerfG v. 6.2.2001 − 1 BvR 12/92, NJW 2001, 957; ab BGH v. 10.2.2004 − XII ZR 265/02, NJW 2004, 930; insbesondere zur Unternehmerehe BGH v. 21.11.  2012 − XII ZR 48/11, NJW 2013 Rz. 22; vgl. bereits BGH v. 28.3.2007 − XII ZR 130/04, NJW 2007, 2851; BGH v. 17.10.2007 − XII 96/05, NJW 2008, 1076. Zur Rechtsprechung im Einzelnen Brudermüller in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 1408 Rz. 7 ff.; die Deutung des § 1408 BGB durch den BGH beruht möglicherweise auf einem historischen Missverständnis, siehe dazu Meder, Gütertrennung als Argument bei der richterlichen Inhaltskontrolle von Verträgen über den Ausschluss der Zugewinngemeinschaft, FPR 2012, 113. 5 Siehe nur die Nachweise Brudermüller in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 1408 Rz. 10; ausführlich Dauner-Lieb, Familienarbeit-Plädoyer für ein partnerschaftliches Familienrecht, FF 2017, 190; demnächst Schuman, Familienrecht und Gesellschaftspolitik, AcP 220 (2020), 701.

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anderen Ehegatten und der Familie die gebotene Rücksicht zu nehmen. Schon diese Formulierung zeigt, dass das Familienrecht für die Fälle der Doppelverdienerehe davon ausgeht, dass die beiden Ehepartner beruflich getrennte Wege gehen, in abhängiger Arbeit, oder selbstständig/unternehmerisch und dass sie dementsprechend beide, jeweils für sich Einkommen generieren, das sich in ihrem eigenen Vermögen niederschlägt. Hoch im Kurs sind dual career Ehen, in denen beide Partner eine langfristige Karriereorientierung und ein hohes Maß an beruflichem commitment aufweisen, nicht nur in den Rektoraten der Universitäten. Erfolgreiche dual career couples haben eine gemeinsame Vision, schwärmen Frauenzeitschriften.6 Werden im Rahmen eines solchen Ehemodells auch die Haushalts- und Familienpflichten so verteilt, dass keiner der Partner zurückstecken muss, dann mag Gütertrennung keine kritischen Folgen haben. Nicht im Blick hat das Familienrecht dagegen die praktisch häufigen Konstellationen, in denen die Ehepartner beruflich/geschäftlich zusammenarbeiten, ein gemeinsames unternehmerisches Projekt verfolgen, über die familienrechtlichen Pflichten zur wechselseitigen Unterstützung hinaus. Im gesetzlichen Güterstand ist es auch in diesen Fällen gleichgültig, wer was getan, wer zusätzlich oder nebenher Familienarbeit geleistet hat. Der Halbteilungsgrundsatz stellt sicher, dass die gemeinsam erzielte Wertschöpfung gleichmäßig verteilt wird. Wiederum stellen sich Probleme bei Gütertrennung und zwar dann, wenn das berufliche Zusammenwirken der Ehegatten in Form einer Ehegattenmitarbeit7 des einen im Unternehmen des anderen erfolgt, sodass sich die gemeinsam erwirtschaftete Wertschöpfung ganz oder überwiegend im Vermögen nur eines Ehegatten niederschlägt. Ein leicht verfremdetes Beispiel aus der Praxis soll die Problematik verdeutlichen: Eine junge Schneiderin steigt nach Jahren der Familienarbeit kontinuierlich stärker in das von ihrem Ehemann betriebene Textilunternehmen ein, erweist sich als innovative Modeschöpferin, deren Ideen letztlich entscheidend den Aufstieg des Unternehmens zur Weltmarke befördern, deren Gesicht und Repräsentantin sie ist. Soll ihr Beitrag zur Wertschöpfung im Vermögen des Mannes unberücksichtigt bleiben, wenn bei Eheschließung – aus welchen Gründen auch immer – Gütertrennung vereinbart wurde? Dies ist die Pro­ blematik der Ehegatteninnengesellschaft.

III. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft 1. Überblick: Eine wechselvolle Geschichte Über die rechtlich angemessene Erfassung einer beruflichen Zusammenarbeit der Ehegatten in Form der „Ehegattenmitarbeit“ des einen Ehegatten im Unternehmen 6 Siehe nur EMOTION, 01/02 2020, Gemeinsam-Doppelt Spitze, S. 68. 7 Begriffsprägend Lieb, Die Ehegattenmitarbeit im Spannungsfeld zwischen Rechtsgeschäft, Bereicherungsausgleich und gesetzlichem Güterstand, 1970; grundlegend auch Hepting, Die autonome Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Verhältnis zu Eherecht, Rechtsgeschäftslehre und Schuldrecht, 1984.

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Die Ehegatteninnengesellschaft – Ein Fall geglückter Rechtsfortbildung?!

des anderen wird seit langem kontrovers diskutiert. Da sich im Laufe der Jahre immer deutlicher gezeigt hat, dass das Problemlösungspotenzial des Güterrechts nicht ausreicht, wird über eine „Vermögensauseinandersetzung der Ehegatten außerhalb des Güterrechts“8 insbesondere auf einer gesellschaftsrechtlichen Grundlage intensiv nachgedacht. Das einschlägige Schrifttum ist kaum noch überschaubar.9 Die Diskussion überschneidet sich teilweise mit der oben angesprochenen Debatte über eine Inhaltskontrolle von Eheverträgen zur angemessenen Berücksichtigung von Familienarbeit, das macht sie noch unübersichtlicher.10 Der Bundesgerichtshof hat im Laufe der Zeit zur Bewältigung der Probleme mehrere Instrumente entwickelt und vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher Anschauungen und geänderter Gesetze im Laufe der Zeit variiert, weiter entwickelt, neu geordnet.11 Am Anfang der Entwicklung stand mit der Entscheidung des BGH vom 20.12.195212, in einer Zeit in der nach Inkrafttreten des Grundgesetzes erhebliche familienrechtliche Rechtsunsicherheit herrschte, die Entdeckung der Ehegatteninnengesellschaft. Auf dieses im Gesellschaftsrecht angesiedelte Instrument wurde bis in die siebziger Jahre hinein zurückgegriffen, um für einen angemessenen Vermögensausgleich zu sorgen, wenn ein Ehegatte trotz Gütertrennung durch Mitarbeit für einen deutlichen Vermögenszuwachs beim anderen Ehegatten gesorgt hatte; es ging etwa um Fälle, in denen ein Ehegatte über Jahre hinweg in der Gastwirtschaft, im Lebensmittelgeschäft oder im Großhandelsbetrieb des anderen mitgearbeitet und so den Aufbau und den Erfolg des Unternehmens mitgetragen und mitbewirkt hatte. Es

8 Siehe etwa Wever, Vermögensauseinandersetzung der Ehegatten außerhalb des Güterrechts, 7. Aufl. 2018; Wagenitz in Schwab/Hahne (Hrsg.), Familienrecht im Brennpunkt, 2004, S. 161. 9 Umfassend Herr, Nebengüterrecht – Ausgleichsansprüche bei Gütertrennung und gestörtem Zugewinnausgleich, 2013; ausführlich auch Dauner-Lieb, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft – Offene Fragen zum Verhältnis von Güterrecht und Gesellschaftsrecht, FuR 2009, 361; Röthel, Ausgleichsordnungen unter Ehegatten: fiktive Innengesellschaft versus reale Gütergemeinschaft, FamRZ 2012, 1916; Bayer/ Selentin in FS Elisabeth Koch, 2019, S. 307. 10 Siehe zu den Zusammenhängen Herr, Kritik der konkludenten Ehegatteninnengesellschaft  − Der Ausgleich ehelicher Mitarbeit als ehebezogene Wertschöpfung im Rahmen richterlicher Inhalts- und Ausübungskontrolle von Eheverträgen, 2008; Herr, Weitere Aspekte zum Vergleich zwischen Ehegatteninnengesellschaft und Zugewinnausgleich, FamRB 2011, 86; vgl. etwa auch Hoppenz, Ehegattenzuwendungen, FPR 2012, 84; Hoppenz, Die Ausübungskontrolle des Gütertrennungsvertrags − Konkludente Ehegatteninnengesellschaft, ehebezogene Zuwendung und familienrechtlicher Kooperationsvertrag nur noch Auslaufmodelle?, FamRZ 2011, 1697; Bergschneider, Schenkung, ehebezogene Zuwendung und Ehegatteninnengesellschaft bei Scheidung und Tod, FPR 2011, 244; Falkner, Das (Neben-) Güterrecht, DNotZ 2013, 586. 11 Ausführlich Dauner-Lieb, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft – Offene Fragen zum Verhältnis von Güterrecht und Gesellschaftsrecht, FuR 2009, 361. 12 BGH v. 20.12.1952 − II ZR 44/52, NJW 1953, 417.

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Barbara Dauner-Lieb

trat mit der Entwicklung der sog. unbenannten bzw. ehebezogenen Zuwendung13 und des Kooperationsvertrags14 als familienrechtliche Verträge eigener Art Anfang der achtziger Jahre zunächst in den Hintergrund. Eine Renaissance erlebte die Ehegatteninnengesellschaft mit der Entscheidung vom 30.6.199915, die den Anwendungsbereich dieser Rechtsfigur zulasten der ehebezogenen Zuwendung wieder deutlich ausdehnte. Ihr wurde nun klare Priorität vor den anderen Ausgleichsinstrumenten eingeräumt. Diese Linie wurde vom BGH in den Entscheidungen vom 25.6.200316 und vom 28.9.200517 bekräftigt , in denen er klarstellte, dass der gesellschaftsrechtliche Ausgleich über die Konstruktion einer Ehegatteninnengesellschaft auch neben dem Anspruch auf Zugewinnausgleich bestehen kann. Anders als bei den Instrumenten der ehebedingten Zuwendung und des Kooperationsvertrags, soll dementsprechend ein Ausgleichsanspruch nicht erst in Betracht kommen, wenn der Zugewinnausgleich nicht zu einem angemessenen Ergebnis führt.18 An dieser Linie hat die Rechtsprechung bis heute festgehalten.19 Damit hat der BGH für die beruflich/ unternehmerische Zusammenarbeit von Ehegatten ein Instrument auf der Schnittstelle zwischen Gesellschaftsrecht und Güterrecht geschaffen, das vom familienrechtlichen Schrifttum als eigenständiges „Nebengüterrecht“ wahrgenommen wird.20

13 Ausführlich Dauner-Lieb, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft  – Offene Fragen zum Verhältnis von Güterrecht und Gesellschaftsrecht, FuR 2009, 361, 364 f. 14 Ausführlich Dauner-Lieb, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft  – Offene Fragen zum Verhältnis von Güterrecht und Gesellschaftsrecht, FuR 2009, 361, 365 f. 15 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962. 16 BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 161/01, NJW 2003, 2982. 17 BGH v. 28.9.2005  – XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268; Anm. K. Schmidt, JuS 2006, 756; Löhnig, JA 2006, 565; Kogel, FamRZ 2006, 1177; Münch, MittBayNot 2006, 420; Hoppenz, FamRZ 2006, 610; Volmer, FamRZ 2006, 844; Grziwotz, LMK 2006, 179079; Wever, FamRB 2006, 165; Haußleiter, NJW 2006, 2741. 18 BGH v. 28.9.2005 – XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268, Ls. 1 und Rz. 12. 19 Siehe BGH v. 3.2.2016 − XII ZR 29/13, NZFam 2016, 521 (zum Rückgriff auf den Halbteilungsgrundsatz ) m. Anm. Jeep; Wackerbarth, EWIR 2016, 621; dazu auch Wever, die Entwicklung der Rechtsprechung zur Vermögensauseinandersetzung der Ehegatten außerhalb des Güterrechts, FamRZ 2016, 1627, 1635; Wever, Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Vermögensauseinandersetzung der Ehegatten außerhalb des Güterrechts, FamRZ 2019, 757, 765; vgl. auch BGH v. 10.6.2015 − IV ZR 69/14, ZEV 2015, 590; KG v. 6.12.2016 − 18 UF 33/16, NJW 2017, 3246, Anm. Röfer, FamRZ 2017, 608; OLG Hamm, BeckRS 2010, 25743; OLG Düsseldorf, BeckRS 2018, 37175. 20 Siehe insbesondere die Zusammenschau von Herr, Nebengüterrecht – Ausgleichsansprüche bei Gütertrennung und gestörtem Zugewinnausgleich, 2013; Herr, Legislativorschlag zum Nebengüterrecht, FamRB 2019, 116; Herr, Nochmals: Legislativvorschlag zum Nebengüterrecht, FamRB 2019, 485; Herr, Die Systematik des Nebengüterrechts, NJW 2012, 1847; Herr, Selektiver vorzeitiger Zugewinnausgleich über die konkludente Ehegatteninnengesellschaft − Ein lohnender Weg über das Nebengüterrecht, FamRB 2011, 258; Kogel, Über Risiken und Nebenwirkungen einer Ehegatteninnengesellschaft im gesetzlichen Güterstand − Blick auf ein juristisches Absurdistan der Interessenlagen, FamRB 2017, 354; Sanders, Das Nebengüterrecht und die EuGüVO, FamRZ 2018, 978; Wever, Ehebezogene Zu-

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2. Zu den Voraussetzungen einer Ehegatteninnengesellschaft Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für einen Ausgleich auf der Grundlage einer Ehegatteninnengesellschaft ist für den BGH − gesellschaftsrechtlich vollkommen kon­ sequent − ein „zumindest durch schlüssiges Verhalten zustande gekommener Vertrag“.21 Dafür formuliert der BGH drei Voraussetzungen: Wesentliche Voraussetzung für die Annahme einer durch schlüssiges Verhalten zustande gekommenen Ehegatteninnengesellschaft sei zunächst ein über die Verwirk­ lichung der Ehegemeinschaft hinausgehender Zweck, wie er etwa vorliege, wenn die Eheleute durch den Einsatz von Vermögenswerten und Arbeitsleistungen gemeinsam ein Unternehmen aufbauen oder gemeinsam eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausüben.22 Komme es in einer solchen Konstellation zum Vermögensaufbau nur bei einem Ehegatten, so liege die Ursache meist darin, dass der Ehegatte bereits Inhaber des geförderten Unternehmens oder Vermögens sei. Der Zusammenarbeit der Ehegatten liege in solchen Fällen regelmäßig die Vorstellung zugrunde, dass die Gegenstände auch bei formal-dinglicher Zuordnung zum Alleinvermögen eines Ehegatten wirtschaftlich beiden gehören sollen.23 Denn wer einen geschäftlichen Erfolg miterarbeitete, tue dies in der Regel für sich selbst.24 Eine weitere Voraussetzung stelle das Erfordernis dar, dass die Tätigkeit des mitarbeitenden Ehegatten von ihrer Funktion her als gleichberechtigte Mitarbeit anzusehen sei.25 Allerdings dürfe dieser Gesichtspunkt bei einem Vermögenserwerb im Rahmen einer Ehegatteninnengesellschaft mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Beteiligungen nicht überbewertet werden.26 Gleichberechtigung sei daher nicht im Sinne einer Gleichwertigkeit, also etwa in Form gleich hoher oder gleichartiger Beiträge an Finanzierungsmitteln oder sonstigen Leistungen zu verstehen.27 Erforderlich sei nur, dass ein Ehegatte für die Gesellschaft einen nennenswerten und für den erstrebten Erfolg bedeutsamen Beitrag geleistet habe.28 Schließlich dürfe die Annahme einer durch schlüssiges Verhalten zustande gekommenen Ehegatteninnengesellschaft nicht zu den von den Ehegatten ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen in Widerspruch stehen. Denn ausdrückliche Abreden gingen einem nur konkludent zum Ausdruck gekommenen Parteiwillen vor.29 Die Vereinbarung von Gütertrennung sprechen nicht gegen das Zustandekommen eines wendung, Ehegatteninnengesellschaft und Kooperationsvertrag: Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, FamRZ 2019, 1289. 21 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268, Ls. 2 und 17; BGH v. 30.6.1999 − XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2566. 22 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268, Rz.13. 23 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2265. 24 BGH v. 30.6.1999 − XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2265. 25 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268, Rz. 14. 26 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268, Rz. 14. 27 BGH v. 30.6.1999 − XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2264. 28 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268, Rz. 14. 29 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268, Rz. 15.

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Gesellschaftsverhältnisses zwischen den Ehegatten. Denn daraus folge nicht zwingend, dass die Ehegatten eine Teilhabe am gemeinsam erwirtschafteten Vermögen von vorneherein ablehnen.30 Auch das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses schade nicht, wenn es eine Vergütung vorsehe, die für die ausgeübte Tätigkeit und die Beiträge zur gemeinsamen Wertschöpfung nicht adäquat sei.31 3. Schlussfolgerungen Kern der Ehegatteninnengesellschaft ist damit eine professionelle Zusammenarbeit der Ehegatten über die Verwirklichung der persönlichen Lebensgemeinschaft hinaus. Es geht nicht um eine angemessene Versorgung des Ehegatten. Es geht auch nicht um eine angemessene Berücksichtigung von Familienarbeit zulasten der eigenen Erwerbstätigkeit im Sinne eines Ausgleichs ehebedingter Nachteile. Die Ehegatteninnengesellschaft knüpft auch nicht an eine wie auch immer geartete Bedürftigkeit, sondern an erbrachte Leistungen eines Ehegatten an, die sich ehebedingt ausschließlich im Vermögen des anderen Ehegatten niedergeschlagen hat. Sie ist infolgedessen auch kein Billigkeitsinstrument.32 Unerheblich ist auch, ob sich der Ehegatte neben seinem Einsatz für das unternehmerische Projekt auch noch um Familienarbeit, Versorgung und Erziehung von Kindern gekümmert hat. Eine solche Gemengelage von Familienarbeit und unternehmerischem Engagement ist geradezu typisch für die Unternehmerehe.33 Versteht man die Ehegatteninnengesellschaft richtigerweise im Sinne eines Instruments zur Kompensation erbrachter Beiträge zur Wertschöpfung im Vermögen des anderen Ehepartners, dann erscheint es ganz selbstverständlich, dass sich der Anwendungsbereich der Ehegatteninnengesellschaft nicht auf die Fälle beschränkt, in denen die Ehe durch Scheidung endet, sondern auch im Todesfall einer der beiden Ehepartner greift. In dieser Konstellation verschiebt sich freilich die Interessenlage: Es geht nicht mehr um die Frage, wie die durch berufliche/unternehmerische Zusammenarbeit der Ehepartner gemeinsam erzielte Wertschöpfung nach einem Scheitern der Ehe angemessen zwischen den beiden Partnern aufzuteilen ist. In den Mittelpunkt rücken vielmehr die Interessen der Kinder des verstorbenen Ehepartners (oder sogar seiner Eltern), einen höheren Anteil am Nachlass zu bekommen, als ihnen nach der gesetzlichen Erbfolge oder den letztwilligen Verfügungen des Erblassers zustehen würde. So klagte in der Leitentscheidung des BGH vom 30.6.199934 die Tochter des Erblassers gegen seine geschiedene Ehefrau auf Ausgleich für Leistungen ihres Vaters, die sich allein im Vermögen der geschiedenen Ehefrau niedergeschlagen hatten.

30 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2264. 31 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268 Rz. 18. 32 Siehe etwa KG v. 6.12.2016 − 18 UF 33/16, FamRZ 2017, 608. 33 Ausführlich dazu Kalss/Dauner-Lieb, Unternehmerehe: Die Beiträge der Ehepartner zum Familienunternehmen, GesRZ 2019, 374. 34 BGH v. 30.6.1999 − XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2264.

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IV. Weitere Anforderungen an einen schlüssig zustande gekommenen Gesellschaftsvertrag? 1. Wille zur gesellschaftsrechtlichen Bindung als Fiktion? Reicht das aus? Genügt es für die Annahme eines konkludent geschlossenen Gesellschaftsvertrags, dass die vom BGH entwickelten Voraussetzungen/Indizien erfüllt sind, oder müssen zusätzliche Umstände dargetan und bewiesen werden, die den Schluss auf einen Willen der Ehegatten zum Abschluss einer gesellschaftsrechtlichen Grundlage für ihre gemeinsamen Aktivitäten zulassen? Nimmt man die maßgeblichen Entscheidungen, in denen die drei Voraussetzungen für das Vorliegen einer Ehegatteninnengesellschaft entwickelt wurden,35 noch einmal näher in den Blick, dann ergibt sich eine einheitliche Linie, die freilich nicht ohne innere Spannungen ist: Zunächst einmal wird die Notwendigkeit eines schlüssig zustande gekommenen Vertrags prominent betont.36 Ob ein konkludent geschlossener Gesellschaftsvertrag angenommen werden könne, hänge von den Umständen des Einzelfalls ab. Sie müssten den Schluss auf den Willen der Beteiligten zulassen, eine rechtliche Bindung gesellschaftsrechtlicher Art einzugehen.37 Dieser Wille wird aber ohne weiteres aus den objektiven Umständen der über die Verwirklichung der Ehegemeinschaft hinausgehenden Zweckverfolgung geschlossen.38 An anderer Stelle findet sich die Formulierung, es sei nicht erforderlich, dass die Ehegatten ihr zweckgerichtetes Zusammenwirken bewusst als gesellschaftsrechtliche Beziehung qualifiziert hätten. Vielmehr reiche das erkennbare Interesse der Ehegatten aus, ihrer Zusammenarbeit über die bloßen Ehewirkungen hinaus einen dauerhaften, auch Vermögensfolgen umfassenden Rahmen zu geben.39 Im Übrigen ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Entscheidung ersichtlich, an der das Vorliegen einer Ehegatteninnengesellschaft am Fehlen weiterer Hinweise auf einen rechtsgeschäftlichen Willen gescheitert wäre, wenn nur die Kernvoraussetzung einer deutlich über die Verwirklichung der Lebensgemeinschaft hinausgehende unternehmerische Zweckverfolgung vorlag. Genau an diesem Punkt setzt die Kritik des Schrifttums an, auch soweit die vom BGH erzielten Ergebnisse begrüßt werden: Die Annahme eines Willens zum Abschluss eines Gesellschaftsvertrags sei in den typischen Fällen, in denen der BGH eine Ehegatteninnengesellschaft bejahe, Fiktion. Außerdem - so eine weit verbreitete Argumentation -hätten die Ehepartner durch die Vereinbarung von Gütertrennung ja gerade zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre Vermögensmassen getrennt halten wollten. Dies sei – abweichend von der Auffassung des BGH – mit der Annahme eines konkludent abgeschlossenen Gesellschaftsvertrags unvereinbar.

35 BGH v. 30.6.1999 − XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962; BGH v. 25.6.2003 − XII ZR161/01, NJW 2003, 2982; BGH v. 28.9.2005 – XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268. 36 Siehe nur Ls. 2, BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268. 37 Daraus schließt etwa der Gesellschaftsrechtler K. Schmidt, JuS 2006, 756, die Ehegatten­ innengesellschaft habe sich vom Familienrecht emanzipiert. 38 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268 Rz. 17. 39 BGH v. 30.6.1999 − XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2964.

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2. Zur Aussagekraft einer Gütertrennungsvereinbarung Damit wird es erforderlich den rechtsgeschäftlichen Gehalt und die Zielstellung von Gütertrennung näher in den Blick zu nehmen: Für eine Vereinbarung von Gütertrennung gibt es verschiedene Gründe, tragfähige Motive, aber auch Missverständnisse. So wird immer wieder berichtet, dass künftige Ehepartner (und ihre Eltern) glauben, das Vermögen, das ein Partner mit in die Ehe bringt oder später geschenkt bzw. vererbt bekommt, vor dem Zugriff des anderen Partners schützen zu müssen. Weit verbreitet ist offensichtlich auch die Vorstellung, dass die Ehepartner ohne Gütertrennung für die Schulden des jeweils anderen haften. Einer der wichtigsten und im Ausgangspunkt nachzuvollziehenden Gründe für die Vereinbarung von Gütertrennung ist das Ziel des unternehmerisch tätigen Ehepartners, das Vermögen seines Unternehmens durch Vereinbarung von Gütertrennung einem möglicherweise existenzbedrohenden Zugriff seines Ehepartners im Falle der Scheidung zu entziehen und damit nicht nur für sich, sondern auch für die Familie die Lebensgrundlage zu erhalten.40 Der BGH hat seit jeher ein entsprechendes legitimes Interesse des unternehmerisch tätigen Ehegatten anerkannt. Er geht davon aus, dass ein Konflikt zwischen dem Interesse an der Erhaltung des Unternehmens und dem Interesse des aus der Ehe ausscheidenden Ehepartners an Kompensation seines Beitrags zur familiären Wertschöpfung in Form von Familienarbeit vorsorglich schon bei Eheschließung zugunsten der Erhaltung des Unternehmens aufgelöst werden kann. Wie bereits oben skizziert erlaubt er nur in sehr engen Grenzen eine richterliche Inhaltskontrolle von Gütertrennungsverträgen. Diese Linie kann zu dem problematischen Ergebnis führen, dass die Familienarbeit eines Ehepartners auch für das Unternehmen als Konsequenz der Gütertrennung am Ende völlig unberücksichtigt bleibt.41 Das gemeinsame berufliche Engagement der Ehepartner in einem Unternehmen, um das es bei der Ehegatteninnengesellschaft geht, liegt aber auf einer völlig anderen Ebene: Die Vereinbarung von Gütertrennung zielt darauf ab, die Vermögenssphären der Ehegatten von Anfang bis Ende der Ehe so scharf auseinanderzuhalten, dass die beiden Partner also vermögensmäßig miteinander umgehen wie mit fremden Dritten. Sie mag damit häufig auch den Willen eines Ehepartners dokumentieren, den anderen Ehepartner im Falle einer Scheidung nicht an einem Vermögenszuwachs teilhaben zu lassen, den er selbst erwirtschaftet hat. Aus dem Willen, die materiellen Früchte der eigenen unternehmerischen Tätigkeit nicht mit dem Ehepartner zu teilen, lassen sich aber keine Rückschlüsse auf einen weitergehenden Willen ziehen, auch die finanziellen Früchte der Arbeit des anderen Partners für das Unternehmen mitzunehmen und zu behalten. Man kann dem Unternehmer, der bei Eheschließung Gütertrennung vereinbart, kaum die Absicht unterstellen, die Arbeits- und Leistungskraft seines künftigen Ehepartners zur Steigerung des eigenen Vermögens ohne angemessene Kompensation auszubeuten. Andererseits liegt – wie der BGH zutreffend formuliert  – der Mitarbeit des anderen Ehegatten regelmäßig die Vorstellung 40 Dazu ausführlich Kalss/Dauner-Lieb, Unternehmerehe: Die Beiträge der Ehepartner zum Familienunternehmen, GesRZ 2019, 374. 41 Dazu im Einzelnen Kalss/Dauner-Lieb, Unternehmerehe: Die Beiträge der Ehepartner zum Familienunternehmen, GesRZ 2019, 374, 381 f. mit umfassenden Nachweisen in Fn. 57.

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zugrunde, dass die Gegenstände auch bei formal-dinglicher Zuordnung zum Alleinvermögen des anderen Ehegatten wirtschaftlich beiden gehören sollen. Denn wer ­einen geschäftlichen Erfolg miterarbeite, tue dies in der Regel für sich selbst.42 Eine Wertschöpfung im Rahmen eines gemeinsamen unternehmerischen Projekts der Ehegatten liegt also außerhalb des typischen Regelungskontexts einer Gütertrennung und wird von ihrer Zielstellung gar nicht erfasst – anders als möglicherweise Familienarbeit. Dem BGH ist daher darin zuzustimmen, dass das Vorliegen von Gütertrennung nicht gegen das konkludente Zustandekommen einer Ehegatteninnengesellschaft spricht.43 3. Die Ehe als rechtsgeschäftsferne Zone Warum regeln Ehepartner während der intakten Ehe eine über die private Lebens­ gestaltung hinausgehende übliche/unternehmerische Zusammenarbeit nicht? Muss man von ihnen nicht  – als Voraussetzung für einen gesellschaftsrechtlichen Ausgleich – erwarten und verlangen, dass sie ihre geschäftliche Zusammenarbeit juristisch reflektieren und dementsprechend klar und deutlich einen Willen zum Ausdruck bringen, eine rechtliche Bindung gesellschaftsrechtlicher Art einzugehen? Ein entsprechendes Postulat wäre lebensfremd.44 Selbstverständlich können Ehegatten miteinander Verträge schließen wie mit Dritten. Daher können Sie auch ihre Vermögensbeziehungen während der Ehe auf die für Geschäfte mit Dritten selbstverständliche rechtsgeschäftliche Basis stellen. Das würden sie wahrscheinlich auch tun, wenn sie sich einer entsprechenden Notwendigkeit bewusst wären. Genau daran fehlt es jedoch zumindest während der intakten Ehe. Das belegt eindrucksvoll das Fallmaterial der letzten 50 Jahre. Vorherrschend ist die Vorstellung der Einheit von „Mein und Dein“. Die Ehe ist eine rechtsgeschäftsferne Zone.45 Dieser Befund der Ehe als „rechtsgeschäftsferner Zone“ kann nicht ohne Auswirkungen auf die Voraussetzungen eines gesellschaftsrechtlichen Ausgleichs bleiben. Auch wenn man die Ehegatteninnengesellschaft im Gesellschaftsrecht ansiedelt, können bestimmte Besonderheiten der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht ganz unberücksichtigt bleiben, wenn man nicht riskieren will, dass immer der Schwächere auf der Strecke bleibt. Dies spricht dafür, den BGH so zu verstehen, dass bei Vorliegen der drei formulierten Voraussetzungen das Vorliegen eines konkludent geschlossenen Gesellschaftsvertrags eine Ehegatteninnengesellschaft zu bejahen ist, ohne dass nach weiteren Indizien zu suchen wäre. Wollte man tatsächlich mehr verlangen, wäre das 42 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2265. 43 BGH v. 30.6.1999 − XII ZR 203/96, NJW 1999, 2962, 2264. 44 Entsprechendes gilt auch für viele Konstellationen von Gelegenheitsgesellschaften, bei denen die Rechtsprechung nicht zögert, aus den objektiven Umständen einen rechtsgeschäftlichen Bindungswillen abzuleiten, etwa bei den Teams zur Organisation von Abifinanzierungspartys und anderen Events im halbprivaten Raum. 45 So schon Dauner-Lieb, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft – Offene Fragen zum Verhältnis von Güterrecht und Gesellschaftsrecht, FuR 2009, 361, 363 f.; ähnlich Röthel, Ausgleichsordnungen unter Ehegatten: Fiktive Innengesellschaft versus reale Gütergemeinschaft, FamRZ 2012, 1916.

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Instrument der Ehegatteninnengesellschaft „tot“, denn solche Indizien wird man regelmäßig nicht finden. In den vom BGH entschiedenen Fällen lagen sie auch nicht vor und nach ihnen wurde auch nicht gesucht. Erkennt man an, dass der Kern der Problematik darin liegt, dass Ehegatten eine Zusammenarbeit, die sie im Umgang mit Dritten ganz selbstverständlich vertraglich regeln würden, während der intakten Ehe typischerweise nicht juristisch reflektieren und dementsprechend auch nicht rechtsgeschäftlich ausgestalten und absichern, dann lässt sich auch ein klarer Maßstab für die Frage nach der Anwendbarkeit von Gesellschaftsrecht feststellen. Es ist zu fragen, was vernünftige und faire Ehepartner im jeweils konkreten Fall vereinbart hätten, wenn es um die entsprechende Zusammenarbeit mit einem Dritten gegangen wäre. Hätten sie dann eine gesellschaftsvertragliche Grundlage vereinbart, dann kann und muss für die entsprechende Zusammenarbeit mit dem Ehepartner die Ehegatteninnengesellschaft zum Zuge kommen.46

V. PS zur Methode: Analogie oder Rechtsfortbildung? Die hier entwickelten Überlegungen sollten zeigen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft wertungsmäßig überzeugt. Es wäre kaum nachzuvollziehen, wenn das Engagement des eigenen Ehepartners in einem unternehmerischen Projekt juristisch und ökonomisch anders bewertet würde als ein ­entsprechendes Engagement eines fremden Dritten. Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Postulats der Gleichwertigkeit aller Beiträge zur ehelichen Wertschöpfung ist die Anerkennung und Kompensation eines Engagements in einem ­gemeinsamen unternehmerischen Projekt ohnehin selbstverständlich. Ein Wermutstropfen bleibt, Ungleichbehandlung von beruflichem Engagement und Fami­ lienarbeit durch die höchstrichterliche Rechtsprechung. Die Linie des BGH zur begrenzten Inhalts- und Ausübungskontrolle von Gütertrennungsverträgen wird dem verfassungsrechtlichen Postulat noch nicht gerecht und spiegelt auf privatrechtlicher Ebene die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung von Familienarbeit wider. Im Übrigen bleiben methodische Fragen offen: Nähert man sich der höchstrichterlichen Rechtsprechung halbwegs unbefangen, dann wird man sich kaum der Einsicht verschließen können, dass es sich nicht um eine schlichte und unproblematische ­Anwendung von Gesellschaftsrecht handelt. Die Innengesellschaft wird familienrechtlich aufgeladen; die üblichen gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen an eine Innengesellschaft werden im Hinblick auf die typische Ausblendung juristischer Dimensionen in persönlichen Beziehungen modifiziert. Letztlich bleibt der geforderte Wille zur rechtsgeschäftlichen Bindung zwangsläufig Fiktion. Zu einer entsprechenden (dogmatischen) Glättung konnte sich die Rechtsprechung bisher nicht durchringen. Analogie47 oder offene Rechtsfortbildung? Die methodische Diskussion ist span46 So schon Dauner-Lieb, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ehegatteninnengesellschaft – Offene Fragen zum Verhältnis von Güterrecht und Gesellschaftsrecht, FuR 2009, 361, 369 ff. 47 In diesem Sinne wohl Bayer/Selentin in FS Elisabeth Koch, 2019, S. 307.

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nend, aber letztlich ohne Konsequenz, zumal die Grenzen ohnehin fließend sind. Problematisch ist allerdings, dass der BGH nach wie vor (rein gesellschaftsrechtlich) an der Formel festhält, die Annahme einer durch schlüssiges Verhalten zustande gekommenen Ehegatteninnengesellschaft dürfe nicht zu den von den Ehegatten ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen in Widerspruch stehen, denn ausdrückliche Abreden gingen einem nur konkludent zum Ausdruck gekommenen Parteiwillen vor.48 Vor diesem Hintergrund könnte man die Frage aufwerfen, ob die Ehepartner ergänzend zu einer Vereinbarung von Gütertrennung auch noch präventiv einen Ausgleich nach den Rechtsprechungsgrundsätzen zur Ehegatteninnengesellschaft ausschließen können. Bei etwas Nachdenken würde man sie aber wohl (hoffentlich) als rein theoretische Frage verabschieden: Sollte ein Ehewilliger tatsächlich einmal schon vor der Eheschließung die Bereitschaft und den Willen dokumentieren, die Arbeits- und Leistungskraft seines künftigen Ehepartners zur Steigerung des eigenen Vermögens ohne angemessene Kompensation auszubeuten, dann ist zu hoffen, dass der andere Teil schleunigst von der Eheschließung Abstand nimmt.

48 BGH v. 28.9.2005 − XII ZR 189/02, NJW 2006, 1268 Rz.15.

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Polizeigewalt, ein starker Staat und die Ängste der Deutschen − Wo stehen wir im Jahr 2021? Inhaltsübersicht I. Polizeigewalt – was wir nicht wissen (wollen)

VI. Polizeibeamte als „verfolgte Grundrechtsträger“?

II. Lagebedingtes Systemversagen

VII. Der nervöse Staat in der Sicherheitsgesellschaft und sein Rassismus­ problem

III. Polizei und Politik – dünnhäutig und ­beratungsresistent IV. Widerstandsbeamte V. Schnelles Denken vs. Langsames Denken

VIII. Wenn der Staat alle schützt, ist er ein starker (Rechts-)Staat

I. Polizeigewalt – was wir nicht wissen (wollen) Polizeigewalt ist seit geraumer Zeit nicht nur in den USA, sondern auch bei uns in aller Munde. Die medienwirksame Aufbereitung der Ereignisse im Jahr 2020 um den Tod von George Floyd in den USA und die Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei in Stuttgart und Frankfurt haben sogar kurzfristig die tägliche Corona-Diskussion abgelöst. Bereits 2019 hatte eine Studie von Singelnstein u.a. für Aufsehen und Kritik (vor allem von Polizeigewerkschaften) gesorgt.1 3.375 Fälle von berichteter Polizeigewalt gingen in die Analyse ein, wobei ein Großteil der Fälle im Dunkelfeld blieb (weil nicht angezeigt), also nicht zu einem Strafverfahren führte. In der Stichprobe ist das Dunkelfeld etwa sechsmal größer als das Hellfeld. Damit hätten wir (mindestens) ca. 12.000 Fälle von übermäßiger Polizeigewalt pro Jahr in Deutschland. Strafverfahren gegen Polizist*innen weisen dabei eine auffallend hohe Einstellungs- sowie eine besonders niedrige Anklagequote auf.2 2020 wurde dann eine weitere Auswertung vorgelegt, in der sich zeigte, dass bestimmte Personengruppen stärker von Diskriminierung betroffen waren. Das galt vor allem für People of Color (PoC) aufgrund ihrer (zugeschriebenen) Herkunft, daneben aber auch für weiße Personen, die aufgrund ihrer Kleidung oder ihres Aussehens als abweichend wahrgenommen wurden. Die Studie hat demzufolge Hinweise auf ex­plizite rassistische Einstellungen von Polizeibeamt*innen erbracht. Die Ergebnisse wurden zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als die Diskussion über Rassismus und Rechtsextre1 Abdul-Rahman/Espin Grau/Singelnstein, Die empirische Untersuchung von übermäßiger Polizeigewalt in Deutschland. Methodik, Umsetzung und Herausforderungen des Forschungsprojekts KviAPol, in KrimOJ 2019, S. 231. 2 Singelnstein, Körperverletzung im Amt durch Polizisten und die Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaften – aus empirischer und strafprozessualer Sicht, NK 2014, S. 15-27. 

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mismus nach verschiedenen Ereignissen, die eine große Öffentlichkeitswirkung hatten, einen Höhepunkt erreicht hatte.3 Umso wichtiger erscheint es vor diesem Hintergrund, wissenschaftlich valide Fakten zu Struktur und Ausmaß von Polizeigewalt zusammenzutragen und polizeiliches Verhalten, das zu solchen Gewalthandlungen führt, systematisch zu evaluieren. Nicht nur für Kriminologie und Polizeiwissenschaft, sondern vor allem für kriminalpolitische Entscheidungen ist es wichtig, einen genauen Überblick einerseits über die Ereignisse im Zusammenhang mit Polizeigewalt zu bekommen. Ebenso wichtig ist es, die rechtlichen und polizeiinternen Vorgaben dazu zu kennen. Während erstere in Deutschland verfügbar und auch kommentiert sind (z.B. in den entsprechenden Kommentaren zu den Polizeigesetzen der Länder), sind hierzulande die polizeiinternen Richtlinien z.B. zum Schusswaffeneinsatz als VS-NfD klassifiziert, also nicht verfügbar. Auch wenn (in den USA, Zahlen für Deutschland haben wir nicht) nur in 1,8 % aller Kontakte der Polizei mit Bürgern Gewalt angedroht oder tatsächlich angewendet, und selbst bei Verhaftungen nur selten Gewalt angewendet wird, so summiert sich dies in den USA auf rund 600.000 Fälle von Polizeigewalt pro Jahr. Jede Anwendung von Gewalt kann, ebenso wie diskriminierendes, rassistisches Handeln das Vertrauen der Betroffenen, aber auch aller Bürger in die Polizei beschädigen und so mittelfristig zu einer Gefahr für unsere Demokratie werden.

II. Lagebedingtes Systemversagen Oftmals sind es Journalisten, die zum Thema Polizeigewalt recherchieren und entsprechende Dokumentationen zusammenstellen. So wurde in der taz im Mai 2020 unter der Überschrift „Lagebedingtes Systemversagen“ über das Problem des Lagebedingten Erstickungstodes und entsprechende Fälle in Deutschland berichtet und im Juli des gleichen Jahres wurden 24 Todesfälle im Polizeigewahrsam zusammengestellt. Hinzu kommt das seit vielen Jahren unterschätzte, aber in seinen Auswirkungen dramatische Problem des verfehlten Umgangs der Polizei mit psychisch gestörten oder kranken Menschen. Rund 80 % der von der Polizei bei Einsätzen getöteten Personen sind psychisch krank, und die Fälle nehmen offensichtlich zu, bei denen Polizist*innen tödliche Gewalt gegen psychisch kranke Menschen bzw. Menschen in psychischen Ausnahmesituationen anwenden. Allerdings gibt es auch hierzu weder auf Landes- noch auf Bundesebene entsprechende Zahlen. Fest steht, dass in der Mehrzahl der Fälle, in denen Menschen bei Polizeieinsätzen getötet werden, eine psychische Erkrankung vorlag, oftmals zusammen mit Alkohol- oder Drogengebrauch. Wenn psychische Störungen generell in der Gesellschaft zunehmen, dann müssen wir davon ausgehen, dass Polizeibeamt*innen verstärkt mit Personen, die sich in einem psychischen Ausnahmezustand befinden, konfrontiert werden. Der 3 Feltes/Plank in Feltes/Plank (Hrsg.), Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei?, Frankfurt 2021, S. 263-299.

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polizeiliche Kardinalfehler besteht hierbei darin, dass man glaubt, Einsatzsituationen mit psychisch gestörten Personen schnell lösen zu müssen und davon ausgeht, dass die Menschen genauso reagieren wie nicht gestörte Personen. Das ist jedoch nicht der Fall. Menschen, die sich in einer psychischen Ausnahmesituation befinden, nehme ihre Umwelt anders wahr und reagieren auch anders. Sie empfinden es beispielsweise als Bedrohung, wenn ein Beamter auf sie zugeht und glauben, sich verteidigen zu müssen. Sie verstehen auch verbale Anweisungen nicht oder nicht richtig, da ihre Wahrnehmung gestört ist.4 Prinzipiell kennen Polizeibeamt*innen diese Probleme und sie erfahren auch in der Ausbildung, dass es psychische Störungen gibt und wie sie sich äußern können. Aber zum einen liegt diese Ausbildung oftmals Jahre oder Jahrzehnte zurück. Zum anderen entwickeln solche Einsatzsituationen oftmals eine besondere Dynamik, in der es den Polizeibeamt*innen schwerfällt, rational zu handeln und daran zu denken, was sie möglicherweise einmal gelernt haben. Hier müssten die Kolleg*innen, die abseits stehen und die Situation beobachten, häufiger intervenieren. Sie müssten dazu auffordern, zurückzuweichen und auf fachliche Unterstützung oder darauf zu warten, dass die Lage sich entspannt. Nur, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht, sollte interveniert werden – denn in den meisten Fällen entsteht die entsprechende Gefahr erst durch die Intervention. Noch wichtiger als eine beständige Anpassung der Ausbildungsinhalte wäre eine beständige Fortbildung in der Praxis, in der solche Situationen eingeübt werden und eine Aufklärung über medizinische und psychologische Hintergründe und Abläufe durch Psychiater und Psychologen. In dieser Fortbildung muss unbedingt auch auf die zusätzliche Wirkung von Alkohol und Drogen bei diesen Personen eingegangen werden. Wir haben in diesen Situationen immer mindestens zwei Opfer: die getötete Person und den Beamten, der geschossen hat. Auch ihm muss angemessen geholfen werden, ebenso übrigens wie den Angehörigen – auf beiden Seiten. Pfefferspray5 wirkt in solchen Situationen übrigens meist genau gegensätzlich, weil sich die Person noch stärker bedroht fühlt und die Wirkung des Pfeffersprays durch andere Abläufe im Organismus überlagert wird. Die Person befindet sich in einem absoluten Ausnahmezustand, große Mengen von Adrenalin werden ausgeschüttet, man nimmt Schmerzen kaum noch wahr, stattdessen schaltet der Organismus in den Verteidigungs- bzw. Angriffsmodus - mit dann leider oftmals tödlichen Folgen für die psychisch gestörte Person. Nach einem Pfefferspray-Einsatz der Polizei bei Hannover starb ein Mann, ohne dass die Staatsanwaltschaft ermittelte. Auch in Bezug auf den Einsatz sog. „Taser“ ist Vorsicht angezeigt. Bereits 2011 hatte ein Bericht des ­National Institute of Justice in den USA gezeigt, dass dort bis dahin mehr als 200 Per-

4 Feltes/Alex in Hunold/Ruch (Hrsg.), Polizeiarbeit zwischen Praxishandeln und Rechtsordnung. Empirische Polizeiforschungen zur polizeipraktischen Ausgestaltung des Rechts, 2021, S. 279-299.  5 Feltes, „Begrenztes Risiko“? Polizeilicher Einsatz von Pfefferspray bei Fußballspielen, Bürgerrechte & Polizei/CILIP 110, S. 56-64.

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sonen beim Taser-Einsatz gestorben sind.6 Die Nachrichtenagentur Reuters dokumentierte bis Ende 2018 1.081 Fälle, in denen Menschen starben, nachdem sie von der Polizei mit einem Taser geschockt worden waren, die überwiegende Mehrheit von ihnen nach dem Jahr 2000.  Mindestens 32% der Verstorbenen waren schwarz (Bevölkerungsanteil 14%).7 Medizinisch betrachtet können als Nebenwirkungen im Moment des Einwirkens u. a. Herzrhythmusstörungen auftreten. Zudem sind Verletzungen infolge der Bewegungsunfähigkeit unvorhersehbar, und vorbestehende psychiatrische Erkrankungen oder eine akute (Drogen‑)Intoxikation können die Wirkung fatal beeinflussen.

III. Polizei und Politik – dünnhäutig und beratungsresistent Wie dünnhäutig Polizei und Politik bei dem Thema „Gewalt durch Polizei“ reagieren, zeigte nicht nur die Diskussion nach den Vorkommnissen im Zusammenhang mit der „Black Lives Matter“-Debatte und den Vorkommnissen in Stuttgart und Frankfurt im Jahr 2020. Immerhin wurde inzwischen sogar öffentlich von dem Polizeisprecher der Münchner Polizei eingeräumt, dass man „nicht von einer Zunahme der Gewalt (durch Bürger, TF) sprechen (sollte), das nehmen wir so nicht wahr. Was wir sehr wohl wahrnehmen, … das ist ein sogenanntes Knistern. Sie merken, es ist eine sogenannte Grundfrustration da. Und die Leute sind sehr unzufrieden mit der Situation, das kann vielfältige Gründe haben. Und wenn dann auch noch die Polizei hinzukommt und sagt, dass ein bestimmtes Lärmmaß überschritten ist, dass ein Maß an Vermassung an Personen an einem Raum überschritten ist, dann muss man als Polizei mittlerweile sein Wort sehr sorgfältig wählen um da nicht den berühmten Funken in den Benzinkanister zu werfen.“8 Die hier angesprochene „Grundfrustration“ ist sicherlich auch ein Faktor für die zunehmende Angst in unserer Gesellschaft.9 Die Angst davor, Opfer zu werden, spiegelt weniger konkrete Bedrohungen durch Kriminalität, sondern eher allgemeine gesellschaftliche Ängste und Verunsicherungen wider, die hervorgerufen werden durch Segmentierungen, Marginalisierungen sowie zunehmende gesellschaftliche Herabstufungen von Bevölkerungsgruppen. Hinzu kommen zunehmender ökonomischer Druck und eine generelle Zukunftsangst: Angst vor Krankheit, vor Armut im Alter, vor den Auswirkungen der Globalisierung, vor Flüchtlingen. Dehne spricht hier von „Kontingenzangst“.10 Diese Ängste fokussieren sich, auch bedingt durch mediale Berichterstattung und die damit einhergehende politische Stimmungsmache, auf Kriminalität und damit auf „die Kriminellen“, die zunehmend als Ausländer und Mi­ granten „identifiziert“ werden. Die Angst vor den „gefährlichen Anderen“ die die 6 National Institute of Justice, Police Use of Force, Tasers and Other Less-Lethal Weapons, Washington, 2011. 7 Suh, Shock Tactics. A Reuters Series. O.J. 8 Report München, Die Polizei in der Kritik. Wie ist die Meinung der Deutschen? 4.8.2020. 9 Feltes, Die „German Angst“. Woher kommt sie, wohin führt sie? Innere vs. gefühlte Sicherheit. Der Verlust an Vertrauen in Staat und Demokratie, NK 2019, 3-12. 10 Dehne, Soziologie der Angst, 2017, S. 35.

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„Volksgemeinschaft bedrohen“, wird zum zentralen Bestandteil rechter Propaganda und Mobilisierung.11 Obwohl wir noch nie so sicher gelebt haben wie heute nehmen Angst und Unsicherheitsgefühle zu.12 In einer „Angstgesellschaft“ gibt es eine „Statuspanik in der gesellschaftlichen Mitte“.13 Hinzu kommt, dass durch Transformationsprozesse und Umbrüche in der modernen Gesellschaft eine undurchsichtige, negative Gefühlswelt entsteht. Diffuse Existenz- und Abstiegsängste vermischen und überlagern sich und verlieren im Laufe der Zeit ihre Bezugspunkte. Dadurch entwickeln sie sich zu einem unbestimmten Bedrohungsgefühl, das in der Kriminalitätsfurcht einen Ausdruck findet, wo sie benannt und verarbeitet werden können. Diese „wabernde Angst“ – der Soziologe Bauman nannte es „Liquid Fear“ – durchzieht unseren Alltag und legt sich wie ein Nebelschleier über unsere Wahrnehmungen. Die „liquid fear of crime“ in “liquid times” geht einher mit einem Leben in einem Zeitalter der Unsicherheit.14 In dieser wabernden Angst bewegt sich die Polizei, wobei man im Moment das Gefühl haben muss, dass sie mit dem Rücken an der Wand steht, daraus aber leider nicht die richtigen Konsequenzen zieht. Statt offen und transparent Fehler, die immer und überall und eben auch bei der Polizei gemacht werden, einzugestehen und aufzuarbeiten, zieht man sich in das eigene Schneckenhaus zurück und folgt der seit vielen Jahren bekannten Linie: Das Problem oder der Fehler wird erst einmal bestritten; wenn es dann gar nicht mehr geht, wird der Vorfall als „Einzelfall“ bezeichnet15 und parallel wird alles darangesetzt, die Dinge zu vertuschen und eine unabhängige Aufarbeitung zu verhindern. Dabei tut dann das deutsche Rechtssystem ein Übriges: Aufgrund des Legalitätsprinzips und der Vorschrift des § 258 a StGB (Strafvereitelung im Amt) macht sich jede/r Polizeibeamt*in potentiell selbst strafbar, wenn sie/er das strafwürdige Verhalten einer/s Kolleg*in nicht sofort anzeigt. Als Zeug*in in einem späteren Strafverfahren bleibt ihm/ihr dann nichts Anderes übrig, als sich mit „Nichtwissen“ oder „Nicht-Erinnern“ aus der Affäre zu ziehen. Die bereits angesprochene Studie von Singelnstein u.a. hatte zu einem Aufschrei innerhalb der Polizei geführt – wohl auch, weil es bislang an vergleichbaren Studien in Deutschland fehlte. Als Grund für das Verhalten von Polizeibeamt*innen werden dabei immer wieder Überlastungen sowie die Tatsache angeführt, dass sich Polizeibeamt*innen meist in Bereichen bewegen, die eher die Schattenseiten der Gesellschaft repräsentieren. Die Polizei mag überlastet sein, vor allem aber, weil sie (auch) zu viele Aufgaben wahrnimmt, für die eigentlich andere Institutionen in unserer Gesellschaft zuständig wären. Im Rahmen der „Defund-the-Police“-Debatte in den USA im Nachgang zum Tode von George Floyd wurde dieser Aspekt der „non-crime-calls“ und des Umgangs damit thematisiert, ohne dass diese Überlegungen in Deutschland angemessen wahrgenommen wurden. Dabei konnte schon Anfang der 1990er Jahren 11 Haase, Soziale Arbeit in der Angstgesellschaft, Neue Praxis 4, 2020, 299. 12 Böhme in Koch (Hrsg.), Angst – Ein interdisziplinäres Handbuch, 2013, S. 275-282. 13 Bude, Gesellschaft der Angst, 2014, S. 60. 14 Bauman, Liquid Fear, 2006; Baumann, Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty, 2007. 15 Behr in Feltes/Plank (Hrsg.), Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei? Frankfurt 2021, S. 251-261.

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gezeigt werden, dass Polizeihandeln weit über das Image des „Crime Fighting“ hinausgeht und die Bekämpfung von Straftaten sogar nur einen eher kleinen Teil polizeilichen Alltagshandelns ausmacht.16 Seit dieser Zeit hat sich nicht viel verändert, wie die Studie von Irene Mihalic am Beispiel von Gelsenkirchen gezeigt hat.17 Richtig ist, dass sich auch die persönliche, individuelle Verfasstheit eines Beamten oder einer Beamtin auf sein/ihr Verhalten auswirkt und damit bei Grenzüberschreitungen eine wichtige Rolle spielt. 18 Es stimmt auch, dass sich der berufliche Blick der Polizisten vornehmlich auf die Schattenseiten der Gesellschaft richtet. Wenn Polizeibeamt*innen mit der Lösung komplexer sozialer Probleme allein gelassen und sich damit „als Reparaturwerkstatt von Sozialschäden“ fühlen, könne mangelnde Toleranz aufgrund von Überforderung und Stress entstehen.19 Dennoch sind polizeiliche Feindbilder in erster Linie das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses und nicht allein durch hohe Belastung zu erklären, zumal letztere durchaus umstritten ist. Alltagserfahrungen und verfestigte Stereotype konstruieren eine polizeiliche Wirklichkeit, welche das Handeln bestimmt, und teilweise zur Ungleichbehandlung bestimmter Gruppen führt. Aber die polizeiliche Gewaltausübung betrifft nicht nur Straftäter, Menschen, von denen eine Gefahr ausgeht oder die einer Anordnung auch nach Androhung von Gewalt nicht Folge leisten. Sie betrifft nachweislich auch Unschuldige und Unbeteiligte.

IV. Widerstandsbeamte Der sogenannte „Widerstandsbeamte“20 ist jeder/jedem Vorgesetzten in der Polizei bestens bekannt: Er fällt immer wieder dadurch auf, dass er wie ein Magnet Probleme an sich zieht und Anzeigen wegen Widerstands produziert. Der Umgang mit diesen Personen ist tatsächlich ein strukturelles Problem. Hier müssten Vorgesetzte sehr schnell reagieren und konstruktive Vorschläge machen.21 Sanktionen sind hier nicht hilfreich, eher im Gegenteil. Im Ausland hat man gute Erfahrungen mit Angeboten für besondere Konfliktseminare für solche Beamte gemacht. Dazu muss aber als ers-

16 Feltes, Alltagshandeln und Polizei, Neue Praxis 1995, 306-309; Feltes, Notrufe und Funkstreifeneinsätze als Messinstrument polizeilichen Alltagshandelns, Die Polizei 1995, 157-174.  17 Mihalic, Polizeiliche Einsätze, Kriminalität und Raum, 2018. 18 Ohlemacher/Feltes/Klukkert, Die diskursive Rechtfertigung von Gewaltanwendung durch Polizeibeamtinnen und -beamte – Methoden und Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojektes, Polizei & Wissenschaft 2008, 20-29; Feltes/Klukkert/Ohlemacher, „…, dann habe ich ihm auch schon eine geschmiert.“ Autoritätserhalt und Eskalationsangst als Ursachen polizeilicher Gewaltausübung, MSchrKrim 4/2007, 285-303. 19 Schweer/Strasser in Schweer/Strasser/Zdun (Hrsg.), „Das da draußen ist ein Zoo, und wir sind die Dompteure“, 2008, S. 254. 20 Die männliche Form wird hier bewusst ausschließlich gewählt. Bislang gibt es wenig Hinweise darauf, dass es auch „Widerstandsbeamtinnen“ gibt. 21 Feltes, Polizeiliches Fehlverhalten und Disziplinarverfahren – ein ungeliebtes Thema. Überlegungen zu einem alternativen Ansatz, Die Polizei 2012, 285-292 und 309-314.

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tes die Einsicht wachsen, dass es solche Widerstandsbeamte überall gibt und dass man ihr Verhalten keinesfalls dulden darf. Tatsächlich war auch der Polizeibeamte, der für den Tod von George Floyd verantwortlich war, einschlägig vorbelastet und gegen ihn waren mindestens 17 Beschwerden bekannt. Er wurde als „workaholic“ beschrieben, der nur wenige Freunde hatte und unangenehm auch im Umgang mit Kollegen war. Nach mehr als 20 Beschwerden hätte er eigentlich längst aus dem Dienst entfernt werden müssen, zumal er ­wegen Steuervergehen vorbelastet war. Dennoch hatten diese Beschwerden keine Auswirkungen, was die New York Times zur Aussage veranlasste: „Thousands of Complaints Do Little to Change Police Ways“. Die Polizei, so die Konsequenz in den USA und auch bei uns, muss mit solchen Beschwerden anders umgehen, als sie es bisher tut. Die Reaktion auf polizeiliches Fehlverhalten darf nicht nur in einem internen Disziplinarverfahren bestehen, sondern muss der/dem Beamt*in positive Angebote zur Verhaltensänderung machen. Gelerntes Wissen kann in konkreten Einsatzsituationen oftmals nicht mehr abgerufen werden, weil die Dynamik der Situation und vor allem die Emotionen auch und besonders in der Gruppe der eingesetzten Beamten dann im Vordergrund stehen. Das rationale Wissen tritt dann hinter dem emotionalen Handeln zurück. Gewalthandlungen erfolgen immer im Rahmen einer Interaktion zwischen Menschen, und in fast allen Fällen ist das Verhalten beider Parteien ursächlich für eine Eskalation. Wir wissen auch, dass viele Polizeibeamt*innen einer Anzeige gegen sie wegen Körperverletzung zuvorkommen wollen, um im späteren Strafverfahren eine bessere Ausgangsposition zu haben. Daher erstatten sie auch in den Fällen Anzeige, in denen es keinen oder nur einen leichten Übergriff auf sie gegeben hat, und umgekehrt verzichten aus diesem Grund viele von Polizeigewalt oder Diskriminierung Betroffene da­rauf, selbst Anzeige zu erstatten. Fälle polizeilichen Fehlverhaltens müssen transparent, offen und unabhängig aufgearbeitet werden. Dies kann am besten durch eine von Politik, Ministerium und Polizei unabhängige Kommission geschehen, der externe Experten, aber auch Vertreter der Zivilgesellschaft angehören. Leider sträuben sich Politik und Polizei seit Jahren dagegen, vor allem die Polizeigewerkschaften. Dabei wäre es auch und gerade im Interesse der Institution Polizei, so das Vertrauen zwischen Bürgern und Staat zu intensivieren. Und für viele Polizeibeamte wäre eine solche Institution ebenfalls hilfreich, an die sie sich wenden könnten, wenn sie selbst ein Fehlverhalten von Kollegen beobachten. Eskalationsangst und Autoritätserhalt spielen bei den Beamt*innen, die exzessive Gewalt anwenden, eine wesentliche Rolle. Lässt sich eine eskalierende Situation mit den Ressourcen der Organisation und Person nicht im Rahmen des rechtlich Gebotenen lösen, kombiniert sie sich zusätzlich mit einer subjektiven Bewertung einer emotionalen Kränkung, Ehrverletzung oder Provokation, so kann eines der identifizierten Rechtfertigungsmuster für polizeiliche Übergriffe aktiviert werden: Angriff auf die Autorität des Staates, mangelnder Respekt gegenüber der gesellschaftlichen Rolle der Polizisten, Angriff auf die eigene Person. Rechtliche Aspekte treten bei diesen Begründungsszenarien deutlich in den Hintergrund und Legalität wird durch 79

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(subjektiv empfundene) Legitimität ersetzt. Polizeiliche Aus- und Fortbildung kann von der Kenntnis dieser Eskalationsspirale profitieren, in dem sie bei den teilweise inkompatiblen Basiszielen (Autoritätserhalt, Eskalationsverbot), den Rahmenbedingungen (Organisation, Person, Situation) und/oder den offensichtlich entscheidenden Wahrnehmungsmustern (Kränkung, Ehrgefühl, Provokation) in präventiver Absicht ansetzt. Auf diese Weise kann dem Ziel des zivilisatorischen Minimums der Gewaltanwendung auch und gerade auf Seiten der Träger des Monopols physischer Gewaltsamkeit ein Stück nähergekommen werden.

V. Schnelles Denken vs. Langsames Denken Wenn die aktuelle Diskussion in Deutschland wieder einmal viele Abwehrmechanismen in der Polizei auslöst, dann ist eine intensive Beschäftigung mit den sog. „Useof-Force-Modellen“ sinnvoll. Es geht darum, wieder mehr Rationalität und weniger Emotionalität in die Diskussion zu bringen. Im Polizeiberuf ist schnelles Denken und Handeln erforderlich: Selbst alltägliche Einsatzsituationen sind risikobehaftet und mit ihnen geht eine Eskalationsgefahr einher. Eine angemessene Bewältigung solcher Situationen ist für Polizeibeamt*innen eine anspruchsvolle Herausforderung. Besonders unter Stress können hierbei Fehler geschehen, deren Konsequenzen vor allem auf individueller Ebene folgenreich sein können, wenn mit diesem Fehlverhalten innerhalb der Institution Polizei nicht oder nicht konstruktiv im Sinne einer Fehlerkultur umgegangen wird. Problematisch ist der Umgang mit Fehlverhalten insbesondere dann, wenn eine Aufarbeitung gänzlich ausbleibt und es somit verpasst wird, Handlungskompetenzen zu erwerben. Der israelisch-amerikanische Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaft, Daniel Kahneman, beschreibt in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“22, wie unsere Handlungen und Entscheidungen wesentlich durch zwei Systeme gesteuert werden: Das System 1, er nennt es schnelles Denken, ist für spontane Eindrücke und Gefühle zuständig, die die Hauptquellen von expliziten Überzeugungen und Entscheidungen sind, die wiederum in Verbindung mit System 2 stehen. Er bezeichnet System 1 als das unwillkürliche, intuitive System, welches dem Bewusstsein (eher) nicht zugänglich ist und automatisierte Handlungsabläufe beinhaltet. Das System 2 hingegen, er beschreibt es als langsames Denken, kalkuliert rational, berechnet, wägt ab und kann in einer geordneten Folge von Schritten Gedanken konstruieren. Die höchst vielfältigen Aktivitäten von System 2 erfordern Aufmerksamkeit und Konzentration und werden gestört, wenn die Aufmerksamkeit abgezogen, durch etwas anderes gefordert wird oder wir unter Stress handeln. Die Leistung von System 2 fällt auch dann schlechter aus, wenn nicht die Bereitschaft oder Fähigkeit vorhanden ist, sich dieser kognitiven Anstrengung bewusst zu stellen, wenn man keine Kapazitäten dafür aufbringen möchte oder seinem intuitiven System 1 blind vertraut, getreu dem Motto: Es wird schon gut gehen, es ist bisher ja immer gut gegangen. System 2 wird dann (und nur dann) aufgerufen, wenn System 1 keine Lösung für ein Problem bereithält, zum Beispiel, wenn ein Ereignis eintritt, das gegen das Weltmodell des Systems 1 verstößt. In einem solchen Fall wird 22 Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 2012.

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System 2 unter kognitiver Anstrengung aktiviert. Aktivitäten, die hohe Anforderungen an System 2 stellen, erfordern Selbstkontrolle, und Selbstkontrolle kann erschöpfend und unangenehm sein, was auch Anwälte nachvollziehen können. Eigentlich sollte System 2 ständig System 1 „kontrollieren“. Aus verschiedenen Gründen aber tendieren wir dazu, System 2 hier und da „abzuschalten“ – aus (Denk-)Faulheit, aus situativer Überlastung, aus Inkompetenz oder wegen fehlender Handlungsoptionen – aber auch aus Angst davor, dass System 2 uns darüber „belehren“ könnte, dass die Entscheidung, die das intuitive System 1 getroffen hat, falsch war.23 Vor allem aber die Grundeinstellungen, mit denen Polizeibeamt*innen im Einsatz tätig sind, müssen genauer angesehen werden. Dazu gehört die Tatsache, dass es ein Ausbildungsziel ist, den Polizeibeamt*innen zu vermitteln, dass man immer alles kontrollieren und jede Auseinandersetzung gewinnen muss. Diese im wahrsten Sinn des Wortes fatale Grundeinstellung ist Ursache für viele Situationen, die aus dem Ruder laufen, angefangen von unnötigen, unverhältnismäßigen und für unbeteiligte Dritte gefährlichen Verfolgungsfahrten24 bis hin zu übereiltem Schusswaffeneinsatz oder überschießender Gewaltanwendung mit Todesfolge. Der überzogene Kontrollwahn auch in Situationen, in denen keine unmittelbare, schwere Gefahr für Leib oder Leben besteht, hängt einerseits mit (zu) hohen Erwartungen der Beamt*innen an sich selbst zusammen, andererseits aber vor allem mit einem Führungsversagen: Verlieren ist nicht zulässig, wird als Schwäche und Makel empfunden. Deeskalationstechniken wie „Verbal Judo“ werden von vielen Beamten als etwas für „Weicheier“ gesehen.

VI. Polizeibeamte als „verfolgte Grundrechtsträger“? Das Bild war in allen Nachrichtensendungen präsent, das Video wurde tausendfach angeklickt: Der Polizeibeamte, der im Juni 2020 in der Stuttgarter Innenstadt von einem Jugendlichen angesprungen wurde. Man sah Gewalt gegen Polizei, nachdem zuvor viel über Gewalt durch Polizei diskutiert wurde. Wandelt sich die Perspektive, wechseln Polizeibeamt*innen von der Täter- noch stärker in die Opferrolle? Ist zu befürchten, dass aus verfolgenden nun verfolgte Grundrechtsträger werden? Zwischen März und Juli 2020 war viel von Grundrechten die Rede, die Corona-bedingt eingeschränkt wurden. Die (ausgerechnet) Stuttgarter „Party-Szene“ (was auch immer dies sein soll) sorgte dann aber für bundesweite Besorgnis, für einen politischen und medialen Aufschrei. Sofort erfolgte der Ruf nach konsequentem Durchgreifen und härteren Strafen. Es wurden wieder einmal „rechtsfreie Räume“ zitiert, dieses Mal von einem grünen Oberbürgermeister in Stuttgart, der auch die gesamte Härte des Gesetzes forderte und dabei in einem Zug die „liberale und weltoffene“ Stadt und Polizei in Stuttgart betonte. Nur am Rande sei angemerkt, dass es im Raum Stuttgart 23 Feltes/Jordan in Stierle/Wehe/Siller (Hrsg.), Handbuch Polizeimanagement, 2017, S. 255-276. 24 Feltes, Polizeiliche Verfolgungsfahrten und der Jagdinstinkt. Kriminologisch-polizeiwissenschaftliche Anmerkungen zu einem wenig beachteten Phänomen, Polizei & Wissenschaft 2011, 1, 11-23.

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über lange Zeit wohl tatsächlich, aber andere „rechtsfreie Räume“ gab, nämlich dort, wo ein großer Automobilkonzern unter den Augen der grün-schwarzen Landesregierung munter Software fälschen und Kunden betrügen durfte. Dabei ist der öffentliche Raum nahezu komplett funktionalisiert worden. „Es gibt kaum mehr freien Platz“, wie eine Sozialarbeiterin schildet. „Dafür gibt es in der Stadt viele Jugendliche, die daheim kein eigenes Zimmer haben. Die mit ihren Geschwistern zu dritt auf dem Sofa schlafen, weil die Familie kein Geld hat, sich im sauteuren Stuttgart eine größere Wohnung zu leisten. Diese Jugendlichen wollen raus, auch ohne Corona.“ „Aber wo kann Jugend Jugend sein in einer Großstadt?“, fragt Krass. „Spielplätze sind eigentlich nur bis 12 Jahre. Es gibt kein Klo. Nachbarn beschweren sich wegen Lärm und Müll, und es kommt – Polizei. In der Stadt ist das anders als auf dem Land, wo die Jugend den Dorfpolizisten kennt und der seine Pappenheimer. Nach Stuttgart kommt auch mal die Göppinger Bereitschaftspolizei, räumt auf und verschwindet wieder“25. Polizeibeamt*innen sind unzweifelhaft Grundrechtsträger – wie jeder andere Bürger und jede andere Bürgerin in unserem Land auch. Sie haben die gleichen Rechte, und auch einige mehr, Stichwort Gewaltmonopol. Wer mehr Rechte als andere hat, muss damit aber sorgsam umgehen und muss sich auch gefallen lassen, dass seine Handlungen genau beobachtet und auch kritisiert werden, wenn Grenzen überschritten werden. Kritik an der Polizei grenzt aber, diesen Eindruck kann man manchmal haben, an Majestätsbeleidigung. Wer z.B. anmerkt, dass Pfefferspray gefährlich ist und zu oft von der Polizei unangemessen eingesetzt wird oder wer sich daran stört, wie mit psychisch kranken Menschen umgegangen wird, der wird schon mal als „Hetzer“26 bezeichnet, der sich „mitschuldig an Stuttgart“ mache. Der Vergleich mit Böll, dem die Unterstützung der RAF und die Verteidigung der „Baader-Meinhof-Bande“ vorgeworfen worden war und er quasi als mitschuldig an den Morden der RAF bezeichnet wurde („geistiger Brandstifter“), liegt durchaus nahe. Damals herrschte eine Atmosphäre, in der fast jede und jeder als Feind wahrgenommen (oder definiert) wurde, der es sich erlaubte, Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben.

VII. Der nervöse Staat in der Sicherheitsgesellschaft und sein Rassismusproblem Der Staat der modernen Sicherheitsgesellschaft wird zunehmend nervös, und mit ihm seine Akteure. Man befinde sich in permanenter Alarmbereitschaft und halte ständig nach potentiellen Feinden Ausschau – so Barczak.27 Nervös zu sein ist kein Vorwurf, nervös zu handeln aber sehr wohl. Und eine solche Nervosität macht sich gegenwärtig auch in deutschen Landen breit. Ausgelöst durch die Diskussion um den Mord an George Floyd in den USA schwappt die Diskussion um Rassismus in der Polizei auch zu uns herüber. Dabei haben wir es spätestens seit mehreren Entschei25 Hunger, Die Jugend vom Eckensee, in Kontext Wochenzeitung v. 29.7.2020. 26 So der Autor durch ein Mitglied des Bundes deutscher Kriminalbeamter auf Twitter. 27 Barczak, Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2000.

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dungen von (Ober-)Verwaltungsgerichten28 auch schriftlich (und juristisch abgesichert), dass es Racial Profiling in der Polizei gibt  – was zuvor vehement bestritten wurde. Auch der Stuttgarter OB Kuhn sieht „kein rassistisches Profil“ bei der Polizei. Natürlich hat er Recht: „Die“ Polizei als Institution hat kein rassistisches Profil, einzelne Maßnahmen und einzelne Beamt*innen aber sehr wohl. Dass man dies nicht mit der Theorie vom faulen Apfel, den es in jedem Korb gibt, begründen kann, wissen wir längst.29 Das strukturelle Problem liegt weniger in der Tatsache, dass einzelne Beamt*innen möglicherweise latent gewaltbereit und/oder rechtsextrem orientiert sind; es liegt in dem Umgang mit solchen Ereignissen und Personen. Die mangelnde Fehlerkultur führt dazu, dass man sich fast sicher fühlen kann, wenn man als Beamt*in etwas falsch macht – auch, weil Kolleg*innen, die ein solches Fehlverhalten bemerken, dies meist weder intern noch extern anzeigen. Auch Georg Floyd hätte nicht sterben müssen, wenn seine anwesenden Kollegen rechtzeitig eingeschritten wären. Zeit genug dazu hatten sie. Auch an den Autor dieses Beitrages werden als Strafverteidiger immer wieder Fälle herangetragen, bei denen ich mich frage, warum die anderen anwesenden Beamt*innen nicht interveniert haben. Jeder kann einmal die Nerven verlieren und überreagieren; solange aber anständige (sic!) Kolleg*innen dabei sind und einschreiten, ist dies zwar noch immer verwerflich; im Ergebnis dürfte das Fehlverhalten dann aber meist deutlich weniger dramatische Auswirkungen für die Betroffenen haben, als wenn die Kolleg*innen wegschauen. Exzessives polizeiliches Gewalthandeln ist seit Jahren bekannt und spätestens seit der Untersuchung von Singelnstein aus 2019 empirisch belegt. Dennoch werden Ermittlungen in Fällen von Polizeigewalt in den allermeisten Fällen (schätzungsweise 95%) eingestellt, wobei die Gründe bekannt sind. Ein langjährig tätiger Strafverteidiger hat dazu von seinen Erfahrungen berichtet30, von Bürgern, die die „Autorität“ der Po­ lizisten durch aufsässiges, aber nicht beleidigendes oder gewalttätiges Verhalten ­herausgefordert haben. Sie werden anlasslos oder unverhältnismäßig Opfer von Polizeigewalt. Eisenberg schreibt weiter: „Die uniformierten Schläger generieren durch abgesprochene und verlogene Aussagen einen rechtfertigenden Anlass für die Misshandlung, nämlich eine Widerstandshandlung des Opfers. Die Justiz verfolgt die Opfer, sie haben ihre liebe Not, das Lügen- und Aussagekomplott zu decouvrieren. Gelingt es, wird es zum bedauerlichen Einzelfall verniedlicht. In den zahllosen Fällen, in denen es nicht gelingt, etwa weil Richter eine Art Fraternisierung mit ihren „Beamtenbrüdern“, den Polizeibeamten praktizieren, bleiben die Zusammengeschlagenen ratlos und mit Kriminalstrafe zurück“. Was der Praktiker hier mit drastischen Worten schildert, ist dem Wissenschaftler und Juristen leider nur zu gut bekannt. Diejenigen, die Grundrechte schützen sollen, verletzten sie auch – und zwar häufig. Viele (die meisten?) der Grundrechtsverletzungen dürften gerechtfertigt und dem Gewaltmonopol des Staates geschuldet sein, das von der Polizei ausgeübt wird, werden darf und werden muss; aber eben nicht alle. Sind Polizeibeamte daher „verfolgte Grundrechtsträger“? Si28 Z.B. OVG Nordrhein-Westfalen v. 7.8.2018 − 5 A 294/16. 29 Behr, Polizei und Diskriminierung: ein Klärungsversuch, 1996. 30 Eisenberg, Wieso soll das verboten sein? taz-Kolumne v. 22.6.2020.

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cherlich nicht, es sei denn, man betrachtet alle, gegen die wegen einer Straftat ermittelt wird, als Verfolgte.

VIII. Wenn der Staat alle schützt, ist er ein starker (Rechts-)Staat Der Rechtsstaat sei immer nur so stark, „wie das staatliche Gewaltmonopol anerkannt und durchsetzungsfähig ist“, meinte Albrecht von Lucke.31 Ein starker Staat aber sei unabdingbar, um Recht und Gesetz für alle, und gerade auch für die Schwächsten, durchzusetzen. Worauf es ankomme, sei die konsequente Durchsetzung der bestehenden Polizei- und Strafgesetze. Wirklich? Ist sonst unser Rechtsstaat in Gefahr? Wenn das zuträfe, dann müsste unser Rechtsstaat schon längst untergegangen sein, denn weder die „Polizeigesetze“ (deren Anwendung ohnehin dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unterliegt), noch die Strafgesetze werden „konsequent“ durchgesetzt. Und das ist gut so, denn nur so kann unser Rechtsstaat überleben und wird nicht zum Polizeistaat. Der Ruf nach dem „starken Staat“ ignoriert zum einem die kriminal- und rechtstatsächlichen Fakten. Zum anderen ist es in letzter Kon­sequenz der Ruf nach dem polizeilichen Überwachungsstaat. Wir wissen anhand von Dunkelfeldstudien und Hochrechnungen, dass in Deutschland jährlich mindestens 20-25 Mio. Straftaten begangen werden. Angezeigt bei der Polizei werden rund sechs Mio. Taten, als tatverdächtig von der Polizei ermittelt werden weniger als zwei Mio. Personen, und rechtskräftig verurteilt durch die Gerichte werden weniger als 800.000. Konkret bedeutet dies, dass nur bei jeder 30. Straftat eine Verurteilung erfolgt. Ist deshalb unser Rechtsstaat in Gefahr? Nein. Zum einen hat schon Popitz die „Prä­ventivwirkung des Nichtwissens“ hervorgehoben.32 Seine Hypothese über die Stabilität des Normensystems schreibt der Dunkelziffer eine normstabilisierende Kraft zu. Würde das tatsächliche Ausmaß von Normabweichungen bekannt, müsste dies das Normensystem schwächen, und bei Ahndung aller Normenbrüche würde das Normensystem kollabieren.33 Dann wäre der Rechtsstaat tatsächlich in Gefahr. Es ist gerade Ausdruck eines funktionierenden Rechtsstaates, dass die Staatsanwaltschaft den oftmals von der Polizei zu schnell und mit unzureichenden Beweisen festgestellten Tatverdacht genau prüft und im Ergebnis bis zu 70 % der Strafverfahren einstellt.34 Wenn das staatliche Gewaltmonopol konsequent umgesetzt werden soll, dann würde dies im Ergebnis bedeuten, dass wir ein Volk von Vorbestraften wären – was wir in Teilen tatsächlich schon sind: rund ein Drittel der männlichen Deutschen sind bis zum Alter von 35 Jahren mindestens einmal verurteilt worden. Bislang sind wir aber offensichtlich mit unserer Form von praktischer, angewandter und zurückhaltender Kriminalpolitik gut gefahren, denn die Zahl der Straftaten ist (auch auf 31 Von Lucke, Staat ohne Macht, Integration ohne Chance, in Blätter für deutsche und internationale Politik 61, 2016, S. 5-8, 7.  32 Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, 1968. 33 Diekmann/Przepiorka/Rauhut, Die Präventivwirkung des Nichtwissens im Experiment, ZfS 2011, 74-84. 34 Feltes/Kawelovski, Der Kampf gegen den Wohnungseinbruchdiebstahl, Die Polizei 2014, 136-141 und 173-178.

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100.000 Einwohner berechnet) in den letzten Jahren zurückgegangen, wobei dieser Rückgang vor allem bei Jugendlichen und Heranwachsenden zu bemerken ist. Wir haben auch schon länger „rechtsfreie Räume“ in Deutschland, allerdings ohne dass dies die Normtreue der Bürger wesentlich beeinträchtigt hat. Die Polizei (z.B. in Duisburg-Marxloh) spricht eher von „rechtsarmen“ Räumen  – was Verschiedenes meinen kann. Dies sollte nicht geduldet werden, aber man muss sich fragen, warum diese Diskussion gerade jetzt und so intensiv geführt wird, zumal nachweislich größerer gesellschaftlicher Schaden durch Wirtschaftskriminalität, Regierungskriminalität und (auch staatliche) Korruption verursacht wird. Allein die Wirtschaftskriminalität verursacht jährliche Schäden von rund fünf Milliarden Euro und ist damit für über 50 % des Gesamtschadensvolumens aller in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Straftaten verantwortlich.35 Die Verfolgung dieser Taten aber lässt tatsächlich den Eindruck zu, hier einen „rechtsfreien Raum“ zu haben. Was also schreckt uns bzw. regt uns so auf an diesen „rechtsfreien Räumen“, und warum interessieren wir uns so wenig für Wirtschaftskriminelle, Gewalt in der Familie, korrupte Politiker oder Sportfunktionäre? Eine weitere Erosion des Vertrauens in die Polizei muss verhindert werden, weil dieses Vertrauen eine wesentliche Säule des Rechtsstaates ist. Die Wertschätzung der Polizei und die Bereitschaft, mit ihr zusammenzuarbeiten, ist für die Strafverfolgung wichtig, denn ohne eine entsprechende Akzeptanz bei und Unterstützung durch die Bürger ist die Polizei bei der Strafverfolgung relativ machtlos. So werden nur weniger als 10% aller Fälle durch eigene Ermittlungsbemühungen der Polizei aufgeklärt. In allen anderen (aufgeklärten) Fällen kommen die entscheidenden Hinweise aus der Bevölkerung.36 Wollen wir nur das wahrnehmen, was unseren Erwartungen entspricht (Ausländer sind krimineller als Deutsche) und was unser Weltbild nicht in Frage stellt? Auf den ersten Blick trifft Letzteres sogar durchaus zu, zumindest wenn man die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik zugrunde legt. Berücksichtigt man aber bestimmte Faktoren wie Geschlecht, soziale Lage u.a.m., dann gleicht sich die Kriminalitätsbelastung zwischen Deutschen und Ausländern fast vollständig an. „Weder fördert noch hemmt die Farbe des Passes die Kriminalität. Entscheidender sind Integrationsprobleme, defizitäre Lebenslagen oder auch bestimmte soziale Situationen“ 37. Sozialpsychologisch lässt sich das durchaus erklären. Sowohl die „Erwartbarkeit von Erwartungen“ (Luhmann), als auch die „selektive Wahrnehmung“ bzw. die „kognitive Dissonanz“ liefern uns Stichworte dazu. Vielleicht haben wir bisher weg- oder nicht richtig hingesehen, um nicht verunsichert zu werden. Jetzt aber ist unsere ­gefühlte und vielleicht auch die objektive Sicherheit durch andere Faktoren wie die EU-Krise, den erwartbar nicht endenden Flüchtlingsstrom, die Krise der Regierungspolitik auch, aber nicht nur im Kontext der Flüchtlingsdiskussion, die nicht mehr kampfbe35 BKA, Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2014, S. 10.  36 Feltes in Kube (Hrsg.), Handbuch für polizeiliche Führungskräfte, 1996, S. 573-602. 37 Heinz, Jugendkriminalität − Zahlen und Fakten. Bundeszentrale für politische Bildung, Mai 2015.

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reite Bundeswehr, durch den weltweiten Terrorismus, die Krise der Sozialsysteme (Renten) u.a. derart in Mitleidenschaft gezogen, dass unsere überkommenen Erwartungen offensichtlich nicht mehr erfüllbar sind und unsere bewährten Strategien zur Abwehr der kognitiven Dissonanz nicht mehr greifen. Dies alles und die Einsicht, dass wir in Deutschland nicht mehr auf einer Insel der Glückseligen leben, die sich vom Rest der Welt abschotten kann, tragen dazu bei, dass wir unseren überkommenen Sicherheiten nicht mehr gewiss sein können. Diese allgemeine Verunsicherung macht sich nun an denjenigen fest, die man konkret und persönlich für diese Lage verantwortlich machen kann. Psychoanalytisch kennen wir diesen Mechanismus nur zu gut. Das Angebot von Sündenböcken, die uns derzeit geliefert werden, nehmen wir gerne an. Wir zeigen uns empört und mit dem Finger auf die (angeblich) Schuldigen. Wir suchen nach dem Opferlamm, das die Schuld auf sich nimmt, um sie der Masse zu ersparen. Die Ordnung gerät aus den Fugen und wir neigen dazu, anderen die Schuld zuzuschieben, um uns selber aus der Verantwortung zu entlassen. Je „unnormaler“ der Sündenbock, je mehr er sich von uns unterscheidet, desto besser funktioniert der Mechanismus. Es ist immer das Andere, Fremde, Ausschließbare, auf das wir uns fokussieren. Indem wir Furcht und kollektive Frustration auf die Opfer übertragen, entlasten wir uns selber und können diejenigen verurteilen, die wir als verantwortlich für das Problem ansehen. Ist die gesellschaftliche Ordnung beeinträchtigt, so sucht sich die Masse unbewusst ein Opfer, das sich möglichst stark von der Norm unterscheidet. So entlädt sich die kollektive Furcht und der Sündenbock stellt die kollektive Ordnung wieder her. Das ist der Kern des vom Kulturanthropologen Girard38 beschriebenen Mechanismus, der auch gut im übertragenen Sinn funktioniert: Statt den Sündenbock zu lynchen, nutzen wir das Mittel der Propaganda, um diese Personen (Flüchtlinge) oder auch ein Volk (Nordafrikaner) zum Übeltäter zu stempeln. Und da wäre noch das Argument, dass wir einen „starken Staat“ benötigen, um Recht und Gesetz für alle, und gerade auch für die Schwächsten durchzusetzen. Schützt der Staat tatsächlich die Ärmsten und Schwächsten nicht? Kriminologisch kann man das bestätigen, aber anders als gedacht: Die Beschwerdemacht und das Geld, um sich ­einen guten Anwalt zu leisten, sind bei den Armen und Schwachen eher nicht vorhanden, und deshalb fällt es ihnen schwer, ihr Recht durchzusetzen oder sich gegen Anzeigen zu wehren, sieht man von den unbestrittenen sozialen Ursachen der Kriminalität einmal ab, denn nicht umsonst sind die Insassen unseres Strafvollzugs ein Spiegelbild der gesellschaftlich Abgehängten und Abgeschriebenen. Und dabei spielt es keine Rolle, ob die Taten selbst oder die Verurteilung Ergebnis dieser Marginalisierung sind. Es wäre daher geboten, Integration zu fordern und zu fördern, statt nach einem starken Staat zu rufen. Nur die Versorgung mit angemessenem Wohnraum, Ausbildung und Arbeit sowie eine Familienzusammenführung können die Probleme lösen.39 38 Girard, Der Sündenbock, 1988. 39 Cornel u.a., Die Integration von Flüchtlingen als kriminalpräventive Aufgabe, NK 2015, 325-330.

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Stattdessen verunsichern die regelmäßigen politischen Verkündungen, alles gegen „die Kriminalität“ zu tun, die Menschen. Angst vor Kriminalität zu haben, ist ein Ventil, weil diese Angst im Vergleich zu den anderen Ängsten greifbar und personalisierbar ist. Die Menschen verlagern ihre allgemeinen gesellschaftlichen Ängste in einen konkreten, wie man glaubt, definierbaren Bereich: Die Kriminalität bietet sich hier an, und dies, obwohl es „die Kriminalität“ nicht gibt, nicht zuletzt, weil das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, von Alter, Geschlecht, Wohnort und sozialer Lage abhängig ist. Die Menschen leben in Städten der Angst, wobei es diffuse, auf nichts Konkretes gerichtete Ängste sind. Diese Ängste klammern sich an alles, was ihnen angeboten wird, wider alle Vernunft, wider alle Erfahrung. Als Konsequenz ent­ wickelt sich ein „Treibsand­-Gefühl“.40 Der (moralische) Kompass geht verloren, die Gesellschaft driftet auseinander, Individualismus und Egoismus werden zu alleingültigen Maßstäben. Grundlegende moralische Werte lösen sich auf, die Gesellschaft verliert an Zusammenhalt, Extreme nehmen zu und im Alltag spielt die Frage, warum es wichtig ist, die Demokratie zu schützen, keine Rolle mehr. Die Gesellschaft sucht sich Feindbilder, auf die sie ihre Ängste und Aggressionen abladen kann. Studien von Zick et al.41 zeigen, dass die herkömmliche gesellschaftliche Mitte zunehmend verloren geht. Die Menschen wenden sich einer vermeintlich neuen, radikalen „Mitte“ zu, die ihren Zusammenhalt aus der Abwertung von anderen schöpft. Hier fungieren Maßnahmen gegen Rocker- oder Clankriminalität als mehrfacher Katalysator: Sie bieten eine weitere, speziellere Zielgruppe an, der man die Schuld für die eigene Verunsicherung aufladen kann. Durch die Abwertung dieser Gruppe hebt man sich und seine eigene Gruppe an. Dabei ist seit längerem bekannt, dass es Faktoren gibt, die Kriminalität und Verbrechensfurcht gleichermaßen zu reduzieren geeignet sind. Es handelt sich um soziale Integration und die sog. „collective efficacy“, eine besondere Form sozialen Kapitals. Soziale Integration bezeichnet das Ausmaß sozialer Bindung, „collective efficacy“ kann man verstehen als gemeinschaftliche Wirkkraft, bzw. die Bereitschaft, in der Gesellschaft selbst Verantwortung zu über­ nehmen und die Reziprozität von sozialen Beziehungen zu praktizieren. Die spannende Frage ist, ob und wie man diese Faktoren (wieder)herstellen kann. Zumindest eines steht fest: Dadurch, dass ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisiert und ausgegrenzt werden, verbessert sich der soziale Zusammenhang nicht. Dieser ist aber wesentlich für die Prävention von Kriminalität und für eine Gesellschaft, die positiv in die Zukunft sieht.

40 Feltes, Die „German Angst“. Woher kommt sie, wohin führt sie? Innere vs. gefühlte Sicherheit. Der Verlust an Vertrauen in Staat und Demokratie, NK 2019, 3-12, 9. 41 Zick u.a., Verlorene Mitte – Feindselige Zustände: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, 2019.

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Die Notgeschäftsführungsbefugnis – ein allgemeines Prinzip des Bürgerlichen Rechts? Inhaltsübersicht I. Die Fragestellung II. Die Regelungen im Einzelnen 1. Die Geschäftsführung ohne Auftrag 2. Die Bruchteilsgemeinschaft 3. Die Erbengemeinschaft 4. Die Wohnungseigentümergemeinschaft 5. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts 6. Die OHG/KG 7. Die GmbH 8. Das Verhältnis der Spezialregeln zu den Bestimmungen der Geschäftsführung ohne Auftrag I II. Die Probleme der Notgeschäftsführung 1. Die Verdrängung der regulären Geschäftsführung

2. Die Belastung durch eine Pflicht zur ­Notgeschäftsführung IV. Die Klärung der offenen Fragen mit Blick auf die allgemeinen Probleme der Notgeschäftsführung und die ­entsprechenden Regeln in anderen ­Gemeinschaftsverhältnissen 1. Die Bruchteilsgemeinschaft 2. Die Erbengemeinschaft 3. Die Wohnungseigentümergemeinschaft 4. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts 5. Die OHG/KG 6. Die GmbH V. Zusammenfassung

I. Die Fragestellung Zu den klassischen Fragen des Bürgerlichen Rechts gehört die Problematik, inwieweit eine Person in Sondersituationen zu Lasten eines anderen handeln darf. Das Gesetz spricht diese Fragestellung an mehreren Stellen an. Dazu gehören die Regeln der Geschäftsführung ohne Auftrag sowie die der Notgeschäftsführungsbefugnis in der Bruchteilsgemeinschaft, der Erben- und der Wohnungseigentümergemeinschaft, der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, der OHG und der KG. Die Frage stellt sich auch im Recht der GmbH. Teilweise finden sich im Gesetz Regelungen. Allerdings unterscheiden sich diese jedenfalls auf den ersten Blick. Im Folgenden soll untersucht werden, ob tatsächlich solche Verschiedenheiten bestehen und ob sie  – wo sie existieren – ihre Berechtigung haben.

II. Die Regelungen im Einzelnen Will man Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Regeln der Notgeschäftsführungsbefugnis feststellen, muss man als erstes die jeweils einschlägigen Normen betrachten.

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1. Die Geschäftsführung ohne Auftrag Die Regeln der Geschäftsführung ohne Auftrag beruhen auf klaren Wertungen: Wer ein fremdes Geschäft bewusst führt, ohne dass der eigentliche Geschäftsherr ihn dazu beauftragt hat, kann Ersatz seiner Aufwendungen nur verlangen, wenn die Geschäftsführung berechtigt war (§ 683 Satz 1, § 670 BGB). Berechtigt ist sie, wenn sie dem (objektiven) Interesse und dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht (§ 683 Satz 1 BGB), wobei es auf den mutmaßlichen Willen nur ankommt, wenn der wirkliche Wille nicht feststellbar ist.1 2. Die Bruchteilsgemeinschaft In der Bruchteilsgemeinschaft regelt § 744 Abs. 2 BGB die Notgeschäftsführung. Danach ist jeder Teilhaber berechtigt, die zur Erhaltung des Gegenstands notwendigen Maßnahmen ohne Zustimmung der anderen Teilhaber zu treffen, während normaler Weise die Verwaltung des gemeinschaftlichen Gegenstands allen Teilhabern gemeinschaftlich zusteht. Weiter regelt § 744 Abs. 2 BGB, dass jeder Teilhaber die Zustimmung der anderen Teilhaber zu einer solchen Maßnahme verlangen kann. Diese Regelung hat zu einigen Streitfragen geführt. Unklar ist insbesondere, ob auch eine nicht eilige Maßnahme notwendig im Sinne der Norm sein kann2, und auch ob der Teilhaber, der als Notgeschäftsführer handelt, jedenfalls in Ausnahmefällen die anderen Teilhaber vertreten kann3 und ob er über den gemeinschaftlichen Gegenstand verfügen kann4. Jedenfalls kann der Notgeschäftsführer Ersatz notwendiger Auslagen gemäß § 748 BGB verlangen.5 Wiederum unklar ist, ob er in Notsituationen zu einem Tätigwerden verpflichtet ist.6 3. Die Erbengemeinschaft Auch für die Erbengemeinschaft bestimmt das Gesetz, dass den Erben die Verwaltung des Nachlasses gemeinschaftlich zusteht. Des Weiteren ist jeder Miterbe den anderen gegenüber verpflichtet, an Maßnahmen mitzuwirken, die zur ordnungsgemäßen Verwaltung erforderlich sind. Darüber hinaus bestimmt § 2038 Abs. 1 BGB, dass 1 Statt aller Dornis in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 683 Rz. 4; Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 683 Rz. 7. 2 So Aderhold in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 744 Rz. 7; Gehrlein in BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 744 Rz. 7; a.A. Schirrmacher, NJW 2018, 3348. 3 Bejahend Karsten Schmidt in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, §§ 744, 745 Rz. 46 für Kündigung von Miet- oder Pachtverhältnissen, da diese materiell verfügenden Charakter hätten; verneinend BGHZ 17, 181, 184; Aderhold in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 744 Rz. 8; Gehrlein in BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 744 Rz. 6. 4 Bejahend Gehrlein in BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 744 Rz. 6; Karsten Schmidt in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, §§ 744, 745 Rz. 45. 5 Aderhold in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 744 Rz. 6; Bergmann, WM 2019, 189, 190. 6 Verneinend Aderhold in Erman, BGB, 16.  Aufl. 2020, §  744 Rz.  6; bejahend Gehrlein in ­BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 744 Rz. 5.

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Die Notgeschäftsführungsbefugnis

jeder Miterbe die zur Erhaltung notwendigen Maßnahmen ohne Mitwirkung der anderen treffen kann. Diese Regelung weist offensichtlich große Ähnlichkeiten mit §  744 BGB auf, wird aber in manchen Details gleichwohl anders verstanden. Insbesondere entspricht es allgemeiner Meinung, dass der rechtmäßig als Notgeschäftsführer Handelnde Erbe den Nachlass verpflichten und zugehörige Verfügungsgeschäfte vornehmen kann.7 Bezüglich der Frage, ob eine nicht eilige Maßnahme notwendig im Sinne von §  2038 Abs. 1 BGB sein kann, ergibt sich kein klares Bild. In einer älteren Entscheidung ist der BGH davon ausgegangen, dass auch Maßnahmen, die nicht so dringlich sind, dass sie nicht aufgeschoben werden könnten, bis die anderen Miterben zustimmen, notwendige Maßnahmen im Sinne von §  2038 Abs.  1 BGB sein können.8 Dies sei aber nicht der Fall, wenn die Maßnahme erhebliche Verpflichtungen für den Nachlass oder die anderen Miterben begründen würde. Demgegenüber finden sich in der Literatur Äußerungen, die stets Dringlichkeit in dem Sinne fordern, dass die anderen Miterben nicht befragt werden können.9 Soweit die Voraussetzungen der Notgeschäftsführung vorliegen, soll der Miterbe zu den entsprechenden Maßnahmen nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sein.10 4. Die Wohnungseigentümergemeinschaft Auch im Recht der Wohnungseigentümergemeinschaft gibt es eine Regelung für die Notgeschäftsführung. Nach § 18 Abs. 3 WEG ist jeder Wohnungseigentümer berechtigt, ohne Zustimmung der anderen Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung eines dem Gemeinschaftseigentum unmittelbar drohenden Schadens notwendig sind. Diese Regelung beschränkt die Notgeschäftsführung auf die Abwehr eines direkt drohenden Schadens.11 Damit schränkt der Wortlaut der Norm den Notgeschäftsführer stärker ein als dies bei der Bruchteilsgemeinschaft der Fall ist.12 Zugleich soll auf diese Weise sichergestellt werden, dass die reguläre Form der Geschäftsführung (etwa durch einen Verwalter) nicht überspielt wird.13 7 Bayer in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 2038 Rz. 13, 14; Gergen in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 2038 Rz. 16; Lohmann in BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 2038 Rz. 11. 8 BGHZ 6, 76, 82 f.; ebenso Gergen in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 2038 Rz. 57. 9 Bayer in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 2038 Rz. 6; Lohmann in BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 2038 Rz. 10. 10 BGH, JZ 1953, 706; Lohmann in BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 2038 Rz. 11. 11 Grziwotz in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 21 WEG Rz. 2; Hügel/Poseck in BeckOK WEG, 56. Edition, Stand 1.8.2020, § 21 WEG Rz. 3; Schirrmacher, NJW 2018, 3348, 3350. 12 Grziwotz in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 21 WEG Rz. 2; Schirrmacher, NJW 2018, 3348, 3350. 13 Gergen in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 21 WEG Rz. 57; Grziwotz in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 21 Rz. 2; Hügel/Poseck in BeckOK WEG, 56. Edition, Stand 1.8.2020, § 21 WEG Rz. 3.

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Eine Vertretungsmacht für die Wohnungseigentümergemeinschaft hat der Notgeschäftsführer nicht. Allerdings kann er nach §  16 Abs.  2 WEG Ersatz seiner Auf­ wendungen von der Wohnungseigentümergemeinschaft verlangen.14 Ob auch ein direkter Anspruch gegen die anderen Wohnungseigentümer besteht, ist umstritten.15 In manchen Fällen ist ein Wohnungseigentümer sogar zum Tätigwerden verpflichtet.16 5. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts Momentan enthält das Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts keine Regelung zur Notgeschäftsführung. Man behilft sich mit einer analogen Anwendung von § 744 BGB, wobei die Norm an die Besonderheiten der Gesellschaft bürgerlichen Rechts angepasst werden muss. Unstreitig kommt es für die Berechtigung zur Notgeschäftsführung nicht darauf an, ob einem bestimmten Gegenstand Gefahr droht. Vielmehr ist auf die Gesellschaft selbst abzustellen.17 Der BGH verlangt des Weiteren, dass die Maßnahme eilbedürftig ist.18 Dies ist nicht der Fall, wenn die Möglichkeit besteht, die Mitgesellschafter zu kontaktieren.19 Eine entsprechende Vertretungsmacht des Notgeschäftsführers für die Gesellschaft wird allgemein verneint.20 Ein Aufwendungsersatzanspruch folgt aus §§  713, 670 BGB. Auch besteht unter Umständen eine Verpflichtung zum Tätigwerden.21 Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts sieht eine Kodifikation des Rechts zur Notgeschäftsführung vor. Gemäß § 715 Abs.  3 Satz  3 BGB ist im Grundsatz für jedes Geschäft die Zustimmung aller geschäftsführungsbefugter Gesellschafter erforderlich. Eine Ausnahme gilt aber für den Fall, dass mit dem Aufschub Gefahr für die Gesellschaft oder das Gesellschaftsvermögen verbunden ist. Dann kann ein geschäftsführungsbefugter Geschäftsführer alleine handeln. Des Weiteren soll nach § 715a Satz 1 BGB jeder – also auch der nicht geschäftsführungsbefugte  – Gesellschafter im Grundsatz ein Geschäft allein vor­ nehmen dürfen, wenn mit dem Aufschub Gefahr für das Gesellschaftsvermögen oder die Gesellschaft verbunden ist. In der Begründung22 wird gesagt, dass es auf Eilbe14 Engelhardt in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 21 WEG Rz. 6; Hügel/Poseck in BeckOK WEG, 56. Edition, Stand 1.8.2020, § 21 WEG Rz. 3. 15 Ablehnend Engelhardt in MünchKomm. BGB, 8.  Aufl. 2020, §  21 WEG Rz.  6; bejahend Hügel/Poseck in BeckOK WEG, 56. Edition, Stand 1.8.2020, § 21 WEG Rz. 3. 16 Hügel/Poseck in BeckOK WEG, 56. Edition, Stand 1.8.2020, § 21 WEG Rz. 3; Schirrmacher, NJW 2018, 3348, 3350. 17 BGHZ 17, 181, 183; BGH, NZG 2018, 1071, 1072; Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 709 Rz. 21; Westermann in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 709 Rz. 5. 18 BGH, NZG 2018, 1071, 1072; BGH, NZG 2014, 1302, 1303. 19 BGH, NZG 2018, 1071, 1073. 20 Bergmann, WM 2019, 189, 195; Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 709 Rz. 21; Schöne in BeckOK BGB, 55. Edition 1.5.2020, § 709 Rz. 26. 21 Schirrmacher, NJW 2018, 3348, 3350. 22 Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts, abrufbar auf der Homepage des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz S. 175 f.

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Die Notgeschäftsführungsbefugnis

dürftigkeit bei der Bruchteilsgemeinschaft nicht ankomme und daher die bislang entwickelte Analogie zu § 744 BGB nicht stets zu sachgerechten Ergebnisse führe. § 744 BGB gehe von einem Verband von Teilhabern ohne besondere Bindung aus und billige ihnen deshalb ein sehr weitgehendes Notgeschäftsführungsrecht zu, welches zum Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts nicht passe, da dies die Bindungen der Gesellschafter im Innenverhältnis zu überspielen drohe. Um diesen Vorrang sicherzustellen, wird in der Norm auch geregelt, dass in erster Linie die mitgeschäftsführungsbefugten Gesellschafter zur Notgeschäftsführung befugt sind. Die Notgeschäftsführungsbefugnis des nicht geschäftsführungsbefugten Gesellschafters greift also nur ein, wenn kein geschäftsführungsbefugter Gesellschafter zur Geschäftsführung in der Lage ist.23 Zugleich wird darauf hingewiesen, dass auch nicht gegenstandsbezogene Geschäfte erfasst sind und der Notgeschäftsführer keine Vertretungsmacht für die Gesellschaft hat. Ebenfalls erwähnt wird, dass unter Umständen eine Pflicht zum Tätigwerden besteht. 6. Die OHG/KG Für OHG und KG entspricht die Rechtslage weitgehend der der Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Dies folgt aus §§  105, 161 HGB. Die Notgeschäftsführung wird also ebenfalls in Analogie zu § 744 BGB mit denselben Problemen und Ergebnissen entwickelt.24 Insbesondere gilt auch hier, dass der die Notgeschäftsführung durchführende Gesellschafter keine Vertretungsmacht für die Gesellschaft hat.25 Aufwendungsersatz ist gemäß §  110 HGB geschuldet.26 Unter Umständen ist der Gesell­ schafter sogar zur Notgeschäftsführung verpflichtet.27 Zu Recht wird der Vorrang der regulären Geschäftsführung betont. Eine Notgeschäftsführungsbefugnis besteht also nur, wenn die eigentlich zur Geschäftsführung befugten Gesellschafter nicht rechtzeitig erreichbar sind.28 Der Regierungsentwurf zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts stellt klar, dass die für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts einschlägigen Regeln auch für OHG und KG gelten.29 Des Weiteren bestimmt § 116 Abs. 4 des Entwurfs, dass bei Gefahr in Verzug auch dann, wenn nach dem Gesellschaftsvertrag Gesamtgeschäftsführung vereinbart ist, jeder Gesellschafter berechtigt ist, ohne Zustimmung der anderen zu 23 Begründung (siehe Fn. 22) S. 176. 24 Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 39. Aufl. 2020, § 114 Rz. 7; Rawert in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 116 Rz. 60; Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, § 115 Rz. 8. 25 BGHZ 17, 181, 184 ff.; Rawert in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 116 Rz. 15; Scholl/ Fischer in BeckOGK, Stand 1.10.2019, § 114 Rz. 54; Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, § 114 Rz. 34. 26 Rawert in MünchKomm. HGB, 4.  Aufl. 2016, §  116 Rz.  45; Scholl/Fischer in BeckOGK, Stand 1.10.2019, § 114 Rz. 54. 27 Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 39.  Aufl. 2020, §  114 Rz.  7; Scholl/Fischer in BeckOGK, Stand 1.10.2019, § 114 Rz. 54. 28 Schäfer in Staub, HGB, 5.  Aufl. 2009, §  114 Rz.  34; Scholl/Fischer in BeckOGK, Stand 1.10.2019, § 114 Rz. 53. 29 Siehe Fn. 22 S. 259.

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handeln. Diese Regelung entspricht der im Regierungsentwurf in § 715 Abs. 3 S. 3 BGB für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts vorgesehene Normierung. Für die Komplementäre der KG greifen die geschilderten Regelungen ebenfalls ein (§ 161 Abs. 2 HGB). 7. Die GmbH In der GmbH findet sich keine Regelung für eine Notgeschäftsführungsbefugnis der Gesellschafter. Unstreitig verbindet die Gesellschafter aber sowohl untereinander wie auch mit der GmbH eine Treuepflicht, aus der sich im Einzelfall im Rahmen der Zumutbarkeit auch Handlungspflichten ergeben können.30 Ob dies in bestimmten Situationen so ist, bestimmt sich nach der Struktur der Gesellschaft. Von Bedeutung ist insbesondere die Anzahl der Gesellschafter, und die Art der Zusammenarbeit der Gesellschafter.31 Wesentlich dürfte auch die Dringlichkeit der Maßnahme sein. Eine andere Frage ist, ob der Gesellschafter zur Notgeschäftsführung berechtigt ist. Sofern er aus seiner Treuepflicht heraus zum Handeln verpflichtet ist, ist er selbstverständlich entsprechend auch berechtigt. Weitergehende Berechtigungen werden im GmbH-Recht soweit ersichtlich nicht diskutiert. 8. Das Verhältnis der Spezialregeln zu den Bestimmungen der Geschäftsführung ohne Auftrag Sowohl für die Erbengemeinschaft, wie für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die OHG und die KG ist unbestritten, dass die Regeln der Geschäftsführung ohne Auftrag neben die Spezialregeln für die Notgeschäftsführung treten.32 Umstritten ist dies lediglich für die Bruchteilsgemeinschaft.33 Da diese Gemeinschaft auf gesetzlicher Anordnung beruht und keinen selbstgewählten Geschäftsführer hat, droht hier auch kein ungerechtfertigtes Überspielen einer untereinander abgestimmten Geschäfts30 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  13 Rz.  190; ­Raiser in Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 14 Rz. 77.  31 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  13 Rz.  135; ­Raiser in Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 14 Rz. 78; Reichert/Weller in MünchKomm. GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 14 Rz. 131. 32 Zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts: Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 709 Rz. 15; Schöne in BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 709 Rz. 26; zur Erbengemeinschaft: BGH, NJW 1987, 3001; Gergen in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 2038 Rz. 62; Lohmann in BeckOK BGB, 55. Edition, Stand 1.8.2020, § 2038 Rz. 13; zur Wohnungseigentümergemeinschaft: BGH. NZM 2016, 169, 170; OLG München, NJW-RR 2008, 534; Engelhardt in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 21 WEG Rz. 4; Hügel/Poseck in BeckOK WEG, 56. Edition, Stand 1.8.2020, § 21 WEG Rz. 3; ablehnend BGH NJW 2019, 3780; zur OHG KG: Roth in Baumbach/Hueck, HGB, 39. Aufl. 2020, § 110 Rz. 4; Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, § 110 Rz. 10. 33 Bejahend BGHZ 16, 12, 16; Karsten Schmidt in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, §§ 744, 745 Rz. 41; verneinend Aderhold in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 744 Rz. 9.

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führung. Für eine Sonderbehandlung fehlt daher ein einleuchtender Grund. Man wird daher davon auszugehen haben, dass auch bei der Bruchteilsgemeinschaft eine Geschäftsführung ohne Auftrag in Frage kommt. In der GmbH gibt es – wie ausgeführt – keine Sonderregel für eine Notgeschäftsführung. Daher steht der Anwendung der Bestimmungen über die Geschäftsführung ohne Auftrag erst recht nichts im Wege.

III. Die Probleme der Notgeschäftsführung 1. Die Verdrängung der regulären Geschäftsführung Jede Anerkennung einer Befugnis zur Notgeschäftsführung durch die nicht – oder nicht allein  – zur Geschäftsführung berechtigten Gesellschafter/Bruchteilsgemeinschafter gerät in Konflikt mit der eigentlich für die Geschäftsführung vorgesehenen Regelung. Denn dem regulären Geschäftsführer wird seine Entscheidungsbefugnis zumindest teilweise genommen. Dies gilt sowohl für eine im Vertrag vorgesehene Verteilung der Geschäftsführungsbefugnis – wie sie im Gesellschaftsrecht regelmäßig erfolgt – wie auch dann, wenn sich die Geschäftsführungsbefugnis allein aus dem Gesetz ergibt – wie es etwa für die Bruchteils- und die Erbengemeinschaft typisch ist. Allgemein wird man davon auszugehen haben, dass ein Vertragspartner an die von ihm im Vertrag vereinbarte Verteilung der Geschäftsführungsbefugnis stärker gebunden ist als jemand, der Teilhaber einer Gemeinschaft ohne sein Hinzutun geworden ist.34 Daher ist eine Durchbrechung der eigentlich für die Geschäftsführung geltenden Regeln bei „Zufallsgemeinschaften“ eher akzeptabel. Auf der anderen Seite ist eine Geschäftsführungsmaßnahme durch eine eigentlich nicht zur Geschäftsführung berechtigte Person umso eher den anderen zumutbar je kurzfristiger der Zusammenschluss ist und je mehr er sich nur auf einen bestimmten Vermögensgegenstand beschränkt, da der Eingriff in die reguläre Geschäftsführung dann durch Beendigung der Gemeinschaft an Bedeutung verlieren kann und das Risiko, das die irreguläre Geschäftsführung mit sich bringt, sich auf eine bestimmte Vermögensmasse bezieht. 2. Die Belastung durch eine Pflicht zur Notgeschäftsführung Eine Verpflichtung, in Notsituationen für andere tätig zu werden, kann es nur in Sondersituationen geben. Je enger die Verbindung zwischen dem Handlungsverpflichteten und dem Begünstigten ist, desto eher kann erwartet werden, dass eine Person zu Gunsten anderer eingreift. Auch kommt es auf die Belastung an, die für den Verpflichteten mit der ihm abverlangten Handlung verbunden ist. Sollte er bei Ausführung der Handlung nicht selbst finanziell in Vorlage gehen müssen oder besteht ein gesicherter Anspruch auf Kostenerstattung, ist ihm daher ein Tätigwerden eher zumutbar als wenn er befürchten muss, eventuell auf den Kosten sitzen zu bleiben. 34 In diese Richtung auch Regierungsentwurf zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts.

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IV. Die Klärung der offenen Fragen mit Blick auf die allgemeinen Probleme der Notgeschäftsführung und die entsprechenden Regeln in anderen Gemeinschaftsverhältnissen 1. Die Bruchteilsgemeinschaft Eine Bruchteilsgemeinschaft entsteht kraft Gesetz.35 Die Teilhaber sind nicht durch vertragliche Regelungen miteinander verbunden. Das lässt eine Durchbrechung der regulären Geschäftsführungsregeln aus den genannten Gründen eher akzeptabel erscheinen, da sich die Teilhaber im Regelfall nie gemeinsam auf eine bestimmte Vorgehensweise geeinigt haben. Daher ist es akzeptabel, auf eine besondere Eilbedürftigkeit der Maßnahme zu verzichten. Allerdings darf dies nicht zu der Annahme führen, dass auch gehandelt werden dürfte, wenn die reguläre Geschäftsführung ebenfalls aktiv werden könnte oder sogar die Maßnahme bereits abgelehnt hat. Notgeschäftsführung setzt  – wie es ja auch in §  744 BGB heißt  – voraus, dass ein Tätigwerden notwendig ist, also der reguläre Weg nicht offensteht. Können die anderen Teilhaber befragt werden, ohne dass der gemeinsame Gegenstand zusätzlichen Gefährdungen ausgesetzt wird, kommt eine Notgeschäftsführung nicht in Betracht.36 Rein praktisch wird die zur Diskussion stehende Maßnahme daher wohl stets eilig sein. Eine Vertretungsmacht für die anderen Teilhaber hat der Notgeschäftsführer im Grundsatz nicht.37 Das ist bei der Erbengemeinschaft wie geschildert anders38, beruht dort aber darauf, dass nur der Nachlass und nicht die Erben verpflichtet werden. Daher kann eine Analogie zu dieser Norm auch nur gezogen werden, soweit die Geschäftsführungsmaßnahme nicht zu Folgeansprüchen gegen die anderen Teilhaber führen kann. Dies kann z.B. bei der Belastung eines im Bruchteilseigentum stehenden Grundstücks so sein, je nach Vertragsgestaltung auch bei Begründung oder bei Beendigung eines Miet- oder Pachtverhältnisses.39 Da es an einer vertraglichen Bindung zwischen den Teilhabern fehlt, kommt eine Verpflichtung zum Tätigwerden im Grundsatz nicht in Betracht. Zwar hat der Notgeschäftsführer einen Aufwendungsersatzanspruch gegen die anderen Teilhaber, aber dies ändert nichts daran, dass er erstmal in Vorlage gehen muss. Bedenkt man allerdings, dass auch im rein nachbarrechtlichen Bereich Handlungspflichten bestehen können40 und zudem in der Erben- und Wohnungseigentümergemeinschaft eine solche Verpflichtung in Ausnahmefällen bejaht wird41, kann man für die Bruchteilsgemeinschaft kaum anders entscheiden. Allerdings gilt diese Pflicht zum Tätigwer35 Allerdings kann sie durch rechtsgeschäftlichen Erwerb herbeigeführt werden Karsten Schmidt in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 741 Rz. 25. 36 Karsten Schmidt in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, §§ 744, 745 Rz. 21. 37 Siehe oben II. 2. 38 Siehe oben II. 3. 39 Siehe dazu bereits oben II. 2. 40 Dazu Wilhelmi in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 906 Rz. 74; Brückner in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 903 Rz. 38 ff. 41 Siehe oben II. 3, 4.

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den nur im Rahmen der Zumutbarkeit und einer nur lose mit anderen Teilhabern verbundenen Person ist eben nicht allzu viel zumutbar. Wer aber beispielsweise an einem von Dritten ins Gebüsch geworfenen, in Bruchteilseigentum stehenden Elek­ troroller vorbeigeht statt ihn herauszuholen und zu sichern, macht sich, wenn er Miteigentümer ist, schadensersatzpflichtig. 2. Die Erbengemeinschaft Bei der Frage, ob eine Notgeschäftsführungsmaßnahme auch in Frage kommt, wenn die Maßnahme nicht besonders eilig ist, greifen die zur Bruchteilsgemeinschaft gemachten Ausführungen ebenfalls ein. Natürlich hat die vom Gesetz vorgesehene Art der Geschäftsführung auch bei der Erbengemeinschaft Vorrang. Aber wenn es nicht möglich ist, diesen Vorrang zu wahren, muss die Maßnahme zulässig sein. Niemand kann ein vernünftiges Interesse daran haben, in einer solchen Situation den Nachlass zu gefährden. In der Erbengemeinschaft geht man davon aus, dass der Notgeschäftsführer die übrigen Erben vertreten kann.42 Das ist hinnehmbar, da sich die Haftung auf den Nachlass beschränken lässt. Nicht anders als in der Bruchteilsgemeinschaft ist der Erbe in Notfällen im Rahmen der Zumutbarkeit zum Handeln auch verpflichtet. 3. Die Wohnungseigentümergemeinschaft Für die Wohnungseigentümergemeinschaft legt das Gesetz fest, dass die Notgeschäftsführung die Abwendung eines unmittelbar drohenden Schadens voraussetzt. Daran ist nicht vorbeizukommen. Doch wird dies in der Praxis kaum zu Einschränkungen führen, da auch in der Wohnungseigentümergemeinschaft der Vorrang der vom Gesetz (oder auch durch Vereinbarung) geregelten Geschäftsführung zu wahren ist. Sollte diese nicht erreichbar sein, ohne dass sich die Gefahr für das Wohnungs­ eigentum erhöht, ist das Unmittelbarkeitskriterium erfüllt. Haben die geschäftsführenden Wohnungseigentümer wirksam anders entschieden, muss dies akzeptiert werden. Eine Notgeschäftsführung kommt dann wegen des Vorrangs der regulären Geschäftsführung nicht in Frage. Wie geschildert hat der Notgeschäftsführer keine Vertretungsmacht für die Wohnungseigentümergemeinschaft. Dies ist auch sachgerecht, da für Schulden der Wohnungseigentümergemeinschaft die Eigentümer letztlich persönlich aufzukommen haben. Eine Risikobeschränkung wie in der Erbengemeinschaft besteht gerade nicht. Eine Verpflichtung zum Tätigwerden gibt es – wie dargestellt43 – in Ausnahmefällen. Solange ein direkter Anspruch auf Aufwendungsersatz gegen die anderen Wohnungseigentümer nicht allgemein akzeptiert wird, muss bei der Frage, ob ein Tätigwerden dem einzelnen Wohnungseigentümer zumutbar ist, bedacht werden, dass der 42 Siehe oben II. 3. 43 Siehe oben II. 3

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Notgeschäftsführer unter Umständen ein nicht unerhebliches finanzielles Risiko eingehen müsste. Ob das tatsächlich so ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. So kann etwa eine Absicherung durch eine hohe Rücklage der Wohnungseigentümergemeinschaft oder durch eine Versicherung das Risiko senken. 4. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts Der Blick auf die Bruchteilsgemeinschaft und die Erbengemeinschaft zeigt, dass eine besondere Eilbedürftigkeit der Maßnahme nicht erforderlich ist. Wenn der zur Geschäftsführung befugte Gesellschafter nicht erreichbar ist, muss ein direktes Einschreiten möglich sein. Eine weitergehende Eilbedürftigkeit zu verlangen, ist in niemands Interesse. Dann ist – wie es der Regierungsentwurf formuliert – „mit dem Aufschub Gefahr für die Gesellschaft oder das Gesellschaftsvermögen“ verbunden. Zu Recht geht man allgemein davon aus, dass der Notgeschäftsführer keine Vertretungsmacht für die Gesellschaft hat. Da die Gesellschafter unbeschränkt persönlich haften – also eine Beschränkung des persönlichen Risikos nicht besteht –, ist diese Regelung systemkonform. Es überzeugt auch, dass allgemein davon ausgegangen wird, dass den Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts unter Umständen eine Pflicht zum Tätigwerden trifft.44 Dass diese Pflicht nur im Rahmen des Zumutbaren besteht, versteht sich von selbst. Doch ist einem Gesellschafter auf Grund der vertraglichen Bindung zu seinen Mitgesellschaftern mehr zumutbar als einem Bruchteilsteilhaber oder einem Miterben. 5. Die OHG/KG Für OHG- und KG-Gesellschafter gilt nichts anderes als für die Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts. 6. Die GmbH In der GmbH wird wie geschildert45 allein auf die Treuepflicht Bezug genommen. Die nähere Ausgestaltung der Notgeschäftsführung kann aber problemlos anhand der Regeln für die Personengesellschaften erfolgen, da die Grundproblematik nicht anders ist. Wiederrum geht es um den Vorrang der regulären Geschäftsführungsbefugnis, die in der GmbH bei dem Geschäftsführer liegt. Nur wenn dieser nicht handeln kann, kommt eine Notgeschäftsführungsbefugnis in Frage. Da die Gesellschafter über das ihnen gemäß § 46 Nr. 6 GmbHG zustehende Weisungsrecht den Inhalt der Geschäftsführung bestimmen, ist auch dieser Vorrang zu wahren. Sollte es aber tatsächlich so sein, dass auch die Mitgesellschafter nicht erreichbar sind, besteht ein Recht zur Notgeschäftsführung. 44 Siehe oben II. 5. 45 II. 7.

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Der Notgeschäftsführer kann die GmbH nicht vertreten. Dies zeigt der Blick auf die Notgeschäftsführungsbefugnis im Personengesellschaftsrecht. Da eine persönliche Verpflichtung der GmbH-Gesellschafter auch im Falle der Vertretung der GmbH nicht in Frage kommt, wäre eine entsprechende Regelung zwar durchaus sachgerecht. Aber es fehlt an der Basis für eine Analogie. Dies wiederum hat zur Folge, dass bei der Frage, ob ein Gesellschafter in einer bestimmten Situation zur Notgeschäftsführung verpflichtet ist, das damit verbundene finanzielle Risiko zu berücksichtigen ist. Das wiederum führt dazu, dass ihm weniger zumutbar ist als einem Bruchteilsteilhaber.

V. Zusammenfassung 1. Jede Notgeschäftsführung durch einen Gesellschafter/Bruchteilsteilhaber führt zu einer Durchbrechung der eigentlich vorgesehenen Form der Geschäftsführung. 2. Diese Durchbrechung ist eher akzeptabel, wenn es sich um eine durch Gesetz entstandene Gemeinschaft handelt, als wenn es um eine auf Vertrag beruhende Gemeinschaft geht. Daher hat die Notgeschäftsführung in der Bruchteilsgemeinschaft einen größeren Anwendungsbereich als in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, der OHG/KG und GmbH. 3. Eine Verpflichtung zur Notgeschäftsführung besteht umso eher, je enger die Personen miteinander verbunden sind und je geringer das finanzielle Risiko ist, das mit der Notgeschäftsführung verbunden ist.

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Die Abfindung des ausscheidenden GmbH-Gesellschafters Inhaltsübersicht I. Ausgangslage bei Abfindungsklauseln 1. Regelung der Abfindung a) Satzungsautonomie b) Satzungsgestaltung c) Zahlungsmodalitäten, insbesondere Sicherheitsleistung 2. Rechtsformübergreifende Kontrolle nach § 138 BGB a) Sittenwidrigkeit, § 138 BGB, § 241 Nr. 4 AktG b) Gläubigerbenachteiligung c) Sittenwidrigkeit aus anderen Gründen 3. Heilung unwirksamer Abfindungs­ klauseln II. Der Abfindungsanspruch in der Insolvenz I II. Aktuelle Rechtsprechung zur Abfindung 1. Nichtigkeit bei Verstoß gegen das Kapitalerhaltungsgebot 2. Einziehungsbeschluss einer Gesellschaft – Wirksamkeit der Einziehung vor Zahlung des Abfindungsentgelts

3. Ausfallhaftung der Gesellschafter bei Einziehung von GmbH‑Geschäftsanteilen 4. Anwachsung eines Gesellschaftsanteils als ausgleichspflichtige Schenkung 5. Rechtsprechung zu Mitarbeitermodellen/ Managermodellen a) Rückzahlung einer stillen Einlage als Kündigungserschwerung b) Nichtigkeit satzungsmäßiger Klauseln zum Ausschluss von GmbH‑Gesellschaftern ohne sachlichen Grund c) Wirksamkeit der Rückübertragung des Gesellschaftsanteils für den Fall des Verlusts der Organstellung (sog. Managermodell) in einer Familien­ gesellschaft bei Anteilserwerb zum Verkehrswert 6. Neue Rechtslage in Österreich zu Aufgriffsrechten in der Insolvenz 7. § 44 StaRUG IV. Abfindung bei Ausscheiden

I. Ausgangslage bei Abfindungsklauseln 1. Regelung der Abfindung1 a) Satzungsautonomie Die Satzungsautonomie im GmbH-Recht gestattet es den Gesellschaftern, Regelungen über die Abfindung eines Gesellschafters bei seinem Ausscheiden aus der Gesellschaft zu treffen.2 Im Wesentlichen gibt es folgende typische Regelungsinhalte von Abfindungsklauseln: 1 Ausführlich Heckschen in Heckschen/Heidinger, Die GmbH in der Gestaltungs- und Beratungspraxis, 4. Aufl. 2018, § 4 Rz. 605 ff.; Bartholomäus, Der GmbH-Gesellschafter in der Insolvenz, 2009, S. 181 ff. 2 Dies erkennt auch der Referentenentwurf zur Reform des Personengesellschaftsrechts grundsätzlich an, vgl. Begründung RefE zu §  728 BGB-E, S.  202, unter Bezug auf BGH v. 2.6.1997 – II ZR 81/96, juris Rz. 9 = BGHZ 135, 387. Zur Problematik preislimitierter An-

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– die Höhe der Abfindung, – Berechnung der Abfindung, – die Bedingungen der Auszahlung und – Sicherheitsleistungen. Enthält eine Satzung keine Abfindungsregelungen, hat die Abfindung zum Verkehrswert des Geschäftsanteils zu erfolgen.3 Dieser wird meist nach der Ertragswert- oder (in Ausnahmefällen) nach der Substanzwertmethode ermittelt.4 Es gelten insoweit die einschlägigen Richtlinien der Unternehmensbewertung, insbesondere die des Hauptfachausschusses (HFA) der Wirtschaftsprüfer. Ohne anderweitige Vereinbarung ist die Abfindung sofort mit dem Ausscheiden des Gesellschafters fällig.5 Der Zweck von Abfindungsregelungen besteht vor allem darin, die Ermittlung der Höhe der Abfindung zu vereinfachen und die GmbH davor zu schützen, dass sie kurzfristig Kapital in umfangreichem Maße für die Zahlung der Abfindung aufbringen muss. Abfindungsregelungen sollten verhindern, dass  – teilweise jahre- oder jahrzehntelang – Abfindungsstreitigkeiten sowohl die Außendarstellung der GmbH beeinträchtigen als auch die Gesellschaft in ihrer Organisation und Produktivität behindern und teilweise lahmlegen. Geheimhaltungsinteressen dürfen ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Gemäß § 34 Abs. 3 GmbHG darf das Einziehungsentgelt nicht aus gebundenem Vermögen der Gesellschaft geleistet werden.6 Daher bietet es sich an, in der Satzung Vorkehrungen für den Fall einer nicht vollständigen Einzahlung der Geschäftsanteile sowie für den Fall zu treffen, dass das Einziehungsentgelt nicht von der Gesellschaft gezahlt werden darf. Es sollte daher auch stets die Zwangsabtretung an einen von der Gesellschaft zu benennenden Dritten oder – soweit zulässig – an die Gesellschaft als Option bereitstehen.7 b) Satzungsgestaltung aa) Zulässigkeit des vollständigen Ausschlusses einer Abfindung Im Regelfall ist ein statuarischer Abfindungsausschluss unwirksam. Er schränkt die Rechte eines Gesellschafters in nicht vertretbarer Weise ungerechtfertigt ein. Das gilt nach Auffassung des OLG Frankfurt selbst dann, wenn der Ausscheidende die Künkaufsrechte im Gesellschaftsrecht: Bühler, Preislimitierte Ankaufsrechte im Gesellschaftsrecht, Diss., 2020. 3 Görner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 34 Rz. 115; Altmeppen in Altmeppen, GmbHG, 10. Aufl. 2021, § 34 Rz. 54. 4 Geißler, GmbHR 2006, 1173, 1173 f. 5 Görner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 34 Rz. 117. 6 BGH v. 5.4.2011 – II ZR 263/08, ZIP 2011, 1104. 7 Ausführlich dazu Wehrstedt/Füssenich, GmbHR 2006, 698; vgl. auch Bacher/von Blumenthal, NZG 2008, 406.

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digung zu vertreten hat, er durch eine Verfallsbestimmung bzw. Vertragsstrafe8 hätte diszipliniert werden müssen oder er wegen fehlender Auseinandersetzungsmasse ­ohnehin keine nennenswerte Abfindung beanspruchen konnte. Nur wenn eine entsprechende Klausel dem Gleichbehandlungsgebot gerecht werde und sich gegen alle Gesellschafter richtet, könne dies ausnahmsweise eine Rechtfertigung darstellen.9 Die Abfindung kann nur ausnahmsweise völlig ausgeschlossen werden.10 Dies machte der BGH11 nochmals in seiner Entscheidung vom 29.4.2014 deutlich. Das Recht auf Abfindung gehört zu den Grundmitgliedsrechten. Daher bedürfe eine GmbH-Satzungsregelung, mit der die Abfindung eines Gesellschafters ausgeschlossen wird, einer (besonderen) sachlichen Rechtfertigung. Es genüge jedoch nicht, dass der Gesellschafter die Interessen der Gesellschaft oder seine Pflichten (grob) verletzt. Ein Abfindungsausschluss im Falle einer groben Pflichtverletzung oder Verletzung der Interessen der Gesellschaft ist folglich sittenwidrig und deshalb entsprechend § 241 Nr. 4 AktG nichtig. (1) Gemeinnützige Gesellschaft Eine Ausnahme liegt bei einer Gesellschaft vor, die einen ideellen oder gemeinnützigen Zweck verfolgt. Häufig wird der Abfindungsanspruch zwar nicht ganz ausgeschlossen, aber doch erheblich vertraglich verkürzt, und zwar regelmäßig auf die geleisteten Einzahlungen. Ein Abfindungsausschluss ist aber möglich. (2) Gesellschaften mit genossenschaftlichem Charakter Auch bei Gesellschaften mit genossenschaftlichem Charakter ist eine Ausnahme anerkannt worden, nämlich bei einem Zusammenschluss von Schiffseignern mit dem Zweck, eine gleichmäßige Befrachtung ihrer Schiffe zu gewährleisten, bei dem eine Gewinnerzielung nicht wesentlicher Gesellschaftszweck war.12 In der Literatur wird vertreten, dass dies z.B. auch für Einkaufsvereinigungen gelten müsse, die der Erzielung besserer Einkaufskonditionen dienen, diese aber an ihre Gesellschafter weiterreichen. Deren Zweck würde ansonsten unterlaufen, wenn ein Gesellschafter bei Ausscheiden über Buchwert abgefunden werden müsste.13

8 Dazu auch BGH v. 29.4.2014 – II ZR 216/13, NZG 2014, 820. 9 OLG Frankfurt v. 29.7.2008 – 5 U 73/02, BeckRS 2008, 17104 = JurionRS 2008, 21343. 10 Zu den einzelnen Fällen instruktiv auch Geißler, GmbHR 2006, 1173, 1174 f. 11 BGH v. 29.4.2014 – II ZR 216/13, NZG 2014, 820. 12 OLG Oldenburg v. 15.6.1995 – 1 U 126/90, GmbHR 1997, 503 – der BGH hat die dagegen eingelegte Revision nicht zur Entscheidung angenommen (GmbHR 1997, 506). 13 Schulte/Hushahn in Münchener Hdb. GesR, Bd. 2, 5. Aufl. 2019, Teil I § 38 Rz. 27.

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(3) Todesfall Ebenso ist ein Ausschluss der Abfindung grundsätzlich zulässig, wenn er für den Fall des Todes des Gesellschafters erfolgt.14 Eine solche Vereinbarung stellt eine auf den Todesfall bezogene unentgeltliche Verfügung über den Anteilswert zugunsten der anderen Gesellschafter dar.15 Derartige Abfindungsbeschränkungen erfreuen sich insbesondere in Familiengesellschaften großer Beliebtheit, um das Eindringen familienfremder Personen zu verhindern.16 Die Zulässigkeit des Abfindungsausschlusses für alle Gesellschafter wird darauf ­gestützt, dass es sich um ein aleatorisches Geschäft handelt, bei dem Risiken und Chancen des Längerlebens jedes Gesellschafters sich die Waage halten.17 Sofern die Bestimmung nur für den Tod einzelner Gesellschafter gelten soll oder die Gesellschafter sehr unterschiedliche Lebenserwartungen haben, handelt es sich um eine auf den Todesfall bezogene unentgeltliche Verfügung unter Lebenden über den Wert der Beteiligung.18 Eine andere Ansicht ist der Auffassung, dass es sich um eine vorweggenommene, auf den Todesfall bezogenen unentgeltliche gesellschaftsvertragliche Verfügung über den Anteilswert handelt.19 Entscheidend ist dies für Pflichtteils­ ergänzungsansprüche. Gemeinsam ist den Auffassungen, dass die Wirksamkeit der Klausel nicht an dem Mangel der Form gemäß § 2301 Abs. 1 BGB scheitert. Wird Unentgeltlichkeit angenommen, ist durch die Zuwendung der Anwartschaft ein Vollzug unter Lebenden und damit Heilung des etwaigen Formmangels gemäß §§ 2301 Abs. 2, 518 Abs. 2 BGB zu bejahen.20 Der Abfindungsausschluss kann gem. §§ 3 ff. AnfG, §§ 129 ff. InsO anfechtbar sein und zu Pflichtteilsergänzungsansprüchen gem. § 2325 BGB führen. Nicht geklärt ist, ob der Abfindungsausschluss als Benachteiligung von Vertrags­ erben gem. § 2287 BGB unwirksam sein kann.21 Der Ausschluss oder die Beschränkung der Abfindung im Todesfall gem. § 3 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG unterliegt bei den anderen Gesellschaftern der Erbschaftsteuer. (4) Mitarbeiter / Manager Nicht selten werden Arbeitnehmern zum Zwecke der Mitarbeiterbeteiligung entweder direkte Beteiligungen oder aber mit dem Abschluss eines stillen Gesellschaftsver14 Götz, ZEV 2020, 342, 343 m.w.N.; Schäfer in MünchKomm. BGB, 8.  Aufl. 2020, §  738 Rz. 62. 15 Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 34 Rz. 69. 16 Wolf, MittBayNot 2013, 9, 11 f. 17 Schulte/Hushahn in Münchener Hdb GesR, Bd. 2, 5. Aufl. 2019, Teil I, § 38 Rz. 27. 18 BGH v. 26.3.1981 – IVa ZR 154/80, NJW 1981, 1956, 1957; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 131 Rz. 161 f.; K. Schmidt, GesR, 4. Aufl. 2002, § 45 V 3, Fn. 104. 19 Boujong in FS Ulmer, 2003, S. 41, 45; Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 738 Rz. 62. 20 BGH v. 14.7.1971 – III ZR 91/70, WM 1971, 1338, 1339; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 131 Rz. 162, jeweils m.w.N. 21 K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 131 Rz. 163.

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trages eine indirekte Teilhabe am Unternehmenserfolgt eingeräumt. Bereits in seiner „Mitarbeitermodell“- Entscheidung aus dem Jahr 2005 hat der BGH22 Hinauskündigungsklauseln, die im Fall der Beendigung der Mitarbeit die Rückübertragung des Gesellschaftsanteils an die Gesellschaft vorsehen, als zulässig erachtet. Keinen Bedenken begegnet es außerdem, wenn die Höhe der zu zahlenden Abfindung auf den Betrag beschränkt ist, den der Mitarbeiter für den Erwerb der Einlage zu zahlen hatte. Die Abfindung darf auch im Rahmen sog. Manager- bzw. Mitarbeiterbeteiligungsmodelle ausgeschlossen werden, wenn den Mitarbeitern unentgeltlich Geschäftsanteile gewährt wurden und diese bei ihrem Ausscheiden als Mitarbeiter zurückzuübertragen sind.23 Dies betrifft jedoch nur die gesellschaftsrechtliche Perspektive (vgl. dazu aber die Ausführungen unter III.5.b) und III.5.c), S. 25 ff.).24 (5) Geschenkter Anteil Der BGH25 erkennt nach wie vor die Rechtsfigur des „Gesellschafters minderen Rechts“26 nicht an. Er sieht die Abfindungsbeschränkung oder den Abfindungsausschluss nicht deshalb als gerechtfertigt an, weil der Gesellschafter den Anteil geschenkt bekommen hat; dieser wird dadurch nicht zum Gesellschafter „zweiter Klasse“. Mitarbeiter über Mitarbeiterbeteiligungsmodelle ohne oder gegen beschränktes Entgelt an der Gesellschaft zu beteiligen, kann über mehrere Generationen von Mitarbeitern nur dann funktionieren, wenn der Anteil zu gleichen Bedingungen übergeht, zu denen der Mitarbeiter ihn erworben hat und der Nachfolger ihn erwerben soll. Er sieht in der Beteiligung in diesen Fällen die Einräumung einer treuhänderischen Stellung, deren wirtschaftlicher Wert in dem Gewinnausschüttungspotenzial während der Dauer der Gesellschafterstellung liegt. Ebenso hat das OLG Karlsruhe27 die Regelung eines Gesellschaftsvertrags einer Kommanditgesellschaft zur Verwaltung von Familienvermögen als wirksam anerkannt, wonach der angeheiratete Gesellschafter bei Scheidung seinen vom ehemaligen Ehegatten ohne Gegenleistung zugewandten Gesellschaftsanteil nach dessen Wahl unentgeltlich diesem oder den zu dessen Stamm gehörigen Kindern zu übertragen hatte. Auch hier reichte der bloße Umstand, dass der ausscheidende Gesellschafter den Geschäftsanteil geschenkt bekommen hatte, nicht als Rechtfertigung für eine Abfindungsbeschränkung aus, sondern das OLG Karlsruhe sah den Sachverhalt als vergleichbar zur den Mitarbeiter-/Managermodellen an. Deshalb könne auch unter gesellschaftsrechtlichen Gesichtspunkten der Ausschluss des Abfindungsanspruchs des von einem Mitglied des einbringenden Stammes geschiedenen Klägers nicht als gegen die guten Sitten verstoßendes Rechtsgeschäft gewertet werden, § 138 BGB. 22 BGH v. 19.9.2005 – II ZR 342/03, NJW 2005, 3644. 23 BGH v. 19.9.2005  – II ZR 173/04, ZIP 2005, 1920 unter Bestätigung des OLG Celle v. 15.10.2003 – 9 U 124/03, GmbHR 2003, 1428 m. abl. Anm. Schröder. 24 Ausf. Besprechung s.u. LAG Rheinland-Pfalz v. 21.8.2014 – 5 Sa 110/14, ArbuR 2014, 435. 25 BGH v. 19.9.2005 – II ZR 342/03, NJW 2005, 3644. 26 Dazu insbes. Flume, NJW 1979, 903. 27 OLG Karlsruhe v. 12.10.2006 – 9 U 34/06, NZG 2007, 423.

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bb) Grenzen im Normalfall Scheidet ein Gesellschafter aus der GmbH aus, so steht ihm ein gesetzlich nicht geregelter aber als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannter Abfindungsanspruch in entsprechender Anwendung von § 738 Abs. 1 S. 2 BGB zu.28 Wird die Höhe des Abfindungsanspruches nicht vertraglich oder durch die Satzung geregelt, hat die Abfindung zum Verkehrswert zu erfolgen.29 Der ausscheidende Gesellschafter einer GmbH hatte sich gegen die Höhe der ihm im Rahmen seines Ausscheidens gewährten Abfindung gewehrt. Die Satzung der GmbH sieht vor, dass Grundstücke, die zum Gesellschaftsvermögen gehören, mit dem Verkehrswert in Ansatz zu bringen sind. Wenige Monate nach dem relevanten Bewertungsstichtag hatte die Gesellschaft das in Rede stehende Grundstück für zwei Mio. Euro veräußert. Ein auf den Bewertungsstichtag erstelltes Sachverständigengutachten war indes lediglich auf einen Verkehrswert von 1,3 Mio. Euro gekommen. Bei der Berechnung des Abfindungsguthabens des ausscheidenden Gesellschafters wurde sich auf diesen niedrigeren Wert berufen und dem Gesellschafter so eine nach dessen Auffassung zu niedrige Abfindung gewährt. Das KG30 entschied, dass, wenn eine Gesellschaft ihre Immobilien wenige Monate nach dem relevanten Bewertungsstichtag veräußert, als „Verkehrswert“ grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verkaufspreis abzüglich der bei der Veräußerung notwendig anfallenden Kosten und Steuerlasten anzusetzen sei. Denn anders als bei einer – notwendig mit Unsicherheiten verbundenen  – (sachverständigen) Schätzung, die sich nur an allgemeinen Erfahrungswerten orientiere, werde durch die Veräußerung der in dem Vermögensgegenstand steckende Marktwert realisiert und damit der „wirkliche“ Verkehrswert unmittelbar festgestellt. Das KG lehnte sich dabei an zwei Entscheidungen des BGH zum Pflichtteilsrecht an.31 In den Schranken des § 138 BGB, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Gläubigerbenachteiligung, der Gleichbehandlung der Gesellschafter und der Erhaltung der Vermögenswerte, ist eine satzungsmäßige Beschränkung des Abfindungsanspruchs der Gesellschafter als Ausdruck der Satzungsautonomie zulässig.32 Zweck einer Abfindungsbeschränkung ist es, einen übermäßigen Kapitalabfluss aus der Gesellschaft zu verhindern und die Bestimmung der Höhe der Abfindung zu vereinfachen. Daneben sind aber auch Geheimhaltungsinteressen und die Vermeidung 28 Kersting in Baumbach/Hueck GmbHG, 22.  Aufl. 2019, §  34 Rz.  22; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 34 Rz. 66.  29 BGH v. 6.12.1991 – V ZR 311/89, BGHZ 116, 259; Kersting in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 22; Altmeppen in Altmeppen, GmbHG, 10. Aufl. 2021, § 34 Rz. 54. 30 KG v. 26.2.2015 – 2 U 60/09, DStR 2015, 2027 = RNotZ 2015, 588 (m. Anm. Schriftleitung). 31 BGH v. 25.11.2010 – IV ZR 124/09, NJW 2011, 1004; BGH v. 14.10.1992 – IV ZR 211/91, NJW-RR 1993, 131. 32 Schindler in BeckOK-GmbHG, Stand: 1.8.2020, § 34 Rz. 87; Kersting in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 25; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 34 Rz. 164.

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von Abfindungsstreitigkeiten relevante Gesichtspunkte.33 In der Praxis kommen die unterschiedlichsten Varianten an Abfindungsklauseln in Betracht, die jedoch alle den vorbezeichneten Schranken unterliegen. Die inhaltlichen Grenzen der Gestaltungsfreiheit können insbesondere dann überschritten werden, wenn durch die Abfindungsklauseln eine unangemessene Verkürzung des Verkehrswertes erfolgt. Ein bereits ursprünglich bei Begründung der Gesellschaft bestehendes, grobes Missverhältnis zwischen Abfindungsbetrag und Anteilswert führt zu einer unangemessenen Benachteiligung des Ausscheidenden sowie zur Nichtigkeit der Abfindungsregelung.34 An deren Stelle tritt dann eine Abfindung nach dem Verkehrswert. Keine Auswirkung hat eine unangemessene bzw. nichtige Abfindungsregelung auf die Wirksamkeit der Hinauskündigungsklausel.35 Die Interessen des ausscheidenden Gesellschafters, die seiner Gläubiger und der Grundsatz der Gleichbehandlung der Gesellschafter müssen berücksichtigt werden.36 Für die Beurteilung der Wirksamkeit einer Abfindungsklausel sind die gesamten Umstände zu würdigen, so insbesondere das Ausmaß des Missverhältnisses zwischen dem Verkehrswert des Anteils und der Abfindungshöhe sowie Festlegungen zu den Zahlungsmodalitäten.37 Es können unterschiedliche Regelungen für einzelne Gesellschafter vereinbart werden, wenn sie z.B. an die Dauer der Mitgliedschaft des Ausscheidenden, seinen Anteil am Erfolg des Unternehmens sowie den Anlass des Ausscheidens geknüpft sind und die Ungleichbehandlung damit gerechtfertigt wird.38 Der entscheidende Zeitpunkt für die Beurteilung der Wirksamkeit der Abfindungsklausel ist ihre Aufnahme in die Satzung (Abschlusskontrolle). Eine geltungserhaltende Reduktion oder Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung einer solchen nichtigen Klausel kommt nach überwiegender Ansicht nicht in Frage.39 An die 33 Heckschen in Heckschen/Heidinger, Die GmbH in der Gestaltungs- und Beratungspraxis, 4. Aufl. 2018, § 4 Rz. 607. Anders sieht dies mit beachtlichen Argumenten Bühler, Preislimitierte Ankaufsrechte im Gesellschaftsrecht, Diss., 2020, für die verwandte Problematik preislimitierter Ankaufsrechte. 34 BGH v. 16.12.1991 – II ZR 58/91, BGHZ 116, 359 f.; BGH v. 13.6.1994 – II ZR 38/93, BGHZ 126, 226 f.; Kersting in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 27. 35 BGH v. 9.7.1990 – II ZR 194/89, BGHZ 112, 103 = NJW 1990, 2622; Kersting in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 33. 36 Kersting in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 26, 29; Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 34 Rz. 58. 37 Hülsmann, NJW 2002, 1673; Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  34 Rz.  60; ausführlich Bacher/Spieth, GmbHR 2003, 517  ff. und Geißler, GmbHR 2006, 1173, 1177 ff. 38 Heckschen in Heckschen/Heidinger, Die GmbH in der Gestaltungs- und Beratungspraxis, 4. Aufl. 2018, § 4 Rz. 613. 39 Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 34 Rz. 110 mit Verweis auf BGH v. 27.9.2011 − II ZR 279/09, NZG 2011, 1420 Rz. 12, wo es allerdings um eine Satzungsauslegung ging; Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 238; anders noch BGH v. 24.9.1984 – II ZR 256/83, NJW 1985, 192, 193 für eine nachträglich unangemessen gewordene Abfindungsregelung.

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Stelle der nichtigen Abfindungseinschränkung tritt die Abfindung zum Verkehrswert. Eine nichtige Satzungsklausel wird jedoch grds. nach Ablauf von drei Jahren nach Eintragung in das Handelsregister analog § 242 Abs. 2 AktG wirksam.40 Meines Erachtens müssen aber in diesem Fall zumindest die Grundsätze der Ausübungskontrolle greifen.41 Es ist umstritten, ob Abfindungsklauseln, die dahin gehen, solche von Anfang an nichtigen Klauseln einer teleologischen Reduktion zuzuführen, wirksam sind.42 Entsteht das grobe Missverhältnis zwischen Abfindungshöhe und dem Verkehrswert des Geschäftsanteils erst im Laufe der Zeit und war dies zur Zeit der Aufnahme der Klausel in den Vertrag nicht vorhersehbar, wird die Klausel nicht nachträglich unwirksam.43 Das erkennende Gericht setzt dann die Abfindung in angemessener Höhe fest (sog. Ausübungskontrolle).44 Es sei darauf hingewiesen, dass seit in Kraft treten der Erbschaftsteuerreform und der Änderung des Bewertungsgesetzes das sog. „Stuttgarter Verfahren“ zur Bewertung der Geschäftsanteile, abgeschafft worden ist. Nach Ansicht des OLG Stuttgart45 ist eine im Gesellschaftsvertrag enthaltene Klausel, wonach eine anlässlich des Ausscheidens eines Gesellschafters zu leistende Abfindung nach dem im sog. „Stuttgarter Verfahren“ ermittelten Wert seines Anteils berechnet wird, grundsätzlich aber noch wirksam und für die Parteien verbindlich. Etwas anderes gelte dann, wenn der sich nach dem Stuttgarter Verfahren ergebende Anteilswert vom tatsächlichen Verkehrswert des Anteils erheblich abweiche. In diesem Fall wäre eine solche gesellschaftsvertragliche Abfindungsregelung unanwendbar und der Abfindungsbetrag sei anzupassen. Arens46 stimmt der Entscheidung zwar zu, meint aber, dass dieses Verfahren nicht zu empfehlen sei, da es die Vermögensverhältnisse nur unzutreffend wieder­ gebe. Zudem führe es überwiegend zu einer zu hohen Abfindungsforderung und könne somit problematisch für die Gesellschaft sein. Da es sich noch in vielen älteren  Satzungen findet, und hieraus potentielle Streitigkeiten mit dem Insolvenzver-

40 BGH v. 19.6.2000 – II ZR 73/99, NJW 2000, 2819, 2820 f.; BGH v. 27.9.2011 – II ZR 279/09, ZIP 2011, 2357, auch zur Auslegung der Wirkung einer Auffangklausel; z.T. wird die ­Heilung im Falle der Gläubigerbenachteiligung abgelehnt, so insbes. Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 34 Rz. 105 f.; Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2018, §  34 Rz.  239; Kersting in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22.  Aufl. 2019, §  34 Rz. 32; Lange, NZG 2001, 635, 640; Bacher/Spieth, GmbHR 2003, 973, 978. 41 So auch Schindler in BeckOK-GmbHG, Stand: 1.8.2020, § 34 Rz. 97; Leitzen, RNotZ 2009, 315, 319; vgl. auch BGH v. 19.6.2000 – II ZR 73/99, NJW 2000, 2819, 2820 f.; ausf. Heckschen in FS Bergmann, 2018, S. 259 ff. 42 Ausf. Heckschen in FS Bergmann, 2018, S. 259 ff. 43 BGH v. 20.9.1993 – II ZR 104/92, BGHZ 123, 281; anders noch BGH v. 16.12.1991 – II ZR 58/91, BGHZ 116, 369; Lutter in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 34 Rz. 172. 44 Heckschen in Heckschen/Heidinger, Die GmbH in der Gestaltungs- und Beratungspraxis, 4. Aufl. 2018, § 4 Rz. 624. 45 OLG Stuttgart v. 15.3.2017 – 14 U 3/14, ZIP 2017, 868; Arens, GWR 2017, 193; Königshausen, GWR 2017, 245; Westermann, EWiR 2017, 423. 46 Arens mit alternativen Gestaltungsmethoden in GWR 2017, 193, 195.

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walter entstehen können, ist es sinnvoll, den Gesellschaftsvertrag daraufhin zu überprüfen.47 Die Neufassung der Bewertungsvorschriften für die Bewertung von Geschäftsanteilen zum Zwecke u.a. der Satzungs- und Erbschaftssteuer, hat über § 7 Abs. 7 ErbStG ganz erhebliche Bedeutung für die Vertragspraxis.48 Diese neuen Bewertungsregeln führen zu einer Bewertung in Höhe des vollen Verkehrswerts. Sieht nun aber die Satzung geringere Abfindungen bei Einziehung und Ausschluss vor, so kann dies über § 7 ErbStG zu einer Bereicherung bei den verbleibenden Gesellschaftern mit Schenkungscharakter führen.49 Eine Klausel kann auch in der Weise ausgestaltet werden, dass sie eine Abfindung zum Buchwert vorsieht.50 Eine solche Buchwertklausel beschränkt die Abfindung auf den im Jahresabschluss festgestellten Buchwert eines Geschäftsanteils zuzüglich eines Jahresüberschusses oder Gewinnvortrags und unter Abzug der Verbindlichkeiten sowie eines Jahresfehlbetrages oder Verlustvortrags. Die stillen Reserven sowie der Geschäfts- oder Firmenwert bleiben außer Betracht.51 Andere Klauseln sehen eine Abfindung zum Nennwert, Substanzwert und Ertragswert vor.52 Buchwertklauseln sind grds. nicht von Beginn an unwirksam. Sie können aber im Lauf der Zeit zu unangemessen niedrigen Abfindungen führen und sollten immer mit einer Auffangregelung versehen werden.53 Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn die Gesellschaft z.B. durch Sachgründung im Wege der Einbringung eines Einzelunternehmens mit erheblichen stillen Reserven gegründet wurde. Hier kann die Buchwertklausel von Anfang an nichtig sein. Das OLG Rostock54 hatte sich am 6.4.2016 mit der Frage des Abfindungsanspruchs bei Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu beschäftigen. Es entschied, dass, wenn zur Bestimmung des Abfindungsanspruchs des ausgeschiedenen Gesellschafters einer GmbH der Unternehmenswert zu ermitteln sei, dafür zwar regelmäßig auf die Ertragswertmethode abzustellen sei. Dies gelte jedoch nicht im Falle eines Unternehmens der öffentlichen Daseinsvorsorge (Wohnungsbaugesellschaft). Stattdessen sei bei solchen Unternehmen mit nicht vorrangig finanzieller Zielsetzung55 in erster Linie die Rekonstruktions- bzw. Substanzwertmethode anzuwenden.56 47 Zur grds. weiteren Anwendung in einer Auffangklausel aber BGH v. 27.9.2011 – II ZR 279/09, ZIP 2011, 2357. 48 Hübner/Maurer, ZEV 2009, 361 und 428; Wangler, DStR 2009, 1501; Götzenberger, BB 2009, 131. 49 Hübner/Maurer, ZEV 2009, 361 und 428; Wangler, DStR 2009, 1501; Götzenberger, BB 2009, 131; s. auch BFH v. 4.3.2015 – II R 51/13, ErbStB 2015, 217 m. Anm. Kirschstein. 50 Kritisch Mensen, GWR 2013, 86. 51 Heckschen in Heckschen/Heidinger, Die GmbH in der Gestaltungs- und Beratungspraxis, 4. Aufl. 2018, § 4 Rz. 638. 52 Schindler in BeckOK-GmbHG, Stand: 1.8.2020, §  34 Rz.  99  ff.; Kersting in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 23.  53 So der Fall BGH v. 27.9.2011 – II ZR 279/09, ZIP 2011, 2357. 54 OLG Rostock v. 6.4.2016 – 1 U 131/13, juris. 55 Entgegen OLG Düsseldorf v. 28.1.2009 – I-26 W 7/07, AG 2009, 667. 56 LG Hamburg v. 6.7.2007 – 404 O 173/03, NZG 2007, 680.

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c) Zahlungsmodalitäten, insbesondere Sicherheitsleistung Die Satzung sollte Regelungen zu Zahlungsmodalitäten57 enthalten, z.B. zu Fälligkeit, Ratenzahlung, Verzinsung und/oder Sicherheiten für den ausscheidenden Gesellschafter. Am häufigsten werden in der Praxis Teilzahlungsregelungen verwendet. Diese sind aber nur wirksam, wenn der Auszahlungszeitraum nicht zu lange bemessen wird. Ein Zeitraum von fünf Jahren ist i.d.R. nicht zu beanstanden. Literatur und Rechtsprechung lehnen aber eine Spanne von mehr als acht58 oder zehn Jahren59 als unzulässig ab. Auch hier muss eine Gesamtbetrachtung aller Auszahlungsbedingungen in Verbindung mit dem Ausmaß der Beschränkung der Abfindung erfolgen.60 Der Insolvenzverwalter ist an die Auszahlungsmodalitäten gebunden. Bei der Satzungsgestaltung stellt sich weiterhin die Frage, inwieweit die offene Forderung ganz oder teilweise zu besichern ist. Es liegt zwar im Interesse des ausscheidenden Gesellschafters und auch im Interesse des Insolvenzverwalters eine volle Sicherheitsleistung zu verlangen. Dies wird aber häufig wirtschaftlich einer sofortigen Zahlung gleichkommen und die Gesellschaft überfordern. In Frage kommt eine Teilsicherheitsleistung. Je länger die Dauer des Auszahlungszeitraums festgelegt ist, desto eher kommt eine Sicherheitsleistung in Betracht, da dann die Interessen des Gesellschafters an der Besicherung seines Anspruchs überwiegen. 2. Rechtsformübergreifende Kontrolle nach § 138 BGB a) Sittenwidrigkeit, § 138 BGB, § 241 Nr. 4 AktG Abfindungsklauseln sind nur in bestimmten Grenzen zulässig. Insbesondere der Nichtigkeitsgrund der Sittenwidrigkeit hat bei der Bewertung von Abfindungsklauseln erhebliche Relevanz. Als gesetzliche Grundlage werden in der Regel § 241 Nr. 4 AktG oder § 138 BGB61 angeführt. Die §§ 241 ff. AktG gelten grundsätzlich entsprechend im Recht der GmbH.62 Die Nichtigkeitsgründe des §  241 AktG werden daher auch auf die GmbH entsprechend angewendet. Die §§ 241 ff. AktG (analog) gelten allerdings ihrem Wortlaut nach nur für Satzungsänderungsbeschlüsse.63 Danach 57 Ausführlich dazu Hülsmann, NJW 2002, 1673, 1677 f. 58 Kersting in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 38; Sosnitza in Michalski/ Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 34 Rz. 77; max. fünf bis sieben Jahre nach Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 34 Rz. 165. 59 BGH v. 9.1.1989 – II ZR 83/88, NJW 1989, 2685: Nichtigkeit einer Klausel mit Abfindung in 15 gleichen Jahresraten, s. auch OLG Dresden v. 18.5.2000 – 21 U 3559/99, NZG 2000, 1042: Sittenwidrigkeit einer Klausel mit Abfindungszahlung in drei Raten nach fünf, acht und zehn Jahren. 60 BGH v. 9.1.1989  – II ZR 83/88, NJW 1989, 2685; Geißler, GmbHR 2006, 1173, 1176  f.; ­Kersting in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 38. 61 Vgl. BGH v. 27.9.2011 – II ZR 279/09 Rz. 12 (zit. n. juris), ZIP 2011, 2357. 62 BGH v. 11.2.2008 – II ZR 187/06 Rz. 22, NZG 2008, 317; Kaufmann, NZG 2015, 336, 337; Wicke in Wicke, GmbHG, 4. Aufl. 2020, Anh. § 47 Rz. 1; vgl. auch Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, Anh. § 47 Rz. 1. 63 Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Bd. II, § 34 Rz. 106.

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Die Abfindung des ausscheidenden GmbH-Gesellschafters

wären nur durch Satzungsänderung eingefügte Abfindungsklauseln den Wirkungen des § 241 AktG unterworfen, nicht aber bereits in der Gründungssatzung vorhandene Abfindungsregelungen. Es sind allerdings keine Gründe ersichtlich, warum nachträglich durch Satzungsänderungsbeschluss eingefügte fehlerhafte Klauseln anders behandelt werden sollten als mangelhafte Klauseln der Gründungssatzung.64 Die §§ 241 ff. AktG gelten daher über ihren Wortlaut hinaus nicht nur auch im Recht der GmbH entsprechend, sondern ebenfalls für die Beurteilung der Gründungssatzung. Ohne dass hieraus ein Erkenntnisgewinn für die Rechtsanwendung folgen würde, kann hinsichtlich der Gründungssatzung von einer doppelten Analogie gesprochen werden. Für die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit von Abfindungsklauseln kommt es also nicht darauf an, ob die betreffende Klausel bereits in der Gründungssatzung enthalten war oder erst durch eine Satzungsänderung in die bestehende Satzung eingefügt wird. In beiden Fällen finden §§ 241 ff. AktG grundsätzlich entsprechende Anwendung. Allerdings muss danach unterschieden werden, ob eine Abfindungsklausel bereits im Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die Satzung unwirksam war (anfängliche Unwirksamkeit) oder ob sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen Abfindungshöhe nach der Satzung und dem tatsächlichen wirtschaftlichen Wert des Geschäftsanteils (die eine Nichtigkeit begründet hätte, wenn sie von Anfang an vorgelegen hätte) erst mit der Zeit entwickelt (nachträgliche Unwirksamkeit). Als sittenwidrig werden Klauseln in der Rechtsprechung bei einseitiger Benachteiligung von Gläubigern (Drittbeeinträchtigung), bei einer schon bei Vereinbarung der Klausel65 völlig unverhältnismäßigen Verkürzung des Abfindungswertes sowie bei Beschränkung der Abfindung für den Fall, dass ein Gesellschafter ohne wichtigen Grund aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird (Knebelung), angesehen. b) Gläubigerbenachteiligung Vertragsklauseln, die den Abfindungsanspruch eines Gesellschafters nur für den Fall kürzen oder ausschließen, dass er durch Insolvenz oder Zugriff eines Privatgläubigers aus der Gesellschaft ausscheidet, sind wegen Gläubigerbenachteiligung nichtig.66 Gilt die Beschränkung des Abfindungsanspruchs für diverse Fälle und sind alle Gesellschafter gleichermaßen davon betroffen, müssen auch Gläubiger dies in demselben Umfang hinnehmen, in dem der Gesellschafter die Beschränkung gegen sich 64 BGH v. 19.6.2000 – II ZR 73/99 Rz. 11 (zit. n. juris), BGHZ 144, 365 = NZG 2000, 1027; Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Bd. II, § 34 Rz. 106. 65 BGH v. 20.9.1993 − II ZR 104/92, NJW 1993, 3193; BGH v. 16.12.1991 − II ZR 58/91, NJW 1992, 892, 894; OLG Naumburg v. 26.8.1999 − 2 U (Hs) 315/97, NZG 2000, 698, 699; Lange, NZG 2001, 635, 640; Mecklenbrauck, BB 2000, 2001, 2003; Müller, ZIP 1995, 1561, 1564; Piltz, BB 1994, 1021, 1023; Rasner, NJW 1983, 2905, 2907; Sigle, ZGR 1999, 659, 660; Ulmer in FS Quack 1991, S. 477, 486. 66 BGH v. 7.4.1960 − II ZR 69/58, BGHZ 32, 151; BGH v. 24.5.1993 − II ZR 36/92, NJW 1993, 2101, 2102; vgl. auch BGH v. 19.6.2000 − II ZR 73/99, BGHZ 144, 365 (GmbH).

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selbst gelten lassen muss.67 Die Abfindungsbegrenzung muss dabei nicht für alle Fälle des Ausscheidens das gleiche (verminderte) Entgelt vorsehen. Es genügt, wenn sich der Gesellschafter selbst in vergleichbaren Fällen mit derselben Abfindung begnügen muss. Zulässig soll es beispielsweise sein, wenn die Abfindungsbeschränkung außer in den Fällen des Gläubigerzugriffs auch bei Ausschließung des Gesellschafters aus wichtigem Grunde gilt.68 c) Sittenwidrigkeit aus anderen Gründen aa) Sittenwidrige Knebelung Wird der Abfindungsanspruchs beschränkt, kann darin eine sittenwidrige Knebelung gem. § 138 Abs. 1 BGB liegen.69 Diese liegt vor, wenn die wirtschaftliche Entfaltung einer Vertragspartei in solchem Maße beschnitten wird, dass sie ihre Selbständigkeit und wirtschaftliche Entschließungsfreiheit – entscheidend insbesondere der Austritt aus der Gesellschaft – im Ganzen oder in einem wesentlichen Teil einbüßt oder aber der Vertragsinhalt in einem Maße unangemessen ist, der völlig außer Verhältnis zum Vertragszweck steht, willkürlich ist und jeder Rechtfertigung ermangelt.70 bb) Unterschreitung Buchwert § 138 Abs. 1 BGB bedarf weder einer Schädigungsabsicht noch des Bewusstseins der Schädigung.71 Der BGH hat danach eine Beschränkung des Abfindungsanspruchs auf die Hälfte des Buchwertes oder auf den Nennwert der Beteiligung als unwirksam angesehen.72 In der Literatur wird der vollständige Ausschluss der Abfindung73 und eine Beschränkung auf einen deutlich unter dem Buchwert liegenden Betrag grundsätzlich als unwirksam angesehen.74 Buchwertklauseln gelten nur in Ausnahmefällen als sitten­ 67 Vgl. die Argumentation in BGH v. 24.5.1993 − II ZR 36/92, NJW 1993, 2101, 2102 f.; so auch Haibt, MittRhNotK 1998, 261, 269; Baumann, MittRhNotK 1991, 271, 283. 68 BGH v. 24.5.1993 − II ZR 36/92, NJW 1993, 2101, 2102; vgl. auch BGH v. 19.6.2000 − II ZR 73/99, BGHZ 144, 365 (GmbH). 69 Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 738 Rz. 45. 70 Schulte/Hushahn in Münchener Hdb GesR, Bd. 2, 5.  Aufl. 2019, §  38 Rz.  26; BGH v. 16.12.1991 − II ZR 58/91, BGHZ 116, 359, 376; BGH v. 13.6.1994 − II ZR 38/93, NJW 1994, 2536, 2539. 71 BGH v. 7.1.1993 − IX ZR 199/91, NJW 1993, 1587, 1588; BGH v. 13.6.1994 − II ZR 38/93, NJW 1994, 2536, 2539. 72 BGH v. 9.1.1989 − II ZR 83/88, DB 1989, 1400, 1401; BGH v. 16.12.1991 − II ZR 58/91, NJW 1992, 892; vgl. auch BGH v. 13.6.1994 − II ZR 38/93, NJW 1994, 2536, 2539. 73 Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 738 Rz. 60. 74 Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4.  Aufl. 2020, §  131 Rz.  127; wohl auch Baumbach/Hopt, HGB, 39. Aufl. 2020, § 131 HGB Rz. 64; a.A. Rasner, NJW 1983, 2905, 2910.

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widrig.75 Als Begründung wird aufgeführt, es komme für die Sittenwidrigkeit nicht auf den Zeitpunkt des Ausscheidens, sondern auf denjenigen der Vereinbarung – den Abschluss des Gesellschaftsvertrages – an. In diesem Augenblick sei eine Diskrepanz zwischen tatsächlichem Anteilswert und Buchwert in der Regel nicht gegeben und noch nicht absehbar.76 Anders wird dies gesehen, wenn ein Gesellschafter bei Gründung der Gesellschaft Sacheinlagen erbringt und diese erheblich unter dem vollen Wert angesetzt werden oder wenn bei bestehender Gesellschaft eine Buchwertklausel anstelle einer bislang vereinbarten höheren Abfindung eingeführt wird und der Buchwert den tatsächlichen Wert zu diesem Zeitpunkt schon erheblich übersteigt. In diesen Fällen wird vertreten, dass die Abfindungsbeschränkung aus Sicht der Rechtsprechung wohl sittenwidrig sein müsste.77 In der Literatur werden teilweise Abfindungsbeschränkungen als sittenwidrig erachtet, die ausdrücklich oder konkludent auch für den Fall gelten sollen, dass der vereinbarte und tatsächliche Wert bei der späteren Anwendung der Bestimmung erheblich auseinanderfallen.78 Die Gesellschafter wollen mit einer solchen Regelung verhindern, dass die Rechtsprechung die Abfindungsvereinbarung im Wege der ergän­ zenden Vertragsauslegung korrigiert. Wäre dies sittenwidrig, könnte die Buchwertklausel vor allem zwischen geschäftserfahrenen Gesellschaftern künftig nicht mehr wirksam vereinbart werden. Da diesen die Wirkungsweise der Klausel bekannt ist, werden sie stillschweigend von eben dieser Vorstellung ausgehen.79 Dies entspreche zwar der grundsätzlichen Linie der Rechtsprechung, dass die Privatautonomie durch den Gedanken einer vereinbarungsfesten Mindestabfindung begrenzt ist.80 In der Literatur wird dies aber kritisch gesehen, da dies über das Ziel hinausschieße. Bei Vereinbarung der Klausel stehe noch gar nicht fest, ob die Gesellschaft eine entspre­ chende Entwicklung nehme. Der abfindungsfeste Kern werde ausreichend geschützt, wenn man nur die Vereinbarung für unzulässig halte, dass die Klausel auch bei einem späteren erheblichen Auseinanderfallen von vereinbartem und tatsächlichem Wert gelten solle.81

75 BGH v. 9.1.1989 − II ZR 83/88, NJW 1989, 2685; Hirtz, BB 1981, 761, 764 f.; Rasner, NJW 1983, 2905, 2907. 76 BGH v. 16.12.1991 − II ZR 58/91, NJW 1992, 892, 894; BGH v. 13.6.1994 − II ZR 38/93, NJW 1994, 2536, 2539. 77 BGH v. 16.12.1991 − II ZR 58/91, NJW 1992, 892, 894; BGH v. 13.6.1994 − II ZR 38/93, NJW 1994, 2536, 2539.  78 Dafür Kellermann, StbJb 1986/1987, 403, 410; Schulze-Osterloh, JZ 1993, 45, 46; DaunerLieb, GmbHR 1994, 836, 840; a.A. Mecklenbrauck, BB 2000, 2001, 2003; Müller, ZIP 1995, 1561, 1569. 79 Dauner-Lieb, GmbHR 1994, 836, 840; Mecklenbrauck, BB 2000, 2001, 2003. 80 Anders Dauner-Lieb, GmbHR 1994, 836, 840; Mecklenbrauck, BB 2000, 2001, 2003. 81 So Schulte/Hushahn in Münchener Hdb GesR, Bd. 2, 5. Aufl. 2019, § 38 Rz. 26.

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cc) Zeitliche Höchstgrenze einer Abfindungsklausel und Rechtsfolgen bei Unwirksamkeit (1) Wirksamkeit der Klausel Zwar ist der völlige Ausschluss des Abfindungsanspruchs grundsätzlich unzulässig,82 jedoch können die Modalitäten im Rahmen der Privatautonomie, unter Beachtung der gesetzlichen Schranken (§§ 134, 138, 242 BGB etc.), frei geregelt werden. Auch eine Auszahlung der Abfindung in jährlichen Raten ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Um die finanzielle Belastung für die Gesellschaft auf einen längeren Zeitraum auszuweiten, stellen die Ratenzahlungsklauseln ein legitimes Mittel dar.83 Dabei ist jedoch auf einen Ausgleich der Interessen der Gesellschaft und der des durch die Ratenzahlung benachteiligten Gesellschafters zu achten. Die Überprüfung der Ratenzahlungsklausel erfolgt i.R.d. § 138 Abs. 1 BGB. Wichtige Kriterien für die Gesamtschau sind die Dauer der Ratenzahlung und die Frage der Verzinsung. Die Dauer der Ratenzahlung ist für die Abwägung relevant, da der Gesellschafter für die Dauer der Ratenzahlung das Insolvenzrisiko der Gesellschaft zu tragen hat und er in seiner Dispositionsmöglichkeit über die an ihn auszukehrenden Mittel eingeschränkt ist. Daher ist es anerkannt, dass Ratenzahlungsklauseln von überlanger Dauer den Gesellschafter unangemessen benachteiligen und damit nach § 138 Abs. 1 BGB unwirksam sein können. Wann genau die zeitliche Grenze gezogen wird, wurde allerdings noch nicht höchstrichterlich geklärt. Das RG hatte Zweifel gegen die Wirksamkeit einer Klausel geäußert, nach deren Inhalt eine Buchwertabfindung innerhalb von zehn Jahren in zehn gleichen Raten auszuzahlen war.84 Der BGH hat sich zu einer Ratenzahlungsklausel über 15 Jahre geäußert, die er für unwirksam hielt.85 Das OLG Dresden hielt bereits Zahlungszeiträume über zehn Jahre oder mehr für unzulässig.86 Auch im Schrifttum wird sich für eine Höchstgrenze von zehn Jahren ausgesprochen.87 Ob eine Vereinbarung sittenwidrig ist, ergibt sich aus einer Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, schematische Aussagen verbieten sich. Jedenfalls geht aber die Vereinbarung einer Ratenzahlungsklausel über elf Jahre mit einer erheblichen Rechtsunsicherheit einher. (2) Rechtsfolge bei Unwirksamkeit An die Stelle einer unwirksamen Ratenzahlungsklausel wegen Sittenwidrigkeit gem. §  138 Abs.  1 BGB tritt dispositives Gesetzesrecht. Der Abfindungsanspruch wird 82 Schöne in BeckOK-BGB, Stand: 1.11.2020, § 738 Rz. 31. 83 Hadding/Kießling in Soergel BGB, 13. Aufl. 2011, § 738 Rz. 55. 84 RG v. 17.1.1940 − II 126/39, RGZ 162, 388, 393. 85 BGH v. 9.1.1989 − II ZR 83/88, NJW 1989, 2685. 86 OLG Dresden v. 18.5.2000 − 21 U 3559/99, NZG 2000, 1042, 1043. 87 Schmidt in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 131 Rz. 171; Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rz. 190; Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 39. Aufl. 2020, § 131 HGB Rz. 68.

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nach § 271 Abs. 1 BGB sofort fällig. Eine geltungserhaltende Reduktion auf das noch zulässige Maß kommt hingegen nach h.M. nicht in Betracht. Andernfalls könnte „gefahrlos“ gegen die guten Sitten verstoßen werden.88 Dem sittenwidrig Handelnden soll gerade kein Teilerfolg belassen werden.89 An dieser Rechtsfolge kann auch eine salvatorische Klausel im Gesellschaftsvertrag nichts ändern.90 Die Rechtsfolgen des § 138 Abs. 1 BGB sind für die Parteien nicht disponibel.91 Lediglich in Sonderfällen, wie einem „Geliebtentestament“ mit übermäßiger Verkürzung der Rechte der gesetzlichen Erben92 oder überlangen Belieferungsverträgen93, nahm der BGH eine geltungserhaltende Reduktion bei Verstößen gegen § 138 Abs. 1 BGB an. Der vorliegende Fall ist damit aber nicht vergleichbar. Jedoch wurde eine geltungserhaltende Reduktion vom BGH im Falle von sog. Buchwertklauseln angenommen. Buchwertklauseln beschränken den Betrag der Abfindung auf den Buchwert, wie er sich aus Handels- oder Steuerbilanz ergibt.94 Im Einzelfall können Buch- und Verkehrswert des Geschäftsanteils aber stark voneinander abweichen. Entsteht zwischen den Werten ein grobes Missverhältnis nach Aufnahme der Klausel, bleibt die Buchwertklausel wirksam und ist nicht nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Der Abfindungsbetrag sei dann aber einer richterlichen Ausübungskontrolle zugänglich (§ 242 BGB), wird also durch das Gericht in angemessener Höhe festgesetzt.95 Dieses Ergebnis steht mit dem oben geschilderten Fall nicht in Widerspruch. Vielmehr fehlt es bei der richterlichen Ausübungskontrolle nach § 242 BGB bereits an der Nichtigkeit der statuarischen Regelung, die über eine geltungserhaltene Reduktion gesichert werden müsste. Die Rechtsprechung des BGH bezüglich der Buchwertklauseln bezieht sich hingegen auf die nachträgliche Unbilligkeit der Klausel, die richterlich nach den Grundsätzen von Treu und Glauben korrigiert werden muss. (3) Fazit Ob der BGH weiterhin an seiner Rechtsprechung festhält, dass eine geltungserhaltende Reduktion bei einer von Anfang an unwirksamen Klausel nicht erfolgt, bleibt offen. Bis er sich dazu ausführlich äußert, muss aber aus Gründen der Rechtssicherheit von der Unwirksamkeit einer Klausel ausgegangen werden, nach der ein Abfindungsanspruch über zehn Jahre oder länger ausgezahlt wird. 88 Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 39.  Aufl. 2020, §  131 Rz.  73.  In diesem Sinne auch ausdrücklich der Referentenentwurf zur Reform des Personengesellschaftsrechts v. 18.11.2020, Begründung RefE zu § 728 BGB-E, S. 202. 89 Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 738 Rz. 77. 90 A.A. Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 738 Rz. 77. 91 Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, § 131 Rz. 194. 92 BGH v. 17.3.1969 – III ZR 188/65, BGHZ 52, 17, 23 f.; BGH v. 31.3.1970 – III ZB 23/68, BGHZ 53, 369, 383. 93 BGH v. 1.10.1976  – V ZR 10/76, BGHZ 68, 1, 5; BGH v. 21.3.1977  – II ZR 96/75, BGHZ 68, 204, 207; BGH v. 8.4.1992 – VIII ZR 94/91, NJW 1992, 2145, 2146. 94 Heckschen in Heckschen/Heidinger, Die GmbH in der Gestaltungs- und Beratungspraxis, 4. Aufl. 2018, Kap. 4 Rz. 608. 95 Vgl. BGH v. 20.9.1993 − II ZR 104/92, BGHZ 123, 284.

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3. Heilung unwirksamer Abfindungsklauseln Auf das Thema der Heilung unwirksamer Abfindungsklauseln ist der Verfasser bereits an anderer Stelle96 ausführlich eingegangen. Daher soll seine Auffassung an dieser Stelle lediglich wie folgt kurz zusammengefasst werden: 1. Die analoge Anwendung von § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG auf gemäß § 241 Nr. 4 AktG (analog) anfänglich nichtige Abfindungsklauseln bewirkt zwar, dass die Nichtigkeit einer Abfindungsklausel nicht mehr geltend gemacht werden kann. Ein ausscheidender Gesellschafter kann folglich nicht nach dem gesetzlichen Regelfall Abfindung in Höhe des tatsächlichen Verkehrswerts verlangen. Insofern kann von einer Heilung der Nichtigkeit gesprochen werden. Allerdings führt die Heilung analog § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG nicht dazu, dass der Rechtsverstoß, der in der unwirksamen Abfindungsklausel zu sehen ist, endgültig legalisiert wird. Die Heilung bewirkt nicht, dass eine anfänglich nichtige Begrenzung der Abfindungshöhe durch Zeitablauf im Ergebnis einen sittenwidrig niedrigen Abfindungsanspruch zur Folge hat. 2. Die Heilung führt vielmehr nur dazu, dass die anfänglich nichtige Klausel in den Stand einer zwar wirksamen, jedoch der Ausübungskontrolle unterworfenen Abfindungsregelung gehoben wird. Wie bei nachträglicher Unwirksamkeit legt also das Gericht den Abfindungsanspruch in angemessener Höhe fest („Ausübungskontrolle“). Die Rechtsfolge von § 242 Abs. 2 Satz 1 AktG (analog) besteht darin, dass eine anfänglich nichtige, nachträglich geheilte Abfindungsklausel wie eine nachträglich unwirksame Abfindungsklausel behandelt wird. Sie ändert nichts daran, dass eine anfänglich unwirksame, jedoch geheilte Klausel mit den gleichen Argumenten angegriffen werden kann, wie eine anfänglich wirksame. 3. Den Problemen im Zusammenhang mit unwirksamen Abfindungsklauseln kann durch Heilungs-/Auffangregelungen in der Satzung begegnet werden. Dies gilt sowohl für anfängliche als auch nachträgliche Unwirksamkeit. 4. Gesellschafter einer GmbH haben gegen ihre Mitgesellschafter einen Anspruch auf Mitwirkung an einer Korrektur einer unwirksamen Abfindungsklausel. Dieser Anspruch folgt aus der Treuepflicht. Der Anspruch besteht gleichermaßen hinsichtlich anfänglich und nachträglich unwirksamer Abfindungsklauseln.

II. Der Abfindungsanspruch in der Insolvenz Statutarische Abfindungsklauseln gelten nach h.M. auch gegenüber dem Insolvenzverwalter.97 Nur eine Mindermeinung verneint dies,98 da eine Vorbelastung des Geschäftsanteils zu Lasten Dritter nicht anzuerkennen sei. Die Möglichkeit, haftungsfreie Vermögensmassen zu bilden, könne nicht hingenommen werden.99 96 Heckschen in FS Bergmann, 2018, S. 259 ff. 97 Bartholomäus, Der GmbH-Gesellschafter in der Insolvenz, 2009, S. 186 m.w.N.; Geißler, GmbHR 2006, 1173, 1178; Bergmann, ZInsO 2004, 225, 226. 98 Roth, ZGR 2000, 187, 215; Heuer, ZIP 1998, 405, 313; Bischoff, GmbHR 1984, 61, 69. 99 Roth, ZGR 2000, 187, 215.

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Die Abfindung des ausscheidenden GmbH-Gesellschafters

Abfindungsklauseln stellen nach richtiger Auffassung aber keine Gläubigerbenachteiligung dar. Die Gläubiger stehen nicht besser als der Gesellschafter, der im Falle eines anderweitigen Ausscheidens ebenfalls an die Abfindungsregeln gebunden wäre. Wegen einseitiger Benachteiligung der Gesellschaftsgläubiger sind Regelungen sittenwidrig, die die Abfindung nur bei Pfändung des Geschäftsanteils oder der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Gesellschafters beschränken, aber nicht oder nicht in demselben Maße für sonstige Fälle.100 Die Gläubiger müssen eine Beeinträchtigung nicht hinnehmen, wenn sie den Schuldner ohne die Pfändung bzw. Insolvenz nicht treffen würde und damit ausschließlich ihre Interessen tangiert.101 Die Interessen der GmbH an einer bestandsschützenden Regelung rechtfertigen die Bindung. Vor dem Hintergrund der Abschluss- und Ausübungskontrolle sind die Gläubiger des insolventen Gesellschafters hinreichend geschützt.

III. Aktuelle Rechtsprechung zur Abfindung 1. Nichtigkeit bei Verstoß gegen das Kapitalerhaltungsgebot Aus § 34 Abs. 3 GmbHG ergibt sich unmittelbar, dass bei der Einziehung der Grundsatz der Kapitalerhaltung (§ 30 GmbHG) zu beachten ist. Hieraus folgt, dass die dem Gesellschafter geschuldete Abfindung nur aus dem ungebundenen Gesellschaftsvermögen gezahlt werden, d.h. die Zahlung keine Unterbilanz begründen oder vertiefen darf.102 Der BGH103 hat an seiner strengen Rechtsprechung zur Nichtigkeit eines Einziehungsbeschlusses, der gegen §§ 34 Abs. 3 i.V.m. 30 GmbHG verstößt, mit Urteil vom 5.4.2011 festgehalten. Dies soll selbst dann gelten, wenn die Mitgliedschaftsstellung satzungsgemäß auch schon ohne Abfindungszahlung verloren gehen soll: 1. Fasst die Gesellschafterversammlung einer GmbH den Beschluss, einen Gesellschafter auszuschließen und seinen Gesellschaftsanteil einzuziehen, und ist die Einziehung wegen Verstoßes gegen § 34 Abs. 3, § 30 Abs. 1 GmbHG nichtig, so ist auch die Ausschließung nichtig. 2. Die Ausschließung ist in diesem Fall auch dann nichtig, wenn im Gesellschaftsvertrag vorgesehen ist, dass die Ausschließung mit Zugang des Ausschließungsbeschlusses wirksam werden soll. 100 BGH v. 19.6.2000 – II ZR 73/99, NZG 2000, 1027, 1028 = GmbHR 2000, 822; Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 34 Rz. 62, 65; Bacher/ Spieth, GmbHR 2003, 973, 974; Lange, NZG 2001, 635, 637, 639. 101 Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 34 Rz. 62; Kersting in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 30. 102 Rodewald/Eckert, GmbHR 2017, 330; Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2018, § 34 Rz. 31. 103 BGH v. 5.4.2011 − II ZR 263/08, NZG 2011, 786; ablehnend Schockenhoff, NZG 2012, 449.

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Heribert Heckschen

Zunächst bestätigte er die h.M., wonach der Einziehungsbeschluss analog § 241 Nr. 3 AktG nichtig ist, wenn bereits bei Beschlussfassung feststeht, dass das Einziehungsentgelt nicht aus freiem Vermögen der Gesellschaft gezahlt werden kann.104 Maßgeblicher Zeitpunkt, zu dem das erforderliche Vermögen vorhanden sein muss, ist (nach umstrittener Auffassung) der Zeitpunkt der Auszahlung.105 Die Ermittlung des vorhandenen Vermögens stützt sich dabei grds. auf die letzte ordentliche Jahresbilanz,106 genauer gesagt auf eine Bilanz zu fortgeführten Buchwerten auf den Einziehungsstichtag.107 Die Nichtigkeitsfolge analog §  241 Nr.  3 AktG soll selbst dann greifen, wenn die Abfindungszahlung als Wirksamkeitsvoraussetzung der Einziehung statutarisch abbedungen ist.108 Damit sei auch die Ausschließung des Gesellschafters nichtig. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Ausschließung nicht notwendig durch eine Einziehung des Geschäftsanteils vollzogen werden muss, sondern dass dafür auch eine Übertragung des Geschäftsanteils auf einen Mitgesellschafter oder einen Dritten in Betracht kommt. Die Gesellschafterversammlung hatte sich auf dieses Ausschlussverfahren festgelegt und damit auch daran gebunden, weshalb sie sich auch daran festhalten lassen müsse. Ausschließung und Einziehung teilen insoweit dasselbe Schicksal. Auch wenn im Gesellschaftsvertrag vorgesehen ist, dass die Ausschließung bereits mit Zugang des Ausschließungsbeschlusses erfolgt, gilt nichts anderes. Damit ist der Zusammenhang zwischen Ausschließung und Abfindung nämlich nicht aufgehoben. Mit einer solchen Regelung soll vielmehr nur erreicht werden, dass die Wirksamkeit der Ausschließung nicht hinausgeschoben wird, wenn sich die Abfindungszahlung verzögert, etwa, weil Streit über deren Höhe besteht oder weil die Abfindung satzungsgemäß zu einem späteren Zeitpunkt oder in Raten zu zahlen ist. Wenn dagegen schon bei Fassung des Ausschließungsbeschlusses feststeht, dass die Abfindung nicht gezahlt werden kann, betrifft das nicht den Schwebezustand bis zur Abfindungszahlung, sondern die Wirksamkeit der Ausschließung insgesamt. Nach dem BGH ist kein Grund ersichtlich, warum sich ein Gesellschafter einer Ausschließung unterwerfen soll, wenn feststeht, dass die geschuldete Abfindung nicht gezahlt werden kann. Trotz Aufgabe der Bedingungstheorie109 und der damit begründeten Haftung der Mitgesellschafter, die einen Verstoß gegen Kapitalerhaltungsgrundsätze in jedem Fall vermeidet, hat der BGH an der Nichtigkeit des Einziehungsbeschlusses festgehalten, wenn von vornherein feststeht, dass die Abfindung nicht aus freiem Vermögen gezahlt werden kann. Dies ist m.E. inkonsequent. Zum Schutz des Stammkapitals ist die Nichtigkeitsfolge jedenfalls nicht erforderlich, denn auch ein wirksamer Einzie104 BGH v. 24.1.2012 − II ZR 109/11, NZG 2012, 259 Rz. 7; BGH v. 5.4.2011 − II ZR 263/08, NJW 2011, 2294, 2295 Rz. 13. 105 BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, NJW 1953, 780, 782; Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 31a m.w.N. aus der Rspr. und zur Gegenansicht. 106 Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 34 Rz. 17; vgl. auch BGH v. 5.4.2011 − II ZR 263/08, NJW 2011, 2294, 2295 Rz. 15 f. 107 BGH v. 19.6.2000 – II ZR 73/99, NJW 2000, 2819, 2820. 108 Vgl. zur Ausschließung BGH v. 5.4.2011 − II ZR 263/08, NJW 2011, 2294, 2295 f. Rz. 21. 109 BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, BeckRS 2012, 04370.

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hungsbeschluss ließe keine Auszahlung entgegen § 34 Abs. 3, § 30 Abs. 1 GmbHG zu.110 Die Praxis kann diesen Konflikt durch entsprechende Gestaltung folgendermaßen vermeiden: 1. Der Einziehungsbeschluss sieht ausdrücklich vor, dass die Abfindung nur aus ungebundenem Vermögen gezahlt werden darf.111 2. Mitgesellschafter oder Dritte sollen (laut Beschluss) die Abfindung anstelle der Gesellschaft leisten und verzichten dabei „ohne Wenn und Aber“ auf einen Erstattungsanspruch gegen die Gesellschaft.112 3. Die Einziehung erfolgt unentgeltlich.113 Wird die Abfindung tatsächlich entgegen §  34 Abs.  3, §  30 Abs.  1 GmbHG geleistet,  stehen der Gesellschaft nach allgemeinen Grundsätzen die Ansprüche aus § 31 GmbHG zu.114 2. Einziehungsbeschluss einer Gesellschaft – Wirksamkeit der Einziehung vor Zahlung des Abfindungsentgelts Der BGH115 weist in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass die Einziehung mit der Bekanntgabe des Beschlusses an den betroffenen Gesellschafter wirksam wird. Dieser verliere damit auch sein Stimmrecht. Der Einziehungsbeschluss könne dann entsprechend § 241 Nr. 3 AktG nichtig sein, wenn bereits bei Beschlussfassung feststeht, dass das Einziehungsentgelt nicht aus freiem, die Stammkapitalziffer nicht beeinträchtigendem Vermögen der Gesellschaft gezahlt werden kann.116 Gebe es derartige Anhaltspunkte bei Beschlussfassung nicht und sei daher der Einziehungsbeschluss weder nichtig noch für nichtig erklärt (§ 241 Nr. 5 AktG), werde die Einziehung mit der Mitteilung des Beschlusses an den betroffenen Gesellschafter und nicht erst mit der Leistung der Abfindung wirksam. Der Gesellschafter, dessen Geschäftsanteil eingezogen wird, müsse allerdings davor geschützt werden, dass die verbleibenden Gesellschafter sich mit der Fortsetzung der Gesellschaft den wirtschaftlichen Wert des Anteils des ausgeschiedenen Gesellschafters aneignen und ihn aufgrund der gläubigerschützenden Kapitalerhaltungspflicht mit seinem Abfindungsanspruch leer ausgehen lassen. Dazu genüge es aber, wenn die 110 Vgl. Priester, ZIP 2012, 658; Schockenhoff, NZG 2012, 449, 452; Heidinger/Blath, GmbHR 2007, 1184, 1186. 111 Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 31 Rz. 31. 112 Vgl. OLG Hamm v. 11.1.1999 − 8 U 42/98, NZG 1999, 597, 598; Goette, DStR 2008, 2121. 113 Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 31a. 114 BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, NJW 1953, 780, 782; Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 31a. 115 BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, NZG 2012, 259. 116 BGH v. 5.4.2011 – II ZR 263/08, NZG 2011, 783 = ZIP 2011, 1104 Rz. 13; BGH v. 8.12.2008 – II ZR 263/07, NZG 2009, 221 = ZIP 2009, 314 Rz. 7; BGH v. 19.6.2000 – II ZR  73/99, BGHZ 144, 365, 369 f. = NZG 2000, 1027.

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Gesellschafter, die den Einziehungsbeschluss gefasst haben, dem ausgeschiedenen Gesellschafter anteilig haften, wenn sie nicht anderweitig dafür sorgen, dass die Abfindung aus dem ungebundenen Vermögen der Gesellschaft geleistet werden kann oder sie die Gesellschaft nicht auflösen. Den verbliebenen Gesellschaftern wächst anteilig der Wert des eingezogenen Geschäftsanteils zu. Sie müssten, wenn sie sich redlich verhalten und eine Unterdeckung nicht auf andere Art und Weise ausgleichen, etwa durch Auflösung von stillen Reserven oder eine Herabsetzung des Stammkapitals,117 grundsätzlich die Gesellschaft auflösen, um so die Gesellschaft in die Lage zu versetzen, den Abfindungsanspruch des ausgeschiedenen Gesellschafters soweit wie möglich zu erfüllen. Mit der Auflösung stellen sie den ausgeschiedenen Gesellschafter hinsichtlich seines Abfindungsanspruchs so, als sei er noch Gesellschafter. Sie verhalten sich treuwidrig, wenn sie sich dagegen mit der Fortsetzung der Gesellschaft den Wert des eingezogenen Geschäftsanteils auf Kosten des ausgeschiedenen Gesellschafters einverleiben, ihm aber eine Abfindung unter der berechtigten Berufung auf die Kapitalbindung der Gesellschaft verweigern. Wenn die Gesellschafter die Gesellschaft fortsetzen, anstatt sie aufzulösen, weil sie darin einen wirtschaftlichen Vorteil und einen Mehrwert für ihren Anteil erblicken, sei es nicht unbillig, sie zum Ausgleich für den Abfindungsanspruch persönlich haften zu lassen, wenn die Gesellschaft den Abfindungsanspruch wegen der Kapitalbindung nicht erfüllen darf. Eine bei Fassung des Einziehungsbeschlusses unabsehbare persönliche Haftung sei damit nicht verbunden. Die Gesellschafter können ihre persönliche Inanspruchnahme durch Ausgleich der Unterdeckung oder durch die Auflösung der Gesellschaft vermeiden. Der Abfindungsanspruch werde dadurch zwar nicht in voller Höhe gegen Veränderungen geschützt. Denn auch in der Liquidation sei der Abfindungsanspruch erst nach den Ansprüchen der übrigen Gesellschaftsgläubiger zu befriedigen (§ 73 GmbHG). Für die Wahrnehmung der Rechte gegen den Einziehungsbeschluss selbst ist von der weiteren Rechtsinhaberschaft auszugehen, um der verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutzmöglichkeit Geltung zu verschaffen.118 Zusammengefasst erfolgt die Absicherung des Abfindungsanspruchs im Falle der Einziehung nach Ansicht des BGH durch eine anteilige Haftung der Gesellschafter, denen der eingezogene Geschäftsanteil anteilig zufällt. Anfangs wurde das Urteil für etwas unklar gehalten hinsichtlich der Frage, ob nur die zustimmenden Gesellschafter oder alle Gesellschafter – also auch die, die nicht für den Antrag gestimmt haben oder gar nicht anwesend waren – haften.119 Die h.M. geht inzwischen davon aus, dass alle Gesellschafter eine pro ratarische persönliche Außenhaftung für die geschuldete Abfindung, die nicht aus freiem Vermögen der GmbH geleistet werden kann, trifft.120 117 Vgl. dazu BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 169 = NJW 1953, 780. 118 BGH v. 22.3.2011 – II ZR 229/09, BGHZ 189, 32 = NZG 2011, 669 Rz. 8. 119 Grunewald, GmbHR 2012, 769, 770. 120 Kort, DB 2016, 2098, 2101 f.; Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 77 mit Verweis auf Altmeppen und Goette: Altmeppen, ZIP 2012, 1685, 1694; Altmeppen, NJW 2013, 1025, 1030; s. schon Goette in FS Lutter, 2000, S. 399.

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3. Ausfallhaftung der Gesellschafter bei Einziehung von ­GmbH‑­ Geschäftsanteilen Der BGH entwickelt mit einer Entscheidung vom 10.5.2016121 die Details der Haftungslösung aus der Grundsatzentscheidung von 2012 fort.122 Die Beklagten seien nicht verpflichtet, die noch ausstehende Abfindungsrate an den Kläger zu zahlen. Der BGH stellte fest, dass die persönliche Haftung der Gesellschafter nach den Grundsätzen des Senatsurteils v. 24.1.2012 weder bereits mit der Fassung des Einziehungsbeschlusses noch allein aufgrund des Umstands entstünde, dass die Gesellschaft später zum Zeitpunkt der Fälligkeit gemäß § 34 Abs. 3, § 30 Abs. 1 GmbHG an der Zahlung der Abfindung gehindert sei oder sie unter Berufung auf dieses Hindernis verweigere. Die persönliche Haftung der Gesellschafter entstehe nämlich erst in dem Zeitpunkt, ab dem die Fortsetzung der Gesellschaft unter Verzicht auf Maßnahmen zur Befriedigung des Abfindungsanspruchs des ausgeschiedenen Gesellschafters als treuwidrig anzusehen sei. Sofern die Voraussetzungen für die Annahme eines treuwidrigen Verhaltens vorlägen, hafteten die Gesellschafter bei Annahme eines treuwidrigen Verhaltens auch dann, wenn die Einziehung mit Zustimmung des betroffenen Gesellschafters erfolgt sei. In beiden Fällen sei die Treuwidrigkeit des Verhaltens gegeben. Im zu entscheidenden Fall habe sich aber das grundsätzliche Risiko der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage realisiert. Dies habe der ausscheidende Gesellschafter selbst zu tragen. Das Berufungsgericht habe nichts dazu festgestellt, dass die Beklagten die Zahlung der letzten Rate durch die Gesellschaft in treuwidriger Weise vereitelt hätten, etwa durch treuwidriges Herbeiführen der Voraussetzungen der §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG oder der Insolvenzreife der Gesellschaft. Eine persönliche Haftung der verbleibenden Gesellschafter entstehe auch nicht allein aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dadurch werde die Gesellschaft vielmehr aufgelöst, so dass schon aus diesem Grund eine treuwidrige Fortsetzung der Gesellschaft durch die übrigen Gesellschafter ausscheide. In der Literatur wird diese Rechtsprechung unterschiedlich aufgenommen.123 Teilweise wird sie scharf kritisiert.124 Altmeppen spricht von der „Konzeptlosigkeit des II. Zivilsenats“.125

121 BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, NZG 2016, 742 = GWR 2016, 194 (Weitnauer); ausf. Schneider, ZIP 2016, 2141. 122 BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, ZIP 2012, 422. 123 Vgl. etwa Schirrmacher, GmbHR 2016, 1077; Altmeppen, ZIP 2016, 1557; Altmeppen, ZIP  2012, 1685; Blath, GmbHR 2012, 657; Lutter, EWiR 2012, 177; Priester, ZIP  2012, 658;  Rieder, GWR 2012, 106; S.  H. Schneider/Hoger, NJW 2013, 502; Schockenhoff, NZG 2012, 449. 124 Altmeppen, ZIP 2016, 1557; zuvor bereits Altmeppen, ZIP 2012, 1685. 125 Altmeppen, ZIP 2016, 1557.

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Nach Ansicht von Schneider weiche der BGH seine Haftungslösung in dem neuen Urteil nicht auf, sondern nehme die Gesellschafter streng in die Pflicht. Entweder müsse die Abfindung aus Mitteln der Gesellschaft gezahlt werden, oder die Gesellschafter müssten ohne Zögern die Notbremse zu ziehen. Damit dürfte die Ausfallhaftung – anders als teilweise befürchtet126 – eher die Regel werden. Die eng begrenzten Ausnahmen seien interessengerecht.127 4. Anwachsung eines Gesellschaftsanteils als ausgleichspflichtige Schenkung Die bei einer zweigliedrigen, vermögensverwaltenden Gesellschaft bürgerlichen Rechts für den Fall des Todes eines Gesellschafters vereinbarte Anwachsung seines Gesellschaftsanteils beim überlebenden Gesellschafter unter Ausschluss eines Abfindungsanspruchs kann nach Auffassung des IV. Zivilsenats des BGH128 eine Schenkung i.S.v. § 2325 Abs. 1 BGB sein. Die vereinbarte Anwachsung der Gesellschaftsanteile des Erblassers unter Ausschluss eines Abfindungsanspruchs im Fall seines Vorversterbens stellt nach Auffassung des BGH eine Schenkung des Erblassers an die Beklagte i.S.d. § 2325 Abs. 1 BGB dar. Die Beklagte sei durch die abfindungsfreie Anwachsung der Gesellschaftsanteile aus dem Vermögen des Erblassers bereichert. Dieser Erwerb habe nach dem Willen der Beteiligten nicht durch eine Gegenleistung der Beklagten ausgeglichen werden sollen. Der IV. Zivilsenat greift zunächst die bisherige Rechtsprechung des BGH zum allseitigen Abfindungsausschluss auf.129 Zwar sei der allseitige Abfindungsausschluss für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters für sich alleine genommen nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht als Schenkung gewertet worden.130 – Erstens sollen derartige Gestaltungen nach ihrem Sinn nicht dazu dienen, dem Nachfolger in den Gesellschaftsanteil etwas zuzuwenden, sondern sie sollen vorrangig gewährleisten, dass das Gesellschaftsunternehmen erhalten bleibt und dessen Fortführung nicht durch Abfindungsausschlüsse gefährdet wird. Es handele sich um eine gesellschaftsvertragliche Regelung der Mitgliedschaft zur Erhaltung eines gesellschaftlich gebundenen Zweckvermögens. – Weiterhin handelt es sich beim allseitigen Abfindungsausschluss nach der bisherigen Rechtsprechung nicht um eine Zuwendung an die Mitgesellschafter, sondern um ein zufallsabhängiges (aleatorisches) Geschäft.

126 Altmeppen, ZIP 2016, 1557, 1562; ähnliche Deutung des Urteils bei Wachter, NZG 2016, 961, 966: „sehr restriktive Ausgestaltung der Haftung“. 127 Schneider, ZIP 2016, 2141, 2145. 128 BGH v. 3.6.2020 – IV ZR 16/19, DStR 2020, 1582. 129 BGH v. 3.6.2020 – IV ZR 16/19, ZEV 2020, 421 Rz. 16 ff. m.V.a. die bisherige Rechtsprechung; siehe auch Hölscher, ZEV 2020, 422 f. 130 BGH v. 3.6.2020 – IV ZR 16/19, ZEV 2020, 421 Rz. 17 m.w.N.

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Dann stellt der Senat fest, dass die beschriebene Rechtsprechung jedoch genug Raum, in anderen Fallgestaltungen auch unter Berücksichtigung des Fortführungsinteresses aus der Sicht eines Unternehmens die schutzwürdigen Belange der Nachlassbeteiligten zu berücksichtigen – wie vorliegend eines Pflichtteilsberechtigten. Es sei zu prüfen, ob besondere Umstände vorliegen, die die Annahme einer in dem Abfindungsausschluss liegenden Schenkung rechtfertigen können. Der IV. Zivilsenat kommt für den vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass der Nachfolgeklausel mit Abfindungsausschluss keine gesellschaftsvertragliche Zwecksetzung zur Sicherung des Fortbestands des Gesellschaftsunternehmens zugrunde gelegen habe. Dies gelte unbeschadet des Umstands, dass es sich um eine Zweipersonengesellschaft handelte. Das Berufungsgericht war anderer Ansicht gewesen. Weiterhin lehnt der BGH im vorliegenden Fall das Bestehen eines aleatorischen (zufallsabhängigen) Geschäfts ab.131 Dieses zeichne sich dadurch aus, dass die Gesellschafter das Risiko, im Falle ihres Vorversterbens den Gesellschaftsanteil ohne Abfindungsanspruch ihrer Erben zu verlieren, eingehen, um als Gegenleistung die Chance auf einen abfindungsfreien Erwerb der Anteile ihrer Mitgesellschafter zu erlangen.132 Der Erblasser sei aber mit der Vereinbarung kein Verlustrisiko eingegangen, sondern die abfindungsfreie Übertragung der Gesellschaftsanteile habe gerade seiner Zielsetzung entsprochen. Bereits der Umstand, dass es sich bei der anderen Gesellschafterin um seine Ehefrau gehandelt habe, lege bereits den Willen des Erblassers nahe, die Gesellschaftsanteile der Beklagten zuzuwenden. Der Wille, erbrechtliche Ansprüche des Klägers auszuschließen, sei durch die Einsetzung der Beklagten als Alleinerbin bestätigt worden. Die Schenkung war nach Ansicht des BGH bereits durch Abschluss der gesellschaftsrechtlichen Vereinbarung i.S.v. § 2301 Abs. 2 BGB vollzogen – und damit der Formmangel des § 518 Abs. 2 BGB geheilt.133 Ein Geschäft unter Lebenden ist vollzogen, wenn der Erblasser zu Lebzeiten alles getan hat, was von seiner Seite zur Zuordnung des Gegenstands an den Begünstigten erforderlich ist und er seinen Zuwendungswillen in entsprechendem Umfang in die Tat umgesetzt hat. Dies ist bei gesellschaftsvertraglicher Vereinbarung einer Nachfolgeklausel unter Abfindungsausschluss der Fall. Der BGH bestätigt somit seine bisherige Rechtsprechung, wonach Anwachsungsklauseln mit Abfindungsausschluss grundsätzlich nicht als Schenkung gemäß § 2325 BGB zu qualifizieren sind. Für die Planung der Unternehmensnachfolge ist dies erfreulich, weil sie im Ausgangspunkt weiter auf die bestehenden Grundsätze zurückgreifen können. Der BGH konturiert jedoch auch, wann im Ausnahmefall eine Schenkung vorliegen kann und stößt hierdurch in die durch seine bisherige Rechtsprechung bereits vorgezeichnete Lücke (Prüfung „besonderer Umstände, die die Annahme einer in dem 131 BGH v. 3.6.2020 – IV ZR 16/19, ZEV 2020, 422 Rz. 24 f. 132 BGH v. 3.6.2020 – IV ZR 16/19, ZEV 2020, 422 Rz. 24; Hölscher, ErbR 2016, 422, 428. 133 BGH v. 3.6.2020 – IV ZR 16/19, ZEV 2020, 421 Rz. 27.

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Abfindungsausschluss liegenden Schenkung rechtfertigen könnten“). Es bleibt jedoch genügend Raum für Gestaltungen, in denen auch nach der aktuellen Entscheidung kein Wille zu einer unentgeltlichen Zuwendung des Erblassers zu bejahen sein wird. Vorsicht ist künftig freilich geboten bei rein Vermögensverwaltenden Gesellschaften ohne Unternehmensbetrieb, wie diejenige im vorliegenden Fall. Der BGH konnte (leider) offenlassen, ob auch ein übernommenes Haftungsrisiko allein geeignet ist, eine Entgeltlichkeit zu begründen. 5. Rechtsprechung zu Mitarbeitermodellen/Managermodellen a) Rückzahlung einer stillen Einlage als Kündigungserschwerung Aus Sicht des LAG Rheinland-Pfalz134 benachteiligt eine Klausel, wonach ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis vor Vollendung des 63. Lebensjahres ordentlich kündigt, als Abfindung den Nominalbetrag seiner Einlage, zuzüglich einer Verzinsung von 2 Prozent über dem Basiszinssatz, aber abzüglich der bis dahin erhaltenen Gewinnanteile erhält, den Arbeitnehmer unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB. Das LAG Rheinland-Pfalz wies die dagegen gerichtete Berufung des beklagten Arbeitgebers zurück. Die vielfach verwandte Abfindungsklausel benachteiligt die Arbeitnehmer unangemessen i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, da sie – wie bereits zuvor das ArbG Koblenz festgestellt hat – gegen das gesetzliche Leitbild von § 622 Abs. 6 BGB und § 723 Abs. 3 BGB verstößt. § 622 Abs. 6 BGB verbietet vertragliche Absprachen, die eine ungleiche Kündigungslage zum Nachteil des Arbeitnehmers schaffen. Die Freiheit zu entscheiden, das Arbeitsverhältnis zu beenden und sich einer neuen Tätigkeit zuzuwenden, soll insbesondere dadurch geschützt werden, dass der Arbeitnehmer für den Fall der Eigenkündigung keine einseitigen Vermögensnachteile zu befürchten braucht. Daneben steht auch § 723 Abs. 3 BGB einer Regelung entgegen, die an die Kündigung derart schwerwiegende Nachteile knüpft, die einen Gesellschafter vernünftigerweise dazu veranlassen können, von dem ihm formal zustehenden Kündigungsrecht keinen Gebrauch zu machen. Das ist bei Klauseln der Fall, die den dem Gesellschafter grundsätzlich zustehenden Abfindungsanspruch unzumutbar beschränken. Das LAG sah dies als gegeben an. Mit der Eigenkündigung des Arbeitnehmers nach Erhalt einer Gewinnausschüttung werden ihm entweder die Gewinnausschüttungen bis zum Nominalbetrag seiner Einlage abgezogen oder der Abfindungsbetrag – nach mehreren Gewinnausschüttungen – um die geleistete Einlage geschmälert. Entgegen § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ist dieser erhebliche Nachteil weder durch einen gleichwertigen Vorteil ausgeglichen noch durch ein begründetes und billigenswertes Interesse des Arbeitgebers gerechtfertigt. Insbesondere rechtfertigt ein hohes Ge134 LAG Rheinland-Pfalz v. 21.8.2014 – 5 Sa 110/14, ArbuR 2014, 435.

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winnpotential keinen Verzicht auf Gewinnausschüttungen. Es verhält sich umgekehrt vielmehr so, dass mit höherer Einlage und höheren Gewinnausschüttungen der Druck auf den stillen Gesellschafter steigt, das Arbeitsverhältnis nicht vor dem 63. Lebensjahr durch ordentliche Kündigung zu beenden. Nach Auffassung des LAG ist es nicht gerechtfertigt, den Gewinn eines Arbeitnehmers, der sich finanziell am Unternehmen beteiligt hat, bei seinem Ausscheiden bis zur Höhe der geleisteten Einlage zu schmälern. Im Übrigen kann aus Sicht des LAG eine Bindungsdauer bis zum 63.  Lebensjahr grundsätzlich nicht durch ein billigenswertes Interesse des Arbeitgebers gerech­ tfertigt werden. Zwar geht sein Interesse berechtigterweise regelmäßig dahin, seine Mitarbeiter stärker und möglichst langfristig an das Unternehmen zu binden. Einen Bleibedruck bis zum 63. Lebensjahr rechtfertigt dies jedoch nicht. Das Urteil ist rechtskräftig. Die Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BAG wurde zurückgenommen. Das LAG Rheinland- Pfalz135 legte Wert auf die Feststellung, dass es sich mit seiner Entscheidung nicht in Widerspruch zu dieser Rechtsprechung des BGH setzt. Denn zu entscheiden hatte es allein die Frage, inwieweit eine Kürzung der erhaltenen Gewinnausschüttungen um den Einlagebetrag zulässig ist, was der BGH seinerseits offenließ. Im Rahmen der Vertrags- und Satzungsgestaltung wird deshalb künftig zu erörtern sein, ob für den Beginn des Arbeitsverhältnisses bzw. der gesellschaftsrechtlichen Verbundenheit zwischen Arbeitnehmer und -geber das Gewinnbezugsrecht des Arbeitnehmers auszuschließen ist. Generell unzulässig ist es aber, die Abfindungsbeschränkung an ein konkretes Alter zu knüpfen. b) Nichtigkeit satzungsmäßiger Klauseln zum Ausschluss von GmbH‑Gesellschaftern ohne sachlichen Grund In einer aktuellen Entscheidung stellte das OLG München136 fest, dass eine Gesellschaftervereinbarung, die den zu 25 % beteiligten Gesellschaftergeschäftsführer zur Rückübertragung seiner zuvor erworbenen Beteiligung verpflichtet, inhaltlich sittenwidrig und nichtig ist. Das LG sei auf Grundlage der Rechtsprechung des BGH zum sogenannten Managermodell zu Recht davon ausgegangen, dass das Ankaufsrecht der Beklagten nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und damit nichtig sei. Es sei in dieser Sachverhaltskonstellation darauf abzustellen gewesen, dass es dem Kläger auf Grund des von ihm gehaltenen 25-%igen Anteils und der Vielzahl der übrigen Gesellschafter nicht faktisch unmöglich gewesen sei, in der Gesellschafterversammlung seinen Willen durchzusetzen, und dass der Kl. gleichzeitig mit seiner Beteiligung das erhebliche wirtschaftliche Ri135 LAG Rheinland-Pfalz v. 21.8.2014 – 5 Sa 110/14, ArbuR 2014, 435. 136 OLG München v. 13.5.2020 – 7 U 1844/19 (rkr.), NZG 2020, 903; NJW-Spezial 2020, 433.

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siko der Bereitstellung zusätzlicher Mittel eingegangen sei. Die Beteiligung des Klägers an der Beklagten könne damit nicht nur als Annex zu seiner Stellung als Geschäftsführer gewertet werden. Dies verlange der BGH aber für ein wirksames Managermodell. Das LG habe, entgegen der Auffassung der Beklagten, auch zutreffend die Nichtigkeit des Verfügungsgeschäfts festgestellt. Nr. 1.1 der Gesellschaftervereinbarung enthalte ausdrücklich auch das Angebot des Klägers, „seine Beteiligung (…) abzutreten“ und damit nicht nur ein Angebot zur Vornahme eines Verpflichtungsgeschäfts, sondern gleichzeitig auch das Angebot auf Vornahme des Verfügungsgeschäfts. Die Sittenwidrigkeit erstrecke sich schon deshalb auch auf das Verfügungsgeschäft. c) Wirksamkeit der Rückübertragung des Gesellschaftsanteils für den Fall des Verlusts der Organstellung (sog. Managermodell) in einer ­Familiengesellschaft bei Anteilserwerb zum Verkehrswert Eine weitere aktuelle Entscheidung zum Managermodell traf das LG Stuttgart.137 Hier hatte der Manager entgeltlich eine 10-%ige Beteiligung erworben und für den Fall der Aufhebung des Anstellungsvertrags den Anteil aufschiebend bedingt zurückübertragen. Die Rückerwerbsoptionen der Managerbeteiligungsvereinbarungen sind nach Auffassung des Gerichts wirksam vereinbart, insbesondere nicht nach § 138 BGB nichtig. Die Klägerin und der N hätten sich das Recht vorbehalten, sich durch Ausübung ihres Optionsrechts den Beklagten als Gesellschafter „loszuwerden“, sobald er nicht mehr Geschäftsführer der Komplementärin der S-GmbH & Co. KG sei, der Anstellungsvertrag durch eine Partei – gleich aus welchem Grund – gekündigt worden oder auf sonstige Weise geendet habe. Dies bedeute eine „freie“ Hinauskündigungsmöglichkeit, sofern der Rückerwerb nur von der Abberufung als Geschäftsführer abhänge. Eine solche Hinauskündigungsklausel könne wirksam sein, wenn sie wegen besonderer Umstände sachlich gerechtfertigt sei. Insbesondere habe der BGH in der sog. „Managermodell“-Entscheidung eine Hi­ nauskündigungsklausel als sachlich gerechtfertigt angesehen.138 Das LG Stuttgart sieht die vorliegende Rückkauf- und -abtretungsvereinbarung der Parteien als eine ausnahmsweise als wirksam anzusehende Hinauskündigungsklausel. Es sei dabei nicht entscheidend, ob der hier vorliegende Sachverhalt dem der „Managermodell“-Entscheidung vollständig vergleichbar sei. Es komme auf die Prüfung der hier vorliegenden konkreten Umstände des Einzelfalles unter Abwägung der Interessen der betroffenen Gesellschafter an. 137 LG Stuttgart v. 10.10.2018 – 40 O 26/18 KfH, GmbHR 2019, 116. 138 Vgl. nur BGH v. 19.9.2005 – II ZR 173/04, GmbHR 2005, 1558 m. Komm. Hinderer/Sinewe.

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Es wird dazu ausgeführt, dass die anwaltlich beratenen Parteien sich bei der Abfassung der entsprechenden Regelungen ersichtlich von der Managermodell-Entscheidung des BGH haben leiten lassen und ausweislich der in der Präambel, Ziff. I (3), der Managerbeteiligungsvereinbarungen genannten Beweggründe ausdrücklich die Ziele erreichen wollten, die auch der BGH als sachliche Gründe für die ausnahmsweise Zulässigkeit einer „Managerklausel“ genannt hat. Anders als in der „Managermodell“-Entscheidung habe der Beklagte die Kommanditanteile nicht wie dort zum Nennwert, sondern zum Verkehrswert erworben. Er sei damit einerseits in Art einer Tantieme (zusätzlich zur Tantiemeregelung im Dienstvertrag) am Gewinn der Gesellschaft beteiligt worden, was so gewollt gewesen sei. Andererseits habe der Beklagte aber nach der Textfassung auch ein erhebliches wirtschaftliches Risiko getragen, da er hiermit zwangsläufig auch am unternehmerischen Verlust der Gesellschaft beteiligt gewesen sei. Damit habe er die Gesellschaftsanteile auch nicht nur treuhänderisch gehalten. Die Übernahme eines wirtschaftlichen Risikos ergebe aber keine Sittenwidrigkeit der Hinauskündigungsklausel, auch wenn in der Rezeption der Entscheidung des BGH oft auf den fehlenden Kapitaleinsatz abgestellt werde. Der BGH begründe die Sittenwidrigkeit dogmatisch aber damit („tragende Erwägung“), dass die freie Ausschließungsmöglichkeit eines betroffenen Gesellschafters von diesem als Disziplinierungsmittel empfunden werden könne, was ihn daran hindere, von seinen Mitgliedschaftsrechten nach eigener Entscheidung Gebrauch zu machen und seine Mitgliedschaftspflichten zu erfüllen („Damokles-Schwert-Argument“). Dies bedeute eine unzulässige Beschränkung seiner Gesellschafterstellung. Die (unternehmerische) Beteiligung eines Gesellschafters an Gewinn und Verlust der Gesellschaft sei demgegenüber die typische Folge der Beteiligung an einer Gesellschaft. Im zu entscheidenden Fall sei das Druckmittel die drohende Abberufung als Geschäftsführer und/oder Kündigung des Anstellungsvertrags, die ohnehin ohne besondere sachliche Rechtfertigung jederzeit möglich sei. Auch aus der Höhe der vereinbarten Beteiligung des Beklagten ergebe sich keine Sittenwidrigkeit. Auch der Vortrag des Beklagten, es sei auf Gesellschaftsseite aufgrund der Vertragsgestaltung möglich, den Kaufpreis für den Zurückerwerb der Anteile treuwidrig zu beeinflussen, nämlich indem ihm die Gesellschaftsanteile gerade dann entzogen würden, wenn deren Verkehrswert niedrig sei, kann die Klausel nicht als sittenwidrig erscheinen lassen. Nach § 162 Abs. 2 BGB unterläge die Ausübung der Option einer Billigkeitskontrolle, die dem Beklagten Schutz gewährt hätte. Die Einschätzung der Hinauskündigungsklausel werde auch nicht dadurch beeinflusst, dass der Beklagte geltend mache, die negative Bewertung seiner Geschäftsführertätigkeit durch die Klägerin sei unzutreffend. Eine sachliche Rechtfertigung sei bei Abberufung und Kündigung nicht notwendig. Jedenfalls müsse es aber im Zusammenhang mit der Frage, ob diese im Hinblick auf die vereinbarte Rückerwerbsoption treuwidrig vorgenommen worden sein, genügen, dass seitens der Klägerin Unzufrie127

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denheit mit der Geschäftsführung durch den Beklagten bestanden hätten, was schon aus dem Vortrag des Beklagten hervorgehe. Damit sei bereits danach – ohne dass es auf die Einzelheiten der unterschiedlichen Bewertung der Geschäftsführertätigkeit des Beklagte durch die Parteien ankomme – belegt, dass die Beendigung der Tätigkeit des Beklagten für die Unternehmensgruppe nicht ohne jegliche sachliche Grundlage erfolgte. Nachdem der Beklagte nach obigen Ausführungen nicht mehr Gesellschafter der S- GmbH & Co. KG sei, habe die Klägerin nach § 143 Abs. 1, 2, § 108 HGB Anspruch auf Mitwirkung des Beklagten bei der Anmeldung seines Ausscheidens zum Handelsregister.  In der Literatur wird diese Entscheidung als erfreuliche Präzisierung der Voraussetzungen für die Vereinbarung eines sog. „Managermodells“ und zugleich als Grundlage betrachtet, wirtschaftlich sinnvolle „Managermodelle“ auch über Konzerne und Vor-Ort-Gesellschaften hinaus in Familiengesellschaften anzuwenden.139 Gerade in Familienunternehmen ist ein solches Modell entscheidend, wenn bei anstehenden Unternehmensnachfolgen erstmals familienfremde Geschäftsführer die operative Leitung übernehmen. In vielen mittelständischen Familienunternehmen stehen in den nächsten Jahren Generationenwechsel an. Doch in einer Vielzahl der Unternehmen werden dies nicht mehr die eigenen Kinder sein. 6. Neue Rechtslage in Österreich zu Aufgriffsrechten in der Insolvenz Mit Generalversammlungsbeschluss vom 8.  Mai 2019 wurde Punkt X. des Gesellschaftsvertrages der S.  GmbH neu gefasst und diverse Aufgriffsrechte des Gesellschafters M S festgelegt. Unter anderem soll dieser ein Aufgriffsrecht (Übertragungsrecht) haben bei Insolvenz anderer Gesellschafter. Der Aufgriffspreis soll dann nach dem Wiener Verfahren ermittelt und um 50 % reduziert werden. Der gleiche Aufgriffspreis gilt auch für andere Aufgriffstatbestände; teilweise ist hier jedoch kein Abschlag von 50 % vorgesehen. Das Erstgericht hielt diese Regelung über den Aufgriffspreis für sittenwidrig, weil die Gläubiger im Insolvenzfall der Gesellschafter nur 50 % des ermittelten Wertes erhalten sollen. Das OLG Linz140 wies den Rekurs (die Beschwerde) ab. Aufgrund sittenwidriger Gläubigergefährdung (§ 879 ABGB) habe das Erstgericht das Eintragungsbegehren zu Recht abgewiesen. Die Eröffnung des Konkurses über den Gesellschafter habe zur Folge, dass der Geschäftsanteil des Gesellschafters gemäß § 1 IO als Exekutionsobjekt in die Insolvenzmasse falle. Die mit dem Geschäftsanteil verbundene Rechtsausübung stehe dann 139 So Höfer, GmbHR 2019, 116, 122. 140 OLG Linz v. 27.8.2019 – 6 R 95/19m, GES 2020, 20.

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Die Abfindung des ausscheidenden GmbH-Gesellschafters

dem Insolvenzverwalter zu. Eine Immunisierung des Geschäftsanteils gegenüber dem Zugriff der Gläubiger gebe es in der Insolvenz des Gesellschafters nicht. Diesem Schutz der Gläubiger diene § 26 Abs. 3 IO. Demnach bleibe der Masseverwalter zur Ausübung seiner Rechte befugt. Ob die Abfindungsklausel auch andere Fälle neben der Insolvenz erfasse, sei hierfür nicht relevant. Dies habe das OLG Linz schon einmal dergestalt entschieden. Es gebe keinen Anlass, von dieser zweitinstanzlichen Judikatur abzuweichen, zumal der OGH141 eine damit konform gehende Entscheidung des OLG Wien, wonach ein in einem GmbH-Gesellschaftsvertrag verankertes Übertragungsgebot nicht für den Masseverwalter im Gesellschafterkonkurs gelten, für nicht offenbar gesetzwidrig im Sinne des § 16 AußStrG (alte Fassung) gehalten habe und auch die Literatur dieses vertrete. Darüber hinaus habe der OGH142 die Bestimmung des § 26 Abs 3 KO auf Kaufoptionen angewendet. In ihren wirtschaftlichen Auswirkungen sei eine Kaufoption mit dem Aufgriffsrecht zu vergleichen. Die hier vorgesehene Reduktion des Aufgriffspreises auf 50 % stelle noch ein zusätzliches Argument für eine Gläubigergefährdung dar. Dass der auf 50  % reduzierte Aufgriffspreis auch für andere Fälle gelten solle, helfe den Gläubigern nicht. Die im Streitfall vorliegende Konstellation sei nicht mit dem Thema der langfristigen Planbarkeit im Sinne eines Mitarbeiterbeteiligungsmodells zu vergleichen. Aus § 76 Abs. 4 GmbHG ergebe sich die Wertung des Gesetzgebers, dass die Gläubigerbefriedigung den Interessen der Gesellschaft vorgehe und die Gläubiger jedenfalls den Schätzwert des Anteils erhalten sollen. Die Insolvenz eines Gesellschafters sei darüber hinaus bei der GmbH für die Gesellschaft weniger nachteilig als bei einer Personengesellschaft, weil die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft nicht in gleichem Ausmaß von jener der Gesellschafter abhänge. 7. § 44 StaRUG Im sog. StaRUG-E143, das die Vorgaben der Richtlinie (EU) 2019/2013 (Restruktu­ rierungsrichtlinie) – dort Art. 7 Abs. 5 – umsetzt, ist ein Verbot für sog. Lösungsklauseln enthalten. Diese Vorschrift setzt allerdings nur das fort, was bisher nach §  119 InsO für die Insolvenz gilt.144 Eine weitergehende Beschränkung für Abfindungsausschlussbeschränkungen für den Fall der Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens ergibt sich daraus nicht.

141 OGH Wien v. 20.2.1980 – 6 Ob 21/79, NZ 1981, 8. 142 OGH Wien v. 11.3.1993 − 8 Ob 4/92, ecolex 1993, 382. 143 Ausf. dazu Heckschen/Weitbrecht, NZI 2020, 976. 144 Vgl. dazu zuletzt BGH v. 15.11.2012 − IX ZR 169/11, NZI 2013, 178; BGH v. 7.4.2016 – VII ZR 56/15, NZI 2016, 532; BGH v. 12.10.2017 – IX ZR 288/14, NZI 2018, 22; Heckschen/Weitbrecht in Beck´sches Notarhandbuch, 7. Aufl. 2019, § 22 Rz. 718 ff.; s. auch Reul in Reul/Heckschen/Wienberg, Insolvenzrecht in der Vertragsgestaltung, 2. Aufl. 2018, § 2 Rz. 202 ff.

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Heribert Heckschen

IV. Abfindung bei Ausscheiden §  728  BGB-E des sog. Mauracher Entwurfs145 enthält eine ausdrückliche Regelung zum Abfindungsanspruch bei Ausscheiden. Aus der Begründung wird deutlich, dass die Entwurfsverfasser davon ausgehen, dass eine geltungserhaltende Reduktion unwirksamer Abfindungsklauseln nur dann möglich sein soll, wenn die Abfindung nicht von Anfang an unwirksam war. Den Vorschlägen des 71. Deutschen Juristentages wird insoweit ausdrücklich nicht gefolgt.146 Dies ist kritisch zu bewerten. Es ist derzeit sehr schwer bestimmbar, wann eine Abfindungsregelung von Anfang an unwirksam ist. Feste Prozentsätze, die indizieren oder gar eindeutig belegen würden, dass, wenn ein bestimmter Prozentsatz des Verkehrswertes nicht erreicht wird, die Abfindung unwirksam ist, existieren nicht. Die Begründung verweist darauf, dass man hier die Gesellschafter zum vorsichtigen Umgang mit Abfindungsbeschränkungen anhalten will.147 Die Gesellschafter sind sich aber häufig darüber einig, dass die Gesellschaft nicht in der Lage sein wird, bestimmte Abfindungslasten zu tragen. Der massive Eingriff in die Vertragsfreiheit ist angesichts der unklaren Rechtslage unbefriedigend. Die Nichtigkeit und ihre Rechtsfolge, die von der Rechtsprechung angeordnete stete Fälligkeit dann des vollen Verkehrswerts, ist nach hier vertretener Auffassung angesichts der unklaren Ausgangslage eine unangemessene Sanktion. Es müsste den Gesellschaftern jedenfalls vorbehalten bleiben, durch eine geltungserhaltende Auffangklausel auch derartigen Nichtigkeitsfolgen zu begegnen.

145 S. ausf. zum Mauracher Entwurf Heckschen, NZG 2020, 761. 146 BMJV, Mauracher Entwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts, Begründung S. 124–125. 147 BMJV, Mauracher Entwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts, Begründung S. 124.

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Die Folgen der Erbschaftsteuer für Familienunternehmen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Historische Entwicklung 1. Einführung der Erbschaftsteuer a) Gesetzeszweck b) Steueraufkommen 2. Verfassungsrechtliche Einordnung I II. Situation in Familienunternehmen 1. Unternehmensnachfolge a) Mehrere Nachfolger b) Vermögenserhalt c) Unternehmenserhalt 2. Vermögensdiversifizierung

IV. Die Auswirkungen der Erbschaftsteuer auf Unternehmensvermögen 1. Die Regelungen der Erbschaftsteuer für Unternehmensvermögen a) Bewertung b) Verschonung c) Folgen bei Verstößen 2. Die Folgen in der Praxis a) Existenzgefährdung von Unternehmen b) Aufschiebung von Vermögensübertragungen 3. Vorteil für kapitalmarktorientierte ­Unternehmen und Finanzinvestoren V. Fazit

I. Einleitung Ich habe Herrn Prof. Dr. Aderhold im Jahre 2007 kennenlernen und seitdem bei zahlreichen Gelegenheiten mit ihm zusammenarbeiten dürfen. Ich selbst komme als Di­ plom-Finanzwirtin (FH) und Steuerberaterin von der Seite des Steuerrechts und habe in den vielen Jahren der Zusammenarbeit häufig die Kombination von Gesellschaftsrecht und Steuerrecht erlebt und die Folgen von Gesellschafts- und Steuerrecht für Familienunternehmen beobachtet. Es gibt unzählige steuerliche Konstellationen, die insbesondere auf Familienunternehmen gravierende – und teils lähmende – Folgen haben. Dabei liegen Fallstricke und teilweise unüberwindbare Hindernisse in allen Steuerarten von der Grunderwerbsteuer über Einkommensteuer und Körperschaftsteuer bis zur Erbschaft- und Schenkungsteuer. Heerscharen von Beratern haben sich darauf spezialisiert, Konzepte zur Umgehung bzw. Ausnutzung von bestimmten steuerlichen Regelungen zu entwickeln und zu beraten. Gerade die deutschen Familienunternehmer stehen aber häufig im Spannungsfeld zwischen unternehmerisch sinnvoller Ausrichtung ihrer Unternehmen und steuerlichen Folgen. Sowohl die gesetzlich vorgesehenen Erleichterungsmöglichkeiten als auch die von Beratern entwickelten Umgehungsmodelle sind für Familienunternehmer in aller Regel nicht praktikabel. Dabei möchte ich gar nicht propagieren, dass Steuerspar- oder Steuerumgehungsmodelle nutzbar sein sollten. Fakt ist aber, dass diese Modelle in der Regel von personenunabhängigen Konzernen genutzt werden (können) und für diese auch überwiegend entwickelt werden. Bei einem familiengeführten Unternehmen oder einer familiengeführten Unterneh131

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mensgruppe stehen die einengenden Folgen  – sowie die rechtliche Unsicherheit  – ­einer komplexen Steuergestaltung in aller Regel diametral entgegengesetzt zu den unternehmerischen Bedürfnissen. Bei kapitalmarktorientierten Besitzverhältnissen rücken diese Erwägungen in den Hintergrund, weil gerade kein identifizierbarer Eigentümer mehr hinter den Unternehmen steht, sondern sämtliche Vorteile von Steuergestaltungen aber auch deren Nachteile über den Kapitalmarkt sozialisiert werden. Die Erbschaft-/ Schenkungsteuer hat eine lange Historie und führt wie kaum eine andere Steuer eine verfassungsrechtlich umstrittene Existenz. Darüber hinaus führt sie in ihren Ausgestaltungen zu zweifelhaften Entscheidungsanreizen bzw. zu dem Gegenteil ihrer eigentlichen Zielsetzung. Dies soll im Folgenden näher betrachtet werden.

II. Historische Entwicklung 1. Einführung der Erbschaftsteuer Den Gedanken der Erbschaftsteuer gibt es seit der Antike, auch wenn sie in der Spätantike zurücktrat und erst im späteren Mittelalter in einigen italienischen Stadtstaaten wieder erhoben wurde.1 Sie gilt damit als die älteste bekannte Steuer. Ein einheitliches deutsches Reichs- (später Bundes-)Erbschaftsteuerrecht wurde im Jahre 1906 eingeführt. Motivation zur Einführung der Erbschaftsteuer war der zunehmende staatliche Finanzbedarf. Das erste einheitliche Erbschaftsteuerrecht war stark vom preußischen Erbschaftsteuergesetz geprägt, dessen Grundzüge man noch bis heute im Erbschaftsteuerrecht erkennen kann. So hat sich die Grundsystematik, dass es sich um eine Erbanfallsteuer handelt, die Steuersätze und Freibeträge sich nach dem Verwandtschaftsgrad zum Erblasser richten, sowie dass die Steuer sich nach dem Wert des Vermögens richtet, gehalten. Ebenso gab es bereits im damaligen Recht bestimmte Verschonungsregelungen (z.B. für landwirtschaftlichen Grundbesitz). a) Gesetzeszweck Die Erbschaftsteuer dient in der Beurteilung der historischen Entwicklung sowohl erkennbar der Einnahmegewinnung als auch der politisch gewollten Verschonung bestimmter Erwerbsvorgänge bzw. Vermögensarten. So wurde die Erbschaftsteuer in einem Großteil der europäischen Länder eingeführt, als der Finanzmittelbedarf der Staaten durch kriegerische Auseinandersetzung stieg. Als zusätzliche Begründungen für eine Erbschaftsteuer werden häufig angeführt, dass – der Staat erst den Rahmen zur Bildung von Vermögen schafft und dafür auch eine Erbschaftsteuer verlangt werden kann (Äquivalenzgedanke); 1 Hannes/Holtz in Meincke/Hannes/Holtz, ErbstG, 17. Aufl. 2018, Einführung Rz. 15.

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Die Folgen der Erbschaftsteuer für Familienunternehmen

– ungleiche Vermögensentwicklungen und die Schere zwischen Arm und Reich ausgeglichen werden müssten und dafür eine Erbschaftsteuer notwendig sei (Restributions- und Umverteilungsgedanke); – die Erbschaftsteuer im Ergebnis eine Ertragsteuer sei, weil sie den Zuwachs der Leistungsfähigkeit bei dem Erwerber sachgerecht besteuern müsse (Leistungsfähigkeitsgedanke und Gleichbehandlungsgedanke); – die Erhebung der ErbSt durch die Verfassung geboten sein soll.2 Die jeweiligen Ausnahmen von der Besteuerung sind über die Jahre der Rechtsentwicklung grundsätzlich dem Prinzip gefolgt, Übertragungen in der eigenen Familie, insb. an eigene Abkömmlinge, sowie bestimmter Vermögensarten zu begünstigen. Dabei sind im wesentlichen Betriebsvermögen in Form von Einzelbetrieben, Gesellschaftsbeteiligungen und land- und forstwirtschaftlichen Betrieben begünstigt. Darüber hinaus gibt es für bestimmte Angehörige Freibeträge, um ein gewisses Basisvermögen steuerfrei vererben zu können. Eine Begünstigung von Unternehmensvermögen wird dabei für geboten gehalten, um Arbeitsplätze und den Fortbestand der Unternehmen zu sichern. Dazu ist in der Begründung des Entwurfes eines Gesetzes zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu finden: „Die deutsche Unternehmenslandschaft, insbesondere charakterisiert durch einen breiten Mittelstand, steht für eine bestimmte Unternehmenskultur. Die Unternehmen sind teils in dünn besiedelten Regionen gewachsen, stärken dort die Wirtschaft entscheidend und wirken einer Abwanderung aus diesen Gebieten entgegen. Traditionelle Unternehmen werden vielfach seit Generationen fortgeführt und sichern über Jahrzehnte zahlreiche Arbeitsplätze.“3

b) Steueraufkommen Das Steueraufkommen aus der Erbschaftsteuer lag 2019 bei rund sieben Mrd. Euro und repräsentierte damit 0,95% des Gesamtsteueraufkommens ohne Gemeindesteuern. Dies entspricht dem Durchschnitt der letzten Jahre. Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass die Grunderwerbsteuer als ebenfalls relativ kleine Steuer mit Blick auf das Steueraufkommen mit knapp 2% des Gesamtsteueraufkommens schon das doppelte Aufkommen der Erbschaftsteuer ausmacht – und das nebenbei bemerkt bei weitaus geringerem Verwaltungsaufwand. 2. Verfassungsrechtliche Einordnung Verfassungsrechtlich fällt die Einordnung der Erbschaftsteuer nicht ganz leicht. Das BVerfG betont in ständiger Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber im Bereich des 2 V. Weidenfels, Der Gleichheitssatz im Erbschafts- und Schenkungsteuerrecht, 2008, 93 ff.; Hannes/Holtz in Meincke/Hannes/Holtz, ErbStG, 17. Aufl. 2018, Einführung Rz. 2. 3 BT-Drucks. 18/5923, 7.9.2015, 1.

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Steuerrechts einen weitreichenden Entscheidungsspielraum hat, der sowohl die Wahl des Steuergegenstandes als auch die Bestimmung des Steuersatzes betrifft.4 Bei der Erbschaftsteuer sind neben den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen, der Ausrichtung der Besteuerung an der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit weitere verfassungsrechtliche Gebote zu beachten. Über allem steht immer das Gleichheitsgebot des Art.  3 GG. Das ist der Ausgestaltung der Erbschaftsteuer bereits mehrfach zum Verhängnis geworden. Bereits 1995 hat das BVerfG entschieden, dass die Besteuerung des Grundbesitzes für Zwecke der Erbschaftsteuer auf Grundlage der zum 1. Januar 1964 festgestellten Einheitswerte nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, da Kapitalvermögen auf der Grundlage von Gegenwartswerten besteuert wurde.5 In der Folge hat das BVerfG auch in seiner Entscheidung im Jahr 2006 betont, dass die gleichmäßige Besteuerung des Steuerpflichtigen verlangt, auf Bemessungsgrundlagen zurückzugreifen, die die Werte der anfallenden Vermögenspositionen in ihrer Relation realitätsgerecht – und zwar mit dem gemeinen Wert als maßgeblichem Bewertungsziel – bewerten.6 Zuletzt hat das BVerfG in seinem Urteil vom 17. Dezember 2014 entschieden, dass die Verschonungsregelungen nach den §§ 13a und 13b ErbStG angesichts ihres Übermaßes gegen Art.  3 Abs.  1 GG verstoßen und dem Gesetzgeber eine Frist für eine Neuregelung gesetzt.7 Darüber hinaus ist aber auch Art. 14 GG, der das Eigentum und das Erbrecht gewährleistet, als beschränkende Regelung für die Erbschaftsteuer zu verstehen. Sowohl die Testierfreiheit als auch das Eigentum an sich sind nach Art. 14 GG geschützt. Ein Verbot der Besteuerung des Eigentums – auch im Wege einer Erbschaftsteuer – ist damit wohl nicht verknüpft, eine Wegbesteuerung darf aber auch nicht eintreten.8 Auch nach der Neuregelung der Begünstigungsvorschriften für Betriebsvermögen ist unverändert umstritten, ob die aktuell gültige Fassung des ErbStG wohl einer verfassungsrechtlichen Prüfung vor dem BVerfG standhält.

III. Situation in Familienunternehmen Familienunternehmen sind regelmäßig von einer generationenübergreifenden Unternehmensführung innerhalb der Familie geprägt. Dabei stehen üblicherweise die nachhaltige Unternehmensentwicklung mit Blick auf Stabilität und langfristige Ertragskraft vor schneller Rendite oder einer Maximierung von Exiterlösen.

4 Vgl. hierzu Hannes/Holtz in Meincke/Hannes/Holtz, ErbStG, 17.  Aufl. 2018, Einführung Rz. 9. 5 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BStBl II 95, 671, 673. 6 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BStBl II 07, 192. 7 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, DStR 2015, 31. 8 Hannes/Holtz in Meincke/Hannes/Holtz, ErbStG, 17. Aufl. 2018, Einführung Rz. 11.

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Die Folgen der Erbschaftsteuer für Familienunternehmen

Viele Familienunternehmen wurden durch ein Familienmitglied gegründet und anschließend über Generationen fortentwickelt. Zahlreiche dieser Unternehmen stehen innerhalb der kommenden Jahre vor einem Generationenwechsel. So geht das Institut für Mittelstandsforschung Bonn in einer Studie davon aus, dass in den Jahren 2018 bis 2022 (also im Geltungsbereich des aktuellen Erbschaftsteuergesetzes) etwa 150.000 Unternehmen mit rund 2,4 Mio. Beschäftigten zur Übergabe anstehen, davon 800 große Familienunternehmen mit einem Jahresumsatz von 50 Mio. Euro und mehr.9 1. Unternehmensnachfolge Bei der Unternehmensnachfolge sind viele Aspekte zu berücksichtigen, die häufig in  einem Spannungsfeld stehen, das sehr ausgewogen aufgelöst werden muss, um die  Unternehmensnachfolge erfolgreich zu machen. Dabei liegt häufig bereits eine Schwierigkeit der Unternehmensnachfolge darin, einen geeigneten Übernehmer für das Unternehmensvermögen zu finden. In der Wunschvorstellung ist das regelmäßig ein direkter Nachfahre, optimalerweise alle vorhandenen direkten Nachfahren. In der Praxis ist das leider häufig nicht der Fall. Zum einen ist häufig schon nicht immer ein direkter Nachfahre verfügbar, der überhaupt an der Unternehmensübernahme interessiert ist. Sofern ein (oder mehrere Nachfahren) interessiert sind, ist noch lange nicht damit verbunden, dass dieser oder diese auch geeignet sind, ein Unternehmen zu führen. Schließlich ergibt sich eine große Herausforderung, wenn mehrere Nachfahren vorhanden sind. Eine ausgewogene Vermögensnachfolge, die eine vertretbare Gerechtigkeit zwischen den Nachfahren beinhaltet und gleichzeitig eine gesicherte Unternehmensfortführung sicherstellt, entspricht häufig der Quadratur des Kreises. a) Mehrere Nachfolger Bei mehreren Nachfolgern in Familienunternehmen hat jeder Familienunternehmer genau diese Herausforderung zu bewältigen. Dabei kann er sich glück­lich schätzen, wenn er wenigstens einen interessierten und geeigneten Kandidaten bei den Nachfahren hat, den er für eine Unternehmensnachfolge in Betracht ziehen kann. Die Schwierigkeit für erfolgreiche und damit in der Regel auch sehr selbstbewusste und starke Persönlichkeiten, bereits zu Lebzeiten den Staffelstab an einen Nachfolger weiterzugeben und damit tatsächlich den Rahmen für eine erfolgreiche Unternehmensfortführung zu setzen, sei hier nur am Rande erwähnt. Sofern mehrere Nachfahren zur Vermögensübertragung zur Verfügung stehen, besteht das Bestreben des Unternehmers in der Regel darin, jeden der Nachfahren auskömmlich auszustatten und die Führung des Unternehmens sicherzustellen. 9 Kay/Suprinovič/Schlömer-Laufen/Rauch, Unternehmensnachfolgen in Deutschland 2018 bis 2022, IfM Bonn, Daten und Fakten Nr. 18, 2018, S. 12, 24.

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Das geht entweder durch das Kronprinzenmodell, in dem ein Unternehmensnachfolger ausgewählt und die übrigen Nachfahren mit sonstigem Vermögen abgefunden werden, oder durch ein Modell, in dem alle Nachfahren Unternehmensvermögen erhalten und die Geschicke des Unternehmens durch entsprechende Ausgestaltung im Gesellschaftsvertrag einem Fremdmanagement oder einem oder mehreren geeigneten Nachfahren anvertraut werden. Insbesondere die Ausgestaltung mit allen Nachfahren als Gesellschafter des Familienunternehmens mit nur einem oder zwei der Nachfahren in der Geschäftsführung des Unternehmens kann sehr konfliktträchtig sein. b) Vermögenserhalt Der Vermögenserhalt über Generationen ist in aller Regel das zugrunde liegende Minimalziel und entspricht dem Antrieb jedes Unternehmers. Das Ziel jeder unternehmerischen Tätigkeit ist der Erfolg und damit die Vermögensmehrung. Der Vermögenserhalt über die nächsten Generationen ist damit als Minimalziel die logische Ableitung. Viele Familienunternehmen sind dabei variabel und robust in der Reaktion auf Marktveränderungen und externe Einflüsse. Das liegt auch daran, dass Familienunternehmen häufig hohe Eigenkapitalquoten ausweisen und die Unternehmer schnelle Umsetzungen von Entscheidungen gewohnt sind. So muss in aller Regel keine Rücksichtnahme auf kapitalmarkttypische Entscheidungsfaktoren wie Kursentwicklungen oder fesselnde Covenants aus strukturierten Finanzierungen erfolgen. c) Unternehmenserhalt Der Erhalt des Familienunternehmens an sich ist bei Familienunternehmern eins der zentralen Ziele. Nicht ohne Grund werden Familienunternehmen häufig über Generationen hinweg ge- und erhalten. Für viele unternehmerisch tätige Familien stiftet das Unternehmen entsprechende Identität. Als beeindruckende Beispiele dafür dienen Familienunternehmen wie Familie Albrecht (Aldi), Brenninkmeijer (u.a. C&A), Rossmann (Rossmann), Siemes (Schuh Center), Müller (Drogerie Müller) und auch Familie Haub (Tengelmann), die darüber hinaus ein Beispiel dafür darstellt, welche Probleme die Erbschaftsteuer für Familienunternehmen mit sich bringen kann (dazu später). 2. Vermögensdiversifizierung Es ist kein Geheimnis, dass eine Diversifizierung vorhandenen Vermögens absolut anzuraten ist, um externe Faktoren ausgleichen zu können. Familienunternehmen sind ohnehin durch die unternehmerische Tätigkeit häufig nicht ausgewogen investiert, sondern haben ein Klumpenrisiko in dem jeweiligen Unternehmensvermögen. Das ist eine Folge der Konzentration über mindestens eine Generation (die der Unternehmensgründung und des Aufbaus) in die Entwicklung des Unternehmens. Häufig werden über lange Zeit die Erträge des Unternehmens weitgehend im Unternehmen reinvestiert, um das Wachstum zu sichern und das Unternehmen so stabil wie möglich auszustatten. 136

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Die Folgen der Erbschaftsteuer für Familienunternehmen

Zwar wird regelmäßig auch weiteres Vermögen im liquiden Bereich aufgebaut (z.B. Wertpapiere) sowie häufig auch im Immobilienbereich. Diese Bereiche hängen bei einer Betrachtung der Allokation aber regelmäßig wertmäßig weit hinter den Werten des Unternehmensvermögens zurück. Im Rahmen einer Vermögensnachfolge kann es sinnvoll sein, zu versuchen, die Vermögensdiversifizierung mit im Blick zu behalten, um den oder die Nachfahren bestmöglich abzusichern.

IV. Die Auswirkungen der Erbschaftsteuer auf Unternehmensvermögen Die Neufassung der Begünstigungsvorschriften für Betriebsvermögen (§§  13a und 13b ErbStG) im Jahr 2016 war als minimalinvasiver Eingriff in das bestehende Konzept der Begünstigungsvorschriften gedacht, um die verfassungsrechtlichen Bedenken auszumerzen und gleichzeitig die Übertragung von Betriebsvermögen steuerbegünstigt zu ermöglichen.10 1. Die Regelungen der Erbschaftsteuer für Unternehmensvermögen Bei der Neufassung der erbschaftsteuerlichen Regelungen zur Begünstigung von Betriebsvermögen wurde das bisherige Konzept weitgehend aufrechterhalten, jeweils unter Anpassung der einzelnen Regeln, Veränderung von Schwellenwerten und Begrenzung von einzelnen Begünstigungen. Im Ergebnis ist ein ausgesprochen komplexes Gesetz entstanden, das bei der ersten Lektüre selbst für den fachkundigen Leser so gut wie nicht verständlich und darüber hinaus unverändert verfassungsrechtlich fragwürdig ist.11 a) Bewertung Die Bewertung des Betriebsvermögens erfolgt gem. §§ 200 ff. BewG in der Neufassung mit Wirkung ab dem 1.1.2016 durch Multiplizierung des zukünftig nachhaltig erzielbaren Jahresertrags mit dem Kapitalisierungsfaktor. Seit dem 1.1.2016 wird ein fester Kapitalisierungsfaktor von 13,75 angewendet. Der zukünftig nachhaltig erzielbare Jahresertrag wird regelmäßig aus dem Durchschnitt der letzten drei Jahre abgeleitet. Allerdings enthält das Gesetz eine Öffnungsklausel für Fälle, in denen das vereinfachte Ertragswertverfahren zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt12. Wann das der Fall ist, wird im Wesentlichen immer eine Einzelfallentscheidung und hochgradig streitanfällig sein.

10 BT-Drucks. 18/5923, 7.9.2015, 1. 11 Corsten/Corsten in Velte/Müller/Weber/Sassen/Mammen, Rechnungslegung, Steuern, Cor­ po­rate Governance, Wirtschaftsprüfung und Controlling 2018, S. 204, 218. 12 § 199 BewG.

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Maike Hellnick

Fraglich ist bereits, ob ein einheitlicher Kapitalisierungsfaktor über alle Betriebs­ vermögen hinweg ein zutreffender Bewertungsansatz sein kann. Aus der betriebswirtschaftlichen Unternehmensbewertung ist bekannt, dass abhängig von Branche, Marktumfeld und Verschuldungsgrad des jeweiligen Unternehmens große Bandbreiten von Multiplikatoren (oder Kapitalisierungsfaktoren) zustande kommen. Bei dem Ertragswertverfahren als anerkanntem Verfahren der Unternehmensbewertung, auf das der Gesetzgeber in §§ 199 ff. BewG im Grundsatz auch aufsetzt, werden die Erträge einer unbefristeten künftigen Ertragsperiode nach der Formel für die ewige Rente kapitalisiert. Die Abzinsung erfolgt mittels eines Kapitalisierungszinssatzes, der sich aus dem Basiszins (landesüblicher Kapitalmarktzins) und einem Risikozuschlag zusammensetzt. Die konkrete Höhe des Risikozuschlags wird in der Praxis nur aus Marktbeobachtungen und unter Zuhilfenahme von vereinfachenden Annahmen festzulegen sein. Dabei ist zu beachten, dass eine bloße Übernahme beobach­ teter Risikoprämien grundsätzlich ausscheidet, weil sich das zu bewertende Unternehmen in aller Regel hinsichtlich seiner spezifischen Risikostruktur von den Unternehmen unterscheidet, für die Risikoprämien am Markt beobachtet worden sind.13 Der Kapitalisierungsfaktor ergibt sich als mathematischer Kehrwert der Summe aus Basis- und Risikozins. Das vereinfachte Ertragswertverfahren blendet einen unternehmensspezifischen Risikozuschlag vollständig aus und bewertet alle Unternehmen mit dem identischen Kapitalisierungsfaktor. Der dem Kapitalisierungsfaktor von 13,75 zugrunde liegende Kapitalisierungszins ist 7,27%. Bei einem Basiszins von 1,0%, der zum 1.1.2017 für Bewertungen nach IDW S 1 galt, ergibt sich ein berücksichtigter Risikozuschlag von 6,27% − einheitlich für alle Unternehmen aller Branchen. Dass ein einheitlicher Risikozuschlag richtig sein kann, ist noch nicht mal umstritten, sondern schlicht falsch. Im unternehmerischen Bereich erwirtschaftete Renditen auf den Unternehmenswert schwanken sowohl zwischen Unternehmen verschiedener Branchen als auch in Abhängigkeit des einzelnen Unternehmens – leicht ableitbar sind diese Bandbreiten aus den Kurs-Gewinn-Verhältnissen an der Börse, die genau auf diesen Unterschieden beruhen. Im Betriebsvermögen enthaltene Beteiligungen sind separat zu bewerten (ebenfalls mit dem vereinfachten Ertragswertverfahren) und dem Wert laut vereinfachtem Ertragswertverfahren hinzuzurechnen. Ebenso wird nicht betriebsnotwendiges Vermögen zusätzlich mit dem gemeinen Wert dieser Vermögensgegenstände bewertet. Die Summe dieser Werte ist für das jeweilige Betriebsvermögen bzw. den Gesellschaftsanteil anzusetzen. Zwar sieht – wie schon oben erwähnt – das BewG die Anwendung des vereinfachten Ertragswertverfahrens nur vor, wenn dieses nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt. Die Unsicherheit dieser Regelung auf die steuerlichen Folgen eines relevanten Sachverhaltes liegt hierbei aber eindeutig auf der Hand. Die Finanzverwaltung wird mutmaßlich dann vom vereinfachten Ertragswertverfahren abweichen 13 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), Rz. 91.

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wollen, wenn es – aus Sicht der Finanzverwaltung – tendenziell zu zu niedrigen Ergebnissen im Marktvergleich führt (z.B. bei Ertragssteigerungen des Unternehmens in den Jahren nach der Vermögensübertragung), wobei der Steuerpflichtige üblicherweise das vereinfachte Ertragswertverfahren für nicht anwendbar halten wird, wenn es seiner Auffassung nach zu zu hohen Werten führt. Entscheiden werden dies im Einzelfall wohl erst die Gerichte. b) Verschonung Für das bewertete Betriebsvermögen ist die Anwendung der Verschonungsregelungen für Betriebsvermögen zu prüfen. Das ErbStG sieht dafür verschiedene Möglichkeiten abhängig vom Wert des Betriebsvermögens und weiteren Faktoren vor. Der Grundsatz geht dabei davon aus, dass 85% des übertragenen begünstigten Vermögens steuerbefreit sind (Regelverschonung gem. § 13a Abs. 1 ErbStG). Es besteht die Möglichkeit zu einer Steuerbefreiung von 100% des begünstigten Vermögens zu ­optieren (Optionsverschonung gem. § 13a Abs. 10 ErbStG). Diese Begünstigungen bestehen jedoch nur für begünstigte Vermögen mit einem Wert von bis zu 26 Mio. Euro, dabei werden Erwerbe von derselben Person über einen Zeitraum von zehn Jahren zusammengerechnet. aa) Regel- und Optionsverschonung Bei einem Wert von mehr als 26 Mio. Euro besteht ein Wahlrecht zwischen dem Verschonungsmodell, wobei der steuerfreie Teil des begünstigten Vermögens mit steigendem Wert des übertragenen Vermögens abschmilzt, nämlich um je ein Prozentpunkt für jede vollen 750.000 Euro, die der Wert des begünstigten Vermögens den Betrag von 26 Mio. Euro übersteigt (Abschmelzmodell gem. § 13c ErbStG). Das Abschmelzmodell kann nur bei einem Wert des begünstigten Vermögens von weniger als 90 Mio. Euro gewählt werden. Auch zur Berechnung dieser Wertgrenze werden Erwerbe von derselben Person innerhalb von zehn Jahren zusammengerechnet. Alternativ zum Abschmelzmodell besteht ein Wahlrecht zur Verschonungsbedarfsprüfung gem. § 28a ErbStG. bb) Verschonungsbedarfsprüfung Bei einem Wert des begünstigten Vermögens ab 90 Mio. Euro bleibt nur die Verschonungsbedarfsprüfung. Demnach wird die Steuer erlassen, soweit sie nicht aus 50% des übrigen im Rahmen der Vermögensübertragung übertragenen, nicht begünstigten Vermögens oder aus 50% des sonstigen Vermögens des Erwerbers zum Zeitpunkt der Übertragung gezahlt werden kann (verfügbares Vermögen). Für alle diese Begünstigungen gilt als weitere Bedingung für die Begünstigungen eine Lohnsummenprüfung für fünf (Regelverschonung) bis sieben (Optionsverschonung und Verschonungsbedarfsprüfung) Jahre. Für Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten dürfen die gezahlten Löhne für die relevanten Jahre im Schnitt nicht unter die durchschnittliche Lohnsumme der letzten fünf Jahre vor der Vermögensüber139

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tragung fallen. Ein Ausgleich unter den Jahren nach der Übertragung wird dadurch ermöglicht, dass die Summe der relevanten (fünf oder sieben) Jahre genommen wird und diese Summe nicht weniger als 500 (Regelverschonung) bzw. 700 (Optionsverschonung und Verschonungsbedarfsprüfung) Prozent der durchschnittlichen Lohnsumme der letzten fünf Jahre vor der Übertragung betragen darf. Eine weitere zusätzliche Bedingung ist eine Behaltensfrist (§  13a Abs.  6 ErbStG) von fünf (bzw. sieben für die Verschonungsbedarfsprüfung) Jahren, in der das begünstigte Vermögen nicht veräußert oder aufgegeben werden darf. Außerdem dürfen innerhalb der Behaltensfrist keine Entnahmen oder Ausschüttungen aus dem begünstigten Vermögen stattfinden, die die Summe aus Einlagen und Gewinnen seit dem Zeitpunkt der Vermögensübertragung um mehr als 150.000 Euro übersteigen. cc) Wertabschlag für Familienunternehmen Für Familienunternehmen gibt es  – wertunabhängig  – einen besonderen Wertabschlag auf das begünstigte Vermögen (§  13a Abs.  9 ErbStG). Dieser Wertabschlag greift zwischen der Bewertung des Betriebsvermögens und den Verschonungsregelungen. Die Höhe des Wertabschlags entspricht der im Gesellschaftsvertrag oder in der Satzung vorgesehenen prozentualen Minderung der Abfindung gegenüber dem gemeinen Wert und beträgt höchstens 30%. Die sehr restriktiven Voraussetzungen sind: – Gesellschaftsvertragliche Entnahme- bzw. Ausschüttungsbeschränkung auf 37,5% des um die Steuern auf Einkommen geminderten steuerrechtlichen Gewinns und – Gesellschaftsrechtliche Verfügungsbeschränkungen nur auf Angehörige im Sinne des § 15 AO, Mitgesellschafter und/oder Familienstiftungen und – Gesellschaftsvertragliche Abfindungsbeschränkung, d.h. für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters ist eine Abfindung vereinbart, die unter dem gemeinen Wert der Beteiligung liegt. – Diese gesellschaftsvertraglichen Regelungen müssen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen und – Diese Voraussetzungen müssen bereits zwei Jahre vor der Übertragung und weitere 20 Jahre nach der Übertragung im Gesellschaftsvertrag verankert sein.14 c) Folgen bei Verstößen Bei Verstößen gegen die einzelnen Bedingungen für die verschiedenen Begünstigungsvorschriften geht die Verschonungswirkung rückwirkend verloren. Dabei gibt es sowohl einen nur teilweisen Verlust der Begünstigung als auch einen rückwirkenden vollständigen Verlust der Begünstigung.

14 Corsten/Corsten in Velte/Müller/Weber/Sassen/Mammen, Rechnungslegung, Steuern, Corporate Governance, Wirtschaftsprüfung und Controlling 2018, S. 204, 211.

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Bei einem Verstoß gegen die Lohnsummenregelung entfällt die Begünstigung in dem quotalen Verhältnis, in dem die Ausgangslohnsumme unterschritten wurde. Bei Verstößen gegen die Behaltensfrist entfällt die Begünstigung in dem Verhältnis der noch verbleibenden Jahre der Behaltensfrist (inklusive dem Jahr des Verstoßes) zu der gesamten Behaltensfrist. Bei einem Verstoß gegen die Behaltensfrist durch Veräußerung des begünstigten Vermögens soll eine Reinvestition in begünstigtes Vermögen die Begünstigung retten können. Bei der Aufgabe eines begünstigten Vermögens, die ebenfalls schädlich ist, entfällt die Reinvestitionsmöglichkeit naturgemäß. Bei einer Überschreitung der zulässigen Wertgrenzen durch Zusammenrechnung von mehreren Erwerben von derselben Person sowie bei Verstößen gegen die Voraussetzungen für den Wertabschlag für Familienunternehmen gilt eine so genannte Fallbeilregelung: Die Begünstigung entfällt rückwirkend vollständig. Ebenso entfällt der Erlass aus der Verschonungsbedarfsprüfung rückwirkend in dem Umfang, in dem der Erwerber innerhalb von zehn Jahren weiteres Vermögen erwirbt, das er zu 50% zur Begleichung der ErbSt einsetzen muss. Der Erlass entfällt zunächst vollständig – es kann aber ein erneuter Erlassantrag gestellt werden, bei dem jedoch das verfügbare Vermögen um 50% des neu erworbenen Vermögens erhöht wird. Soweit danach das verfügbare Vermögen nicht zur Begleichung der ErbSt ausreicht, kann wiederum ein Erlass gewährt werden. 2. Die Folgen in der Praxis In der Praxis sind die Verschonungsregelungen für Betriebsvermögen in der derzeit geltenden Fassung hoch problematisch. Wie bereits bei dem Überblick der Regelungen – der hier ohnehin nur überschlägig und nicht im Detail erfolgen kann – zu erkennen ist, bestehen die aktuellen Regelungen für Betriebe mit einem Wert von mehr als 26 Mio. Euro und mehr als 15 Beschäftigten aus einem Wust an Fallstricken und jahrelangen Fesseln. Bei einem Wert des Betriebsvermögens ab 90 Mio. Euro ist eine Begünstigung in der Praxis fast nicht mehr zu erreichen. Die Bedeutung der relevanten Unternehmensbewertung allein für diese Wertgrenzen liegt auf der Hand. Wenn harte Wertgrenzen für die Anwendung bestimmter Verschonungsregelungen bzw. ganzer Verschonungssystematiken entscheidend sind, kommt dem richtigen Unternehmenswert eine ganz besondere Bedeutung zu. Ob das vereinfachte Ertragswertverfahren dieser Bedeutung gerecht wird, muss zumindest ernsthaft in Zweifel gezogen werden. So unterscheidet die Höhe des Unternehmenswertes darüber, ob ein Erwerber 50% seines vollständigen, sonstigen Vermögens zur Begleichung der ErbSt einsetzen muss und zusätzlich eine zehnjährige Behaltensfrist erfüllen und über sieben Jahre die Lohnsumme halten muss oder ob er – unabhängig von seinem übrigen Vermögen – eine Verschonung in Anspruch nehmen kann. Bei dem notwendigen Einsatz des übrigen Vermögens werden keinerlei Ausnahmen gemacht. So werden in die Ermittlung des verfügbaren Vermögens auch Vermögensgegenstände einbezogen, die das 141

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ErbStG im Rahmen einer losgelösten Übertragung steuerfrei stellen würde (z.B. Vermögen bis zur Höhe von Freibeträgen, sachlich steuerbefreite Vermögensgegenstände sowie dem Wortlaut nach selbst Gelegenheitsgeschenke). Darüber hinaus muss der Erwerber von begünstigtem Vermögen im Rahmen der Verschonungsbedarfsprüfung 50% aller weiteren Erwerbe von jeder weiteren Person innerhalb von zehn Jahren ebenfalls zur Begleichung der ErbSt einsetzen (und trotzdem noch die Behaltensfrist und die Lohnsummenregelung einhalten). Unklar ist, ob zumindest die auf das verfügbare Vermögen entfallende ErbSt bei der Bewertung abgezogen werden darf.15 Der Wertabschlag für Familienunternehmen ist aufgrund der extrem harten Voraussetzungen und der Frist von 20 Jahren für das Beibehalten der restriktiven Satzungsregelungen praktisch nicht anwendbar. Mit einem Blick auf die aktuell die Presse beherrschenden Diskussionen um die Begleichung der ErbSt in der Familie Haub, die (sofern man den Presseberichten Glauben schenken kann) in Höhe von rund 450 Mio. Euro anfallen wird, sobald der verschollene Karl-Erivan Haub für tot erklärt wird, wird die Problematik deutlich: Innerhalb der Familie sind die vorhandenen Konflikte offensichtlich. Ein Einhalten über 20 Jahre der Restriktionen für den Wertabschlag für Familienunternehmen scheint ausgeschlossen zu sein. In Anbetracht der Größe des Unternehmens Tengelmann und den ebenfalls in der Presse kolportierten Größenordnung des Betriebsvermögens kann man davon ausgehen, dass nur der Wertabschlag für Familienunternehmen oder die Verschonungsbedarfsprüfung in Betracht kommen können. Bei beiden Fällen wäre Bedingung, dass die Erben das Betriebsvermögen über die Behaltensfrist nicht veräußern. Dies scheint mit Blick auf den offenbar tiefgreifenden Konflikt in der Familie gar nicht umsetzbar. Somit droht in diesem Fall zusätzlich zu der ErbSt von rund 450 Mio. Euro die Einkommensteuer auf den Veräußerungsgewinn der Beteiligung und damit eine nahezu Wegbesteuerung des Erbes. a) Existenzgefährdung von Unternehmen Die Verschonungsregelungen sollten in Ihrer Neugestaltung nach dem Willen des Gesetzgebers den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Existenzsicherung von Unternehmen gewährleisten. Tatsächlich wird die Existenz von Unternehmen durch die Regelungen gefährdet. Die unternehmerischen Entscheidungen werden durch die Auswirkungen auf eine Erbschaftsteuerverschonung massiv eingeschränkt. Damit meine ich nicht die unternehmerischen Entscheidungen zur Bereicherung des Unternehmers, sondern die zur Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Das Gesetz verkennt die Situation, dass aus zwingenden betrieblichen Gründen Unternehmen umstrukturiert werden müssen. Der Vermögensübernehmer – unabhängig ob Erbe oder Beschenkter – kann in Situationen kommen, in dem es das Überle15 Corsten/Corsten in Velte/Müller/Weber/Sassen/Mammen, Rechnungslegung, Steuern, Cor­ porate Governance, Wirtschaftsprüfung und Controlling 2018, S. 204, 215.

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ben des Unternehmens oder zumindest die chancenerhaltende Ausrichtung des Unternehmens erforderlich machen, gegen Behaltensfristen oder die Lohnsummenregel zu verstoßen. Insbesondere in Zeiten des Strukturwandels und disruptiver Geschäftsmodelle in einer globalisierten Welt sind Optimierungsmaßnahmen und Fusionen häufig das einzige adäquate Mittel, um die Zukunft von Unternehmen zu sichern. Das hat – auch wenn das mit Sicherheit vielen nicht gefällt – häufig den Abbau von Arbeitsplätzen zur Folge. Dies aber nicht aus dem Grund der Gewinnmaximierung, sondern zur Sicherung der verbleibenden Arbeitsplätze. Ebenso kann es  – insbesondere mit Blick auf heutige Wettbewerbssituationen und die Globalisierung – das Überleben eines Unternehmens sichern, per Anteilsverkauf zusätzliches Kapital aufzunehmen. Alle diese Maßnahmen sind schädlich für eine erbschaftsteuerliche Begünstigung. Wenn bis zum Zeitpunkt des Verstoßes gegen die erbschaftsteuerlichen Begünstigungsvorschriften der Wert des Unternehmens sich noch signifikant reduziert hat, stellt sich für den Erwerber des Vermögens eine Situation dar, in der er mit Steuern auf einen Vermögenswert belastet wird, der nicht mehr realisierbar ist und allein dadurch gegebenenfalls den noch verbliebenen Wert nicht mehr erhalten kann. Hiergegen mag eingewendet werden, dass eine Erbschaftsteuer immer auf den Vermögenswert im Zeitpunkt der Vermögensübertragung abstellen muss und spätere Wertverluste – so dramatisch diese für den jeweiligen Vermögensinhaber auch sein können – nicht berücksichtigen kann. Dem ist zuzustimmen, wenn eine Belastungssicherheit besteht. Sofern im Falle einer Übertragung zum Zeitpunkt der Übertragung eine ErbSt verlässlich ermittelt werden kann und diese gezahlt werden muss, kann ein Vermögenserwerber sich auf die Belastung einstellen und entsprechend disponieren. Die Problematik entsteht durch die vermeintliche Sicherheit einer Verschonungsregelung mit operativ stark einschränkenden Auflagen. Verstöße gegen diese restriktiven Auflagen können trotz bester Absichten und größtem Bemühen des Vermögenserwerbers unausweichlich sein. Darüber hinaus ist die ErbSt eine persönliche und keine betriebliche Schuld. Die restriktiven Auflagen in der Behaltensfrist (keine Überentnahmen) und für den Wertabschlag für Familienunternehmen (max. 37,5% Entnahme/ Ausschüttung des steuerlichen Gewinns und 20-jährige Durchhaltefrist für diese Regelungen) machen eine Finanzierung der persönlichen ErbSt, die auf dem betrieblichen Vermögen beruht, aus der betrieblichen Sphäre praktisch unmöglich. Eine private Verschuldung im Bereich der Verschonungsbedarfsprüfung (50% des verfügbaren Vermögens) muss hier im Zweifel in Kauf genommen werden. b) Aufschiebung von Vermögensübertragungen Die Folge der aktuellen Gesetzeslage ist, dass Vermögensübertragungen im betrieblichen Bereich aufgeschoben werden. Getroffen von den aktuellen Regelungen werden Vermögensübertragungen durch Erbfälle, die sich leider nicht aufschieben lassen. In Erbfällen fehlt üblicherweise aufgrund der fehlenden Planbarkeit des Ereignisses die 143

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Möglichkeit, das Betriebsvermögen gezielt auf die Auflagen im Rahmen einer der Verschonungsregelungen vorzubereiten. 3. Vorteil für kapitalmarktorientierte Unternehmen und Finanzinvestoren Die Restriktionen zum Erhalt der erbschaftsteuerlichen Begünstigungen haben zu Gestaltungsmodellen geführt, die seitens der Berater entwickelt wurden, um die Steuerbegünstigungen mit möglichst wenigen Einschränkungen nutzen zu können. Mit Blick auf die unter IV. 1.b) erläuterten Verschonungsregeln wird deutlich, welche die wesentlichen Stellschrauben zur Erlangung der einzelnen Verschonungsregelungen sind. Wesentliche Elemente sind – die Anzahl der Arbeitnehmer (bei bis zu 5 Beschäftigten ist die Lohnsummenprüfung nicht relevant), – die Behaltensfrist, in der nicht über das Vermögen verfügt oder Überentnahmen getätigt werden dürfen und – die Übertragung an Empfänger ohne verfügbares Vermögen im Sinne des § 28a ErbStG im Rahmen der Verschonungsbedarfsprüfung. Die Begünstigung greift dem Grunde nach für Gesellschaftsanteile an Personenhandelsgesellschaften (z.B. GmbH & Co. KG) sowie an Kapitalgesellschaften, wenn der Erblasser oder Schenker zu mehr als 25% am Nennkapital der Gesellschaft beteiligt ist oder über Anteile (auch unter 25% am Nennkapital der Gesellschaft) verfügt, die mittels einer Stimmpoolung im Sinne des § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG mit anderen Anteilen so verbunden sind, dass diese alle zusammen mehr als 25% ausmachen, dabei ist nicht entscheidend, ob der Erblasser oder Schenker seinen Willen für die gepoolten Anteile durchsetzen kann. In der Folge sind Modelle entstanden, die Vermögensübertragungen modellhaft strukturieren, indem auf Fondsstrukturen zurückgegriffen wird, die – wie man das aus dem Bereich der geschlossenen Fonds kennt – in der Regel als GmbH & Co. KG strukturiert sind, einen originär gewerblichen Gesellschaftszweck haben und praktisch ohne Arbeitnehmer auskommen. Modellhaft wird sodann strukturiert, dass die Behaltensfrist erfüllt ist, indem Kündigungen oder Übertragungen der Gesellschaftsanteile innerhalb der Behaltensfrist ausgeschlossen sind. Dadurch können in Form von Publikumsfonds oder Private Placements Anlagevehikel geschaffen werden, die die bestehenden Begünstigungsvorschriften nutzen, dem Grundgedanken nach einem Wertpapier entsprechen und nur wenig Risiko eines Verstoßes gegen die Restriktionen beinhalten. Diese Anlagen eignen sich zur Übertragung bis zu den Wert­ grenzen für die Regel- und Optionsverschonung und darüber hinaus an Kinder ohne eigenes Vermögen, weil dort auch bei großen Beträgen die Verschonungsbedarfsprüfung positiv ausgehen wird. Sofern die Empfänger der Vermögensübertragung bereits über Vermögen verfügen, das die Verschonungsbedarfsprüfung unattraktiv macht, wird das Modell um eine Übertragung auf Stiftungen oder Kapitalgesellschaften als Empfänger ausgeweitet, 144

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die allein für diesen Zweck errichtet werden und somit ebenfalls nicht über verfügbares Vermögen im Sinne der Verschonungsbedarfsprüfung verfügen. In allen diesen Fällen erkennt man, dass ein operatives Unternehmen unter familiärer Führung in diese Modelle nicht zu integrieren ist. Die Nutzer dieser Modelle sind vermögende Privatpersonen mit  – nach dem Grundgedanken des Erbschaftsteuerrechts  – schädlichem Barvermögen, die dieses Barvermögen über die Gestaltungsmodelle relativ einfach in begünstigtes Betriebsvermögen wandeln. Darüber werden weder Arbeitsplätze erhalten noch die in der Gesetzesbegründung angeführten Familienunternehmer im Mittelstand begünstigt.

V. Fazit Die derzeit geltenden Regelungen zur Begünstigung der Übertragungen von Betriebsvermögen sind für Familienunternehmen im Ergebnis in mehrfacher Hinsicht mit massiver Unsicherheit belastet und dadurch unpraktikabel. Gefördert werden Gestaltungen, die für klassische Familienunternehmer mit dem Ziel des langfristigen Erhalts der Familienunternehmen und einer notwendigen Vermögensdiversifizierung für die nachfolgenden Generationen keine wirkliche Alternative darstellen. Nutzen können diese Gestaltungen dagegen Vermögensübertragende, die bereits kapitalmarktorientiert sind und in der Vermögensanlage einem Finanzinvestor gleichen. Dieser Effekt widerspricht dem angestrebten Gesetzeszweck fundamental. Bereits bei einem durchschnittlichen EBT von 6,6 Mio. Euro ist nach den Regelungen des vereinfachten Ertragswertverfahrens mit dem Kapitalisierungsfaktor von 13,75 die Grenze von 90 Mio. Euro erreicht, ab der nur noch der Wertabschlag für Familienunternehmen und/oder die Verschonungsbedarfsprüfung genutzt werden können. Ein Großteil des in der Gesetzesbegründung so gelobten Mittelstandes kommt in die Bereiche dieser EBT, traditionelle Familienunternehmen ohnehin. Beide Begünstigungsregelungen sind für klassische Familienunternehmen nicht praktikabel. Was bleibt, ist die Feststellung, dass die Regelungen der ErbSt auch in der aktuell geltenden Neuregelung erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen, weil die Regelungen sowohl mit Blick auf Art. 3 GG als auch mit Blick auf Art. 14 GG den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen dürften. Auch die leistungsgerechte Belastung ist in Frage zu stellen, sofern bei der Verschonungsbedarfsprüfung 50% des verfügbaren Vermögens  – unabhängig von der Herkunft und der Art des Vermögens  – eingesetzt werden muss. Dies führt im Ergebnis zu einer Vermögensteuer, die durch den Gesetzeszweck der ErbSt nicht gedeckt ist. Als Anregung für eine verfassungsgemäße ErbSt wäre zu überdenken, ob eine Senkung der Steuersätze verbunden mit einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage nicht der bessere Ansatz wäre. Wenn die ErbSt so ausgestaltet würde, dass die Steuersätze an sich schon nicht zu einer Wegbesteuerung des Vermögens führen würde und die Fälligkeit mit Stundungsregelungen über mehrere Jahre gekoppelt würde, so dass z.B. bei einem Steuersatz von 10 bis 15% Stundungen über 10 bis 15 Jahre möglich 145

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Maike Hellnick

wären, könnten die ErbSt aus den Erträgen des Vermögens beglichen werden. Im gleichen Atemzug wäre dann das Problem der Doppelbesteuerung der stillen Reserven wenn auch nicht behoben, so doch relativiert. Die ErbSt besteuert den Verkehrswert des übertragenen Vermögens. Gerade bei Familienunternehmen sind die historischen Anschaffungskosten häufig weit unter dem Verkehrswert, weil die Unternehmen durch die Familie gegründet wurden. Veräußert ein Vermögenserwerber das Unternehmen, fällt auf die vollen stillen Reserven die Ertragsteuer an – unabhängig davon, dass ggf. bereits 30% des Verkehrswertes als ErbSt abgeführt werden mussten. Das bedeutet, dass in Fällen, in denen keine Verschonungsregelungen genutzt werden können (aus welchem Grund auch immer) und der Vermögenserwerber das Unternehmen veräußert, Steuersätze auf das übernommene Vermögen von bis zu 80% entstehen können (30% ErbSt und rund 50% Einkommensteuer nebst Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag). Unsere österreichischen Nachbarn haben sich dazu entschieden, nachdem auch das österreichische Verfassungsgericht die geltenden Regelungen als verfassungswidrig eingestuft hatte, die Frist für eine verfassungsgemäße Neuregelung bewusst verstreichen zu lassen und somit keine ErbSt mehr zu erheben. Das österreichische ErbStG entsprach vorher in weiten Teilen dem deutschen ErbStG. Auch das wäre eine Überlegung. Dabei geht es mir nicht um die Verschonung von wohlhabenden Steuerpflichtigen oder Familienunternehmen, sondern um die Frage, ob nicht folgerichtigere und transparentere – und damit auch praktikablere – Besteuerungsmöglichkeiten für große Vermögen bestehen. Diese können auch über einen erhöhten Umsatzsteuersatz für Luxus-Produkte, erhöhte Steuersätze im unternehmerischen Bereich oder weitere Alternativen erreicht werden. Es wird nur übrig bleiben, bis zur nächsten Entscheidung des BVerfG und eine sich ziemlich sicher daran anschließende Neuregelung der ErbSt abzuwarten. Bis dahin werden sowohl die Steuerberater als auch die Gesellschaftsrechtler alle Hände voll zu tun haben, um die aktuell geltenden Regelungen irgendwie mit der Realität in Familienunternehmen in eine akzeptable Verbindung zu bringen. Somit ist zumindest in der Beraterbranche das Ziel des Arbeitsplatzerhalts durch die Neufassung des ErbStG erreicht worden.

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Ulrich Irriger

Unbeabsichtigte Beteiligungsdisparität in als GmbH & Co. KG verfassten Familienunternehmen Inhaltsübersicht I. Vorwort II. Problemaufriss III. Die GmbH & Co. KG als Gesellschaftsform für Familienunternehmen 1. Die Stellung der Kommanditisten und Komplementäre de lege lata 2. Gleichlauf oder Disparität der Beteiligungen an der Komplementärin und der Kommanditgesellschaft 3. Die Einheitsgesellschaft IV. Der Sonderfall einer nicht beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG 1. Ein Fall aus der Praxis 2. Umgang mit der unbeabsichtigten ­Beteiligungsdisparität bei der Abberufung eines Geschäftsführers einer nicht beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG 3. Die Beurteilung der Beteiligungsdisparität anhand der kautelarjuristischen Gestaltungspraxis

4. Umgang mit der Beteiligungsdisparität unter Einbeziehung der Grundsätze der Grundtypenvermischung 5. Beachtung von Treuepflichten bei der Beteiligungsdisparität und der Abberufung eines Komplementär-Geschäfts­ führers im Rahmen einer Familien­ gesellschaft 6. Zusammenfassung der Ansätze für den Umgang mit der unbeabsichtigten Beteiligungsdisparität und der Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers V. Praktische Lösungen für Konflikte bei Beteiligungsdisparität in der gelebten Gesellschaft 1. Geltendmachung von Treuepflichten 2. Ausschließungsbestrebungen 3. Anwendbarkeit auf den Fall der unbeabsichtigten Beteiligungsdisparität VI. Fazit

I. Vorwort Der Jubilar hat sich als langjähriger Anwalt und Notar besonders um Familienge­ sellschaften und deren Gesellschafter gekümmert. Dabei versteht er es, neben der wissenschaftlichen Durchdringung der dabei auftauchenden gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen die praktischen Notwendigkeiten und möglichen Konfliktkonstellationen bei der rechtlichen Gestaltung der Gesellschaftsverträge zu berücksichtigen und praktikablen und rechtssicheren Lösungen zuzuführen. Dies gilt insbesondere auch für die Gestaltung der Gesellschaftsverträge bei der in mittelständischen Familienunternehmen nach wie vor so beliebten GmbH & Co. KG.

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Ulrich Irriger

II. Problemaufriss Die GmbH & Co. KG ist ein Kind der Gestaltungspraxis.1 Denn die konstituierenden rechtlichen Elemente der GmbH & Co KG sind Produkt eines Rechtsfortbildungsprozesses durch Vertragsgestaltung.2 Nur einzelne Rechtsnormen des Handelsrechts (§§ 19 Abs. 2, 125a, 129a, 130a, 172 Abs. 6, 172a, 177a, 264a und 264c HGB) sehen spezielle Regelungen für die GmbH & Co KG vor.3 Wie allgemein im Personengesellschaftsrecht bieten sich der Kautelarpraxis für die Ausgestaltung einer GmbH & Co. KG vielfältigste Optionen. Dabei gilt die Verzahnung der Regelungen des Gesellschaftsvertrags der GmbH mit denen des Gesellschaftsvertrags der KG als die „große Kunst“ der GmbH & Co.-Vertragsgestaltung.4

III. Die GmbH & Co. KG als Gesellschaftsform für Familienunternehmen So üblich die GmbH & Co. KG heutzutage ist, war sie es in der Vergangenheit beileibe nicht. Im 19.  Jahrhundert wurde darüber gestritten, ob eine Kapitalgesellschaft (geschäftsführender) Gesellschafter einer Personengesellschaft sein könne.5 Die Kapitalgesellschaft & Co. gehört zu dem Phänomen, das seit Zielinski (1925) als „Grundtypenvermischung“ bezeichnet wird. Die GmbH & Co. KG ist deren praktisch häufigster Anwendungsfall. 1. Die Stellung der Kommanditisten und Komplementäre de lege lata Das Rechtsverhältnis der Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft bestimmt sich gem. § 109 i.V.m. §§ 161 Abs. 2, 163 HGB in erster Linie nach dem Gesellschaftsvertrag.6 Nur soweit gesellschaftsvertraglich nicht etwas anderes bestimmt ist, richtet sich das Innenverhältnis nach den gesetzlichen Vorschriften.7 In der GmbH & Co. KG ist die GmbH als einzige Komplementärin allein zur Geschäftsführung (§ 164 HGB) und zur Vertretung (§ 170 HGB) der Gesellschaft berechtigt.8 Dabei unterliegt sie nicht den Weisungen der Kommanditisten, die gem. § 164 S. 1 HGB grundsätzlich von der Geschäftsführung ausgeschlossen sind.9 Nach der Grundkonzeption des Gesetzes ist die Rechtsstellung des Komplementärs einer Kommanditgesellschaft eine wesentlich stärkere als die der Kommanditisten. Das 1 K.  Schmidt, Die GmbH & Co. KG als Lehrmeisterin des Personengesellschaftsrechts, JZ 2008, 425, 426. 2 K. Schmidt, JZ 2008, 425, 426. 3 K. Schmidt, JZ 2008, 425, 426. 4 K. Schmidt, JZ 2008, 425, 426. 5 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1623, dort mit Verweis auf Holdheim, der die Kapitalgesellschaft & Co als ein „juristisches Monstrum“ bezeichnete. 6 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 4, Rz. 1. 7 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 4, Rz. 1. 8 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 4, Rz. 2. 9 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 4, Rz. 2.

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Unbeabsichtigte Beteiligungsdisparität

Gesetz sieht auch keine Ausnahmen für den Fall vor, dass die Komplementärin ihrerseits eine Gesellschaft ist. Dies hat im Gesellschafterkreis einer GmbH & Co. KG vor allem dann bedeutsame Folgen, wenn die Beteiligungsverhältnisse der Gesellschafter an der KG und der Komplementär-GmbH nicht identisch sind. Nach der gesetzlichen Regelung haben bei ihr die Kommanditisten, die nicht oder nicht mehrheitlich in der KomplementärGmbH beteiligt sind, keine Möglichkeit der laufenden Geschäftsführung der Komplementärin zu widersprechen.10 Allenfalls eröffnet § 164 HGB die Möglichkeit eines Widerspruchsrechts bei außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen. 2. Gleichlauf oder Disparität der Beteiligungen an der Komplementärin und der Kommanditgesellschaft Die GmbH & Co. KG eignet sich aus unterschiedlichen Gründen besonders als Rechtsform für Familienunternehmen. In vielen Fällen stellt sie auch deshalb eine attraktive Gesellschaftsform dar, weil die oben angesprochene Unterscheidung zwischen zwei Gesellschaftertypen in vielerlei Hinsicht fruchtbar gemacht werden kann. Hat ein Unternehmer beispielsweise mehrere Kinder, von denen er nur eines als zur Führung des Unternehmens geeignet hält, die aber vermögensmäßig gleich bedacht werden sollen, so ermöglicht die GmbH & Co. KG eine Umsetzung dieses Wunsches in die Gesellschaftsstruktur.11 Darüber hinaus kann mit dieser Rechtsformwahl die kapitalistische Haftungsbeschränkung mit der personalisierten Besteuerung verbunden werden.12 Ist dagegen ein Gleichlauf der Beteiligungsverhältnisse, also eine beteiligungsiden­ tische GmbH & Co. KG, gewünscht, so bedarf es Synchronisationsklauseln. Ist es manchen Gesellschaftern bereits bei einer beabsichtigten Beteiligungsdisparität nicht möglich, den Willen der Unternehmensgründer nachzuvollziehen bzw. umzusetzen, so fördern unbeabsichtigte Beteiligungsdisparitäten noch einmal mehr das Konfliktpotential zwischen den beteiligten Familienmitgliedern. Typische Ursachen einer unbeabsichtigten Beteiligungsdisparität sind das Fehlen einer Vinkulierungsklausel für den Quotengleichlauf und einer Einziehungsklausel zur Wiederherstellung der Beteiligungsparität. Für die Absicherung einer beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG sind zunächst in beiden Gesellschaftsverträgen eine Abtretungsverpflichtung und Einziehungs-/

10 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 1, Rz. 28. 11 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 1, Rz. 29 und a.a.O.: Die Einführung hat dann in der Gestalt zu erfolgen, dass die von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Kinder Kommanditisten, der Unternehmernachfolger jedoch Gesellschafter und Geschäftsführer der Komplementär-GmbH wird. Dieser kann folglich, ohne durch die Kommanditisten gehindert, die Geschäfte des Unternehmens fortführen. 12 Hierzu H. P. Westermann, Zur Theorie der Grundtypenvermischung  – am Beispiel der GmbH & Co. KG in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709.

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Ausschlussrechte aufzunehmen.13 Eine Einziehungsklausel sollte für ihre Zweckerfüllung so gestaltet sein, dass die Einziehung vor der Abfindungszahlung wirksam wird.14 Diese Abtretungsverpflichtungen und Einziehungsrechte gewährleisten, dass alle Gesellschafter trotz aller Veränderungen im Gesellschafterkreis stets proportional gleich an beiden Gesellschaften beteiligt sind.15 In der Regel wird sodann vereinbart, dass sich die Beteiligungsquote nach der Kommanditbeteiligung richtet.16 Wichtig bei der Gestaltung der Gesellschaftsverträge ist das Durchhalten der jeweiligen Synchronisationsklauseln. Denn allein eine Einziehungsklausel schützt nicht vor ungewollter Beteiligungsdisparität.17 Kommt es beispielsweise zu einer Insolvenz eines Gesellschafters und ist zwar der GmbH-Anteil eingezogen, jedoch keine Ausschließung desselbigen als Kommanditist erfolgt, weil eine solche Klausel im KGVertrag fehlte oder kein Ausschließungsgrund nach § 140 HGB vorlag,18 so wird die GmbH & Co. KG mit diesem Kommanditisten und der ursprünglichen Beteiligungsquote fortgesetzt. Für den umgekehrt gelagerten Fall, dass der Kommanditist ausscheidet, aber seinen GmbH-Anteil weiter behält, muss ebenfalls eine Regelung getroffen werden. Denn wenn beispielsweise der Kommanditist gem. §  140 HGB ausgeschlossen wird, so kommt es in der KG zur Anwachsung gem. § 738 Abs. 1 S. 1 BGB.19 Da das GmbHRecht eine Anwachsung nicht kennt, sollte hier eine Regelung eingeführt werden, nach der die GmbH-Geschäftsanteile des betreffenden Kommanditisten zu teilen und auf die verbleibenden Kommanditisten zu übertragen sind.20 Schließlich ist bei der Übertragung von Anteilen an der Komplementär-GmbH und der Kommanditanteile ebenfalls eine Regelung zu treffen. Denn mangels besonderer Verzahnung, kann ein Gesellschafter einen GmbH-Anteil frei übertragen, seinen Kommanditanteil jedoch nur mit Zustimmung der Mitgesellschafter.21 Folglich sollte die Übertragung der GmbH-Beteiligung an eine Zustimmung gebunden werden gem. § 15 Abs. 5 GmbHG oder die freie Übertragung der Kommanditanteile zugelassen werden.22 Die freie Übertragbarkeit sollte zumindest an die Voraussetzung geknüpft werden, dass über beide Beteiligungen nur gleichmäßig verfügt werden kann. 13 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt, 2009, S. 359, 361. 14 Der BGH hat dies für die Kündigung entschieden; dies wird jedoch auf Ausschließung und Einziehung übertragen, siehe H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709, 1713. 15 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt, 2009, S. 359, 361. 16 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt, 2009, S. 359, 361. 17 K.  Schmidt führt aus, dass undurchdachte Vertragsgestaltungen große Gefahren bergen; dazu und mit weiteren Ausführungen zu den Vorteilen einer GmbH & Co KG: es liege eine Kommanditgesellschaft mit dem dazugehörigen Vorteil einfacher Kapitalbeschaffung durch Eintritt und Einlagenerhöhung vor, deren Komplementär unsterblich sei und in der keine natürliche Person unbeschränkt hafte, sowie deren Management in der Hand eines GmbH-Geschäftsführers liege, siehe K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1627 f. 18 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709, 1713. 19 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1635. 20 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1635. 21 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1635. 22 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1635.

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Gerade letzteres war in dem nachfolgend unter IV. 1. geschilderten Fall aus der Praxis nicht geschehen. 3. Die Einheitsgesellschaft Einleuchtend wird das „Verzahnungserfordernis“ bei der beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG, bei der von den personen- und beteiligungsidentischen Ge­ sellschaftern wegen der gewünschten Interessengleichheit des Gesellschafterkreises eine dauerhafte Beibehaltung der Beteiligungsidentität in beiden Gesellschaften gewünscht wird. Bei einer solchen Ausgestaltung muss in beiden Gesellschaftsverträgen entsprechende Vorsorge mit den in Ziffer III. 2.  beschriebenen vertraglichen Verzahnungselementen betrieben werden, die der Jubilar als „Synchronisationsklauseln“ umschrieben hat.23 Die ideal verzahnte beteiligungsidentische GmbH & Co. KG hat ihren kautelarjuristischen Höhepunkt in der Einheits-GmbH & Co. KG gefunden, bei der die Kommanditgesellschaft selbst allein am Vermögen der GmbH beteiligt ist.24 Obwohl teilweise als misslungen bewertet,25 steht ihre Zulässigkeit heute außer Streit.26 Die Analyse der Auswirkungen der bei der GmbH & Co. KG unbestreitbar vor­ handenen Grundtypenvermischung ist im Hinblick auf die Einheitsgesellschaft besonders interessant. Denn sie offenbart, wie der Umgang des Gesetzgebers und der Gesellschaftsrechtspraxis mit der GmbH & Co. KG divergieren. So tendiert der Gesetzgeber dazu, die GmbH & Co. KG in wesentlichen Punkten wie eine GmbH zu behandeln.27 Dies wird deutlich bei den Regelungen zur Firmierung, Rechnungslegung und Mitbestimmung.28 Die Kautelarpraxis orientiert sich dagegen an dem Charakter als Personengesellschaft.29 Dies wird deutlich bei der Orientierung an der Höhe der Beteiligungsquote der KG für das Stimmrecht der Gesellschafter bei der Komplementärin und an dem Umstand, dass bei der Einheitsgesellschaft die Gesellschafter ausschließlich an der KG beteiligt sind und die GmbH dadurch marginalisiert wird.30 Im Einzelfall ist deswegen denkbar, dass bei unterschiedlichen Typen der GmbH & Co. KG Krisen in der Binnenstruktur anhand der gesellschaftsrecht­lichen 23 Aderhold, Handlungsbedarf und Lösungen bei unterschiedlichen Beteiligungsverhältnissen in der GmbH & Co. KG, 14.  Gesellschaftsrechtliche Jahresarbeitstagung, DAI e.V., S. 235, zusammenfassend: Maßgeblichkeit der Beteiligungsquoten der KG, Verpflichtung zur Herstellung des Quotengleichlaufs in Vinkulierungsklauseln, Einziehungsklauseln, Nachfolgeklauseln und Amortisationsklauseln. 24 K. Schmidt, Zur Binnenverfassung der GmbH & Co. KG – Wer ist Herr im Haus: die GmbH oder die Kommanditisten? in FS Röhricht, 2005, S. 511, 528. 25 K.  Schmidt in FS Röhricht, 2005, S.  511, 528; K.  Schmidt, JZ 2008, 425, 435: K.  Schmidt spricht bei dieser Ausgestaltung von einer Totalverkümmerung der Komplementär GmbH. 26 Hoffmann-Becking, Geschäftsführer der GmbH & Co. KG  – eine hybride Rechtsstellung zwischen GmbH und KG in FS K. Schmidt, 2009, S. 359, 361. 27 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt, 2009, S. 359, 362. 28 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt, 2009, S. 359, 362. 29 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt, 2009, S. 359, 362. 30 Hoffmann-Becking in FS K. Schmidt, 2009, S. 359, 362.

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Ordnungsgesetze, unterschiedlich beurteilt werden. Im Mauracher Entwurf zum „Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts“ wird die Einheits-KG in §  170 HGB-E gesetzlich geregelt und die bisher typischen gesellschaftsvertraglichen Rechte der Kommanditisten in der Gesellschaftsversammlung der GmbH gesetzlich formiert. Die Entwicklung der Vertragsgestaltung in der Praxis zeigt, dass die vom Gesetz­ geber als typische Kommanditgesellschaft mit einer starken Position des Komplementärs im Rahmen der Typenvermischung von GmbH und KG tendenziell zu einer Schwächung der Position des Komplementärs geführt hat. Gleichwohl kann es zweckmäßig sein und sieht die Kautelarpraxis deshalb vor, dass bestimmte Gestaltungsformen auch eine starke Position des Komplementärs absichern. Gerade bei Familienunternehmen mit natürlichem Eigner-Komplementär ist diese Ausgestaltung von höchster Praxisrelevanz.31 So hat auch bereits der Jubilar dargestellt, dass Beteiligungsverschiedenheiten bei GmbH und KG häufig auf bewussten Gestaltungsüberlegungen beruhen.32 Bei der Einheits-GmbH & Co.KG ist die Beteiligungsidentität stets vertragsimmanent vorgegeben. Sie soll deshalb hier als Paradefall und idealer Problemverhinderer bei gewünschter Beteiligungsidentität in diesem Beitrag nicht weiter behandelt werden.

IV. Der Sonderfall einer nicht beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG Die nicht beteiligungsidentische GmbH & Co. KG ist in der Praxis nicht immer das Produkt einer unvorsichtigen und mangelhaften Gestaltungspraxis33, sondern kann entweder ganz bewusst oder auch durch tatsächliche Ereignisse und Entwicklungen im Gesellschafterbestand entstehen, bei denen die Akteure die vorgesehenen rechtlichen Sicherungsinstrumente aus vielfältigen Gründen nicht genutzt oder sich juristisch inkonsequent verhalten haben, wie z.B. von Einziehungsmöglichkeiten keinen Gebrauch gemacht haben, entweder aus Rücksicht auf die betroffene Person oder aus finanziellen Gründen. Hieran entfachen sich später leicht Konflikte. 1. Ein Fall aus der Praxis Anhand eines praktischen Falles, den der Jubilar auch anwaltlich betreut hat, soll aufgezeigt werden, welche Konflikte im Gesellschafterkreis einer GmbH & Co.KG bei 31 Vgl. K. Schmidt, JZ 2008, 425, 436. 32 Aderhold, Handlungsbedarf und Lösungen bei unterschiedlichen Beteiligungsverhältnissen in der GmbH & Co. KG, 14.  Gesellschaftsrechtliche Jahresarbeitstagung, DAI e.V., S. 236. 33 Wertenbruch, NZG 2016, 1081, 1085 f. mit weiteren Beispielen: Die paritätische Besetzung der Komplementär GmbH als Gegengewicht zur Beschlussmehrheit eines Gesellschafterstammes in der KG, die Verselbstständigung der „aktiven“ Kommanditisten gegenüber der „Nur-Kommanditisten“ und die Vermeidung der Mitbestimmung durch abweichende GmbH-Beteiligung.

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Unbeabsichtigte Beteiligungsdisparität

teils beabsichtigter, teils unbeabsichtigter disparitätischer Beteiligungsstruktur der Komplementär-GmbH typischerweise entstehen können. Ein Unternehmensgründer hatte seine Kinder in das als Kommanditgesellschaft verfasste Familienunternehmen aufgenommen. Der älteste Sohn A, der die Unternehmensleitung vom Vater übernommen hatte, wurde Komplementär, die übrigen Kinder Kommanditisten. Der Komplementär A erhielt auch den größten Kapitalanteil an der Gesellschaft. A verstarb überraschend infolge eines Verkehrsunfalls. A wurde von seiner Ehefrau F und seiner damals noch minderjährigen Tochter T beerbt, die in die Leitungsfunktion des Erblassers weder nachfolgen wollten noch nachfolgen konnten. Vor diesem Hintergrund entschieden sich alle Familienmitglieder einvernehmlich für eine neue Gesellschaftsstruktur. Die Erbinnen F und T erhielten unter Übernahme des Kapitalanteils des Verstorbenen jeweils die Stellung von Kommanditistinnen. Eine neu gegründete GmbH wurde neue geschäftsführende Gesellschafterin der Kommanditgesellschaft, die damit fortan als GmbH & Co. KG firmierte. Neben der F und T waren noch vier weitere Familienmitglieder Kommanditisten. Eine der als Kommanditistinnen beteiligten Schwestern des Verstorbenen, die B, verfügte über große Unternehmerqualitäten und sollte nach dem Willen der Familie zusammen mit Fremdgeschäftsführern die Unternehmensleitung übernehmen. Ganz bewusst wurden die Beteiligungsquoten der Komplementär-GmbH deshalb unabhängig von der Beteiligungsstruktur in der KG ausgestaltet und der GmbH gegenüber den Kommanditisten eine starke Stellung in der KG eingeräumt. Von den Kommanditisten wurden nur B und F zu je 50 % alleinige Gründungsgesellschafter der GmbH. Die faktische Unternehmensführung lag hauptsächlich bei der Gesellschafter-Geschäftsführerin B. Einer der Fremdgeschäftsführer, der neben B über den maßgeblichsten Einfluss im Unternehmen verfügte, war X, der Ehemann der B. Nachdem dieser zunächst zehn Jahre Fremdgeschäftsführer der Komplementärin gewesen war, wurde er auf Wunsch aller Gesellschafter der KG und der GmbH im Wege einer Kapitalerhöhung zum dritten der fortan zu je einem Drittel an der Komplementärin beteiligten Gesellschafter F, B und X. X war damit GmbH-Gesellschafter, ohne an der KG beteiligt zu sein. Dadurch sollte ganz bewusst der Einfluss von X auf die Geschicke des Unternehmens gestärkt und für die Zukunft abgesichert werden. F übertrug später ihren GmbH-Geschäftsanteil von 33,3 % und ihre Kommanditbeteiligung auf ihre bereits als Kommanditistin an der KG beteiligte T, die infolge der Übertragung eine Kommanditbeteiligung von 49,5  % hielt. Nachdem eine andere Kommanditistin aus der Gesellschaft ausgetreten war, erhöhte sich die Kommanditbeteiligung der T durch Anwachsung auf 55,8 %. T verfügte damit über die Mehrheit des Kommanditkapitals, während die Eheleute B und X über die Anteilsmehrheit an der Komplementärin verfügten. Lange Zeit wurden alle Entscheidungen in der Familiengesellschaft einstimmig gefasst. T wurde auch zur Geschäftsführerin der Komplementärin bestellt. Aufgrund von Differenzen über die Geschäftspolitik kam es später zum persönlichen Zerwürfnis zwischen T und den Eheleuten X und B. Im Verlauf des Konflikts setzten 153

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B und X mit ihrer Anteilsmehrheit die Abberufung der T als Geschäftsführerin der Komplementär-GmbH durch. Im Anfechtungsprozess über Ts Abberufung als Geschäftsführerin machte diese geltend, es widerspreche dem Wesen und den Grundprinzipien einer GmbH & Co. KG, wenn die Mehrheitskommanditistin gegen ihren Willen als Geschäftsführerin der Komplementär-GmbH abberufen werden könne. Der beschriebene Fall ist ein typisches Beispiel dafür, dass sich Unstimmigkeiten im Gesellschafterkreis am ehesten an zentralen Fragen der Geschäftsführung entzünden.34 2. Umgang mit der unbeabsichtigten Beteiligungsdisparität bei der Abberufung eines Geschäftsführers einer nicht beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG Die Ausgestaltung der Beteiligungsverhältnisse kann bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt werden,35 um bestimmte (oder alle) Kommanditisten der KG vom Einfluss auf die Geschäftsführung weitgehend auszuschließen, etwa weil diese als reine Kapitalgeber fungieren sollen oder der Firmengründer seine Unternehmernachfolge selektiv variabel gestaltet.36 Motivation ist dabei häufig, dass der Gründer seine Nachkommen an dem Unternehmen zwar beteiligen, er die Geschäftsführung jedoch vorübergehend weiterhin allein wahrnehmen oder nur bestimmte geeignete Personen an der Geschäftsführung partizipieren lassen will.37 Vor diesem Hintergrund ist bei der Behandlung von als GmbH & Co. KG verfassten Unternehmen im Einzelnen jedoch Vorsicht anzuraten. Denn die kleinsten Veränderungen in der Ausgestaltung der Einflussmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft können zu stark divergierenden Ergebnissen führen. So stellt sich bei der unbeabsichtigten Beteiligungsdisparität im Zusammenhang mit der Frage der Geschäfts­ führung besonders deutlich das Problem: „Wer ist Herr im Haus: die GmbH oder die Kommanditisten?“.38 An diese Machtfrage anknüpfend eröffnet sich die umstrittene Frage, unter welchen Voraussetzungen im Rahmen eines solchen Spannungsfeldes ein (Gesellschafter-) Geschäftsführer abberufen werden kann. Hierzu werden in der Literatur und Rechtsprechung unterschiedliche Meinungen mit Blick auf das Erfordernis eines sachlichen Grundes vertreten. 3. Die Beurteilung der Beteiligungsdisparität anhand der kautelarjuristischen Gestaltungspraxis Um die Machtfrage zu beantworten, hilft wieder der Blick auf die gesetzliche Ausgestaltung der Kommanditgesellschaft. Denn soweit es sich um die Geschäftsführungs34 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709, 1712. 35 Sudhoff/Liebscher, GmbH & Co. KG, § 3, Rz. 1. 36 Sudhoff/Liebscher, GmbH & Co. KG, § 3, Rz. 4. 37 Sudhoff/Liebscher, GmbH & Co. KG, § 3, Rz. 4. 38 Zur Formulierung der Frage: K. Schmidt in FS Röhricht, 2005, S. 511.

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Unbeabsichtigte Beteiligungsdisparität

befugnisse handelt, ist gesetzlich die Position des Komplementärs stark und die der Kommanditisten schwach ausgestaltet. Trotz Fortentwicklung der Rechtsform der Kommanditgesellschaft weg vom Typus der stillen Gesellschaft wurde die schwache gesetzliche Ausgestaltung der Kommanditistenstellung nicht abgeschafft.39 Hierfür seien beispielhaft nur die §§ 164, 166 HGB erwähnt.40 Weitergehend kennt das Gesetz im Grundsatz keine Beschlusskompetenzen der Kommanditisten, keine Vorlagepflicht des Komplementärs, keine Pflicht zur Einberufung der Gesellschafterversammlung, kein Interventionsrecht der Kommanditisten und keine Unterlassungsansprüche bezüglich rechtswidriger Geschäftsführungsmaßnahmen.41 In sehr vielen Fällen der GmbH & Co. KG sind aufgrund des Gesellschaftsvertrags gleichwohl die Kommanditisten die „Herren im Hause“ der Gesellschaft.42 Ihnen stehen Weisungsrechte gegenüber der bloß organisationsrechtlich dienenden Komplementär-GmbH zu.43 Dadurch, dass dennoch zwei eigenständige Rechtsträger bestehen, bedürfen GmbH-spezifische Beschlüsse einer Beschlussfassung in der GmbH.44 Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich indes bei dem sog. „Zentralverwaltungsmodell“ der GmbH & Co. KG,45 bei dem die GmbH die Herrin im Hause ist. Gleichwohl beruht diese Dominanz nicht auf der durch das Handelsgesetzbuch vorgegebenen Komplementärstellung, sondern auf dem Gestaltungswillen der Beteiligten.46 Aufgrund der verschiedenen Ausgestaltungmöglichkeiten im Rahmen der kautelarjuristischen Praxis lassen sich also erhebliche Unterschiede darin feststellen, wie die Positionen der Komplementäre und der Kommanditisten ausgestaltet sind und von der gesetzlichen Regelung abweichen. 4. Umgang mit der Beteiligungsdisparität unter Einbeziehung der Grundsätze der Grundtypenvermischung Ist festgestellt, welche Machtstellung die jeweiligen Gesellschafter haben, muss im Streitfall geklärt werden, nach welchem Recht diese Streitigkeiten aufgelöst werden

39 K.  Schmidt, Die GmbH & Co. KG als Lehrmeisterin des Personengesellschaftsrechts, JZ 2008, 425, 427. 40 Der Vergleich zur stillen Gesellschaft ergibt sich aus dem Wortlaut der §§ 166, 233 HGB. 41 K. Schmidt, JZ 2008, 425, 432. 42 K. Schmidt in FS Röhricht, 2005, S. 511, 539 f.: typisch ist in diesem Kontext eine GmbH & Co KG, deren Komplementärin keinen Kapitalanteil hat und weder unternehmerische Eigeninteressen der GmbH noch unternehmerische Drittinteressen in der Kommanditgesellschaft zur Wirksamkeit verhilft. 43 K. Schmidt in FS Röhricht, 2005, S. 511, 519, 540. 44 K. Schmidt in FS Röhricht, 2005, S. 511, 540. 45 K. Schmidt in FS Röhricht, 2005, S. 511, 540: Die Geschäftsführung ist dort dem unmittelbaren Zugriff der Kommanditisten entzogen. Anstelle des Weisungsrechts tritt eine treuhänderische Interessenwahrnehmungspflicht der GmbH und ihres Geschäftsführers, ergänzt durch Informationsrechte der Kommanditisten. 46 K. Schmidt in FS Röhricht, 2005, S. 511, 540.

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können. Ferner ist für den Fall der Abberufung eines Geschäftsführers zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen diese erfolgen kann. Dafür ist zunächst maßgeblich, auf welcher Grundlage die Abberufung des Geschäftsführers zu beurteilen ist. So kann die jederzeitige (grundlose) Abberufung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH auf § 38 Abs. 1 GmbHG oder, wenn der Gesellschaftsvertrag von § 38 Abs. 2 GmbHG Gebrauch macht, nur auf einen wichtigen Grund für die Abberufung gestützt werden. Die Abberufung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH muss durch Beschluss der Gesellschafterversammlung der GmbH erfolgen, woran die Kommanditisten als solche nicht beteiligt sind (anders bei einer Einheitsgesellschaft).47 Folglich stellt sich einer direkten Entscheidung der Kommanditisten unter Einflussnahme auf die Komplementär-GmbH das Bedenken entgegen, dass es sich um einen Organisationsakt der GmbH mit registerrechtlichen Folgen handelt, §  39 Abs.  1 GmbH.48 Materiell-rechtlich ist also zu überlegen, ob durch einen organisationsrechtlichen Durchgriff der Kommanditisten dadurch unabdingbare Interessen an einzelnen Rechtsformelementen überspielt werden.49 Eine solche Befürchtung wird indes nicht bei echten Geschäftsführungsakten angezeigt sein.50 Daraus folgt, dass Weisungen der Gesellschafterversammlung der KG an die Komplementär-GmbH möglich und verbindlich sind, während bei der Abberufung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH es sich um eine Zuständigkeit der Gesellschafterversammlung der GmbH handelt, mit der auch registerrechtliche Konsequenzen verbunden sind und die deswegen nicht durch eine Entscheidung der Kommanditisten ersetzt werden kann.51 Entschließen sich die Gesellschafter der Komplementär-GmbH dazu, einen (Gesellschafter)-Geschäftsführer ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes abzuberufen, so stellt sich die Frage, ob es für die Abberufung zumindest eines sachlichen Grundes bedarf. Diese Frage stellt sich umso mehr in dem Fall, in dem es sich um einen Gesellschafter-Geschäftsführer einer Komplementär GmbH handelt, der zugleich (Mehrheits-)Kommanditist der Kommanditgesellschaft ist. Der eingangs genannte §  38 GmbHG ist insoweit eigentlich eindeutig. Denn nach dem Gesetz kann die Abberufung des Geschäftsführers jederzeit und ohne Grund 47 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S.  1709, 1712  f.; so selbst ausdrücklich §  170 Abs. 2 HGB-E des „Mauracher Entwurf zum Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts“. 48 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709, 1714. 49 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709, 1714. 50 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709, 1714. 51 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709, 1714 f.; eine andere Ansicht wird von K. Schmidt in FS Röhricht, 2005, S. 532 vertreten, der im Falle des Integrationsmodells – die Komplementär-GmbH hat ausschließlich dienende Funktionen – zwischen einer den Weisungen der Kommanditisten unterworfenen GmbH-Gesellschafterversammlung und den konstitutiv wirkenden Beschlüssen wie den Anmeldungen zum Handelsregister differenziert.

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Unbeabsichtigte Beteiligungsdisparität

erfolgen. Diese freie Widerruflichkeit der Geschäftsführerbestellung korrespondiert mit der Weisungsgebundenheit des Geschäftsführers nach §  37 GmbHG. Bemerkenswert ist zudem, dass das Gesetz keine Unterscheidung zwischen einem Fremdund einem Gesellschafter-Geschäftsführer macht. Die jüngere Rechtsprechung nimmt dabei an, dass dem Grunde nach die freie Abberufbarkeit nicht aus dem Grund zu beanstanden ist, dass eine Stellung als Gesellschafter-Geschäftsführer vorliegt.52 Dies soll nur ausnahmsweise dann anders zu beurteilen sein, wenn die Geschäftsführerstellung als Sonderrecht, insbesondere in der Satzung ausgestaltet ist.53 In der Rechtsprechung wird darüber hinaus nicht vertreten – wohl vor dem Hintergrund der insoweit klaren gesetzlichen Regelungen –, dass stets bestimmte Gründe für die Abberufung des Gesellschafter-Geschäftsführers vorliegen müssen. Allenfalls stellt die Rechtsprechung in bestimmten Fällen fest, dass der Gesellschafter-Geschäftsführer vor einer völlig willkürlichen Entscheidung und sachwidrigen, gesellschaftsfremden Erwägungen der Mitgesellschafter geschützt werden soll. In einem solchen Fall soll ausnahmsweise die gesellschafterliche Treuepflicht gebieten, dass ein sachlicher Grund für die Abberufung vorliegen muss. Gleichzeitig ist diese Anforderung nicht mit einem wichtigen Grund zu verwechseln. Denn die Hürde für die Annahme eines sachlichen Grundes ist nicht besonders hoch.54 Folgt man dieser Ansicht, so drängt sich für die juristische Praxis die Frage der Darlegungs- und Beweislast auf. Da das Einschränken der nach dem Gesetz freien Abberufbarkeit einen Ausnahmefall darstellt, trägt derjenige die Darlegungs- und Beweislast, der einen Beschlussmangel geltend macht.55 Die besseren Gründe sprechen insgesamt dafür, dass es grundsätzlich überhaupt keines sachlichen Grundes für die Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers bedarf, wenn dazu keine Regelung im Gesellschaftsvertrag vorgesehen ist.56 Der Schutzzweck der Norm des § 38 Abs. 1 GmbHG besteht gerade darin, jederzeit und ohne einen sachlichen Grund die Abberufung des Geschäftsführers erreichen zu können.57 Diese ist Gegenmittel gegen die nach außen ansonsten unbeschränkte Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers.58 Die gesellschaftsvertraglichen Gestal52 LG Köln v. 23.8.2018 – 88 O 33/18, juris, Rz. 55. 53 LG Köln v. 23.8.2018 – 88 O 33/18, juris, Rz. 55. 54 Sachliche Gründe können beispielsweise sein: OLG Naumburg v. 13.1.2000  – 7 U (Hs) 24/99, NZG 2000, 608, 609  f.: Kostenersparnis und Verschlankung des Geschäftsführergremiums durch Abberufung eines Geschäftsführers; OLG Saarbrücken v. 10.10.2006 – 4 U 382/05-169, BeckRS 2006, 13432: In einer personalistisch geprägten Gesellschaft gab es tiefgreifende persönliche Zerwürfnisse, die der weiteren Zusammenarbeit der Gesellschafter nachhaltig im Wege standen; OLG Zweibrücken v. 5.6.2003  – 4 U 117/02, NJW-RR 2003, 1398: Vorliegen einer Vielzahl von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen; OLG Jena v. 4.12.2001 – 8 U 751/01, NZG 2009, 89 f.: Insgesamt keine völlige Zufriedenheit der Mitgesellschafter mit der Schnelligkeit der Arbeitsleistung. 55 OLG Koblenz v. 21.6.2007 – 6 W 298/07, BeckRS 2007, 10829. 56 So auch Brandenburgisches OLG v. 30.1.2008 – 7 U 59/07, juris. 57 Graf von Westphalen, Koppelungsklauseln in GmbH-Geschäftsführerverträgen auf dem Prüfstand, NZG 2020, 321, 323.  58 Graf von Westphalen, NZG 2020, 321, 323

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tungsfreiheiten bei der GmbH, auch bei der Komplementär-GmbH, lassen hin­ reichende Möglichkeiten zu, die Abberufung von Gesellschafter-Geschäftsführern durch entsprechende Satzungsregelungen zu beschränken und dadurch Gesellschafter-Geschäftsführer zu schützen. Aus diesem Grund ist es richtig, dass das Gesetz diesbezüglich keinen Unterschied zwischen einem Fremd- und einem Gesellschaftergeschäftsführer macht. Die Mehrheit der Gesellschafter muss in beiden Fällen ihren Willen hinsichtlich der Geschäftsführerposition durchsetzen können. Würde man der ersten Ansicht folgen, so setzt man sich einerseits in Widerspruch zu dem Willen des Gesetzgebers – der in § 38 GmbHG deutlich wird – und würde andererseits auch das GmbH-rechtliche Grundprinzip der gesellschaftsrechtlichen Satzungsautonomie übergehen. Grenzen der freien Widerruflichkeit der Geschäftsführerstellung eines Gesellschafters finden sich unter allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Gesichtspunkten des Schikaneverbots oder des Verbots sittenwidriger Schädigung, §§ 226, 826 BGB.59 5. Beachtung von Treuepflichten bei der Beteiligungsdisparität und der Abberufung eines Komplementär-Geschäftsführers im Rahmen einer Familiengesellschaft Für eine als Familiengesellschaft verfasste, nicht beteiligungsidentische GmbH & Co. KG stellt sich bei der Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers die Frage, ob die Grundsätze dieser Rechtsprechung übertragbar sind. Eine vielbeachtete Entscheidung des OLG München aus dem Jahre 2003 wird als wichtiger Anhaltspunkt für die Beurteilung der Machtverhältnisse innerhalb einer Familiengesellschaft und die Anforderungen für die Abberufung eines Komplementär-Geschäftsführers gesehen. Zunächst fragt sich, woran die Machtverhältnisse der unterschiedlichen Gesellschafter festgemacht werden sollen. Das OLG München stellt dabei im Ausgangspunkt auf den Gesellschaftsvertrag ab. Zur Verdeutlichung soll hier der erste Leitsatz der Entscheidung dienen: „Ist eine Familien-KG nach Gesellschaftsvertrag und gelebter gesellschaftsrechtlicher Praxis so ausgestaltet, dass alle wesentlichen Entscheidungen den Kommanditisten vorbehalten sind, während die  – weder mit einer Kapitalbeteiligung noch mit Stimmrecht ausgestattete – Komplementär-GmbH auf die Führung der laufenden Geschäfte beschränkt ist, so ist es dem Gesellschafter der Komplementär-GmbH verwehrt, unter Berufung der Organisationshoheit der GmbH deren Geschäftsführer, der das Vertrauen der Kommanditisten genießt, ohne zustimmenden Beschluss der Gesellschafter der KG abzuberufen und zu ersetzen.“.60 Die Komplementär-GmbH war in diesem Einzelfall somit mit einer schwachen Stellung versehen, die der Komplementär-GmbH eine dienende Funktion zuschrieb. Diese Konstellation kommt dem oben beschriebenen Typus der GmbH & Co. KG, bei dem die Kommanditisten die „Herren im Hause“ sind, nahe. Weiter urteilte das OLG München, dass eine Versagung der Zustimmung durch die Komplementär-GmbH gegen die zwischen den Gesellschaftern untereinander beste59 Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 38 Rz. 2. 60 OLG München v. 19.11. 2003 − 7 U 4505/03, GmbHR 2004, 587.

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hende gesellschaftsrechtliche Treupflicht verstoße.61 Nach dieser habe der geschäftsführende Gesellschafter in allen Angelegenheiten, die das Interesse der Gesellschaft berühren, deren Wohl und nicht seinen eigenen Nutzen oder den Vorteil anderer im Auge zu halten.62 Diese Treuepflicht gelte hier dadurch verstärkt, da es sich um eine Familiengesellschaft handele; ihre Grenze finde diese Pflicht dort, wo der Gesellschafter berechtigte eigene Interessen wahrnehme.63 Aus der Entscheidung ergibt sich ferner, dass aufgrund der schwachen Stellung der Komplementär-GmbH im konkret entschiedenen Fall keine schützenswerten Eigeninteressen der GmbH zu berücksichtigen waren.64 Bei einer Familiengesellschaft, bei der die Kommanditisten mit einer starken Rechtsstellung ausgestattet sind, ergibt sich also nach dieser Entscheidung eindeutig, dass die Macht bei den Kommanditisten liegt. In einem solchen Fall kann dann sogar eine besondere Treuepflicht der Komplementärin begründet werden. Ein komplett spiegelbildliches Ergebnis stellt sich indes bei dem eingangs beschriebenen Praxisfall mit einer starken Komplementärin dar. Denn das OLG München hat selbst auch keinen Durchgriff der Kommanditisten statuiert, sondern stellt auf die Funktion der Komplementär-GmbH in dem konkreten Fall ab.65 Diese beschränkte sich dort ausschließlich auf die Geschäftsführung in der Art eines Fremdorgans bei gleichzeitig starker Ausgestaltung der Kompetenzen der Kommanditisten.66 Im hiesigen Beispielsfall ist die Komplementär-GmbH hingegen mit weitreichenden Rechten ausgestattet, während die Einflussmöglichkeiten der Kommanditisten begrenzt sind. Aufgrund der Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrages ist weiter auch nicht von einem Erfordernis sachlicher Abberufungsgründe für den Widerruf der Geschäftsführerbestellung auszugehen. Vielmehr hatten die Gesellschafter der hiesigen FamilienGmbH & Co. KG letztlich die gesetzliche Regelung beibehalten. Die Satzungsautonomie darf dann auch nicht durch das Auferlegen besonderer sachlicher Gründe für die Abberufung eines (Gesellschafter-)Geschäftsführers ausgehebelt werden. Eine in welcher Form geartete – beispielsweise durch Familienzugehörigkeit – Treuepflicht der Gesellschafter untereinander kennt das Recht nicht, und kommt vor diesem Hintergrund deswegen auch nicht zum Tragen. Denn einerseits hat die Komplementär-GmbH keine bloß dienende Funktion gegenüber den Mehrheitskommanditisten. Andererseits kann eine Treuepflicht allenfalls besonders willkürliche, schikanöse und schädigende Entscheidungen auffangen, die in dem hiesigen Praxisfall nicht gegeben waren. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit der vorhandenen Rechtsprechung des BGH. Zu der Frage der Treuepflicht bei der Geschäftsführerabberufung hat sich der BGH in einem Nichtannahmebeschluss befasst. Der BGH bringt dort zum Ausdruck, dass die gesellschafterliche Treuepflicht einem Gesellschafterbeschluss über die Abbe­ rufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers entgegenstehen kann, wenn dieser ­dadurch um seine berufliche und wirtschaftliche Lebensgrundlage gebracht wür61 OLG München v. 19.11. 2003 − 7 U 4505/03, GmbHR 2004, 587, 589. 62 OLG München v. 19.11. 2003 − 7 U 4505/03, GmbHR 2004, 587, 589. 63 OLG München v. 19.11. 2003 − 7 U 4505/03, GmbHR 2004, 587, 589. 64 OLG München v. 19.11. 2003 − 7 U 4505/03, GmbHR 2004, 587, 589. 65 H. P. Westermann in K. FS Schmidt, 2009, S. 1709, 1715. 66 H. P. Westermann in K. FS Schmidt, 2009, S. 1709, 1715.

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de.67  In dem dortigen Fall hatte der Gesellschafter-Geschäftsführer in einer zweigliedrigen GmbH mit einer Beteiligung von 49% seine Tätigkeit als Geschäftsführer zum Lebensberuf gemacht und sich hierauf eingerichtet. 68 Die Abberufung diente dem Ziel, diesen Gesellschafter-Geschäftsführer um seine berufliche Existenz zu bringen und ihn an den Rand der Gesellschaft zu drängen.69 Das OLG Karlsruhe hat diese Gedanken der Entscheidung des BGH für den Fall ­aufgegriffen, dass die abberufene Gesellschafter-Geschäftsführerin mit 20% an der Gesellschaft beteiligt ist. Das Gericht hat in diesem Fall zwar festgestellt, dass die ­Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft und den Mitgesellschaftern ein Verhalten schuldeten, das auf die mitgliedschaftlichen Interessen der anderen Gesellschafter Rücksicht nimmt.70 Die Abberufung könne dann das Vorliegen eines sachlichen Grundes zur Voraussetzung haben.71 Angesichts der Regelung in § 38 Abs. 1 GmbHG sei bei der Annahme eines solchen Falles jedoch Zurückhaltung geboten.72 Unter Anwendung des Maßstabes der BGH-Entscheidung waren die übrigen Gesellschafter nicht in ihrem Willen beschränkt, die abberufene Gesellschafter-Geschäftsführerin abzuberufen.73 Ähnlich hat auch das LG Köln jüngst entschieden. Eine Einschränkung der Abberufung unter dem Gesichtspunkt der Treuepflichtverletzung bestehe nur dann, wenn der Geschäftsführer eine namhafte Beteiligung habe und die Mitgliedschaft den ­Charakter einer Unternehmer-Gesellschafterstellung einnehme.74 Soweit eine Einschränkung der Abberufbarkeit angenommen werde, werde dies jedoch auf Sonderfälle beschränkt, insbesondere bei paritätischen oder nahezu paritätischen Zwei-­ Mann-Gesellschaften.75 Das LG Köln weist weiter insbesondere darauf hin, dass ein Verweis auf Minderheitsrechte dem Ausnahmecharakter der Einschränkung der freien Abberufung des Geschäftsführers nicht gerecht werde.76 6. Zusammenfassung der Ansätze für den Umgang mit der unbeabsichtigten Beteiligungsdisparität und der Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers Maßgeblich ist nach alledem, dass zunächst auf den Inhalt des Gesellschaftsvertrages und dessen Auslegung abzustellen ist. Dabei muss ermittelt werden, welche Rechte und Instrumente die Gesellschafter für die Ausgestaltung der Komplementär- und 67 BGH v. 29.11.1993 – II ZR 61/93, juris. 68 OLG Karlsruhe v. 25.10.2016 − 8 U 122/15, BeckRS 2016, 111429, Rz. 51. 69 OLG Karlsruhe v. 25.10.2016 − 8 U 122/15, BeckRS 2016, 111429, Rz. 51. 70 OLG Karlsruhe v. 25.10.2016 − 8 U 122/15, BeckRS 2016, 111429, Rz. 51. 71 OLG Karlsruhe v. 25.10.2016 − 8 U 122/15, BeckRS 2016, 111429, Rz. 51. 72 OLG Karlsruhe v. 25.10.2016 − 8 U 122/15, BeckRS 2016, 111429, Rz. 51. 73 OLG Karlsruhe v. 25.10.2016 − 8 U 122/15, BeckRS 2016, 111429, Rz. 51. 74 LG Köln v. 23.8.2018 – 88 O 33/18, juris, Rz. 56. 75 LG Köln v. 23.8.2018 – 88 O 33/18, juris, Rz. 56: dort war der abberufene Gesellschafter-Geschäftsführer lediglich Minderheitsgesellschafter. 76 LG Köln v. 23.8.2018 – 88 O 33/18, juris, Rz. 56.

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der Kommanditistenstellung vorgesehen haben. Sind beispielsweise weitgehende Zustimmungsvorbehalte oder Weisungsrechte zu bestimmten Entscheidungen der Komplementär-GmbH zu Gunsten der Kommanditisten nach § 164 HGB vereinbart, so dürfte dies für eine starke Stellung der Kommanditisten sprechen. Fehlt ein solcher Vorbehalt indes, so dürfte daraus geschlossen werden, dass die KomplementärStellung über eine rein dienende Funktion hinausgeht und folglich auch die Entscheidungen im Rahmen der GmbH-Gesellschafterversammlung unabhängig von Einflüssen der Mehrheitskommanditisten getroffen werden. Ähnliches ist für die Abberufung eines Kommanditisten als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH festzuhalten. Der Widerruf der Bestellung richtet sich, sofern im Gesellschaftsvertrag der GmbH keine andere Regelung vorgesehen ist, ausschließlich nach § 38 GmbHG. Das dort statuierte freie Abberufungsrecht kann grundsätzlich weder durch sachliche Gründe, noch durch besondere Treuepflichten zwischen den Gesellschaftern eingeschränkt werden. Einzig können willkürliche, schikanöse oder schädigende Entscheidungen der Mehrheitsgesellschafter, die auf gesellschaftsfremden Erwägungen beruhen oder die Existenz ihrer Mitgesellschafter gefährden, in engen Grenzen rechtlich angegriffen werden.

V. Praktische Lösungen für Konflikte bei Beteiligungsdisparität in der gelebten Gesellschaft In der Literatur wird diskutiert, welche weiteren Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um Konflikte im Rahmen der Beteiligungsdisparität aufzulösen.77 In Betracht kommen die Annahme einer besonderen Treuepflicht und die Ausschließung der Komplementär-GmbH aus der Kommanditgesellschaft oder zumindest der Entzug der Geschäftsführungsbefugnis der Komplementärin.78 1. Geltendmachung von Treuepflichten Willkürliche Entscheidungen der Komplementär-GmbH sollen über die Treuepflicht verhindert werden. Danach sollen die GmbH-Mehrheitsgesellschafter von ihrer Be77 Der Lösungsansatz über eine Einheits-GmbH & Co. KG oder die vertragliche Vorsorge dürften hier zu vernachlässigen sein. Denn die Erfahrung aus der Praxis zeigt, dass festgefahrene Situationen zwischen Familiengesellschaftern sich nur selten bis überhaupt nicht lösen können. 78 Aderhold, Handlungsbedarf und Lösungen bei unterschiedlichen Beteiligungsverhältnissen in der GmbH & Co. KG, 14.  Gesellschaftsrechtliche Jahresarbeitstagung, DAI e.V., S. 231: dort geht der Jubilar auf S. 245 f. auch auf die Problematik ein, dass Kommanditisten kein Informationsrecht wie die GmbH-Gesellschafter nach § 51a GmbHG haben und deswegen von Maßnahmen die ggf. unter den § 164 HGB fallen, erst zeitverzögert erfahren; wie diese Problematik sich durch die Einführung der weiteren Informationsrecht der Kommanditisten nach § 166 HGB-E tatsächlich entschärfen kann, gilt abzuwarten. Denn das Auskunftsrecht steht unter dem Vorbehalt einer besonderen Ausübungskontrolle, insoweit die Erteilung der Auskunft zur Wahrnehmung der Mitgliedsrechte des Kommanditisten erforderlich sein muss (BMJV, „Mauracher Entwurf “, April 2020, S. 182).

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fugnis zur Personalkompetenz nicht schrankenlos Gebrauch machen können, sondern bei Beschlüssen in der Gesellschafterversammlung der GmbH auf die Mitgesellschafter in der Kommanditgesellschaft Rücksicht nehmen müssen.79 Wie bereits die Entscheidung des OLG München gezeigt hat, soll keinesfalls ein Durchgriff der Kommanditisten auf die Gesellschafterebene der GmbH geschaffen werden. Es wird zwar die Ansicht vertreten, die Gesellschafterversammlung der GmbH habe aufgrund der Komplementärstellung dieser Gesellschaft unter Treuepflichtgesichtspunkten die Interessen der KG zu beachten,80 ohne dass sich bei Nichtbeachtung dieser Pflicht aber für die GmbH-Gesellschafter im Verhältnis zur KG oder deren Kommanditisten haftungsrechtliche Konsequenzen ergeben sollen.81 Gleichwohl ist die Komplementär-GmbH aufgrund von § 114 HGB dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass die Aufgaben der Geschäftsführung im Interesse der Kommanditgesellschaft wahrgenommen werden.82 Deswegen sollen keine Geschäftsführer bestellt werden dürfen, die nicht geeignet sind.83 Daraus soll folgen, dass den Kommanditisten lediglich insoweit Einfluss auf die Geschäftsführerbestellung und deswegen auch auf ihre Abberufung bestehen soll, als in der Person objektive Abberufungsgründe vorliegen. Mit einer so geltenden Treuepflichtbindung sollen folglich lediglich Willkürentscheidungen abgewendet werden können. 2. Ausschließungsbestrebungen Die Abberufung oder Ausschließung der Komplementär-GmbH wird mitunter als das härteste Schwert der Mehrheitskommanditisten in Erwägung gezogen. Denn diese Maßnahme dürfte nicht nur zum Bruch jedes Vertrauens innerhalb der Familie führen, sondern der so angreifende Kommanditist dürfte sich dann seinerseits Ausschließungs- und Einziehungsversuchen der Anteilseignermehrheit in der GmbH ausgesetzt sehen.84 Die Kommanditisten müssten zudem die Abberufung oder Ausschließung der bisherigen Komplementärin mit einer allein von ihnen gegründeten neuen Komplementärin verbinden.85 Für die Praxis von großer Bedeutung ist im Zusammenhang hiermit die jüngste Rechtsprechung des BGH zu der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis des geschäftsführenden Gesellschafters einer KG als ein relativ unentziehbares Recht.86 79 Vgl. Aderhold, Handlungsbedarf und Lösungen bei unterschiedlichen Beteiligungsverhältnissen in der GmbH & Co. KG, 14. Gesellschaftsrechtliche Jahresarbeitstagung, DAI e.V., S. 231, 256. 80 Henze/Notz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, Anhang 1 GmbH & Co. KG, Rz. 125. 81 Henze/Notz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, Anhang 1 GmbH & Co. KG, Rz. 125. 82 Henze/Notz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, Anhang 1 GmbH & Co. KG, Rz. 97. 83 Dazu zählen insbesondere die Fälle der in § 6 Abs. 2 GmbHG enthaltenen Ausschlussgründe. 84 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S.1709, 1719 f. 85 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, 2009, S. 1709, 1720. 86 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18.

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Der der Entscheidung zu Grunde liegende Fall stellte sich wie folgt dar: Die Klägerin und die Beklagte zu 2 waren Kommanditisten einer GmbH & Co. KG. Die Beklagte zu 1 war Komplementärin. Nach dem Gesellschaftsvertrag war die Komplementärin allein zur Vertretung und Geschäftsführung berechtigt und verpflichtet. Beschlüsse in der Gesellschafterversammlung der Kommanditgesellschaft wurden mit einfacher Mehrheit gefasst. In einer Gesellschafterversammlung erklärte der Geschäftsführer als Versammlungsleiter einen Beschluss für unwirksam, obwohl eine deutliche Mehrheit für diesen Beschluss gestimmt hatte. Der Beschluss sah vor, dass einem geschäftsführenden Gesellschafter durch Gesellschafterbeschluss die Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis ohne Angaben von Gründen mit einer Frist von zwei Monaten zum Ende des Quartals entzogen werden kann. Die von der Klägerin mit der Klage verfolgte Feststellung der Wirksamkeit der Änderung des Gesellschaftsvertrages hatte vor dem BGH keinen Erfolg. Der BGH stellte fest, dass die Geschäftsführungs- und Vertretungsberechtigung der Beklagten zu 1 zwar kein Sonderrecht im Sinne des §  35 BGB darstelle, da dieses grundsätzlich unentziehbar sei.87 Darunter fielen nur Rechtspositionen, die individuell einem Gesellschafter oder einer Gesellschaftergruppe durch die Satzung eingeräumt und zudem als unentziehbare Rechte ausgestaltet seien, nicht jedoch eine Rechtsstellung, die allgemein mit der Mitgliedschaft verbunden sei.88 Vielmehr handele es sich bei der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis der Beklagten zu 1 um ein relativ unentziehbares Recht.89 Die Entziehung eines solchen Rechts bedürfe einer besonderen Rechtfertigung.90 In dem vom BGH zu entscheidenden Fall fehlte es an einer solchen Rechtfertigung. Zwar könne der Entzug der Geschäftsführungs- und Vertretungsberechtigung auch ohne wichtigen Grund durch den Gesellschaftsvertrag vorgesehen werden.91 Gleichwohl sei eine solche Regelung im ursprünglichen Gesellschaftsvertrag nicht vorgesehen und müsse sich wegen ihrer nachträglichen Einfügung daran messen lassen, dass mit ihr in ein relativ unentziehbares Recht eingegriffen werde.92 Denn die Einführung der Möglichkeit zur Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis ohne weitere Gründe ermögliche es der Mehrheit, ohne weitere Voraussetzungen, insbesondere ohne Zustimmung der Beklagten zu  1, die Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse zu entziehen.93 Der Eingriff in ein relativ unentziehbares Recht sei indes dann rechtmäßig, wenn dies im Interesse der Gesellschaft geboten und für den betroffenen Gesellschafter unter Berücksichtigung seiner schutzwürdigen Belange zumutbar sei oder er dem Eingriff zugestimmt habe.94 Diese Voraussetzungen lagen nach Auffassung des BGH nicht vor. Insbesondere begründe allein der 87 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 12. 88 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 12. 89 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 16. 90 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 17. 91 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 19. 92 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 19. 93 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 20. 94 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 21.

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Vertrauensverlust der Mehrheit der Gesellschafter kein Recht, eine Änderung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis herbeizuführen, ohne einen Rechtsstreit über das Vorliegen des wichtigen Grundes darüber führen zu müssen.95 Spiegelbildlich zu dem Ausschluss der Komplementärin durch die Kommanditisten, kann auch die Komplementärin aktiv werden und die Kommanditgesellschaft kündigen. Da es sich dabei nicht um eine Geschäftsführungsmaßnahme i.S.d. § 164 HGB handelt, stellt sich noch die Folgefrage, ob eine solche Kündigung gegen den Willen der Mehrheit der Kommanditisten wirksam ist.96 Denn die Kündigung der Komplementärin führt nach § 131 Abs. 3 Nr. 3 HGB zu ihrem Ausscheiden und dazu, dass die Kommanditgesellschaft ohne Komplementärin als aufgelöst zu betrachten ist.97 3. Anwendbarkeit auf den Fall der unbeabsichtigten Beteiligungsdisparität Die Stimmen, die sich mit der nicht beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG befassen, betrachten zumeist den Fall, dass die Komplementär-GmbH lediglich eine dienende Funktion in der Kommanditgesellschaft innehat. Dies entspricht jedoch weder dem Ausgangspunkt im Gesetz noch in dem hier näher geschilderten Fall, in dem die Komplementärstellung auch aufgrund des Zustimmungsvorbehalts zu Gunsten der Komplementäre für Beschlüsse der Kommanditisten, besonders stark ausgeprägt ist. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die Stellung des Komplementärs als besonders stark ausgestaltet, sofern es um Fragen der Geschäftsführung geht. Da in dem hiesigen Fall der Gesellschaftsvertrag im Wesentlichen den gesetzlichen Bestimmungen entsprach, führte die Analyse desselbigen zu keinem anderen Ergebnis, nämlich, dass die Geschäftsführung der Komplementär-GmbH vorbehalten bleibt. Eine weitergehende Treuepflicht war ebenfalls im Gesellschaftsvertrag der Komplementär-GmbH nicht angelegt. Eine solche gesteigerte gesellschafterliche Treuepflicht ergibt sich auch nicht aus dem Gesetz.

VI. Fazit Die Betrachtung der ursprünglich beteiligungsidentischen, nunmehr nicht mehr be­ teiligungsidentischen GmbH & Co. KG hat gezeigt, dass bei Fehlen von Verzah­ nungsmechanismen, praxisorientierte Lösungen nur anhand allgemeiner rechtlicher Grundsätze gefunden werden können. So kommt es vorrangig auf den Inhalt des Gesellschaftsvertrags und auf dessen Auslegung bei der Komplementär-GmbH und der Kommanditgesellschaft an. Dabei sind auch bei der GmbH & Co. KG, unabhängig von der Gesellschafterkonstellation, also auch bei fehlender Beteiligungsidentität, die Rechts- und Machtverhältnisse in der Komplementär-GmbH und in der Kommanditgesellschaft grundsätzlich getrennt voneinander zu betrachten. Eine sog. „Durchgriffsbetrachtung“ zwischen den beiden Gesellschaftsformen und -verfassungen ver95 BGH v. 13.10.2020 − II ZR 359/18, Rz. 23. 96 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, S. 1709, 1720 f. 97 H. P. Westermann in FS K. Schmidt, S. 1709, 1721.

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bietet sich also. Bei der Frage der Bestellung bzw. Abberufung von Geschäftsführern in der Komplementär-GmbH ist bei der Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrages besondere Sorgfalt bei den vertraglichen Regelungen anzuwenden, wenn vom gesetzlichen Normalfall abgewichen werden soll. Eine darüberhinausgehende gesellschafterliche Treuepflicht besteht dabei grundsätzlich nicht, auch nicht angesichts familiärer Strukturen oder durch unterschiedliche Beteiligungsverhältnisse bei der Kommanditgesellschaft und der Komplementär-GmbH; die Treuepflicht begründet auch nicht das Erfordernis besonderer sachlicher Gründe für die Personalentscheidungen bezüglich der Geschäftsführung in der Komplementär-GmbH. Nur in den Ausnahmefällen der schikanösen und schädigenden Willkür kann die gesellschafterliche Treuepflicht Einschränkungen des Mehrheitswillens der Gesellschafter in der jeweiligen Gesellschaft bewirken. Die Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrages wird deshalb auch in Zukunft die entscheidende Rolle spielen.

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Vorausschauende Vertragsgestaltung in Familienunternehmen – Im Spannungsfeld zwischen der Erhaltung des Familiencharakters und der Vermeidung lästiger Gesellschafter Inhaltsübersicht I. Leitlinien der Vertragsgestaltung 1. Informationsgewinnung und Interessendefinierung 2. Gestaltungsbedarf und -optionen

3. Vinkulierung bei Familienunternehmen

II. Herausforderung bei Familienunter­ nehmen 1. Spannungsfeld zwischen Unternehmen und Familie 2. Interesse des Gründers an Erhaltung

V. Ergänzende Gestaltungen 1. Errichtung eines Beirates 2. Kündigungsrecht bei Zustimmungs­ verweigerung 3. Andienung mit anschließender Zustimmungspflicht 4. Interner Shoot-out-Mechanismus

I II. Vinkulierung als Steuerungsmittel 1. Klauselinhalt 2. Zustimmung

IV. Alternative Gestaltungen 1. Vorkaufsrecht der Mitgesellschafter 2. Mitveräußerungsrechte

VI. Schluss

Der Jubilar hat sein Wirken der Beratung und Vertragsgestaltung im Unternehmensbereich verschrieben, und zwar in Theorie und Praxis.1 Herzstück jeder rechtlichen Beratung ist die an den Bedürfnissen und Zielen des Mandanten2 orientierte „zeitund zukunftsgerechte Gestaltung privater Lebensverhältnisse mit den Mitteln und in den Grenzen des Rechts“ 3. Unverzichtbares Gestaltungsmittel sind Verträge, die in einem schöpferischen und kreativen Prozess entwickelt werden und „eine Brücke zwischen der Rechtsordnung und dem sozialen Leben bauen“ 4. Eine „Königsdisziplin“ stellt die Gestaltung der Gesellschaftsverträge von Familienunternehmen dar. Bei diesen handelt es sich gemeinhin um Handelsgesellschaften, die im Eigentum von familiär miteinander verbundenen Personen stehen und deren Leitung maßgeb-

1 Lutz Aderhold lehrt seit dem Jahr 2000 (seit 2009 als Honorarprofessor) an der Universität Münster zum Thema „Vertragsgestaltung im Wirtschaftsrecht“ und ist damit ein Garant für den Erfolg der Schwerpunktbereiche „Rechtsgestaltung und Streitbeilegung“ sowie „Wirtschaft und Unternehmen“. Aus dieser Lehrtätigkeit ist das Studienbuch Vertragsgestaltung entstanden, welches mittlerweile in 4. Auflage vorliegt: Aderhold/Koch/Lenkaitis, Vertragsgestaltung, 4. Aufl. 2021. 2 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Form verwendet. Die Ausführungen beziehen sich auf Personen aller Geschlechter (m/w/d). 3 Rehbinder, AcP 174 (1974), 265, 266. 4 Aderhold/Koch/Lenkaitis, Vertragsgestaltung, 4. Aufl. 2021, § 1 Rz. 2.

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lich von diesen bestimmt wird.5 Durch die aufgrund von Ehe oder Verwandtschaft bestehende Verbindung zwischen Gesellschaftern existiert stets – mit jeder nachfolgenden Generation sogar im gesteigerten Maße – das Risiko, dass familiäre Streitigkeiten zwischen Geschwistern, Generationen oder Familienstämmen innerhalb des Unternehmens ausgetragen werden. Der Fortbestand der Gesellschaft sowie der Erhalt ihres familiären Charakters6 im Speziellen kann gefährdet sein, wenn Familienmitglieder aufgrund persönlicher Differenzen nicht an einer konstruktiven Teilhabe im Unternehmen interessiert sind. In dieser Gemengelage besteht ein Spannungsfeld zwischen der Bewahrung des kennzeichnenden Charakters des Familienunternehmens und der Vermeidung lästiger Familiengesellschafter.

I. Leitlinien der Vertragsgestaltung Oberste Priorität bei der Vertragsgestaltung ist die zweckorientierte und umfassende Wahrnehmung der Interessen des Mandanten. Die damit korrespondierenden Pflichten folgen entweder aus dem Gesetz (für den Notar gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 BeurkG) oder aus vertraglicher Vereinbarung (für den Vertragsanwalt) und setzen zugleich den Maßstab für die Vorgehensweise zu ihrer Verwirklichung.7 Wenngleich sich hinsichtlich der einzelnen Schritte teils ein logischer Aufbau ergibt, gehen diese während des gesamten Gestaltungsprozesses ineinander über, sodass sich die Entwicklung eines Vertrages stets als ein dynamischer Vorgang darstellt.8 Regelmäßig geht es nicht um kurzfristige Lösungen, vielmehr wird von dem Berater eine geeignete Strategie zur dauerhaften Streitvermeidung im Familienunternehmen erwartet. 1. Informationsgewinnung und Interessendefinierung Jede rechtliche Beratung bedarf der Erforschung des zugrundeliegenden Sachverhalts, der das Fundament der Betreuung bildet.9 Das Anliegen des Mandanten ist frühzeitig zu konkretisieren und zu definieren. Insbesondere bei der Gestaltung von 5 Habbe/Gieseler, NZG 2016, 1010; Hennerkes/May, NJW 1988, 2761. In gewissen Fällen können sich Abgrenzungsfragen zur Bruchteilsgemeinschaft (§§ 741 ff. BGB) stellen, etwa wenn es um das „Halten und Verwalten“ eines oder mehrerer im Familieneigentum stehender Grundstücke geht; dazu eingehend Aderhold in Erman, BGB, Bd. I, 16.  Aufl. 2020, § 741 Rz. 2; zur Unterscheidung von Miteigentum nach Bruchteilen und Gesamthandseigentum siehe Aderhold in Erman, BGB, Bd. II, 16. Aufl. 2020, Vor § 1008 Rz. 3 ff. 6 Auch in Nicht-Familiengesellschaften besteht bei persönlichen Beziehungen der Gesellschafter regelmäßig ein Interesse an einem unveränderten Gesellschafterkreis; R.  Koch, DZWIR 2010, 441. 7 BGH v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, NJW 2018, 2476 f.; BGH v. 9.1.2020 – IX ZR 61/19, NJW 2020, 1139. 8 Aderhold/Koch/Lenkaitis, Vertragsgestaltung, 4. Aufl. 2021, § 4 Rz. 1; Rehbinder, Vertragsgestaltung, 2. Aufl. 1993, S. 18.  9 BGH v. 19.1.2006 – IX ZR 232/01, NJW-RR 2006, 923, 925; Fahrendorf in Fahrendorf/Mennemeyer, Haftung des Rechtsanwalts, 9. Aufl. 2017, Rz. 479; Kamanabrou, Vertragsgestaltung, 5. Aufl. 2019, § 1 Rz. 15 f.

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Vorausschauende Vertragsgestaltung in Familienunternehmen

Gesellschaftsverträgen spielen die privaten, sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe des Mandanten eine bedeutende Rolle. Der Berater muss die Vollständigkeit und Bestandskraft der Informationen einschätzen und gegebenenfalls Sorge dafür tragen, Änderungen oder weitere Details zu erfahren. 2. Gestaltungsbedarf und -optionen Der Vertragsgestalter prüft auf Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Informationen, wie die anvisierten Ziele des Mandanten erreicht werden können. Die Erforschung der Rechtslage hat grundsätzlich „nach jeder Richtung“ zu erfolgen, um die Belange des Auftraggebers wahrzunehmen.10 Stehen die regelungsbedürftigen Bereiche fest, kommt es zur eigentlichen Konzipierung des Vertrages, innerhalb derer die verschiedenen Gestaltungsoptionen zu evaluieren sind. In diesem Stadium wird allgemein zwischen der Erfüllung- und der Risikoplanung unterschieden.11 Von Relevanz ist dabei das auf der Haftungsrechtsprechung des BGH gründende Gebot des sichersten Weges, wonach bei der Wahrnehmung der Interessen des Mandanten die am relativ sichersten und am wenigsten gefährlichen Maßnahmen aufgezeigt werden sollen.12 Gleichwohl steht dem nicht entgegen, in der Gestaltung einen risikoreichen Weg einzuschlagen, sofern der Mandant einen solchen wünscht. Der Rechtsberater ist „lediglich“ angehalten, hinreichend über die Gefahren aufzuklären und Sicherungsmechanismen zur Vermeidung und Lösung von Konflikten vorzuschlagen.13 Vorbeugende Regelungen erfordern einen (prognostischen) Blick in die Zukunft. Um den Erwartungen des Mandanten zu genügen, muss ein Vertrag zukünftigen Entwicklungen sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht standhalten, sodass es der Fantasie des Gestalters bedarf, um mögliche Probleme früh zu identifizieren.14 Die Antizipation drohender Interessenkonflikte aus dem Umfeld des Mandanten setzt ein hohes Maß an praktischem Verständnis, Einfühlungsvermögen sowie Menschenkenntnis voraus.

II. Herausforderung bei Familienunternehmen Familiengesellschaften sind seit jeher keine gewöhnlichen Unternehmen. Ihre Faszination und historische Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft liegen primär in ihrer organisatorischen Prägung begründet. Unternehmen erzählen Geschichte(n): 10 BGH v. 17.3.2016 – IX ZR 142/14, WM 2016, 2091, 2092 m.w.N. 11 Erfüllungsplanung meint die Verwirklichung der Sachziele der Parteien. Risikoplanung ­beschreibt die Vermeidung von Verlusten (Kosten) bei nicht ordnungsgemäßer Erfüllung (Risikovermeidungsziele); Aderhold/Koch/Lenkaitis, Vertragsgestaltung, 4. Aufl. 2021, § 4 Rz. 59 ff. 12 BGH v. 21.9.2000 – IX ZR 439/99, NJW 2000, 3560, 3561; BGH v. 1.3.2007 – IX ZR 261/03, NJW 2007, 2485, 2486; Fahrendorf, NJW 2006, 1911, 1913 f. 13 BGH v. 1.3.2007 – IX ZR 261/03, NJW 2007, 2485, 2486; BGH v. 14.10.2010 – I ZR 2012/08, NJW 2011, 2138, 2141. 14 Grundlegend Kanzleiter, NJW 1995, 905; Aderhold/Koch/Lenkaitis, Vertragsgestaltung, 4. Aufl. 2021, § 3 Rz. 17 ff.; Moes, Vertragsgestaltung, 2020, Rz. 3 f.

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Von kleinen häuslichen Betrieben mittels jahrzehntelangen Wachstums unter familiärer Führung hin zu weltweiten Aushängeschildern ihrer Branche! Diese Unternehmen stehen seit der Nachkriegszeit sinnbildlich für den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland.15 Die familiäre Struktur ermöglicht schnelle und flexible Entscheidungen und sorgt bei Mitarbeitern wie Kunden für Identifikation mit dem Geschäft. Bis heute nehmen sie so eine gewichtige Rolle auf dem deutschen Markt ein.16 Im Zuge der Globalisierung und ihres generationsbedingten Wandels stellt sich allerdings zunehmend die Frage, wie sie sich weiterhin behaupten und erhalten können. Die Lösungen sind komplex und kommen aus unterschiedlichen Fächern. Einen Lösungsbeitrag kann und muss die Rechtsberatung leisten: eine zukunftssichere gesellschaftsvertragliche Gestaltung. 1. Spannungsfeld zwischen Unternehmen und Familie Eine familiäre Beherrschung bietet einerseits Vorteile, andererseits Konfliktpotential zwischen den Gesellschaftern, da in ihr zentrale Familien- und Unternehmensinte­ ressen fast zwangsläufig konvergieren. Dies gilt spätestens, wenn sich die familiären Verhältnisse durch Tod, Heirat oder die Übergabe an die Nachfolgegeneration ändern.17 Familieninterne Streitigkeiten können in das Unternehmen hineingetragen werden. Schwerlich überbrückbare Differenzen drohen, die die Handlungsfähigkeit des Unternehmens infrage stellen, wenn die rechtlichen Verhältnisse für derartige Konfliktfälle und Machtkämpfe nicht in geeigneter Weise geregelt sind. Unklare Nachfolgeregelungen für die Geschäftsleitung, nicht auflösbare Patt-Situationen zwischen Gesellschafterstämmen oder fehlende Vorgaben für die Ausschließung sowie Abfindungen von Gesellschaftern haben enormes Konfliktpotential. Angesichts dessen ist ein stabiler und generationsübergreifender Ordnungsrahmen zu schaffen, durch den sowohl die beteiligten Familien als auch die Gesellschaft vor Beeinträchtigungen geschützt werden.18 2. Interesse des Gründers an Erhaltung Im Spannungsfeld zwischen Unternehmen und Familie liegen die Nachfolge und die Entwicklung der Gesellschaft.19 Anliegen des Gründers ist es typischerweise, den besonderen Charakter des Unternehmens, nämlich in familiärem Eigentum zu stehen und von deren Hand geführt zu werden, langfristig zu erhalten. Über die Nachfolgeplanung sind die Mehrheitsverhältnisse und das Gesellschaftsvermögen famili15 Beispielhaft genannt seien die Robert Bosch GmbH, die Beiersdorf AG oder die Bertelsmann SE & Co. KGaA; siehe Fleischer, NZG 2017, 1201, 1205. 16 So erwirtschafteten im Jahr 2013 die 4.500 größten deutschen Familienunternehmen etwa ein Fünftel der Gesamtumsätze und beschäftigten rund ein Sechstel der Arbeitnehmer aller deutschen Unternehmen; Habbe/Gieseler, NZG 2016, 1010 m.w.N. 17 Im Einzelnen mit weiteren Beispielen: Westermann, NZG 2015, 649, 650. 18 Hennerkes/May, NJW 1988, 2761; Westermann, NZG 2015, 649. 19 Allein im Zeitraum von 2010 bis 2014 wurde nach Schätzungen des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn für knapp 110.000 Familienunternehmen die Nachfolgefrage relevant; siehe Kespohl, GWR 2011, 130.

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enintern an die nächsten Generationen weiterzugeben.20 Freilich muss dafür eine entsprechende Bereitschaft zur Nachfolge vorhanden sein. Nicht wenige „Unternehmerkinder“ zieht es nicht in den familiären Betrieb, weil sie einen anderen, eigenen Berufsweg gehen oder Strapazen innerhalb sowie Zugeständnisse gegenüber der Familie fürchten, welche sie während ihrer Kindheit persönlich erlebt haben. Einige Eltern- oder Großelterngenerationen scheitern dementsprechend faktisch mit ihrem Vorhaben, die Geschäftsleitung ihres Betriebes an die Kinder oder Enkelkinder weiterzugeben. In solchen Fällen ist gegebenenfalls darauf hinzuarbeiten, den wirtschaftlichen Unternehmenswert in anderer Form in Familienhand zu erhalten. Erfolgt die Übernahme, kann die jüngere Generation andere Visionen für das Unternehmen verfolgen, die nicht mit dem ursprünglich intendierten Erhalt des Familiencharakters übereinstimmen. In älteren Gesellschaftsverträgen enthaltene Nachfol­ geregelungen werden zudem in ihrer Einfachheit der Vielfalt heute verbreiteter Lebensentwürfe nicht mehr vollumfänglich gerecht.21 Mit der Nachfolge, der Offenheit gegenüber neuen Ideen oder dem externen Druck einer Internationalisierung kann das Gefühl der strengen Zugehörigkeit zur Familie („Stammesdenken“22) abnehmen. Eine zu enge Bindung an die Familieneigenschaft kann sich demnach als Fehlgriff herausstellen und die zukunftsorientierte Leitung des Betriebes gefährden.

III. Vinkulierung als Steuerungsmittel Klassisches Steuerungsinstrument, um den Charakter als geschlossene Familiengesellschaft zu erhalten, ist der Ausschluss der freien Übertragbarkeit der Gesellschaftsanteile (Vinkulierung).23 In Personengesellschaften sieht die gesetzliche Konzeption vor, dass Anteile mit der Zustimmung der übrigen Gesellschafter übertragen werden können, sie sind bereits kraft Gesetzes vinkuliert. Dagegen ist die Mitgliedschaft bei Kapitalgesellschaften grundsätzlich frei verkehrsfähig. Einschränkungen müssen ausdrücklich in der Satzung vereinbart werden.

20 Wolf, MittBayNot 2013, 9 m.w.N. 21 Roesener, NJW 2016, 2214; ähnlich Westermann, NZG 2015, 649, 650. 22 So ausdrücklich Klein-Wiele, NZG 2018, 1401, 1402 im Zusammenhang mit Poolverträgen in Familienunternehmen, bei denen spätestens ab der dritten Generation nach dem Gründer ein bis dahin stark ausgeprägtes Stammesdenken naturgemäß abgelegt wird; ähnlich Loritz, NZG 2007, 361, 365 zur Entfremdung zwischen Familienstämmen. Siehe auch Binz/ Mayer, NZG 2012, 201, die ebenso spätestens ab der dritten Generation die latente Gefahr einer Entfremdung unter den Gesellschaftern sehen, wenn keine ausgeprägte Familienkultur gepflegt wird, die ein „Wir-Gefühl“ schafft. Gerade in einer sog. „Patchwork-Familie“, die infolge mehrfacher Ehen und Lebenspartnerschaften eines Gesellschafters aus mehreren Familienstämmen besteht, gestaltet sich eine solche gemeinsame Willensbildung oft schwierig; Westermann, NZG 2015, 649, 650. 23 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9.  Aufl. 2019, §  15 Rz.  97; Lange/Sabel, NZG 2015, 1249.

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1. Klauselinhalt Dass ebenso bei Kapitalgesellschaften die Verankerung eines Zustimmungserfordernisses (Einwilligung oder Genehmigung, §§ 182–184 BGB) zur Anteilsübertragung im Gesellschaftsvertrag zulässig ist, folgt ausdrücklich aus § 15 Abs. 5 GmbHG bzw. für Namensaktien aus § 68 Abs. 2 AktG. Sieht die Satzung eine solche Klausel vor, sind Verfügungsgeschäfte über vinkulierte Anteile ohne eine Zustimmung bis zu deren Erteilung schwebend bzw. im Fall ihrer Verweigerung endgültig unwirksam.24 Die Konzeption der Vinkulierungsklausel lässt dem Rechtsberater einigen Gestaltungsspielraum im Hinblick auf die Modalitäten der von den übrigen Gesellschaftern zu erteilenden Zustimmung. Trotz der spezifischen Vorgaben in § 68 Abs. 2 AktG gilt die Satzungsfreiheit grundsätzlich auch für die AG,25 jedoch sind Gestaltungen ausgeschlossen, nach denen die vinkulierten Namensaktien überhaupt nicht mehr übertragen werden können.26 Soll eine äußerst strikte Klausel in die Satzung aufgenommen werden, kann bestimmt werden, dass alle Anteilsinhaber einstimmig zustimmen müssen, was indes erheblich zulasten der Verkehrsfähigkeit der Mitgliedschaft ginge. Eine einfache oder qualifizierte Mehrheit kann daher als ausreichend vereinbart werden. Nach überwiegender Auffassung ist es sogar zulässig, die Wirksamkeit der Abtretung eines Geschäftsanteils von der Zustimmung eines Beirates oder Aufsichtsrates abhängig zu machen.27 Darüber hinaus kann in der Satzung bezüglich der Abtretungsbeschränkungen differenziert werden, ob sie für bestimmte oder für alle Geschäftsanteile gelten sollen oder ob Einschränkungen bzw. Ausnahmen für bestimmte Fallkonstellationen gemacht werden. Bei Familienunternehmen wird die Bestimmung regelmäßig vor­ sehen, dass Anteile innerhalb der Familie ohne Weiteres veräußert werden können, für externe Transaktionen hingegen ein Zustimmungsvorbehalt gilt.28 Gleichwohl kommt es hier auf die konkrete Struktur der Beteiligungsverhältnisse an. Je größer der Gesellschafterkreis in einem Familienunternehmen ist, etwa weil ihm mehrere Familien- bzw. Gesellschafterstämme angehören, desto ausdifferenzierter sollte das Regelwerk sein. In diesem Fall ist zusätzlich zu erörtern, ob die Vinkulierungsklausel nur das unerwünschte Eindringen von Außenstehenden zu verhindern oder die Beteiligungsverhältnisse zwischen den einzelnen Stämmen zu erhalten hat.29 24 Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 15 Rz. 47; Heckschen/Weitbrecht, NZG 2019, 721, 724. 25 Bayer in MünchKomm. AktG, Bd. 1, 5. Aufl. 2019, § 68 Rz. 57 ff. m.w.N.; etwas restriktiver Heckschen/Weitbrecht, NZG 2019, 721, 725. 26 J. Koch in Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 68 Rz. 14. 27 Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt GmbH-Gesetz, Bd. 1, 3.  Aufl. 2017, §  15 Rz. 152 m.w.N. 28 Binz/Mayer, NZG 2012, 201, 202; zu den möglichen Differenzierungen Reichert/Weller in MünchKomm. GmbHG, Bd. 1, 3. Aufl. 2018, § 15 Rz. 394. 29 Blasche, RNotZ 2013, 515, 523; siehe auch Westermann, NZG 2015, 649, 654 f., wonach die Satzung besonders in „Patchwork-Familien“ die Folgen einer Ehescheidung oder des Auseinandergehens miteinander verheirateter Gesellschafter für die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises behandeln sollte.

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2. Zustimmung Stellt der ausscheidungswillige Gesellschafter einen konkreten Interessenten für die zu veräußernden Anteile vor, besteht ein Anspruch darauf, dass über sein Begehren binnen angemessener Frist entschieden wird. Für die Gestaltung der Rahmenbedingungen der Zustimmungserteilung hat der Berater ebenso einen Spielraum. Gründe oder Maßstäbe, nach denen die Zustimmung zu gewähren oder zu versagen ist, können explizit in den Gesellschaftsvertrag aufgenommen werden. Ansonsten handelt es sich um eine Ermessensentscheidung.30 Der Zustimmungsberechtigte ist angehalten, sein Ermessen pflichtgemäß auszuüben, insbesondere indem er den Vinkulierungszweck sowie das Interesse des Gesellschafters an der freien Veräußerung seines Anteils gegeneinander abwägt.31 Grundsätzlich steht das Wohl der Gesellschaft im Vordergrund, sodass es keines wichtigen Grundes bedarf, um die Genehmigung zu verweigern. Eine aus einer Ermessensreduzierung auf Null folgende Pflicht zur Zustimmung kommt lediglich in Ausnahmefällen infrage.32 3. Vinkulierung bei Familienunternehmen Bei Familienunternehmen wird mit der Anteilsvinkulierung bezweckt, die familiäre Struktur der Gesellschaft durch die Verhinderung einer Beteiligung familienfremder Dritter dauerhaft zu bewahren. Prinzipiell ist es legitim, eine vom ausscheidungswilligen Gesellschafter geforderte Anteilsübertragung zum Wohle des Unternehmens abzulehnen. Zwar kann bei der Gewichtung und Abwägung der gegenseitigen Inte­ ressen die konkrete Struktur des Familienunternehmens von Bedeutung sein (so werden bei einem kleinen geschwisterlichen Gesellschafterkreis andere Erwägungen relevant als bei einem familiär bereits „teilentfremdeten“ Unternehmen mit einer Vielzahl von Gesellschaftern), jedoch müssen schwerwiegende Gründe vorgetragen werden, um eine Zustimmungspflicht begründen zu können.33 Im Zweifel werden sich der veräußerungswillige und die übrigen Gesellschafter hierüber uneinig sein. Ein innerhalb des Unternehmens und möglicherweise vor Gericht ausgetragener Streit ist nahezu vorprogrammiert. Die Schwäche einer klassischen Vinkulierungsklausel wird sichtbar: Der ausscheidungswillige Gesellschafter kann jedenfalls temporär dazu gezwungen sein, gegen seinen Willen in der Gesellschaft zu verbleiben. Als „kleines Dankeschön“ mag er versucht sein, den Mitgesellschaftern durch die

30 Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbH-Gesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, § 15 Rz. 153 ff.; Reichert/Weller in MünchKomm. GmbHG, Bd. 1, 3. Aufl. 2018, § 15 Rz. 408 ff. 31 BGH v. 1.12.1986 – II ZR 287/85, NJW 1987, 1019, 1020; Reichert/Weller in MünchKomm. GmbHG, Bd. 1, 3. Aufl. 2018, § 15 Rz. 412. 32 Etwa wenn die Zustimmung aus Gründen der Gleichbehandlung, der Treuepflicht, des Verbots des Rechtsmissbrauchs, des Willkürverbots, der guten Sitten oder der Grundsätze von Treu und Glauben geboten ist; Blasche, RNotZ 2013, 515, 529; siehe auch Servatius in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 22. Aufl. 2019, § 15 Rz. 46 ff. 33 Binz/Mayer, NZG 2012, 201, 204; Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHGesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, Rz. 155.

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Ausübung seiner Mitgliedschaftsrechte zuzusetzen.34 In einer Familien-GmbH kann mittels der Einziehung des Geschäftsanteils und der Ausschließung des Ausscheidungswilligen nach § 34 Abs. 2 GmbHG gegengesteuert werden, jedoch müssen die Voraussetzungen derselben bereits ausdrücklich im Gesellschaftsvertrag geregelt sein und ein wichtiger Grund in der Person des Gesellschafters liegen, der eine Ausschließung aus der Gesellschaft rechtfertigt.35 Auch in einer OHG oder einer KG ist eine Ausschließung gemäß § 140 Abs. 1 HGB möglich, wenn ein wichtiger Grund in der Person des Gesellschafters i. S. des § 133 Abs. 2 HGB vorliegt. Regelmäßig, zumindest wenn der unlieb gewonnene Angehörige gut beraten ist und nicht vollkommen „über die Stränge schlägt“, wird der wichtige Grund kaum vorliegen respektive nachzuweisen sein. Vielmehr hat die Gesellschaft einen lästigen Gesellschafter „gewonnen“. Für ein Familienunternehmen, dessen Stärke in der persönlichen und vertrauten Organisation liegen sollte, ist das der worst case. Eine reine Vinkulierung verspricht nur anfangs Erfolg, wenn der Gesellschaft wenige Gesellschafter mit gleichgerichteten Interessen angehören. Sobald der Gesellschafterkreis indes nicht mehr aus dem engen Kern der Unternehmensgründer besteht, sondern von nachfolgenden Generationen dominiert wird, kann sie das mit der Zeit entstandene Spannungsfeld kaum mehr beherrschen.36 Eine Vinkulierungsklausel sollte infolgedessen durch individuelle Regelungen ersetzt oder ergänzt werden, um ein für beide Seiten interessengerechtes Ausscheiden aus der Gesellschaft zu ermöglichen.

IV. Alternative Gestaltungen Anstelle einer Anteilsvinkulierung können Klauseln gewählt werden, die die Verkehrsfähigkeit der Mitgliedschaft grundsätzlich nicht beschränken, es aber den Mitgesellschaftern überlassen, was mit dem Anteil oder mit dem Unternehmen als Ganzes geschehen soll. Der Charme solcher Modelle liegt darin, einen dauerhaften Entscheidungsstillstand (sog. deadlock) zu vermeiden. Die Beteiligten haben Planungssicherheit, wie in einem Veräußerungsfall zu verfahren ist bzw. welche Bedingungen für dessen Gelingen erfüllt sein müssen. 1. Vorkaufsrecht der Mitgesellschafter Ein naheliegender Schritt ist es, auf einen Verkauf der Anteile an die verbleibenden Mitgesellschafter hinzuwirken. Realiter stellt sich das ohne unterstützende Satzungs34 Krause in Scherer (Hrsg.), Unternehmensnachfolge, 6. Aufl. 2020, § 14 Rz. 127; zu Auswirkungen persönlicher Antipathien im Ablauf des Gesellschaftsverhältnisses Westermann, NZG 2015, 649, 651 f. 35 BGH v. 24.9.2013 – II ZR 216/11, NZG 2013, 1344, 1345 m.w.N.; ferner Stopp in Herrler (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Notar- und Gestaltungspraxis, 2017, § 9 Rz. 125 ff. 36 K. Schmidt, GmbHR 2011, 1289, 1296 bezeichnet die Anteilsvinkulierung in diesem Zusammenhang treffend als „Griff in die Zukunft“, der irgendwann an seine natürlichen Grenzen stoße; Loritz, NZG 2007, 361, 364.

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regelungen als kompliziert heraus. Ein Vertragsschluss droht selbst bei grundsätzlicher gegenseitiger (familiärer) Sympathie zu scheitern, wenn sich die Parteien über einen für beide Seiten akzeptablen Kaufpreis einigen sollen. Deshalb bietet es sich an, etwaige Dissonanzen mit Hilfe eines Vorkaufs- oder Vorerwerbsrechtes37 in Anlehnung an die §§ 463 ff. BGB zugunsten der Mitgesellschafter zu überbrücken. In Gesellschaftsverträgen ist eine solche Vereinbarung für den Fall einer Anteilsübertragung nicht unüblich.38 Sie ist prinzipiell geeignet, einem ungehinderten Eindringen Außenstehender oder einer überraschenden Verschiebung interner Machtverhältnisse vorzubeugen.39 Anstelle einer Vinkulierung könnte einem veräußerungswilligen Gesellschafter also ermöglicht werden, mit einem Dritten einen Kaufvertrag abzuschließen, dessen Bedingungen bei Ausübung des Vorkaufsrechtes sodann Inhalt des Kaufvertrags zwischen ihm und dem Mitgesellschafter werden (vgl. §  464 Abs.  2 BGB).40 Attraktiv wird diese Gestaltung dadurch, dass es zu einer raschen Lösung der Situation kommt, sobald ein Käufer gefunden wurde. Allerdings verleiht diese Option dem ausscheidungswilligen Gesellschafter verhältnismäßig viel Macht, die gegen das Unternehmen einsetzbar ist. Der Anteilsverkäufer kann einen überhöhten Kaufpreis mit dem Dritten festlegen, den die Mitgesellschafter im Zweifel akzeptieren, um den familiären Gesellschafterkreis geschlossen zu halten.41 Als Ausgleich bietet sich die Aufnahme einer weiteren Klausel in die Satzung an, welche den zu zahlenden Kaufpreis im Vorkaufsfall an bestimmte Bewertungsmethoden koppelt und insoweit missbräuchliche Abreden eines oberhalb des Marktwertes liegenden Preises verhindert. Schwerwiegender wiegt jedoch, dass der veräußerungswillige Gesellschafter dinglich nicht daran gehindert ist, seinen Gesellschaftsanteil auf den Drittkäufer zu übertragen und das Vorkaufsrecht seiner Mitgesellschafter schlichtweg zu ignorieren, denn seine Verfügungsbefugnis bliebe ohne eine Vinkulierungsklausel bestehen. Wenngleich ihm bei entsprechendem Vorgehen eine Schadensersatzpflicht droht, wird diese den verbleibenden Gesellschaftern kaum nützen, da ihnen die Entscheidung über die Ausübung des Vorkaufsrechts faktisch entzogen sein würde.42 Die gewährte Verkehrsfähigkeit des Anteils hätte so das übergeordnete Anliegen, den Fami37 Vorerwerbsrechte werden gegenüber Vorkaufsrechten meist als vorzugswürdig erachtet, weil sie nicht nur beim Verkauf, sondern auch bei anderen Veräußerungen (wie Schenkung) zum Zuge kommen, vgl. Mayer/Weiler in Beck’sches Notar-Hdb., 7. Aufl. 2019, § 22 Rz. 94. Da es hier primär um die Verkaufssituation geht, wird nicht weiter differenziert. 38 In Personengesellschaften sowie in der GmbH ist die Aufnahme einer solchen Klausel ohne Weiteres möglich. In der AG kann sich nur der Gesellschafter selbst schuldrechtlichen Vorkaufsrechten unterwerfen; Westermann in MünchKomm. BGB, Bd. 4, 8. Aufl. 2019, § 463 Rz. 10; Krause in Scherer (Hrsg.), Unternehmensnachfolge, 6. Aufl. 2020, § 14 Rz. 132. 39 Schulte/Hushahn in MünchHdb. des Gesellschaftsrechts, Bd. 1, 5. Aufl. 2019, § 73 Rz. 13. Darüber hinaus sollte das interne Berechtigungsverhältnis mehrerer Vorkaufsberechtigter und deren Ausübung geregelt werden; Michalski, NZG 1998, 95. 40 Eingehend Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbH-Gesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, § 15 Rz. 70 ff. 41 Schulte/Hushahn in MünchHdb. des Gesellschaftsrechts, Bd. 1, 5. Aufl. 2019, § 73 Rz. 13. 42 Zur Problematik eines ersatzfähigen Schadens, insbesondere wenn der Kaufpreis dem Verkehrswert entspricht: Binz/Mayer, NZG 2012, 201, 210.

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liencharakter des Unternehmens zu erhalten, konterkariert. Vor dem Hintergrund dieses Risikos ist eine Kombination aus Vorkaufsrecht und Anteilsvinkulierung empfehlenswert. 2. Mitveräußerungsrechte Mittels der Einräumung eines Mitveräußerungsrechts oder einer Mitveräußerungspflicht wird quasi der umgekehrte Weg gewählt: Dynamisierung der Umlauffähigkeit anstatt einer Einschränkung. In der angloamerikanischen Rechtspraxis als tag along und drag along gebräuchlich, bieten derartige Klauseln besondere Planungssicherheit für ein Verkaufsvorhaben, da dessen essentialia präventiv geregelt werden können. Beim Mitverkaufsrecht (tag along) sind die betreffenden Gesellschafter berechtigt, vom veräußerungswilligen Gesellschafter zu verlangen, dass der anteilserwerbende Dritte im Rahmen der Veräußerung ihre Beteiligung zu denselben dem Verkaufs­ vorgang zugrunde liegenden Bedingungen übernimmt.43 Dagegen gibt eine Mitverkaufspflicht (drag along) dem veräußerungswilligen Gesellschafter (zumeist der Mehrheitsgesellschafter) das Recht, von den übrigen Anteilsinhabern zu verlangen, sich im Fall eines Gesamtverkaufs des Unternehmens an einen Dritten zu den identischen Konditionen von ihren Anteilen zu trennen.44 Prima facie mag es paradox erscheinen, Klauseln in den Satzungen von an Beständigkeit und Geschlossenheit interessierten Familienunternehmen zu verankern, die einen Gesellschafterwechsel fördern. Denn sobald eine der genannten Veräußerungssituationen ausgelöst wird, geht der Charakter einer familiengeführten Gesellschaft häufig verloren. Allerdings kann auf diese Weise der immer wieder auftretenden Problemlage Rechnung getragen werden, dass die nachfolgende Generation nicht zur Weiterführung der Geschäfte bereit ist. Die vorzeitige Regelung der Rahmenbedingungen für einen Unternehmensverkauf gewährleistet, dass bei fehlender Nachfolgeperspektive zumindest der wirtschaftliche Wert der Gesellschaft in familiärer Hand bleibt. Ob hierzu auf tag along- oder (auch) auf drag along-Rechte zurückgegriffen werden sollte, hängt wiederum davon ab, wie viel „Macht“ einem ausscheidungswilligen Gesellschafter verliehen werden soll. Empfehlenswert, weil relativ gefahrlos, sind für gewöhnlich Mitveräußerungsrechte, da mit diesen ein Verkauf des Familienunternehmens gegen den Willen eines oder mehrerer Gesellschafter verhindert wird. Eine verpflichtende Aufgabe der Gesellschafterstellung kann in Ausnahmefällen notwendig sein, um sowohl die Familienmitglieder, die sich aus emotionaler Verbundenheit vor einem Verkauf sträuben, als auch das Unternehmen selbst, dem ein geeigneter Nachfolger fehlt und dem möglicherweise eine wirtschaftliche Verschlechterung 43 Seibt in MünchAnwaltshdb. GmbH-Recht, 4. Aufl. 2018, § 2 Rz. 309 f. 44 Zur Frage, ob solche Klauseln zulässig oder mit der Konstellation einer prinzipiell unzulässigen Hinauskündigungsklausel, die den einseitigen grundlosen Ausschluss einzelner Gesellschafter ermöglichen (vgl. BGH v. 9.7.1990 – II ZR 194/89, NJW 1990, 2622), gleichzusetzen sind, siehe Lange/Sabel, NZG 2015, 1249, 1252 f.; Fleischer/Schneider, DB 2012, 961, 965 ff.

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droht, zu ihrem Glück zu zwingen. Hierfür sind Mitverkaufspflichten eine zwar drastische, aber als ultima ratio zugleich konsequente Maßnahme. Dennoch sollte die Aufnahme einer solchen drag along-Klausel in die Satzung wohlüberlegt sein und nur (nachträglich) erfolgen, wenn sich im Hinblick auf die Nachfolgefrage schon frühzeitig abzeichnet, dass derartige Schwierigkeiten mit gewisser Wahrscheinlichkeit auftreten.

V. Ergänzende Gestaltungen Kommt für ein Unternehmen keine der alternativen Gestaltungen in Betracht, weil die bloße Vereinbarung eines Vorkaufsrechts zu risikobehaftet oder die Nachfolgefrage familienintern geregelt ist, bleibt die Vinkulierungsklausel das Mittel der Wahl. Um die drohende Problematik des lästigen Gesellschafters zu vermeiden, bietet sich die Aufnahme ergänzender Mechanismen in den Gesellschaftsvertrag an. 1. Errichtung eines Beirates In Familienunternehmen ist zur Konfliktprävention und -lösung die freiwillige Errichtung eines Beirates ein verbreitetes Gestaltungsmittel. Ein solches Gremium kann rein beratende Funktion haben, Entscheidungsträger sein, als Kontroll- und Aufsichtsorgan dienen und/oder in Streitfällen die Rolle des Moderators und Schlichters übernehmen.45 Bezogen auf die hier vorgestellte Konstellation liegt letzteres Aufgabenfeld nahe: Der Beirat begleitet den Trennungsprozess von Anfang an, stellt eine geordnete Kommunikation sicher und vermittelt bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gesellschaftern. Im Optimalfall wird dadurch der Familien- sowie Unternehmensfrieden gewahrt. Für den Vertragsgestalter empfiehlt es sich, die wesentlichen Regeln über den Beirat im Interesse einer eindeutigen Kompetenzzuweisung in der Satzung und nicht bloß schuldrechtlich festzulegen. Der Beirat muss das Vertrauen aller Familiengesellschafter bzw. Familienstämme genießen. Hierzu ist bei der Besetzung des Gremiums neben der fachlichen und sozialen Kompetenz zu beachten, dass jede Partei im Gremium repräsentiert wird, und zwar bestenfalls durch externe Nichtgesellschafter, damit sich unternehmerische oder familiäre Interessenkonflikte nicht automatisch zwischen den Beiräten fortsetzen. Gleichwohl kann es bei komplexen Inhaberstrukturen mit zersplitterten Eigentumsverhältnissen zur Erhaltung des Familiencharakters hilfreich sein, den Beirat mit Familienmitgliedern zu besetzen. 2. Kündigungsrecht bei Zustimmungsverweigerung Ein Ausscheiden des Gesellschafters, dem das Einverständnis zu einer Veräußerung vinkulierter Anteile versagt wurde, kann mittels einer satzungsmäßigen Gewährung 45 Spindler in MünchKomm. GmbHG, Bd. 2, 3. Aufl. 2019, § 52 Rz. 714; Werner, ZEV 2010, 619 f.

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Raphael Koch

eines ordentlichen, durch die Zustimmungsverweigerung ausgelösten Kündigungsrechts ermöglicht werden.46 Dieser hätte eine „Hintertür“, durch die er das Familienunternehmen trotz der gescheiterten Anteilsübertragung gegen Zahlung einer Abfindung verlassen könnte. Deren Höhe bzw. Modalitäten sollten vorab festgelegt sein. Der Marktwert der Anteile zum Kündigungszeitpunkt sollte sich annähernd darin widerspiegeln. Andernfalls fehlt der Anreiz zur Wahrnehmung des Kündigungsrechts und ein Verbleiben des Ausscheidungswilligen als „lästiger Gesellschafter“ liegt nahe. Dem Unternehmen ist bei einer derartigen Gestaltung zu raten, ausreichend Rücklagen für etwaige Abfindungszahlungen zu bilden. Um den geschlossenen Charakter sowie den Unternehmensfrieden zu bewahren, erscheint das als ein angemessener und interessengerechter Kompromiss. 3. Andienung mit anschließender Zustimmungspflicht Kombiniert werden kann eine Vinkulierungsklausel mit einem Andienungs- bzw. Vorerwerbsrecht. Danach wäre der veräußerungswillige Gesellschafter verpflichtet, den aus dem Gesellschaftsvertrag Berechtigten ein Angebot im Sinne einer formlosen Anfrage zum Ankauf seiner Anteile zu unterbreiten. Sofern die Mitgesellschafter einen Erwerb ablehnen, folgen daraus Konsequenzen für die Zustimmung zum Verkauf der Anteile an einen Dritten: Von einer Beschränkung auf bestimmte Verweigerungsgründe über eine Zustimmungspflicht bis hin zu einer fingierten Zustimmung sind viele Varianten denkbar.47 Als größter Konfliktherd erweist sich in der Regel – wie schon beim Vorkaufsrecht – die faire Bemessung des Ankaufspreises, für den der Vertragsgestalter von vornherein einen interessengerechten, an die jeweiligen Umstände im Familienunternehmen angepassten Berechnungsmechanismus etablieren sollte.48 Hierin zeigt sich die praktische Bedeutung vertragsgestalterischer Leitlinien. Erst auf der Grundlage angemessener Informationen über die Verhältnisse im Unternehmen kann an dieser Stelle ein geeignetes Instrumentarium implementiert werden. 4. Interner Shoot-out-Mechanismus Schließlich stellt sich die Frage, wie zu verfahren ist, wenn ein Familienunternehmen trotz aller Vorkehrungen in einen deadlock gerät. Zur Auflösung dieses Stillstandes kennt die angloamerikanische Rechtspraxis sog. shoot-out provisions, mit deren Hilfe einer der Gesellschafter in einem gesellschaftsinternen Bieterverfahren sämtliche Anteile erwerben kann. Die Zusammenarbeit wird schnell und reibungslos been46 In Personengesellschaften kann eine ordentliche Kündigung ohnehin nicht ausgeschlossen werden, sodass die Regelung dieses Falles eher klarstellenden Charakter hätte; siehe Schäfer in MünchKomm. BGB, Bd. 7, 8. Aufl. 2020, § 723 Rz. 61 ff. 47 BGH v. 25.11.2002 – II ZR 69/01, NZG 2003, 127, 130; Binz/Mayer, NZG 2012, 201, 210; Schulte/Hushahn in MünchHdb. des Gesellschaftsrechts, Bd. 1, 5. Aufl. 2019, § 73 Rz. 13. 48 Nach Binz/Mayer, NZG 2012, 201, 210 dürfte ein „Rabatt“ zugunsten der Mitgesellschafter in Höhe von 20 bis 30 Prozent auf den Verkehrswert eine faire Lösung darstellen.

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Vorausschauende Vertragsgestaltung in Familienunternehmen

det.49 Diese Vorgehensweise ist als ultima ratio prinzipiell sachlich gerechtfertigt, da ihr Zweck allein darin besteht, eine eingetretene Selbstblockade der Gesellschaft aufzulösen. Zum Einsatz kommt sie meist zwischen zwei ähnlich hoch beteiligten Gesellschaftern.50 Im Familienunternehmen spricht wenig dagegen, das Verfahren ebenso zwischen zwei Stämmen mit vergleichbarer Beteiligung anzuwenden. In der klassischen Spielart des Russian roulette bietet die das Verfahren – nach den im Gesellschaftsvertrag festgelegten Kriterien – initiierende Partei der anderen Seite an, entweder die eigenen Anteile zu einem bestimmten Preis an sie zu veräußern oder alle Anteile von der anderen Partei zu demselben Preis zu übernehmen.51 Beim Texas shoot-out kommt dagegen der Auktionsgedanke zum Tragen. Die jeweilige Empfängerpartei überbietet das Angebot entweder oder muss es annehmen.52 Alternativ kann in der Spielart Sale shoot-out ein Verfahren vereinbart werden, in dem sich die Parteien unterbieten müssen.53 Mit Blick auf einen ausscheidungswilligen Familiengesellschafter dürfte die letztgenannte Variante sinnvoll sein, da dessen Interesse primär im Verkauf seiner Anteile liegt. Indes sollte nicht ausgeschlossen werden, dass er bei einem günstigen Angebot der Gegenseite sogar geneigt wäre, im Unternehmen zu verbleiben und es komplett zu übernehmen, weil auf diese Weise keine Auseinandersetzungen mit ungeliebten Mitgesellschaftern zu erwarten wären. Zu beachten ist, dass jeder der Preismechanismen zu versagen droht, wenn die wirtschaftlichen Ressourcen zwischen den Familiengesellschaftern bzw. Familienstämmen so weit auseinanderliegen, dass eine Seite die Anteile zu einem Preis weit unter Marktwert erwerben kann. Der Vertragsgestalter sollte vorab darauf hinweisen, dass im Fall der Ungleichheit ausnahmsweise eine nachträgliche Ausübungskontrolle am Maßstab von Treu und Glauben (§ 242 BGB) geboten sein kann.54

VI. Schluss Der Jubilar wird sich in den Inhalten dieses Einblicks wiederfinden, in den vielfältigen und herausfordernden Fragestellungen, mit denen er sich bei der Beratung von Familienunternehmen alltäglich befasst(e). Sich in unterschiedliche Gesellschaftsgefüge individuell hineinzudenken, Konfliktpotentiale zu erkennen und zu lösen, erfordert höchste Fach- und Sozialkompetenz. Zur Bewältigung des untersuchten Spannungsfeldes bestehen vielfältige Optionen, wobei eine Vinkulierungsklausel al49 Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713; Lange/Sabel, NZG 2015, 1249, 1250. 50 Vgl. etwa OLG Nürnberg v. 20.12.2013 – 12 U 49/13, RNotZ 2014, 180, 181. 51 Charakteristisch ist die Wahlmöglichkeit der Empfängerpartei zwischen buy or sell; Schulte/ Sieger, NZG 2005, 24, 25 (für Joint-Venture-Gesellschaften). 52 Lange/Sabel, NZG 2015, 1249, 1250. Bei einem beiderseitigen Kaufinteresse wird ein unabhängiger Dritter hinzugezogen, gegenüber dem beide ein weiteres Gebot abgeben, wobei das höhere den Zuschlag erhält; Schulte/Sieger, NZG 2005, 24, 25. 53 Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713, 2714. 54 Ausführlich Fleischer/Schneider, DB 2010, 2713, 2717.

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Raphael Koch

lein in der Regel nicht genügt. Möglich ist eine Kopplung mit Kündigungs- bzw. Andienungsrechten, je nachdem, ob man unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Stärke des Unternehmens sowie der Größe des Gesellschafterkreises eher auf die Liquidität der Gesellschaft oder auf die der Mitgesellschafter vertrauen möchte. Weiter ist besonders in größeren bzw. älteren Familienunternehmen ein Beirat als streitvermeidendes Organ empfehlenswert. Endlich können im Fall eines dauerhaften Entscheidungsstillstandes oder einem absehbaren Scheitern der Unternehmensfortführung aus dem angloamerikanischen Rechtskreis bekannte Klauseln herangezogen werden, die die Gesellschafterstellung notgedrungen dynamisieren. Im Zweifel sei den Betroffenen zu raten, sich an den Jubilar zu wenden. Er wird dank seines reichhaltigen Erfahrungsschatzes auf alle Fragen gewiss eine ausgezeichnete Antwort finden.

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Michael Kohler

Streitvermeidung in Familienunternehmen durch eine Familienstiftung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Familienfrieden durch Definition der ­Familie III. Die Familienstiftung als Instrument der Familienverfassung 1. Zweck der Familienstiftung – Für die ­Familie 2. Die Stiftung als Familienholding 3. Gestaltungsfreiheit – Stiftungssatzung 4. Historischer Stifterwille − Langfristige Spielregeln 5. Die Begünstigten – Familienmitglieder IV. Familien-Governance – Streitvermeidung durch Kompetenz V. Nachfolge frühzeitig und bewusst ­planen



1. Kein Familienmitglied muss enterbt ­werden 2. Vermeidung von Pflichtteilsbelastungen 3. Alternative zur Testamentsvoll­ streckung 4. Vermeidung von Anteilszersplitterungen 5. Anteilsschutz vor Gläubigern / Asset Protection

VI. Die Familienstiftung als strategischer Baustein 1. Einheitliches Regelungswerk 2. Darstellung der Grundproblematik – Wegzugsbesteuerung 3. Die Doppelstiftung als zusätzliche ­Option VII. Fazit

I. Einleitung Streitigkeiten in Familienunternehmen entstehen nicht selten, wenn mehrere Familienmitglieder im Unternehmen mitregieren dürfen. Eine solche Situation entsteht vielerorts dann, wenn ein inhabergeführtes Unternehmen im Wege der Unternehmensnachfolge an die nächste Generation weitergegeben und die Unternehmensführung dadurch neu geordnet wird. Mit derartigen Schwierigkeiten werden sich deutsche mittelständische Unternehmen in wachsender Zahl in den nächsten Jahren auseinandersetzen müssen, sofern eine familieninterne Weitergabe des Unternehmens erfolgen soll. Der deutsche Mittelstand steht vor der Herausforderung einer großen Nachfolgewelle. Nach der Statistik der KfW Research planen bis zum Jahr 2022 über eine halbe Million Inhaber von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) eine Unternehmensnachfolge.1 Bei einer Vielzahl dieser mittelständischen Unternehmen handelt es sich um inhabergeführte Familienunternehmen, die bereits in nachfolgenden Generationen bestehen. 1 Schwartz in KfW Research, Nr. 197, 23.1.2018.

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Michael Kohler

In der Regel beschäftigen sich Inhaber mittelständischer Familienunternehmen durchschnittlich im Alter von 59 Jahren mit der Planung einer Unternehmensnachfolge. Das Augenmerk fällt dabei naturgemäß auf einen Nachfolger aus dem Familienkreis, der dieses Unternehmen zum Nutzen der Familienmitglieder erhält und bestenfalls in eigener Motivation weiterentwickelt. Ausgehend von der vorhandenen Familienkonstellation des Inhabers ergeben sich zahlreiche Fragestellungen. Zentral ist dabei regelmäßig der Wunsch nach einer fairen Verteilung des Vermögens an die Familienmitglieder. Erfahrungsgemäß werden nicht alle Familienmitglieder in die Fußstapfen des Familieninhabers treten wollen. Die individuellen Lebensplanungen der Mitglieder sind divers. Die Weitergabe des Familienunternehmens an einen oder mehrere fähige Nachfolger unter fairer Verteilung an alle übrigen Familienmitglieder sowie dem Bedürfnis eines größtmöglichen Schutzes des unternehmerischen Vermögens gestaltet sich in der Regel komplex und bedarf einer mehrjährigen Planung. Der übliche Ansatz der rechtlichen und wirtschaftlichen Beratung konzentriert sich bei der Umsetzung dieses Vorhabens im Wesentlichen auf folgende Eckpunkte: – Wer wird Unternehmensnachfolger? – Wer soll an den Erträgen der Gesellschaft partizipieren bzw. abgefunden werden, insbesondere in welcher Höhe? – Wie kann dieses Vorhaben durch gesellschafts- und erbvertragliche Regelungen umgesetzt werden? – Sind zum Schutze des Unternehmens Pflichtteilsverzichtserklärungen abzugeben? – Ist anhand der vorhandenen Vermögenswerte eine vorherige Aufteilung des Vermögens sinnvoll (vorweggenommene Erbfolge, Vermächtnis)? – Wie kann verhindert werden, dass das Unternehmen oder Teile davon an angeheiratete Familienmitglieder übergehen? – Auf welche Art ist der Generationswechsel steuerlich optimiert möglich (Vermögensübertragung)? Oftmals werden diese Fragen zum Zeitpunkt des Beginns der Nachfolgeplanung noch nicht final beantwortet werden können, insbesondere weil die heranwachsende Generation zu jung und/oder der Familienstamm zu groß ist. Im Übrigen ist nicht zu unterschätzen, dass sowohl der Familieninhaber und die potenziellen Nachfolger sowie die Nachfolger untereinander unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen an die Unternehmensführung stellen. Daher können Streitigkeiten in Familienunternehmen auch dann entstehen, wenn die Grundsätze der Unternehmensführung und die einzelnen Kompetenzen der ­verantwortlichen Familienmitglieder nicht klar oder nicht stimmig festgelegt sind („Corporate Governance“).

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Streitvermeidung in Familienunternehmen durch eine Familienstiftung

Zuspitzen kann sich diese Situation weiter, wenn darüber hinaus die Familienmitglieder, die nicht an der Unternehmensführung beteiligt werden, sich bei der Planung ungerecht behandelt fühlen und daher Streit entsteht. Im schlimmsten Fall kann das Unternehmen durch private familiäre Streitigkeiten in Mitleidenschaft gezogen werden. Prominentestes Beispiel einer verunglückten Generationenweitergabe eines familiär geführten Unternehmens ist wohl der Fall der ALDI Nord Gruppe. Nach der Vorstellung des Gründers sollte das Unternehmen als Familienunternehmen durch die Nachfolgegeneration weitergeführt werden, wobei die Entscheidungsbefugnisse auf drei Säulen gestellt werden sollten. Hierzu gründete er drei Familienstiftungen, die jeweils von einem Familienstamm geführt werden. Jede der drei Stiftungen ist an den ALDI Nord Unternehmen beteiligt und kann dort über den jeweiligen Vorstand der Stiftung die Stimmrechte in der Gesellschafterversammlung ausüben. Seine ihn überlebende Ehegattin sollte nach seiner Vorstellung über ein Mehrheitsstimmrecht einer Beteiligungsträger-Familienstiftung (61%) den Ton angeben. Die Familien seiner Söhne erhielten über jeweils eine Familienstiftung jeweils ein Minderheitsstimmrecht zur Mitsprache (jeweils 19,5 %). In der Folge bildeten sich die in der Presse als „Albrecht-Clans“ bezeichneten Gruppen, deren Interessen über die Jahre hinweg immer deutlicher auseinanderfielen. Das Verhältnis unter den Familienmitgliedern spitzte sich zu, als die Witwe verstarb und postmortal über ihr Testament verlauten ließ, dass sie einigen Mitgliedern eines anderen Stammes nicht zutraue, die Geschicke des Unternehmens durch Mitsprache in der Beteiligungsträger-Familienstiftung zu beeinflussen. Die Unternehmensführung ALDI Nord leidet seit einiger Zeit darunter, dass sich die Mitglieder der großen Familien in persönlichen Streitigkeiten befinden. Dies führt im Ergebnis dazu, dass diese Streitigkeiten in der Vergangenheit einige Male auf dem Rücken des Unternehmens ausgetragen wurden. Insbesondere misslich ist, dass wesentliche Unternehmensentscheidungen nur im Einvernehmen aller drei Stiftungen getroffen werden können. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass mögliche Konfliktfelder in Familienunternehmen dadurch begünstigt werden können, dass unterschiedliche Familienstämme bei unternehmerischen Entscheidungen mitregieren können und es durch private Streitigkeiten zu einem Schaden des Unternehmens kommen kann. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob und wie verhindert werden kann, dass private Streitigkeiten nicht auf die Ebene des Unternehmens durchschlagen. Der nachfolgende Beitrag setzt sich inhaltlich mit der Frage auseinander, wie eine Familienstiftung zur Vermeidung von familiären Streitigkeiten in Familienunternehmen sinnvoll eingesetzt werden und dabei insbesondere sogar als solider und langfristiger Baustein der Unternehmensnachfolge fungieren kann.

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Michael Kohler

II. Familienfrieden durch Definition der Familie Das eingangs genannte Beispiel verdeutlicht, dass die personelle Zusammensetzung für eine langfristige und stabile familiäre Führung des Familienunternehmens, aber auch die dafür vorgesehene Struktur wesentlich sind. Sobald der Inhaber die Zügel aus der Hand gegeben hat, ist die langfristige Aufrechterhaltung des Familienfriedens weniger ein Produkt des Zufalls als vielmehr das Ergebnis einer vor der Übernahme der jungen Generation stattfindenden Auseinandersetzung mit den jeweiligen individuellen Fähigkeiten der Familienmitglieder und einer dazu stimmig aufzusetzenden Struktur der Unternehmensführung. Zentrales Element ist, dass der Inhaber des Unternehmens für sich den Begriff der Familie definiert. Allein die Fragestellung, ob angeheiratete Schwiegerkinder oder Adoptivkinder in den Kreis der Familie aufgenommen werden sollen, soweit es um das familiäre Vermögen geht, löst erfahrungsgemäß zahlreiche kontroverse Diskussionen zwischen den Mitgliedern aus. Die Klarheit darüber, wer bei der Planung der Unternehmensfortführung berücksichtigt werden sollte, schafft eine Basis für den weiteren Prozess. Meist tritt an dieser Stelle bereits ein Problem des Inhabers auf: Er befindet sich in einer Abwägung zwischen dem Gerechtigkeitsbedürfnis und dem Leistungsprinzip. Naturgemäß wird er alle Personen, die der Familie angehören, fair berücksichtigen wollen. Eine solche Vorgehensweise funktioniert bei der Übergabe eines Unternehmens nur bedingt, da die Leistungsstärke des Unternehmens in Zukunft von der Qualifikation der Führungspersönlichkeiten abhängt. In der Nachfolgeberatung wird daher nicht selten von „den zwei Systemen“ gesprochen. In der Unternehmensnachfolgeberatung setzt sich immer stärker durch, diese Systeme durch eine entsprechende Struktur des Unternehmens abzubilden und in Statuten für das Unternehmen zu regeln. Neben den gesellschaftsvertraglichen rechtlichen Grundpfeilern hat sich das Auf­ stellen einer davon losgelösten und für alle Mitglieder geltenden Familienverfassung etabliert. Der Inhalt der Familienverfassung konzentriert sich auf die Grundsätze des familiären Miteinanders und beschreibt oftmals gemeinsame Wertvorstellungen und Zielsetzungen. Je stärker sich die Familienmitglieder mit der Familienverfassung identifizieren können, desto größer wird ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Familie und dem durch die Familie zu führenden Unternehmen sein.2 In Abgrenzung zu dem Beispielsfall der ALDI Nord Gruppe werden nicht unterschiedliche Regelungsmechanismen für unterschiedliche Familienstämme geschaffen. Vielmehr ist Ziel einer Familienverfassung einheitliche Spielregeln und Leitgedanken für die gesamte Familie zu entwickeln. Dies kann dazu führen, das Gemeinschaftsgefühl aller Familienmitglieder zu stärken. 2 Reich/Bode, DStR 2018, 305.

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Streitvermeidung in Familienunternehmen durch eine Familienstiftung

III. Die Familienstiftung als Instrument der Familienverfassung Die Familienstiftung kann ein sinnvolles Instrument für das Erreichen eines langfristigen Familienfriedens und einer stabilen Unternehmensführung über mehrere Generationen hinweg darstellen, da diese Rechtsform ein großes Maß an Flexibilität aufweist, unternehmensstrategische Regelungen neben der Familienverfassung ganzheitlich und in der Satzung der Familienstiftung abzubilden. Insbesondere kann eine Stiftung die zwei Systeme „Unternehmen & Familie“ klar voneinander trennen und gleichwohl die Familiengemeinschaft über ein besonderes Organ, die Familienversammlung, miteinander verbinden. 1. Zweck der Familienstiftung – Für die Familie Die Stiftung ist eine rechtlich verselbständigte juristische Person des bürgerlichen Rechts. Sie ist definiert als selbstständiger, nicht auf einem Personenverband beruhender – also mitgliederloser – Rechtsträger, welcher die in einem Stiftungsgeschäft festgelegten Zwecke mithilfe eines diesen Zwecken gewidmeten Vermögens dauerhaft verfolgt.3 Die Familienstiftung hebt sich von dieser Ausgangsdefinition lediglich in der Zwecksetzung ab. Eine privatnützige Familienstiftung verfolgt den Zweck der Verwaltung ihres Vermögens zugunsten einer oder mehrerer Familien oder bestimmter Familienmitglieder, wobei die Erträge an einen abgrenzbaren Personenkreis von Begünstigten (Destinatäre) ausgeschüttet werden.4 Aus diesen Definitionen der Rechtsform ergeben sich bereits zwei wesentliche Unterschiede zu den klassischen Kapitalgesellschaften, die, sofern ein ganzheitliches Konzept für die gesamte Unternehmerfamilie erstellt werden soll, folgende Vorteile mit sich bringen können: – Es gibt keine Anteile an Familienstiftungen, die im Eigentum eines Familienmitglieds stehen könnten (eigentümerlose Struktur). Folglich müssen die Unternehmensanteile im Wege einer Gerechtigkeitsüberlegung des Inhabers nicht fair verteilt werden. – An dem familiären Vermögen, das als originäres Vermögen der Familienstiftung verwaltet wird, oder den Vermögenserträgen können alle Familienmitglieder unabhängig davon, ob sie in leitender Funktion des Unternehmens oder der Familienstiftung fungieren, partizipieren. Es handelt sich also um Zweckvermögen, welches niemandem gehört. Die wesentlichen Bedürfnisse des Unternehmensvaters nach gerechter Verteilung des Vermögens und einer leistungsstarken Fortführung des Unternehmens können aufgrund der Struktur der Familienstiftung innerhalb dieser Rechtsform miteinander kombiniert werden. Nicht außer Acht zu lassen ist allerdings der Umstand, dass diese Gestaltung allen Beteiligten abverlangt, sich von der klassischen Vorstellung von Ei3 Hüttemann/Rawert in Staudinger BGB, Neubearb. 2011, Vorbem. §§ 80 ff. Rz. 1.  4 Burgard in Burgard, Gestaltungsfreiheit im Stiftungsrecht, 1. Aufl. 2006, § 5 Abschnitt II, S. 127. 

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Michael Kohler

gentum und Besitz zu lösen. Die Sensibilisierung für das familiäre Gemeinschaftsinteresse, welches gegenüber den Einzelinteressen der Familienmitglieder den Vorrang erhält, sollte daher sinnvollerweise vor dem Umsetzungsprozess (Vermögensübertragung) stattfinden. 2. Die Stiftung als Familienholding Eine Holding ist eine organisatorische Einheit, deren Hauptzweck das Halten und Verwalten von Unternehmensbeteiligungen ist.5 Eine Familienholding ist dabei eine organisatorische Einheit, deren Anteilseigner oder Begünstigte die Mitglieder einer oder mehrerer Familien sind und die Vermögensgegenstände einer oder mehrerer verschiedener Assetklassen hält und verwaltet.6 Als eine solche Holdinggesellschaft kann auch eine Familienstiftung im Sinne einer oben bereits dargestellten Unternehmensbeteiligungsträgerstiftung fungieren. Die Verbindung der Familienstiftung mit dem Unternehmen kann dadurch erfolgen, dass der Stiftung sämtliche Anteile an dem Unternehmen übertragen werden. Eine Familienstiftung kann Gesellschafterin einer Kapitalgesellschaft oder einer Personengesellschaft sein. Ist eine Familienstiftung beispielsweise mehrheitlich an einer GmbH beteiligt, so wird der Vorstand der Stiftung in der Gesellschafterversammlung der GmbH die Gesellschafterrechte der Familienstiftung ausüben und so die Geschicke der Gesellschaft steuern können. Da der Vorstand der Familienstiftung die Hoheit über den Gesellschaftsvertrag des gehaltenen Unternehmens ausübt, kann der Vorstand den Umfang dieses Einflusses auf die Geschäftsführung selbst bestimmen. Das besondere Merkmal der Stiftung ist dabei, dass es sich um eine mitgliederlose Struktur handelt. Es gibt daher keine Anteilseigner an einer Familienstiftung, die durch Familienmitglieder an Dritte veräußert werden bzw. als Vermögensgegenstand vollstreckt werden könnte. Die Familienstiftung als Holding hat wegen dieses rechtsformspezifischen Alleinstellungsmerkmals gegenüber einer Kapitalgesellschaft (GmbH) folgende Vorteile auf einen Blick: – die Bindung der Geschäftsanteile der operativen Gesellschaften kann durch die Stiftungssatzung stärker abgebildet werden als bei einer GmbH, – Anteile an der Familienstiftung könne nicht an familienfremde Dritte veräußert werden, – Anteile der Familienstiftung können nicht verpfändet werden, – das Vermögen der Familienstiftung ist grundsätzlich nach Ablauf von zehn Jahren nicht mehr mit Pflichtteilsansprüchen behaftet, – Nicht-unternehmerisch tätige Familienmitglieder können keine Abfindungsansprüche gegen die Stiftung geltend machen. 5 Sabel/Schauer, ZStV 2018, 81, 82. 6 Sabel/Schauer, ZStV 2018, 81, 82.

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Streitvermeidung in Familienunternehmen durch eine Familienstiftung

3. Gestaltungsfreiheit – Stiftungssatzung Die gesetzlichen Grundlagen zur Errichtung einer Stiftung regelt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in den §§ 80 ff. BGB und verweist in § 86 BGB auf die Anwendung des Vereinsrechts. Voraussetzung für die Errichtung einer Stiftung und gleichzeitig ausreichend sind daher ein Stiftungsname, ein Stiftungsgesetz, ein Stiftungszweck und Stiftungsvermögen. Hinsichtlich der Stiftungsorganisation sieht das Gesetz in § 81 Abs. 1 S. 3 BGB lediglich die Pflicht vor, einen Vorstand zu installieren. Dieser Vorstand leitet die Geschäfte der Stiftung eigenverantwortlich. Weitere bundesgesetzliche Anforderungen ergeben sich nicht. Insbesondere ist der Stifter einer privatnützigen Stiftung in der Zwecksetzung weitestgehend (bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit) frei. So können Familienstiftungen beispielsweise neben der finanziellen Absicherung der Stifter-Familie ausdrücklich den Schutz des Familienunternehmens satzungsmäßig als Zweck deklarieren, um den primären Ertragsmotor der Familie langfristig an die Stiftung zu binden. Das Anerkennungsverfahren der Stiftungen wird von den Ländern durch die dafür eingerichteten Stiftungsaufsichtsbehörden überwacht (in NRW beispielsweise Bezirksregierungen). Die einzelnen Länder stellen unterschiedliche Anforderungen an die Vermögensverwaltung der Stiftung. Dies wird durch einzelne Landes-Stiftungsgesetze geregelt. Vorgaben zur Zusammensetzung der Stiftungsorgane und der gesamten Stiftungsorganisation enthalten die Landes-Stiftungsgesetze allerdings nicht. Auch ist die Stiftungsbehörde auf eine bloße Rechtsaufsicht beschränkt, sodass sie dem Stiftungsvorstand keinerlei Weisungen erteilen darf und nur als letztes Korrektiv überprüft, ob das Stiftungsvermögen entsprechend der gesetzlichen Vorgaben und der Stiftungssatzung verwendet wird und die Organe ordnungsgemäß besetzt sind.7 Die Benennung von Mitgliedern der Organe durch die Stiftungsaufsicht sowie Weisungen zur Organstruktur kommen nicht in Betracht.8 Die Anforderungen der Länder an das Stiftungsvermögen sind unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen und Hessen werden Stiftungen je nach Zwecksetzung anerkannt, wenn die Stiftung mit einem Anfangsvermögen von mindestens 100.000 € ausgestattet wird. Wird der Stiftung ein ganzes Unternehmen übertragen, so wird dies in der Regel ausreichend sein. In den südlichen Bundesländern (Baden-Württemberg und Bayern) werden hingegen oftmals 200.000–500.000 € gefordert. Der Stifter hat allerdings die freie Wahl, in welchem Bundesland er seine Stiftung gründet. Auch hinsichtlich der Vermögensverwaltung ist der Stifter weitestgehend frei. Die Stiftung kann in sämtliche Anlageklassen investieren. Hinsichtlich der Ausschüttungs- und Rücklagenpolitik macht das Gesetz keine Vorgaben. Es ist aber darauf zu achten, dass das Anfangsvermögen der Stiftung ungeschmälert zu erhalten ist (Vermögenserhaltungsgrundsatz). Da insbesondere Unternehmensanteile einer dynami7 Hof in von Campenhausen/Richter (Hrsg.), Stiftungsrechtshandbuch, 4.  Aufl. 2014, §  10 Rz. 42.  8 Wenicke, ZEV 2003, 301, 303. 

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Michael Kohler

schen Wertentwicklung unterliegen, bietet sich an, die Stiftung im ersten Schritt mit Barvermögen auszustatten und die Unternehmensbeteiligung nach der Errichtung der Stiftung an diese zu verschenken. Der Vermögenserhaltungsgrundsatz bezieht sich nämlich nur auf das bei Errichtung der Stiftung hingegebene Grundstockvermögen, sodass ein realer Wertverzehr der sonstigen Vermögensgegenstände der Stiftung nicht zu beanstanden ist. Insbesondere ist der Stifter bei der Ausgestaltung der Einflussnahme weitestgehend frei. Überträgt der Stifter seine Unternehmensanteile beispielsweise schon zu seinen Lebzeiten an die Familienstiftung und möchte er seine Unternehmensnachfolger sukzessiv an die leitenden Tätigkeiten heranführen, sich jedoch gleichwohl einen beherrschenden Einfluss beibehalten, kann er sich als vorsitzendes Vorstandsmitglied ein stärker gewichtetes Stimmrecht verleihen, eine Letztentscheidungskompetenz zuweisen oder umfassende Veto-Rechte vorbehalten.9 4. Historischer Stifterwille − Langfristige Spielregeln Die Stiftungssatzung verkörpert den bei Stiftungserrichtung durch den Stifter zum Ausdruck gebrachten Willen, das Stiftungsvermögen entsprechend seiner Zwecksetzung dauerhaft nach seinen Spielregeln zu verwalten. Die Leitlinien, die der Stifter aufstellt, legen den langfristigen Grundstein und binden den Vorstand, das Stiftungsvermögen nach diesen Spielregeln zu verwalten.10 Den Umfang der Vorgaben stellt der Stifter dabei selbst ein. Die Regelungen können beispielsweise die stiftungsverbundenen Unternehmen, die Verwendung der Erträge und die Entscheidungsfindung in der Stiftung betreffen. Der Stifter kann daher über die Stiftungssatzung klar festlegen, wie Erträge des stiftungsverbundenen Unternehmens zu verwenden sind, da die Satzung für den Vorstand bei der Ausübung der Gesellschafterrechte des Unternehmens verbindlich ist. Die Gestaltungen der Stiftungssatzung sind sehr individuell. Während der eine Stifter klare Vorstellungen darüber hat, wie die Rücklagenpolitik über mehrere Jahre hinweg zu erfolgen habe, wird ein anderer Stifter dem Vorstand einen größeren Ermessensspielraum zubilligen wollen. Der Stifter kann darüber hinaus langfristige Regelungen zur personellen Besetzung und zu den sachlichen Kompetenzen von Stiftungsorganen in der Satzung verankern. Auch hier sind mögliche Regelungsmechanismen sehr unterschiedlich. Während ein Stifter in der Satzung vorsehen möchte, dass Organmitglieder beispielsweise das 18. Lebensjahr vollendet haben oder im Unternehmen in irgendeiner Form tätig sein müssen, so bevorzugt ein anderer Stifter, dass Familienmitglieder gänzlich von der Möglichkeit einer Mitgliedschaft in einem Organ ausgeschlossen werden und nur an den Stiftungserträgen als Begünstigte partizipieren.11

9 Otto, Handbuch der Stiftungspraxis, 2. Aufl. 2015, Kap. I Rz. 164.  10 Wenicke, ZEV 2003, 301, 302. 11 Klinkner/Buß/Ens in Achleitner/Block/Strachwitz (Hrsg.), Stiftungsunternehmen: Theorie und Praxis, S. 145. 

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Streitvermeidung in Familienunternehmen durch eine Familienstiftung

Der Stifterwille wird deshalb als historischer Stifterwille bezeichnet, da der Stifter die einmal aufgestellten Regelungen nicht ohne weiteres ändern kann. Im Gegensatz zu Kapitalgesellschaften, die ihre Satzung mit den entsprechenden Mehrheitserfordernissen der Gesellschafter jederzeit ändern können, ist der Stifter nicht Gesellschafter seiner Stiftung, sondern allenfalls Vorsitzender des Vorstandes und als solcher auch an seine eigenen Vorgaben gebunden. Der Vorteil besteht gleichwohl darin, dass der Stifter seinen Nachfolgern über die Satzung die Grundsätze seiner Unternehmensphilosophie an die Hand geben kann. Gleichzeitig können zu detaillierte Vorgaben selbstverständlich dazu führen, dass die Unternehmensnachfolger in der Bildung eines eigenverantwortlichen Führungsstils gehemmt werden könnten, sodass wohl auch hier gelten mag, die goldene Mitte zu finden. In der Literatur des Stiftungsrechts wird im Zuge der geplanten Stiftungsrechtsreform darüber nachgedacht, die weiterreichende Bindung dieses historischen Stifterwillens zu lockern und entsprechende Änderungsmöglichkeiten in das Gesetz zu implementieren. Die Überlegungen basieren darauf, dass Stifter ihre Stiftungen zu 90 % zu ihren Lebzeiten errichten. Es liegt daher auf der Hand, dass der Stifter bis zu seinem Tode einen Willen bilden kann, die Grundlagen der Stiftung an seine (seit Gründung der Stiftung) neuen Erkenntnisse, Ideen und Erfahrungen anzupassen.12 Eine überzeugende Stiftungssatzung schafft es, unternehmerische und familiäre Leitgedanken des Stifters als langfristige Spielregeln für das Familienunternehmen vorzugeben. Sofern sich die Familie vor der Stiftungsgründung auf einen gemeinsamen Wertekanon verständigen kann, der in der Stiftungssatzung gespiegelt wird, kann die Stiftung ein sinnvolles Mittel zur Streitvermeidung darstellen. 5. Die Begünstigten – Familienmitglieder Der Zweck einer Familienstiftung besteht darin, die Familienmitglieder des Stifters finanziell abzusichern. Die Begünstigten können in der Stiftungssatzung abstrakt bestimmt werden – beispielsweise „alle Abkömmlinge des Stifters in gerader Linie“ – oder namentlich benannt werden. Im Gegensatz zu einer klassischen Erbschaft erhalten die Familienmitglieder keine Vermögensgegenstände aufgrund von direkten Zuwendungen, sondern werden langfristig an den Erträgen des Stiftungsvermögens beteiligt und erhalten so dosierte Zuwendungen. Familienmitglieder, die in ihrer Lebensplanung andere Interessen verfolgen als das familiäre Unternehmen fortzuführen oder sich aufgrund ihrer Qualifikationen nicht eignen, unternehmerische Verantwortung zu übernehmen, können als Begünstigte der Stiftung gleichwohl langfristig und dosiert an den Erträgen des Familienunter-

12 Burgard, ZStV 2016, 81, 87. 

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Michael Kohler

nehmens partizipieren, ohne die Liquidität des Familienunternehmens durch Erboder Pflichtteilsansprüche zu beanspruchen (dazu näher sogleich unter V.). Den Begünstigten steht ein einklagbarer Anspruch auf die Auszahlung von Beträgen nicht zu, sofern die Satzung dies nicht ausdrücklich bestimmt.13 Die Regelung von einklagbaren Ansprüchen in der Satzung ist allerdings in der Regel nicht zu empfehlen, da das Stiftungsvermögen ansonsten von etwaigen Gläubigern der Begünstigten angegriffen werden könnte (beispielsweise Sozialhilfeträgerregress). Begünstigte können auch Mitglied eines Organs der Stiftung sein. Bei der Organbesetzung ist allerdings darauf zu achten, dass die Begünstigten auch ein Eigeninteresse verfolgen, sodass die Organe zumindest auch zum Teil mit „neutralen Dritten“ besetzt werden sollten (Korrektiv).14 Hier kann beispielsweise auch ein Organ eingerichtet werden, das in seiner Kompetenz auf die Beratung des Vorstandes beschränkt ist. Dadurch ist gewährleistet, dass private Interessen zwar ausreichend diskutiert werden können, aber kein direktes Mitspracherecht besteht, in die Verwaltung der Erträge hineinzuregieren. Beispielsweise kann eine beratende Familienversammlung gebildet werden, welche sich in einem regelmäßigen Turnus zu einer Familientagung zusammenfindet. Im Sinne einer langfristigen Streitvermeidung sind die Rechte der Begünstigten tendenziell eher schmal zu halten.

IV. Familien-Governance – Streitvermeidung durch Kompetenz Zentrales Element einer Familienstiftung ist neben der personellen Besetzung insbesondere auch die Organstruktur und die Frage der Aufteilung der Kompetenzen. Grundsätzlich muss die Stiftung nur über einen Vorstand verfügen. Dieser ist als ­Organ der Stiftung gesetzlich vorgeschrieben. Geht es jedoch um die Beteiligung vieler Familienmitglieder und um die Ausgangsfrage der Streitvermeidung durch eine Identifikation mit den familiären Leitmotiven, wird ein einziges Lenkungsorgan diesem Vorhaben regelmäßig nicht gerecht. Im Gegensatz zum eingangs erwähnten Beispielsfall ALDI Nord, in welchem mehrere selbstständige Familienstiftungen zu einer Aufteilung der Familie in einzelne Stammesinteressen geführt hat, kann eine einzige Familienstiftung mehrere unterschiedliche Interessen der Familienmitglieder unter einem Dach vereinen. Die Abgrenzung der einzelnen Verantwortungsbereiche erfolgt hierbei sinnvollerweise nicht nach Stämmen, sondern vielmehr – bestenfalls – nach Kompetenzen.

13 Hushahn in Beck´sches Notar-Handbuch, 7. Aufl. 2019, § 19 Stiftung, Rz. 139.  14 Klinkner/Buß/Ens in Achleitner/Block/Strachwitz (Hrsg.), Stiftungsunternehmen: Theorie und Praxis, S. 156.

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Streitvermeidung in Familienunternehmen durch eine Familienstiftung

Unternehmerische Familienmitglieder werden strategische Entscheidungen aus dem Vorstand heraus treffen wollen, andere wiederum genügen sich, überwachend oder rein beratend im Aufsichtsrat oder einer Familienversammlung weniger Verantwortung zu übernehmen. Bei der Frage, welche Organe einer Familienstiftung denn sinnvoll sind, können die Leitgedanken der Unternehmensführung einer Familiengesellschaft teilweise übertragen werden. Diese orientieren sich im Wesentlichen an den Grundsätzen einer Aktiengesellschaft.15 Die Struktur sollte allerdings nicht zu kompliziert aufgesetzt werden. Wichtig ist, dass der Stifter seine Rolle als solcher versteht. Mit der Übertragung des Unternehmens an die Familienstiftung verliert er seine Stellung als Anteilseigner. Das bedeutet aber keinen Kontrollverlust. Um das Unternehmen zu seinen Lebzeiten aus der Stiftung heraus zu lenken, kann er sich in der Satzung, solange er Mitglied des Vorstandes ist, weitreichenden Handlungsfreiraum gewähren. Dies ist möglich, da in der Satzung festgeschrieben werden kann, dass weitere Organe erst mit seinem Ausscheiden aus dem Vorstand gegründet werden sollen. Andere Stifter wiederum wünschen sich, die Organstruktur bereits gemeinsam mit allen Familienmitgliedern „zu leben“, sodass eine sukzessive Übertragung von Verantwortung und Rollenübernahme der Familienmitglieder stattfinden kann. Da der Vorstand das geschäftsführende Organ der Stiftung darstellt, sollte dieses Organ mit nur wenigen Personen besetzt sein. Zu viele unterschiedliche Meinungen können Entscheidungsfindungen blockieren. Sinnvoll erscheint in jedem Fall – nach Ausscheiden des Stifters – ein Kontrollorgan (Aufsichtsrat) neben dem Vorstand zu installieren. Dieser sollte geschäftsführende Maßnahmen mit gewisser Tragweite des Vorstands überwachen können. Da die Mitglieder des Vorstands letztlich die haftenden Geschäftsführer einer Stiftung sind, sollte davon abgesehen werden, dem Aufsichtsrat ein Weisungsrecht zuzubilligen. Geschäfte, die der Vorstand nur mit der Zustimmung des Aufsichtsrats vornehmen darf, sollten daher erfahrungsgemäß auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt bleiben. Darüber hinaus kann dem Aufsichtsrat das Recht zugewiesen werden, die Mitglieder des Vorstandes zu wählen. Eine Personalunion der Besetzung dieser Organe sollte vermieden werden, damit eine gegenseitige Kontrolle gewährleistet bleibt. Das Organ der Familienversammlung kann als beratendes Gremium mit den übrigen Familienmitgliedern besetzt werden. Die Kompetenzen der Familienversammlung sind individuell ausgestaltbar. Von einer rein beratenden Tätigkeit auf gemeinsamen Familientagungen bis hin zu Mitspracherechten bei der Besetzung des Aufsichtsrates sowie der Aufstellung von verbindlichen Richtlinien für den Vorstand ist vieles denkbar. Unabhängig von der individuellen Ausgestaltung des Kompetenzkataloges sollte 15 Stengel in Beck‘sches Handbuch der Personengesellschaften, 5. Aufl. 2020, § 17 Rz. 7.

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Michael Kohler

die Familienversammlung sinnvollerweise den Zweck verfolgen, die Interessen der Familienmitglieder gegenüber dem Vorstand im Zweifel wahren zu können. Über die Familienversammlung kann auch eine durch den Stifter aufgestellte Familienverfassung Wirkung entfalten. Bindet der Stifter die Familienversammlung beispielsweise qua Satzung an eine Familienverfassung, kann diese zwar als nicht-statutarisches Recht dynamisch und flexibel weiterentwickelt werden, sie schafft allerdings die Grundlage des ständigen Austausches der Mitglieder untereinander, welches das Zugehörigkeitsgefühl stärken kann.

V. Nachfolge frühzeitig und bewusst planen Die Familienstiftung kann auch insbesondere Familienstreitigkeiten vermeiden, die im Rahmen der Erbauseinandersetzung entstehen können. Überträgt der Stifter sein gesamtes Vermögen inklusive des Familienunternehmens an die Familienstiftung, ist er bereits zu Lebzeiten zivilrechtlich entreichert, da das Vermögen der Stiftung eine eigenständige, nicht im Eigentum des Stifters stehende Vermögensmasse bildet. 1. Kein Familienmitglied muss enterbt werden Der Zusammenhalt des Familienvermögens in der Stiftung erspart die oft emotionale Entscheidung, wann man bestimmte Vermögensgegenstände auf welchen Erben oder Vermächtnisnehmer überträgt. Diese Entscheidung wird insbesondere dann schwerfallen, wenn mehrere Personen als Begünstigte in Frage kommen.16 Durch die einheitliche Übertragung auf eine Familienstiftung kann Streitpotenzial frühzeitig vermieden werden. Die Familienmitglieder werden zwar faktisch enterbt, erhalten aber über die Begünstigung der Familienstiftung regelmäßig finanzielle Zuwendung. 2. Vermeidung von Pflichtteilsbelastungen Die gesetzlichen Erben haben allenfalls einen Anspruch auf einen Pflichtteil in Höhe der Hälfte des ihnen gesetzlich zustehenden Erbteils (§  2303 BGB), der sich allerdings nur auf das Nachlassvermögen zum Zeitpunkt des Todes bezieht. Zuwendungen aus dem relevanten Vermögen an die Familienstiftung können nur innerhalb der letzten zehn Jahren vor dem Erbfall durch den Pflichtteilsergänzungsanspruch (§  2325 BGB) angegriffen werden. Dabei vermindert sich der Anspruch jedes Jahr um ein Zehntel des auf die Stiftung übertragenen Vermögens. Sofern die Übertragung des Vermögens an die Stiftung zu Lebzeiten des Stifters frühzeitig erfolgt, kann erreicht werden, dass das familiäre Vermögen vor ungewünschten Pflichtteilsansprüchen geschützt wird oder diese Ansprüche zumindest reduziert werden.

16 Blumers, DStR 2012, 1, 2. 

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3. Alternative zur Testamentsvollstreckung Eine Testamentsvollstreckung als Mittel der Erbauseinandersetzung wird insbesondere, wenn ein Unternehmen an die Nachfolgegeneration weitergegeben werden soll, selten der Wunsch des Unternehmensvaters sein. Ein großes oder mittleres Vermögen, zu dem ein oder mehrere Unternehmen oder Beteiligungen gehören, führt im Testament aber regelmäßig zu so vielen, zum Teil komplexen oder erst zukünftig umzusetzenden Dispositionen, die eine Verwaltung des Nachlasses erforderlich machen. Das Gesetz sieht für diese Fälle die Testamentsvollstreckung vor (§§ 2197 ff. BGB). Deren Qualität ist jedoch von der Person des Testamentsvollstreckers und ggf. seiner Nachfolger abhängig. Der Testamentsvollstrecker ist keiner behördlichen oder gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Selbst der Erblasser kann den Testamentsvollstrecker nicht der Kontrolle durch das Nachlassgericht unterstellen. Entsprechendes gilt bei minderjährigen Erben für die Kontrolle durch das Familiengericht.17 Der Erbe kann den Anspruch auf ordnungsgemäße Verwaltung nur mittels Prozesses durchsetzen bzw. den Testamentsvollstrecker auf Erfüllung seiner Pflichten verklagen. Bei Vorliegen eines wichtigen Grundes kann er im Übrigen die Entlassung des Testamentsvollstreckers durch das Nachlassgericht beantragen (§  2227 BGB); aber hier sind die Hürden regelmäßig hoch.18 Die Familienstiftung bindet den Vorstand an die Stiftungssatzung. Selbst wenn der Vorstand zunächst von fremden Nicht-Familienmitgliedern für eine Übergangszeit besetzt ist, weil beispielsweise die familiären Nachkommen schlicht zu jung sind, kann die Verwaltung des Vermögens in einer Stiftung strukturierter erfolgen und unterliegt im Zweifel der Aufsicht der Stiftungsbehörde. 4. Vermeidung von Anteilszersplitterungen Die Geschäftsanteile des Familienunternehmens werden einheitlich an die Familienstiftung übertragen. Sofern die Familienstiftung sämtliche Anteile hält, kommt es zum Zeitpunkt des Todes des Unternehmensvaters nicht zu einem Gesellschafterwechsel, da die Stiftung fortbesteht. Es müssen daher keine ausscheidenden Gesellschafter abgefunden werden, sodass die Liquidität des Unternehmens geschützt werden kann. Befinden sich die Geschäftsanteile dagegen im Privatvermögen des durch den Tod ausscheidenden Unternehmensvaters, so sind die Personen, die als Nachfolger ausgewählt wurden sowohl erbrechtlich als auch durch gesellschaftsvertragliche Nachfolgeklauseln zu bestimmen. Bei größeren Familien führt dies regelmäßig dazu, dass größere Abfindungsbeträge an Pflichtteilsberechtigte gezahlt werden. Um zu verhindern, dass aus der Gesellschaft ausgeschlossene Pflichtteilsberechtigte auf den unplanbaren Zeitpunkt des Todes entsprechende Ansprüche gegen die Ge17 Blumers, DStR 2012, 1, 3. 18 Blumers, DStR 2012, 1, 3.

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sellschaft stellen, werden in der Regel mit diesen Pflichtteilsverzichtserklärungen vereinbart, die in der Regel im Gegenzug finanziell entschädigt werden. Ist es im Vorfeld der Erbfolge nicht zu einer solchen geplanten Abfindungslösung ­gekommen, so können Pflichtteilsansprüche die Liquidität der Gesellschaft gefährden und gegebenenfalls erforderlich machen, dass Anteile zur Liquiditätsbeschaffung verkauft werden müssen. Die Familienstiftung dient insoweit als Instrument, das Vermögen des Unternehmens zu schützen. Potenzielle Erben oder Pflichtteilsberechtigte erhalten keine wesentlichen Vermögenswerte auf den Zeitpunkt des Erbfalls, sondern partizipieren langfristig und dosiert an den Unternehmenserträgen als Begünstigte der Familienstiftung. Sofern die Stiftungssatzung bestimmt, dass das familiäre Unternehmen durch die Stiftung zu erhalten ist (Zwecksetzung), ist zudem einer freien Veräußerbarkeit der Anteile vorgebeugt. Die Familienstiftung kann daher dazu eingesetzt werden, die Liquidität des Unternehmens zu schonen und eine Zersplitterung der Anteile zu verhindern. 5. Anteilsschutz vor Gläubigern / Asset Protection Ein weiterer nicht zu unterschätzender Umstand ist die potenzielle Gefahr einer Geschäftsführerhaftung des Familiengesellschafters. Bei einigen Familienunternehmen sind die Unternehmer sowohl Mehrheitsgesellschafter als auch Geschäftsführer in einer Person. Haften sie als Geschäftsführer wegen der Verletzung einer damit einhergehenden Pflicht, so unterliegen auch die Geschäftsanteile der privaten Haftungsmasse des Gesellschafter-Geschäftsführers, welche im Zweifel zwangsvollstreckt werden können. Durch die Übertragung auf eine Familienstiftung werden die Geschäftsanteile aus dem Privatvermögen ausgesondert. Eine Vollstreckung in das Vermögen der Familienstiftung wegen einer privaten Haftung des Stifters ist grundsätzlich nicht möglich. Insoweit besteht grundsätzlich keine Durchgriffshaftung durch private Gläubiger. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Vermögensübertragung an eine Stiftung, sofern das Vermögen unentgeltlich gestiftet wurde, innerhalb von vier Jahren nach dieser Übertragung wegen einer auch nur mittelbaren Gläubigerbenachteiligung angefochten werden kann (§ 4 AnfG). Da im Falle der unentgeltlichen Vermögensübertragung ein Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nicht erforderlich ist, ist eine Anfechtung eines unentgeltlichen Rechtsgeschäfts ohne größere Probleme möglich, wenn die private Vermögenslage des Stifters innerhalb dieses Zeitraums in Schieflage gerät. Kann ferner sogar ein Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nachgewiesen werden, so wäre die Vermögensübertragung an die Stiftung bis zu zehn Jahre nach diesem Zeitpunkt anfechtbar. Im Ergebnis kann also eine Familienstiftung nicht systematisch dazu eingesetzt werden, Vermögen vor dem Zugriff etwaiger Gläubiger des Stifters in Sicherheit zu bringen. 194

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Wird eine Familienstiftung allerdings langfristig mit dem Ziel errichtet, die Anteile des Familienunternehmens für die Familie zusammenzuhalten, so lässt sich nach Ablauf von spätestens zehn Jahren feststellen, dass eine klare Haftungstrennung zwischen der Privatsphäre des Stifters und der Stiftung gezogen ist.

VI. Die Familienstiftung als strategischer Baustein 1. Einheitliches Regelungswerk Das Vorgesagte in einem Zwischenfazit zusammengefasst bedeutet letztlich, dass die Familienstiftung der strategische Baustein sein kann, der das familiäre Vermögen vor persönlichen Schicksalsschlägen wie beispielsweise Tod oder Scheidung schützt und abgeschirmt. Die Stiftungssatzung ersetzt daher, jedenfalls für das Vermögen, welches an diese übertragen wurde, das Testament und Erbverträge des Stifters. Die Stiftungssatzung bildet die Grundlage der dauerhaften Vermögensverwaltung und ersetzt die Testamentsvollstreckung. Dennoch sind flankierende Regelungsmechanismen zu beachten, die gegebenenfalls auf die neue Struktur mit einer Familienstiftung angepasst werden sollten. Ist der Stifter im Zeitpunkt der Stiftungserrichtung verheiratet und ist kein Ehevertrag vorhanden, ist daran zu denken, dass die schenkweise Übertragung von Vermögen an die Familienstiftung das Vermögen des Stifters bei der etwaigen Bemessung von Zugewinnausgleichsansprüchen mindert, sodass daraus gegebenenfalls Ansprüche des Ehepartners bei Scheidung resultieren können (§§ 1371 ff. BGB). Empfehlenswert ist daher insbesondere den Ehepartner bei den Überlegungen zur Stiftungserrichtung mitzunehmen. Der Ehevertrag sollte sinnvollerweise auf die Stiftungssatzung abgestimmt werden. Der Ehepartner wird zwar im Falle einer Scheidung keinen Zugewinnausgleich erhalten, erhält aber dafür langfristig finanzielle Zuwendungen aus der Stiftung und bleibt damit auch nach der Scheidung finanziell versorgt. Sofern sich der Stifter frühzeitig zu Lebzeiten mit der Unternehmensnachfolge und der Stiftungserrichtung auseinandersetzt, kann durch die Stiftungssatzung und flankierende vertragliche Regelungen ein harmonisiertes und vereinheitlichtes Regelungswerk geschaffen werden. 2. Darstellung der Grundproblematik – Wegzugsbesteuerung Die Familienstiftung kann dazu beitragen, dass die Stifterfamilie hinsichtlich der freien Wohnsitzwahl vor dem Damoklesschwert der Wegzugsbesteuerung geschützt wird.

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Problemdarstellung: Verkauft ein Gesellschafter seine Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft, an der er zumindest mit 1% beteiligt ist, unterliegt der Gewinn in Deutschland einer Steuerlast bis zu 27% (§ 17 EStG). Während die Besteuerung bei einer Kaufpreiszahlung noch naheliegt, schlägt der Fiskus für viele Gesellschafter überraschend auch dann zu, wenn diese unverändert an der Gesellschaft beteiligt bleiben und damit auch gar keinen Kaufpreis ausgezahlt bekommen. Das Außensteuergesetz (AStG) fingiert in § 6 AStG mit der sogenannten Wegzugsbesteuerung einen steuerpflichtigen Veräußerungsvorgang unter anderem dann, wenn ein Gesellschafter zu mindestens 1% an einer Kapitalgesellschaft beteiligt ist und nach einer mindestens zehn Jahre langen unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland seinen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in die Schweiz, USA oder ein anderes Land außerhalb der EU/ des EWR verlegt. Auch bei einer unentgeltlichen Anteilsübertragung an einen Empfänger, der in Deutschland nicht unbeschränkt steuerpflichtig ist, greift die Veräußerungsfiktion. Dies gilt aus Sicht des FG unabhängig davon, ob Deutschland sein Besteuerungsrecht in Folge der Übertragung an den Empfänger im Ausland überhaupt verliert.19 Gerade mittelständischen Unternehmerfamilien, deren Beteiligungen an dem Familienunternehmen über Generationen hinweg auf einen Verkehrswert in mehrstelliger Millionenhöhe angewachsen sind, droht ein wirtschaftliches Risiko. Im Zuge der Globalisierung und der dadurch entstandenen Möglichkeit und Attraktivität einer längerfristigen Verlagerung des Wohnsitzes ins Ausland – insbesondere für junge heranwachsende Menschen – hat sich dieses Thema spürbar auch in der Nachfolgeplanung verbreitet. Der EuGH stellte zwar fest, dass der § 6 AStG bei erwerbsbedingtem Wegzug in die Schweiz für eine Benachteiligung gegenüber in Deutschland bleibenden Gesellschaftern und damit für einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit sorgt.20 Die Finanzverwaltung hat darauf allerdings – mit wenig praktischem Nutzen für die Betroffenen – reagiert, und gewährt dem wegziehenden Gesellschafter (abweichend von § 6 Absatz 4 Satz 1 AStG) auf Antrag eine Stundung der Steuer auf fünf gleiche Jahresraten (zzgl. der nach § 234 AO entstehenden Zinsen).21 Solange die Mitglieder der Unternehmerfamilie selbst an dem Familienunternehmen beteiligt bleiben, lässt sich die Wegzugsbesteuerung damit auch weiterhin nur dadurch wirksam abwenden, dass entweder der Wohnsitz in Deutschland aufrecht er-

19 FG Köln v. 28.3.2019 – 15 K 2159/15, zur Revision beim BFH zugelassen. 20 EuGH v. 26.2.2019 − C-581/17, Rs. Wächtler. 21 BMF-Schreiben v. 13.11.2019.

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halten bleibt oder binnen fünf Jahren wieder begründet wird, wenn im Zeitpunkt des Wegzugs bereits eine Rückkehrabsicht vorhanden war.22 Mögliche Lösung – Familienstiftung: Werden die Anteile des Familienunternehmens vor der Aufgabe des deutschen Wohnsitzes an eine Stiftung übertragen, ist die Wegzugsbesteuerung wirksam abgewendet, weil die Stiftung als neue Gesellschafterin des Familienunternehmens durch ihren Satzungssitz in Deutschland auch dann noch der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland unterliegt, wenn die Familie ihren Wohnsitz ins Ausland verlagert hat. Unterhalb der Eigentümerebene ist als weitere Stellschraube die sogenannte „ExitBesteuerung“ nach § 12 KStG zu beachten. Diese sieht bei einer Verlagerung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung von Deutschland ins Ausland eine fiktive Liquidation der Gesellschaft vor, wenn sich dadurch die Ansässigkeit der Gesellschaft (und auch das Besteuerungsrecht) nach dem jeweiligen DBA verlagert. Um die Exit-Besteuerung abzuwenden, muss der Ort der Geschäftsleitung der Gesellschaft in Deutschland verbleiben. Dies wird unter anderem dadurch sichergestellt, dass zentrale Führungsentscheidungen nachweislich in Deutschland getroffen werden und im Inland auch weiterhin eine Bürostruktur und nach Möglichkeit weitere Geschäftsführer verbleiben. 3. Die Doppelstiftung als zusätzliche Option Eine unternehmensverbundene Doppelstiftung kann eine interessante Form einer Stiftungsstruktur darstellen, wenn der Stifter neben dem Schutz des Unternehmens und der finanziellen Absicherung der Familie auch eine altruistische Zielsetzung verfolgt und seine Werte außerhalb der Familie an die Gesellschaft weitergeben bzw. zurückgeben möchte. Bei der Struktur der Doppelstiftung wird üblicherweise ein Unternehmen von zwei Stiftungen gehalten, einer gemeinnützigen Stiftung und einer Familienstiftung. Die Kombination kann vereinfacht wie folgt dargestellt werden: Die Geschäftsanteile werden mehrheitlich von der gemeinnützigen Stiftung gehalten (beispielsweise 90 %). Der Vorteil besteht darin, dass die Vermögensübertragung an eine gemeinnützige Stiftung steuerbegünstigt erfolgen kann. Die Gesellschafterrechte werden allerdings disproportional von der Familienstiftung ausgeübt. Durch diese Gestaltung wird die unternehmerische Sphäre von der gemeinnützigen strikt getrennt. Die Gewinne des Unternehmens werden mehrheitlich an die Familienstiftung ausgeschüttet (beispielsweise zu 60 %). Die Stimmrechte werden mehrheitlich von dem Vorstand der Familienstiftung ausgeübt. Die Familienstiftung fungiert als Instrument der Unternehmensführung und Ertragsquelle der Unternehmerfamilie. 22 Rz.  6.4 des Anwendungserlasses zum AStG (AEAStG), BStBI. I 2004, Sondernummer 1/2004, 3; FG Münster v. 31.10.2019 – 1 K 3448/17 E, zur Revision beim BFH zugelassen.

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Ein nicht unerheblicher Teil der Unternehmenserträge kann in die Verwirklichung gemeinnütziger Zwecke investiert werden. Neben der steuerlichen Attraktivität dieser Doppelstiftungsstruktur und der Möglichkeit eines altruistischen Stifters, einen Teil seines geschaffenen Lebenswerkes an die Gesellschaft zurückzugeben, kann die Doppelstiftung auch in folgender Situation sinnvoll erscheinen: Die Familienstiftung erfüllt den Zweck, die Mitglieder der Stifterfamilie finanziell zu versorgen. Für den Fall, dass kein Mitglied der Stifterfamilie mehr lebt, entfällt der Stiftungszweck und die Verwirklichung würde rechtlich unmöglich. Die Stiftung wäre nach § 87 BGB aufzulösen. Für diesen Fall kann in der Stiftungssatzung, sozusagen als Auffangstiftung, die gemeinnützige Stiftung als Anfallberechtigte bestimmt werden, sodass das Vermögen in dem Moment vollständig altruistischen Zwecken gewidmet wird.

VII. Fazit Die Familienstiftung kann sinnvoll eingesetzt werden, um familiäre Streitigkeiten innerhalb eines Familienunternehmens, die insbesondere durch eine zu den individuellen Familienmitgliedern nicht stimmig aufgesetzte Unternehmensnachfolge entstehen können, zu reduzieren und bestenfalls zu vermeiden. Die Stiftung allein wird allerdings diesen Erfolg nicht herstellen. Wesentlich ist, dass sämtliche Familienmitglieder frühzeitig in die Konzeptidee der Familienstiftung eingebunden werden, um den Gedanken und das Verständnis zu transportieren, dass die eigentümerlose Struktur (Stichwort: Enterbung) nicht gleichbedeutend ist mit der Aufgabe einer finanziellen oder familiären Position. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Nicht zu vernachlässigen ist dabei, dass ein Zugehörigkeitsgefühl der Familienmitglieder, das beispielsweise in einer Familienverfassung als Grundpfeiler der familiären Identifikation Ausdruck finden kann, wesentlich dazu beiträgt, aktiv an einer gemeinsamen Lösungsfindung teilzunehmen, anstatt einen Streit innerhalb der Familie mit Auswirkungen auf das Unternehmen zu beginnen. Die Rechtsform der Stiftung kann insbesondere für größere mittelständische Unternehmerfamilien ein sinnvolles Gestaltungsinstrument zur Unternehmensnachfolge darstellen. Die Planung der Struktur ist, damit diese erfolgreich umgesetzt werden kann, frühzeitig zu beginnen, da insbesondere ein individuelles Konzept, das langfristig durch die Familienstiftung gelebt werden soll, teilweise erst durch eine mehrjährige Auseinandersetzung mit dieser Thematik entwickelt werden kann. Der Prozess sollte dringend interdisziplinär von rechtlichen und steuerlichen Beratern mit Stiftungserfahrung begleitet werden. 198

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Strafrechtliche Risiken bei der Beratung von Unternehmen Inhaltsübersicht

IV. Prozessuale Schutzbestimmungen 1. Vorbemerkung 2. Zeugnisverweigerungsrechte 3. Beschlagnahmeverbot 4. Schutz nach § 160a StPO

1. Bei der steuerlichen Beratung a) Erstellen von Steuererklärungen b) Nachträgliche Kenntnis von der Unrichtigkeit der Erklärung c) Auskunft, Beratung d) Buchführung e) Selbstanzeige 2. Bei der Beratung in der wirtschaft­lichen Krise a) Einführung b) Einschlägige Straftatbestände (­Auswahl)

V. Typische Risiken des Beraters

VI. Schlussbemerkung

I. Einführung II. Berufstypisches Handeln III. Dogmatische Grundlagen der Beraterstrafbarkeit 1. Täterschaft 2. Teilnahme

I. Einführung Wirtschaft und Recht sind untrennbar miteinander verbunden. Die immer weiter zunehmende Komplexität rechtlicher und wirtschaftlicher Vorgänge führt zu einem immer umfassenderen und bedeutsameren Beratungsbedarf. Dies auch deshalb, weil sich wirtschaftliches Handeln nicht selten im Grenzbereich des Strafbaren bewegt. Häufig sind auch die Grenzen zwischen straffreien und strafbaren Vorgehensweisen nicht klar zu bestimmen. Hierfür an dieser Stelle nur: Wo endet die Geschäftstüchtigkeit und wird zum Betrug oder zur Vorteilsgewährung bzw. Bestechung? Wann wird Steuerumgehung zur Steuerhinterziehung? Von der volkswirtschaftlichen Bedeutung, von dem finanziellen und personalen Umfang her ist die beratende Tätigkeit überhaupt, insbesondere aber auch die beratende Tätigkeit von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, in Nachfrage und Angebot in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich, zeitweilig sogar sprunghaft, gewachsen. Es sind zum einen massive Veränderungen in Bezug auf die wirtschaftlichen Betätigungsfelder, die diesen Bedarf hervorgerufen haben. Ursächlich dafür sind zum anderen aber auch die Vielzahl neuer Gesetze und deren häufig weiten und nicht selten unklaren Regelungsfelder sowie deren Reichweite.

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Vorgänge, die zunächst nur zivilrechtliche oder öffentlich rechtliche Relevanz aufweisen, werden bei nachträglicher Betrachtung kriminalisiert. Dies geschieht immer  häufiger nicht zuletzt deshalb, weil durch das Geschehene angeblich oder tatsächlich Geschädigte oder auch nur Betroffene zur Verfolgung ihrer Ansprüche zum Zwecke der Gewinnung und Beschaffung von Beweismitteln die den Strafverfolgungsbehörden vorbehaltenen (Zwangs-) Mittel für ihre Zwecke instrumentalisieren. Weil dieses den im Wirtschaftsleben verantwortlich Handelnden bekannt und bewusst ist, wird von ihnen immer häufiger präventiv (Rechts-)Rat eingeholt, um etwaige Strafbarkeitsrisiken ausleuchten zu lassen. Das Akquisitions- und Arbeitsfeld Beratung hat dadurch an Umfang und an Gewicht zugenommen und wird noch weiter zunehmen. Die Konturen der Beratung sind nach innen und nach außen unschärfer geworden, dies nicht zuletzt wegen der immer stärker werdenden Verzahnung zwischen rechtlichen Vorgaben und wirtschaftlichen Zwängen. Personen, die durch ihre beratende berufliche Tätigkeit im weitesten Sinne auf unternehmerische Entscheidungen Einfluss ausüben bzw. ausüben können, haben eine mehr oder weniger große Nähe zu einem möglicherweise strafbaren Geschehen. Die Folge ist, dass von Beratern begleitete wirtschaftliche Vorgänge nicht nur gelegentlich von den Strafverfolgungsbehörden kritisch betrachtet werden. Nicht selten werden die Berater gar als die treibende Kraft hinter den Geschehensabläufen vermutet oder gesehen. Strafverfolgungsbehörden, denen die Verfolgung von Wirtschaftskriminalität obliegt, sehen sich daher veranlasst, das Verhalten der Berater in strafrechtlicher Hinsicht zu untersuchen und zu bewerten. Bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wird der strafrechtlichen Verfolgung von Beratern eine nicht geringe Bedeutung beigemessen. Dies wird beispielhaft deutlich an den nachfolgend wiedergegebenen Ausführungen eines Staatsanwalts in einem Handbuch zum Wirtschaftsstrafrecht: „Aller Erfahrung nach kann kein Zweifel bestehen, daß Wirtschaftskriminalität um so gefährlicher ist und sich um so weniger eindämmen läßt, desto weniger die Angehörigen der traditionellen Beraterberufe darauf hinwirken, daß ihre Mandanten sich gesetzeskonform verhalten. Für die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität ist es von maßgeblicher Bedeutung, ob es gelingt, ein hohes Berufsethos von Beratern zu erhalten. (…) Zur Erhaltung eines hohen Berufsethos und integerer Berufsstände ist es geboten, nicht nur strafbare Handlungen von Angehörigen dieser Berufe strikt zu ahnden, sondern auch die nur berufs- und standesrechtlich relevanten Verletzungen wichtiger Berufspflichten zu erkennen und ihre Ahndung mit Nachdruck herbeizuführen.“1

Es wird behauptet, gerade den Beratungsberufen käme bei der Aufklärung und Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten eine besondere eigenständige Bedeutung zu. Auch die Angehörigen der staatlich gebundenen Beraterberufe – Rechtsanwälte, Wirtschafts-

1 Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 76 Rz. 14.

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prüfer, Steuerberater – seien nicht davor gefeit, sich in Straftaten der von ihnen beratenen Auftraggeber einbinden bzw. verstricken zu lassen.

II. Berufstypisches Handeln Das Beraten ist Berufen wie Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater ­wesenseigen. Es ist ein berufstypisches Handeln. Berufstypische Handlungen sind grundsätzlich „neutrale“ Handlungen, also solche, denen nicht von vornherein mit Argwohn begegnet werden darf, sondern bei denen grundsätzlich der Wille des Handelnden zu unterstellen ist, sich rechtmäßig zu verhalten. So sah sich in Bezug auf den Beruf des Rechtsanwalts bereits das Reichsgericht2 veranlasst, sich wie folgt zu äußern: „Will der Anwalt – auf berufsmäßige Gutachten anderer Zweige wird dieselbe Erwägung zutreffen – nichts weiter tun als seinen berufs- und pflichtmäßigen Rat (d.i. Belehrung) erteilen, ist ihm dabei bekannt, dass sein Gutachten zur Begehung eines D ­ elikts führt, … hat jedoch sein Wille mit dieser Folge seiner rechtlichen Begutachtung oder Ratserteilung nichts zu schaffen, so kann von einer wissentlichen Beihülfe nicht die Rede sein. Geht aber seine Geistes- und Willenstätigkeit nicht nur darauf hin, in der Ratserteilung seinen Beruf zu erfüllen, sondern auch durch die berufsmäßige Ratserteilung die Ausführung einer Straftat zu fördern, dann – und nur dann – liegt Beihülfe im Sinn des Strafgesetzes vor.“

Diesen Ausführungen des Reichsgerichts weitestgehend zuzustimmen, sah sich der Bundesgerichtshof veranlasst, als er gefordert wurde, berufstypische „neutrale“ Handlungen des beratenden Rechtsanwalts einzuordnen. Der Bundesgerichtshof3 weist allerdings darauf hin, dass eine strafbare Beteiligung nicht nur gegeben ist, wenn der Berater positiv weiß, dass eine Tat begangen wird, sondern möglicherweise auch schon dann, wenn er bei seiner Beratung ein hohes Risiko der Tatbegehung durch einen bereits tatgeneigten Täter erkennt. Er führt dazu Folgendes aus4: „Zielt das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf ab, eine strafbare Handlung zu begehen, und weiß dies der Hilfeleistende, so ist sein Tatbeitrag als Beihilfehandlung zu werten. In diesem Fall verliert sein Tun stets den „Alltagscharakter“; es ist als „Solidarisierung“ mit dem Täter zu deuten und dann auch nicht mehr als sozial­adäquat anzusehen. Weiß der Hilfeleistende dagegen nicht, wie der von ihm geleistete Beitrag vom Haupttäter verwendet wird, hält er es lediglich für möglich, dass sein Tun zur Begehung einer Straftat genutzt wird, so ist sein Handeln regelmäßig noch nicht als strafbare Beihilfehandlung zu beurteilen, es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten war derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein ließ.“

2 RGSt 37, 321. 3 Siehe nur BGH v. 20.9.1999 – 5 StR 729/98, wistra 1999, 459 = NStZ 2000, 34 = StV 2000, 479; BGH v. 21.12.2016 – 1 StR 112/16, wistra 2017, 270 = NStZ 2017, 337. 4 Wistra 2017, 272 Rz. 30.

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III. Dogmatische Grundlagen der Beraterstrafbarkeit Für die beratenden Berufe besteht die typische Konstellation, dass der Berater mit seinem Fachwissen regelmäßig nur im Innenverhältnis zu dem Beratenen wirkt. Erst der Beratene handelt dann, gestützt auf die von dem Berater erhaltenen Hilfestellungen, im allgemeinen Rechtskreis. Dieser Umstand führt zu Unterschieden in der strafrechtlichen Würdigung des Handelns des Beraters.5 Der Berater läuft zum einen Gefahr, selbst Delikte täterschaftlich zu begehen. Dabei kann er Allein- oder Nebentäter sein, Voraussetzung hierfür ist, dass der Berater alle Tatbestandsmerkmale des einschlägigen Straftatbestandes in seiner Person erfüllt. Zudem besteht die Möglichkeit, dass dem Berater Handlungen des Beratenen zugerechnet werden. Dabei kommt eine Zurechnung sowohl in Form der Mittäterschaft als auch in Form der mittelbaren Täterschaft in Betracht.6 Zum anderen besteht für den Berater das Risiko, Teilnehmer (Anstifter, Gehilfe) an einer Straftat des Beratenen zu werden.7 1. Täterschaft Täterschaftlich handelt, wer alle Tatbestandsmerkmale einer bestimmten Strafnorm in seiner Person unmittelbar erfüllt (§  25 Abs.  1 1.  Alt. StGB), aber auch, wer die Straftat durch einen anderen begeht (§ 25 Abs. 1 2. Alt. StGB).8 Der letztere Fall, die Nutzung eines anderen als Werkzeug zum Begehen einer Straftat als Täter hinter dem Täter, dürfte im Beratungsumfeld eher selten vorkommen, da Straftaten in diesem Bereich im Allgemeinen aus der Interessenlage des Beratenen entstehen. Auch Mittäterschaft als gleichgeordnete gemeinsame Begehung einer Straftat (§  25 Abs. 2 StGB) dürfte ebenfalls eher selten vorkommen, da sich die überwiegende Zahl möglicher Taten des Beratenen als Sonderdelikte aus dem Bereich der Organisationshaftung darstellt. Wegen des eben schon erwähnten Schwerpunkts der Interessenlage bei dem Auftraggeber sind täterschaftliche Delikte bei einem Berater lediglich dann zu erwarten, wenn dieser aus seiner Funktion als Berater heraus in Pflichtenstellungen gerät, die ihn im Sinne des Strafrechts zum originär Verpflichten machen. Dies geschieht hauptsächlich durch Gesetz, rechtlichen Übertragungsakt oder faktisches Handeln. Gesetzliche Konsequenzen entstehen in erster Linie aus § 14 StGB, der in seinem ersten Absatz bestimmt, dass jemand, der als vertretungsberechtigtes Organ einer juris5 Siehe hierzu nur Krell, Zur Strafbarkeit gutachterlicher und rechtsberatender Tätigkeit im Wirtschaftsstrafrecht, wistra 2020, 177. 6 Zu Rechtsrat und mittelbarer Täterschaft siehe Krell, wistra 2020, 177, 181. 7 Zu Einzelheiten siehe Cramer/Heine in Schönke/Schröder StGB, 30. Aufl. 2019, § 25 Rz. 2; Krell, wistra 2020, 177, 178. 8 Zu Einzelheiten siehe Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 25 Rz. 3 ff.

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tischen Person oder Mitglied eines solchen Organs, als vertretungsberechtigter ­Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft oder gesetzlicher Vertreter eines anderen handelt, in die für diese Personen oder Organe begründeten spezifischen Pflichtenstellungen einrückt. Der Anwendungsbereich von Tatbeständen, die auf spezifische Normadressaten ausgerichtet sind, wird somit erweitert auf diejenigen Personen, die tatsächlich in dem gesetzlich definierten Pflichtenkreis tätig werden. Im Beratungsbereich wird diese Vorschrift nur in den seltenen Fällen relevant werden, in denen Beratung und Sanierung von der abstrakt beratenden Außenposition weg in die Innengestaltung und Steuerung übergreift – für den Berater ohnehin eine systematisch ungute Situation, die aber beispielsweise im Bereich der Insolvenzverwaltung inzwischen gesetzliche Zielprojektion ist. Der zweite Absatz des § 14 StGB regelt die rechtliche Übertragung von Teil-Pflichtenpositionen. Wenn jemand in bestimmte abgrenzbare Pflichtenpositionen und deren eigenverantwortlichen Betreuung durch den eigentlichen Normadressaten berufen wird, soll nach der Vorstellung des Gesetzes der Wohlverhaltensdruck des Strafrechts auch dort wirksam werden. Die Gefahr für Berater in diesem Bereich besteht vor allem darin, dass aus der Dynamik der Beratung heraus oftmals die ursprüngliche abstrakte Raterteilung sich in der Durchsetzung des Rates im Einzelnen fortsetzen kann. Der Rat zur bestimmten Gestaltung der kaufmännischen Geschäftsführung kann durchaus dazu führen, dass der Berater mit Willen des Geschäftsherrn für eine Zeit tatsächlich die Leitung dieses Betriebsteils übernimmt. Da dies mündlich oder gar konkludent erfolgen kann, befinden sich Berater manchmal unversehens in strafrechtlich relevanten Pflichtenstellungen, die sie bei Beginn des Mandats weder gesehen noch gewollt haben. Von der allgemeinen Strafausdehnung durch §  14 StGB ist zu unterscheiden die Übernahme der faktischen Geschäftsführung, wie sie insbesondere bei Sanierungsberatungen im Auftrag Drittinteressierter – beispielsweise Banken – immer wieder erfolgen kann. Zwar ist die Diskussion über die Bandbreite dieser von der Rechtsprechung geschaffenen Rechtsfigur inzwischen einigermaßen zur Ruhe gekommen und insbesondere die Streitfrage entschieden, ob ein faktischer auch neben dem formellen Geschäftsführer existieren kann. Die gewonnene Überzeugung, dass faktischer Geschäftsführer nur derjenige sein kann, der die wesentlichen Geschicke des Unternehmens auch insgesamt tatsächlich lenkt und nicht nur einen Teilabschnitt, und dass dieser den formellen Geschäftsführer aus dessen wesentlichen Entscheidungsmöglichkeiten verdrängen muss9, hat die strafrechtliche Gefährdung von Beratern zwar minimiert, nicht jedoch beseitigt. 2. Teilnahme Die eigentliche strafrechtliche Gefährdung des Beraters besteht nicht darin, als Täter angesehen und verfolgt zu werden, sondern als Teilnehmer. Strafrechtlich relevante 9 Siehe hierzu Fischer, StGB, 68.  Aufl. 2021, §  14 Rz.  18 m.w.N. und §  266 Rz.  42; BGH v. 20.9.1999 – 5 StR 729/98, StV 2000, 479, 482 = wistra 1999, 459, 462.

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Teilnahme kann in Form von Anstiftung oder Beihilfe geschehen. Anstiftung setzt voraus, dass der Berater seinen Klienten zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt (§ 26 StGB). Als Gehilfe steht der Berater nicht vor, sondern neben der Tat und leistet vorsätzlich einen irgendwie fördernden Beitrag zu der  – rechtswidrigen – Tat des Haupttäters (§ 27 StGB). Der Anstifter wird grundsätzlich wie der Täter bestraft (§ 26 StGB). Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafandrohung für den Täter; sie ist jedoch nach § 49 StGB zu mildern (§ 27 Abs. 2 StGB). Eine ähnliche – zwingende – Milderung ist für die Fälle vorgesehen, in denen besondere persönliche strafbegründete Merkmale, die den Unrechtsgehalt der Tat beim Täter ausmachen, beim Teilnehmer fehlen. Es handelt sich um die bereits aufgezeigten besonderen Pflichtbestellungen, die § 14 StGB beschreibt, sowie um speziell vom Gesetz bezeichnete Tatbestände. Die sogenannten „Sonderdelikte“ prägen das Wirtschaftsrecht. Die schlichten Allgemeindelikte sind im Spektrum der Wirtschaftsdelikte schwächer vertreten, weil eine besondere Verantwortung der im Wirtschaftsleben Handelnden mit Delikten korrespondiert, die diese besondere Verantwortung als Teil ihres Tatbestands widerspiegeln. Letztendlich handelt es sich um Delikte, die aus den speziellen Pflichten von Personen herrühren, die Unternehmen leiten oder an wesentlichen Schaltstellen Verantwortung gesetzlich, rechtlich oder faktisch übernommen haben. Im Bereich dieser „Sonderdelikte“ nimmt eine Strafnorm eine herausgehobene Stellung ein: die Untreue nach § 266 StGB. Bei der täglichen Verteidigungs- und Beratungsarbeit ist festzustellen, dass sich eine Frage immer wieder aufdrängt, nämlich, ob eine beliebige strafrechtlich zu prüfende Pflichtverletzung nicht auch zugleich eine Untreue darstellt. Der Tatbestand der Untreue wird als faktischer Auffangtatbestand gesehen. Begründet wird dies damit, dass in der Praxis deutliche Tendenzen erkennbar seien, die den Untreuetatbestand in Bereiche ausdehne, bei denen es unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters des Strafrechts an Strafwürdigkeit und Strafbedürfnis fehlte.10 Die Versuche, aus der systemisch besonderen Stellung des Beraters eine Eingrenzung der Strafbarkeitsrisiken vorzunehmen, haben bei den Strafverfolgungsbehörden kaum Beachtung erfahren. Als solche Versuche anzusehen sind die Überlegungen von Tiedemann11 und Volk12, die sich dafür ausgesprochen haben, dass Rat, Auskunft und Mitwirkung bei Durch- und Ausführung der Tätigkeit von Beratern nur bei Vorliegen von direktem Vorsatz strafbar sein könne und solle. Gefolgert wird dies aus dem Berufsrecht. Akzeptanz in der Rechtsprechung haben diese Auffassungen allerdings nicht gefunden. Auch wenn der Ausgangspunkt  – die Berücksichtigung einer beruflichen Sonderstellung – ähnlich ist, gelangt die Rechtsprechung nicht zu dem Ergebnis, es habe ein Nachweis des direkten Vorsatzes zu erfolgen, um einen Berater einer Beihilfestrafbarkeit zu überführen. 10 So sieht es z.B. Dierlamm, NStZ 1997, 534 ff. 11 Tiedemann in GmbH-Strafrecht Kommentar, 5. Aufl. 2010, § 82 GmbHG Rz. 25. 12 Volk, BB 1987, 139, 144.

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IV. Prozessuale Schutzbestimmungen 1. Vorbemerkung Sinnvolle Beratung setzt ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Berater und dem Beratenen voraus. Der Beratene wird sich nur umfassend öffnen und dem Berater sensible Tatsachen und Vorgänge (Geheimnisse) offenbaren, wenn er sicher sein kann, dass ohne seine Zustimmung jedenfalls grundsätzlich das, was dem Berater bei der Berufsausübung anvertraut worden oder bekannt geworden ist, Dritten nicht zugänglich ist. Das sieht auch die Rechtsordnung so. Sie gewährt deshalb auch bestimmten Beratern wie etwa Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern prozessualen Schutz in Form von Zeugnis-verweigerungsrechten, Beschlagnahmeprivilegien und Schutz vor Ermittlungsmaßnahmen. In Anerkennung des Schutzbedürfnisses des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Berater und dem Beratenen wird auf die Ausschöpfung von Beweismitteln zur Wahrheitsfindung verzichtet. Sie stellt auch im Interesse des Beratenen das unbefugte Offenbaren von anvertrauten Geheimnissen oder sonst beruflich bekannt gewordenen Geheimnissen durch den Berater unter Strafe (§ 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB). 2. Zeugnisverweigerungsrechte Nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO sind Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater als Träger von Berufsgeheimnissen in Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren berechtigt, das Zeugnis in Bezug auf das zu verweigern, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekannt geworden ist. Das Zeugnisverweigerungsrecht entfällt, wenn die Berufsgeheimnisträger von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden worden sind (§  53 Abs.  2 Satz 1 StPO). Die Entbindung von der Schweigepflicht ist grundsätzlich beschränkbar und widerruflich. Zur Entbindung berechtigt ist jeder, zu dessen Gunsten die Schweigepflicht gesetzlich begründet ist.13 Sind mehrere geschützt, müssen alle entbinden.14 Besteht das Beratungsverhältnis zu einer juristischen Person, müssen für diese die rechtlichen und faktischen Organwalter die Entbindungserklärung abgeben. Findet ein Wechsel in der Geschäftsführung oder im Vorstand statt, genügt die Erklärung durch die aktuell zuständigen Organe.15 Wird die juristische Person durch einen Insolvenzverwalter vertreten, so soll dieser die Berufsgeheimnisträger wirksam von der

13 Siehe nur Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 53 Rz. 46 m.w.N. 14 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 53 Rz. 46 m.w.N. 15 Zu Einzelheiten und zu Gegenmeinungen siehe Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 53 Rz. 46a.

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Verschwiegenheitspflicht entbinden können.16 Bestehen sog. Doppelmandate (Auftraggeber: juristische Person und deren Organwalter), muss regelmäßig die Entbindungserklärung durch die juristische Person und durch den betroffenen Organwalter abgegeben werden.17 Den Berufsgeheimnisträgern nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 StPO stehen die mitwirkenden Personen gleich (§ 53a Abs. 1 StPO). Mitwirkende Personen sind solche Personen, bei denen die Tätigkeiten in unmit­ telbarem Zusammenhang mit der Berufstätigkeit des Hauptberufsträgers stehen.18 Sie haben ebenfalls ein Zeugnisverweigerungsrecht und berufsrechtlich auch eine Schweigepflicht (§  53a Abs.  1 StPO). Der Hauptberufsgeheimnisträger entscheidet über die Aussagepflicht seiner mitwirkenden Personen mit bindender Wirkung (§ 53a Abs. 1 Satz 2 StPO). Die Entbindung von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit gilt auch für die mitwirkenden Personen (§ 53 Abs. 2 StPO). § 53 StPO gewährt nur ein Zeugnisverweigerungsrecht, begründet also keine Pflicht zur Zeugnisverweigerung. Die korrespondierende Schweigepflicht enthalten die Berufsgesetze (so § 43a Abs. 2 BRAO oder § 57 Abs. 1 StBerG). Das Zeugnisverweigerungsrecht dieser Beraterberufe gilt in gleicher oder ähnlicher Weise in anderen Rechtsgebieten und Verfahrensordnungen (z.B. § 102 Abs. 1 Nr. 3 AO, § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO). 3. Beschlagnahmeverbot Das Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO knüpft an das Zeugnisverweigerungsrecht u.a. nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO an mit der Folge, dass Gegenstände, die von diesem Zeugnisverweigerungsrecht umfasst sind, einem Beschlagnahmeverbot unterliegen. Damit soll verhindert werden, dass das Zeugnisverweigerungsrecht unterlaufen werden kann. Wenn Gegenstände dem Beschlagnahmeverbot unterliegen, ist schon die Anordnung und Durchführung einer Durchsuchung mit dem Ziel ihrer Auffindung unzulässig. Soweit § 97 StPO die Beweiserhebung in Beziehung zu Berufsgeheimnisträgern regelt, kommt der Bestimmung gegenüber § 160a StPO der Vorrang zu.19

16 H.M.; str.; siehe Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 53 Rz. 46a m.N. für die h.M. und die Gegenmeinung. 17 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 53 Rz. 46c; siehe dort auch zu Einzelheiten. 18 Zu Einzelheiten siehe Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 53a Rz. 2. 19 § 160a Abs. 5 StPO; BVerfG v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 1780/17, Rz. 74 ff. mit umfangreichen Nachweisen, StV 2018, 547, 550 = StraFo 2018, 288 = NJW 2018, 2385; zur Deutung dieser Entscheidung siehe Momsen, NJW 2018, 2362.

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Trotz des umfassenden Wortlauts des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO wird nur das Vertrauensverhältnis zu dem jeweiligen Beschuldigten geschützt.20 So führt z.B. das Mandatsverhältnis zu einer juristischen Person nicht zu einem Beschlagnahmeverbot in Bezug auf deren beschuldigten Organe.21 Eine erweiternde Auslegung des § 97 Abs. 1 Nr.  3 StPO, nach der der Beschlagnahmeschutz unabhängig von einem Berufsgeheimnisträger-Beschuldigten-Verhältnis besteht, ist von Verfassung wegen nicht geboten.22 So ist es nicht geboten, eine beschuldigtenähnliche Stellung, die einen Beschlagnahmeschutz des § 97 StPO nach sich zieht, bereits dann anzunehmen, wenn z.B. ein Unternehmen ein künftiges gegen sich gerichtetes Ermittlungsverfahren lediglich befürchtet und sich vor diesem Hintergrund anwaltlich beraten lässt oder eine unternehmensinterne Untersuchung in Auftrag gibt.23 Die Heranziehung des Regelungsgehalts des § 160a StPO ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich nicht geboten. Aus der Verfassung folge nicht, dass Rechtsanwälte und Verteidiger bezüglich des Beschlagnahmeschutzes gleich zu behandeln seien.24 Die Zulässigkeit von Beschlagnahmen bei Berufsgeheimnisträgern sei deshalb allein an § 97 StPO zu messen. Es verstoße deshalb nicht gegen Verfassungsrecht, den Beschlagnahmeschutz nicht über das Verteidigungsverhältnis hinaus auf andere anwaltliche Vertrauensverhältnisse auszudehnen.25 Von besonderer praktischer Bedeutung ist die Frage, ob und inwieweit Schriftgut wie z.B. Buchhaltung, Geschäftskorrespondenz, Bilanzen, beschlagnahmefrei ist, wenn es sich bei dem Berufsgeheimnisträger befindet und es sich nicht um Deliktsgegenstände handelt. Diese Unterlagen unterliegen jedenfalls dann der Beschlagnahmefreiheit, wenn sie als Beratungsunterlagen dienen und so unmittelbar das Vertrauensverhältnis zwischen Berater und Mandant betreffen.26 Zum Auffinden von Unterlagen der genannten Art können Durchsuchungen bei Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern angeordnet werden. Diese müssen allerdings auf bestimmte, in dem anordnenden Beschluss konkret bezeichnete Gegenstände beschränkt sein.27 Keine Beschlagnahmefreiheit beim Berater besteht, wenn – gegen den Berater ermittelt wird (§ 97 Abs. 2 Satz 3 StPO), – der Gewahrsam des Beraters geendet hat (§ 97 Abs. 2 Satz 1 StPO), 20 BVerfG v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 1780/17, Rz. 79 ff.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 97 Rz. 10a m. umfangreichen Nachweisen; siehe dort auch zu den Gegenmeinungen. 21 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 97 Rz. 10a m.w.N. 22 So BVerfG v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 1780/17, Rz. 87 ff. 23 So BVerfG v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 1780/17, Rz. 95 ff. 24 So auch LG Mannheim v. 3.7.2012 – 24 Qs 1, 2/12, NStZ 2012, 713 m. Anm. Jahn/Kirsch, ebenda, s. 718; LG Bochum v. 16.3.2016 – II – 6 Qs 1/16, NStZ 2016, 500, 502; LG Hamburg v. 15.10.2010 – 608 Qs 18/10, NJW 2011, 942, 944 ff. 25 BVerfG v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 1780/17, Rz. 85. 26 Zu Einzelheiten siehe Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 93 Rz. 17 bis 31; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 97 Rz. 4a. 27 Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, § 93 Rz. 31.

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– es sich um Deliktsgegenstände handelt (§ 97 Abs. 2 Satz 3 StPO), – der Berater von der Schweigepflicht entbunden ist.28 4. Schutz nach § 160a StPO Das Vertrauensverhältnis zwischen Berufsgeheimnisträger und Mandant wird auch durch die Ermittlungsbeschränkungen des § 160a StPO geschützt. Diese Vorschrift unterwirft Ermittlungsmaßnahmen, nicht nur verdeckte, Einschränkungen, wenn sie zu Erkenntnissen führen, die in einer Vernehmungssituation dem Zeugnisverweigerungsrecht des Berufsgeheimnisträgers unterfallen würden. Die Vorschrift versteht sich als Ergänzung und neue Grundnorm zum bisherigen Schutz bestimmter Vertrauensbeziehungen. Sie enthält ein abgestuftes System von Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten. Die Ermittlungsbeschränkungen gelten nur im Rahmen des jeweiligen Zeugnisverweigerungsrechts; sie kommen nicht in Betracht, wenn eine Zeugnisverweigerung ausscheidet, z.B. wenn der Berufsgeheimnisträger von seiner Schweigepflicht entbunden ist. Bei dem Verdacht der Beteiligung sowie der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei entfallen die in den Absätzen 1 bis 3 enthaltenen Erhebungs- und Verwertungsverbote (Abs. 4 Satz 1 der Vorschrift). Die Verdachtslage muss stärker sein als ein bloßer Anfangsverdacht, darf aber schwächer sein als ein hinreichender Tatverdacht.29 Das von Abs.  1 geschützte berufsbezogene Vertrauensverhältnis beginnt nicht erst mit dem Abschluss des zivilrechtlichen Geschäftsbesorgungsvertrags, sondern umfasst auch das entsprechende Anbahnungsverhältnis.30 Ein relatives Beweiserhebungsverbot sieht § 160a Abs. 2 in den Sätzen 1 und 2 bei den von Abs. 1 nicht erfassten Berufsgeheimnisträgern, darunter Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer, vor. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass absolute Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote wegen der hohen Bedeutung der Verfolgung von Straftaten auf wenige Ausnahmefälle zu begrenzen sind.31 Es hat eine besondere Prüfung der Verhältnismäßigkeit stattzufinden.32 Nur im Rahmen des § 160a Abs. 1 StPO – hier ist der Rechtsanwalt angesprochen – gelten Erhebungs- und Verwendungsverbote absolut.

28 Zu Einzelheiten siehe Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 93 Rz. 33 bis 37. 29 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 160a Rz. 15 mit Hinweisen u.a. auf BVerfG v. 30.4.2007 – 2 BvR 2151/06, NJW 2007, 2752 f. 30 BGH v. 4.2.2016 – StB 23/14, StV 2016, 414 m. Anm. Kämpfer, NStZ 2016, 742. 31 BVerfG v. 12.10.2011 – 2 BvR 236/08 u.a., NJW 2012, 833, 841; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt StPO, 62. Aufl. 2020, § 160a Rz. 9. 32 Zu Einzelheiten siehe Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl., § 93 Rz. 44 ff.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 160a Rz. 9 ff.

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V. Typische Risiken des Beraters 1. Bei der steuerlichen Beratung Nicht zu Unrecht wird des Öfteren darauf hingewiesen, dass steuerliche Beratung eine gefahrengeneigte Tätigkeit sei. Dieser Hinweis beruht insbesondere auf den Pflichten, die dem Berater seine berufliche Ausrichtung auferlegen. Der steuerliche Berater hat sich im Rahmen seiner Tätigkeiten bei der Auslegung der einschlägigen Rechtsnormen grundsätzlich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu orientieren. Hinweise, Belehrungen und Empfehlungen sind in der Regel hieran auszurichten.33 Auch außerhalb eines beschränkten Mandatsgegenstands besteht für ihn eine Hinweispflicht an den Auftraggeber, soweit ihm Gefahren bekannt oder offenkundig sind oder sich ihm bei ordnungsgemäßer Bearbeitung seines Mandats aufdrängen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn Grund zu der Annahme besteht, sein Auftraggeber sei sich dieser Gefahr nicht bewusst.34 Es wird zu Recht aufgezeigt, dass der Berater zum einen zur Vermeidung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche aus dem Beratervertrag verpflichtet ist, dafür Sorge zu tragen hat, dass der Mandant nicht mehr Steuern zu zahlen hat, als unbedingt notwendig ist. Zum anderen hat der Berater das geltende, in der Regel der Auslegung zugängliche und bedürftige Steuerrecht zu beachten. Er ist also einerseits einer Inanspruchnahme wegen Verletzung seiner Pflichten aus dem Beratervertrag (§ 280 BGB) und andererseits steuerstrafrechtlichen Risiken mit den regelmäßig damit einhergehenden Haftungsrisiken (§ 71 AO) ausgesetzt. Der steuerliche Berater ist nicht selten auch Berater in wirtschaftlichen Fragen und verfügt auch deshalb in der Regel über tiefere Einblicke in das Handeln seiner Auftraggeber, unter denen sich durchaus auch steuerunehrliche befinden können. Regelmäßig wird der steuerliche Berater umfassend für seine Auftraggeber tätig. Er fertigt für sie die unterjährigen und jährlichen Erklärungen, begleitet Betriebsprüfungen und wird tätig bei betrieblichen Vorgängen wie Grundstücks- und sonstigen Veräußerungen, bei Erbfällen und bei wirtschaftlichen Krisen. Seine tatsächlichen oder auch nur vermuteten Kenntnisse von steuerlich bedenklichen Abläufen und Geschehnissen können ihn in den Verdacht eines (steuer-)strafrechtlichen Handelns bringen. Bei dem steuerlichen Berater besteht die für beratende Berufe typische Konstellation, dass der Berater mit seinem Fachwissen in der Regel nur im Innenverhältnis zum Auftraggeber tätig wird. Erst der Auftraggeber handelt dann, gestützt auf die erhaltenen Hilfeleistungen, im allgemeinen Rechtsraum. Dieses führt zu Unterschieden in

33 Fischer, Der Betrieb 2017, 2401, 2402 unter Hinweis auf BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, Der Betrieb 2017, 814; BGH v. 17.3.2016 – IX ZR 142/14, WM 2016, 2091. 34 Fischer, Der Betrieb 2017, 2401, 2402 unter Hinweis auf BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, Der Betrieb 2017, 814.

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der Würdigung des Verhaltens des steuerlichen Beraters im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, auf die noch einzugehen sein wird. a)  Erstellen von Steuererklärungen aa)  Strafrechtliche Risiken Aus strafrechtlicher Sicht besteht für den steuerlichen Berater ein doppeltes Risiko: Zum einen läuft er Gefahr, selbst Delikte täterschaftlich zu begehen. Dabei kann er Allein- oder Nebentäter sein.35 Täter ist der steuerliche Berater dann, wenn er die tatbestandsmäßige Tat selbst begeht, also sämtliche Tatbestandsmerkmale verwirklicht. Wer alle Tatbestandsmerkmale in eigener Person verwirklicht, ist auch dann unmittelbarer Täter, wenn er unter dem Einfluss einer anderen Person und nur in deren Interesse handelt.36 Zudem besteht die Möglichkeit, dass dem steuerlichen Berater Handlungen seines Mandanten täterschaftlich zugerechnet werden. Dabei kommt eine Zurechnung sowohl in Form der Mittäterschaft als auch in Form der mittelbaren Täterschaft in Betracht. Dies gilt auch für die Steuerhinterziehung gem. §  370 Abs.  1 Nr.  1 AO. Bei diesem Delikt handelt es sich weder um ein Sonderdelikt noch um ein eigenhändiges Delikt37, sodass eine Zurechnung der Mandantenhandlungen erfolgen kann. Täter oder Mittäter dieser Steuerhinterziehung kann nämlich sein, wer weder selbst Steuerschuldner noch sonst Steuerpflichtiger in Bezug auf die verkürzte Steuer ist.38 Zum anderen besteht für den steuerlichen Berater das Risiko, Teilnehmer (Anstifter, Gehilfe) an einer Straftat des Mandanten zu werden. Die Abgrenzung von Mittäterschaft und Teilnahme erfolgt nach den allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen. Mittäter ist, wer gemeinschaftlich mit einem oder mit mehreren anderen dieselbe Straftat als Täter begeht. Bei Beteiligung mehrerer handelt täterschaftlich, wer seinen eigenen Tatbeitrag in der Weise in die gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Handeln als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint.39 Mittäter einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen kann nach h.M. nur sein, wer zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen besonders verpflichtet ist.40 35 Siehe hierzu auch Krekeler, Praxis Steuerstrafrecht, 2002, 129. 36 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 25 Rz. 3 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH. 37 Jäger in Klein AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 25a und Rz. 32. 38 Jäger in Klein AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 25a. 39 Jäger in Klein AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 211 mit Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BGH. Zu wesentlichen Kriterien für eine täterschaftliche Beteiligung siehe Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 212. 40 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 213 m.w.N.; zur Kritik an der h.M. siehe Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 26a.

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Strafrechtliche Risiken bei der Beratung von Unternehmen

Reichen die Umstände nicht aus, um einen Täterwillen begründen zu können, kommt eine Teilnahme an der Straftat des Mandanten in Betracht.41 Dabei reicht das bloße „Dabeisein“ in Kenntnis der Straftat des Mandanten jedoch nicht aus, um eine Förderung der Haupttat annehmen zu können. Dies gilt selbst dann, wenn der steuerliche Berater die Straftat des Mandanten billigt.42 Zwar vermittelt er seinem Mandanten durch seine Präsenz Sicherheit. Jedoch müssen, da sonst die rechtlichen Anforde­ rungen an die Garantenpflicht umgangen würden, neben der Anwesenheit weitere Anhaltspunkte dafür vorhanden sein, dass das Dabeisein die Tatausführung objektiv gefördert oder erleichtert hat. Außerdem muss der sog. „Doppelvorsatz“ beim Teilnehmer gegeben sein. Dies bedeutet, dass der steuerliche Berater einerseits die Tat des Mandanten fördern will, als auch andererseits weiß, dass der Mandant vorsätzlich eine Straftat begeht.43 Handelt der steuerliche Berater lediglich fahrlässig (leichtfertig), so scheidet eine Bestrafung nach den vorgenannten Grundsätzen aus. Ein fahrlässiger Tatbeitrag begründet weder Tatherrschaft noch Täterwillen, sodass eine mittelbare Täterschaft ausscheidet. Auch eine Mittäterschaft scheidet aus, da ein fahrlässiger Tatbeitrag niemals einem gemeinschaftlichen Tatentschluss entspringen kann. Eine fahrlässige Teilnahme an einer Straftat des Mandanten ist ebenfalls nicht möglich, da es insoweit an dem erforderlichen „Doppelvorsatz“ fehlt. Es kommt dann, wenn der steuerliche Berater fahrlässig handelt, nur eine fahrlässige Allein- oder Nebentäterschaft in Betracht, soweit die fahrlässige Begehungsweise überhaupt strafrechtlich zu ahnden ist. Handelt dagegen der Mandant fahrlässig (leichtfertig), der steuerliche Berater jedoch vorsätzlich, so kommt eine Bestrafung wegen mittelbarer Täterschaft in Betracht.44 Fälle der mittelbaren Täterschaft des steuerlichen Beraters dürften zwar theoretisch konstruierbar sein, kommen in der Praxis jedoch nicht vor. Regelmäßig hat der steuerliche Berater kein größeres Interesse an der Begehung einer Straftat als der Mandant. Dies ist aber die Ausgangsposition für eine mittelbare Täterschaft.

41 Siehe hierzu auch Krekeler, Praxis Steuerstrafrecht, 2002, 130. 42 BGH v. 20.12.1995 – 5 StR 412/95, wistra 1996, 184 = NStZ 1996, 563. 43 Zu Einzelheiten siehe Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 27 Rz. 15; siehe hierzu LG NürnbergFürth v. 21.2.2019  – 18 Qs 30/17, wistra 2020, 214, 216: Es liegt kein strafloser Fall der Professionalität mehr vor, wenn sich für einen kundigen Berufsangehörigen die Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung des Mandanten so sehr verdichtet haben, dass er positives Wissen nur noch vermeiden kann, indem er die Augen verschließt und besser nicht (weiter) fragt; aber auch BGH v. 21.12.2016 – 1 StR 112/16, wistra 2017, 270: Die allgemeine Kenntnis des Beraters, dass im Zusammenhang mit der Anmeldung von Vorsteuern „etwas nicht gerade laufe“, genügt noch nicht, um das erforderliche sichere Wissen von strafbaren Handlungen des Haupttäters und damit eine Beihilfetätigkeit durch berufstypische Handlungen zu begründen. 44 Zur mittelbaren Täterschaft bei der Steuerhinterziehung siehe Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 214 und 194a.

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bb)  Ordnungswidrigkeitenrechtliche Risiken Auch im Ordnungswidrigkeitenrecht ist derjenige Alleintäter, der selbst vorsätzlich oder fahrlässig den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit verwirklicht.45 Im Gegensatz zum Strafrecht gibt es im Ordnungswidrigkeitenrecht jedoch einen einheitlichen Täterbegriff. § 14 Abs. 1 OWiG bestimmt insoweit, dass bei mehreren Beteiligten an einer Ordnungswidrigkeit jeder ordnungswidrig handelt. Eine Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme, wie sie die §§ 25 ff. StGB kennen, wird im Ordnungswidrigkeitenrecht nicht vorgenommen. Probleme ergeben sich daher, wenn der steuerliche Berater lediglich einen Tatbeitrag zur Ordnungswidrigkeit des Mandanten liefert. Eine Beteiligung im Ordnungswidrigkeitenrecht liegt dabei immer dann vor, wenn jemand an einer – nicht nur von ihm allein begangenen – Handlung oder Unterlassung bewusst und gewollt mitgewirkt hat. Erforderlich ist aber stets ein zumindest bedingt vorsätzliches Handeln des steuerlichen Beraters. Bei einem lediglich fahrlässigen Tatbeitrag des steuerlichen Beraters kommt eine ­Beteiligung nicht in Betracht. Möglich ist insoweit nur eine fahrlässige Nebentäterschaft. Hierfür ist jedoch Voraussetzung, dass die fahrlässige Handlungsweise überhaupt mit einem Bußgeld bedroht (§  10 OWiG), und dass der Täter alle Tatbe­ standsmerkmale in seiner Person vereinigt. Im Ordnungswidrigkeitenrecht besteht bei einem fahrlässigen (leichtfertigen) Tatbeitrag des steuerlichen Beraters für ihn nur dann ein Ahndungsrisiko, wenn er alle Tatbestandsmerkmale in seiner Person verwirklicht. cc)  Betätigungsfelder und ihre Risiken (1)  Erstellen von Steuererklärungen Ein typisches Betätigungsfeld des steuerlichen Beraters ist das Vorbereiten und Erstellen von Steuererklärungen für den Mandanten.46 Relevant sind in diesem Zusammenhang die Tatbestände der Steuerhinterziehung gem. § 370 AO und der leichtfertigen Steuerverkürzung gem. § 378 AO. Beide Tatbestände unterscheiden sich, da §  378 AO bezüglich der Tathandlungen auf §  370 AO verweist, lediglich im Grad der vom steuerlichen Berater begangenen Sorgfaltswidrigkeit. Während die Straftat des § 370 AO ein zumindest bedingt vorsätzliches Tun voraussetzt, reicht für die Ordnungswidrigkeit des §  378 AO ein leichtfertiges Verhalten aus. Die Abgrenzung zwischen beiden Verschuldensgraden fällt nicht leicht. Sie kann jedoch von entscheidender Bedeutung sein, wie im Folgenden aufzuzeigen ist. 45 Siehe hierzu auch Krekeler, Praxis Steuerstrafrecht, 2002, 130 f. 46 Siehe hierzu auch Krekeler, Praxis Steuerstrafrecht, 2002, 132 ff.

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Strafrechtliche Risiken bei der Beratung von Unternehmen

Bevor allerdings der subjektive Tatbestand relevant werden kann, muss erst einmal der objektive Tatbestand erfüllt sein. Die zu behandelnden Tatbestände, soweit sie hier von Bedeutung sind, haben folgenden Wortlaut: § 370 Steuerhinterziehung (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht, 2. die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt oder 3. pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. § 378 Leichtfertige Steuerverkürzung (1) Ordnungswidrig handelt, wer als Steuerpflichtiger oder bei Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Steuerpflichtigen eine der in § 370 Abs. 1 bezeichneten Taten leichtfertig begeht. § 370 Abs. 4 bis 7 gilt entsprechend.

Die für das Tätigwerden bei der Vorbereitung und Abgabe der Steuererklärung maßgebliche Tathandlung des Abs. 1 Nr. 1 des § 370 AO setzt demnach voraus, dass der Täter Angaben gegenüber den Finanzbehörden macht. Für den steuerlichen Berater sind hier zwei Grundkonstellationen zu unterscheiden: (2)  Eigene Angaben gegenüber der Behörde Der steuerliche Berater jedenfalls handelt tatbestandsmäßig, wenn er selbst unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber der Behörde macht. In diesem Fall hat er, wenn er vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder leichtfertig die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit dieser Angaben nicht erkennt, hierfür einzustehen. Unter welchen Voraussetzungen ein Angabenmachen durch den steuerlichen Berater vorliegt, ist nach wie vor umstritten. Unstreitig macht dabei derjenige steuerliche Berater Angaben gegenüber der Behörde, der selbst die Steuererklärung unterschreibt. Dies wird jedoch der Ausnahmefall sein, da weitgehend die eigenhändige Unterschrift des Steuerpflichtigen unter die Erklärung in den Steuergesetzen vorgeschrieben ist. Unterschreibt jedoch der Mandant, wird dieser durch seine Unterschrift zum Erklärungsgaranten. Er übernimmt gegenüber dem Finanzamt die Verantwortung für die 213

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Richtigkeit und Vollständigkeit der Erklärung. Es handelt sich hier um eine vom steuerlichen Berater vorbereitete Erklärung des Mandanten gegenüber der Behörde und nicht um eine solche des steuerlichen Beraters. Daran ändert auch ein vom steuerlichen Berater auf der Steuererklärung angebrachter Mitwirkungsvermerk nichts. Die Mitwirkung bei der Anfertigung der Steuererklärung beinhaltet nur die Vorbereitung der Steuererklärung des Steuerpflichtigen und ist eine vom steuerlichen Berater gegenüber seinem Mandanten geschuldete und erbrachte Leistung und eine gegenüber diesem gemachte Erklärung. An dieser tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung ändert sich nichts dadurch, dass diese Art der Mitwirkung von dem Steuerpflichtigen der Behörde offengelegt wird. Auch in diesem Fall ist der steuerliche Berater nur als Gehilfe des Steuerpflichtigen tätig, und bleibt es allein bei der Erklärung des Steuerpflichtigen. (3)  Angaben des Mandanten gegenüber der Behörde Streitig ist, ob der steuerliche Berater, der selbst keine Angaben gegenüber der Finanzbehörde macht, sondern nur sein Mandant, ebenfalls ein straf- bzw. bußgeldrechtliches Risiko trägt. Ein Teil des Schrifttums lässt für den Tatbestand des §  378 AO genügen, dass der steuerliche Berater die Steuererklärung vorbereitet hat. Letztlich sei es der steuerliche Berater, der durch die Vorbereitung der Steuererklärung die Steuerverkürzung bewirke. Der Mandant sei nicht in der Lage, die komplizierte steuerliche Materie zu durchblicken. Die Steuererklärung sei daher dem steuerlichen Berater zuzurechnen, der auch für etwaige Fehler einzustehen habe. Die Gegenmeinung verneint hier die bußgeldrechtliche Verantwortung des steuerlichen Beraters. Mangels eigener Angaben gegenüber der Behörde könne ein tatbestandliches Verhalten nicht vorliegen. Das Bayerische Oberste Landesgericht hatte Gelegenheit, sich zu dieser Streitfrage zu äußern. Es schloss sich dabei der letztgenannten Ansicht an. Danach begeht der steuerliche Berater, der die vom Steuerpflichtigen unterzeichnete und der Behörde vorgelegte Steuererklärung lediglich vorbereitet hat, auch dann keine leichtfertige Steuerverkürzung, wenn die Steuererklärung infolge seines leichtfertigen Verhaltens unvollständig oder unrichtig ist.47 Begründet wird dies mit einem Vergleich der Wortlaute des § 404 RAO 1968 und des geltenden §  378 AO. Nach dem früheren Wortlaut genügte bereits das ursächliche Herbeiführen einer Steuerverkürzung. Dazu würde das Vorbereiten der Steuererklärung durch den steuerlichen Berater ausreichen. § 378 AO setzt jedoch voraus, dass eine Tathandlung im Sinne des § 370 AO begangen wird. Das bloße Bewirken einer Steuerverkürzung reicht nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, dass der Täter Angaben 47 BayObLG v. 9.11.1993 – 4 St RR 54/93, NStZ 1994, 136 f. = wistra 1994, 34; siehe hierzu auch BFH v. 29.10.2013 – VIII R 27/10, wistra 2014, 65, 67 und Dörn, wistra 1994, 215.

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gegenüber der Behörde macht, die zu einer Steuerverkürzung führen. Diese Einschränkung des Wortlauts würde ignoriert, ließe man das bloße Vorbereiten der Steuererklärung ausreichen. Reichte früher das bloße Setzen einer Ursache für die Steuerverkürzung aus, so bedarf es heute einer bestimmten Handlungsweise. § 378 AO wurde daher durch die Gesetzesänderung in seinem Normzweck eingeschränkt. Betroffen ist nur derjenige, der Angaben gegenüber der Behörde macht. Eine Allein- und damit auch eine Nebentäterschaft scheidet mangels Angaben gegenüber der Behörde aus, wenn der steuerliche Berater die steuerliche Erklärung lediglich im Innenverhältnis vorbereitet.48 Der steuerliche Berater trägt danach lediglich dann ein straf- bzw. bußgeldrechtliches Risiko, wenn ihm die Handlung seines Mandanten täterschaftlich zugerechnet werden kann, oder er selbst Teilnehmer an dem steuerlichen Vergehen des Mandanten sein kann. Da das Ordnungswidrigkeitenrecht gem. § 14 OWiG eine Beteiligung nur bei einem vorsätzlichen Tatbeitrag zulässt, besteht insoweit für den lediglich leichtfertig handelnden steuerlichen Berater kein Risiko, wegen einer Steuerverkürzung gem. § 378 AO belangt zu werden. Dem vorsätzlich handelnden steuerlichen Berater kann dagegen die Erklärung seines Mandanten gegenüber der Behörde zugerechnet werden. Er läuft somit Gefahr, Mittäter49 bei oder Teilnehmer an einer Steuerhinterziehung seines Mandanten zu werden. Eine Zurechnung der Angaben des Mandanten gem. § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB bzw. § 9 Abs. 2 Nr. 2 OWiG scheidet dagegen aus.50 Hierfür wäre nämlich erforderlich, dass dem steuerlichen Berater das Erstellen der Steuererklärung eigenverantwortlich übertragen wurde. Dadurch, dass die Erklärung vom Mandanten unterschrieben wird, kommt aber gerade zum Ausdruck, dass nicht der steuerliche Berater, sondern der Mandant in eigener Verantwortung handelt. Eine Eigenverantwortung des steuerlichen Beraters kann nur angenommen werden, wenn er selbst anstelle des Mandanten die Verantwortung gegenüber der Behörde übernimmt. In diesem Fall macht er aber eigene Angaben, sodass eine Zurechnung nicht erforderlich ist. (4)  Abgrenzung bedingter Vorsatz/Leichtfertigkeit Für die Beantwortung der Frage, ob der steuerliche Berater ein strafrechtliches Risiko trägt, wenn er die Steuererklärung seines Mandanten lediglich vorbereitet, ist somit entscheidend, ob ihm „nur“ leichtfertiges oder bereits bedingt vorsätzliches Handeln 48 OLG Zweibrücken v. 23.10.2008 – 1 Ss 140/08, wistra 2009, 127 = NStZ-RR 2009, 81, siehe hierzu Wegner, Praxis Steuerstrafrecht 2009, 7, der auf die Abweichung von der Entscheidung des BFH, BStBl. II 2003, 385, hinweist. 49 BGH v. 24.8.1983 – 3 StR 89/83, wistra 1983, 252. 50 So aber Dörn, wistra 1994, 215.

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zu unterstellen ist. Die Abgrenzung ist, da beide Verschuldensgrade eng beieinander liegen, schwierig.51 Eine klare Grenze lässt sich kaum ziehen, da ein fließender Übergang besteht. Dennoch muss eine strikte Abgrenzung erfolgen, da die Konsequenzen unterschiedlicher nicht sein können. Der noch leichtfertig handelnde steuerliche Berater hat keinerlei Folgen zu fürchten, während der bereits bedingt vorsätzlich handelnde strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. Bedingt vorsätzlich handelt derjenige, der die Tatbestandsverwirklichung weder anstrebt noch für sicher, sondern nur für möglich (nicht fern liegend) hält und dies billigt oder es zumindest billigend in Kauf nimmt.52 Ein vorsätzliches Handeln des steuerlichen Beraters setzt also voraus, dass er in dem Bewusstsein handelt, dass sein Verhalten steuerunehrlich und daher eine Verkürzung des staatlichen Steueranspruchs zu befürchten ist. Es muss ihm bei seinem Handeln bewusst sein, dass möglicherweise die von ihm vorbereitete Erklärung im Hinblick auf steuerrechtlich erhebliche Tatsachen unrichtig oder unvollständig ist. Es besteht hier eine Besonderheit gegenüber dem allgemeinen Strafrecht. Der steuerliche Berater muss nicht nur die tatsächlichen Umstände kennen und diese in der Laiensphäre richtig bewertet haben. Er muss vielmehr auch die richtigen rechtlichen Schlüsse hieraus gezogen haben. Dies hat seinen Grund darin, dass die Steuerhinterziehung gem. §  370 AO und damit auch die leichtfertige Steuerverkürzung gem. § 378 AO offene Strafgesetze (Blankettgesetze) sind.53 Welche Umstände steuerrechtlich relevant sind, ergibt sich aus dem materiellen Steuerrecht. Die steuerrechtliche Relevanz ist daher objektives Tatbestandsmerkmal. Mithin muss sich auch der Vorsatz auf die tatsächlichen Umstände beziehen, die nach dem Steuerrecht die Steuerpflicht begründen.54 Zum Vorsatz gehört daher, dass der steuerliche Berater den Steueranspruch nach Grund und Höhe kennt.55 Ein Irrtum über das Bestehen des Steueranspruchs ist Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB und schließt bei seinem Vorliegen den Vorsatz des steuerlichen Beraters aus. Dementsprechend hat auch der Bundesgerichtshof entschieden, dass der steuerliche Berater, der im Rahmen einer Betriebsprüfung einen unrichtigen Beleg vorlegt, um dadurch einer nach seiner Auffassung irrigen Rechtsauffassung des Steuerbeamten Rechnung zu tragen, nicht zu belangen ist. Durch die Vorlage wollte er nämlich nur erreichen, dass seinem Mandanten keine ungerechtfertigte steuerliche Mehrbelastung entstand. Dabei handelte er auch, um die mittelbar gegenüber ihm selbst bestehenden Regressansprüche abzuwehren.56

51 Siehe hierzu auch Krekeler, Praxis Steuerstrafrecht, 2002, 134 f. 52 Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 15 Rz. 9 ff. 53 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 5. 54 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 171. 55 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 171; BGH v. 24.1.2018 – 1 StR 331/17, NStZ-RR 2018, 180, 181. 56 BGH v. 8.3.1983 – 5 StR 7/83, wistra 1983, 113.

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Zwar lässt § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB eine Bestrafung als Fahrlässigkeitstat unberührt. Eine solche kommt jedoch mangels Angaben des steuerlichen Beraters gegenüber der Behörde nicht in Betracht.57 Umstritten ist die Frage, inwieweit der Vorsatz beim steuerlichen Berater konkretisiert sein muss. Eine Ansicht meint, es reiche aus, wenn der steuerliche Berater wisse, dass er auf einen bestehenden Steueranspruch einwirke. Die herrschende Meinung verlangt für ein vorsätzliches Verhalten des steuerlichen Beraters, dass er sowohl die in Betracht kommende Steuerpflicht als auch die Steuerart genau kennt.58 Leichtfertigkeit ist Fahrlässigkeit in einem erhöhten Grad. Sie ist mit der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts vergleichbar, stellt aber auf die persönlichen Fähigkeiten des Täters ab.59 Sie kommt in Betracht, wenn der steuerliche Berater in grober Achtlosigkeit nicht erkennt, dass eine Rechtsverletzung eintreten wird.60 Die Frage, ob der steuerliche Berater noch grob fahrlässig oder bereits bedingt vorsätzlich gehandelt hat, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Die Einordnung hängt entscheidend davon ab, welche Sorgfaltsanforderungen an den steuerlichen Berater zu stellen sind. Je höher die Anforderungen sind, je eher wird ein bedingter Vorsatz anzunehmen sein. Bei hohen Sorgfaltsanforderungen kann nämlich der steuerliche Berater oftmals nicht darauf vertrauen, dass der tatbestandliche Erfolg nicht eintreten werde. Auf Grund der umfassenden Sorgfaltsanforderungen, die an den steuerlichen Berater gestellt werden, kann hier nur beispielhaft auf die Frage eingegangen werden, inwieweit der Berater sich auf die Angaben seines Mandanten verlassen darf. Der Bundesgerichtshof61 hat entschieden, dass der steuerliche Berater nicht leichtfertig handelt, wenn er sich auf die Angaben des Mandanten verlässt, obwohl dieser ihm keine Rechnungen vorgelegt hatte.62 In diesem Sinn hat auch das Oberlandesgericht Bremen63 ausgesprochen, dass der steuerliche Berater nicht verpflichtet ist, die Angaben seines Mandanten auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen. Der steuerliche Berater sei insoweit nämlich nicht Sachwalter der Finanzbehörde. Leichtfertig handelt allerdings der steuerliche Berater, der auf die Angaben des Mandanten vertraut, obwohl sich ihre Unrichtigkeit ihm hätte aufdrängen müssen.64 Die Grenze zum Vorsatz ist erreicht, wenn die Angaben unmöglich stimmen können.

57 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 378 Rz. 9. 58 Zu Einzelheiten siehe Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 170 bis 174. 59 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 15 Rz. 20 mit umfangreichen Nachweisen; Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 378 Rz. 20; siehe auch Krekeler, Praxis Steuerstrafrecht, 2002, 135. 60 OLG Bremen v. 26.4.1985 – Ws 111/84, StV 1985, 282. 61 HFR 1991, 304. 62 Siehe auch OLG Karlsruhe v. 19.3.1986 – 3 Ws 147/85, BB 1986, 1750 = wistra 1986, 189. 63 OLG Bremen v. 26.4.1985 – Ws 111/84, StV 1985, 282. 64 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 378 Rz. 20 m.w.N.

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Vorsätzlich handelt naturgemäß der steuerliche Berater, der die Unrichtigkeit der gemachten Angaben positiv kennt. Die Schuldform des steuerlichen Beraters hängt somit von nicht klar zu definierenden Begriffen wie „hätten aufdrängen müssen“ oder „hätten unmöglich stimmen können“ ab. Im Einzelfall kommt es demnach entscheidend auf die persönliche Überzeugung der am Verfahren Beteiligten (Strafverfolger, Richter, Verteidiger) an, welche Schuldform dem Täter zugerechnet werden kann bzw. zugerechnet wird. b)  Nachträgliche Kenntnis von der Unrichtigkeit der Erklärung Fraglich ist, ob der steuerliche Berater, der nachträglich von der Unrichtigkeit der von ihm erstellten Steuererklärung Kenntnis erlangt, verpflichtet ist, diese Unrichtigkeit gegenüber den Behörden anzuzeigen.65 Straf- und bußgeldrechtliche Risiken ergeben sich insoweit für den steuerlichen Berater insbesondere aus § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO und § 378 AO in Verbindung mit § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO. aa) Garantenstellung Voraussetzung für ein tatbestandliches Handeln im Sinne der § 370 Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 378 i.V.m. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ist, da es sich hierbei um echte Unterlassungsdelikte handelt, dass eine Rechtspflicht zum Handeln (eine Garantenstellung) besteht.66 Es fragt sich also, ob den steuerlichen Berater eine solche Rechtspflicht zum Handeln trifft. (1)  Allgemeine Bestimmungen der AO Die AO enthält eine Vielzahl von Bestimmungen, die Erklärungspflichten gegenüber dem Finanzamt begründen. Diese Mitteilungs-, Offenbarungs-, Anzeige- oder Auskunftspflichten begründen zwar Garantenpflichten im Sinne der §§ 370 Abs. 1 Nr. 2, 378 AO, richten sich aber nur an den Steuerpflichtigen und nicht an den steuerlichen Berater.67 (2)  § 153 AO Eine Garantenstellung des steuerlichen Beraters ergibt sich auch nicht aus § 153 AO. Diese Vorschrift verpflichtet dem Wortlaut nach neben dem Steuerpflichtigen (§ 33 AO) seinen Gesamtrechtsnachfolger sowie denjenigen, der gemäß den §§ 34, 35 AO für den Steuerpflichtigen gehandelt hat, für den Fall, dass nachträglich die Unrichtig-

65 Siehe hierzu auch Krekeler, Praxis Steuerstrafrecht, 2002, 183 ff. 66 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 60a. 67 BGH v. 20.12.1995 – 5 StR 412/95, wistra 1996, 184, 188 = NStZ 1996, 563, 565.

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keit der abgegebenen Steuererklärung erkannt wird, dies den Finanzbehörden gegenüber anzuzeigen und die Angaben zu berichtigen.68 Sofern der steuerliche Berater nicht gesetzlicher Vertreter oder Vermögensverwalter des Mandanten ist, trifft ihn und seine Mitarbeiter dem Wortlaut des § 153 AO nach keine Rechtspflicht, unrichtige Angaben des Mandanten gegenüber den Finanzbehörden richtigzustellen.69 Dennoch wird teilweise angenommen, dass der steuerliche Berater, der eine unrichtige Steuererklärung vorbereitet hat, zur Richtigstellung gemäß § 153 AO verpflichtet sei.70 Diese den Wortlaut des § 153 AO außer Acht lassende Auffassung wird auch in der Rechtsprechung vertreten. So entschied das Ober­ landesgericht Koblenz, dass die Berichtigungspflicht des §  153 AO nicht nur den Steuerpflichtigen, sondern auch denjenigen trifft, der gemäß § 378 AO dessen Angelegenheiten wahrgenommen hat.71 Gegen diese Auffassung spricht neben dem Umstand, dass sie durch den Wortlaut des § 153 AO nicht gedeckt ist, entscheidend, dass in § 153 AO mit dem gesetzlichen Vertreter und dem Vermögensverwalter zwei Personen ausdrücklich Berichtigungspflichten auferlegt worden sind. Im Umkehrschluss lässt sich daraus entnehmen, dass gerade nicht jeden, der steuerliche Angelegenheiten des Mandanten wahrnimmt, eine Berichtigungspflicht treffen soll. Der Gesetzgeber hätte dann eine dem Wortlaut des § 378 AO entsprechende Regelung in den § 153 AO aufnehmen können. Dieser Auffassung hat sich auch der Bundesgerichtshof72 angeschlossen. Er sieht den steuerlichen Berater mit Rücksicht auf den Grundsatz der Mandantentreue als verpflichtet an, nach außen sein Wissen für sich zu behalten. Dieser muss allerdings seinen Mandanten auf die Anzeige- und Berichtigungspflicht hinweisen, um eine Steuerhinterziehung in mittelbarer Täterschaft zu vermeiden.73 Offengelassen hat der Bundesgerichtshof die Frage, ob in dem Fall, in dem der steuerliche Berater die Steuererklärung selbst unterzeichnet hat, etwas anderes gelten kann. Für diesen Fall ist jedoch eine Berichtigungspflicht gemäß § 153 AO ebenfalls zu verneinen. Durch die Unterschrift wird der steuerliche Berater nämlich nicht zum Steuerpflichtigen im Sinne des § 153 AO. Durch die Unterschrift übernimmt er zwar gegenüber der Finanzbehörde die Verantwortung für die Steuererklärung. §  153 AO hat diesen Fall jedoch geregelt. Gemäß § 153 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist der Steuerpflichtige verpflichtet, eine Unrichtigkeit einer von ihm oder für ihn abgegebenen Erklärung anzuzeigen. Der steuerliche Berater, der eine Erklärung unterschreibt, handelt dabei innerhalb des Mandatsverhältnisses und damit für den Steuerpflichti68 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 31. 69 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 31; BGH v. 20.12.1995 – 5 StR 412/95, wistra 1996, 184, 188 = NStZ 1996, 563, 565. 70 Siehe dazu bei BGH v. 20.12.1995 – 5 StR 412/95, NStZ 1996, 563. 71 OLG Koblenz. v. 15.12.1982 – 1 Ss 559/82, wistra 1983, 270. 72 BGH v. 20.12.1995 – 5 StR 412/95, wistra 1996, 184. 73 Rätke in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 153 Rz. 6.

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gen. Da beide Fälle im Gesetz geregelt sind, müssen auch beide gleichbehandelt werden. Unabhängig von der Frage also, ob der steuerliche Berater die Erklärung unterschrieben hat oder nicht, besteht für ihn daher keine Anzeigepflicht gegenüber der Behörde. (3)  Allgemeine Garantenstellung Es erscheint angesichts der Regelung des § 153 AO bereits fraglich, ob in diesem Zusammenhang überhaupt auf Garantenstellungen des allgemeinen Strafrechts zurückgegriffen werden kann. Angesichts der Aufzählung von Garanten in § 153 AO kann diese Regelung durchaus für das Steuerstrafrecht als abschließend angesehen werden. Da dies jedoch zu Strafbarkeitslücken führen würde, lässt die h.M. den Rückgriff auf Garantenstellungen aus dem allgemeinen Strafrecht zu.74 Im allgemeinen Strafrecht wird zwischen Beschützer- und Überwachergaranten unterschieden.75 Beschützergarant ist derjenige, dem eine Obhutspflicht für ein bestimmtes Rechtsgut obliegt.76 Anerkannt ist, dass solche Obhutspflichten auch aus einer beruflichen Stellung abgeleitet werden können. So folgt z.B. aus der beruflichen Stellung für Polizeibeamte die Pflicht, im Rahmen ihrer Dienstausübung bei bestehender sachlicher oder örtlicher Zuständigkeit Straftaten zu verhindern.77 Eine Pflicht für steuerliche Berater, steuerliche Delikte abzuwenden, wird jedoch abgelehnt.78 Es besteht gerade keine besondere Treuepflicht des steuerlichen Beraters gegenüber den Finanzbehörden.79 Der steuerliche Berater ist daher nicht Beschützergarant. Eine Garantenstellung als Überwachergarant kann nur unter dem Gesichtspunkt des pflichtwidrigen Vorverhaltens (Ingerenz) begründet werden. Erforderlich ist dabei ein tatsächliches Herbeiführen einer Gefahrenlage durch denjenigen, der dann entgegen der objektiven Erwartung nichts tut, um die Gefahr abzuwenden.80 Soweit der steuerliche Berater durch Angaben des Mandanten, die dieser im Rahmen des Mandats an den steuerlichen Berater weitergibt, nachträglich Kenntnis von der Unrichtigkeit der abgegebenen Erklärung erhält, steht einer Anzeigepflicht §  102 Abs. 1 Nr. 3b AO entgegen. Nach dieser Vorschrift besteht für den steuerlichen Berater bezüglich aller Angaben, die ihm sein Mandant im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit mitteilt, ein Auskunftsverweigerungsrecht. Dieses Auskunftsverweige74 Siehe hierzu Rätke in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 153 Rz. 6. 75 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 13 Rz. 13 bis 15. 76 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 13 Rz. 14. 77 BGH v. 29.10.1992 – 4 StR 358/92, BGHSt 38, 388 = NJW 1993, 544 = NStZ 1993, 383 = StV 1993, 126. 78 BGH v. 20.12.1995 – 5 StR 412/95, NStZ 1996, 563, 565. 79 Höpfner/Schwartz, Praxis Steuerstrafrecht 2014, 61, 65. 80 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 13 Rz. 15.

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rungsrecht dient, ebenso wie die Pflicht zur Verschwiegenheit gemäß §  57 Abs.  1 StBerG und das Zeugnisverweigerungsrecht gemäß §  53 Abs.  1 Nr.  3 StPO, dem Schutz des Vertrauensverhältnisses im Mandatsverhältnis.81 Dieses Vertrauensverhältnis würde jedoch beseitigt, wenn den steuerlichen Berater eine Verpflichtung träfe, vertrauliche Informationen an die Finanzbehörde weiterzugeben. Erhält der steuerliche Berater daher nachträglich durch Informationen seines Mandanten oder durch Einsichtnahme in Unterlagen des Mandanten Kenntnis von der Unrichtigkeit der von ihm erstellten Steuererklärung, trifft ihn keine Anzeigepflicht gegenüber den Finanzbehörden. Dies gilt jedenfalls insoweit, als der steuerliche Berater selbst keine Angaben gegenüber der Behörde gemacht hat. Fraglich bleibt, ob dies auch dann gilt, wenn er selbst Angaben gegenüber den Finanzbehörden gemacht hat. Etwas anderes könnte jedoch dann gelten, wenn der steuerliche Berater nachträglich durch Umstände, die nicht im Mandatsverhältnis begründet sind, von der Unrichtigkeit der von ihm vorbereiteten Erklärung Kenntnis erhält. Er wäre, da § 102 AO sich lediglich auf das Mandatsverhältnis bezieht, nicht berechtigt, Auskünfte zu verweigern. In diesem Fall ist zu unterscheiden, ob der steuerliche Berater selbst Angaben gegenüber der Finanzbehörde gemacht hat, oder ob er die Erklärung lediglich vorbereitet hat. Im letzteren Fall ist der steuerliche Berater lediglich im Innenverhältnis zum Mandanten tätig geworden. Die Gefahr einer Steuerverkürzung entstand erst in dem Moment, als der Mandant die vorbereitete Steuererklärung unterschrieb und in den allgemeinen Rechtsverkehr gab. Zwar ist nicht zu leugnen, dass der steuerliche Berater die Steuergefährdung mitverursacht hat. Eine allgemeine Mitverursachung reicht jedoch nicht aus, um eine Garantenstellung zu begründen. In diesem Fall ist der steuerliche Berater lediglich verpflichtet, seinen Mandanten über die Unrichtigkeit der abgegebenen Steuererklärung zu unterrichten. Es obliegt dem Mandanten, die Unrichtigkeit der Erklärung der Finanzbehörde mitzuteilen. Etwas anderes gilt jedoch, wenn der steuerliche Berater selbst Erklärungen gegenüber der Finanzbehörde abgegeben hat. In diesem Fall hat er selbst durch sein Verhalten die tatsächliche Gefahr einer Steuerverkürzung herbeigeführt. Da er auch insoweit nicht durch die Mandatstreue an einer Richtigstellung gehindert ist, besteht für ihn insoweit eine Garantenstellung aus Ingerenz.82 bb) Vorsatz Weiterhin muss der steuerliche Berater auch den Vorsatz in Bezug auf seine Garantenstellung und die daraus resultierenden Garantenpflichten gehabt haben. Er muss

81 Vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2020, § 53 Rz. 1 mit zahlreichen Nachweisen; BVerfGE 38, 312 = NJW 1975, 588; siehe auch Rätke in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 102 Rz. 1. 82 Siehe hierzu Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 65.

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daher insbesondere auch gewusst haben, zur Berichtigung der von ihm gemachten Angaben verpflichtet gewesen zu sein. Im allgemeinen Strafrecht ist anerkannt, dass sich der Vorsatz des Täters lediglich auf die Garantenstellung beziehen muss. Der Täter muss also in Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die seine Garantenstellung begründen, handeln und dabei den Erfolg billigen oder zumindest billigend in Kauf nehmen. Unterliegt er insoweit einem Irrtum, so liegt ein Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB vor, sodass er gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB lediglich wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts bestraft werden kann. Dagegen braucht sich der Täter über die aus der Garantenstellung resultierenden Pflichten regelmäßig keine Gedanken zu machen. Ein Irrtum über die Reichweite der Garantenpflichten ist kein Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB. Die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung bleibt durch den Irrtum unberührt. Irrt der Täter über das Ausmaß seiner Garantenpflichten, befindet er sich vielmehr in einem Verbotsirrtum im Sinne des §  17 StGB. Dieser kann, da er regelmäßig vermeidbar ist, nur gemäß § 17 Satz 2 StGB zu einer Strafmilderung führen. Diese Behandlung der Irrtümer gilt für das Steuerstrafrecht jedoch nicht. So entschied das Oberlandesgericht Bremen, dass eine strafrechtliche Belangung des steuerlichen Beraters wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in Verbindung mit § 13 StGB neben der Garantenstellung weiterhin voraussetzt, dass der steuerliche Berater die Berichtigung der Angaben in dem Bewusstsein unterlassen muss, zur Berichtigung verpflichtet zu sein. Fühlt sich der steuerliche Berater nicht verpflichtet, die steuerlichen Angaben zu berichtigen, befindet er sich in einem Irrtum über die aus seiner Garantenstellung resultierenden Garantenpflichten. Anders als im allgemeinen Strafrecht wird der Irrtum über aus Garantenstellungen resultierenden Handlungspflichten nicht als Verbotsirrtum im Sinne des § 17 StGB, sondern als Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB behandelt.83 Da dem steuerlichen Berater im Strafverfahren eine entsprechende Einlassung nicht zu widerlegen sein wird, besteht für ihn regelmäßig kein Risiko, wegen einer Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO belangt zu werden. Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB bleibt jedoch bei einem Tatbestandsirrtum eine Bestrafung wegen Fahrlässigkeitstat unberührt. Dem steuerlichen Berater droht daher, wenn er leichtfertig von seiner Handlungspflicht keine Kenntnis genommen hat, das Risiko, gemäß § 378 AO in Verbindung mit § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt zu werden. Dies gilt alles jedoch nur, soweit der steuerliche Berater untätig bleibt. Aktive Bemühungen, die eine Steuerneufestsetzung durch die Finanzbehörde verhindern sollen, erfüllen den Tatbestand der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Soweit der steuerliche Berater bereits vorher die unrichtigen Angaben gegenüber der Finanzbehörde gemacht hat, handelt es sich um eine mitbestrafte Nachtat. Soweit bisher lediglich der Mandant strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kommt der 83 OLG Bremen v. 26.4.1985 – Ws 111/84, Ws 115/84, Ws 116/84, StV 1985, 282.

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Handlung des steuerlichen Beraters hingegen nach den allgemeinen Regeln eigenständige Bedeutung zu. Es ist also festzuhalten: Ein Risiko für den steuerlichen Berater bei nachträglicher Kenntniserlangung von der Unrichtigkeit der Erklärung besteht daher nur für den Fall, dass er selbst gegenüber den Finanzbehörden Angaben gemacht hat, von deren Unrichtigkeit er im Nachhinein erfährt und in Kenntnis oder leichtfertiger Unkenntnis seiner Garantenstellung und seiner Garantenpflichten eine Berichtigung seiner Angaben unterlässt. c)  Auskunft, Beratung Ein weiteres typisches Betätigungsfeld für den steuerberatenden Beruf ist die Erteilung von Auskünften über die steuerliche Behandlung bestimmter Sachverhalte. Regelmäßig sind mit der Erteilung einer entsprechenden Auskunft gleichzeitig Hinweise auf steuergünstige Vorgehensweisen des Auftraggebers verknüpft. Dies ist aus strafrechtlicher Sicht unbedenklich, solange sich der steuerliche Berater im Rahmen des geltenden Rechts bewegt. Der straf- bzw. bußgeldrechtlich relevante Bereich beginnt erst, wenn der steuerliche Berater die Tatsachen oder die Rechtslage verkennt und dadurch eine Steuerverkürzung eintritt. Zunächst ist zu klären, welche Vorgehensweisen des Beraters dem einen und welche dem anderen Bereich zuzuordnen sind. Unstreitig ist, dass der steuerliche Berater die geltenden Gesetze beachten muss. Für die höchstrichterliche Rechtsprechung gilt, dass der steuerliche Berater sie in ihren Grundzügen zu kennen und auch zu beachten hat. Es bleibt ihm jedoch unbenommen, abweichende Meinungen zu vertreten. Dann ist er aber verpflichtet, keine Tatsachen zu verschweigen, die nach der Rechtsprechung, den Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Veranlagungspraxis steuerlich bedeutsam sind, auch wenn diese nach seiner eigenen Rechtsauffassung steuerlich nicht erheblich sind.84 Streitig ist die Frage, ob der steuerliche Berater überhaupt Richtlinien zu beachten hat.85 Richtlinien entfalten grundsätzlich nur innerbehördlich Bindungswirkung. Sie richten sich weder an den Steuerpflichtigen noch an den steuerlichen Berater. Der steuerliche Berater ist daher an sie grundsätzlich nicht gebunden. Setzen die Richtlinien höchstrichterliche Rechtsprechung um, so besteht allerdings aus dem oben genann-

84 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 226 unter Hinweis auf BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137, sowie unter Hinweis auf § 370 Rz. 44. 85 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 226; s. auch Meine, wistra 1992, 81; Dörn, ­wistra 1992, 241.

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ten Grund für den steuerlichen Berater die Verpflichtung, sich an diese zu halten oder eine abweichende Rechtsauffassung kenntlich zu machen. Weiterhin wird vom steuerlichen Berater verlangt, dass er bei schwierigen Fragen, bei denen Unsicherheit über die steuerliche Behandlung besteht, und die Frage nicht anhand von einschlägiger Fachliteratur geklärt werden kann, Rat bei seiner Berufsorganisation, anderen Fachleuten oder bei der zuständigen Stelle des Finanzamts einholt. Verstöße gegen die vorgenannten Pflichten führen dazu, dass der steuerliche Berater in die Gefahr gerät, straf- oder bußgeldrechtlich belangt zu werden. Relevante Tatbestände sind auch hier die §§ 370, 378 AO. Wie bereits dargelegt, ist für die Verwirklichung beider Tatbestände jedoch erforderlich, dass durch den Berater Angaben gegenüber der Finanzbehörde gemacht werden. Die Erteilung eines steuerrechtlichen Rats an den Mandanten ist daher nicht tatbestandsmäßig, da der steuerliche Berater die Angaben nur im Innenverhältnis zu seinem Mandanten macht. Aus den oben angeführten Gründen scheidet daher ein ordnungswidriges Verhalten des steuerlichen Beraters aus. In Betracht kommt lediglich eine strafrechtliche Verfolgung wegen Steuerhinterziehung. Im Normalfall wird der Täterwille bei dem steuerlichen Berater ausscheiden, sodass lediglich eine Verfolgung wegen der Teilnahme an einer Steuerhinterziehung des Mandanten droht. Für den steuerlichen Berater besteht jedoch nur dann ein strafrechtliches Risiko, wenn er neben dem Wissen um das strafbare Verhalten des Mandanten auch selbst den Willen hat, entweder einen Tatentschluss beim Mandanten zu erwecken oder den Mandanten bei seiner strafbaren Handlung zu unterstützen. Hauptaufgabe und Hauptanliegen der beratenden Berufe sind es, den Auftraggebern fachliche Auskünfte zu erteilen. Ziel dabei ist es, die bestehende Rechtslage aufzuzeigen. Sicherlich sind die erteilten Auskünfte vielfach geeignet, einen Tatentschluss für eine Steuerhinterziehung beim Mandanten zu wecken oder die Tatausführung durch den Auftraggeber zu fördern. Dies ist jedoch eine zwangsläufige Folge seines Tätigwerdens. Es liegt in der Natur der Sache, dass Auftraggeber sachkundigen Hinweisen des von ihnen gerade zu diesem Zweck beauftragten steuerlichen Beraters folgen werden. In der alltäglichen Beratungssituation kann dem steuerlichen Berater unterstellt werden, dass er pflichtgemäß Rat erteilen will. In einer viel beachteten Entscheidung zum beratenden Beruf des Rechtsanwalts hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass das Bewusstsein und der Wille eines Rechtsanwalts bei der Erteilung eines Rechtsrats in der Regel darauf gerichtet sind, pflichtgemäß Rat zu erteilen, und nicht darauf, eine Straftat zu fördern.86 86 BGH v. 21.8.1992 – 2 ARs 346/92, StV 1993, 28 m.w.N.

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Die Aussagen dieser Entscheidung lassen sich auf alle beratenden Berufe übertragen. In der alltäglichen Auskunfts- oder Beratungssituation läuft der steuerliche Berater daher regelmäßig nicht Gefahr, straf- bzw. bußgeldrechtlich relevant zu handeln. d) Buchführung Häufig lassen Mandanten auch ihre Buchführung durch ihren steuerlichen Berater erledigen. Das Risiko für den steuerlichen Berater besteht darin, dass er hierbei von den Angaben seines Mandanten abhängig ist. Eine Überprüfung der Richtigkeit der Angaben ist ihm regelmäßig nicht möglich. Ungenaue, unvollständige oder unrichtige Angaben führen zwangsläufig dazu, dass die vom steuerlichen Berater buchungsmäßig erfassten Geschäftsvorgänge unrichtig dargestellt sind. Solange der steuerliche Berater nur im Innenverhältnis zum Mandanten tätig wird, besteht für ihn insoweit kein straf- oder bußgeldrechtliches Risiko, wenn er leichtfertig falsche Buchungen vornimmt.87 Etwas anderes gilt jedoch, wenn er entweder selbst Angaben gegenüber der Finanzbehörde macht, also nach außen gegenüber der Finanzverwaltung auftritt, oder aber mit dem Vorsatz handelt, sich an einer Steuerhinterziehung des Mandanten als Täter oder Teilnehmer beteiligen zu wollen. Dementsprechend entschied das Landgericht Mannheim für die parallel gelagerte Problematik des Kreditbetrugs gemäß §  265b StGB, dass ein Steuerberater Beihilfe zum Kreditbetrug begeht, wenn er im Zusammenhang mit einer Kreditvergabe unrichtige oder unvollständige Unterlagen, namentlich Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen oder Vermögensübersichten vorlegt, die für den Kreditnehmer vorteilhaft und für die Entscheidung über den Antrag erheblich sind.88 Nimmt der steuerliche Berater Scheinrechnungen in die Buchführung und in die Umsatzsteuererklärungen auf, die zu Vorsteuererstattungen führen, so liegt eine Beihilfe zur Steuerhinterziehung vor, wenn erhebliche Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung vorliegen und der steuerliche Berater gleichwohl Nachfragen bei den Verantwortlichen der Steuerpflichtigen unterlässt.89 Bei dem Auftreten nach Außen gegenüber der Finanzbehörde muss der Steuerberater den Eindruck vermeiden, er habe den tatsächlichen Inhalt der Erklärungen seines Mandanten selbst geprüft und sie als zutreffend beurteilt, wenn dies in Wirklichkeit nicht der Fall ist.90 Aber selbst wenn der steuerliche Berater nicht wegen Steuerhinterziehung gemäß §  370 AO oder leichtfertiger Steuerverkürzung gemäß §  378 AO belangt werden 87 Vgl. Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 96 Rz. 47 m.w.N. 88 LG Mannheim v. 15.11.1984 – (22) 6 KLs 12/82, wistra 1985, 158. 89 LG Nürnberg-Fürth v. 21.2.2019 – 18 Qs 30/17, Praxis Steuerstrafrecht 2019, 230. 90 Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 96 Rz. 47.

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kann, besteht für ihn das Risiko, eine Steuergefährdung gemäß § 379 Abs. 1 Satz 1 Nr.  3 AO zu begehen. Durch die Verbuchung unrichtiger Informationen erfüllt er nämlich den objektiven Tatbestand dieser Vorschrift. § 379 Abs. 1 Nr. 3 AO setzt dem Wortlaut nach nur ein „Verbuchen“ voraus. Täter kann daher jeder sein, der tatsächlich die Möglichkeit hat, die Buchungen vorzunehmen. Die h.M. geht demnach davon aus, dass auch der steuerliche Berater tauglicher Täter des § 379 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO sein kann.91 Der steuerliche Berater kann deshalb, sofern ihm Vorsatz oder Leichtfertigkeit zur Last gelegt werden kann, ordnungswidrig handeln. Für die Einschätzung des Risikos ist daher entscheidend, in welchem Umfang der steuerliche Berater schuldhaft handelt, wenn er sich auf Angaben des Mandanten verlässt. Grundsätzlich kann einem steuerlichen Berater kein Vorwurf gemacht werden, wenn er ihm von seinem Mandanten übermittelte Informationen bei der Erstellung von Bilanzen oder Steuererklärungen ungeprüft zu Grunde legt. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn der steuerliche Berater wusste oder hätte wissen müssen, dass sein Mandant zur Steuerunehrlichkeit neigt.92 Wann diese Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind, kann nur für den Einzelfall unter besonderer Berücksichtigung der konkreten Situation beurteilt werden. Entscheidend abzustellen ist dabei auf den Eindruck, den der steuerliche Berater im Verlauf des Mandats von seinem Mandanten gewonnen hat, sowie auf die Plausibilität der von dem Mandanten gemachten Angaben. Das Risiko einer straf- bzw. bußgeldrechtlichen Verfolgung des steuerlichen Beraters steigt daher parallel zur Steuerunehrlichkeit seines Mandanten. Der steuerliche Berater tut gut daran, das Mandat schnellstmöglich zu beenden, sobald er erkennt, dass sein Mandant ihm unrichtige Unterlagen zukommen lässt. e) Selbstanzeige Vorwiegend aus fiskalpolitischen Gründen gibt es bei Steuerverfehlungen (Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten) das Rechtsinstitut der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß §  371 AO und der bußgeldrechtlichen Selbstanzeige gemäß § 378 Abs. 3 AO. Bei der Selbstanzeige handelt es sich um einen persönlichen Strafaufhebungsgrund.93 Voraussetzungen der Wirksamkeit der strafbefreienden Selbstanzeige sind – die Abgabe einer Berichtigungs-, Ergänzungs- oder Nachholerklärung, – die Entrichtung der hinterzogenen Steuern und – das Fehlen der Entdeckung oder der drohenden Entdeckung. 91 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 379 Rz. 13; Mösbauer, wistra 1991, 42. 92 OLG Karlsruhe v. 19.3.1986 – 3 Ws 147/85, wistra 1986, 189 f. 93 BGH v. 5.5.2004 – 5 StR 548, 03, NJW 2005, 2720, 2721; zur Selbstanzeige überhaupt siehe Rolletschke, StV 2019, 782.

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Die Gründe, die der Straffreiheit bei der Steuerhinterziehung entgegenstehen, sind vielfältig und in § 371 Abs. 2 AO geregelt. Bei der bußgeldrechtlichen Selbstanzeige steht deren Wirksamkeit nur entgegen, dass dem Täter oder seinem Vertreter die Einleitung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens wegen der Tat bekannt gegeben worden ist (§  378 Abs.  3 AO). Bei der leichtfertigen Steuerverkürzung ist daher eine Selbstanzeige auch nach der Entdeckung der Ordnungswidrigkeit möglich. Fraglich ist, ob der steuerliche Berater nicht auf Grund der Treuepflicht gegenüber seinem Mandanten an einer eigenen Selbstanzeige gehindert ist.94 Es ist anerkannt, dass der steuerliche Berater, der selbst an der Steuerhinterziehung des Mandanten beteiligt ist, nicht durch die Mandatstreue daran gehindert ist, auch gegen den Willen des Mandanten für sich selbst die Selbstanzeige vorzunehmen.95 Es kann ihm nicht zugemutet werden, die eigene Strafverfolgung auf Grund der Interessen eines kriminellen Mandanten in Kauf nehmen zu müssen. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn der steuerliche Berater sich selbst (noch) nicht strafbar gemacht hat. Bei einer Weigerung des Mandanten, die Selbstanzeige zu erstatten, hat sich der Steuerberater wegen der Mandantentreue und der Verschwiegenheitspflicht darauf zu beschränken, dem Mandanten zu empfehlen, die Selbstanzeige zu erstatten.96 Kann der steuerliche Berater für seine eigene Person nicht durch die Selbstanzeige nachträglich Straffreiheit erlangen, droht ihm die Verurteilung. Bei der Zumessung der Strafe ist u.a. zu beachten, dass Sanktionen, die dem steuerlichen Berater durch die Berufsgerichtsbarkeit drohen, als Nebenfolge der Tat zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sind.97 2. Bei der Beratung in der wirtschaftlichen Krise a) Einführung Jahr für Jahr geraten in großer Zahl Unternehmen in eine wirtschaftliche Krise, die in der Mehrzahl der Fälle auch in den Zusammenbruch der Unternehmen, also in die Insolvenz, mündet. Krisen und Insolvenzen von Unternehmen gehören nun einmal zu einer funktionierenden Marktwirtschaft. Aussagekräftige Untersuchungen darüber, in welchem Umfang vor bzw. während der wirtschaftlichen Krise des Unter­ nehmens Straftaten begangen werden, und wer im Einzelnen an diesen Straftaten beteiligt ist, gibt es nicht. Strafrechtspraktiker schätzen, dass bei 80 bis 90  % aller Firmenzusammenbrüche – und auch bei Firmenliquidationen – Straftaten begangen werden. Besonders kriminalitätsgeneigt erscheinen in diesem Zusammenhang die GmbH, die UG (haftungsbeschränkt) und auch die GmbH & Co. KG. Dies hängt nicht zuletzt mit der weiten Verbreitung dieser Gesellschaftsformen zusammen. Ur94 Zu weiteren Einzelheiten hierzu siehe Krekeler, Praxis Steuerstrafrecht, 2002, 188. 95 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 371 Rz. 236. 96 Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 371 Rz. 236. 97 BGH v. 5.12.1990 – 3 StR 214/90, wistra 1991, 135; siehe zur Berücksichtigung von Nebenwirkungen der Verurteilung auf die berufliche Basis auch Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 46 Rz. 9.

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sächlich dürfte aber auch die häufig zu geringe Kapitalausstattung dieser Gesellschaften in Verbindung mit der diesen Gesellschaftsformen eigenen Haftungsbeschränkung sein. Die wirtschaftliche Krise – drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 Abs. 2 InsO), eingetretene Zahlungsunfähigkeit (§  17 Abs.  2 InsO) und Überschuldung (§  19 Abs.  2 InsO) – zwingt zum Handeln. Misst man dem Unternehmen keine Überlebenschance zu, müssen die vertretungsberechtigten Organe der Gesellschaften unverzüglich den Antrag auf Insolvenzeröffnung stellen. Dieses verlangt § 15a Abs. 1 InsO von ihnen. Geschieht dies nicht, ist Strafbarkeit wegen Insolvenzverschleppung nach § 15a Abs. 4 und 5 i.V.m. Abs. 1 InsO die Folge. Sieht die Unternehmensleitung die Möglichkeit, dass das Unternehmen saniert werden kann, also es eine Überlebensmöglichkeit hat, so setzen Sanierungstätigkeiten ein. Jetzt ist auch der Berater gefordert. In der Regel stammt dieser aus den rechtsund wirtschaftsberatenden Berufen. Häufig erfolgt die Einschaltung des Beraters sehr spät, nämlich erst zu einem Zeitpunkt, zu dem Sanierungsmöglichkeiten nur noch in beschränktem Umfang bestehen und der Turnaround nur noch mit großen Mühen zu schaffen ist. Nicht selten sind zu diesem Zeitpunkt durch die Gesellschaftsorgane auch bereits Straftatbestände verwirklicht worden. Die Sanierungsberatung und das aktive Mitwirken an den Sanierungsbemühungen der Gesellschaft ist zu jeder Zeit Chance und Risiko zugleich. Der Berater sollte sich neben seiner zivilrechtlichen Verantwortung auch der strafrechtlichen Gefahren bewusst sein, denen er ausgesetzt ist, und die in der Praxis häufig unterschätzt werden.98 Er sollte in erster Linie die allgemeinen Gläubigerschutzvorschriften im Blick haben. Diese sollen die Einhaltung der Insolvenzantragsfristen sowie die vollständige Verwertung und unter bestimmten Umständen die gleichmäßige Verteilung der Insolvenzmasse gewährleisten. Neben diesen Insolvenzdelikten im engeren Sinne (§ 15a Abs. 4 und Abs. 5 InsO – Insolvenzverschleppung –, §§ 283 bis 283d StGB – Bankrottstraftaten –) sind zu beachten die so genannten Begleitdelikte, wie z.B. Betrugsstraftaten, insbesondere zum Nachteil von Lieferanten oder von Banken, Untreuedelikte, Beitragsvorenthaltungen und Steuerhinterziehungen. In der Regel läuft der Berater allerdings nicht Gefahr, diese Straftatbestände als (Mit-) Täter zu verwirklichen, sind doch ein großer Teil dieser Delikte Sonderdelikte, also solche Straftatbestände, deren Verwirklichung beim Täter besondere persönliche Merkmale voraussetzen (z.B. Insolvenzschuldner, Vermögensbetreuungspflichtiger, Arbeitgeber).99 Diese besonderen persönlichen Merkmale liegen beim Berater regelmäßig nicht vor. Sein Strafbarkeitsrisiko ist hier üblicherweise auf die Teilnahme, nämlich Anstiftung oder Beihilfe, beschränkt. Bei diesen Beteiligungsformen kommt es nicht auf die persönlichen strafbarkeitsbegründenden Merkmale an; fehlen diese 98 Zur Strafbarkeit externer „Sanierer“ konkursgefährdeter Unternehmen siehe schon Richter, wistra 1984, 97. 99 Baumgarte, wistra 1992, 41; Trück in Bittmann, Praxishandbuch Insolvenzstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 29 Rz. 5.

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besonderen persönlichen Merkmale, ist die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 StGB zu mildern (§ 28 Abs. 1 StGB). Im Einzelfall geschieht es jedoch, dass der in der Krise hinzugezogene Berater selbst umfassend Leitungsaufgaben übernimmt. In diese Leitungsrolle kann sich der Berater insbesondere im Rahmen intensiver Verhandlungen mit Banken und anderen Gläubigern bei Sanierungsbemühungen gedrängt sehen; diese vertrauen naturgemäß eher auf die Kompetenz des sachkundigen Beraters als auf die des (scheiternden) Unternehmers und machen manches Mal die verantwortliche Begleitung der Sanierung durch den Berater zur Bedingung für z.B. die Gewährung eines weiteren Darlehens. Nicht selten erhält der Berater in solch einer Situation Generalvollmacht; er beginnt mit der Umstrukturierung des Unternehmens, veranlasst die Entlassung von Mitarbeitern, usw. In solch einem Fall liegt die Annahme faktischer Geschäftsführung durch den Berater nahe.100 Ohne diese Pflichtenstellung läuft der Berater auch nicht Gefahr, als Mittäter bestraft zu werden.101 Ein Risiko für den Berater stellt die sog. Substitutenhaftung nach § 14 Abs. 2 StGB dar. Ist jemand von dem Inhaber eines Betriebs oder einem sonst dazu Befugten (auch konkludent) beauftragt, den Betrieb ganz oder zum Teil zu leiten (Nr. 1) oder ist er ausdrücklich beauftragt, in eigener Verantwortung Aufgaben wahrzunehmen, die dem Inhaber des Betriebs obliegen (Nr. 2), und handelt er auf der Grundlage dieses Auftrags, so kann ein Sonderdelikt auch durch ihn täterschaftlich begangen werden. Als Beauftragte im Sinne dieser Vorschrift kommen auch betriebsferne Dritte wie Steuerberater, Rechtsanwälte oder Wirtschaftsprüfer in Betracht102, nämlich dann, wenn z.B. gesetzliche Arbeitgeberpflichten in deren eigenverantwortliche Entscheidungsmacht übergegangen sind.103 Insbesondere an die Voraussetzungen, die ein entsprechender Auftrag inhaltlich erfüllen muss, sind zwar strenge Anforderungen zu stellen104; jedoch ist die Gefahr für den Berater nicht unbeträchtlich, gleichsam „schleichend“ im Zuge des zunehmenden Eingreifens in die Unternehmensabläufe, in die Rolle des täterschaftlich strafrechtlich Verantwortlichen hineinzugeraten.105 Um dem entgegenzuwirken, empfiehlt sich die schriftliche Fixierung des Auftrags106 und die strikte Einhaltung seiner Grenzen.

100 Siehe dazu: Trück in Bittmann, Praxishandbuch Insolvenzstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 29 Rz. 6. 101 Vgl. BGH v. 7.10.2014 – 4 StR 371/14, wistra 2015, 56 (zu § 266 StGB). 102 Perron/Eisele in Schönke-Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 14 Rz. 47. 103 BGH v. 12.9.2012 – 5 StR 363/12, ZWH 2013, 125 m. Anm. Bittmann = wistra 2012, 468 = NJW 2012, 3385. 104 Trück in Bittmann, Praxishandbuch Insolvenzstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 29 Rz. 8 m.w.N. 105 Wessing, NZi, 2003, 1. 106 Schünemann in Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2006 ff., § 14 Rz. 61.

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b) Einschlägige Straftatbestände (Auswahl) aa)  Insolvenzverschleppung, § 15a Abs. 4 und 5 InsO Wird eine juristische Person zahlungsunfähig oder ist sie überschuldet und ihre Fortführung nicht überwiegend wahrscheinlich, haben die Mitglieder des Vertretungsorgans ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, einen Insolvenzantrag zu stellen, §  15a Abs. 1 Satz 1 InsO.107 Nach Abs. 4 dieser Vorschrift wird bestraft, wer einen Insolvenzantrag nicht oder nicht rechtzeitig oder nicht richtig stellt. Abs. 5 stellt fahrlässiges Handeln unter Strafe. Vorab ist anzumerken, dass, sofern mehrere Vertretungsorgane im Unternehmen bestellt sind – z.B. zwei Geschäftsführer –, jeder für die rechtzeitige Antragstellung verantwortlich ist. Dies gilt auch für das faktische Organ. Tun die Vertretungsorgane dies nicht, so werden alle Organe als Mittäter bestraft. Dabei ist eine Aufteilung der Aufgaben der Art, dass z.B. ein Organ allein für den technischen, der andere für den kaufmännischen Bereich zuständig ist, grundsätzlich unerheblich.108 Der Antrag eines Mitglieds des Vertretungsorgans entlastet alle. Nach Eintritt der Liquidationsphase109 trifft die gleiche Pflicht die Liquidatoren. Erfasst sind im Übrigen nicht nur Kapitalgesellschaften, sondern sämtliche unter § 15a Abs. 1 InsO fallende juristische Personen, soweit keine Sonderregelungen bestehen (z.B. § 54a KWG für Kreditinstitute).110 Somit sind namentlich erfasst die Aktiengesellschaft, die GmbH, die Kommandit-Aktiengesellschaft, die Unternehmergesellschaft, die Genossenschaft, der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, die GmbH & Co. KG. Auch die europäischen Rechtsformen, insbesondere die SE, zählen hierzu, ausländische juristische Personen dann, wenn die Gesellschaft den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen in Deutschland hat.111 Die Tat nach Abs.  4 ist mit Fristablauf vollendet. Die Handlungspflicht, rechtzeitig einen zulässigen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen, besteht aber auch danach fort (Unterlassungsdauerdelikt).112 Die Tat ist beendet, wenn die Antragspflicht erlischt, sei es durch das Entfallen der Insolvenzreife, durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf Grund eines Gläubigerantrags, durch Löschung im Register von Amts wegen oder aus anderen Gründen.113 107 Nicht eingegangen wird hier auf die Aussetzung der Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags durch das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz vom 27.3.2020 (BGBl. I S. 569) und durch das Gesetz zur Änderung des COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetzes vom 25.9.2020 (BGBl. I S. 2016) bis zum 30.9.2020 bzw. bis zum 31.12.2020. 108 Pfordte/Sering in Nomos Kommentar Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, § 15a InsO Rz. 15. 109 Allgemein dazu: Schmelz, NZG 2007, 135. 110 Trück in Bittmann, Praxishandbuch Insolvenzstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 11 Rz. 13 m.w.N. 111 Richter in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 80 Rz. 12–22. 112 Grube/Maurer, GmbHR 2003, 1461. 113 Trück in Bittmann, Praxishandbuch Insolvenzstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 11 Rz. 19 a.E.

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Der durch einen Gläubiger (allein) gestellte Insolvenzantrag entbindet nicht von der Stellung eines Eigenantrags.114 Die Begründung hierfür liegt u.a. darin, dass ein Gläubiger seinen Antrag (z.B. nach Befriedigung) jederzeit zurücknehmen kann. Angesichts des Sonderdeliktscharakters dieser Vorschrift kann sich der Berater nur dann als Täter strafbar machen, wenn er als (zumindest faktischer) Geschäftsführer oder Vorstand des kriselnden Unternehmens, als dessen Liquidator oder als externer oder interner Sanierer in organschaftlicher Stellung tätig wird.115 Dies dürfte in der Regel beim Berater nicht der Fall sein. Für eine strafbare Teilnahme des Beraters an einer Insolvenzverschleppung in Form der Anstiftung oder Beihilfe ist Voraussetzung, dass er das gesellschaftliche Vertretungsorgan (zumindest den – faktischen – Geschäftsführer oder Vorstand) zu einer vorsätzlichen Tat anstiftet oder zu einer solchen Beihilfe leistet. Wann aber beginnt das Risiko des Beraters, sich durch seine Beratungstätigkeit wegen Teilnahme an der Straftat des Haupttäters strafbar zu machen? In nicht strafrechtlich vorwerfbarer Weise handelt der Berater, der von einem Vertretungsorgan der Gesellschaft gefragt wird und diesem z.B. die Möglichkeiten eines Insolvenzantrags, eines außergerichtlichen Vergleichs durch prozentualen Teilverzicht der Gläubiger oder der Verlagerung der Aktivitäten auf eine Auffanggesellschaft einschließlich des dafür erforderlichen zeitlichen Vorlaufs aufzeigt, und der Fragende sich in Kenntnis seiner Pflichten dennoch für die Fortsetzung des Geschäftsbetriebs und damit für die Straftat entscheidet. Anders ist die Antwort des Beraters zu werten, nämlich als Anstiftung, wenn dieser empfiehlt, Sanierungsbemühungen zu unternehmen und den Insolvenzantrag in den nächsten Wochen oder Monaten gerade nicht zu stellen  – und zwar deshalb, weil dann der Erfolg der Sanierung in Frage stehen würde –, und der Fragende der Empfehlung folgt. Sanierungsbemühungen, die nicht in der maximalen Frist von drei Wochen zum Wegfall der Krise führen, bedeuten für das Vertretungsorgan Strafbarkeit, falls der Insolvenzantrag nicht fristgerecht gestellt wird. Dies gilt selbst dann, wenn die Sanierung nach Ablauf der Dreiwochenfrist doch noch gelingt; die Strafbarkeit bleibt in diesem Fall bestehen. Neben dem Organ macht sich der Berater wegen Beihilfe strafbar, der in Kenntnis der Insolvenzreife bei den die Dauer von drei Wochen überschreitenden Sanierungsmaßnahmen mitwirkt. Dabei ist es gleichgültig, ob der Berater durch reale Tatbeiträge oder durch emotionale Verstärkung des Tatentschlusses die Tatdurchführung fördert.

114 BGH v. 28.10.2008 – 5 StR 166/08, BGHSt 53, 24 = wistra 2009, 117 = NJW 2009, 157; h.M. 115 Trück in Bittmann, Praxishandbuch Insolvenzstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 29 Rz. 3 ff.; zum Sonderdeliktscharakter des §  15a Abs.  4 InsO siehe BGH v. 21.3.2018  – 1 StR 423/17, NStZ-RR 2018, 379 (LS).

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Der Versuch einer Insolvenzverschleppung ist nicht strafbar (§ 23 Abs. 1 StGB), sodass auch eine Strafbarkeit des Beraters als Teilnehmer an einer „Versuchstat“ entfällt. Handelt der organschaftliche Vertreter lediglich fahrlässig, so macht er sich nach § 15a Abs. 5 InsO strafbar. Eine Bestrafung des Beraters scheidet in diesen Fällen aus. Sowohl Anstiftung als auch Beihilfe sind nämlich nur strafbar, wenn die Haupttat vorsätzlich begangen wird (vgl. §§ 26, 27 StGB). bb)  Bankrottstraftaten, §§ 283 ff. StGB Die §§  283  ff. StGB stellen verschiedene Verhaltensweisen im Zusammenhang mit dem Unternehmenszusammenbruch unter Strafe. Die Bestimmungen dienen insbesondere dem Zweck, die gleichmäßige Befriedigung aller Gläubiger auch mit den Mitteln des Strafrechts zu sichern. Es handelt sich bei diesen Strafvorschriften – mit Ausnahme des § 283d StGB – um Sonderdelikte.116 Sie verlangen das Vorhandensein einer (Unternehmens-) Krise, die Erfüllung der objektiven Bedingung der Strafbarkeit (den Zusammenbruch des Unternehmens) sowie in einigen Tatbestandsalternativen die Kaufmannseigenschaft des Täters. Unter Strafe gestellt sind z.B. Tathandlungen wie das Beiseiteschaffen oder Verheimlichen von Vermögenswerten, das Vortäuschen von Rechten anderer oder das Anerkennen erdichteter Rechte. Nicht selten solidarisieren sich Berater mit ihren Mandanten und unterstützen deren strafbares Handeln aus alter Verbundenheit oder in der Hoffnung auf zukünftige Mandatierung. Wirkt der Berater an entsprechenden Delikten mit, kann er regelmäßig lediglich als Anstifter oder als Gehilfe zur Verantwortung gezogen werden. Unter bestimmten Umständen kann er aber auch als Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Der Unternehmer bzw. das Organ kann nämlich zahlreiche Pflichten auch auf den Berater übertragen. So treffen den Kaufmann oder das Gesellschaftsorgan z.B. die Pflichten, Handelsbücher zu führen und den Jahresabschluss aufzustellen (vgl. §§ 238, 242, 264 HGB). Hierbei handelt es sich um Aufgaben, die der Verpflichtete ohne Weiteres auf Berater, insbesondere Steuerberater, delegieren kann. Vielfach wird es dem Verpflichteten insoweit an eigenen Fachkenntnissen fehlen, sodass er sich vollumfänglich auf den Berater verlässt und verlassen kann. Derjenige, auf den derartige Pflichten übertragen werden, muss mit einer Bestrafung als Täter von Buchführungs- und Bilanzierungsdelikten nach § 283 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 StGB rechnen, sofern er ausdrücklich beauftragt worden ist, in eigener Verantwortung Aufgaben wahrzunehmen, die dem Inhaber des Betriebs obliegen (§  14 Abs.  2 Nr.  2 StGB). Diese ausdrückliche Beauftragung bedarf keiner bestimmten Form; sie kann also auch mündlich erfolgen.117 Durch etwaige haftungsbeschränken116 Tiedemann in Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12.  Aufl. 2006  ff., Vor §  283 Rz.  59; Fischer, StGB, 68.  Aufl. 2021, Vor §  283 Rz.  18; Richter in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 84 Rz. 23; BGH v. 21.3.2018 – 1 StR 423/17, NStZ-RR 2018, 379 (LS). 117 Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 96 Rz. 3.

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de Klauseln in Auftragsbedingungen kann sich der Berater in strafrechtlicher Sicht nicht freizeichnen. Auch hindert die Tatsache, dass ein Jahresabschluss von dem Kaufmann (oder Geschäftsführer/persönlich haftenden Gesellschafter) zu unterzeichnen ist (vgl. §§ 245, 299 HGB), die Annahme einer Täterschaft des Beraters bei eigenverantwortlichem Handeln nicht.118 Der Berater kann sich z.B. als Täter strafbar machen, wenn er die Bilanz schönt, indem er Buchungen gar nicht oder unter falschen Bezeichnungen vornimmt oder sie nicht zeitnah durchführt, in nicht vertretbarem Umfang Rückstellungen bildet oder Warenbestände überbewertet. Zumindest kommt jedoch strafbare Beihilfe (auch zu den in § 331 HGB genannten Taten) in Betracht. Bei den Bankrottdelikten ist die Besonderheit zu beachten, dass die „unordentliche Führung von Handelsbüchern“ und die „Nichterstellung“ oder „verspätete Erstellung von Handelsbilanzen“ bei einem Unternehmenszusammenbruch (siehe § 283 Abs. 6 StGB) nicht nur strafbarkeitsauslösend sein kann, wenn die Tat innerhalb der Krise begangen wird (dann gelten § 283 Abs. 1 Nr. 5 und 7, Buchst. a und b StGB). Vielmehr besteht gemäß § 283b Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB ein Strafbarkeitsrisiko wegen Verletzung der Buchführungspflichten auch dann, wenn die Tat außerhalb der Krise begangen wurde. Auch hier besteht also für den Berater zumindest das Risiko, wegen Beihilfe strafrechtlich verfolgt zu werden. Nicht selten wird von Beratern die Frage gestellt, wie es mit den vertraglich und eigenverantwortlich übernommenen Buchführungs- und Bilanzierungspflichten in dem Fall steht, dass der Auftraggeber die vereinbarte Vergütung nicht (mehr) bezahlt oder dass erhebliche Vergütungsrückstände aufgelaufen sind. Darf der Berater in diesen Fällen die Fortsetzung der Arbeiten verweigern? Der Berater darf die Fortsetzung seiner Tätigkeiten bei bloßen Zahlungsschwierigkeiten nicht verweigern, wohl aber bei Zahlungsunfähigkeit.119 Die Gefahr einer Strafbarkeit z.B. nach § 283 Abs. 1 Nr. 7, § 14 StGB besteht nicht; das Strafrecht kann niemanden verpflichten, ohne Vergütung tätig zu werden. In der Krise neigen Gesellschaftsorgane erfahrungsgemäß insbesondere zu bestimmten, durch die §§ 283 ff. StGB sanktionierten Verhaltensweisen, von denen nachfolgend einige typische Handlungen näher beleuchtet werden (§ 283 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 6 StGB sowie § 283c StGB). Auch Berater sind in diesen Fällen besonders gefährdet. In der Krise wird nicht selten das Gründen einer Auffanggesellschaft als heilsbringend angesehen. Auf diese werden Teile des Gesellschaftsvermögens der notleidenden GmbH oder GmbH & Co. KG übertragen. Oftmals wird der Berater als interner Sanierer bei der Gründung der Auffanggesellschaft und im Rahmen der Durchfüh118 Häcker in Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 1992, § 96 Rz. 3a. 119 Vgl. BGH v. 20.12.1978 – 3 StR 408/78, BGHSt 28, 231 = NJW 1979, 1418.

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rung der darauffolgenden Verfügungen tätig oder berät das Gesellschaftsorgan dabei. Erfolgen die Gründung der Gesellschaft und die Übertragung wichtiger Gegenstände des Anlage- oder Umlaufvermögens auf die Auffanggesellschaft (so genannte „übertragende Sanierung“), um sie dem Zugriff der Gläubiger der in der Krise befindlichen Gesellschaft zu entziehen, kommt eine Strafbarkeit des Gesellschaftsorgans gemäß §  283 Abs.  1 Nr.  1 sowie ggf. Nr.  8 Alt. 1 StGB in Betracht. Die Grenzen zur Strafbarkeit wegen Untreue (§ 266 StGB) sind hier fließend. Beispiele für strafbares Handeln sind in diesem Zusammenhang die Übertragung werthaltiger Forderungen auf die Auffanggesellschaft unter Wert oder der Verkauf von Anlagevermögen zum Buchwert an die Auffanggesellschaft ohne Aufdeckung etwaiger stiller Reserven. Eine strafrechtlich relevante übertragende Sanierung kann selbst dann vorliegen, wenn das Organ mit Zustimmung von Gesellschaftsgläubigern den an sich noch funktionsfähigen Betrieb auf eine neue Gesellschaft überträgt und die alten Geschäftsbeziehungen mit den bisherigen Gläubigern fortgesetzt werden. Entscheidend ist im Einzelfall, ob den Gläubigern durch die übertragende Sanierung Haftungsvermögen entzogen wird.120 Übernimmt die Auffanggesellschaft jedoch sämtliche Verbindlichkeiten der übertragenden Gesellschaft, ist eine Gläubigerbenachteiligung zu verneinen. Der Berater, der entsprechenden Rat erteilt, kann sich der Anstiftung oder der Beihilfe zu der Verwirklichung des § 283 Abs. 1 Nr. 1 sowie ggf. Nr. 8 Alt. 1 StGB schuldig machen. Ein weiteres krisentypisches Delikt ist § 283 Abs. 1 Nr. 6 StGB, das Beiseiteschaffen oder das Vernichten von Handelsbüchern. Die Bestimmung schützt alle Handelsbücher und Geschäftsunterlagen. Sie verlangt neben der Beeinträchtigung der Schutzobjekte selbst, dass die Übersicht über den Vermögensstand durch die Handlung erschwert wird. Die Vernichtung von Geschäftsunterlagen, um andere Straftaten zu verdecken, ist in der Praxis häufig anzutreffen. Der Berater, der dem Mandanten dabei hilft, kann nur dann Täter des § 283 Abs. 1 Nr. 6 StGB sein, wenn er ausdrücklich Aufbewahrungspflichten im Rahmen des Mandatsverhältnisses übernommen hat. Eine Teilnahmestrafbarkeit ist jedoch nach den allgemeinen Regeln stets möglich. Daneben steht auch für den Berater eine Strafbarkeit wegen Urkundenunterdrückung (§ 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB) im Raum. Von der Generalklausel des § 283 Abs. 1 Nr. 8 StGB, einem Auffangtatbestand, sind diejenigen Handlungen erfasst, die auf eine andere als in den Nrn. 1 bis 7 des § 283 Abs. 1 StGB aufgeführte Art den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft in grob widersprechender Weise den Vermögensstand verringern, die wirklichen geschäftlichen Verhältnisse verheimlichen oder diese verschleiern. Maßnahmen im Rahmen von sogenannten Firmenbestattungen erfüllen häufig die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift. Unter dem Begriff der „Firmenbestattung“ wird dabei im Allgemeinen die Abwicklung einer insolventen oder insolvenzge­ fährdeten Gesellschaft außerhalb der dazu vorgesehenen gesetzlichen Vorschriften verstanden, die sich typischerweise durch folgendes Vorgehen auszeichnet: Die Ge120 Kindhäuser in Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1. Aufl. 2003, § 283 Rz. 91.

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schäftsanteile werden – oftmals unter Einschaltung eines darauf spezialisierten Vermittlers – an einen Käufer veräußert, der zur Fortführung der Geschäfte weder geeignet noch willens ist und bei dem es sich in der Regel um eine – häufig im Ausland ansässige – vermögenslose Person oder Gesellschaft handelt. Gleichzeitig werden die bisherigen Geschäftsführer abberufen und neue Geschäftsführer bestellt. Die Firma der Gesellschaft wird (wiederholt) geändert und der Sitz der Gesellschaft (mehrfach) verlegt. Die Geschäftsunterlagen werden planmäßig beiseite geschafft oder vernichtet.121 Nicht selten tragen dabei auch Berater ihren Teil zum Gelingen des Projekts bei, was ihre Teilnahmestrafbarkeit auslösen kann. In seinem Beschluss vom 15.  November 2012122 hatte sich der Bundesgerichtshof mit einem Fall der „Firmenbestattung“ zu befassen. Er bestätigte das Urteil des Tatgerichts, das die Angeklagten u.a. wegen eines Vergehens gemäß § 283 Abs. 1 Nr. 8 StGB schuldig gesprochen hatte. Er führte aus, dass das Tatgericht zu Recht angenommen habe, dass in der Übertragung der Unternehmen auf einen zur Fortführung des Geschäfts ungeeigneten und unwilligen Strohmann eine Verschleierung der wirklichen geschäftlichen Verhältnisse im Sinne des § 283 Abs. 1 Nr. 8, 2. Alt. StGB liege.123 Nach der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung sind alle im Zusammenhang mit einer Firmenbestattung stehenden Rechtsgeschäfte (Abberufungs- und Bestellungsbeschlüsse, Sitzverlegungsbeschlüsse) in analoger Anwendung des §  241 Ziffer 4 AktG wegen Gläubigerbenachteiligung nichtig. Sie entfalten daher keine Rechtswirkung.124 Eine Sitzverlegung darf nicht rechtsmissbräuchlich erfolgen;125 § 4a GmbHG muss beachtet werden. Bei einem Verstoß ist der Satzungsänderungsbeschluss nach §  241 Nr.  3 Fall 3 AktG analog nichtig mit der Folge, dass der ursprüngliche Satzungsort gültig bleibt.126 Einen speziellen Fall der strafbaren Bankrotthandlungen hat der Gesetzgeber in § 283c StGB geregelt, nämlich die Gläubigerbegünstigung. Hier läuft der als Sanierer tätige Berater leicht Gefahr, sich strafbar zu machen. Von einer Gläubigerbegünstigung spricht man, wenn ein einzelner Gläubiger von dem oder den für ein kriselndes Unternehmen Verantwortlichen im Vergleich zu anderen Gläubigern bevorzugt und so in die Lage versetzt wird, seine Ansprüche erfüllt zu erhalten. Dies gilt jedoch nur dann, wenn dieser Gläubiger die Leistung zu diesem Zeitpunkt nicht oder nicht in der erbrachten Form beanspruchen darf (inkongruente Deckung). 121 Vgl. zum Ganzen Wachter, GmbHR 2004, 955; Kilper, S. 7–26; Hey/Regel, GmbHR 2000, 115; Hirte, ZInsO 2003, 833; Pfordte/Sering in Nomos Kommentar Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, § 283 StGB Rz. 57. 122 BGH v. 15.11.2012 − 3 StR 199/12, wistra 2013, 192 = NJW 2013, 1892. 123 BGH v. 15.11.2012 – 3 StR 199/12, wistra 2013, 192, 194 = NJW 2013, 1892, 1893. 124 Vgl. LG Potsdam v. 17.9.2004 – 25 Qs 11/04, wistra 2005, 193, 195 f. m.N. 125 Zumindest bei titulierten Ansprüchen kann durch die Sitzverlegung der Tatbestand der Vollstreckungs-vereitelung nach § 288 StGB verwirklicht werden. 126 KG v. 25.7.2011 – 25 W 33/11, ZiP 2011, 1566 f.

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Wird einem Lieferanten eine ausstehende Rechnung voll bezahlt, um ihn sich z.B. für die Zukunft beim Aufbau einer neuen Gesellschaft gewogen zu halten, und wird er dadurch anderen Gläubigern gegenüber bevorzugt, liegt ein strafbares Handeln nach § 283c StGB vor. Die Bestimmung verbietet sowohl die Befriedigung eines Gläubigers als auch das Gewähren von Sicherheiten zu einem Zeitpunkt, zu dem dieser die Leistung nicht oder nicht in dieser Form beanspruchen darf. Für eine derartige „inkongruente Deckung“ durch die Gewährung von Sicherheiten in Frage kommen etwa Sicherungsübereignungen, Forderungsabtretungen oder die Einräumung von Grundpfandrechten bei nicht fälligen Forderungen. Erhält der Berater von dem vor der Insolvenz stehenden Mandanten in Kenntnis der Krise seine rückständigen Vergütungsansprüche bezahlt oder werden ihm zu deren Sicherung Forderungen abgetreten, so kann dieser Vorgang auch strafbar sein. Da § 283c StGB die „Gewährung“ einer Bevorzugung verlangt, ist zwangsläufig Voraussetzung, dass der begünstigte Gläubiger  – hier: der Berater  – an der Handlung mitwirkt. Der durch den Handelnden begünstigte Berater macht sich somit durch die bloße Annahme der ihm gewährten Vergünstigung nicht als Teilnehmer strafbar, da ohne seine Beteiligung der Straftatbestand begriffsnotwendig nicht verwirklicht werden kann; es liegt ein Fall der notwendigen Teilnahme vor.127 Beschränkt sich das Handeln des begünstigten Gläubigers allerdings nicht auf die bloße Annahme einer ihm vom Schuldner freiwillig angebotenen Sicherung, so kommt für ihn strafbare Teilnahme an einer Gläubigerbegünstigung in Betracht.128 Es kommt also auf die Umstände an, die den Schuldner veranlasst haben, den Gläubiger zu bevorzugen; entscheidend ist, welchen Anteil der Gläubiger an der Sicherungsabrede hatte. Nachhaltiges Drängen des Gläubigers wird die Grenze der straflosen notwendigen Teilnahme überschreiten. Wie ist der Fall zu beurteilen, dass der Berater für künftige Dienstleistungen – z.B. für seinen Einsatz im Rahmen des Sanierungsversuchs – einen Vorschuss gemäß § 9 RVG anfordert und diesen auch erhält? Hierzu hat der BGH129 ausgeführt, dass ein Berater normalerweise nur auf Grund von Vorschusszahlungen tätig wird. Dies geschieht insbesondere dann, wenn der Auftraggeber wirtschaftlich schwach dasteht. Die Strafbarkeit des Gesellschaftsorgans wegen Gläubigerbegünstigung bzw. eine Teilnahme daran durch den Berater scheitert in diesem Fall an der fehlenden „inkongruenten Deckung“. Der Berater kann also auch dann, wenn er im Rahmen eines beabsichtigten Insolvenzantragsverfahrens tätig werden soll, z.B. wenn er einen aktuellen Status zum Zweck der Vorbereitung eines Insolvenzantrags aufstellen soll, für diese Tätigkeiten vorab eine Vergütung verlangen. Lediglich für bereits vor der Krise erbrachte Leis127 Tiedemann in Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2006 ff., § 283c Rz. 38 m.N. in der Fn. 55; Weyand/Diversy, Insolvenzdelikte, 10. Aufl. 2016, Rz. 135. 128 BGH v. 16.12.1991 – StbSt (R) 2/91, NStZ 1993, 239 f. = wistra 1993, 147 f. = NJW 1992, 1278; siehe auch Weyand/Diversy, Insolvenzdelikte, 10. Aufl. 2016, Rz. 135. 129 Vgl. BGH v. 29.9.1988 – 1 StR 332/88, BGHSt 35, 357 = wistra 1989, 102 = NStZ 1989, 179.

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tungen, für die der Vergütungsanspruch schon fällig ist, darf er sich gegenüber anderen Gläubigern nicht bevorzugen lassen. Tut er dies dennoch, befindet er sich im strafrechtlich relevanten Bereich der Teilnahme an § 283c StGB. Auch in den Fällen, in denen nach dem Wortlaut der Vorschrift eine Anstiftung zum Bankrott tatbestandlich zu bejahen wäre, ist der Rückgriff auf die Haupttat des § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB durch die abschließende Regelung des § 283c StGB versperrt. Dies ergibt ein Strafrahmenvergleich des §  283 Abs.  1 StGB (Freiheitsstraße bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe) mit dem des § 283c StGB (Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe). Festzuhalten ist, dass § 283c StGB eine Privilegierung für den Schuldner enthält, soweit dieser lediglich die gleichmäßige Befriedigung der Gesamtgläubiger beeinträchtigt und die Insolvenzmasse nicht darüber hinaus schädigt.130 Lässt sich der nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit mit der Wahrnehmung betrieblicher Interessen beauftragte Berater zur Besicherung seines Anspruchs auf Vorschusszahlung (§ 9 RVG) vom Schuldner Vermögensgegenstände übertragen, so liegt darin keine Schuldnerbegünstigung (§ 283d Abs. 1 StGB). Es kommt unter Umständen eine Strafbarkeit wegen Teilnahme an einer vom Schuldner begangenen Gläubigerbegünstigung in Betracht.131 cc)  Betrug, Kreditbetrug, §§ 263, 265b StGB Der Tatbestand des Betrugs, insbesondere in Form des Betrugs zum Nachteil von Lieferanten und des Kreditbetrugs zum Nachteil von Banken, wird in Zeiten der Krise nicht selten erfüllt. Mit dem Ziel, die Gesellschaft zu retten, werden noch in Zeiten größter wirtschaftlicher Not Waren bestellt. Es wird der Versuch unternommen, der Gesellschaft über Banken Liquidität zuzuführen. Wegen Betrugs zum Nachteil von Lieferanten macht sich der Besteller aber grundsätzlich nur strafbar, wenn er im Zeitpunkt der Bestellung davon ausgeht, bei Fälligkeit des Rechnungsbetrags diesen nicht begleichen zu können (Eingehungsbetrug). Ein Mitwirken des Beraters hieran ist nicht sehr wahrscheinlich. Anders ist es in dem Fall, dass im Rahmen des Sanierungsversuchs Banken zur Kreditverlängerung oder Kreditgewährung veranlasst werden sollen. Hier wird oft der Berater von dem Gesellschaftsorgan um Hilfe ersucht – eine Leistung, die strafbare Beihilfe zum Kreditbetrug darstellen kann.132 Typische Beispiele hierfür sind das Vorbereiten geschönter Vermögensübersichten oder manipulierter (Zwischen-) Bilanzen zur Vorlage bei den Banken.

130 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 283c Rz. 1; zu Einzelfragen siehe Vormbaum, GA 1981, 103 ff.; zu Beispielen für strafbare Anstiftung siehe Tiedemann in Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 2006 ff., § 283c Rz. 38 a.E. 131 BGH v. 29.9.1988 – 1 StR 332/88, BGHSt 35, 357 = wistra 1989, 102 = NStZ 1989, 179. 132 Siehe hierzu LG Mannheim v. 15.11.1984 – 22 KLs 12/82, wistra 1985, 158.

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Schon durch das Einreichen der unrichtigen Unterlagen, ohne dass der Kredit gewährt wird, ist die Strafbarkeit wegen Kreditbetrugs gemäß § 265b StGB bei dem Antragsteller und wegen Beihilfe hierzu bei dem Berater gegeben. Hat die Krediterschleichung Erfolg, läuft der Berater Gefahr, wegen Beihilfe zum Betrug gemäß § 263 StGB zur Rechenschaft gezogen zu werden. Hier ist die Gefahr gegeben, dass die Tat als Beihilfe zu einem besonders schweren Fall des Betrugs nach § 263 Abs. 3 StGB mit einem erhöhten Strafmaß eingestuft wird, sofern ein „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ herbeigeführt wird. Hiervon wird ab einem Vermögensschaden von 50.000,00 Euro ausgegangen.133 Auch die zivilrechtliche Haftung wegen unerlaubter Handlung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 und ggf. Abs. 3 StGB wird der Berater zu bedenken haben. Nimmt der Berater an Bankengesprächen teil und leistet er durch Falschdarstellungen einen bedeutsamen Beitrag dazu, dass der Kredit an die in der Krise befindlichen Gesellschaft ausgezahlt wird und die Bank durch den (teilweisen) Ausfall der Darlehensrückzahlungsforderung einen Schaden erleidet, kann er u.U. wegen Betrugs in Mittäterschaft belangt werden.

VI. Schlussbemerkung Die vorstehenden Ausführungen können nur einen Einblick geben in die strafrechtlichen Gefahrenzonen, in denen z.B. der Berater in steuerlichen Angelegenheiten und der bei einer wirtschaftlichen Krise eines Unternehmens hinzugezogene Berater tätig sind bzw. tätig werden. Den Gefahren erliegt der Berater nicht, wenn er die Risiken sieht, sie zutreffend einordnet und sein Tätigwerden so einrichtet, dass die Grenzen zur Strafbarkeit nicht überschritten werden. Was also hat der Berater zu bedenken und zu beachten, wenn er einerseits seiner Beratungsaufgabe nachkommen will, andererseits aber nicht Gefahr laufen will, strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitenrechtlich als (Mit-)Verantwortlicher verfolgt zu werden. Die Kenntnis und die Beachtung von Schutzmechanismen können die Gefahrenträchtigkeit beratender Tätigkeit verringern. Die Schutzmechanismen kann man schlagwortartig kennzeichnen mit Gefahrbewusstsein, Problemkenntnis, Distanz, Offenheit und Konsequenz. Das Gefahrbewusstsein setzt das Wissen voraus, dass das Überschreiten der Schwelle zwischen abstraktem und konkretem (Rechts-)Rat eine erhebliche Risikoerhöhung darstellt. Wenn der Berater seinen Auftraggeber neutral über die Rechtslage aufklärt, scheidet ein strafbares Verhalten aus. Sobald der Berater aber dem Beratenen eine Richtung für sein Handeln empfiehlt oder gar vorgibt, muss er prüfen, ob dieses Handeln möglicherweise mit den Strafgesetzen kollidiert. 133 Siehe nur Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 263 Rz. 215a unter Hinweis auf die stetige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

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Die Problemkenntnis bedingt, dass sich der Berater bewusst ist, dass es bestimmte Bereiche gibt, bei denen das Überschreiten der Grenzen zwischen erlaubtem und rechtswidrigem Handeln naheliegt und deshalb ein nachträgliches Überprüfen des Geschehens wahrscheinlich ist. Die Distanz zum Auftraggeber zu bewahren, ist nicht immer einfach. Der Auftraggeber befindet sich nicht selten in einer schwierigen Lage, in der er den Berater braucht und von diesem einen Rat zur Lösung seiner Probleme erwartet. Der Berater hat verschiedene Handlungsalternativen zu bewerten und soll aufzeigen, wie hoch jeweils das Risiko ist, die Grenze des Zulässigen zu überschreiten. Oft besteht ein längeres Vertrauensverhältnis; immer besteht das wirtschaftliche Interesse an der Durchführung des Auftrags. Hier darf der Berater nicht außer Acht lassen, dass die Vertrauenssphäre zwischen dem Auftraggeber und dem Berater nicht selten nur solange besteht, wie die Beratung als erfolgreich angesehen wird. Oft wird der Berater dann zu seinen Lasten als Schutzschild von dem Beratenen benutzt. Offenheit bedeutet Dokumentation oder jedenfalls Möglichkeit der Dokumentation. Was der Berater nicht niederschreiben kann, sollte er nicht tun. Einen Rat also, den der Berater nicht für sich schriftlich festhalten kann, sollte er dem Beratenen nicht geben. Das Risiko des Beraters besteht darin, dass der Beratene sich den Rat notiert, um sich ggf. entlasten zu können. Ein entscheidendes Schutzmittel ist die Konsequenz. Die Grenze, die der Berater für sich zwischen problematischem und unproblematischem (Rechts-)Rat definiert hat, sollte unverschiebbar sein. Ein Drängen des Auftraggebers und auch das Interesse an der Honorierung sollten keine Änderung herbeiführen können. Der Berater, der sich rechtzeitig zurücknimmt und sich dann zurückzieht, wenn ihm Grenzgängerisches zugemutet wird, läuft in der Regel nicht Gefahr, strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitenrechtlich verfolgt zu werden.

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Mediation – Ein Verfahren zur Vermeidung und Beilegung von Streit in Unternehmerfamilien und Familienunternehmen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Das Mediationsverfahren als außer­ gerichtliche Streitbeilegung 1. Definition 2. Anforderungen an den Mediator 3. Ziel und Struktur der Mediation III. Vergleich außergerichtlicher Streit­ beilegungsverfahren 1. Überblick 2. Schlichtung 3. Schiedsverfahren 4. Vorteile des Mediationsverfahrens 5. Akzeptanz des Mediationsverfahrens IV. Bedeutung der Mediation für Streitig­ keiten in Familienunternehmen 1. Definition von Familienunternehmen 2. Problemaufriss im Vergleich zu anderen Unternehmen

3. Gerichtliche Auseinandersetzungen 4. Verfahren der Mediation und Mediationsklauseln a) Einigung auf eine Verfahrensordnung b) Governance Kodex für Familienunternehmen c) DIS-Mediationsordnung d) Mediationsgesetz 5. Chancen und Grenzen der Mediation in Familienunternehmen 6. Mediationsklauseln a) Meditationsklauseln als Allgemeine Geschäftsbedingungen? b) Wirkung und Ausgestaltung c) Mediationsklauseln in einzelnen ­Vertragstypen V. Zusammenfassung

I. Einleitung Im Jahr 2002 schrieb Prof. Dieter Strempel: „Wenn man mit Mediation als Konfliktlösungsmethode Ernst macht, würde das eine kleine Revolution im deutschen Recht bedeuten, wie es sie nach der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter nicht mehr gegeben hat.“1 Das deutsche Zivilrecht ist geprägt von Anspruchsdenken. Es lässt für eine Vermittlung in Konflikten nur begrenzt Raum. Demgegenüber versucht die Mediation Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen wie der Konflikt-, Kommunikations- oder Verhandlungsforschung zu einem Verfahren der Konfliktlösung zu verbinden.2 In

1 Strempel in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 1. Aufl. 2002, § 4 Rz. 69. 2 Mähler/Mähler in Heussen/Hamm (Hrsg.), Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, 11. Aufl. 2016, § 48 Rz. 19.

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diesem interdisziplinären Ansatz liegt das Revolutionäre dieser Methode der Streitbeilegung.3 Durch Mediation erarbeiten die Konfliktparteien einvernehmlich die Beseitigung eines Konflikts. Die Mediation als strukturiertes Verfahren4 ist in den Vereinigten Staaten ein seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziertes Instrument der außergerichtlichen Streitbeilegung. Sie wurde dort aus der Not heraus geboren, die das Rechtssystem verursachte. Die hohen Kosten gerichtlicher Verfahren und das Fehlen einer gesetzlichen Pflicht der unterlegenen Partei, die Kosten des Verfahrens zu tragen, etablierten die Mediation als (alternatives) Streitbeilegungsverfahren. Die zahlreichen positiven Beispiele gelungener Mediation in den Vereinigten Staaten führten auch in Europa und Deutschland dazu, sich mit dem Gegenstand der Mediation auseinanderzusetzen.5 Die (Erfolgs-) Geschichte der Mediation in Deutschland begann mit der Anwendung des Verfahrens in Familienstreitigkeiten, insbesondere in Trennungs- und Scheidungskonflikten.6 Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Assoziation des Begriffs Mediation weg von einem „Verfahren zur Konfliktlösung“ hin zu einer „konfliktsoziologischen und psychologischen Methodik des Verfahrens zur Konfliktlösung“.7 In seinen Ursprüngen eher ein staatsfernes Verfahren8, wurde die Mediation anfangs durch eine Richtlinie der Europäischen Union, anschließend durch das Mediationsgesetz in Deutschland gesetzlich ausgestaltet. Die Europäische Union beschloss auf Vorschlag der Kommission zunächst im Jahr 2008 eine Richtlinie über „bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen“.9 Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sollten den Zugang zur alternativen Streitbeilegung erleichtern und die gütliche Beilegung von Streitigkeiten fördern, indem Mediationsverfahren implementiert werden und für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Mediation- und Gerichtsverfahren gesorgt wird.10 Das galt insbesondere für grenzüberschreitende Streitigkeiten in der EU, die sich aufgrund verschiedenartiger nationaler Rechtstraditionen und Verfahrensregeln kompliziert gestalten können. Die Richtlinie verpflichtete die Mitgliedstaaten, diesen Problemen dadurch zu begegnen, dass die Streitbeteiligten die Verfahrensordnung und den Mediator selbst wählen können. 3 Strempel in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 1. Aufl. 2002, § 4 Rz. 76. 4 Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6.  Aufl. 2020, Anhang 1 zu §  278a, §§  1-9 Rz.  39; Rüssel, ­Mediation in der Praxis: Wirtschafts- und Familienmediation, JA 2005, 666, 666. 5 Hehn/Yarn in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 2 Rz. 16, 17; § 59 Rz. 1.  6 Töben, RNotZ 2013, 321, 337; vgl. Hehn in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3.  Aufl. 2016, §  2 Rz.  55; Mähler/Mähler in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 31 Rz. 10. 7 Vgl. Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 36; ausführlich dazu Ittner in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3.  Aufl. 2016, §  18 Rz. 12 ff. 8 Vgl. Risse/Bach, SchiedsVZ 2011, 14, 16. 9 RL 2008/52/EG. 10 MedRL Art. 1.

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In Deutschland wurde die Richtlinie durch das Mediationsgesetz vom 26.7.2012 ­umgesetzt, wobei der Gesetzgeber über die Vorgaben der Richtlinie hinausging.11 Damit erhielt die Mediation als Verfahren rechtliche Kontur und etablierte sich als staatlich anerkanntes Streitbeilegungsverfahren.12 Sie findet Anwendung in zahlreichen Rechtsgebieten vom Arbeitsrecht über das Baurecht, Insolvenzrecht und Familienrecht bis hin zur Mediation zwischen und innerhalb von Unternehmen in Bereichen des Handels- und Gesellschaftsrechts.13 In Familienunternehmen und Unternehmerfamilien sind viele dieser Rechtsgebiete und zudem wirtschaftliche Interessen und familiäre Positionen bisweilen konfliktbeladen vereint. Hier bietet Mediation Methoden, die den Bestand des Unternehmens sichern sowie die Familie befrieden und in beiden Bereichen existenzgefährdende Krisen bewältigen und idealerweise vermeiden können.14 Das Verfahren geht über einfache Vermittlungsversuche weit hinaus. Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist, die Möglichkeiten und Grenzen des Mediationsverfahrens im Kontext von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien darzustellen. Anregungen und Formulierungsvorschläge für Vereinbarungen zum Einstieg in ein Mediationsverfahren runden den Beitrag ab.

II. Das Mediationsverfahren als außergerichtliche Streitbeilegung 1. Definition Das Wort „Mediation“ ist lateinischen Ursprungs. Es stammt von „mediare“, was „vermitteln“ bedeutet. Damit ist der Kern der Mediation genannt. Der Mediator vermittelt zwischen den an dem Konflikt beteiligten Parteien mit dem Ziel, dass die Parteien selbst einen Konsens finden. In §  1 des Mediationsgesetzes wird die Mediation basierend auf der EG-Richtlinie definiert als „ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren, bei dem Parteien mithilfe eines oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehm­ liche Beilegung ihres Konfliktes anstreben.“ Die Mediation ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Dritter die Parteien durch das Verfahren begleitet. Die Parteien erarbeiten dabei eigenständig eine freiwillige und vor allem einvernehmliche Lösung, in der jede Partei ihre Interessen gewahrt sieht. Der Mediator soll die Verhandlungen der Parteien unterstützen und ein effektives Gespräch zwischen ihnen gewährleisten, worin jede Partei ihre Position ausdrücken 11 Prütting in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, § 278 Rz. 69; Kölbl in Beck’scher VOB Kommentar Teil B, 3. Aufl. 2013, § 18 Abs. 3 Rz. 32.  12 Groh in Creifelds, Rechtswörterbuch, 24. Edition 2020, 1. Mediation. 13 Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, Kapitel 5, §§ 33 ff. 14 Vgl. Rüssel, Mediation in der Praxis: Wirtschafts- und Familienmediation, JA 2005, 666, 667 f.

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kann.15 Durch dieses Verfahren soll das Anspruchsdenken der Parteien durchbrochen und ihre gegensätzlichen Positionen aufeinander zubewegt werden. Der Mediator vermittelt zwischen den Parteien und führt sie durch das Verhandlungsgespräch. 2. Anforderungen an den Mediator Die an einem Konflikt beteiligten Personen stehen sich häufig mit völligem Unverständnis für die Positionen der jeweils anderen Parteien gegenüber. Eine dritte Person kann jedoch regelmäßig die widersprüchlichen, aber nicht notwendig unvereinbaren Positionen überblicken und eine als diplomatisch empfundene Lösung mit den Parteien finden.16 Für eine erfolgversprechende Mediation ist es unerlässlich, dass der Mediator den beteiligten Parteien die Lösung nicht oktroyiert, sondern die Parteien unterstützend und moderierend durch das Verfahren dorthin führt.17 So bezeichnet §  1 Abs.  2 MediationsG den Mediator als eine unabhängige und neutrale Person ohne Entscheidungsbefugnis, die die Parteien durch die Mediation führt. Der Mediator soll die Einhaltung der vereinbarten Verfahrensregeln gewährleisten und den Mediationsprozess strukturiert leiten. Er kann Hinweise auf Fakten, Regeln und Normen geben, deeskalieren sowie Meinungen und Bewertungen beitragen oder zum Beispiel unrealistische Erwartungen dämpfen.18 Dabei sollte er jedoch stets die Ergebnisoffenheit des Verfahrens sicherstellen.19 Zudem sollte der Mediator den Parteien die Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit des Verfahrens bewusstmachen. § 2 Abs. 2 MediationsG verlangt, dass der Mediator sich vergewissert, dass die Parteien die Grundsätze und den Ablauf des Mediationsverfahrens verstanden haben und freiwillig an der Mediation teilnehmen. Das Verfahren setzt die Konsensbereitschaft der Parteien voraus.20 Grundsätzlich unverzichtbar ist, dass der Mediator objektiv neutral ist21 und auch von allen am Konflikt beteiligten Parteien als neutral empfunden wird.22. Gemäß § 3 Abs. 1 MediationsG ist der Mediator verpflichtet, den Parteien alle Umstände offenzulegen, die seine Unabhängigkeit und Neutralität beeinträchtigen können. Er darf bei Vorliegen solcher Umstände als Mediator nur tätig werden, wenn die Parteien ausdrücklich zustimmen. Das Mediationsgesetz bestimmt, welche Kenntnisse und Fähigkeiten die Person des Mediators mitbringen muss. Gegenstand der theoretischen und praktischen Ausbil15 Kracht in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 13 Rz. 70. 16 Haft in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 3 Rz. 36. 17 Rüssel, JA 2005, 666, 666 ff.; Brackmann, ErbR 2015, 237, 239. 18 Kracht in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 13 Rz. 64 f., 70, 72. 19 Rüssel, JA 2005, 666, 666; Kracht in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 13 Rz. 76 f., 64. 20 Jansen/Beyerlein, BB 2012, 733, 735. 21 § 2 Abs. 3 MediationsG. 22 Rüssel, JA 2005, 666, 670.

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dung zum zertifizierten Mediator sind neben den Grundlagen der Mediation, ihrem Ablauf und den erforderlichen Rahmenbedingungen insbesondere Verhandlungsund Kommunikationstechniken, Konfliktkompetenz sowie die Rolle des Rechts in der Mediation; Rollenspiele und Supervision sind Teil der Aus- und Fortbildung.23 Der interdisziplinäre Ansatz der Mediation verlangt Diversität der Kompetenzen. Der Mediator muss bei Konflikten in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien souverän mit den psychologischen Aspekten des Konfliktes umgehen. Gleichzeitig muss er die wirtschaftlichen Auswirkungen solcher Konflikte beurteilen und bewerten können. Bei Konflikten, in denen höchstpersönliche emotionale Aspekte in unternehmerische und betriebswirtschaftliche Fragestellungen hineinwirken, ist neben den kommunikationspsychologischen, rhetorischen und empathischen Fähigkeiten erforderlich, dass der Mediator über juristische und betriebswirtschaftliche Kenntnisse verfügt24 oder hierzu fachliche Berater auf Seiten der Parteien hinzuzieht. Zusätzliche rechtsanwaltliche Beratung auf Seiten der Parteien ist nicht grundsätzlich verpflichtend, jedoch möglich.25 In Fällen, in denen die Mediation auch die Klärung von Rechtsfragen betrifft, die eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordern, ist die Einbeziehung anwaltlicher Unterstützung zwingend geboten. Rechtsberatung durch einen nichtanwaltlichen Mediator ist unzulässig.26 Ein Anwalt kann zudem als Co-Mediator/Moderator hinzugezogen werden. Er darf allerdings in der betreffenden Angelegenheit nicht bereits beratend für eine der Parteien tätig gewesen sein, um das Gebot der Allparteilichkeit nicht zu verletzen. Gemäß §  2 Abs.  3 MediationsG ist ein Mediator allen Parteien gleichermaßen verpflichtet. Das gilt auch für einen als Mediator tätigen Rechtsanwalt. Im Rahmen einer anwaltlich geführten Mediation kann ein Co-Mediator mit psychologischer und/oder sozialpädagogischer Ausbildung von Vorteil sein, zum Beispiel, wenn es um die Handhabung stark emotionsbeladener Familienangelegenheiten geht.27 Zwar sollte auch der anwaltliche Mediator grundsätzlich in der Lage sein, tiefsitzende Konflikte zu erkennen und in das Verfahren in geeigneter Weise einzubeziehen. Aufgabe der Mediation ist, eine Lösung mit Zukunftsbezug herauszuarbeiten. Erweist sich die Aufarbeitung von Ereignissen aus der Vergangenheit als erforderlich, ist dies jedoch nicht Aufgabe der Mediation, sondern sollte zumeist Gegenstand einer Therapie sein.28

23 § 5 MediationsG. 24 Behme, AnwBl. 2017, 16, 16; Brackmann, ErbR 2015, 237, 239. 25 Behme, AnwBl. 2017, 16, 20. 26 OLG Rostock v. 20.6.2001 – 2 U 58/00, BB 2001, 1869; vgl. Henssler, NJW 2003, 241, 242; Becker/Horn, ZEV 2006, 248, 252; Behme, AnwBl. 1/2017, 16, 20. 27 Becker/Horn, ZEV 2006, 248, 252; Bernhardt/Winograd in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 19 Rz. 34. 28 Rüssel, JA 2005, 666, 671.

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3. Ziel und Struktur der Mediation Das Ziel der Mediation ist, den Konflikt der Beteiligten für die Zukunft bestmöglich aufzulösen. Dabei muss denknotwendig ein erfolgsversprechendes Programm abgearbeitet werden, mithilfe dessen die einzelnen Interessen der Parteien herausgearbeitet und idealerweise auch umgesetzt werden. Die Parteien sollen zu Beginn einen Konfliktmanagementplan erstellen, der das Verfahren der Streitbeilegung, die dafür anzuwendende Verfahrensordnung und die für die jeweiligen Parteien vorrangig relevanten Punkte festlegt.29 Ein vielversprechendes Vorgehen bietet das sogenannte Harvard-Konzept an, das an der Harvard School of Law von den Juristen Roger Fisher und William Ury entwickelt wurde.30 Die Streitbeilegung findet dabei in definierten Phasen statt. Die erste Phase ist die Vorbereitungsphase. Sie beginnt mit einer Erläuterung des Verfahrens durch den Mediator und der Klärung formaler Aspekte. Besprochen werden Vergütungsfragen, organisatorische Rahmenbedingungen und Gesprächsregeln sowie der formale Ablauf der Mediation. Beide Parteien sollen auf denselben Kenntnisstand bezüglich des Verfahrens gebracht werden.31 Der Mediator kann die Parteien über ihre Rolle in der folgenden Mediation aufklären und die Unterschiede der Mediation zu anderen Verfahren erläutern.32 Außerdem vereinbaren die beteiligten Konfliktparteien mit dem Mediator einen (Mediator-) Vertrag, in dem der Mediator zur Durchführung der Mediation verpflichtet wird.33 Von dem Vertrag mit dem Mediator zu unterscheiden ist die Mediationsvereinbarung. Sie ist die Grundlage der Streitbeilegung.34 Diese Vereinbarung kann bereits im Vorfeld zwischen den Parteien geschlossen werden35 und initiiert in diesem Fall die Mediation. Sie verpflichtet die Parteien untereinander zur Teilnahme an einem Mediationsverfahren in den von den Parteien bestimmten Fällen und kann Verfahrensregeln und weitere formale Bedingungen bestimmen.36 Ist die Mediation ohne eine 29 Jansen/Beyerlein, BB 2012, 733, 734. 30 Roger Fisher, William Ury, Bruce M. Patton (Hrsg.): Das Harvard-Konzept („Getting to Yes“). Der Klassiker der Verhandlungstechnik, Campus-Verlag, 3.  Aufl., Frankfurt am Main/New York 2011. 31 Vogt, DS 2009, 217, 223. 32 Vogt, DS 2009, 217, 223; Tochtermann, JuS 2005, 131, 133.  33 Der Mediationsvertrag ist ein Dienstvertrag mit Geschäftsbesorgungscharakter nach §§ 675, 611 BGB, vgl. Kölbl in Beck’scher VOB Kommentar Teil B, 3. Aufl. 2013, § 18 Abs. 3 Rz. 37; Tochtermann, JuS 2005, 131, 133. 34 Kölbl in Beck’scher VOB Kommentar Teil B, 3. Aufl. 2013, § 18 Abs. 3, Rz. 34 f.; Tochtermann, JuS 2005, 131, 133; Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 48. 35 Die Mediationsvereinbarung kann als Mediationsklausel in einen Vertrag aufgenommen werden; Tochtermann, JuS 2005, 131, 132. 36 Tochtermann, JuS 2005, 131, 132; Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 48; (dazu auch: 6.b) – Mediationsklauseln, Wirkung und Ausgestaltung).

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vorherige Vereinbarung durch die Parteien initiiert worden, folgt der Abschluss der Mediationsvereinbarung ebenfalls in dieser ersten „Vorbereitungs- oder Einleitungsphase“. Der so geschlossene Mediationsvertrag wirkt wie eine Art Grundgesetz der Mediation.37 Mit der zweiten Phase beginnt die Mediation. Die Beteiligten sammeln zunächst die Themen, über die sie verhandeln wollen. Verhandlungen werden oft durch Missverständnisse unterlaufen sowie von persönlichen Sympathien oder Antipathien und von grundlegend divergierenden Ansichten der Beteiligten geprägt.38 Um dies zu vermeiden, werden die personale Ebene und die Sachebene voneinander getrennt, sodass zwei verschiedene Kommunikationsebenen entstehen.39 Dies ist das dem Harvard-Konzept zugrundeliegende Prinzip. Die oftmals verfestigten Positionen der Beteiligten werden von ihren dahinterstehenden Interessen getrennt. Dies ermöglicht eine sachbezogene Diskussion. Die Mediation konzentriert sich zukunftsorientiert auf die Interessen, die ausgeglichen werden sollen. In der dritten Phase werden verschiedene Lösungsmöglichkeiten gesucht. Ziel hierbei ist es, Auswahlmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen zu erarbeiten.40 Diese Optionen werden daraufhin weiterentwickelt und auf Grundlage von zuvor festgelegten Kriterien bewertet. Solche Kriterien können die Interessen der Beteiligten, aber auch rechtliche oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen sein. Entscheidende Aufgabe des Mediators hierbei ist, auf neutralen, objektiven Beurteilungskriterien zu bestehen.41 Zum Schluss entscheiden die Parteien in der vierten Phase gemeinsam über die ausgehandelte Lösung. In der auf den Abschluss der Mediation folgenden Umsetzungsphase werden dann die zur Umsetzung der vereinbarten Lösung erforderlichen Verträge geschlossen oder entsprechende Regelungen getroffen.42

37 Kracht in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 13 Rz. 71. 38 Hehn in Dombert/Witt (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Agrarrecht, 2. Aufl. 2016, § 4 Mediation im agrarrechtlichen Kontext Rz. 39. 39 Tischer/Hahn in Spengler/Hahn/Pfeiffer, Betriebliche Einigungsstelle, §  5 Das Verfahren vor der Einigungsstelle Rz.  274  f.; Hehn in Dombert/Witt (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Agrarrecht, 2.  Aufl. 2016, §  4 Mediation im agrarrechtlichen Kontext Rz.  39; Krautzberger/Wagner in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Hrsg.), Baugesetzbuch, 137. EL 2020, § 4b Einschaltung eines Dritten, Rz. 49. 40 Tischer/Hahn in Sprengler/Hahn/Pfeiffer (Hrsg.), Betriebliche Einigungsstelle, 2. Aufl. 2019, §  5 Rz.  275; Hehn in Dombert/Witt (Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch Agrarrecht, 2. Aufl. 2016, § 4 Mediation im agrarrechtlichen Kontext Rz. 45 ff. 41 Tischer/Hahn in Spengler/Hahn/Pfeiffer (Hrsg.), Betriebliche Einigungsstelle, § 5 Das Verfahren vor der Einigungsstelle Rz. 274; Hehn in Dombert/Witt, Münchener Anwaltshandbuch Agrarrecht, 2. Aufl. 2016, § 4 Mediation im agrarrechtlichen Kontext Rz. 39. 42 Krautzberger/Wagner in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Hrsg.), Baugesetzbuch, 138. EL 2020, § 4b Rz. 49.

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III. Vergleich außergerichtlicher Streitbeilegungsverfahren 1. Überblick Mediation ist nicht der einzige Weg, Konflikte zu lösen, ohne dabei gerichtlich vorzugehen. Hervorzuheben sind zum einen die Schiedsgerichtsbarkeit und zum anderen die Schlichtung. Gemeinsam ist diesen Verfahren ebenso wie dem Gerichtsverfahren, dass eine dritte, neutrale Person im Rahmen eines vorgegebenen Verfahrens im Konflikt vermittelt und/oder entscheidet.43 2. Schlichtung Am ähnlichsten ist das Verfahren der Mediation dem der Schlichtung. Nicht selten werden die Verfahren einander gleichgesetzt, was jedoch dem von der Schlichtung verschiedenen Wesen der Mediation nicht gerecht wird. Zwar vermittelt bei der Schlichtung ebenfalls eine neutrale dritte Person in der Streitfrage. Gemeinsam ist beiden Verfahren, dass die Person des Schlichters ebenso wie die des Mediators von den Parteien frei gewählt werden kann. Entscheidend unterschiedlich zur Mediation erarbeiten jedoch nicht die Konfliktparteien selbst die Lösung. Stattdessen unterbreitet der Schlichter einen konkreten Lösungsvorschlag – gegebenenfalls mit verschiedenen Lösungsoptionen. Der Schlichter unterstützt nicht nur durch Lösungsvorschläge, sondern er entscheidet. Seine Entscheidung erwächst freilich nicht in Rechtskraft. Es ist Sache der Parteien des Schlichtungsverfahrens, den Schlichterspruch zu akzeptieren. Die Weiterverfolgung der Streitsache vor den ordentlichen Gerichten bleibt möglich.44 Der Schlichter entwickelt Lösungsvorschläge anhand der von den Parteien erstrebten Positionen unter Berücksichtigung der geltenden Rechtslage. Dies insbesondere dann, wenn die Schlichtung einem Gerichtsverfahren obligatorisch als Beschwerdeinstanz vorgeschaltet ist.45 Die Schlichtung hat also einen allseits akzeptablen Kompromissvorschlag eines Dritten zum Ziel,46 der seine Legitimation oft aus der Autorität und Sachkompetenz des Schlichters bezieht.47 3. Schiedsverfahren Wesentliches Unterscheidungsmerkmal des Schiedsverfahrens gegenüber der Mediation und der Schlichtung ist die Verbindlichkeit der Entscheidung des Schiedsrichters. Im Rahmen des Schiedsverfahrens evaluiert der Schiedsrichter den Sachverhalt und entscheidet über die vorgelegte Streitfrage rechtskräftig. Im Unterschied zum ordentlichen Gerichtsverfahren können die Parteien den staatlichen Richter durch

43 Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 233. 44 Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 233, 234. 45 Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 233. 46 Töben, RNotZ 2013, 321, 322. 47 Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 234.

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einen privaten Richter ersetzen.48 Üblich ist bisweilen, dass jede Partei einen Schiedsrichter benennt und diese beiden Schiedsrichter gemeinsam eine dritte Person als weiteren Schiedsrichter benennen. Zudem können die Parteien – gegebenenfalls im Rahmen branchenspezifischer Vorgaben – über die für das Verfahren maßgebliche Schiedsordnung entscheiden. Die Unterwerfung unter den Schiedsspruch erfolgt freiwillig im Voraus und orientiert sich an der von den Parteien gewählten Verfahrensordnung.49 Innerhalb des Verfahrens entscheidet das Schiedsgericht wie der gesetzliche Richter autonom. Durch die Sachnähe des gewählten Schiedsrichters und der vereinbarten Schiedsordnung soll ähnlich der Mediation und Schlichtung auch im Schiedsverfahren eine gerechte Lösung für beide Parteien gefunden werden. Diese wird jedoch im Unterschied zur Mediation nicht von den Parteien selbst erarbeitet.50 Sie bedarf im Unterschied zur Schlichtung auch nicht einer Annahmeentscheidung der Parteien. Unter Beachtung der vorgetragenen Interessen wird die Entscheidung von dem oder den Schiedsrichtern getroffen. Das Ergebnis des Schiedsverfahrens wird selten beide Parteien inhaltlich zufriedenstellen.51 Akzeptanz und Legitimation bezieht die Entscheidung (lediglich) aus der freien Wahl des Schiedsrichters und der Verfahrensordnung. 4. Vorteile des Mediationsverfahrens Im Vergleich zu (Schieds-) Gerichtsverfahren ist die Mediation meist kosten- und zeitsparend.52 Falls der Gegenstand der Mediation allerdings die Zuziehung spezialisierter Anwälte erfordert, kann der Kostenvorteil sich relativieren.53 Gerichtsverfahren ziehen sich häufig über Jahre hinweg. Demgegenüber kann Mediation oft bereits in wenigen Sitzungen zum Erfolg führen. Die wesentlichen Vorteile des Mediationsverfahrens bestehen darüber hinaus vor allem darin, dass die konfliktbeteiligten Parteien jederzeit Herren sowohl über den Gegenstand des Verfahrens als auch über das Verfahren selbst bleiben. Die Mediation dient vorrangig nicht einer abschließenden Bewertung und Bewältigung eines in der Vergangenheit liegenden Sachverhalts. Stattdessen bezweckt die Mediation eine zukunftsorientierte Lösung. Rechtliche Aspekte, persönliche Interessen, Erwartungen und Enttäuschungen werden dabei von den Parteien in den Disput einbezogen. Diese werden als zukünftige Konfliktquellen erkannt und benannt, um sie nach Möglichkeit als Quellen zukünftiger Konflikte auszuschließen. Kein anderes Verfahren ist in der Lage, persönliche, wirtschaftliche oder emotionale Gründe so systematisch und gezielt aufzugreifen, um im Rahmen einer 48 Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247, 1247; Münch in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2017, Vbm. zu § 1025 ZPO, Rz. 1 ff.; Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 233 f. 49 Münch in MünchKomm. ZPO, 5.  Aufl. 2017, Vbm. zu §  1025 ZPO, Rz.  1  ff.; Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 233. 50 Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 233. 51 Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247, 1247. 52 Vgl. hierzu auch Eidenmüller, Verfahrens- und Vertragsrecht der Wirtschaftsmediation, 1. Aufl. 2001, S. 67 f.; Baumann, ZEV 2004, 108, 108; Brackmann, ErbR 2015, 237, 238. 53 Ponschab/Kracht in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 56 Rz. 20 f., 87 f.

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umfassenden Lösung einen – nur vordergründig rechtlichen – Konflikt beizulegen.54 Das so erreichte Ergebnis kann zu einer echten Befriedung führen, wenn der Mediator fähig ist, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der die Parteien auf die ge­ genseitigen Interessen eingehen und sie in die Konfliktbewältigung einbeziehen. Der Streit wird nicht wie im gerichtlichen Verfahren durch Subsumtion eines rechtlich relevanten Sachverhalts aus der Vergangenheit unter abstrakt-generelle Normen entschieden,55 sondern durch eine Einigung, mit der alle Konfliktparteien im besten Fall im Einklang stehen. Es entsteht so im Idealfall eine „Win-Win“ Situation.56 Ein gerichtliches Urteil erzeugt hingegen typischerweise eine „Win-Lose“ Situation. Der Vorteil des einen bedeutet den Nachteil des anderen.57 Rechtskraft bewirkt Rechtsfrieden, allzu oft jedoch keine Befriedung. Durch die konsensuale Lösung mittels ­Mediation können familiäre und unternehmensbezogene Beziehungen zueinander erhalten oder verbessert werden. Die Akzeptanz und Einhaltung eines so erzielten Ergebnisses ist häufig höher als bei Urteilen oder einseitig bestimmten Anordnungen.58 Diese Erfahrung deckt sich mit der Erwägung des EU-Gesetzgebers zur Mediationsrichtlinie der Europäischen Union, worin es heißt: „Vereinbarungen, die im Media­ tionsverfahren erzielt wurden, werden eher freiwillig eingehalten und wahren eher eine wohlwollende und zukunftsfähige Beziehung zwischen den Parteien“.59 Mediation eignet sich deshalb insbesondere, wenn die Parteien nach dem Konflikt nicht auseinandergehen können, sondern weiterhin zusammen arbeiten und leben müssen.60 Mediation kann die gerichtliche Auseinandersetzung und damit den öffentlich ausgetragenen Streit über familiäre und unternehmerische Angelegenheiten vermeiden. Das gerichtliche Verfahren findet grundsätzlich immer öffentlich statt, § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG. Demgegenüber legt § 1 Abs. 1 MediationsG fest, dass die Mediation ein vertrauliches Verfahren ist. Insbesondere wenn durch das Öffentlichwerden von Tatsachen ein Imageverlust des Unternehmens oder der Unternehmerfamilie droht, kann die auf den Kreis der beteiligten Personen beschränkte ebenso wie die auf den Kreis der betroffenen Personen erweiterte Mediation eine in diesem Kreis offene und so produktivere Kommunikation ermöglichen.61

54 Töben, RNotZ 2013, 321, 322. 55 Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247, 1247. 56 Dendorfer-Ditges/Ponschab in Moll (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2017, § 82 Rz. 13-16. 57 Ulrici in MünchKomm. FamFG, Vbm. zu § 1 MediationsG Rz. 16. 58 Eidenmüller, Verfahrens- und Vertragsrecht der Wirtschaftsmediation, 1. Aufl. 2001, S. 6; Rüssel, JA 2005, 666, 671.  59 Richtlinie 2008/52/EG (6). 60 Nistler, JuS 2010, 685, 686; Töben, RNotZ 2013, 321, 322. 61 Baumann, ZEV 2004, 108, 111; Ulrici in MünchKomm. FamFG, Vbm. zu § 1 MediationsG Rz. 16.

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5. Akzeptanz des Mediationsverfahrens Der Erfolg einer Mediation beruht auf der Gesprächsbereitschaft der Parteien. Ein Mediationsverfahren ist deshalb nur dann erfolgsversprechend, wenn beide Par­ teien gleichermaßen freiwillig und überzeugt daran teilnehmen.62 Gehen eine oder mehrere an dem Konflikt beteiligte Parteien bereits mit verhärteten Fronten in die Verhandlung oder sehen in der Mediation keinen Mehrwert, muss die Mediation scheitern. Das gilt insbesondere, wenn eine Partei die von ihr angestrebte Position als rechtlich unanfechtbar ansieht oder nicht bereit ist, sie aufzugeben. Machtungleichgewichte sowie unterschiedliche Kommunikationsfähigkeiten oder manipulatives Verhalten bergen die Gefahr, dass eine schwächere Partei in der Offenheit des Verfahrens oder in der Kommunikation benachteiligt ist. Das kann den Erfolg der Mediation insgesamt gefährden. Diese Gefahr muss der Mediator erkennen und gegebenenfalls mit Hilfe weiterer Berater kompensieren.63 Das Gleiche gilt, wenn eine Partei von i­hrem Recht Gebrauch macht, die Mediation abzubrechen. Gemäß §  2 Abs.  5 Satz 1 MediationsG ist jede Partei jederzeit berechtigt, ohne Nennung von Gründen durch Mitteilung an den Mediator oder die andere Konfliktpartei die Mediation abzubrechen. Dieses Recht ist grundsätzlich unabdingbar. Äußerstenfalls kommt die Vereinbarung einer zu wahrenden (Überdenkens-) Frist in Betracht. Auch darf die Ausübung des Lösungsrechts nicht unzumutbar erschwert werden, z.B. durch Kostenfolgen.64 Der Zeit- und Kostenvorteil des Mediationsverfahrens realisiert sich zudem nur, wenn das Mediationsverfahren Erfolg hat. Dafür besteht jedoch keine Garantie. Im Falle des Scheiterns schlägt der Zeit- und Kostenvorteil in einen Nachteil um, der zu den Kosten und der Dauer eines späteren Gerichtsverfahrens hinzukommt. Schließlich verwirklicht ein Mediationsverfahren auch im Falle einer erfolgreichen Verständigung der Konfliktparteien über den Streitgegenstand kein objektives Recht. Die Abschlussvereinbarung der Parteien, in der die erzielte Einigung festgehalten wird, ist als solche in aller Regel nicht unmittelbar vollstreckbar.65 Die Vollstreckbarkeit kann nur erzielt werden, indem die Parteien ihre Einigung entweder von einem deutschen Gericht oder Notar für vollstreckbar erklären lassen (§ 794 Abs. 1 Nr. 5, § 797 ZPO) oder ein vollstreckbarer Anwaltsvergleich geschlossen wird (§§ 796a ff. ZPO).66 Immerhin ist eine Abschlussvereinbarung als privatrechtlicher Vertrag rechtsverbindlich, die Erfüllung des Vertrages selbst kann deshalb eingeklagt werden.67

62 Kracht in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 13 Rz. 99. 63 Ulrici in MünchKomm. FamFG, 3. Aufl. 2018, Vbm. zu § 1 MediationsG Rz. 18. 64 Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 53. 65 Ulrici in MünchKomm. FamFG, 3.  Aufl. 2018, Vbm. zu §  1 MediationsG Rz.  9; Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 235; Wolmerath in Däuble/Hjort/Schubert/Wolmerath (Hrsg.), Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2017, § 9 Rz. 9.  66 Ulrici in MünchKomm. FamFG, 3. Aufl. 2018, Vbm. zu § 1 MediationsG Rz. 9. 67 Kreissl, SchiedsVZ 2012, 230, 237; Dendorfer, MittBayNot 2008, 85, 89. 

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IV. Bedeutung der Mediation für Streitigkeiten in Familienunternehmen 1. Definition von Familienunternehmen Rund 90% des deutschen Unternehmensbestandes gelten als Familienunternehmen, was die Relevanz dieser Unternehmensform verdeutlicht.68 Der Begriff des Familienunternehmens wird trotz seiner Geläufigkeit nicht einheitlich verwendet; eine rechtlich verbindliche Definition fehlt.69 Allerdings haben sich einige gängige Kriterien herausgebildet. Ein Unternehmen ist demnach ein Familienunternehmen, wenn die Mehrheit der Beteiligungen an dem Unternehmen im Eigentum der Mitglieder einer Familie oder mehrerer verwandter Familien liegen und/oder Vertreter der Familie maßgeblichen Einfluss auf die Leitung des Unternehmens haben.70 Hält die Familie mindestens die Hälfte der Anteile, handelt es sich um ein familienkontrolliertes Unternehmen; haben zudem ein oder mehrere Familienmitglieder zugleich leitende Funktionen im Unternehmen inne, handelt es sich um ein familiengeführtes Unternehmen.71 Zum Teil wird als weiteres Kriterium auch das Bestehen eines generellen Willens zur familieninternen Fortführung innerhalb der kommenden Generationen genannt.72 Demgegenüber spielt eine Abgrenzung anhand quantitativer Kriterien, wie sie beispielsweise für sogenannte kleine und mittlere Unternehmen verwendet werden, für Familienunternehmen keine Rolle.73 Familienunternehmen finden sich in allen Größenordnungen. 2. Problemaufriss im Vergleich zu anderen Unternehmen Familienunternehmen wird in unternehmensextern verursachten Krisensituationen eine große Stabilität nachgesagt. Anders sieht es allerdings bei familien- oder unter68 Stiftung Familienunternehmen, Studie zur Volkswirtschaftlichen Bedeutung von Familienunternehmen, 2019, S.  6, abrufbar unter https://www.familienunternehmen.de/media/pub​ lic/pdf/publikationen-studien/studien/Die-volkswirtschaftliche-Bedeutung-der-Familien​ unternehmen-2019_Stiftung_Familienunternehmen.pdf, zuletzt abgerufen am 21.10.2020; Institut für Mittelstandsforschung Bonn, Studie zur Bedeutung der eigentümer- und fa­ miliengeführten Unternehmen in Deutschland, 2017, S. 12, abrufbar unter: https://www. ifm-bonn.org/fileadmin/data/redaktion/publikationen/ifm_materialien/dokumente/IfM-­ Materialien-253_2017.pdf, zuletzt aufgerufen am 1.9.2020. 69 Kirchdörfer, FuS 1/2011, S. 32; Stiftung Familienunternehmen, Studie zur Volkswirtschaftlichen Bedeutung von Familienunternehmen, 2019, S. 51; Becker/Ulrich, BWL im Mittelstand – Grundlagen, Besonderheiten, Entwicklungen, 1. Aufl. 2015, S. 29. 70 Kirchdörfer, FuS 1/2011, S. 32; Stiftung Familienunternehmen, Studie zur Volkswirtschaftlichen Bedeutung von Familienunternehmen, 2014, S. 51. 71 Stiftung Familienunternehmen, Studie zur Volkswirtschaftlichen Bedeutung von Familienunternehmen, 2019, S. 52 ff.; Institut für Mittelstandsforschung Bonn, Studie zur Bedeutung der eigentümer- und familiengeführten Unternehmen in Deutschland, 2017, S. 3 ff. 72 Kirchdörfer, FuS 2011, 32.  73 Stiftung Familienunternehmen, Studie zur Volkswirtschaftlichen Bedeutung von Familienunternehmen, 2019, S. 51; Habbe/Gieseler, NZG 2016, 1010, 1010; vgl. auch: Becker/Ulrich, BWL im Mittelstand – Grundlagen, Besonderheiten, Entwicklungen, 1. Aufl. 2015, S. 23.

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nehmensintern verursachten Krisen aus. Sind Gesellschafter und Geschäftsführer zum Beispiel verwandt, birgt dies aufgrund des persönlichen Näheverhältnisses die Gefahr stark emotionaler Auseinandersetzungen, die nicht ausschließlich auf Inte­ ressen aus dem Unternehmen beruhen, sondern häufig auch in dem privaten Verhältnis begründet sind.74 Interne Konflikte basieren in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien häufig auf Verletzungen und Emotionen, die oftmals weit in der Vergangenheit und vielfach außerhalb des Unternehmens entstanden sind.75 Eine rein rationale Lösung von Problemen ist daher oft nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres möglich, was sowohl den familiären Beziehungen der beteiligten Personen, als auch dem Unternehmen insgesamt schaden kann.76 Es stehen sich also schwer zu vereinbarende Positionen gegenüber: Einerseits die Unternehmerfamilie, die grundsätzlich ausgelegt ist auf Bindung, Zusammenhalt und Verständnis und andererseits die Unternehmensführung, welche auf Ertrag sowie den Erhalt von Arbeitsplätzen, Nachhaltigkeit, das Renommee und den Fortbestand des Unternehmens gerichtet ist. Das bedeutet, dass eine Lösung, die familiär geboten ist, für das Unternehmen der falsche Ansatz sein kann.77 Umgekehrt kann eine durch familiäre Umstände an­ gemessen erscheinende Entscheidung mit Rücksicht auf die im Interesse des Unternehmens gebotene weitere Zusammenarbeit der Familienmitglieder untunlich sein.78 Familiär basierte Konflikte erledigen sich häufig auch nicht durch einen Genera­ tionswechsel im Unternehmen. Streitigkeiten werden oft über Generationen perpetuiert und in Familienstämmen weitergegeben. Sie können unterschwellig fortwirken und sich weiter verhärten. 3. Gerichtliche Auseinandersetzungen Streitigkeiten, die im Familienunternehmen begründet sind, gelten nicht als familienrechtliche Streitigkeiten, die vor den Familiengerichten unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt werden.79 Im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung ist die Verhandlung öffentlich. Öffentlich ausgetragener Streit schwächt das Unternehmen und stärkt die Konkurrenz.80 Dies gefährdet letztlich Arbeitsplätze, Geschäftsverbindungen und schlimmstenfalls den Fortbestand des Unternehmens.81 Andererseits können Konflikte, bei denen aufgrund der familiären Bindung „um des lieben Friedens willen“ der Gang zum Gericht vermieden wird und die auch nicht in ande-

74 Jansen/Beyerlein, BB 2012, 733, 734; Habbe/Gieseler, NZG 2016, 1010, 1010. 75 Rüssel, JA 2005, 666, 671. 76 Jansen/Beyerlein, BB 2012, 733, 733.  77 Hanna Grabbe, Interview in der Zeit, erschienen am 29.10.2019, abrufbar unter: https:// www.zeit.de/hamburg/2019-10/familienunternehmen-streit-generationenwechsel-verant​ wortung-psychologie, zuletzt aufgerufen am 1.9.2020. 78 Hanna Grabbe, Interview in der Zeit, erschienen am 29.10.2019, abrufbar unter: https:// www.zeit.de/hamburg/2019-10/familienunternehmen-streit-generationenwechsel-verant​ wortung-psychologie, zuletzt aufgerufen am 1.9.2020. 79 Jansen/Beyerlein, BB 2012, 733, 735. 80 Jansen/Beyerlein, BB 2012, 733, 735; Baumann, ZEV 2004, 108, 109. 81 Jansen/Beyerlein, BB 2012, 733, 735.

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rer Weise bewältigt, sondern stattdessen verdrängt werden, dauerhaft die Suche nach Lösungen auch in zukünftigen Krisen behindern.82 4. Verfahren der Mediation und Mediationsklauseln a) Einigung auf eine Verfahrensordnung Gegenstand einer Mediationsvereinbarung können neben materiellen auch prozessuale Vereinbarungen sein.83 Letzteres ist insbesondere die für die Mediation an­ zuwendende Verfahrensordnung. Hierbei kann auf Muster z.B. der Industrie- und Handelskammern oder der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit, der DIS, zurückgegriffen werden. Die Einigung auf eine Verfahrensordnung bezweckt die verbindliche Vorgabe des Handlungsspielraumes. Die Einhaltung objektiver Verfahrensvorgaben erleichtert den Beteiligten die Entscheidungsfindung, weil die zugrundeliegenden Bedingungen für alle Parteien gleichermaßen geboten und angemessen erscheinen.84 In dem durch die Verfahrensordnung vorgegebenen Rahmen kann der Streit beigelegt werden. Die Beteiligten können sich freilich darauf verständigen, die vereinbarte Verfahrensordnung flexibel anzupassen. Darin zeichnet sich ein weiterer Unterschied zur Konfliktbearbeitung vor Gericht aus. Dort sind die Verfahrensregeln nicht verhandelbar. b) Governance Kodex für Familienunternehmen Der gemeinsam von INTES Akademie für Familienunternehmen GmbH, FBN Deutschland The Family Business Network, Die Familienunternehmen und ASU herausgegebene Governance Kodex für Familienunternehmen85 bietet Leitlinien zur erfolgreichen Unternehmensführung in einem Familienbetrieb. Dieser Kodex setzt einen Rahmen zur Vorbeugung und Lösung von Konflikten. Er empfiehlt, Umgangsformen zum Verhalten in Konfliktfällen innerhalb der Unternehmerfamilie festzulegen und enthält Empfehlungen zur Kommunikation und zum Auftreten innerhalb der Familie und gegenüber der Öffentlichkeit. Das Verfahren des Konfliktbewältigungsprozesses und die Konsequenzen bei Verstößen gegen bestehende Verhaltensund Verfahrensregeln sollten allen Mitgliedern der Unternehmerfamilie bekannt sein. Außerdem ist im Interesse des Unternehmens festzulegen, die Belange des Unternehmens durch familiäre Konflikte nicht zu beeinträchtigen.86

82 Baumann, ZEV 2005, 108, 111.  83 Eidenmüller, Vertrags- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation, S. 9. 84 Hehn in Dombert/Witt (Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch Agrarrecht, 2. Aufl. 2016, § 4 Mediation im agrarrechtlichen Kontext Rz. 49. 85 http://www.kodex-fuer-familienunternehmen.de/images/Downloads/Kodex_2015.pdf. 86 http://www.kodex-fuer-familienunternehmen.de/images/Downloads/Kodex_2015.pdf S. 33.; Habbe/Gieseler, NZG 2016, 1010, 1014.

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c) DIS-Mediationsordnung Die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. (DIS) hat am 1.5.2010 eine Konfliktmanagementordnung herausgegeben. Diese verweist auf die ebenfalls vom DIS entwickelte Mediationsordnung, kurz DIS-MedO.87 Sie enthält vom Anwendungsbereich über die Einigung auf einen Mediator bis hin zur Durchführung des Verfahrens Empfehlungen. d) Mediationsgesetz Das Mediationsgesetz findet Anwendung für alle Verfahren, die der Definition der Mediation in §  1 Abs.  1 MediationsG entsprechen.88 Es normiert in erster Linie grundlegende Pflichten und persönliche Voraussetzungen des Mediators und der Parteien des Mediationsverfahrens. Aufgrund seines Regelungscharakters hat das Mediationsgesetz verbindliche Wirkung. Daneben und somit nicht in einem ausschließenden Konkurrenzverhältnis stehen die Mediationsordnungen, welche das Verfahren näher erläutern und bestimmte „Spielregeln“ vorgeben. Die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens bleibt den Parteien deshalb weiterhin überlassen und wird durch das Mediationsgesetz nicht vorgegeben.89 Als Ausfluss des Grundsatzes der Privatautonomie sind einzelne Bestimmungen des Mediationsgesetzes disponibel. So genügt für die Bestimmung des Mediators durch die Parteien gemäß § 2 Abs. 1 MediationsG eine Vereinbarung über ein Verfahren zur Drittbestimmung. Auch von der Verschwiegenheitspflicht gemäß §  4 MediationsG kann eine Befreiung erteilt werden; allerdings nur durch den Begünstigten.90 Die Zulässigkeit einer Beschränkung des Kündigungsrechts aus § 2 Abs. 5 Satz 1 MediationsG wird unter anderem von Loos/Bewitz vertreten.91 Allerdings würde diese Beschränkung wohl die für die Durchführung des Verfahrens elementare Freiwilligkeit untergraben. Nicht disponibel ist hingegen das Tätigkeitsverbot aus § 3 Abs. 2 Satz 1 MediationsG.92 5. Chancen und Grenzen der Mediation in Familienunternehmen Mediation findet üblicherweise bei privaten Familienstreitigkeiten Anwendung, wurde von dort weiterentwickelt und verbreitet.93 Mittlerweile kommt ihr auch innerhalb

87 DIS-Mediationsordnung abrufbar unter: www.disarb.org/de/16/regeln/dis-konfliktmanage​ mentordnung-10-kmo-id18, zuletzt aufgerufen am 13.10.2020. 88 Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 11. 89 Grundmann, SchiedsVZ 2012, 229, 230. 90 Vgl. Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 21, 32. 91 Loos/Bewitz, SchiedsVZ 2012, 305, 307. 92 Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 22. 93 Mähler/Mähler in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3.  Aufl. 2016, §  31 Rz. 1 f.

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und zwischen Unternehmen Bedeutung zu.94 Die Mediation als Streitbeilegungsverfahren in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien ist als Verbindung beider Lebensbereiche die logische Konsequenz. Dort entstehende und bestehende Konflikte sind oft mehrschichtig. Sie werden durch eine rein rechtliche Streitentscheidung häufig nicht gelöst, sondern bestenfalls befriedet, häufig nur bis zum nächsten Anlass beruhigt. Die Schaffung von Verständnis und Akzeptanz für die gegenseitigen Positionen ist in Familienunternehmen unabdingbar, um die Zusammenarbeit der Beteiligten weiter zu ermöglichen. Gleichwohl kann auch im familienunternehmerischen Kontext die Bereitschaft einer am Konflikt beteiligten Person zur Durchführung eines Mediationsverfahrens wegen tiefsitzender und verhärteter Konfliktursachen fehlen. Dann sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Mediation nicht gegeben.95 6. Mediationsklauseln a) Meditationsklauseln als Allgemeine Geschäftsbedingungen? Der im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit im Konfliktfall günstigste Zeitpunkt, sich über Konfliktlösungsmöglichkeiten zu verständigen, liegt vor der Entstehung des Konfliktes.96 Es bietet sich deshalb an, die Vereinbarung der Durchführung einer Mediation im Konfliktfall in den der vertraglichen Beziehung zugrundeliegenden unternehmensbezogenen Vertrag aufzunehmen.97 Fehlt nach Eintritt des Konflikts die Bereitschaft zur Durchführung der Mediation, bleibt die Konfliktbewältigung der richterlichen Entscheidung vorbehalten.98 Deshalb wird der vorausschauende und von der Sinnhaftigkeit der Mediation überzeugte Unternehmer in der Satzung des Unternehmens oder vergleichbaren grundlegenden Vertragswerken eine Regelung vorgeben, die die Mediation als Streitbeilegungsmethode vorschreibt. Eine einseitig vorformulierte Mediationsklausel ist grundsätzlich eine allgemeine Geschäftsbedingung. Das gilt insbesondere gegenüber später in das Familienunternehmen eintretenden Familienmitgliedern. Zu beachten ist, dass die gesetzlichen Vorschriften über allgemeine Geschäftsbedingungen bei Verträgen auf dem Gebiet des Erb-, Familien- und Gesellschaftsrechts sowie auf Dienstvereinbarungen keine Anwendung finden und bei der Anwendung auf Arbeitsverträge die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen sind, § 310 Abs. 4 BGB. Im Regelfall unterliegen Mediationsklauseln in familienunternehmensbezogenen Verträgen deshalb nicht der richterlichen Inhaltskontrolle. Sie sind wie privatauto94 Friedrichsmeier/Hammann in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3.  Aufl. 2016, § 48 Rz. 59; Hehn in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 2 Rz. 55. 95 Zur Problematik der Konfliktentstehung ausführlich: Schmidt in Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch der Mediation, 3. Aufl. 2016, § 8. 96 Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247, 1248. 97 Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247, 1248; Habbe/Gieseler, NJW 2016, 1010, 1012. 98 Töben, RNotZ 2013, 321, 323.

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nome Vereinbarungen zu behandeln. Weil Mediation auf der Bereitschaft aller beteiligten Parteien beruht, muss in jedem Fall ein „Aufdrängen“ der Mediation durch einseitig vorgegebene Vertragsklauseln vermieden werden.99 Das Gleiche gilt für einen etwaigen Ausschluss des Rechts auf Zugang zu den staatlichen Gerichten, welches aus dem Rechtsstaatsprinzip resultiert,100 und des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.101 Allerdings kann der Zugang zum gerichtlichen Verfahren davon abhängig gemacht werden, dass ein Mediationsversuch stattgefunden hat oder zumindest Gründe vorliegen, die einer Mediation entgegenstehen, § 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO. Eine Klausel, mit der die Vertragsbeteiligten sich zur Streitbeilegung durch Mediation verpflichten, könnte lauten: Die Parteien verpflichten sich, bei Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit und aus diesem Vertrag vor der Einleitung eines Gerichtsverfahrens zur einvernehmlichen Konfliktlösung eine Mediation durchzuführen.

Dabei bietet sich insbesondere bei Familienunternehmen womöglich an, auf besonders „heikle“ Fallgruppen hinzuweisen: Ein Mediationsverfahren ist insbesondere durchzuführen bei Meinungsverschiedenheiten 1. über die Nachfolge in der Unternehmensleitung oder der Unternehmensbeteiligung, 2. über die Aufteilung des Unternehmens im Falle einer Umwandlung 3. über die Verwertung des Unternehmens im Falle einer Veräußerung oder Liquidation im Ganzen oder in Teilen, 4. über die mit dem Unternehmen in Zusammenhang stehenden Pflichten aus Dienstverträgen mit und Geschäftsbeziehungen zu anderen Familienmitgliedern.

b) Wirkung und Ausgestaltung aa) Allgemeines Mediationsklauseln können von der reinen Absichtserklärung, im Konfliktfall ein Mediationsverfahren durchzuführen, ohne weitere inhaltliche Festlegungen, bis hin zu umfassenden, alle Einzelheiten des Verfahrens regelnden Vereinbarungen (z.B. Benennung des Mediators, Schutz vor Rechtsverlusten, Verjährung etc.) reichen. Sofern die Parteien über die reine Absichtserklärung hinausgehen und nicht lediglich – wie oben dargestellt – an ihren Vertragspartner den Appell zum Versuch der Durchführung eines Mediationsverfahrens richten wollen, bietet sich folgende Mediationsklausel an: „Die Parteien verpflichten sich, bei Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit und aus diesem Vertrag vor der Einleitung eines (schieds-)gerichtlichen Verfahrens eine Mediation durchzuführen.“

99 Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247, 1248. 100 Ehlers/Schneider in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 38. EL 2020, § 40 VwGO Rz. 13. 101 BVerwG v. 27.2.2014 – 2 C 19/12, NVwZ 2014, 1101, 1102 Rz. 9.

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Diese Regelung lässt die Art und Weise der Durchführung der Mediation noch offen. Bei Verwendung einer derartig einfachen Klausel müssen die Parteien sich darüber im Klaren sein, dass vor Durchführung eines Mediationsverfahrens Einigkeit über wesentliche Verfahrensfragen erst noch erzielt werden muss. Das kann wesentlich erschwert sein, falls der Konflikt bereits zutage getreten ist. Bei der Formulierung der Mediationsklausel müssen die wichtigsten Eckpunkte eines Mediationsverfahrens deshalb geregelt werden. Die nachfolgend benannten Themen sollten hierfür antizipiert werden. bb)  Wahl der Verfahrensordnung Das Mediationsverfahren unterliegt im Grundsatz keiner bestimmten Verfahrensordnung. Der Ablauf des Verfahrens und die zu beachtenden Grundsätze können daher erst in der mit dem ausgewählten Mediator zu treffenden Mediatorvereinbarung festgelegt werden. Die Parteien haben jedoch die Möglichkeit, sich bereits bei Vertragsschluss auf ein bestehendes – s.o. – Regelwerk zu einigen. Die Verweisung kann statisch vereinbart werden, d.h. auf den Stand des Regelwerks zu einem bestimmten Zeitpunkt, oder dynamisch,102 d.h. auf den Stand des Regelwerks im Zeitpunkt des Beginns der Mediation. Die Wahl einer bestimmten Verfahrensordnung im Voraus hat den Vorteil, im Konfliktfall keine Einigung mehr über den konkreten Verfahrensablauf erzielen zu müssen. Eine entsprechende Klausel könnte lauten: „Die Parteien verpflichten sich, bei Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit und aus diesem Vertrag vor der Einleitung eines (schieds-)gerichtlichen Verfahrens eine Mediation nach den Regeln der Verfahrensordnung der … [Institution] durchzuführen.“

Falls die Parteien sich im Voraus keiner bestehenden Verfahrensordnung unterwerfen wollen, kann der Verfahrensablauf mit beliebiger Detaillierung in der Media­ tionsklausel selbst geregelt werden.103 Auf diese Weise können die Parteien die Mediation ihren konkreten Bedürfnissen oder einer Familientradition entsprechend gestalten. cc) Klagbarkeitsbeschränkung Der Erfolg der Mediation hängt entscheidend davon ab, dass das Mediationsverfahren nicht durch Erhebung einer Klage gestört wird. Regelmäßig wird daher in der Mediationsklausel festgelegt, dass die Anrufung eines Gerichts für die Dauer der Mediation ausgeschlossen sein soll. Insoweit liegt ein Prozessvertrag vor, der einen dilatorischen Klageverzicht (sog. patcum de non petendo) bis zur Beendigung des Media102 Wird ein dynamischer Verweis auf eine Verfahrensordnung vereinbart, gilt stets die aktuelle Fassung. Eine statische Vereinbarung schützt die Parteien vor zukünftigen, nicht absehbaren und beeinflussbaren Regeländerungen der Verfahrensordnung (vgl. hierzu: Friedrich, SchiedsVZ 2007, 31, 32; Ade/Alexander, Mediation und Recht, 3.  Aufl. 2017, S. 103). 103 Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 42; Böttcher/ Laskawy, DB 2004, 1247, 1249.

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tionsverfahrens begründet. Eine während der Mediation erhobene Klage wäre dann als unzulässig abzuweisen.104 Die grundsätzliche Zulässigkeit dieser schlichtungsklauselartigen Abrede wird aufgrund der Dispositionsmaxime im allgemeinen Zivilprozessrecht als wirksam erachtet.105 Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Klagbarkeit vorübergehend ausgeschlossen, wenn die Parteien für den Fall eines Konflikts die Anrufung einer neutralen Schlichtungsstelle vereinbart haben.106 Voraussetzung hierfür soll sein, dass die Parteien eine klare und eindeutige Regelung über eine bindende Entscheidung durch ein Verfahren außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit treffen. Die Zulässigkeit einer solchen schlichtungsklauselartigen Abrede wird u.a. mit dem argumentum a maiore ad minus begründet. Derjenige, der auf ein Recht materiell-rechtlich ver­ zichten kann, muss in der Lage sein, dessen Klagbarkeit auszuschließen oder zu ­beschränken.107 Dieses Argument ist auch auf Mediationsklauseln anwendbar. Anderenfalls könnte jede Partei die vereinbarte Mediationsklausel nach Belieben aus­ hebeln. Dies wäre nicht vom Willen der Parteien gedeckt. Der übereinstimmende und in der Mediationsklausel niedergelegte Wille der Parteien, entstehende Konflikte in einem Mediationsverfahren zu lösen, führt daher zur Unzulässigkeit einer vor oder während der Mediation erhobenen Klage. Auch der Einwand einer Partei, Verhandlungen außerhalb des Mediationsverfahrens hätten zu keiner Konfliktlösung ­geführt, ändert nichts an diesem Ergebnis. Denn trotz des Scheiterns eigener Verhandlungen wird zwischen den Parteien keine Aussage darüber getroffen, dass bei Hinzuziehung eines Mediators die Meinungsverschiedenheiten nicht hätten überwunden werden können.108 Die Vereinbarung eines Klageverzichts verhindert jedoch nicht das Recht der Parteien, die Mediation jederzeit abbrechen zu können (§ 2 Abs. 5 Satz 1 MediationsG).109 Dies ist Ausdruck des Freiwilligkeitsprinzips der Mediation. Die freiwillige Teilnahme ist für eine einvernehmliche Konfliktbeilegung unerlässlich.110 Eine Mediations-

104 Töben, RNotZ 2013, 321, 329; Wagner, NJW 2001, 182, 184; Ulrici in MünchKomm. FamFG, 3. Aufl. 2018, Vbm. zu § 1 MediationsG Rz. 14. 105 Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 41. Aufl. 2020, Vor § 253 ZPO Rz. 33; Greger in Zöller, ZPO, 33. Aufl., Vor § 253 ZPO, Rz. 19b; die Zulässigkeit ist auch im Arbeitsrecht anerkannt, vgl. BAG v. 18.5.1999 – 9 AZR 682/98, NZA 1999, 1350, 1352.  106 BGH v. 23.11.1983 – VIII ZR 197/82, DB 1984, 874 = NJW 1984, 669 f.; BGH v. 18.11.1998 – VIII ZR 344/97, DB 1999, 215 = NJW 1999, 647 f. 107 BGH, NJW 1984, 669 f.; Eidenmüller, Vertrags- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation, 1. Aufl. 2001, S. 14; Töben, RNotZ 2013, 321, 330. 108 Vgl. LG Hamburg v. 1.7.1993 – 334 S 12/93, WuM 1994, 673. 109 In der Mediationsvereinbarung kann das Kündigungsrecht aufgrund der Vertragsfreiheit in gewissem Umfang begrenzt werden. Eine solche Vereinbarung darf das Freiwilligkeitsprinzip aber nicht vollkommen belanglos werden lassen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Kündigung für einen ungerechtfertigt langen Zeitraum ausgeschlossen wird, vgl. Loos/Brewitz, SchiedsVZ 2012, 305, 306 f. 110 Ulrici in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, Anhang 1 zu § 278a, §§ 1-9 Rz. 53.

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vereinbarung kann dazu verpflichten, an einer ersten Mediationssitzung teilzunehmen. Eine Verpflichtung zur Einigung ist indes nicht möglich.111 Neben dem rechtlichen Rahmen, in dem sich das pactum de non petendo bewegt, sollten die Parteien im Weiteren klären, für welchen Zeitraum die Klagbarkeit ihrer Ansprüche ausgeschlossen sein soll. Anfangs- und Endzeitpunkt der Wirksamkeit des pactum de non petendo sollten bestimmt sein. Dies hat auch Bedeutung für die Unterbrechung etwaiger Verjährungsfristen bzw. für den Zeitraum ihrer Hemmung. Zur Vermeidung eines prozessualen Konflikts sollte die Beurteilung dieses Zeitraums transparent gestaltet werden. Der Anfangszeitpunkt der Klagbarkeitsbeschränkung ist regelmäßig im Abschluss der Mediationsklausel selbst zu sehen, denn mit der Einigung auf die Behandlung ihres Konflikts in einem Mediationsverfahren wollen die Parteien zugleich ein Gerichtsverfahren vor der Durchführung des Mediationsverfahrens in dieser Sache ausschließen. Der Endzeitpunkt der Klagbarkeitsbeschränkung wird regelmäßig bei Scheitern des Mediationsverfahrens vorliegen. Ab diesem Zeitpunkt ist die klagbarkeitsbeschränkende Wirkung der Mediationsklausel entfallen und der Weg zur gerichtlichen Auseinandersetzung eröffnet. Wann die Mediation als gescheitert gelten soll, können die Parteien bereits in der Mediationsklausel festlegen. Angesichts dieser Erwägungen bietet sich folgende Formulierung an: „Die Parteien verpflichten sich, bei Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit und aus diesem Vertrag vor der Einleitung eines (schieds-)gerichtlichen Verfahrens eine Media­ tion (kumulativ: nach den Regeln der Verfahrensordnung der … [Institution] durchzuführen. ­Sollte im Rahmen dieses Mediationsverfahrens binnen [angemessene Frist, z. B. 60 Tage] keine Lösung erreicht werden oder beide Parteien übereinstimmend das Mediationsverfahren als gescheitert erklären, ist jede Partei berechtigt, ein (schieds-)gerichtliches Verfahren einzuleiten.“

In der Praxis hat sich gezeigt, dass Streitbeilegungsverfahren auch dann erfolgreich durchgeführt werden können, wenn gleichzeitig ein streitiges Verfahren initiiert oder fortgesetzt wird. Über die Beibehaltung dieser Möglichkeit sollten sich die Parteien bei der Formulierung der Mediationsklausel einig sein. Wollen die Parteien sicherstellen, dass eine Klage jederzeit möglich bleibt, bietet sich zur Mediationsklausel folgende Zusatzregelung an: „Die Durchführung eines Mediationsverfahrens hindert die Parteien nicht daran, ein Gerichtsverfahren einzuleiten oder weiterzuführen.“

dd)  Schutz vor Rechtsverlusten Im Weiteren sollten die Parteien im Rahmen der Gestaltung einer Mediationsklausel klären, inwieweit sie sich daran hindern wollen, gefährdete Rechtspositionen, auf die sich der Streit auswirkt, zu schützen. Hierbei ist die Frage zu erörtern, ob Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes während des Mediationsverfahrens eingeleitet werden können, um während der Mediation die Schaffung von vollendeten Tatsa111 Behme, AnwBl 1/2017, 16, 16; Loos/Brewitz, SchiedsVZ 2012, 305, 306; Serbu, Das deutsche Mediationsgesetz im Europäischen Kontext, Bd. 5, 1. Aufl. 2016, S. 224. 

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chen durch eine Partei zu verhindern. Bedacht werden muss auch, der Gefahr zu begegnen, dass während der Mediation ohne Zutun der Parteien vollendete Tatsachen entstehen können. Selbst wenn die Mediationsklausel einen vorübergehenden Klageverzicht enthält, wird damit keine Aussage darüber getroffen, ob auch die Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes davon erfasst werden. Dies ergibt sich daraus, dass der dilatorische Klageverzicht nur die Klagbarkeit eines Anspruchs, d.h. seine gerichtliche Geltendmachung, betrifft. Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes bleiben unberührt, weil der Streitgegenstand gerade nicht der Anspruch, sondern die Zulässigkeit seiner zwangsweisen Sicherung ist.112 Oftmals wird ein dilatorischer Verzicht nicht dem wirklichen Parteiinteresse entsprechen. Die Parteien sollten hierfür eine ausdrückliche Vereinbarung treffen: „Die Parteien verpflichten sich, bei Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit und aus diesem Vertrag vor der Einleitung eines (schieds-)gerichtlichen Verfahrens eine Mediation (kumulativ: nach den Regeln der Verfahrensordnung der … [Institution] durchzuführen. Diese Vereinbarung hindert keine Partei daran, ein gerichtliches Eilverfahren insbesondere ein Arrest- oder einstweiliges Verfügungsverfahren, durchzuführen.“

Ferner besteht die Möglichkeit, dem Mediator – sofern ein gerichtliches Eilverfahren ausdrücklich während der Durchführung der Mediation zugelassen ist – Befugnisse zur Absicherung gegen drohende Rechtsverluste einzuräumen. Eine entsprechende Klausel könnte folgenden Wortlaut haben: „Der Mediator wird hiermit durch die Parteien ermächtigt, zur vorläufigen Absicherung gegen drohende Rechtsverluste der Parteien ein gerichtliches Eilverfahren, insbesondere ein Arrestoder ein einstweiliges Verfügungsverfahren, anzustrengen.“

Soweit die Parteien neben dem dilatorischen Klageverzicht auf Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes verzichten wollen, ist zu regeln, dass die Parteien sich darauf verständigen, einstweilen keinen Arrest oder keine einstweilige Verfügung zu beantragen (vgl. §§ 916 ff., 935 ff. ZPO). Dabei handelt es sich um einen Prozessvertrag, der durch Erhebung einer Einrede im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geltend gemacht wird. Das hat zur Folge, dass ein Antrag auf Arrest oder einstweilige Verfügung wegen Unzulässigkeit abzuweisen ist.113 Sofern keine mündliche Verhandlung stattfindet (vgl. § 921 Abs. 1, § 937 Abs. 2 ZPO), kann die Einrede in einer Schutzschrift, die zwar gesetzlich nicht vorgesehen, jedoch in der Praxis üblich ist, erhoben werden.114 In diesem Fall könnte folgende Regelung gewählt werden: „Die Parteien verpflichten sich, bei Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit und aus diesem Vertrag vor der Einleitung eines (schieds-)gerichtlichen Verfahrens eine Mediation (kumulativ: nach den Regeln der Verfahrensordnung der … [Institution] durchzuführen. Während und vor der Durchführung der Mediation wird keine Partei ein gerichtliches Eilverfahren, insbesondere ein Arrest- oder einstweiliges Verfügungsverfahren, anstrengen.“

112 Friedrich, Die Konsensvereinbarung im Zivilrecht, 2003, S. 190; Töben, RNotZ 2013, 321, 332. 113 Schlosser, Einverständliches Parteihandeln im Zivilprozess, 1968, S. 72 f. 114 Friedrich, Die Konsensvereinbarung im Zivilrecht, 1. Aufl. 2003, S. 194.

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ee)  Schutz vor Verjährung Während der Mediation ist die Verjährung grundsätzlich gemäß § 203 Satz 1 BGB oder § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB gehemmt. Sowohl die Mediation selbst als auch die Vorgespräche über die Durchführung einer Mediation gelten als Verhandlung im Sinne des § 203 Satz 1 BGB.115 Wurde eine Mediationspflicht vereinbart, genügt bereits die Aufforderung zur Durchführung von Mediationsverhandlungen  – unabhängig von der Reaktion der anderen Partei. Ohne eine solche Vereinbarung kann ebenfalls genügen, dass eine Partei die andere zur Mediation auffordert und diese deutlich macht, eine Durchführung in Erwägung zu ziehen und zu prüfen. In diesem Fall endet die Hemmung mit einer Ablehnung der Mediation.116 Wenn die andere Partei von Beginn an deutlich macht, an dem Verfahren nicht mitwirken zu wollen, tritt in der Regel keine Hemmung ein.117 Wenngleich es keiner speziellen Regelung hinsichtlich des Schutzes vor der Verjährung bedarf, sollte dennoch eine deklaratorische Klarstellung erfolgen. Insbesondere sollte, um einer Rechtsunsicherheit vorzubeugen, Beginn und Ende der Hemmung klar definiert werden. Lehnt eine Partei die Mediation trotz vertraglicher Verpflichtung von vornherein ab oder pausiert die Mediation, können unterschiedliche Rechtsauffassungen und folgende Konflikte durch eine entsprechende Regelung vermieden werden.118 Diese könnte in Anlehnung an Töben119 wie folgt lauten: „Während der Dauer des Mediationsverfahrens ist die Verjährung der zwischen den Parteien bestehenden Ansprüche, die Gegenstand des Mediationsverfahrens sind, gehemmt. Die vertraglich vereinbarte Hemmung beginnt mit Zugang des Mediationsantrags und endet mit Ablauf eines Monats, nachdem das Scheitern der Mediation erklärt wurde. Im Falle des Verhandlungsstillstands endet die vertraglich vereinbarte Hemmung der Verjährung sechs Monate nach Ablauf des Kalendermonats, in dem die letzte Verfahrenshandlung der Beteiligten, des Mediators oder der sonst mit dem Verfahren befassten Stelle erfolgte.“

ff)  Behandlung von Ausschlussfristen Im Rahmen der Vereinbarung eines zeitlich festgelegten pactum de non petendo sollten die Parteien eine Regelung bezüglich vertraglicher und prozessualer Ausschlussfristen aufnehmen. Die durch den Ablauf einer Ausschlussfrist erzeugte Rechtsfolge ist für beide Parteien wesentlich einschneidender als die Versäumung der Verjährungsfrist. Im Unterschied zur Verjährungsfrist führt der Ablauf der Ausschlussfrist zum Erlöschen des Anspruches, sofern er nicht vorher geltend gemacht wurde. Die Verjährung gibt dem Schuldner dagegen nur ein auf seine Einrede hin zu beachten-

115 Hund-von Hagen in Formularbuch Recht und Steuern, 9. Aufl. 2019, A 13.10 Rz. 5. 116 Grothe in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 203 BGB Rz. 5; Hund-von Hagen in Formularbuch Recht und Steuern, 9. Aufl. 2019, A 13.10 Rz. 5. 117 Thiery in Roquette/Schweiger (Hrsg.), Vertragsbuch privates Baurecht, 3. Aufl. 2020, V. Mediationsklauseln Rz. 67. 118 Töben, RNotZ 2013, 321, 331. 119 Töben, RNotZ 2013, 321, 332.

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des dauerndes Leistungsverweigerungsrecht. Diese unterschiedlichen Rechtswirkungen haben prozessuale Konsequenzen.120 Aufgrund ihrer materiell-rechtlichen Wirkung dienen Ausschlussfristen in erster Linie der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit und erst in zweiter Linie dem Schuldnerschutz. Daher sind die Ausschlussfristen grundsätzlich strikt von den Verjährungsregeln zu trennen. Die zur Hemmung und Unterbrechung der Verjährung geltenden Vorschriften können nicht auf Ausschlussfristen übertragen werden. Der Lauf von Ausschlussfristen während eines Mediationsverfahrens kann daher nicht durch das pactum de non petendo gehemmt werden.121 Dennoch besteht die Möglichkeit, dem Hinweis auf den Ablauf einer Ausschlussfrist den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung aus § 242 BGB entgegenzuhalten.122 Allerdings sollten die Parteien sich bereits im Rahmen der Mediationsklausel hierüber wie folgt verständigen: „Die Parteien sind sich darüber einig, dass die Berufung auf einen durch den Ablauf einer Ausschlussfrist bedingten Rechtsverlust rechtsmissbräuchlich und somit nach § 242 BGB unzulässig ist.“

Alternativ hierzu können die Parteien in der Mediationsklausel vorsehen, dass die Klage zur Wahrung der Ausschlussfrist ausdrücklich zugelassen wird und sich die Parteien zur Stellung eines Antrages auf Ruhen des Verfahrens verpflichten (§§ 251, 495 ZPO). Eine entsprechende Regelung könnte in Anlehnung an Lembke123 wie folgt lauten: „Für die Dauer des Mediationsverfahrens verzichten die Parteien auf die Erhebung einer Klage und verpflichten sich deshalb, nur zur Wahrung von Ausschlussfristen und gesetzlichen Klagefristen Klage zu erheben und vor Gericht unverzüglich das Ruhen des Verfahrens (§ 251 ZPO) zu beantragen.“

gg)  Festlegung des Mediators Sofern die Parteien sich auf die bestehende Verfahrensordnung einer Institution geeinigt haben, wird darin häufig auch das Verfahren zur Festlegung des Mediators geregelt oder Mediatoren von der Institution vorgeschlagen. Aufgrund der bereits vorhandenen großen Anzahl ausgebildeter und teilweise auf verschiedene Rechtsgebiete spezialisierter Mediatoren sollte es den Parteien nicht schwer fallen, einen geeigneten Mediator aus einem entsprechenden Verzeichnis auszuwählen.124 Hierzu könnte folgende Regelung gewählt werden: 120 Z.B. kann eine in Unkenntnis der Verjährung erbrachte Leistung nicht zurückgefordert werden (§ 214 Abs. 2 BGB); die nach Ablauf einer Ausschlussfrist erbrachte Leistung erfolgt hingegen rechtsgrundlos und kann grundsätzlich nach den Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung (§§ 812 ff. BGB) zurückgefordert werden. 121 Vgl. Hacke, Der ADR-Vertrag, 2002, S. 139 f. 122 Vgl. hierzu ausführlich Hacke, Der ADR-Vertrag, 2002, S. 141. 123 Lembke, Mediation im Arbeitsrecht, 2001, S. 170 Rz. 306. 124 Die Geeignetheit eines Mediators wird sich an der Fach- und Sozialkompetenz ausmachen lassen. Beispielsweise kann bei Vertragsstreitigkeiten aus einem Software-Vertrag ein ITSpezialist als Mediator benannt werden.

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Dirk Helge Laskawy und Friedrich Vosberg „Die Parteien verpflichten sich, bei Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit und aus diesem Vertrag vor der Einleitung eines (schieds-)gerichtlichen Verfahrens eine Mediation durchzuführen. Die Parteien einigen sich bereits heute darauf, dass … zum Mediator berufen werden soll. Ist der Mediator zur Durchführung nicht bereit oder verhindert, so wird … zum Mediator berufen. Sollte keiner der benannten Mediatoren zur Verfügung stehen und können sich die Parteien nicht auf einen anderen Mediator einigen, wird auf Antrag einer Partei die … [Institution] einen geeigneten Mediator bestimmen.“

Wollen die Parteien sich jedoch erst zum Zeitpunkt des eingetretenen Konflikts auf einen Mediator einigen, sollten sie sich bei der Klauselgestaltung auf ein geeignetes Auswahlverfahren verständigen; eine entsprechende Klausel könnte wie folgt lauten: „Die Parteien verpflichten sich, bei Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit und aus diesem Vertrag vor der Einleitung eines (schieds-)gerichtlichen Verfahrens eine Mediation durchzuführen. Die Parteien werden sich innerhalb einer Frist von 21 Tagen auf einen ge­ eigneten Mediator einigen. Erzielen die Parteien innerhalb dieser Frist keine Einigung, wird auf Antrag einer Partei die … [Institution] eine Liste mit (z.B. mindestens fünf) geeigneten Mediatoren zur Verfügung stellen, aus denen die Parteien innerhalb einer weiteren Frist von 14  Tagen einvernehmlich einen Mediator wählen. Kann auf diese Weise kein Mediator bestimmt werden, wird auf Antrag einer Partei die … [Institution] einen Mediator festlegen.“

hh)  Mehrstufige Klauseln – „multistep clauses“ Eine dreistufige Klausel, welche nach Scheitern der Verhandlungen und der anschließenden Mediation ein Verfahren vor einem ordentlichen Gericht oder einem Schiedsgericht vorsieht, könnte beispielsweise in Anlehnung an Lenz/Müller125 wie folgt lauten: „Ist eine Meinungsverschiedenheit im Zusammenhang mit diesem Vertrag nicht innerhalb von … (60) Tagen nach der ersten Mitteilung im Wege der Verhandlung beigelegt oder finden sich die Parteien nicht innerhalb von … (30) Tagen nach Unterbreitung eines Verhandlungsangebotes durch eine Partei zusammen, verpflichten sich die Parteien, vor der Einleitung eines (schieds-) gerichtlichen Verfahrens eine Mediation durchzuführen.“

Damit können mehrere Konfliktlösungsverfahren nacheinander angewendet werden, wenn nicht auf der vorangehenden Stufe eine Lösung erzielt wurde.126 Die Kombination aus Verhandlung, Mediation und Schiedsgerichtsverfahren bietet sich an, wenn die Parteien auf ein Schiedsgerichtsverfahren nicht verzichten wollen.127 Mediativ versuchen die Parteien auf diese Weise zunächst eine gütliche Einigung mit vergleichsweise geringem Aufwand an Zeit und Geld herbeizuführen, bevor ein wesentlich aufwendigeres Schiedsverfahren bei Nichterfolg der Mediation unmittelbar eingeleitet wird.

125 Lenz/Müller, Businessmediation. Einigung ohne Gericht, 1999, S. 327. 126 Vgl. CPR Institute for Dispute Resolution, Dispute Resolution Clauses for Business Contracts in Europe, S. 6. 127 Sog. Med-arb-Verfahren.

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ii)  Zusammenfassung der Bestimmungen Die vorgeschlagenen Formulierungen spiegeln nur einen Ausschnitt möglicher ­Optionen eines Weges in die Mediation wider. Die Parteien sind aufgrund ihrer Privatautonomie frei. Sie sollten jedoch die aufgezeigten Problemkreise beim Abfassen der Mediationsklauseln in ihre Überlegungen einbeziehen. Trotz der Formulierungs­ hilfen muss bei der Ausgestaltung von Mediationsklauseln immer auf deren individuellen Zuschnitt geachtet werden. Es liegt im Interesse der Parteien, sich bereits im Rahmen der Vertragsverhandlungen darüber zu verständigen, ob und wie in einem eventuellen Konfliktfall eine außergerichtliche Streitbeilegung durchzuführen ist. Eine die vorgenannten Problemkreise berücksichtigende Regelung könnte insgesamt wie folgt lauten: 1. Ist eine Meinungsverschiedenheit im Zusammenhang mit diesem Vertrag nicht innerhalb von 60 Tagen nach der ersten Mitteilung im Wege der Verhandlung beigelegt oder finden sich die Parteien nicht innerhalb von 30 Tagen nach Unterbreitung eines Verhandlungsangebots durch eine Partei zusammen, verpflichten die Parteien sich, vor Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens eine Mediation durchzuführen. Jede Partei kann einen Rechtsanwalt hinzuziehen. 2. Die Parteien werden sich innerhalb einer Frist von 21 Tagen auf einen geeigneten Mediator einigen. Erzielen die Parteien innerhalb dieser Frist keine Einigung, wird auf Antrag einer Partei die IHK eine Liste mit zehn geeigneten Mediatoren zur Verfügung stellen, aus denen die Parteien innerhalb einer weiteren Frist von 14 Tagen einvernehmlich einen Mediator wählen. Kann auf diese Weise kein Mediator bestimmt werden, wird auf Antrag einer Partei die IHK einen Mediator festlegen. 3. Sollte im Rahmen des Mediationsverfahrens binnen 30 Tagen keine Konfliktlösung erreicht werden oder beide Parteien übereinstimmend das Mediationsverfahren als gescheitert erklären, ist jede Partei berechtigt, ein gerichtliches Verfahren einzuleiten. 4. Diese Vereinbarung hindert keine Partei daran, ein gerichtliches Eilverfahren, insbesondere ein Arrest- oder einstweiliges Verfügungsverfahren, durchzuführen. 5. Während der Dauer des Mediationsverfahrens ist die Verjährung der zwischen den Parteien bestehenden Ansprüche, die Gegenstand des Mediationsverfahrens sind, gehemmt. Die vertraglich vereinbarte Hemmung beginnt mit Zugang des Mediationsantrags und endet mit Ablauf des Monats, indem das Scheitern der Mediation erklärt wurde. Die Parteien sind sich darüber einig, dass die Berufung auf einen durch eine Ausschlussfrist bedingten Rechtsverlust rechtsmissbräuchlich und somit nach § 242 BGB unzulässig ist.

c) Mediationsklauseln in einzelnen Vertragstypen aa)  Gesellschaftsverträge für Unternehmerfamilien Sollen Mediationen im Rahmen von Gesellschaftsverträgen zum Tragen kommen, ist zunächst zu unterscheiden, um welche Rechtsform es sich handelt und wie groß das Unternehmen ist.

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Dirk Helge Laskawy und Friedrich Vosberg

(1) Beschlussmängel Bei Beschlussmängeln innerhalb einer familiengeführten GmbH, die auf interne Streitigkeiten zurückzuführen sind, ist eine Mediation, deren Kosten von der Gesellschaft getragen wird und die eine einvernehmliche Lösung anstrebt, eine zielführende Variante, um solche Mängel zu heilen.128 Voraussetzung dafür ist, dass alle Gesellschafter an der Mediation beteiligt sind, sodass diese Variante eher für kleinere Gesellschaften in Frage kommt.129 (2) Fristversäumnisse Sind Beschlüsse anfechtbar, drohen Rechtsverluste bei Fristversäumnissen. Nur in wenigen Gesellschaftsformen führt eine Mediation dazu, dass die gesellschaftsrechtlichen Anfechtungsfristen unterbrochen werden. Nicht möglich ist dies bspw. in Aktiengesellschaften, vgl. §  246 Abs.  1, §  23 Abs.  5 AktG. Einzig in Betracht kommt dann die Erhebung einer Anfechtungsklage neben der Durchführung der Mediation.130 Während dieser Zeit kann das Ruhen des Gerichtsverfahrens gemäß §  278a ZPO oder § 251 ZPO angeordnet werden.131 In Satzungen von GmbH hingegen kann die Anfechtungsfrist z.B. auf drei Monate angepasst werden.132 Eine solche Klausel könnte folgendermaßen lauten: „Für die Dauer eines Mediationsverfahrens ist die Frist zur Erhebung einer Anfechtungsklage [Verweis auf den entsprechenden Paragraphen der Satzung] gehemmt. Die Hemmung beginnt mit Eingang des Antrags auf Durchführung einer Mediation bei den übrigen Gesellschaftern und endet mit der förmlichen Beendigung der Mediation, oder, wenn seit Eingang des Antrags zwei Monate verstrichen sind, ohne dass es zu einer gemeinsamen Mediationssitzung gekommen ist. Ausgenommen der jederzeit zulässigen Klagen nach §§  14, 195 UmwG darf der Rechtsweg erst nach Durchführung einer Mediation mit allen Gesellschaftern oder zwei Monate nach Zugang des Mediationsantrages oder, wenn trotz mindestens zwei Versuchen eine Mediationssitzung mit allen Gesellschaftern nicht zustande gekommen ist, bestritten werden. Die Kosten der Mediation trägt die Gesellschaft.“133

(3)  Ausscheiden von Gesellschaftern Das Ausscheiden eines Gesellschafters führt gemäß § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB zu einer Zahlungsverpflichtung der Gesellschaft. Streitigkeiten über eine Abfindung aufgrund des Ausschlusses eines Gesellschafters lassen sich durch die Mediation gegebenen-

128 Töben, RNotZ 2013, 321, 335; Dendorfer/Krebs, MittBayNot 2008, 85, 91. 129 Töben, RNotZ 2013, 321, 335. 130 Dendorfer/Krebs, Konfliktlösung durch Mediation bei Gesellschafterstreitigkeiten, MittBayNot 2008, 85, 91. 131 Töben, RNotZ 2013, 321, 335. 132 Töben, RNotZ 2013, 334, 335; Leinekugel in BeckOK GmbHG, 45.  Edition 2020, Beschlussanfechtung Rz. 183. 133 Töben, RNotZ 2013, 321, 336.

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falls ressourcenschonend beilegen und etwaige Liquiditätsprobleme der Gesellschaft so vermeiden.134 bb)  Dienstverträge mit Familienmitgliedern (1) Motive In Familienunternehmen, in denen die Weiterführung einer Tradition hohen Stellenwert hat, liegt es nahe, (geeignete) Familienmitglieder mittels schuldrechtlichen Vertrages in das Unternehmen aufzunehmen.135 Dies kann neben dem rein emotional geprägten Aspekt, dass ein Unternehmen in Familienhand bleiben soll, auch steuerliche Vorteile sowie die Gewährung zusätzlicher Freibeträge oder einer Progressionsmilderung durch eine Verteilung des Einkommens auf mehrere Personen bieten.136 (2)  Als Angestellte in Arbeitsverhältnissen Bei Verträgen mit Familienmitgliedern, die ihnen eine Position als Angestellte im Unternehmen verschaffen sollen, ist darauf zu achten, dass der Arbeitsvertrag keine Vorteile gegenüber solchen mit familienfremden Mitarbeitern birgt, sondern inhaltlich mit diesen übereinstimmt. Der Arbeitsvertrag muss auch tatsächlich durchgeführt und zivilrechtlich wirksam sein.137 Außerdem sollte der Vertrag aus Beweisgründen schriftlich geschlossen werden. Vor allem, wenn ein Ehegatte angestellt wird, muss als Gehaltskonto ein eigenes angegeben werden; zulässig ist dabei auch ein ­gemeinsames Konto, über das aber beide jeweils allein verfügen können („Oder-Konto“138). Dringend zu beachten ist, dass keine Bevorteilung stattfinden darf. Der Arbeitsvertrag muss eine Tätigkeit zum Inhalt haben, die ein Dritter ebenfalls durch­ führen könnte.139 Handelt es sich bei dem Unternehmen um eine Kapitalgesellschaft, sind verdeckte Gewinnausschüttungen zu vermeiden. Solche liegen beispielsweise dann vor, wenn einer den Gesellschaftern nahestehenden Person ein finanzieller Vorteil eingeräumt wird, einem Dritten hingegen nicht.140

134 Dendorfer/Krebs, MittBayNot 2008, 85, 92; Oertzen/Hannes, ZEV 2004, 388, 389. 135 Jacobs/Scheffler/Spengel, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform, 5. Aufl. 2015, Zweiter Teil, S. 368. 136 IHK Frankfurt am Main, abrufbar unter: https://www.frankfurt-main.ihk.de/recht/muster​ vertrag/arbeitsvertrag_familie/, zuletzt aufgerufen am 30.10.2020. 137 Jacobs/Scheffler/Spengel, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform, 5. Aufl. 2015, Zweiter Teil, S. 369 f. 138 BVerfG v. 7. 11.1995 – 2 BvR 802/90; FG Nürnberg: Einzahlung auf Oder-Konto als freigebige Zuwendung an Ehegatten, DStrE 2011, 690; Herresthal in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2019, A. Das Giroverhältnis, Rz. 252. 139 IHK Frankfurt am Main, abrufbar unter: https://www.frankfurt-main.ihk.de/recht/muster​ vertrag/arbeitsvertrag_familie/, zuletzt aufgerufen am 30.10.2020. 140 Jacobs/Scheffler/Spengel, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform, 5. Aufl. 2015, Zweiter Teil, S. 370 f.

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Dirk Helge Laskawy und Friedrich Vosberg

(3)  In leitenden Positionen Sollten Familienangehörige Führungspositionen einnehmen, ist, um den Vorwürfen der „Vetternwirtschaft“ zu entgehen, darauf zu achten, dass diese dennoch nach objektiven Kriterien für die Stelle geeignet sind und sich auch in einem nicht-familiengeleiteten Unternehmen durchgesetzt hätten. Das Bewerbungs- und Auswahlver­ fahren muss identisch zu allen anderen Bewerbern sein. Zudem kommt es auf die Stellung des Familienmitglieds an. Soll eine Beteiligung z.B. als Kommanditist einer KG erfolgen, muss das Familienmitglied die Voraussetzungen des Mitunternehmers erfüllen. Als solcher wird man behandelt, wenn der Gesellschaftsvertrag ernsthaft gewollt, also zivilrechtlich wirksam ist, die gesellschaftlichen Vereinbarungen eindeutig sind, das Familienmitglied die Rechte eines Kommanditisten nach dem HGB erfährt und die tatsächliche Durchführung des Gesellschaftsvertrages mit seiner formellen Gestaltung übereinstimmt.141 Entsprechende Vorgaben sind bezüglich des Regelstatutes des GmbH-Gesetzes einzuhalten, falls eine Beteiligung an einer GmbH stattfinden soll.142 Der Gesellschaftsvertrag bedarf wie auch sonst der notariellen oder gerichtlichen Beurkundung.143 cc)  Erbverträge und Testamente (1)  Optionen für den Erblasser Das Testament als letztwillige Verfügung kann bereits bestehende Konflikte endgültig zum Eskalieren bringen, indem beispielsweise in Patchwork-Familien eine ungleiche Verteilung vorgesehen ist, ein Pflichtteilsberechtigter völlig übergangen wird oder eine unzumutbare Bindungswirkung von Testament oder Erbvertrag ausgeht.144 Wird jedoch von vornherein eine Mediationsklausel vorgesehen, kann die teure und nervenaufreibende Klärung vor Gericht noch umgangen werden.145 Dies fordert jedoch eine gewisse Weitsicht und Empathie des Erblassers, um schon vor seinem Tod voraussehen zu können, dass sein Testament Konfliktpotenzial birgt. Ihm stehen dabei vielfältige Optionen offen. Er kann eine Auflage einfügen, §§ 1940, 2192 ff. BGB. Eine mögliche Formulierung ist: „Im Falle von Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit und aus diesem Testament/Erbvertrag sind die Erben angehalten, vor einer Teilungsversteigerung/Erbauseinandersetzung/gerichtlichen Durchsetzung dieses Vermächtnisses ein Mediationsverfahren durchzuführen.“

Zu beachten ist die Vorschrift des § 2065 BGB, wonach die Bestimmungen über die Geltung der letztwilligen Verfügung sowie darüber, wer was aus dieser Verfügung erhalten soll, keinem Dritten, also auch nicht dem Mediator oder Testamentsvollstre141 Jacobs/Scheffler/Spengel, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform, 5. Aufl. 2015, Zweiter Teil, S. 357. 142 Jacobs/Scheffler/Spengel, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform, 5. Aufl. 2015, Zweiter Teil, S. 360. 143 § 2 Abs. 1, § 15 Abs. 3 GmbHG. 144 Töben, RNotZ 2013, 321, 333. 145 Töben, RNotZ 2013, 321, 333.

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cker, überlassen werden darf.146 Die Bedingung, vor gerichtlicher Geltendmachung einer Erbeinsetzung oder eines Vermächtnisses eine Mediation durchzuführen (§§ 2074, 2177 ff. BGB), ist allerdings nicht empfehlenswert, da damit ein endgültiger Rechtsverlust bei Nichteinhaltung droht, der gerade nicht dem Sinn und Zweck der Mediationsklauseln entspricht.147 In der Folge eines Erst-Recht-Schlusses soll es dem Erblasser indes möglich sein, eine Klagbarkeitsbeschränkung für den jeweiligen Beschwerten einer erbrechtlichen Anordnung vorzunehmen: Wenn die Parteien gemäß § 397 BGB gemeinsam einen Anspruch aufheben können, dann müssen sie erst recht Beschränkungen vereinbaren können.148 Da Begünstigungen allein durch den Erblasser erfolgen können, muss im Umkehrschluss eine Begünstigung mit eingeschränkter Klagbarkeit möglich sein.149 Die Formulierung einer solchen Klagbarkeitsbeschränkung könnte wie folgt lauten: „Streitigkeiten im Zusammenhang mit und aus diesem Testament/Erbvertrag sollen die davon Bedachten durch ein Mediationsverfahren beilegen. Sind seit der Zusendung des Mediationsantrages drei Monate vergangen oder ist auch nach mindestens zwei Versuchen eine Media­ tionssitzung nicht zustande gekommen oder eine Mediationssitzung gescheitert, ist das Beschreiten des Rechtsweges zulässig.“

(2) Pflichtteilsberechtigte Mediationsklauseln in Testamenten und letztwilligen Verfügungen können Erben, Vermächtnisnehmer und auch Testamentsvollstrecker verpflichten. Streitig ist, ob Pflichtteilsberechtigte bei der Geltendmachung des Pflichtteils durch letztwillige Verfügung auf ein Mediationsverfahren verwiesen werden können.150 Nach herrschender Meinung sind solche Verfügungen jedenfalls für den Pflichtteilsberechtigten nicht bindend.151 Weniger – auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht – als das klagbare Recht auf den Pflichtteil am Nachlass kann der Erblasser einem Pflichtteilsberechtigten nicht hinterlassen. Der Testator kann allerdings dem Pflichtteilsberechtigten einen dem Pflichtteil entsprechenden Geldbetrag als Vermächtnis zuwenden.152 Mit einem solchen Vermächtnis muss nicht zwingend der Erbe belastet werden; auch ein anderer Vermächtnisnehmer kann damit beschwert werden. Dieses Vermächtnis könnte einer Klagbarkeitsbeschränkung unterliegen, die vorgibt, dass vor einer Klageerhebung eine Mediation durchzuführen ist. Dies würde gemäß § 2307 BGB den Pflichtteilsanspruch ausschließen.153 Der Pflichtteilsberechtigte kann ein solches Vermächtnis allerdings ausschlagen, was keiner zeitlichen Befristung unterliegt.154 Sollte schon von vornherein absehbar sein, dass es zwischen im Testament benannten Er146 Töben, RNotZ 2013, 321, 333. 147 Töben, RNotZ 2013, 321, 333. 148 BGH v. 23.11.1983 – VIII ZR 197/82, NJW 1984, 669; Töben, RNotZ 2013, 321, 334. 149 Töben, RNotZ 2013, 321, 334. 150 Töben, RNotZ 2013, 321, 334. 151 Töben, RNotZ 2013, 321, 334 152 Töben, RNotZ 2012, 321, 334. 153 Töben, RNotZ 2012, 321, 334. 154 Lange in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 2307 BGB Rz. 13.

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Dirk Helge Laskawy und Friedrich Vosberg

ben und den Pflichtteilsberechtigten zu Spannungen kommen wird, kann von vornherein ein Anreiz für eine Mediation gesetzt werden. Danach sollten die Kosten der Mediation auf den Nachlass angerechnet werden und dem Pflichtteilsberechtigten ein derartiges Vermächtnis zugeteilt werden, das ihn von den Kosten des Mediationsverfahrens freistellt.155 Dies kann zum Beispiel dadurch erfolgen, dass auf ein Geldvermächtnis eine Mediationsklausel folgt, die dem Berechtigten die Optionen offenhält, ob er das Vermächtnis annimmt oder erst den Nachlasswert ermittelt.156 „Ich vermache [dem Pflichtteilsberechtigten] einen Geldbetrag in Höhe von € … [Betrag]. Bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit und aus diesem Testament sollen die davon Bedachten vor Bestreiten des Rechtsweges ein Mediationsverfahren durchführen. Die Kosten dieses Verfahrens trägt der Nachlass.“

(3) Pflichtteilsverzichtvertrag Es kann vorkommen, dass der Erblasser den Pflichtteilsberechtigten ausschließen will. Dann sollte zunächst in einem Gespräch das Anliegen dargelegt werden. Dabei muss auf die Folgen des Verzichts eingegangen und darüber aufgeklärt werden. Kommt es zu einer Einigung, erfolgt die Erklärung des Verzichts dem Erblasser oder dem Erben gegenüber. Daraufhin wird der Anspruch aufgehoben. Zu beachten ist, dass ein solcher Verzichtsvertrag der notariellen Beurkundung bedarf, § 311b Abs. 5 BGB. Gegebenenfalls kann der Pflichtteilsberechtigte auch mittels einer Abfindung aus dem Erbe ausbezahlt werden. Ein solcher Verzicht unterliegt aber dennoch der allgemeinen Wirksamkeitskontrolle gemäß § 138 Abs. 1 BGB.157

V. Zusammenfassung Die erhoffte Revolution, die sich durch die Etablierung der Mediation im deutschen Recht ergeben sollte, ist bisher eher ausgeblieben. Mediation ist allerdings ein geeignetes (und nach wie vor unterschätztes) Mittel zur Konfliktvermeidung und -bewältigung. Sie kann insbesondere bei Familienunternehmen in solchen Streitigkeiten intervenieren, die aufgrund ihrer emotionalen Ursprünge die Unternehmensführung belasten oder sich in negativer Weise auf das Unternehmen als Familienvermögen auswirken. Darüber hinaus ergibt sich aus einer erfolgreichen Mediation der nachhaltige Nebeneffekt, dass die Familie als Unternehmer und das Unternehmen als Familienvermögen erhalten werden können. Zu raten ist deshalb, bereits vorab in den Gesellschaftsverträgen entsprechende Mediationsklauseln zu vereinbaren, mithilfe derer die Mediation als Brücke über den Konflikt hinweghelfen kann. So kann schon vor Ausbruch von Streit der Grundstein für eine aussöhnende Konfliktlösung gesetzt werden. 155 Töben, RNotZ 2013, 321, 334. 156 Töben, RNotZ 2013, 321, 334. 157 Reetz in BeckOGK BGB, Stand 1.11.2020, § 1408 BGB Rz. 119.

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben – Theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung in der Genossenschaft Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Geschäftsanteil und Geschäftsguthaben 1. Geschäftsanteil 2. Geschäftsguthaben I II. Abschreibung von Geschäftsguthaben 1. Mechanismus 2. Wirkungen 3. Wiederherstellung der „Parität“ a) Aktive und passive Wiederauffüllung b) Herabsetzung des Geschäftsanteils IV. „Übertragung“ der Mitgliedschaft 1. Unübertragbarkeit der Geschäftsanteile 2. Übertragbarkeit von Geschäftsguthaben 3. Wirkungen beim Veräußerer und beim Erwerber

V. Zusammenführung der Themen „­Guthabenabschreibung“ und „Guthaben­übertragung“ 1. Guthabenübertragung nach Guthabenabschreibung 2. Guthabenübertragung vor Guthaben­ abschreibung a) Grundproblematik und Frage­ stellungen b) Komplette Guthabenübertragung auf Neumitglied c) Teilweise Guthabenübertragung auf Neumitglied d) Komplette Guthabenübertragung auf Bestandsmitglied e) Teilweise Guthabenübertragung auf Bestandsmitglied VI. Verhältnis zwischen Veräußerer und ­Erwerber

I. Einleitung Die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft zeichnet sich durch verschiedene Besonderheiten im Verhältnis zu derjenigen in anderen Gesellschaftsformen aus. Typisiert ist man Inhaber eines Gesellschaftsanteils, eines Geschäftsanteils oder einer oder mehrerer Aktien („Anteile“), und die Inhaberschaft der Anteile, die man hält, bestimmt, besondere Gestaltungen einmal außen vor, dann auch im Verhältnis zu dem, wie viele Anteile die (weiteren) Mitgesellschafter innehaben, über welche Stimmrechte man verfügt und in welchem Umfang man am Gewinn (und widrigenfalls am Verlust) beteiligt ist. In der Genossenschaft hat demgegenüber jedes Mitglied – egal, wie viele Geschäftsanteile es hält, und egal, wie hoch sein Geschäftsguthaben ausfällt  – immer genau und nur: ein Stimmrecht. Während man beispielsweise durch den Erwerb einer zweiten Aktie seine Gewinnbeteiligung um 100% erhöht, hat der Erwerb von Geschäftsanteilen an einer Genossenschaft nicht denselben Effekt. Denn die Gewinnbeteiligung richtet sich nicht danach, mit wie vielen Geschäftsanteilen sich ein Mitglied an 271

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der Genossenschaft beteiligt hat, sondern danach, wie hoch sein (einheitliches) Geschäftsguthaben zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt „gerade (im Sinne von: jeweils ak­tuell)“ ist. Für die Gewinnbeteiligung ist das Geschäftsguthaben also die entscheidende Größe. Die Höhe des Geschäftsguthabens ist dabei von verschiedenen Faktoren abhängig, so beispielsweise davon, was das Mitglied darauf (schon) eingezahlt hat, und was durch Gewinnzuschreibungen an Auffüllungen stattgefunden hat. Ein weiterer Faktor ist die Abschreibung von Geschäftsguthaben zur Verarbeitung von Verlusten. Was dabei auf den ersten Blick scheinbar einfach aussieht („die Verlustverteilung geschieht durch die Abschreibung von Verlust der zum Schluss des vorhergegangenen Geschäftsjahres ermittelten Geschäftsguthaben“), bereitet in der Praxis durchaus erhebliches rechtliches und mathematisches Kopfzerbrechen. Eine einheitliche Lösung der nachstehend beschriebenen Probleme gibt es, soweit ersichtlich, nicht. Sie sollen in diesem Beitrag unter Einbezug bekannter Mechanismen beleuchtet und sinnvollen Ergebnissen zugeführt werden.

II. Geschäftsanteil und Geschäftsguthaben 1. Geschäftsanteil Unter dem Geschäftsanteil versteht man herkömmlich eine – in der Satzung festzulegende – abstrakte Beteiligungsgröße, die den Höchstbetrag einer Einlage bezeichnet.1 Ein Mitglied darf mehrere Geschäftsanteile haben2, §  7a GenG, §  67 b GenG bestimmt, dass ein Mitglied, das mit mehreren Geschäftsanteilen beteiligt ist, die Beteiligung mit einem oder mehreren seiner weiteren Geschäftsanteile (zum Schluss eines Geschäftsjahres) kündigen kann. Der Geschäftsanteil ist von dem Geschäftsguthaben streng zu trennen.3 Der Umstand, dass der Geschäftsanteil nur eine abstrakte Größe bezeichnet, bedingt zudem, dass er in der Bilanz der Genossenschaft nicht ausgewiesen wird.4 Es handelt sich um eine satzungsmäßig fixierte gleichbleibende Größe.5 Er ist für alle Mitglieder gleich.6 Zur Erlangung der Mitgliedschaft einer Genossenschaft bedarf es einer bilateralen Verständigung zwischen Genossenschaft und (künftigem) Mitglied. Eine Übertragung zwischen Mitgliedern scheidet, wie vorbeschrieben, aus. 2. Geschäftsguthaben Das Geschäftsguthaben spiegelt demgegenüber als (bilanzielles) Eigenkapital die tatsächliche Höhe der finanziellen Beteiligung der Mitglieder an der Genossenschaft 1 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, 39. Aufl. 2018, § 7 Rz. 2. 2 Althanns in Althanns/Buth/Leißl, Genossenschafts-Handbuch, § 7 Rz. 1. 3 Keßler in BerlKomm. GenG, 3. Aufl. 2019, § 7 Rz. 17. 4 Althanns in Althanns/Buth/Leißl, Genossenschafts-Handbuch, § 7 Rz. 2. 5 Keßler in BerlKomm. GenG, 3. Aufl. 2019, § 7 Rz. 17. 6 RGZ 64, 193.

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben

wider.7 Es ist eine variable Größe8 und unterscheidet sich insoweit vom festen Grundkapital bei Kapitalgesellschaften. Diese variable Größe bildet den Betrag ab, der tatsächlich auf den einzelnen Geschäftsanteil (respektive insgesamt auf die Geschäftsanteile) eines Mitglieds eingezahlt ist, wobei die konkrete Höhe sich aus unmittelbaren Einzahlungen des Mitglieds, aus Gutschriften aus Gewinnanteilen und Rückvergütungen speisen kann, gegebenenfalls gemindert um Verlustzuweisungen9, wie nachstehend unter Ziffer III. beschrieben. Das Geschäftsguthaben ist nach oben durch die Höhe des Geschäftsanteils, multipliziert mit der Anzahl der Geschäftsanteile beschränkt10, entsprechend sind darüber hinausreichende Teile als Darlehen des Mitglieds an die Genossenschaft zu verstehen. Das Geschäftsguthaben eines Mitglieds darf diesem, solange es nicht ausgeschieden ist, nicht ausgezahlt werden oder im geschäftlichen Betrieb zum Pfand genommen werden, §  22 Abs.  4 Satz 1 GenG. Ebenso darf die Genossenschaft dem einzelnen Mitglied keinen Kredit zum Zweck der Einlageleistung gewähren, § 22 Abs. 4 Satz 2 GenG. Die Höhe des Geschäftsanteils ist entscheidend dafür, inwieweit ein Gewinn oder ein Verlust auf das jeweilige Mitglied entfällt.

III. Abschreibung von Geschäftsguthaben § 19 Abs. 1 Satz 1 GenG bestimmt, dass der bei Feststellung des Jahresabschlusses für die Mitglieder sich ergebende Gewinn oder Verlust des Geschäftsjahres auf diese zu verteilen ist. Verteilungsfähiger Gewinn ist dabei der Jahresüberschuss zuzüglich eines etwa bestehenden Gewinnvortrags aus dem Vorjahr, zuzüglich der Auflösung von Rücklagen und abzüglich eines etwaigen Verlustvortrags aus dem Vorjahr. (Bilanz)Verlust ist der Jahresfehlbetrag zuzüglich eines etwa bestehenden Verlustvortrags aus dem Vorjahr, abzüglich eines etwa bestehenden Gewinnvortrags aus dem Vorjahr und abzüglich etwa erfolgter Auflösung von Rücklagen.11 Der Umgang mit einem Jahresfehlbetrag muss nicht zwingend durch die Abschreibung von Geschäftsguthaben gelöst werden. Im Kern gibt es die Möglichkeiten des Vortrags auf neue Rechnung (Verlustvortrag), der Auflösung anderer Ergebnisrücklagen, der Auflösung der gesetzlichen Rücklage und eben der Abschreibung von Geschäftsguthaben. Die nachstehenden Ausführungen setzen sich mit letzterer Variante auseinander.

7 Keßler in BerlKomm. GenG, 3. Aufl. 2019, § 7 Rz. 20. 8 Althanns in Althanns/Buth/Leißl, Genossenschafts-Handbuch, § 7 Rz. 3. 9 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, 39. Aufl. 2018, § 7 Rz. 2. 10 Althanns in Althanns/Buth/Leißl, Genossenschafts-Handbuch, § 7 Rz. 3. 11 Lehleiter/Hoppe in Schwerdtfeger, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2015, §§ 19, 20 GenG Rz. 9.

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1. Mechanismus Zuständig für die Entscheidung über die Gewinn- und Verlustverteilung, auch in Form der Verlustdeckung durch Abschreibung von Geschäftsguthaben, ist die Generalversammlung, § 48 Abs. 1 GenG. Dabei kommt es grundsätzlich auf den Bestand von Geschäftsguthaben zum Schluss des dem abgelaufenen Geschäftsjahres vorhergegangenen Geschäftsjahres an. Neue, das heißt im abgelaufenen Geschäftsjahr hinzugetretene Mitglieder, sind damit von einer Abschreibung nicht betroffen, ebenso wenig wie Altmitglieder mit ihren (erst) im abgelaufenen Geschäftsjahr erworbenen Geschäftsguthaben. Berücksichtigung finden also nicht nur die auf so genannte Pflichtanteile wirtschaftlich entfallenden Geschäftsguthaben, sondern zudem auch Geschäftsguthaben im Zusammenhang mit zusätzlich erworbenen Anteilen. Dabei ist es nach der hier vertretenen Auffassung so, dass es kein einem bestimmten Geschäftsanteil zugewiesenes Geschäftsguthaben gibt, sondern – für jedes Mitglied – eine Anzahl von erworbenen Geschäftsanteilen und ein einheitliches Geschäftsguthaben. 2. Wirkungen Die Abschreibung erfolgt typisiert in Höhe eines bestimmten Betrags, beispielsweise eines Bilanzverlustes, wie er nach Verrechnung des Jahresfehlbetrages mit einem Gewinnvortrag aus dem Vorjahr verblieben ist. Dieser wird dann rechnerisch quotal auf die Anzahl der insgesamt vorhandenen Geschäftsanteile (oder Haftsummen, je nach Satzungsausgestaltung) verteilt. Es ermittelt sich so im Beispielsfall ein auf jeden Geschäftsanteil entfallender Abschreibungsbetrag. Da nicht sämtliche Mitglieder trotz grundsätzlich gegebener Verpflichtung zur Einzahlung des Pflichtanteils jeweils voll eingezahlt haben, kann sich die Situation ergeben, dass unterschiedliche Mitglieder unterschiedlich hoch eingezahlte Geschäftsguthaben aufweisen. Dies führt nicht dazu, dass das entsprechende Mitglied nur mit dem vorhandenen (unterstellt nicht ausreichenden) Geschäftsguthaben als Minuend belastet würde. Eine entsprechende, mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht vereinbare Ungleichbehandlung wird dadurch ausgeglichen, dass die Genossenschaft den entsprechenden Einzahlungsanspruch zu aktivieren hätte (wohingegen auf der Passivseite der Ausweis rückständiger Pflichteinzahlungen um den Abschreibungsbetrag zu mindern wäre). Umgekehrt können die Mitglieder, die voll eingezahlt haben, nicht einwenden, bei bestimmten Mitgliedern sei nicht hinreichend Geschäftsguthaben für die Abschreibung vorhanden. Sie brauchen allerdings auch nicht zu befürchten, dass sie überproportional belastet würden, beispielsweise um (aktuelle) Fehlbeträge aufgrund fehlender Volleinzahlung zu kompensieren. Dies bedeutet nicht, dass ein Mitglied den auf ihn entfallenden Verlustanteil durch Zahlung zu erfüllen hat. Das Geschäftsguthaben kann nur bis auf null abgeschrieben werden. Die vorerwähnte Aktivierung von Ansprüchen durch die Genossenschaft liegt insoweit anders, als es hier nicht um einen aus der Abschreibung resultierenden

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben

Zahlungsbetrag geht, sondern die – nach wie vor – nicht erfüllte ursprüngliche Zahlung der Pflichteinlage. Die Abschreibung der Geschäftsguthaben erfolgt rückwirkend, also nicht erst mit Wirkung ab der General- oder Vertreterversammlung, in der der Abschreibungsbeschluss gefasst worden ist, sondern, wie sich schon aus dem Wortlaut von § 19 Abs. 1 Satz 2 GenG ergibt, rückwirkend auf den Schluss des vorhergehenden Geschäftsjahres.12 3. Wiederherstellung der „Parität“ In der Genossenschaft gilt zwar der Grundsatz der vollständigen Erfüllung der Pflichteinlage. Allerdings besteht grundsätzlich keine Verpflichtung zur Wiederauffüllung durch Einzahlung von Geschäftsguthaben, die im Wege der Abschreibung vernichtet worden sind, auch dann nicht, wenn durch eine erfolgte Abschreibung das Geschäftsguthaben unter den Betrag der Pflichteinzahlung sinkt. a) Aktive und passive Wiederauffüllung Das bedeutet nicht, dass es eine Wiederauffüllung nicht gibt. § 19 Abs. 1 Satz 3 GenG bestimmt, dass eine Zuschreibung künftiger Gewinne so lange auf das Geschäftsguthaben zu erfolgen hat, als nicht der Geschäftsanteil erreicht ist. Eine Ausnahme stellt der Fall dar, dass solche Teile des Geschäftsguthabens zur Verlustdeckung qua Abschreibung herangezogen wurden, die zuvor nicht aus Einzahlungen des Mitglieds auf die Pflichteinlage erfolgt sind, sondern qua Gewinnzuschreibung in Vorjahren. In einem solchen Fall hat das Mitglied wertungsmäßig seiner Einzahlungsverpflichtung noch nicht genügt und ist mit dem Gebot der entsprechenden Einzahlung nicht unbotmäßig belastet.13 b) Herabsetzung des Geschäftsanteils Losgelöst davon kann der Geschäftsanteil auch durch Satzungsänderung herabgesetzt werden, § 22 Abs. 1, § 16 Abs. 3 GenG. In diesem Fall entfällt dann auch in korrespondierender Höhe eine Wiederauffüllungspflicht.

IV. „Übertragung“ der Mitgliedschaft Erworben wird die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft durch eine schriftliche, unbedingte Beitrittserklärung und die Zulassung des Beitritts durch die Genossenschaft, § 15 Abs. 1 Satz 1 GenG.

12 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, 39. Aufl. 2018, § 76 Rz. 16. 13 RGZ 68, 93; 106, 403.

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Zuständiges Organ auf Seiten der Genossenschaft ist typisiert der Vorstand. Die Zuständigkeit kann aber auch etwa dem Aufsichtsrat oder der Generalversammlung übertragen werden. Im Grundsatz ist die Genossenschaft dabei frei in der Entscheidung, wer Mitglied werden darf. Die Aufstellung von mitgliedschaftlichen Voraussetzungen stellt in der Regel einen Kanon notwendiger, nicht aber hinreichender ­Voraussetzungen dar. Aus dieser Logik ergibt sich auch, dass die Mitgliedschaft nicht durch Übertragung derselben von einem Mitglied auf einen Aspiranten übertragen werden kann. 1. Unübertragbarkeit der Geschäftsanteile Trotz der entsprechenden Bezeichnung ist der genossenschaftliche Geschäftsanteil mit solchen im Personen- und Kapitalgesellschaftsrecht nicht vergleichbar, ist er beispielsweise auch nicht übertragbar.14 2. Übertragbarkeit von Geschäftsguthaben Anders verhält sich dies beim Geschäftsguthaben. Wie aus §  76 GenG ersichtlich, kann dieses jederzeit durch schriftliche Vereinbarung ganz oder teilweise übertragen werden. Sofern ein Erwerber das gesamte Geschäftsguthaben erwerben möchte, ist noch sein – davon zu trennender – Beitritt in der Genossenschaft vonnöten.15 Die Vorschrift, die zunächst das Ausscheiden eines Mitglieds ohne Auseinandersetzung mit der Genossenschaft im Wege der Übertragung des Geschäftsguthabens in vollem Umfang regelt, enthält auch Regelungen zur teilweisen Übertragung des Geschäftsguthabens, ohne dass eine Kündigung ausgesprochen werden müsste. 3. Wirkungen beim Veräußerer und beim Erwerber Der Veräußerer verliert bei Übertragung seines gesamten Geschäftsguthabens seine Mitgliedschaft, sobald der Erwerber zum Beitritt zugelassen wird.16 Bei Übertragung eines Teils seines Geschäftsguthabens an einen oder mehrere Erwerber bleibt das Mitglied mit dem verbleibenden Geschäftsguthaben unter Verringerung der Anzahl seiner Geschäftsanteile Mitglied der Genossenschaft.17

14 Althanns in Althanns/Buth/Leißl, Genossenschafts-Handbuch, § 7 Rz. 2; Lehleiter/Hoppe in Schwerdtfeger, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2015, §§ 65 bis 77a GenG Rz. 19. 15 Lehleiter/Hoppe in Schwerdtfeger, Gesellschaftsrecht, 3.  Aufl. 2015, §§  65 bis 77a GenG Rz. 19. 16 Geibel in Henssler/Strohn, GesR, 4.  Aufl. 2019, §  76 GenG Rz.  5; Lehleiter/Hoppe in Schwerdtfeger, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2015, §§ 65 bis 77a GenG Rz. 21. 17 Althanns in Althanns/Buth/Leißl, Genossenschafts-Handbuch, § 76 Rz. 9.

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben

V. Zusammenführung der Themen „Guthabenabschreibung“ und „Guthabenübertragung“ 1. Guthabenübertragung nach Guthabenabschreibung Wenn das Geschäftsguthaben auf null abgeschrieben wurde, ist eine Übertragung schon nach dem klaren Wortlaut von § 76 GenG unmöglich. Das Guthaben existiert schlicht nicht mehr.18 Hingegen bleiben die Geschäftsanteile nominell bestehen.19 Sollte nach Abschreibung des Geschäftsguthabens weiterhin eine Einzahlungspflicht des Veräußerers bestehen, etwa, weil die Geschäftsguthaben ursprünglich aus Gewinnzuschreibungen entstanden sind, erlischt diese Einzahlungspflicht für den Veräußerer nach Übertragung des Geschäftsguthabens an den Erwerber. Dieser erfüllt dann vielmehr seine eigene Einzahlungspflicht in Höhe des übernommenen Geschäftsguthabens.20 2. Guthabenübertragung vor Guthabenabschreibung a)  Grundproblematik und Fragestellungen Kompliziert wird es nun, wenn es zeitlich vor einer Guthabenabschreibung zu Übertragungsvorgängen gekommen ist, bei denen Geschäftsguthaben ganz oder teilweise von einem Mitglied auf ein anderes Mitglied oder von einem Mitglied auf ein neues, in diesem Zuge der Genossenschaft erst beitretendes Mitglied übertragen wird. Denn im Moment der Übertragung gingen die daran beteiligten Personen ja noch davon aus, dass es ein ganz bestimmtes Geschäftsguthaben in ganz bestimmter Höhe gab, über das verfügt werden konnte. Sie haben hierauf bezogen geregelt, wieviel an Geschäftsguthaben auf das andere oder das neue Mitglied übergehen soll, und wieviel an Geschäftsguthaben beim übertragenden Mitglied verbleiben soll. In der Summe bleibt das Geschäftsguthaben „gleich“. Da die Geschäftsguthabenabschreibung aber Rückwirkung hat, kann es dazu kommen, dass der abgeschriebene Teil des Geschäftsguthabens im Zeitpunkt der Übertragung „schon gar nicht mehr da“ war und folglich auch nicht übertragen werden konnte. Das, was die Parteien vereinbart haben, passt aus nachträglicher Perspektive plötzlich nicht mehr, und das wirft die Frage auf, wie man „repariert“, wie man also die vor der Guthabenabschreibung getroffene Vereinbarung mit den rückwirkenden Rechtsfolgen der Guthabenabschreibung zusammenbringen kann. Das wird nachstehend anhand der wesentlichen in Betracht kommenden Sachverhaltsgestaltungen durchgespielt. Alle nachstehenden Beispiele beruhen dabei auf der Annahme einer Satzungsregelung, wonach Geschäftsanteile voll eingezahlt werden müssen. Sieht die Satzung vor, dass nur Teileinzahlungen verpflichtend sind, erweitern sich alle beispielhaft vorgenommenen Rechnungen um diesen Faktor. Aufgrund der ohnehin schon nicht ge18 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, 39. Aufl. 2018, § 76 Rz. 5. 19 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, 39. Aufl. 2018, § 7 Rz. 18. 20 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, 39. Aufl. 2018, § 7 Rz. 18.

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ringen Komplexität bei Volleinzahlungspflicht sehen wir von dieser weiteren Verkomplizierung ab, möchten aber jeden Leser, der Freude an den Rechenbeispielen findet, einladen, mit diesen weiteren Parametern zu spielen. b) Komplette Guthabenübertragung auf Neumitglied Beispielsfall: Das Altmitglied AM hatte 100 Geschäftsanteile mit einem Nominalwert von 50 Euro gezeichnet und diese vollständig eingezahlt. AM verfügte damit über ein Geschäftsguthaben von 5.000 Euro. Am 5.1.2019 übertrug AM sein komplettes Geschäftsguthaben auf das Neumitglied NM. NM hatte hierzu bei der Genossenschaft die Zulassung als Mitglied mit 100 Geschäftsanteilen beantragt und wurde entsprechend zugelassen. In der Generalversammlung am 30.5.2020 wurde beschlossen, dass der Verlust des Jahres 2019 gegen die Geschäftsguthaben dergestalt abgeschrieben wird, dass pro Geschäfts­ anteil das Geschäftsguthaben um 6,30 Euro per 31.12.2018 abgeschrieben wird. Das ehemals 5.000 Euro betragende Geschäftsguthaben beläuft sich danach nur noch auf 4.370 Euro. aa) Auswirkungen für AM Die Reduzierung des Geschäftsguthaben ändert nichts daran, dass AM sein Geschäftsguthaben vollständig wegverfügt hat und damit als Mitglied ausgeschieden ist. bb) Auswirkungen für NM Durch die Zeichnung von 100 Geschäftsanteilen ist eine Einzahlungspflicht von NM in Höhe 5.000 Euro begründet worden. Da NM nicht mehr als 4.370 Euro an Geschäftsguthaben übertragen bekommen konnte, ist diese Einzahlungspflicht auch nur in Höhe von 4.370 Euro erfüllt worden. NM schuldet der Genossenschaft eine weitere Einzahlung von 630 Euro. c) Teilweise Guthabenübertragung auf Neumitglied aa) Variante 1: Übertragener Teilbetrag ist kleiner als das abgeschriebene Guthaben Beispielsfall: Das Altmitglied AM hatte 100 Geschäftsanteile mit einem Nominalwert von 50 Euro gezeichnet und diese vollständig eingezahlt. AM verfügte damit über ein Geschäftsguthaben von 5.000 Euro. Am 5.1.2019 übertrug AM einen Teilbetrag seines Geschäftsguthabens in Höhe von 3.000 Euro auf das Neumitglied NM. NM hatte hierzu bei der Genossenschaft die Zulassung als Mitglied mit 60 Geschäftsanteilen beantragt und wurde entsprechend zugelassen. In der Generalversammlung am 30.5.2020 wurde beschlossen, dass der Verlust des Jahres 2019 gegen die Geschäftsguthaben dergestalt abgeschrieben 278

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben

wird, dass pro Geschäftsanteil das Geschäftsguthaben um 6,30 Euro abgeschrieben wird. Das ehemals 5.000 Euro betragende Geschäftsguthaben beläuft sich danach nur noch auf 4.370 Euro. (1) Auswirkungen für NM In dieser Variante nähert man sich der Lösung einfacher, wenn man zunächst NM betrachtet. AM und NM haben sich über die Übertragung von 3.000 Euro an Geschäftsguthaben geeinigt, und das nach Abschreibung verbleibende Geschäftsguthaben ist der Höhe nach auch ausreichend, damit ein Teilbetrag von 3.000 Euro bei NM angekommen ist. Da damit die 60 von NM gezeichneten Geschäftsanteile auch voll gezeichnet sind, gibt es auch keine wiederaufzufüllende Lücke. Man könnte zwar rechnerisch daran denken, die Abschreibung des Geschäftsguthabens quotal auf den übertragenen und den nicht übertragenen Teil des Geschäftsguthabens zu verteilen, so dass NM statt der 3.000 Euro nur 60 × (50 – 6,30) = 2.622 Euro erhalten hätte und 378 Euro auffüllen müsste. Enthält der zwischen AM und NM geschlossene Vertrag aber wie üblicherweise keinen Anhaltspunkt für eine solche quotale Betrachtung, sondern sieht die Übertragung eines ganz bestimmten Betrages vor, ist für eine solche Betrachtung kein Raum. (2) Auswirkungen für AM Dass AM in dieser Variante nicht aus der der Genossenschaft ausscheidet, weil bei ihm noch ein restliches – wenn auch gegenüber der Erwartung bei Übertragung geringeres – Geschäftsguthaben verbleibt, liegt noch auf der Hand. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, mit wie vielen Geschäftsanteilen er noch beteiligt ist. Theoretisch denkbar sind drei Berechnungsmethoden, die in praktischer Hinsicht teils erheblich unterschiedliche Auswirkungen auf die Kapitalausstattung der Genossenschaft haben können: – Ableitung aus Restguthaben: Die Zahl der Geschäftsanteile von AM lässt sich einerseits dadurch berechnen, dass man das bei ihm verbleibende Restguthaben durch den Nominalbetrag des einzelnen Geschäftsanteils (= 50 Euro) teilt. Auf diesem Wege käme man zu einer Zahl von 1.370 : 50 = 27,4 bzw. aufgerundet 28 Stück. Diesen 28 Stück entspricht ein Geschäftsguthaben von 1.400 Euro, so dass nur noch 30 Euro aufgefüllt werden müssten, bevor wieder Gewinnanteile an AM ausgezahlt werden können. Dies führt de facto zu einer Verringerung der Anzahl der Geschäftsanteile (60 zuzüglich 28 = 88 versus 100, als die Anteile noch in einer Hand lagen). – Ableitung aus der Zahl neu geschaffener Geschäftsanteile: Die Zahl der Geschäftsanteile lässt sich andererseits auch so berechnen, dass man von der Zahl der ursprünglich vorhandenen Geschäftsanteile die der Geschäftsanteile abzieht, die NM zeichnen musste, damit das Geschäftsguthaben von 3.000 Euro auf ihn übertragen werden konnte. Auf diesem Wege käme man zu einer Zahl von 100 – 60 = 40 Stück. Diesen 40 Stück entspricht ein Geschäftsguthaben von 2.000 Euro, so dass erst 630 Euro 279

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aufgefüllt werden müssten, bevor AM wieder eine Auszahlung von Gewinnanteilen verlangen kann. Dies würde nicht zu einer Verringerung der Anzahl der Geschäftsanteile führen, wohl aber zu einer hohen „Auffüllungslast“. – Ableitung aus dem Konnex von Geschäftsguthaben und Geschäftsanteil: Schließlich lässt sich die Zahl der bei AM verbleibenden Geschäftsanteile auch so berechnen, dass man den Wert des übertragenen Geschäftsguthabens in Geschäftsanteile „umrechnet“ und die sich ergebende (aufgerundete) Stückzahl von der ursprünglichen Stückzahl an Geschäftsanteilen abzieht. AM hat 3.000 Euro an Geschäfts­ guthaben übertragen. „Umgerechnet“ in Geschäftsanteile macht dies eine Zahl von 60 Stück aus. Zieht man diese vom Anfangsbestand von 100 Stück ab, verbleiben (wieder) 40 Stück. Auch diese Ableitung würde nicht zu einer Verringerung der Anzahl der Geschäftsanteile führen, aber ebenfalls zu einer entsprechend hohen „Auffüllungslast“. Eine gesetzliche Regelung, welche dieser Berechnungsmethoden die richtigste ist, gibt es nicht, und auch in Satzungen wird diese Berechnung nach allen Erfahrungen nicht geregelt. § 76 Abs. 1 GenG besagt nur, dass das Mitglied durch eine Vollübertragung seines Geschäftsguthabens seine Mitgliedschaft ohne Auseinandersetzung beenden und durch eine Teilübertragung „die Anzahl seiner Geschäftsanteile verringern“ kann. Eine quantitative Aussage zur Verringerung der Stückzahl fehlt. Am wenigsten spricht für die erste Berechnungsmethode, der Ableitung aus dem Restguthaben. Denn sie würde zu überschießenden Rechtsfolgen führen. Es würden mehr Geschäftsanteile untergehen, als korrespondierendes Geschäftsguthaben übertragen wird. Dadurch würde zum einen AM das Recht verlieren, seinen diesen Geschäftsanteilen zugeordneten Verlustanteil durch Einzahlungen bis zur nominalen Höhe dieser Geschäftsanteile zu kompensieren, da die Geschäftsanteile im Zuge der Berechnung schlicht verloren gegangen wären. Zum anderen würde AM bezogen auf seine verbleibenden Geschäftsanteile früher wieder gewinnauszahlungsberechtigt werden, da die untergegangenen Geschäftsanteile nicht zuvor ebenfalls aufgefüllt werden müssten. Der Genossenschaft ginge die mit den untergegangenen Geschäftsanteilen einhergehende Kapitalbindung verloren. Die beiden anderen Berechnungsmethoden vermeiden den Untergang von Geschäftsanteilen und gewährleisten, dass Rechtsfolgen nur in dem Umfang ausgelöst werden, wie Geschäftsguthaben übertragen wird. Bei der Übertragung von Geschäftsguthaben auf ein Neumitglied führen sie auch stets zu gleichen Ergebnissen, so dass in einem solchen Fall eine weitere Entscheidung entbehrlich ist. Unterschiede generieren sie demgegenüber bei einer Geschäftsguthabenübertragung auf ein Bestandsmitglied. Dies wird weiter unten dargestellt (Querverweis) und in diesem Zuge auch gezeigt, dass – während die erste Methode zu viele Geschäftsanteile vernichtet – die zweite Methode zu Zufallsergebnissen führen kann. Die dritte Methode ist diejenige, die in allen Fallgestaltungen ein ausgewogenes Ergebnis hervorbringt.

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben

bb) Variante 2: Übertragener Teilbetrag ist größer als das abgeschriebene Guthaben Abwandlung des Beispielsfalls: In der Abwandlung überträgt AM – statt der 3.000 Euro – einen Teilbetrag seines Geschäftsguthabens in Höhe von 4.500 Euro. NM hatte hierzu bei der Genossenschaft die Zulassung als Mitglied mit 90 Geschäftsanteilen beantragt und wurde entsprechend zugelassen. (1)  Auswirkungen für NM Statt des vermeintlich erworbenen Geschäftsguthabens von 4.500 Euro hat NM nur 4.370 Euro erworben bzw. erwerben können, weil der Wert des gesamten Geschäftsguthabens bei AM nach Abschreibung um 6,30 Euro nur noch diesen Betrag hat. Da dies nichts daran ändert, dass NM 90 Geschäftsanteile verbunden mit einer Ein­ zahlungspflicht von 4.500 Euro gezeichnet hat, ist er verpflichtet, die Differenz von 130 Euro an die Genossenschaft (noch) zu zahlen. (2)  Auswirkungen für AM Bei AM bleibt – entgegen seiner Vorstellung bei Übertragung – überhaupt kein Geschäftsguthaben übrig. Für die Frage, was das für seine Mitgliedschaft bedeutet und mit wie vielen Geschäftsanteilen er möglicherweise noch an der Genossenschaft beteiligt ist, sind theoretisch wieder zwei Berechnungsmethoden mit erheblich unterschiedlichen Auswirkungen auf die Kapitalausstattung der Genossenschaft denkbar: – Analogie zur Vollübertragung: Man kann AM einerseits so behandeln, als habe er von vornherein sein gesamtes Geschäftsguthaben übertragen. Folgen wären sein Ausscheiden aus der Genossenschaft und eine rechnerische Reduzierung der Geschäftsanteile von 100 Stück vor Übertragung und Guthabenabschreibung auf 90 Stück nach Übertragung und Guthabenabschreibung. – Erhalt der Geschäftsanteilszahl: Man kann AM andererseits wie in der Variante 1 behandeln und die Anzahl der Geschäftsanteile, mit denen er an der Genossenschaft beteiligt bleibt, durch Abzug der Zahl der von NM gezeichneten Geschäftsanteile bzw. der aus einer Umrechnung des übertragenen Geschäftsguthabens in Geschäftsanteile ermittelten Zahl von der Zahl der ursprünglich von AM gehaltenen Geschäftsanteile berechnen. Danach wäre AM weiterhin mit 100 – 90 = 10 Geschäftsanteilen beteiligt. Da er über 0 Euro Geschäftsguthaben verfügt, müsste sein Geschäftsguthaben zunächst durch Gewinnzuschreibungen von 10 × 50 = 500 Euro wiederaufgefüllt werden, bevor er Gewinnauszahlungen an sich verlangen kann. Konsequent erscheint die zweite Lösung, weil es zu einem logischen Bruch kommt, wenn der Übertragende, bei dem nach Abschreibung der Geschäftsguthaben gerade noch 1 Euro verbleibt, Mitglied bleibt und seine rechnerische Anzahl an Geschäftsanteilen behält, während der Übertragende, bei dem nach Abschreibung das Ge281

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schäftsguthaben 0 Euro beträgt, als Mitglied aus der Genossenschaft ausscheidet. Hinzu kommt, dass AM, als er die Teilübertragung vorgenommen hat, ebenso wenig wie die Genossenschaft die Vorstellung und den Willen hatten, dass AM als Mitglied ausscheidet. Gleichwohl erscheint diese zweite Lösung nur schwer mit dem Wortlaut von §  76 Abs. 1 Satz 1 GenG vereinbar zu sein. Diese Regelung wird man so verstehen können, dass die Rechtsfolge einer vollen Übertragung des Geschäftsguthabens das Ausscheiden des Mitglieds und die Rechtsfolge einer Teilübertragung die Verringerung der Stückzahl an Geschäftsanteilen ist, wobei es nicht auf den Willen des Mitglieds oder der Genossenschaft ankommt, sondern auf die objektive Feststellung, ob das Geschäftsguthaben ganz oder zum Teil wegverfügt worden ist. Das spricht für die erste Lösung, also dafür, dass ein Mitglied bei Vollübertragung seines Geschäftsguthabens ausscheidet, gleich, ob er sein Geschäftsguthaben von vornherein vollständig auf einen anderen überträgt, oder ob erst eine nachträgliche Geschäftsguthabenabschreibung aus den teilweisen eine vollständige Übertragung gemacht hat. Die erste Lösung vermeidet damit eine Zufälligkeit im Ergebnis, ist am ehesten mit dem Wortlaut von § 76 Abs. 1 Satz 1 GenG vereinbar und damit insgesamt vorzugswürdig. d)  Komplette Guthabenübertragung auf Bestandsmitglied Beispielsfall: Das Altmitglied AM hatte 100 Geschäftsanteile mit einem Nominalwert von 50 Euro gezeichnet und diese vollständig eingezahlt. AM verfügte damit über ein Geschäftsguthaben von 5.000 Euro. Das Bestandsmitglied BM hat 200 Geschäftsanteile gezeichnet und diese ebenfalls vollständig eingezahlt, so dass BM über ein Geschäftsguthaben von 10.000 Euro verfügte. Am 5.1.2019 übertrug AM sein komplettes Geschäftsguthaben auf das BM. BM hatte hierzu bei der Genossenschaft weitere 100 Geschäftsanteile gezeichnet. In der Generalversammlung am 30.5.2020 wurde beschlossen, dass der Verlust des Jahres 2019 gegen die Geschäftsguthaben dergestalt abgeschrieben wird, dass pro Geschäftsanteil das Geschäftsguthaben um 6,30 Euro abgeschrieben wird. Das ehemals 5.000 Euro betragende Geschäftsguthaben von AM beläuft sich danach nur noch auf 4.370 Euro, das ehemals 10.000 Euro betragende Geschäftsguthaben von BM beläuft sich nur noch auf 8.740 Euro. aa)  Auswirkungen für AM Die Reduzierung des Geschäftsguthaben ändert wieder nichts daran, dass AM sein Geschäftsguthaben vollständig wegverfügt hat und damit als Mitglied ausgeschieden ist.

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben

bb)  Auswirkungen für BM Insgesamt beträgt die von BM gehaltene Zahl von Geschäftsanteilen 300 Stück, und sein Geschäftsguthaben beläuft sich auf 8.740 + 4.370 = 13.110 Euro. Ein Anspruch auf Gewinnanteilsauszahlungen besteht deswegen erst, wenn das Geschäftsguthaben wieder auf 15.000 Euro aufgefüllt ist. Bei der Frage, wie aufzufüllen ist, unterfällt das eigentlich einheitliche Geschäftsguthaben in zwei virtuelle (tatsächlich kann es eine Trennung nicht geben, weil jedes Mitglied stets nur über ein einheitliches Geschäftsguthaben verfügt) Scheiben: (1)  Alte Geschäftsanteile von BM Der Teil des Geschäftsguthabens, der den originären Geschäftsanteilen des BM zugeordnet werden kann, muss nur aus künftigen Gewinnanteilen wieder aufgefüllt werden. Im Beispielsfall ist dies ein Betrag von 1.260 Euro (10.000 Euro abzüglich 8.740 Euro). (2)  Erworbene Geschäftsanteile von BM Den Teil des Geschäftsguthabens, der den von AM erworbenen Geschäftsanteilen des BM zugeordnet werden kann, muss BM aus vorhandenem Vermögen auffüllen. Im Beispielsfall muss BM 630 Euro an die Genossenschaft zahlen (5.000 Euro abzüglich 4.370 Euro). e)  Teilweise Guthabenübertragung auf Bestandsmitglied aa) Variante 1: Übertragener Teilbetrag ist kleiner als das abgeschriebene Guthaben Beispielsfall: Das Altmitglied AM hatte 100 Geschäftsanteile mit einem Nominalwert von 50 Euro gezeichnet und diese vollständig eingezahlt. AM verfügte damit über ein Geschäftsguthaben von 5.000 Euro. Das Bestandsmitglied BM hat 200 Geschäftsanteile gezeichnet und diese ebenfalls vollständig eingezahlt, so dass BM über ein Geschäftsguthaben von 10.000 Euro verfügte. Am 5.1.2019 übertrug AM einen Teilbetrag seines Geschäftsguthabens in Höhe von 3.000 Euro auf das BM. BM hatte hierzu bei der Genossenschaft weitere 60 Geschäftsanteile gezeichnet. In der Generalversammlung am 30.5.2020 wurde beschlossen, dass der Verlust des Jahres 2019 gegen die Geschäftsguthaben dergestalt abgeschrieben wird, dass pro Geschäftsanteil das Geschäftsguthaben um 6,30 Euro abgeschrieben wird. Das ehemals 5.000 Euro betragende Geschäftsguthaben von AM beläuft sich danach nur noch auf 4.370 Euro, das ehemals 10.000 Euro betragende Geschäftsguthaben von BM beläuft sich nur noch auf 8.740 Euro. 283

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(1)  Auswirkungen für BM Die reinen Zahlen sind klar: BM verfügt insgesamt über 260 Geschäftsanteile und über ein Geschäftsguthaben von 8.740 + 3.000 = 11.740 Euro. Offen ist dann aber noch die Frage, wie das hinzuerworbene Geschäftsguthaben auf Geschäftsanteile zu verrechnen ist: – Vorrang der alten Geschäftsanteile: Einerseits kommt eine Verrechnung vorrangig auf die alten Geschäftsanteile in Betracht mit der Folge, dass diese zunächst aufgefüllt werden, bevor ein Restbetrag auf die neuen Geschäftsanteile verrechnet wird. Im Beispielsfall würde das bedeuten, dass von den 3.000 Euro zunächst 1.260 Euro verwendet werden, um die alten Geschäftsanteile (dort besteht ein ­Delta von 10.000 Euro abzüglich 8.740 Euro = 1.260 Euro) aufzufüllen. Für die Verrechnung auf die Einzahlungspflicht für die neu gezeichneten Geschäftsanteile verbleibt ein Betrag von 1.740 Euro, wodurch sich die Einzahlungspflicht von 3.000 Euro auf 1.260 Euro reduziert. Diese 1.260 Euro müsste BM aus eigenem Vermögen an die Genossenschaft zahlen. – Vorrang der neuen Geschäftsanteile: Andererseits kommt eine Verrechnung vorrangig auf die neuen Geschäftsanteile in Betracht mit der Folge, dass diese zunächst aufgefüllt werden, bevor ein Restbetrag auf die alten Geschäftsanteile verrechnet wird. Im Beispielsfall würde das bedeuten, dass die vollen 3.000 Euro für die Verrechnung auf Einzahlungspflicht für die neu gezeichneten Geschäftsanteile verwendet würden. Ein Restbetrag zur Verrechnung auf die alten Geschäftsanteile verbleibt nicht, so dass die dortige Lücke von 1.260 Euro bleibt. Der aufzufüllende Betrag ist damit zwar identisch. Da er aber virtuell auf die alten abgeschriebenen Geschäftsanteile bezogen wäre, müsste BM ihn nicht aus eigenem Vermögen auffüllen, sondern nur aus künftigen Gewinnen. Immerhin für diese Frage gibt es einen klaren gesetzlichen Anhaltspunkt. In § 15b Abs. 2 GenG ist geregelt, dass eine Beteiligung mit weiteren Geschäftsanteilen nicht zugelassen werden darf, bevor alle Geschäftsanteile, bis auf den zuletzt neu übernommenen, volleingezahlt sind. Mit dieser Priorität der „alten“ Geschäftsanteile soll  es erst gar nicht zu der Situation kommen, dass entschieden werden muss, ob Einzahlungen auf „alte“ oder auf „neue“ Geschäftsanteile angerechnet werden, indem „neue“ Geschäftsanteile nicht zugelassen werden, bis die „alten“ Geschäftsanteile volleingezahlt sind. Werden aber „neue“ Geschäftsanteile zugelassen, obwohl die „alten“ Geschäftsanteile noch nicht volleingezahlt sind, ist die Zulassung gleichwohl wirksam. Sie ist im Beispielsfall auch keinem Beteiligten vorwerfbar, weil im Zeitpunkt der Übertragung des Geschäftsguthabens und der Zulassung der zusätzlichen Geschäftsanteile bei BM nicht feststand, dass es infolge einer künftigen Abschreibung der Geschäftsguthaben dazu kommen wird, dass bei BM das Geschäftsguthaben die ursprünglich volleingezahlten Geschäftsanteile nicht mehr deckt, und dadurch ein Auffüllungsbedarf besteht. Um im Nachhinein dem Normbefehl von § 15b Abs. 2 GenG so weit, wie es zu diesem Zeitpunkt eben noch geht, zu entsprechen, muss dann aber bei den BM zuflie284

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben

ßenden Geschäftsguthaben vorrangig eine Anrechnung auf die „alten“ Geschäftsanteile vorgenommen werden. (2) Auswirkungen für AM Die möglichen drei Berechnungsmethoden dafür, wie viele Geschäftsanteile nach einer Teilübertragung beim Veräußerer verbleiben, sind oben unter lit. c) aa) (2) dargestellt worden. Nachdem eine dieser Methoden wegen ihrer überschießenden Rechtsfolgen verworfen worden ist, verbleiben zwei, die im Beispielsfall folgende Ergebnisse generieren: – Ableitung aus der Zahl neu geschaffener Geschäftsanteile: Da BM 60 Geschäftsanteile hinzuerworben hat, würden bei AM 100 – 60 = 40 Stück Geschäftsanteile verbleiben. – Ableitung aus dem Konnex von Geschäftsguthaben und Geschäftsanteil: Da die übertragenen 3.000 Euro an Geschäftsguthaben 60 Geschäftsanteilen entsprechen, würden bei AM ebenfalls 100 – 60 = 40 Stück Geschäftsanteile verbleiben. Im Beispielsfall würde es also wieder keinen Unterschied machen, für welche der beiden Berechnungsmethoden man sich entscheidet. Dies ändert sich dann aber in folgender erster Abwandlung des Beispielsfalls: Beim Altmitglied AM bleibt alles gleich: AM hatte 100 Geschäftsanteile mit einem Nominalwert von 50 Euro gezeichnet und diese vollständig eingezahlt. AM verfügte damit über ein Geschäftsguthaben von 5.000 Euro. Durch die Guthabenabschreibung wurden hieraus 4.370 Euro. Das Bestandsmitglied BM hat (ursprünglich) 200 Geschäftsanteile gezeichnet, diese aber nicht vollständig eingezahlt. Das Geschäftsguthaben von BM beläuft sich (wegen der unzureichenden Einzahlung) nur auf 7.000 Euro. Durch die Guthabenabschreibung wurden hieraus 6.118 Euro. Wendet man hierauf die beiden Berechnungsmethoden an, kommt man zu folgenden Ergebnissen: – Ableitung aus der Zahl neu geschaffener Geschäftsanteile: Schon vor der Guthabenabschreibung hatte BM aufgrund seiner 200 gezeichneten, aber nur zu 7.000 Euro (statt 10.000 Euro) eingezahlten Geschäftsanteile „Platz“ für weiteres Geschäftsguthaben von 3.000 Euro. BM musste also für die „Unterbringung“ von (weiterem) Geschäftsguthaben in Höhe von 3.000 Euro überhaupt keine weiteren Geschäftsanteile zeichnen. Würde man nun die neu gezeichneten Geschäftsanteile (= 0 Stück) von den ursprünglich bei AM vorhandenen Geschäftsanteilen (= 100 Stück) abziehen, würde AM 100 Geschäftsanteile behalten.

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Gunther Lehleiter und Christian Hoppe

– Ableitung aus dem Konnex von Geschäftsguthaben und Geschäftsanteil: Da die übertragenen 3.000 Euro an Geschäftsguthaben 60 Geschäftsanteilen entsprechen, würden bei AM demgegenüber 100 – 60 = 40 Stück Geschäftsanteile verbleiben. Dass bei AM eine Wegverfügung von mehr als der Hälfte seines Geschäftsguthabens die Konsequenz haben kann, dass sich an der Zahl seiner Geschäftsanteile überhaupt nichts ändert, und AM nun abwarten müsste, bis alle seine (dann unverändert gebliebenen) 100 Stück Geschäftsanteile wieder aus Gewinnen aufgefüllt werden, bevor er wieder gewinnbezugsberechtigt ist, und damit quasi das Geschäftsguthaben, das er ja gerade an BM übertragen wollte, in seiner Person wieder komplett hergestellt werden müsste, ist ein aus der Sache heraus nicht nachvollziehbares Ergebnis. Es ist zudem ein zufälliges Ergebnis. Denn der Vergleich des Beispielsfalls mit seiner ersten Abwandlung zeigt, dass – obwohl sich in der Person des AM nichts ändert – die Zahl der von ihm nach Übertragung noch bestehenden Geschäftsanteile davon abhängig wäre, ob und in welcher Höhe beim Erwerber offene Einzahlungsverpflichtungen bestehen. Aus Sicht des AM ist dies eine reine Zufälligkeit. Dafür, dass es diese Abhängigkeit von Zufälligkeit nicht geben kann, spricht auch der Wortlaut von § 76 Abs. 1 Satz 1 GenG, und zwar aus zwei Gründen: – Die Vorschrift sieht vor, dass die Anzahl der Geschäftsanteile im Fall einer Teilübertragung von Geschäftsguthaben nicht gleich bleibt, sondern sich „verringert“. Eine Berechnungsmethode, bei der das Mitglied Geschäftsguthaben übertragen kann, ohne dass damit eine Verringerung der Stückzahl seiner Geschäftsanteile einhergeht, dürfte hiermit nicht vereinbar sein, zumindest aber nicht vorzugswürdig, wenn es eine andere Berechnungsmethode gibt (wie vorliegend die dritte), die eine zum Wortlaut von § 76 Abs. 1 Satz 1 GenG widerspruchsfreie Lösung bietet. Angelegentlich: Der Wortlaut von §  76 Abs.  1 Satz 1 GenG erklärt zugleich die oben getroffene Annahme, dass bei der dritten Lösung bei der Ermittlung der entfallenden Stückzahl „aufgerundet“ wird. Denn, wenn auch eine Geschäftsguthabenübertragung von 1 Euro zum Wegfall mindestens eines Geschäftsanteils führen muss, bleibt nichts Anderes übrig, als auf diesen aufzurunden. – Außerdem besagt § 76 Abs. 1 Satz 1 GenG, dass die Verringerung der Stückzahl an Geschäftsanteilen „hierdurch“, also durch die „teilweise Übertragung von Geschäftsguthaben“ stattfindet. Die Vorschrift stellt damit auf den Abfluss von Geschäftsguthaben in der Person des Übertragenden ab. Die quantitative Verringerung der Stückzahl des Veräußerers im Wesentlichen davon abhängig zu machen, wie viele Alt-Geschäftsanteile in der Person des Erwerbers vorhanden und gegebenenfalls voll eingezahlt sind, mit anderen Worten, ob und in welchem Ausmaß er in der Vergangenheit seinen Einzahlungspflichten nachgekommen ist, liegt jedenfalls nicht nahe. Als ausgewogene Berechnungsmethode bleibt damit nur die Ableitung aus dem Konnex von Geschäftsguthaben und Geschäftsanteil. Sie vermeidet einerseits überschießende Rechtsfolgen und andererseits zufällige Rechtsfolgen.

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Die Abschreibung von Geschäftsguthaben

bb) Variante 2: Übertragener Teilbetrag ist kleiner als das abgeschriebene Guthaben Zweite Abwandlung des Beispielsfalls: In der Abwandlung überträgt AM – statt der 3.000 Euro – einen Teilbetrag seines Geschäftsguthabens in Höhe von 4.500 Euro auf BM. BM zeichnet hierzu weitere 90 Geschäftsanteile. Im Übrigen bleibt der Ausgangsfall gleich, insbesondere haben AM und BM ihr Geschäftsguthaben jeweils vollständig eingezahlt. (1)  Auswirkungen für BM Für BM löst sich der Fall analog zur Variante 1: Er ist insgesamt mit 200 + 90 = 290 Geschäftsanteilen an der Genossenschaft beteiligt. Das erworbene Geschäftsguthaben von 4.370 Euro wird vorrangig dafür verwendet, sein den alten Geschäftsanteilen virtuell zugeordnetes Geschäftsguthaben aufzufüllen. Danach verbleiben 4.370 – 1.260 = 3.110 Euro zur Teilerfüllung seiner Einzahlungspflicht auf die neuen Geschäftsanteile. Aus eigenem Vermögen muss er also noch 4.500 – 3.110 = 1.390 Euro an die Genossenschaft zahlen. (2)  Auswirkungen für AM Auch in der Variante 2 macht es für AM keinen Unterschied, ob er sein Geschäftsguthaben an ein Neu- oder ein Bestandsmitglied überträgt. Das bedeutet, dass AM ausscheidet, weil er sein gesamtes Geschäftsguthaben übertragen hat (vgl. c) bb) (2)).

VI. Verhältnis zwischen Veräußerer und Erwerber Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass ein Vorgehen der Verlustverarbeitung mittels Deckung durch die Abschreibung von Geschäftsguthaben wegen der damit verbundenen Rückwirkung einen Eingriff in geschlossene Verträge bedeutet, der in den meisten der Fälle als künftiges Ereignis so nicht antizipiert worden ist. Wie dieses Thema konzeptuell gelöst wird, wer also gegen wen welche Ansprüche hat, soll an anderer Stelle untersucht werden.

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Karlheinz Lenkaitis

Ehebezogene Zuwendungen im Pflichtteilsergänzungsrecht Inhaltsübersicht I. Das Problem 1. Die gesetzliche Regelung 2. Zwei Beispielsfälle 3. Historische Entwicklung

IV. Die Literatur 1. Reaktionen auf die Grundsatz­ entscheidung des BGH 2. Lösungsvorschläge der Literatur

II. Grundsatzentscheidung des BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167 ff. 1. Der Leitgedanke der Grundsatz­ entscheidung 2. Die tragenden Gründe 3. Ausnahmesachverhalte



I II. Weiterentwicklung der Rechtsprechung 1. Urteil des OLG Oldenburg v. 23.3.1999 – 5 U 134/98, FamRZ 2000, 638 ff. 2. Beschluss des OLG Schleswig v. 16.2.2010 – 3 U 39/09, ZEV 2010, 369 ff. 3. Urteil des OLG Schleswig v. 10.12.2013 – 3 U 29/13, ZEV 2014, 260 ff. 4. Urteil des BGH v. 14.3.2018 – IV ZR 170/16, NJW 2018, 1475 ff. 5. Fazit

V. Zwischenergebnis zu den beiden ­Ausgangsfällen

VI. Eigene Lösung 1. Das Missbrauchsargument 2. Ablehnung des Rechtsinstituts der ­ehebezogenen Zuwendung 3. Dogmatische Herleitung 4. Entscheidungen des Bundes­ verfassungsgerichts vom 5.2.2002 5. Anwendbarkeit des § 2325 BGB auf ehebezogene Zuwendungen VII. Ergebnis 1. Anerkennung der Rechtsfigur der ­ehebezogenen Zuwendung 2. Eheliche und soziale Adäquatheit 3. Darlegungs- und Beweislast

Erbrechtliche Streitigkeiten sind in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht komplex und werden in der Regel hoch emotional geführt. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Kind nach dem Tode des ersten Elternteils Pflichtteilsansprüche gegenüber Vater oder Mutter als überlebendem Elternteil geltend macht.

I. Das Problem Für den anwaltlichen Berater ist die Situation schwierig. Vertritt er den überlebenden Ehepartner, muss er mit viel psychologischem Einfühlungsvermögen die gesetzlichen Regelungen verdeutlichen und Bereitschaft wecken, mit dem undankbaren Kind im Gespräch zu bleiben und nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen. Besonders schwierig wird es, wenn ein Kind neben seinem Pflichtteil auch einen Pflichtteilsergänzungsanspruch geltend macht und Auskunft darüber verlangt, welche Gegenstände der Verstorbene seinem Ehepartner während der Ehezeit zugewendet hat. Im Verlaufe des Ehelebens kommt es in aller Regel zu einer Vielzahl solcher 289

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Karlheinz Lenkaitis

Zuwendungen und es stellt sich nach dem Tode des Erstversterbenden die Frage, ob diese Zuwendungen Pflichtteilsergänzungsansprüche auslösen. 1. Die gesetzliche Regelung Einschlägig ist §  2325 BGB. Hat ein Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht, so kann der Pflichtteilsberechtigte als Erhöhung des Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird (Abs. 1). Während Schenkungen an Dritte nach Abs. 3 nach Ablauf von zehn Jahren unberücksichtigt bleiben und innerhalb der Zehnjahresfrist abschmelzen, beginnt diese Frist bei Schenkungen an den Ehegatten erst mit Auflösung der Ehe.1 Endet die – intakte – Ehe durch Tod, sind also sämtliche Schenkungen des verstorbenen Ehepartners ergänzungspflichtig. 2. Zwei Beispielsfälle Zwei Fälle aus der Praxis sollen die Relevanz des Themas verdeutlichen und den denkbaren Anwendungsbereich des § 2325 BGB veranschaulichen. a) Erwerb eines Einfamilienhauses zu hälftigem Miteigentum. Kurze Zeit nach ihrer Hochzeit im Jahre 1980 kaufen die Eheleute zu je ½ ein Einfamilienhaus. Die als Lehrerin ausgebildete Ehefrau ist zum Zeitpunkt des Kaufs schwanger. Nach der Geburt des ersten und des zweiten Kindes arbeitet sie nur noch mit geringer Stundenzahl. Ihr Gehalt verwenden die Eheleute im Wesentlichen für die Bezahlung der beschäftigten Tagesmütter. Im Jahr 1990 errichten die Eheleute ein Berliner Testament. Das Einfamilienhaus ist 2005 schuldenfrei. Im Jahre 2018 stirbt der Ehemann bei einem Verkehrsunfall. Ein Jahr nach seinem Tode macht der Sohn Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche gegenüber seiner Mutter geltend. Er braucht weiteres Kapital für sein kürzlich gegründetes Start-up-Unternehmen. Der anwaltlich vertretene Sohn möchte den Miteigentumsanteil seiner Mutter am Einfamilienhaus bei der Ermittlung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs berücksichtigen. Der Vertreter der Mutter fragt sich, ob er ihr guten Gewissens die Führung eines Rechtsstreits empfehlen kann.

b) Einräumung einer Unterbeteiligung Nach ihrer Heirat im Jahr 2015 arbeiten der Ehemann als Banker und die Ehefrau als Steuerberaterin weiter voll in ihren Berufen. Im Jahre 2018 werden Zwillinge geboren. Die Ehefrau übernimmt die Betreuung und arbeitet nur noch in geringem Umfang als Steuerberaterin von zu Hause aus. Im Jahre 2019 gründet der Ehemann mit zwei Freunden eine Vermögensanlagegesellschaft mbH und übernimmt das Amt des Geschäftsführers. In einem Beratungsgespräch mit einer Notarin, gleichzeitig Fachanwältin für Erbrecht, stellen die Eheleute die Frage, ob die Ein-

1 Diese Sonderregelung ist verfassungsgemäß, BVerfG v. 26.11.2018 – 1 BvR 1511/14, NJW 2019, 1434.

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Ehebezogene Zuwendungen im Pflichtteilsergänzungsrecht räumung einer Unterbeteiligung an dem GmbH-Anteil des Mannes im Erbfall ergänzungspflichtig sein kann, wenn sie ein Berliner Testament errichten.

3. Historische Entwicklung Die beiden vorstehenden Beispiele verdeutlichen, dass es sich bei den Absprachen der Eheleute um typische Sachverhalte handelt, die ihre Ursache in den ehelichen Lebensverhältnissen haben und mit fremden Dritten nicht bzw. nicht so getroffen worden wären. a) Begriff der ehebezogenen Zuwendung Bei solchen Konstellationen sprechen Rechtsprechung und Literatur von ehebezogenen Zuwendungen. Sie werden auch synonym als ehebedingte oder unbenannte Zuwendungen bezeichnet.2 Unter ehebezogenen Zuwendungen werden solche Zuwendungen verstanden, die Ehegatten zur Verwirklichung oder Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft vornehmen und denen die Erwartung oder Vorstellung zugrunde liegt, die eheliche Lebensgemeinschaft werde Bestand haben.3 b) Rechtliche Einordnung Zuwendungen des Ehegatten an den anderen während der Ehezeit erfolgen in der Regel objektiv unentgeltlich und ohne eine zugrundeliegende Rechtspflicht. Dementsprechend unterfielen solche Zuwendungen lange Zeit unstreitig dem Anwendungsbereich der §§ 516 ff. BGB.4 Seit Ende der sechziger Jahre änderte sich die Rechtsprechung. Im Anschluss an Lieb5 entwickelte sie das Rechtsinstitut der ehebezogenen Zuwendung. Im Verhältnis der Eheleute zueinander fehlt es an der für die Annahme einer Schenkung erforderlichen Schenkungsabsicht. Derartige Zuwendungen sind danach Rechtsgeschäfte familienrechtlicher Art.6 2 Schlitt in Schlitt/Müller (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 2.  Aufl. 2017, §  5 Rz.  75  ff.; ­Pawlytta in Meyer/Süß/Tanck/Bittler (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 4.  Aufl. 2018, § 7 Rz. 51; J. Koch in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 516 BGB Rz. 60. Zur Terminologie vgl. auch Kollhosser, NJW 1994, 2313, 2314, der ebenso wie J. Koch den Begriff der „ehebezogenen“ Zuwendung vorzieht. 3 BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167, 169 f.; Schlitt in Schlitt/Müller (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Aufl. 2017, § 5 Rz. 75; Pawlytta in Meyer/Süß/Tanck/Bittler (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 4. Aufl. 2018, § 7 Rz. 51. 4 Vgl. BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167, 174; J. Koch in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 516 BGB Rz. 60.  5 Lieb, Die Ehegattenmitarbeit im Spannungsfeld zwischen Rechtsgeschäft, Bereicherungsausgleich und gesetzlichem Güterstand, 1970, S. 121 ff. 6 BGH v. 8.7.1982 – IX ZR 99/80, BGHZ 84, 361, 364 f.; Pawlytta in Meyer/Süß/Tanck/Bittler (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 4. Aufl. 2018, § 7 Rz. 51; Schlitt in Schlitt/Müller (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Aufl. 2017, § 5 Rz. 75. 

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Karlheinz Lenkaitis

Ursache dieser neuen Rechtsprechung war eine Veränderung des Eheverständnisses. Geht man von einer gleichberechtigten Partnerschaft von Mann und Frau aus, lassen sich objektiv unentgeltliche Zuwendungen zwischen Eheleuten nicht als Schenkung qualifizieren. Sie sind vielmehr Beitrag zur Verwirklichung einer partnerschaftlichen Ehe. Auch werden einige Rechtsfolgen, die das Gesetz an den ­Tatbestand der Schenkung knüpft, als nicht sachgerecht angesehen. Aus diesen Gründen heraus entwickelte die Rechtsprechung den eigenständigen, güterrechtsunabhängigen Rechtsgeschäftstyp der ehebezogenen Zuwendung.7

II. Grundsatzentscheidung des BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167 ff. Betrifft die vorbezeichnete Entwicklung das Innenverhältnis der Eheleute zueinander, stellt sich die Frage, ob diese Grundsätze auch im Außenverhältnis zu Dritten gelten, so auch zu den Pflichtteilsberechtigten. Kurz ausgedrückt geht es um die Frage, ob ehebezogene Zuwendungen erbrechtlich ebenfalls keine Schenkungen sind mit der Folge, dass die Schutzvorschriften zugunsten der Pflichtteilsberechtigten keine Anwendung finden und Pflichtteilsergänzungsansprüche deshalb nicht bestehen. 1. Der Leitgedanke der Grundsatzentscheidung Der historische Gesetzgeber schuf den Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB, um eine Aushöhlung des Pflichtteilsanspruchs zu vermeiden. Ein Erblasser soll den Pflichtteilsanspruch eines enterbten nahen Angehörigen nicht einfach dadurch umgehen können, dass er sich arm schenkt.8 Dementsprechend behandelt der BGH die ehebezogene Zuwendung im Erbrecht grundsätzlich wie eine Schenkung. Die Drittschutznormen der § 2113 Abs. 2, § 2287 Abs. 1, § 2288 Abs. 2 S. 2 und § 2325 Abs. 1 BGB finden damit prinzipiell Anwendung.9 In dem ausgeurteilten Fall bejahte der BGH zugunsten eines Vertragserben das Vorliegen einer Schenkung im Sinne des §  2287 BGB. Die Auflösung eines Gemeinschaftskontos und Vereinnahmung des hälftigen Gegenwertes durch einen Ehegatten sowie die Bestellung eines Nießbrauchs zu seinen Gunsten sah er als ergänzungspflichtig an.

7 Vgl. dazu im Einzelnen Kollhosser, NJW 1994, 2313, 2314 f.; J. Koch in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 516 BGB Rz 61.  8 Vgl. dazu Horn, NJW 2020, 1124; Lange in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 2325 BGB Rz. 23. 9 Gemmer in Große-Wilde/Quart, Deutscher Erbrechtskommentar, 2. Aufl. 2010, § 2325 BGB Rz. 9.

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Ehebezogene Zuwendungen im Pflichtteilsergänzungsrecht

2. Die tragenden Gründe Sind die Eheleute bei einer ehebezogenen Zuwendung nicht über die Unentgeltlichkeit einig, fehlt es an einem wichtigen Merkmal des Schenkungsbegriffs mit der Folge, dass im Erbrecht die drittschützenden Normen auf solche Rechtsgeschäfte familienrechtlicher Art an sich keine Anwendung finden. Dies führt nach Auffassung des BGH zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung insbesondere der Pflichtteilsberechtigten. Der BGH begnügt sich daher im Rahmen des § 2325 BGB mit der Prüfung der objektiven Unentgeltlichkeit und lässt diese grundsätzlich genügen. Er geht dabei davon aus, dass die Ehe im Allgemeinen keinen Anspruch auf derartige Vermögenszuwendungen gewährt, sodass in der Regel von der Unentgeltlichkeit der Zuwendungen auszugehen ist.10 3. Ausnahmesachverhalte Nach dem Grundsatzurteil des BGH aus dem Jahre 1991 und einer Folgeentscheidung aus dem Jahre 201811 ist der Erwerb eines zugewendeten Gegenstandes, auf den kein Rechtsanspruch besteht, unentgeltlich, wenn er nicht rechtlich abhängig ist von einer den Erwerb ausgleichenden Gegenleistung des Erwerbers. Dabei kommen als rechtliche Abhängigkeit, welche die Unentgeltlichkeit ausschließt und Entgeltlichkeit begründet, Verknüpfungen sowohl nach Art eines gegenseitigen Vertrages als auch durch Setzung einer Bedingung oder eines entsprechenden Rechtszwecks in Betracht.12 In seinem Grundsatzurteil spricht der BGH zwei Ausnahmen an. Dient die Zuwendung einer nach den konkreten Verhältnissen angemessenen Alterssicherung, liegt Entgeltlichkeit vor. Auch bei intakter Ehe schulden die Ehegatten einander Vorsorgeunterhalt gemäß § 1360 BGB, sodass eine unbenannte oder sogar ausdrücklich zur Alterssicherung bestimmte Zuwendung einem entsprechenden Anspruch objektiv entspricht. Darüber hinaus kann auch eine ehebedingte Zuwendung als entgeltlich angesehen werden, durch die langjährige Dienste nachträglich vergütet werden und sich die Vergütung im Rahmen des objektiv Angemessenen verhält.13

III. Weiterentwicklung der Rechtsprechung Seit dem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vom 27.11.1991 haben Oberlandesgerichte und der BGH selbst zu Einzelfragen ehebezogener Zuwendungen im Pflichtteilsergänzungsrecht Stellung genommen. Nachfolgend sollen vier Entscheidungen kurz angesprochen werden. Sie spiegeln den aktuellen Stand der Rechtsprechung wider. 10 BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167, 170 ff. 11 BGH v. 14.3.2018 – IV ZR 170/16, NJW 2020, 1475 ff. 12 BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167, 170; BGH v. 14.3.2018 – IV ZR 170/16, NJW 2020, 1475,1477; Löhnig, NJW 2018, 1435. 13 BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167, 173.

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1. Urteil des OLG Oldenburg v. 23.3.1999 – 5 U 134/98, FamRZ 2000, 638 ff. Diese Entscheidung kennzeichnet die Fallgruppe der nachträglichen Vergütung langjähriger Dienste. Für ihre etwa 30-jährige andauernde unentgeltliche Mitarbeit als Sprechstundenhilfe in der Praxis des Erblassers erhielt die Ehefrau neben Mobilien auch einen Miteigentumsanteil an einem Grundstück. Hierbei sind die Eheleute nach Auffassung des OLG in zulässiger Weise von einer entgeltlichen Übertragung aus­ gegangen. Der Pflichtteilsberechtigte habe nicht den ihm obliegenden Nachweis geführt, dass es sich bei dieser Entgeltvereinbarung um eine künstlich geschaffene Po­ sition handle. 2. Beschluss des OLG Schleswig v. 16.2.2010 – 3 U 39/09, ZEV 2010, 369 ff. Dieser Beschluss im Rahmen eines Prozesskostenhilfeverfahrens steht für die Fallgruppe der angemessenen Alterssicherung. Nach Ansicht des OLG Schleswig sind ehebedingte Zuwendungen im Regelfall objektiv unentgeltlich. Daran fehle es aber, wenn sich die Zuwendung im Rahmen einer nach den konkreten Verhältnissen angemessenen Alterssicherung halte. Dabei seien die Lebensverhältnisse der Eheleute vor dem Erbfall mit denen des überlebenden Ehegatten nach dem Erbfall zu vergleichen und es sei zu bedenken, dass sich die Kosten für die Aufrechterhaltung des bisherigen Lebensstandards auch im Hinblick auf die Haushaltsführung nicht schlicht halbieren, wenn einer der Eheleute stirbt. Konkret ging es um die Bestellung eines Zuwendungsnießbrauchs für die Ehefrau bei Übertragung eines Hausgrundstücks an ein Kind. 3. Urteil des OLG Schleswig v. 10.12.2013 – 3 U 29/13, ZEV 2014, 260 ff. Bei dem hier vorliegenden gemeinsamen Kauf eines Grundstücks zu Miteigentum der Eheleute und dessen Bebauung bei Finanzierung durch einen Ehepartner allein bejaht das OLG das Bestehen eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs. Unter Verweis auf die Grundsatzentscheidung des BGH vom 27.11.1991 führt es aus, dass kein Ausnahmefall von der Ergänzungspflicht vorliegt. Der Halbteilungsgrundsatz der Zugewinngemeinschaft rechtfertige entgegen einiger Literaturstimmen nicht die Annahme einer ergänzungsfreien Zuwendung. 4. Urteil des BGH v. 14.3.2018 – IV ZR 170/16, NJW 2018, 1475 ff. In diesem zu Finanzierungsleistungen für ein Hausgrundstück ergangenen Urteil geht der BGH noch einmal auf seine Grundsatzentscheidung vom 27.11.1991 ein. Pflichtteilsergänzungsansprüche gem. §  2325 BGB setzen danach voraus, dass der Erblasser eine Schenkung im Sinne des §  516 BGB gemacht hat, d.h. eine Zuwendung, die den Empfänger aus dem Vermögen des Gebers bereichert und bei der beide Teile darüber einig sind, dass sie unentgeltlich erfolgt. Dabei sei die Zuwendung unter Ehegatten einer Schenkung im Sinne des § 516 BGB auch unabhängig von einer Einigung über ihre Unentgeltlichkeit gleichgestellt. Eine ergänzungspflichtige Schenkung könne danach angenommen werden, wenn der ohne wirtschaftlichen 294

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Gegenwert erfolgte Vermögensabfluss beim Erblasser zu einer materiell-rechtlichen, dauerhaften und nicht nur vorübergehenden oder formalen Vermögensmehrung des Empfängers geführt habe. 5. Fazit Die von der Judikatur entwickelten Grundsätze sind kritisch zu bewerten. Sie sind weder klar noch einfach und erst recht nicht für den Rechtsuchenden durchschaubar. Es fehlen erläuternde Urteile ebenso wie verlässliche und konkrete Abgrenzungskriterien.14

IV. Die Literatur Die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27.11.1991 löste eine intensive Diskussion aus. Zu einer Klärung hat sie bislang nicht geführt. Die Literaturstimmen blieben in der Gerichtspraxis bislang weitgehend unberücksichtigt.15 1. Reaktionen auf die Grundsatzentscheidung des BGH Die Entscheidung des BGH ist teilweise erheblich kritisiert worden,16 hat aber auch vielfach Zustimmung erfahren.17 Einzelfragen sind in der Praxis mehr als umstritten.18 2. Lösungsvorschläge der Literatur In der Literatur finden sich unterschiedliche Lösungsansätze bei Prüfung der Frage, ob eine ehebezogene Zuwendung ergänzungspflichtig ist oder nicht. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Vorstellungen der Ehepartner Eine Meinung geht für die Beurteilung der ehebezogenen Zuwendung als entgeltlich oder unentgeltlich primär von den Vorstellungen der Ehegatten selbst aus. Der 14 Lange in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 2325 BGB Rz. 25; J. Koch in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 516 BGB Rz. 75; Rösler in Groll/Steiner (Hrsg.), Praxis-Handbuch Erbrechtsberatung, 5. Aufl. 2019, § 26 Rz. 26.307. 15 Rösler in Groll/Steiner (Hrsg.), Praxis-Handbuch Erbrechtsberatung, 5.  Aufl. 2019, §  26 Rz. 26.307. 16 Vgl. nur Staudinger/Olshausen, Kommentar zum BGB, 13.  Bearb. 1998, §  2325 BGB Rz.  26  f.; Klingelhöffer, NJW 1993, 1097, 1100  ff.; Pawlytta in Meyer/Süß/Tanck/Bittler (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 4. Aufl. 2018, § 7 Rz. 53 m.w.N. in Fn. 169. 17 Kollhosser, NJW 1994, 2313  ff.; Soergel/Dieckmann, Bürgerliches Gesetzbuch, 13.  Aufl. 2002, § 2325 BGB Rz. 17. 18 Schlitt in Schlitt/Müller (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Aufl. 2017, § 5 Rz. 78.

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Schutz berechtigter Drittinteressen, also der Pflichtteilsberechtigten, werde im Einzelfall über den Rechtsmissbrauchsgedanken erreicht.19 b) Erweiternde Auslegung des § 2330 BGB Dieckmann schlägt eine erweiternde Auslegung des § 2330 BGB vor. Von Entgeltlichkeit sei danach auszugehen, wenn ähnlich gelagerte Fälle wie bei der Pflichtund Anstandsschenkung vorlägen.20 c) Fiktiver Zugewinnausgleichsanspruch Andere Autoren stellen auf güterrechtliche Überlegungen ab und verneinen eine Ergänzungspflicht, wenn der Wert der Zuwendung nicht über einen fiktiven Zugewinnausgleichsanspruch des Erwerbers hinausgehe.21 d) Interessenabwägung und legitime Vermögensteilhabe Schließlich wird eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Belange des überlebenden Ehegatten vorgeschlagen. Immer wieder wird auch die These vertreten, dass es eine legitime Vermögensteilhabe des Ehegatten am Vermögen des anderen geben müsse.22

V. Zwischenergebnis zu den beiden Ausgangsfällen Nach Auffassung der Rechtsprechung ist der Erwerb des hälftigen Miteigentums am Einfamilienhaus bei ausschließlicher Finanzierung durch einen Ehepartner als ergänzungspflichtig anzusehen. Diese Auffassung wird von erheblichen Stimmen in der Literatur geteilt. Anders verhält es sich beim zweiten Beispiel. Hier spricht viel dafür, die Einräumung der Unterbeteiligung als angemessene Alterssicherungsregelung anzusehen. Nach Rechtsprechung und Literatur unterfällt sie nicht der Pflichtteilsergänzung.

VI. Eigene Lösung Die von Rechtsprechung und Literatur gewählten Lösungsansätze für die Frage, ob ehebezogene Zuwendungen pflichtteilsergänzungspflichtig sind oder nicht, bedürfen kritischer Betrachtung. Dazu im Einzelnen Nachstehendes:

19 Olshausen in Staudinger, Kommentar zum BGB, 13. Bearb. 1998, § 2325 BGB Rz. 27; ­Lange/ Kuchinke, Erbrecht, 5. Aufl. 2001, § 37 X 2 a. 20 Dieckmann in Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, 13. Aufl. 2002, § 2325 BGB Rz. 17. 21 Morhard, NJW 1987, 1734, 1736. 22 Langenfeld, NJW 1994, 2841; vgl. im Einzelnen dazu Pawlytta in Meyer/Süß/Tanck/Bittler (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 4.  Aufl. 2018, §  7 Rz.  55  ff.; Schlitt in Schlitt/Müller (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Aufl. 2017, § 5 Rz. 78 f.

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1. Das Missbrauchsargument In seiner Grundsatzentscheidung vom 27.11.1991 geht der BGH ausführlich auf den denkbaren Rechtsmissbrauch ein. Er meint, nur im Innenverhältnis zwischen den Eheleuten könne bei ehebezogenen Zuwendungen nicht von einer Schenkung ausgegangen werden. Im Erbrecht sei dies anders. Eine objektiv unentgeltliche Zuwendung müsse wie eine Schenkung behandelt werden. Nicht selten würden Erblasser Möglichkeiten nutzen, erhebliche Teile ihres Vermögens zum Nachteil von Pflichtteilsberechtigten oder Vertragserben durch Rechtsgeschäft unter Lebenden am Nachlass vorbei an ihnen genehmere Personen weiterzuleiten. Das nötige dazu, ehebezogene Zuwendungen im Erbrecht wie eine Schenkung zu behandeln.23 Diese Argumentation überzeugt nicht. Wie ein bestimmter Sachverhalt rechtlich zu würdigen ist, muss nach den allgemein gültigen methodischen Grundsätzen entwickelt werden. Dazu zählt nicht die Berufung auf einen denkbaren Rechtsmissbrauch. Jedes Recht kann missbräuchlich ausgeübt werden, ohne dass das Recht als solches infrage gestellt wird. Der Rechtsmissbrauchsgedanke begrenzt also die Anwendung eines Rechtssatzes; er rechtfertigt die Annahme einer Ausnahme, begründet jedoch nicht die Regelauslegung. 2. Ablehnung des Rechtsinstituts der ehebezogenen Zuwendung J. Koch kritisiert mit beachtlichen Argumenten die Rechtsfigur der ehebezogenen Zuwendung. Er meint, für Zuwendungen unter Ehegatten gebe es zahlreiche Rechtsgründe, für die bereits eine erhebliche Regelungsdichte bestehe. Der vom BGH eingeschlagene Weg, einen vollständig neuen Zuwendungstyp zu entwickeln, sei nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung zweifelhaft, sondern führe auch zu dem wenig überzeugenden Ergebnis, derartige Zuwendungen zunächst den §§  516  ff. BGB zu entziehen, um sie sodann doch wieder in weitem Umfang den Schenkungsregeln zu unterwerfen. Ehebezogene Zuwendungen seien ein überflüs­ siges Rechtsinstitut. Vielmehr seien die Schenkungsregelungen für sämtliche objektiv unentgeltlichen Zuwendungen zwischen Eheleuten anzuwenden.24 Der spezifischen Situation unterschiedlichster ehebezogener Zuwendungen wird das Schenkungsrecht nicht gerecht. Dies sieht J. Koch ebenso, wenn er erwägt, die §§ 528, 530 BGB möglicherweise in einer den ehelichen Besonderheiten angepassten Form anzuwenden. Soll eine solche Anpassung wegen der ehelichen Besonderheiten ohnehin erfolgen, ist es vorzugswürdig, doch bei dem wegen dieser Besonderheiten von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsinstitut der ehebezogenen Zuwendung zu bleiben und es weiterhin anzuerkennen. Es muss nur gelingen, die unterschiedlichsten Fallgruppen so zu erfassen, dass im größtmöglichen Umfang rechtssicher

23 BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167, 174 ff.; vgl. Pawlytta in Meyer/Süß/ Tanck/Bittler (Hrsg.), Handbuch Pflichtteilsrecht, 4.  Aufl. 2018, §  7 Rz.  55 m.w.N. in Fn. 175.  24 J. Koch in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 516 BGB Rz. 73 ff.

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festgestellt werden kann, ob bestimmte Zuwendungen ergänzungspflichtig sind oder nicht. 3. Dogmatische Herleitung Ob eine juristische Methode imstande ist, dem Rechtsanwender einen sicheren Weg zu einem gesicherten Ergebnis zu weisen, erscheint fraglich.25 Trotz dieser Relativierung bleiben die traditionellen hermeneutischen Erkenntnismittel wertvoll, insbesondere also die klassischen Auslegungskriterien wie Wortlaut, Textzusammenhang, Entstehungsgeschichte und Zweck. Sie führen nämlich dazu, Auslegungsprozesse transparent zu gestalten und Wertentscheidungen offenzulegen. a) Wertentscheidungen bei der Rechtsanwendung Vielen juristischen Entscheidungen liegen Wertungsprobleme zugrunde. Das zeigt gerade der im Grundsatzurteil des BGH vom 27.11.1991 herangezogene Rechtsmissbrauchsgedanke. Befürchtet der BGH, dass Erblasser zulasten der Pflichtteilsberechtigten den Nachlass schmälern, qualifiziert er ehebezogene Zuwendungen erbrechtlich als ergänzungspflichtige Schenkungen. Wertentscheidungen müssen transparent getroffen werden. Für die juristische Arbeit kann hier die von Vertretern des kritischen Rationalismus vorgeschlagene Folgendiskussion fruchtbar sein,26 und zwar schon deshalb, weil in vielen juristischen Auseinandersetzungen Folgenargumente verwandt werden, regelmäßig jedoch ohne über Herkunft und Funktion dieses Vorgehens Rechenschaft abzulegen. Hält der kritische Rationalismus dem Juristen die Relativität seiner Wertentscheidung vor Augen, so fragt sich, was eine Folgendiskussion27 für die Rationalität juristischer Wertungsakte leisten kann. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass das Aufzeigen der Folgen einer Entscheidung dem zur Entscheidung Berufenen die Wertung selbst nicht erspart. Die prognostizierten Entscheidungsfolgen beschreiben einen Zustand in der Form von Seins-Aussagen, von denen nicht auf SollensAussagen geschlossen werden darf. Vielmehr muss eine Wertung hinzutreten, die einen empirischen Zustand gegenüber einem anderen als vorzugswürdig erscheinen lässt. Die eigentliche Leistung der Folgendiskussion liegt darin, dass erst sie bewusstes Entscheiden ermöglicht und den Bereich der Eigenwertung eingrenzt, das Entscheiden also erleichtert. 25 Vgl. nur Adomeit in Görlitz (Hrsg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, 1972, S. 369, 370. 26 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, 178; Podlech, AöR, Bd. 95 (1970), 185, 197 f.; Schwerdtner, Rechtstheorie, 1971, S. 224, 241. 27 Folgendiskussion meint, dass für die Beurteilung ethischer Diskussionen nicht die Quelle irgendwelcher moralischer Prinzipien maßgebend ist, sondern die Auswirkungen einer Entscheidung auf das soziale Leben. Die Folgendiskussion setzt demnach das Wissen um die Folgen einer Entscheidung voraus, verlangt also, dass der Entscheidende die Folgen seiner – möglichen – Entscheidungen prognostizieren kann. Vgl. Rüssmann, JuS 1975, 352, 356 ff. Zur Struktur der Prognose siehe Opp, Soziologie im Recht, 1973, S. 16 f., 26 f.

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Dogmatische Aussagen müssen die getroffenen Wertungen in einem Argumenta­ tionszusammenhang mit den übrigen dogmatischen Lehren erkennen lassen. Sie müssen eine Kontrolle durch Rückführung auf die nach dem betreffenden dogmatischen Gesamtsystem rational, d.h. intersubjektiv nachprüfbar, tragenden Kriterien ermöglichen.28 b) Auslegung im Lichte der Grundrechte Die in den Grundrechten enthaltenen Wertentscheidungen sind bei der Auslegung privatrechtlicher Normen und Rechtsgeschäfte zu berücksichtigen. Ihnen kommt Ausstrahlungswirkung auf das gesamte Privatrecht zu. Dies entspricht der absolut herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur. Den Gerichten obliegt es, diesen grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren.29 4. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 5.2.2002 Das Bundesverfassungsgericht hat in den Jahren 2001 und 2002 bedeutsame Entscheidungen zum Eherecht verkündet. Durch Urteil vom 6.2.200130 leitete es eine Wende zur gerichtlichen Kontrolle von Eheverträgen ein. 2002 urteilte es zur Gleichwertigkeit von Familien- und Erwerbsarbeit bei der Bemessung nachehelichen Unterhalts. a) Maßgebender Inhalt der Beschlüsse vom 5.2.2002 Mit den Beschlüssen vom 5.2.200231 nahm das Bundesverfassungsgericht zum I­ nhalt der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG Stellung. Es stellte fest, dass die vorbezeichneten Artikel die Ehe als eine Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner schützt, in der die Ehegatten ihre persönliche und wirtschaftliche Lebens­führung in gemeinsamer Verantwortung bestimmen. Zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung gehören neben der Entscheidung, ob die Ehegatten Kinder haben wollen, insbesondere auch die Vereinbarung über die innerfamiliäre Arbeitsteilung und die Entscheidung, wie das gemeinsame Familieneinkommen durch Erwerbsarbeit gesichert werden soll. Dabei steht es den Ehepartnern frei, ihre Ehe so zu führen, dass ein Ehepartner allein einer Berufstätigkeit nachgeht und der andere sich der Familienarbeit widmet, ebenso wie sie sich dafür entscheiden können, beide einen Beruf ganz oder teilweise auszuüben und sich die Hausarbeit und Kinderbetreuung zu teilen oder diese durch Dritte durchführen zu lassen. 28 Vgl. Podlech in Adomeit, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. II 1972, 491, 500; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 91. 29 BVerfG v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198, 204 f.; BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, NJW 2001, 957 ff.; Grüneberg in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020, § 242 BGB Rz. 8. 30 BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/93, NJW 2001, 957 ff. 31 BVerfG Beschlüsse v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/91, 1 BvR 559/95 und 1 BvR 457/96, NJW 2002, 1185 ff.

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Kommen den Ehegatten gleiches Recht und gleiche Verantwortung bei der Ausgestaltung ihres Ehe- und Familienlebens zu, so sind auch die Leistungen, wie sie sie jeweils im Rahmen der von ihnen in gemeinsamer Entscheidung getroffenen Arbeits- und Aufgabenzuweisung erbringen, als gleichwertig anzusehen. Die Gleichwertigkeit der familiären Unterhaltsbeiträge ist unabhängig von ihrem wirtschaftlichen Wert und kommt dadurch zum Ausdruck, dass die von den Eheleuten für die eheliche Gemeinschaft jeweils erbrachten Leistungen gerade unabhängig von ihrer ökonomischen Bewertung gleichwertig sind und deshalb kein Beitrag eines Ehegatten höher oder niedriger bewertet werden darf als der des anderen. Sind die Leistungen, die die Ehegatten im gemeinsamen Unterhaltsverband erbringen, gleichwertig, haben beide Ehepartner grundsätzlich auch Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten, das ihnen zu gleichen Teilen zuzuordnen ist.32 b) Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zur Ehe auf das Pflichtteilsergänzungsrecht Die Grundrechte entfalten im Privatrechtsverkehr ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen.33 Dementsprechend ist es verfassungsrechtlich geboten, bei der Auslegung des §  2325 BGB den verfassungsrechtlichen Schutz der Ehe zu berücksichtigen und sich zu fragen, ob und ggf. in welchem Umfang er bei der Prüfung der Ergänzungspflicht ehebezogener Zuwendungen heranzuziehen ist. Übergangen werden darf er nicht unabhängig davon, zu welcher konkreten Entscheidung der Rechtsanwender kommt. Den Gerichten obliegt es, diesen grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren. Lässt indes eine angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang eines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den Rechtsfall von einigem Gewicht sind, muss das BVerfG korrigierend in diesen Prozess eingreifen.34 5. Anwendbarkeit des § 2325 BGB auf ehebezogene Zuwendungen Vor dem Hintergrund der grundrechtlichen Wertentscheidungen ist nunmehr zu untersuchen, welchen Einfluss sie auf das Problem der Ergänzungspflicht ehebezogener Zuwendungen haben. Dazu Folgendes: a) Leitbild der autonomen Gestaltung der Eheverhältnisse Der BGH vertritt in seiner Grundsatzentscheidung vom 27.11.1991 die Auffassung, die Haushaltstätigkeit eines Ehegatten sei keine Gegenleistung für Zuwen32 So im Einzelnen mit umfangreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des BVerfG, Beschlüsse v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/91, 1 BvR 559/95 und 1 BvR 457/96, NJW 2002, 1185 ff. 33 BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, NJW 2001, 957, 958. 34 BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, NJW 2001, 957, 958.

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dungen des anderen Teils. Diese erfolgten vielmehr nur in Anerkennung der Leistungen und Dienste des haushaltsführenden Ehegatten. Angesprochen sei mit dem Ausdruck Anerkennung die Haltung, die den Schenker einer belohnenden (remuneratorischen) Schenkung kennzeichne.35 Diese Meinung entspricht nicht dem vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Leitbild einer gleichberechtigten und teilhabegerechten Ehe.36 Immerhin räumt der BGH ein, dass seine Ansicht dem damaligen Stand der Rechtsentwicklung entspricht. Ob er unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heute zu einer anderen Bewertung kommen würde, bleibt abzuwarten. Jedenfalls trägt die damalige Begründung nicht mehr. Ist heute die von den Eheleuten getroffene Entscheidung zur Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse nach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG geschützt, muss dies grundsätzlich auch bei der Auslegung des § 2325 BGB berücksichtigt werden. Ehebezogene Zuwendungen sind daher prinzipiell nicht als Schenkungen im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren. Entscheiden sich Ehepartner wie in dem Beispielsfall 1 dazu, dass der Erwerb eines Einfamilienhauses zu je ½ ganz oder teilweise – in welchem Umfang auch immer – von dem einen oder anderen Ehegatten finanziert wird, so ist diese Entscheidung zu akzeptieren und nicht viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später durch die Diskussion infrage zu stellen, ob und welche Leistungen des verstorbenen Ehegatten ergänzungspflichtig sind. Der Autor hat in seiner 32-jährigen Notariatstätigkeit mehrere tausend Immobilienkaufverträge/Bauträgerverträge mit Eheleuten beurkundet. Für die ganz überwiegende Zahl der Eheleute spielte es überhaupt keine Rolle, welche finanziellen Beiträge von dem einen oder anderen nach der Lebensplanung erbracht werden sollten. Entscheidend war für die Eheleute nur, dass sie für sich ein eigenes Haus/ eine eigene Wohnung erwerben wollten. Nur in sehr wenigen Fällen entschieden sich Eheleute dafür, die Beteiligung des anderen von der Höhe seiner Leistungsfähigkeit abhängig zu machen und so ungleiche Beteiligungsquoten zu begründen. Bei solchen ökonomischen Entscheidungen stellt sich später dann die Frage nach einer Schenkung nicht. Wollen sich Eheleute – wie fremde Dritte – entsprechend ihrem Leistungsvermögen beteiligen, liegt Entgeltlichkeit im klassischen Sinne vor. b) Kriterien für eine zu verneinende Ergänzungsverpflichtung Die von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Fallgruppen für eine Verneinung der Ergänzungspflicht sind für den Rechtsanwender Anlass, über die zugrunde liegenden Sachverhalte nachzudenken und eine Entscheidung unter Berücksichtigung der Grundrechte zu treffen.37

35 BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, BGHZ 116, 167, 171. 36 So zu Recht Löhnig, NJW 2018, 1435, 1437. 37 Löhnig, NJW 2018, 1435, 1437; Olshausen in Staudinger, Kommentar zum BGB, 13. Bearb. 1998, § 2325 BGB Rz. 27; Klingelhöffer, Pflichtteilsrecht, 4. Aufl. 2014, 11. Teil, B III 2 i.kk. Rz. 593.

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Um dem Phänomen ehebezogener Zuwendungen und ihrer Berücksichtigung im Pflichtteilsrecht gerecht zu werden, ist es sachgerecht, auf die Kriterien der ehe­ lichen und sozialen Adäquatheit abzustellen. Diese neue Begrifflichkeit soll weder verwirren noch eine Scheinargumentation aufbauen. Zu prüfen ist ja in jedem konkreten Fall, ob eine Zuwendung pflichtteilsergänzungspflichtig ist oder nicht. Hierbei spielt – ebenso wie bei den Fallgruppen – eine entscheidende Rolle, ob die Zuwendung eheadäquat ist, d.h. sich im nachvollziehbaren Lebensplan der Ehepartner hält. Bei dem in der Praxis sicherlich häufigsten Fall des Erwerbes einer Immobilie zu je ½ liegt das auf der Hand. Nichts anderes gilt auch für das zweite Fallbeispiel. Wendet hier der Ehemann seiner Frau eine Unterbeteiligung an seinem Gesellschaftsanteil zu, geschieht dies unter Berücksichtigung der gemeinsamen wirtschaftlichen Grundlagen für die Ehe und in einer für jeden Dritten transparenten Weise. Das Kriterium der sozialen Adäquatheit vermittelt intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Transparenz. Es verhindert, Gestaltungen der Eheleute anzuerkennen, die erkennbar einen anderen Zweck verfolgen als die Verwirklichung ihrer gemeinsamen ehelichen wirtschaftlichen Pläne. Hier ist nämlich zu fragen, ob andere Ehepaare in vergleichbarer Situation solche Entscheidungen getroffen hätten. Damit soll nicht das Recht von Eheleuten infrage gestellt werden, sehr persönliche und ungewöhnliche Entscheidungen für sich zu fällen, die möglicherweise für Dritte nicht nachvollziehbar erscheinen. Ist dann aber später nach Tod eines Ehepartners im Erbrecht die Frage zu stellen, ob einzelne Zuwendungen ergänzungspflichtig sind oder nicht, muss der überlebende Partner die damalige Entscheidung rechtfertigen und substantiiert darlegen können, dass sie Ausfluss der ehelichen Lebens- und Erwerbsgemeinschaft waren. Im Rahmen der sozialen Adäquatheit spielt das Zeitmoment eine wichtige Rolle. Treffen Eheleute zu Beginn ihrer Ehe oder nach Geburt der Kinder gemeinsam die Entscheidung, eine Immobilie zu erwerben, so stellt sich für sie zu dieser Zeit die Frage nach einer Schmälerung des Nachlasses zulasten der Pflichtteilsberechtigten nicht. Jeder Notar würde völliges Unverständnis ernten, wenn er bei Beurkundung eines solchen Erwerbsvertrages das – statistisch sehr weit entfernt liegende – Problem einer Pflichtteilsergänzung anspricht, wenn beide Ehepartner – wie regelmäßig – nicht die gleichen wirtschaftlichen Beiträge für den Immobilienerwerb (Eigenkapital, Zins- und Tilgungsleistungen) erbringen. Das Zeitmoment beinhaltet ein wichtiges Überprüfungskriterium. Je näher Zuwendungen am Todesstichtag liegen, umso kritischer sind sie auf eheliche und soziale Adäquatheit zu prüfen. Dem Autor leuchtet es nicht ein, wenn die Rechtsprechung die nachträgliche Vergütung für langjährige Dienste als Fallgruppe für die Pflichtteilsergänzungsfreiheit ansieht. Sind sich Eheleute einig, dass ein Partner viele Jahre unentgeltlich im Unternehmen des anderen mitarbeitet, fragt sich, warum nach so vielen Jahren eine nachträgliche Vergütung mit der Konsequenz erfolgen soll, dass sich Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche ermäßigen.

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Ehebezogene Zuwendungen im Pflichtteilsergänzungsrecht

Festzuhalten ist damit: Sind sich Eheleute einig, dass sie ihre Ehe in bestimmter Weise als Lebens- und Erwerbsgemeinschaft führen wollen, ist diese Entscheidung nach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG geschützt. Dann liegt bei Zuwendungen ein Fall ehelicher Adäquanz vor. Um von Ergänzungspflichtfreiheit ausgehen zu können, muss diese Zuwendung auch sozial adäquat sein. Sind solche Zuwendungen im konkreten Fall auch für außenstehende Dritte transparent und intersubjektiv nachvollziehbar, sind sie anzuerkennen. Im Rahmen dieses Momentes spielen der Missbrauchsgedanke und das Übermaßverbot (vgl. § 1624 Abs. 1 BGB) eine Rolle. Es fehlt an einer sozialen Adäquatheit, wenn eine Zuwendung rechtsmissbräuchlich oder übermäßig ist. Ein Beispielsfall zur Verdeutlichung: Ein Ehepartner ist schwer erkrankt. Er ist Inhaber eines Aktiendepots. Weitere liquide Werte sind nur in geringfügigem Umfang vorhanden. Überträgt nunmehr der sterbende Ehepartner das Aktiendepot auf den künftig Überlebenden mit dem verbal erklärten Ziel, dessen Alter abzusichern, fehlt es an der sozialen Adäquatheit und dem damit verbundenen Zeitmoment. Diese Zuwendung ist ergänzungspflichtig. c) Verfassungsrechtlicher Schutz der Pflichtteilsberechtigten Das Pflichtteilsrecht wird durch die Verfassung geschützt. Für Kinder gilt, dass deren Nachlassteilhabe zwingend Ausdruck der auch verpflichtenden Familiensolidarität ist. Eine ersatzlose Abschaffung oder eine Beschränkung anhand konkreter Bedürftigkeit ist deshalb verfassungsrechtlich nicht zulässig.38 Die Anerkennung der Rechtsfigur der ehebezogenen Zuwendung als ergänzungspflichtfreier Leistung greift zwar in den Schutzbereich des Pflichtteilsrechts ein, verletzt aber nicht die grundrechtlich zwingende Nachlassteilhabe. Im Rahmen praktischer Konkordanz müssen Elternrecht und Kindesrecht abgewogen werden. Bei der hier vorgeschlagenen Lösung, ehebezogene Zuwendungen als pflichtteilsergänzungsfrei anzusehen, wenn sie ehelicher und sozialer Adäquatheit entsprechen, liegt keine Verletzung des kindlichen Grundrechtsschutzes vor. Bei den vorgeschlagenen Kriterien werden ja gerade Rechtsmissbrauch und Übermaß eliminiert. Anerkennenswerte ehebezogene Zuwendungen entsprechen dem insoweit vorgehenden Grundrecht der Ehepartner. d) Darlegungs- und Beweislast Machen Pflichtteilsberechtigte Ergänzungsansprüche gegenüber dem überlebenden Elternteil geltend, sind sie nach den allgemeinen prozessualen Regeln darlegungs- und beweispflichtig für das Vorliegen einer Schenkung (unentgeltlichen Zuwendung). Bei entsprechendem Vortrag trifft dann die in Anspruch genommene Partei die sekundäre Darlegungslast zur Entgeltlichkeit der Zuwendung.39 Dieser sekundären Darlegungslast genügt der überlebende Ehegatte, wenn er die eheliche und soziale Adäquatheit durch entsprechenden Tatsachenvortrag belegt. Dieser schafft eine –  freilich widerlegbare  – Vermutung für das Vorliegen einer 38 BVerfG v. 19.4.2005 – 1 BvR 1644/00, NJW 2005, 1561 ff.; Weidlich in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020, § 2303 BGB Rz. 4. 39 BGH v. 14.3.2018 – IV ZR 170/16, NJW 2018, 1475, 1477.

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Karlheinz Lenkaitis

pflichtteilsergänzungsfreien Zuwendung. Der Anspruchsteller muss dann nachweisen, dass die vorgetragenen Gründe für eine eheliche und soziale Adäquatheit nicht vorliegen, also nur Fassade sind, um in Wirklichkeit der Pflichtteilsergänzung zu entgehen.

VII. Ergebnis Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind wie folgt zusammenzufassen: 1. Anerkennung der Rechtsfigur der ehebezogenen Zuwendung Die Rechtsfigur der ehebezogenen Zuwendung ist trotz beachtenswerter Kritik in der Literatur nach wie vor anzuerkennen. Hinter ihr verbergen sich typische Sachverhalte, die juristische Probleme kennzeichnen und zur Prüfung der Frage geeignet sind, ob Zuwendungen ergänzungspflichtfrei sind oder nicht. 2. Eheliche und soziale Adäquatheit Unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe sind ehebezogene Zuwendungen entgeltlich, wenn sie ehelicher und soziale Adäquatheit entsprechen. Die eheliche Adäquatheit ist anhand der subjektiven Vereinbarungen und Lebensweisen festzustellen, die ein Ehepaar für seine Lebens- und Erwerbsgemeinschaft aufstellt und lebt. Soziale Adäquatheit liegt vor, wenn die Verhaltensweisen der Eheleute intersubjektiv nachvollziehbar und transparent sind. Treffen Eheleute in bestimmten typischen Situationen Entscheidungen, die auf ihre Einkommens- und Vermögenssituation Einfluss haben, sind sie anzuerkennen. Anderes gilt für Fälle des Rechtsmissbrauches und des Übermaßes. 3. Darlegungs- und Beweislast Sind Zuwendungen unter Eheleuten ehelich und sozial adäquat, besteht eine – widerlegbare – Vermutung für die Entgeltlichkeit. Darlegungs- und beweispflichtig für das Gegenteil ist der Pflichtteilsberechtigte. Dem in Anspruch genommenen Elternteil obliegt eine sekundäre Darlegungslast. Bei entsprechendem Vortrag des Anspruchstellers muss er detailliert, nachvollziehbar und transparent darlegen, dass die ihm gewährte Zuwendung seines verstorbenen Ehepartners ehelich und sozial adäquat war und sie deshalb nicht der Pflichtteilsergänzung unterfällt.

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Der Sitz der Gesellschaft bürgerlichen Rechts − de lage lata und de lege ferenda Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Satzungssitz und Vertragssitz 1. Der Satzungssitz der GmbH und der AG (§ 4a GmbHG, § 5 AktG) 2. Der gesellschaftsvertragliche Sitz der OHG und KG (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB) 3. § 4a GmbHG, § 5 AktG und § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB als versteckte Kollisions­ normen a) Unionsrechtlicher Niederlassungsschutz von OHG und KG b) Die MoMiG-Reform 2008: primärrechtlich fundierte Sitzspaltungsfreiheit nach § 4a GmbHG und § 5 AktG c) § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB als versteckte Kollisionsnorm 4. Der Vertragssitz der Gesellschaft bürgerlichen Rechts a) Zwischenresümee: der Satzungsbzw. Vertragssitz bei der AG, GmbH, KG und OHG b) Bestimmung des Vertragssitzes der GbR nach den Gesamtumständen III. Internationalvertragsrechtliche Qualifikation der Innen-GbR

IV. Sitzbegriff und Zivilverfahrensrecht 1. Unionsrechtliche Zuständigkeits­ regelungen a) Vertragssitz iSv Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO b) Gesellschaftssitz iSv Art. 24 Nr. 2 EuGVVO 2. Gesellschaftssitz iSv § 17 Abs. 1 S. 2 ZPO V. Der Sitz der GbR nach dem RegE MoPeG 1. Zum Verhältnis von kollisionsrechtlicher und sachrechtlicher Definition des Gesellschaftssitzes: Sitzkongruenz versus Sitzspaltungsfreiheit 2. Sitzspaltungsfreiheit nur für die einge­ tragene GbR? a) Grundsatz: Sitzspaltungsfreiheit der GbR b) Unionsrechtswidrige Beschränkung der Sitzspaltungsfreiheit auf die eingetragene GbR 3. Der Gesellschaftssitz als Zuständigkeitsort für Beschlussmängelklagen VI. Resümee

I. Einleitung Mit seiner bei Harm Peter Westermann geschriebenen, mit dem Prädikat summa cum laude versehenen Bielefelder Dissertation zum Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts („GbR“), hat Lutz Aderhold schon früh seine juristische Brillanz unter Beweis gestellt.1 Der bewundernswerte berufliche Erfolg des Jubilars als Rechtsanwalt und 1 Aderhold, Das Schuldmodell der BGB-Gesellschaft, 1981. Der BGH hat die Dissertation des Jubilars (S. 110 f.) in seiner Grundsatzentscheidung BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341, 346 – „ARGE weißes Ross“ zur judiziellen Anerkennung der Rechtsfähigkeit der GbR an prominenter Stelle zitiert, was den Doktoranden, der viel Arbeit und Mühe in dieses beeindruckende wissenschaftliche Erstlingswerk investiert hat, sicher gefreut haben dürfte.

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Notar in Dortmund, der seinen Kulminationspunkt in der Leitung einer großen, in ganz Deutschland aktiven, insbesondere auf das M&A-Geschäft, die Umstrukturierung von Unternehmen und die Beratung im Insolvenzbereich spezialisierten deutschen Wirtschaftskanzlei als deren Seniorpartner gefunden hat, konnte angesichts dieses schon frühen fulminanten Auftakts zu einer vorbildlichen Karriere als Prak­ tiker des Gesellschaftsrechts kaum mehr überraschen. Gleiches gilt auch für die später erfolgte Ernennung des mittlerweile erprobten Praktikers zum Honorarprofessor an der Universität Münster. Der Verfasser hofft, mit dem vorliegenden Beitrag zum Begriff und zur Bedeutung des Sitzes der GbR Lutz Aderhold als ausgewiesenen Kenner des Rechts dieser Gesellschaftsform intellektuell zu stimulieren und ihm dabei vielleicht auch den einen oder anderen Gedanken für seine künftige Tätigkeit als Berater der Praxis liefern zu können. Aktueller Anlass für eine Abhandlung der mit dem Sitz der GbR zusammenhängenden Rechtsfragen ist nicht zuletzt die gegenwärtig stattfindende Diskussion um eine umfassende Reform des Rechts der Personengesellschaften. Damit ist der gegenwärtig im Gesetzgebungsverfahren befindliche Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts vom 22.1.2021 angesprochen, der im Wesentlichen an den Referentenentwurf vom 18.11.2020 anknüpft.2 Die Gesamtbeurteilung des letztgenannten ganze 351 Seiten umfassenden und schon wegen seines schieren Umfangs sicher als „groß“ zu bezeichnenden Entwurfs fällt durchaus unterschiedlich aus.3 Diese kurze Studie ist dem Jubilar in alter, herzlicher Freund2 Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz  – MoPeG) vom 22.1.2021, BR-Drucks. 59/21, im Folgenden zitiert als „RegE MoPeG“; Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – MoPeG) vom 18.11.2020, online abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumen​ te/RefE_Personengesellschafts​recht.pdf?__blob=publicationFile&v=1, im Folgenden zitiert als „RefE MoPeG“. Der Referentenentwurf wurde vorbereitet durch den von einer durch das BMJV eingesetzten Kommission hochrangiger Experten des Personengesellschaftsrechts ­erarbeiteten sog. „Mauracher Entwurf “ vom 20.4.2020, online abrufbar unter www.bmjv.de/ SharedDocs/Downloads/DE/News/PM/042020_Entwurf_Mopeg.pdf. Die Einsetzung der Expertenkommission folgte auf die Erörterung des Reformbedarfs auf dem 71. Deutschen Juristentag 2016 (Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. II/2 – Sitzungsberichte – S. O 115 ff. (Diskussion) und O 219 ff. (Beschlüsse)) und die Bekundung des Willens zur Reformation des Personengesellschaftsrechts im Koalitionsvertrag vom 14.3.2018 (Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 19.  Legislaturperiode, Berlin 12.3.2018; https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4 cb2 892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download = 1, S. 131) ; zur Historie des RegE MopeG Schollmeyer, NZG 2021, 129 f. Der Mauracher Kommission gehörten folgende Mitglieder an: Alfred Bergmann, Barbara Grunewald, Marc Hermanns, Thomas Liebscher, Max Noack, Gabriele Roßkopf, Carsten Schäfer, Eberhard Schollmeyer (BMJV), Johannes Wertenbruch. 3 Bachmann, NZG 2020, 612, 619, hat den RefE MoPeG als „großen Entwurf “ bezeichnet; positiv auch die Bewertung des Mauracher Entwurfs von Schall, ZIP 2020, 1143, 1148 („gute Diskussionsgrundlage“, „wohl durchdacht und technisch fein gemacht“); wie auch Heckschen, NZG 2020, 761(„positiver Schritt zur Reform des Personengesellschaftsrechts“); diffe-

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schaft und bester Erinnerung an die gemeinsam verbrachte Zeit als junge Doktoranden am Lehrstuhl von Harm Peter Westermann in Bielefeld mit herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag und für ein weiteres frohes Schaffen in seiner Kanzlei, wie auch der Wissenschaft und Lehre vom Zivilrecht zugeeignet. Die nachfolgenden Überlegungen beginnen mit der Herausarbeitung einer nicht nur für die Rechtsform der GbR, sondern auch für die Kapitalgesellschaften (AG und GmbH), sowie auch für die Personenhandelsgesellschaften (OHG und KG) grundlegenden Unterscheidung. Dabei geht es zum einen um den im Kapitalgesellschaftsrecht als Satzungssitz bezeichneten Sitz der Gesellschaft und dessen personengesellschaftsrechtliches Pedant, den sog. „Vertragssitz“.4 Die Bedeutung dieser statutarischen bzw. gesellschaftsvertraglichen Variante des Gesellschaftssitzes ist sowohl für die Kapital- und Personenhandelsgesellschaften wie auch für die GbR im materiellen deutschen Gesellschaftsrecht (Sachrecht) zu finden (dazu nachfolgend II.). Dem gesellschaftsvertraglichen/statutarischen Sitzbegriff ist der Sitzbegriff des Internationalen Gesellschaftsrechts gegenüberzustellen, den das Kollisionsrecht kurz gewendet als den tatsächlichen Verwaltungssitz definiert5. Dabei ist zu beachten, dass auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften im europäischen Binnenmarkt (Art. 49, 54 AEUV)6 sowohl dem Vertragssitz als auch dem tatsächlichen Verwaltungssitz kollisionsrechtliche Bedeutung als Anknüpfungsmerkmal für die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts zukommen kann; auch dies gilt für die GbR ebenso wie für die Kapitalgesellschaften und die Personenhandelsgesellschaften (siehe nachfolgend III.). Von der auf den Gesellschaftssitz abstellenden kollisionsrechtlichen Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts an den Gesellschaftssitz streng zu unterscheiden ist die kollisionsrechtlich nach den Regeln des Internationalen Vertragsrechts vorzunehmende Qualifikation der Innengesellschaft bürgerlichen Rechts, für die dem Gesellschaftssitz keine Bedeutung zukommt (nachfolgend III.). Eine weitere, über das materielle Gesellschaftsrecht und das Gesellschaftskollisionsrecht hinausgehende Bedeutung des Sitzbegriffs ist schließlich im renzierend zum Mauracher Entwurf dagegen Habersack, ZGR 2020, 539, 539 ff. Ganz anders und wohl realistischer fällt das Urteil zum Mauracher Entwurf, der sedes materiae der ­MoPeG-Reform, von Altmeppen, NZG 2020, 822 aus, der bemerkt: “Die umfassende neue Regelung des deutschen Personengesellschaftsrechts nach Maßgabe des Entwurfs (die Generationen von Juristen zwingen würde, diesen Pflichtfachstoff praktisch neu zu lernen) bringt keine relevante Verbesserung, wenn man das geltende Recht richtig versteht und nur punktuell missglückte Regelungen korrigiert. Dieser Weg ist vorzuziehen.“ 4 Zum Begriff des Vertragssitzes vgl. § 706 S. 2 RegE MoPeG: „Ist die Gesellschaft im Gesellschaftsregister eingetragen und haben die Gesellschafter einen Ort im Inland als Sitz vereinbart (Vertragssitz), so ist dieser Ort Sitz der Gesellschaft.“ Der Begriff „Vertragssitz“ findet sich auch bereits in § 706 S. 2 des Mauracher Entwurfs: „Ist die Gesellschaft im Gesellschaftsregister eingetragen, kann der Verwaltungssitz von dem Ort im Inland abweichen, den die Gesellschafter als Sitz vereinbart haben (Vertragssitz).“ 5 Vgl. dazu die Definition in § 706 S. 1 RegE MoPeG: „Sitz der Gesellschaft ist der Ort, an dem deren Geschäfte tatsächlich geführt werden (Verwaltungssitz).“ Siehe auch bereits § 706 S. 1 des Mauracher Entwurfs: „Sitz der Gesellschaft ist der Ort, an dem die Geschäfte tatsächlich geführt werden (Verwaltungssitz).“ 6 Nachw. in Fn. 22.

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Zivilverfahrensrecht zu finden; dabei geht es um Bestimmungen, mit denen das (Internationale) Zivilprozessrecht dem Sitz der Gesellschaft zuständigkeitsbegründende Wirkung beimisst (nachfolgend IV.). Aus aktuellem Anlass gilt es schließlich auch, die Bedeutung des Sitzes der GbR nach dem gegenwärtig die gesellschaftsrechtliche Diskussion beherrschenden RegE MoPeG zu erkunden (nachfolgend V.). Der Beitrag endet mit einer kurzen Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse (nachfolgend VI.).

II. Satzungssitz und Vertragssitz 1. Der Satzungssitz der GmbH und der AG (§ 4a GmbHG, § 5 AktG) Nach §  4a GmbHG und dem im Wesentlichen wortgleichen §  5 AktG muss eine deutsche GmbH oder AG einen in der Satzung zu bestimmenden Gesellschaftssitz haben. Durch diese statutarische Sitzbestimmung wird u.a. der Gerichtsbezirk festgelegt, in dem eine GmbH oder AG gem. § 7 Abs. 1 GmbHG, § 37 Abs. 1 AktG, § 377 Abs.  1 FamFG zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden ist7, sowie auch der allgemeine Gerichtsstand der Kapitalgesellschaft nach § 17 Abs. 1 ZPO8. Der Satzungssitz muss nach § 4a GmbHG, § 5 AktG im Inland liegen; damit wird die Verankerung der Kapitalgesellschaft in der deutschen Rechtsordnung gewährleistet.9 Ohne einen inländischen Satzungssitz, der die Zugehörigkeit zur deutschen Rechtsordnung gebührend dokumentiert, würde eine deutsche Kapitalgesellschaft, um ein im Schrifttum verwendetes Sinnbild zu gebrauchen, rechtlich gewissermaßen „in der Luft hängen“.10 Ein Gesellschafter- oder Hauptversammlungsbeschluss einer deutschen GmbH oder AG über die Verlegung des Satzungssitzes ins Ausland ist wegen Verstoßes gegen das in § 4a GmbHG, § 5 AktG ausgesprochene zwingende Gebot des inländischen Satzungssitzes gemäß (bei der GmbH analog) § 241 Nr. 3 1. Alt AktG

7 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 4a Rz. 3, § 7 Rz. 4; Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 5 Rz. 4, § 14 Rz. 3; Preuß, GmbHR 2007, 57, 58. 8 Altmeppen, GmbHG, 10. Aufl. 2021, § 4a Rz. 5; Dauner-Lieb in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2010, § 5 Rz. 15. 9 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20.  Aufl. 2020, §  4a Rz.  4; Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 5 Rz. 7; Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4895, wo der Verf. den Ausdruck „Rechtssitz“ verwendet; Paefgen in FS Vetter, 2019, S. 527 f.; Preuß, GmbHR 2007, 57, 58. 10 Treffend dazu Weller in FS Blaurock, 2013, S. 497, 509 ff., mit dem illustrativen Beispiel: „Eine deutsche GmbH mit Satzungssitz in London ist genauso ausgeschlossen wie eine englische Limited mit registered office in Berlin“; Weller, Sitzverlegung von Gesellschaften in Europa: rechtliche und praktische Probleme, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht, Universität Bonn, Heft Nr. 198, S. 13 ff.; Ego in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2017, Europäische Niederlassungsfreiheit, Rz. 61; Verse, ZEuP 2013, 458, 460 Fn. 5; anders dagegen aber wohl Korch/Thelen, IPRax 2018, 248, 249, wo irriger Weise davon die Rede ist, eine Gesellschaft könne unter Beibehaltung ihrer bisherigen Rechtsform nur ihren Satzungssitz ins Ausland verlegen.

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nichtig.11 Denn das befremdliche Konstrukt einer deutschen Kapitalgesellschaft ohne inländischen Registersitz, der die Zugehörigkeit zur deutschen Rechtsordnung gebührend dokumentiert, ist mit dem Wesen einer deutschen AG/GmbH schlichtweg nicht vereinbar.12 Derartige Beschlüsse dürfen in das deutsche Handelsregister nicht eingetragen werden.13 Erfolgt die Eintragung dennoch in unzulässiger Weise, droht Amtslöschung nach §§ 395, 398 FamFG.14 2. Der gesellschaftsvertragliche Sitz der OHG und KG (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB) In der obergerichtlichen Rspr. wird der „Ort, an dem die Gesellschaft ihren Sitz hat“ iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB als der Ort der Hauptverwaltung definiert.15 So kann man es auch in der ganz überwiegenden Literatur nachlesen.16 Legt man diese Interpreta11 Zu § 4a GmbHG BGH v. 3.6.2008 − XI ZR 353/07, ZIP 2008, 1627, 1628 (Gesellschaftssitz in der Schweiz); Servatius in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 4a Rz. 7; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 4a GmbHG Rz. 21; Heinze in MünchKomm. GmbHG, 3 Aufl. 2018, § 4a Rz. 105; Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6 Aufl. 2017, § 4a Rz. 10; zu § 5 AktG Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 5 Rz. 9; für Auflösung der Gesellschaft dagegen OLG Hamm v. 1. 2. 2001 − 15 W 390/00, NJW 2001, 2183 f.; OLG Düsseldorf v. 26.3.2001 − 3 Wx 88/01, BB 2001, 901 f. 12 Vgl. dazu das Zitat von Weller in FS Blaurock, 2013, S. 497, 509 ff.; Heinze in MünchKomm. GmbHG, 3 Aufl. 2018, §  4a Rz.  105; Möhrle in Happ, Aktienrecht, Bd.1., 5.  Aufl. 2019, S. 299 f. 13 BGH v. 3.6.2008 − XI ZR 353/07, ZIP 2008, 1627, 1628; BayObLG v. 11. 2. 2004 − 3Z BR 175/03, ZIP 2004, 806 f.; Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 5 Rz. 9; dazu auch LG Leipzig, AG 2004, 459. 14 Servatius in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22.  Aufl. 2019, §  4a Rz.  7; Hüffer/Koch,  AktG, 14. Aufl. 2020, § 5 Rz. 9; Krafka in MünchKomm. FamFG, 2. Aufl. 2013, § 395 Rz. 11 (Eintragung zu löschen, wenn sie die materielle Rechtslage unzutreffend darstellt); Holzer in Prütting/Helms, FamFG, 4.  Aufl. 2018, §  395 Rz.  9; Schemann in Haußleiter, FamFG, 2. Aufl. 2017, § 395 Rz. 11; OLG Düsseldorf v. 14.12.1998 − 3 Wx 483–98, NJW-RR 1999, 1052, 1053; OLG Zweibrücken v. 28.10.1988 – 3 W 121/88, ZIP 1989, 241, 242; entsprechend zu § 399 Abs. 4 Alt. 2 FamFG bei der GmbH BGH v. 3.6.2008 − XI ZR 353/07, ZIP 2008, 1627, 1628; für Anwendbarkeit des Amtsauflösungsverfahrens nach §  399 Abs.  4 FamFG auch Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 4a Rz. 21. 15 KG v. 16.4.2012 − 25 W 39/12, ZIP 2012, 1668 f. („Sitz stets am Ort der faktischen Geschäftsleitung“); KG v. 7.2.2012 − 25 W 4/12, NZG 2012, 1346, 1347 („Sitz der tatsächlichen  Hauptverwaltung also der Geschäftsführung“); offengelassen von OLG Schleswig v. 14.11.2011 − 2 W 48/11, GmbHR 2012, 800, 801. 16 Langheim in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 106 Rz. 26 („Ort der Hauptverwaltung“); Born in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, § 106 Rz. 14 („Ort, von dem aus tatsächlich die Geschäfte geleitet werden und an dem sich der Schwerpunkt der unternehmerischen Betätigung befindet“); Steitz in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 106 HGB Rz. 13 („der tatsächliche Verwaltungssitz, d.h. der Ort, von dem aus die Geschäfte der Gesellschaft faktisch geleitet werden bzw. – sofern dies auf mehrere Orte zutrifft – der Ort der Hauptverwaltung“); Kindler in Koller/Kindler/Roth/Drüen, HGB, 9. Aufl. 2019, §106 Rz.  2 („Ort der tatsächlichen Verwaltung“); Klimke in BeckOK HGB, Stand 15.10.2020, §  106 Rz.  20, 7(effektiver Verwaltungssitz); Krafka/Kühn, Registerrecht, 10.  Aufl. 2017, Rz. 607 („Ort der tatsächlichen Geschäftsführung“) und 641; Preuß in Fleischhauer (Hrsg.), Handelsregisterrecht, 3.  Aufl. 2014, Rz.  68 („Ort der tatsächlichen Geschäftsführung“);

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tion zugrunde, müsste der mit dem gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB beim Handelsregister anzumeldenden Gesellschaftssitz identische Ort der Hauptverwaltung einer deutschen OHG oder KG stets im Inland liegen, denn nur dann bestünde überhaupt eine deutsche Registerzuständigkeit, über die eine „Verankerung“ der Gesellschaft in der deutschen Rechtsordnung bewirkt werden könnte.17 Teile des Schrifttums be­ ziehen sich zur Begründung dieser Auffassung auf zwei ältere BGH-Urteile.18 Die ­Essenz dieser Interpretation ist darin zu erblicken, dass das deutsche Recht der Personenhandelsgesellschaften einen vom tatsächlichen Verwaltungssitz der OHG/KG zu unterscheidenden gesellschaftsvertraglich bestimmten Gesellschaftssitz (Vertragssitz) angeblich nicht kennen soll.19 Wie im Folgenden näher auszuführen sein wird, ist die von einem Prinzip der Sitzkongruenz ausgehende Auffassung der bisher noch h.M. mit dem primärrechtlichen Schutz der Niederlassungsfreiheit von OHG und KG im europäischen Binnenmarkt nach Art. 49, 54 AEUV und der darauf gründenden, mit dem Begriff Sitzspaltungsfreiheit trefflich umschriebenen Freiheit, den tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen als den im Gesellschaftsvertrag festgelegten Sitzstaat (Vertragssitz/Registersitz) zu legen, nicht zu vereinbaren. Richtig erscheint es vielmehr, mit einer in der Literatur im Vordringen begriffenen Meinung den Gesellschaftssitz der OHG/KG iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2, § 161 Abs. 2 HGB nach dem Vorbild des Satzungssitzes der Kapitalgesellschaft (vgl. II.1)) und im Einklang mit der üblichen Terminologie des Personengesellschaftsrechts als gesellschaftsvertraglichen Sitz zu definieren, von dem der kollisionsrechtlich relevante tatsächliche Verwaltungssitz (dazu nachfolgend unten IV.) sorgfältig zu unterscheiden ist.20

M. Noack, NZG 2020, 581, 583; Punte/Pelle/Melchior, GmbHR 2013, 853, 855 f.; J. Heinemann, FGPrax 2012, 173; Jaensch, EWS 2007, 97, 99. 17 Vgl. oben II.1. bei Fn. 9. 18 BGH v. 27.5.1955 – II ZR 317/55, WM 1957, 999, 1000; BGH v. 18.12.1968 – I ZR 130/66, BB 1969, 328, 329; auf diese Urteile bezugnehmend Born in Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, § 106 Rz. 14 und Steitz in Henssler/Strohn, GesR, 5. Aufl. 2021, § 106 HGB Rz. 13. 19 Deutlich so Saenger in FS Pöllath + Partner, 2008, S. 295, 302, wo es heißt, die Personengesellschaft verfüge über keinen statutarischen Sitz. 20 Vgl. BayObLG v. 11.2.2004 − 3Z BR 175/03, ZIP 2004, 806, 808; öst. OGH v. 12.2.1998 – 6 Ob 267/97 a, NZG 1998, 504 f.; Haas in Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB, 5. Aufl. 2019, § 106 Rz. 10; Schäfer in Habersack, Das Recht der OHG, 2. neubearb. Aufl. 2018, § 116 Rz. 19; Baumbach/Hopt/M. Roth, 40. Aufl. 2021, § 106 HGB Rz. 8 (im markanten Gegensatz zur Vorauflage); Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, §  60 Rz.  I-4125; Paefgen in FS Vetter, 2019, S.  627, 532 ff.; W.-H. Roth, ZGR 2014, 168, 197 f.; Koch, ZHR 173 (2009), 101 ff.; Zimmer/Naendrup, NJW 2009, 545, 548; Fingerhuth/Rumpf, IPRax 2008, 90, 93 f.; Pluskat, WM 2004, 601, 608 f.; Trautrims, Das Kollisionsrecht der Personengesellschaften, 2009, S. 180 ff.; Lechner, Das Schicksal der europäischen Personengesellschaften im Zeitalter der Niederlassungsfreiheit, Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Einfluss der Niederlassungsfreiheit auf die kollisionsrechtliche Behandlung der Personengesellschaften, 2014, S. 78, 81 („neues Sitzverständnis“ geboten).

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De lege ferenda ist hier zu bemerken, dass die Entscheidung des Gesetzgebers für die in § 706 BGB-E des RegE MoPeG vorgesehene Sitzspaltungsoption bei der eingetragenen GbR (dazu unten V.2.) über die Verweisungsnormen der § 105 Abs. 3, § 161 Abs. 2 HGB auch auf die Personenhandelsgesellschaften durchschlagen würde.21 Der vorstehend skizzierten Überlegungen zur systematisch kohärenten Auslegung des Sitzbegriffs des § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB im Sinne eines vom tatsächlichen Verwaltungssitz zu unterscheidenden Vertragssitzes der Personenhandelsgesellschaften bedürfte es dann nicht mehr. 21a 3. § 4a GmbHG, § 5 AktG und § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB als versteckte Kollisionsnormen a) Unionsrechtlicher Niederlassungsschutz von OHG und KG Das Recht der in einem EU- bzw. EWR-Staat gegründeten Gesellschaften, als Gesellschaft des Rechts ihres Gründungsstaats durch Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, hat der EuGH im „Überseering“-Urteil mit aller Deutlichkeit statuiert und im „Inspire Art“-Urteil nochmals bekräftigt.22 Über das durch Art. 49, 54 AEUV geschützte Recht auf Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen EU/EWR-Mitgliedstaat hinaus kommt die unionsrechtlich gewährleistete Sitzspaltungsfreiheit auch in den primärrechtlich geschützten Sitzspaltungsoptionen der grenzüberschreitenden Verschmelzung (EuGH-Urteil „SEVIC“) und des grenzüberschreitenden Formwechsels (EuGH-Urteil „Polbud“) zum Ausdruck.23 Dieser kollisionsrechtliche Niederlassungsschutz in der Form einer unionsrechtlichen Gründungstheorie, kommt nicht nur den Kapitalgesellschaften zugute, sondern auch den Personengesellschaften.24 21 Vgl. Heckschen, NZG 2020, 761, Otte-Gräbener, BB 2020, 1295, 1296; Storz, GWR 2020, 257, 259. 21a Sinngemäß so auch Fleischer, DStR 2021, 430, 434, wo es heißt, der MoPeG-Entwurf verhelfe dieser Auffassung nun zum Durchbruch. 22 EuGH v. 5.11.2002 − C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Rz. 61 ff., insb. Rz. 70 f., 80 (Überseering) m. Bespr. Paefgen, WM 2003, 561 ff.; EuGH v. 30.9.2003 − Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Rz.  102  f., 137  ff. (Inspire Art) m. Anm. Paefgen, WuB II N. Art.  43 EG 2.04, S. 122; zusammenfassend zur EuGH-Rspr. Paefgen in FS Vetter, 2019, S. 627, 628 f. 23 EuGH v. 13.12.2005 − C-411/03, Slg. 2005, I-10805, Rz. 16 ff. (SEVIC); EuGH v. 25.10.2017 − C-106/16, WM 2017, 239  ff. (Polbud); zusammenfassend zu dem sich damit auf der Ebene des primären Unionsrechts entfaltenden Szenario einer dreifaltigen Sitzspaltungsfreiheit Paefgen, WM 2019, 1029, 1030 f. 24 Kindler in MünchKomm. BGB, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, 8. Aufl. 2021, Rz. 285 ff.; Schall in Heidel, HGB, 2. Aufl. 2015, Anh Int. PersGR, Rz. 71; Baumbach/ Hopt/M. Roth, HGB, 40. Aufl. 2021, Einl. vor § 105 HGB Rz. 29; ders., WM 2019, 1029, 1032; ders., FS Vetter, 2019, S. 627, 531 f.; ders., WM 2003, 561, 565 f.; Paefgen, in: Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4887 ff.; Wiedemann, GesR II, 2004, S. 60 f.; Koch, ZHR 173 (2009), 101, 1, 12 f.; Saenger in FS Pöllath + Partner, 2008, S. 295, 296 f.; monografisch Trautrims, Das Kolli­ sionsrecht der Personengesellschaften, 2009, S. 78 ff.; Lechner, Das Schicksal der europä­ ischen Personengesellschaften im Zeitalter der Niederlassungsfreiheit, Eine rechtsverglei-

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b) Die MoMiG-Reform 2008: primärrechtlich fundierte Sitzspaltungsfreiheit nach § 4a GmbHG und § 5 AktG Die vorstehend zitierte Rspr. des EuGH zum Niederlassungsschutz der Gesellschaften im europäischen Binnenmarkt nach Art. 49, 54 AEUV (II.3.a) bei Fn. 22) hat den deutschen Gesetzgeber veranlasst, im Zuge der MoMiG-Reform von 200825 den jeweils zweiten Absatz des § 4a GmbHG a.F. und des § 5 AktG a.F., wo noch ein Gesellschaftssitz am Ort der Verwaltung, der Geschäftsführung oder einer Betriebsstätte der Gesellschaft vorgeschrieben war, zu streichen. Richtig verstanden enthalten § 4a GmbHG und § 5 AktG idF des MoMiG versteckte Kollisionsnormen, die der deutschen GmbH und AG die Möglichkeit eröffnen, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz unter Beibehaltung des durch den Satzungssitz begründeten deutschen Gesellschaftsstatuts ins Ausland zu verlegen (näher dazu noch sogleich unter II. 3. c)). Mit § 4a GmbHG und § 5 AktG idF des MoMiG wurde so den deutschen Kapitalgesellschaften dem primären Unionsrecht entsprechend die Option der Aufspaltung von kollisionsrechtlichem Verwaltungssitz einerseits und sachrechtlichem Satzungssitz andererseits eingeräumt. Das Wesensmerkmal dieses Regelungsansatzes ist die Anerkennung zweier unterschiedlicher Arten von Gesellschaftssitzen, die sich jeweils an unterschiedlichen Orten befinden können. Dafür bietet sich die Bezeichnung Sitzspaltungsmodell an (vgl. oben II.2.) c) § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB als versteckte Kollisionsnorm In Anbetracht der mit der Neufassung von § 4a GmbHG und § 5 AktG durch das MoMiG in das deutsche Recht eingeführten unionsrechtlich fundierten Sitzspaltungsfreiheit (vorstehend II.3.b)) war von Teilen des Schrifttums zwecks Gleichschaltung mit der durch das MoMiG geänderten Rechtslage bei der GmbH und der AG für die niederlassungsrechtlich ebenso wie die Kapitalgesellschaften geschützte OHG und die KG (vorstehend II.3.a)) eine gesetzgeberische Korrektur dahingehend gefordert worden, dass es sich bei dem Gesellschaftssitz iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB um den im Gesellschaftsvertrag festzulegenden Gesellschaftssitz (Vertragssitz/Registersitz) handele, der im Sinne der unionsrechtlich geschützten Sitzspaltungsfreiheit ebenso wie der Satzungssitz nach § 4a GmbHG und § 5 AktG nicht notwendig im gleichen Staat liegen müsse wie der tatsächliche Verwaltungssitz.26 Dass der MoMiGchende Untersuchung zum Einfluss der Niederlassungsfreiheit auf die kollisionsrechtliche Behandlung der Personengesellschaften, 2014, S. 13 ff., 50 ff. Zum staatsvertraglichen Niederlassungsschutz siehe Kindler in MünchKomm. BGB, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, 8. Aufl. 2021, Rz. 329 ff.; Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, § 60 Rz. I-4129; ­Paefgen in FS Vetter, 2019, S. 527, 534. 25 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 26 Eine solche Korrektur fordernd Baumbach/Hopt/M. Roth, HGB, 40. Aufl. 2021, § 106 Rz. 8; Fleischhauer/Preuss, Handelsregisterrecht, 3. Aufl. 2014, Rz. 69; Wicke, DNotZ 2017, 261, 272; Leitzen, NZG 2009, 728; dies erwägend, letztlich aber verwerfend Langheim in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 106 Rz. 28.

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Gesetzgeber mit § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB das mit der Neufassung von § 4a GmbHG und § 5 AktG für die Kapitalgesellschaften im deutschen Recht festgeschriebene Sitzspaltungsmodell auch für die OHG und die KG absichern wollte, folgt indessen mittelbar daraus, dass nach § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB die Anmeldung der Gesellschaft zum Handelsregister die inländische Geschäftsanschrift enthalten muss. Mit dieser mit § 8 Abs. 4 Nr. 1 GmbHG und § 37 Abs. 3 Nr. 1 AktG idF des MoMiG koinzidierenden Regelung wollte der Gesetzgeber die Erreichbarkeit und Zustellungsbereitschaft solcher Personenhandelsgesellschaften sicherstellen, deren Verwaltungssitz nicht an dem in § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB angesprochenen deutschen Registersitz der Personenhandelsgesellschaft liegt. Müsste der zwingend inländische Gesellschaftssitz iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB (s. oben II.1. bei Fn. 10.) stets mit dem Verwaltungssitz der Gesellschaft zusammenfallen, wäre diese Regelung obsolet.27 Liegt, wie vorstehend ausgeführt werden konnte, der Regelung des Sitzes der OHG und der KG nach §§ 106 Abs. 2 Nr. 2, 161 Abs. 2 HGB das gleiche Sitzspaltungsmodell wie § 4a GmbHG und § 5 AktG idF des MoMiG zugrunde, so ist in § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB genauso eine im Gesellschaftssachrecht versteckte, die europarechtliche Gründungstheorie in das deutsche Kollisionsrecht der Personenhandelsgesellschaften einbettende Kollisionsnorm zu erkennen, wie dies im Hinblick auf § 4a GmbHG und § 5 AktG für die Kapitalgesellschaften zutrifft (vgl. oben II.3.b)). Für die damit einhergehende Untermauerung der unionsrechtlich geschützten Niederlassungs­ freiheit der im europäischen Binnenmarkt tätigen deutschen OHG und KG (vgl. oben II.3.a)) spricht nicht zuletzt, dass die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter bei den Personenhandelsgesellschaften als einer idealtypisch gestaltungsoffenen Gesellschaftsform (§§  109, 163 HGB) gerade auch, was die Wahl des Gesellschaftsstatuts anbetrifft, nicht hinter der Gestaltungsfreiheit bei den Kapitalgesellschaften zurückbleiben sollte.28 Die grundsätzliche Relevanz des vorstehend skizzierten Sitzspal27 Vgl. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 49 mit Verweis auf S. 35 f., wo es mit Bezug auf die Parallelregelung zur inländischen Geschäftsanschrift in §  8 Abs.  4 GmbHG heißt: „In der Regel wird die angegebene Geschäftsanschrift mit der Anschrift des Geschäftslokals, dem Sitz der Hauptverwaltung oder des maßgeblichen Betriebes übereinstimmen. Besitzt die Gesellschaft solche Einrichtungen nicht oder nicht mehr, wird eine andere Anschrift als „Geschäftsanschrift“ angegeben werden müssen. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn die Gesellschaft ihren Verwaltungssitz über eine Zweigniederlassung im Ausland hat.“ Instruktiv dazu auch Krafka/Kühn, Registerrecht, 11.  Aufl. 2019, Rz.  340a: „durchaus denkbar, dass die … Lage der Geschäftsräume in Paris (Frankreich), der regis­ trierte Satzungssitz in Bremen und die im Register eingetragene … inländische Geschäftsanschrift in … Berlin … liegt.“ 28 Vgl. Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4896; ders., FS Vetter, 2019, S. 527, 535; sowie erfreulich klar und deutlich auch Lieder in Oetker, HGB, 6.  Aufl. 2019, §  106 Rz.  23: „Mit Blick auf die durch das MoMiG bewerkstelligte Entkopplung von Verwaltungs- und Satzungssitz bei Kapitalgesellschaften ist eine deutlich strengere Handhabung für Personengesellschaften schwerlich zu rechtfertigen. Das gilt umso mehr mit Blick auf das hohe Maß an Ge­ staltungsfreiheit, das Personengesellschaften nach dem gesetzlichen Regelungssystem der §§ 105 ff. zuteil wird“. Siehe dazu auch öst. OGH v. 12.2.1998 – 6 Ob 257/97 a, NZG 1998, 504, 505.

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tungsreglements für die deutsche KG mit ausländischem Komplementär wird von einem erfahrenen Praktiker zu Recht betont.29 4. Der Vertragssitz der Gesellschaft bürgerlichen Rechts a) Zwischenresümee: der Satzungs- bzw. Vertragssitz bei der AG, GmbH, KG und OHG Vorstehend konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei der Rechtsfigur des Gesellschaftssitzes iSv § 4a GmbHG, § 5 AktG und § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB um eine gesellschaftsrechtsdogmatisch einheitliche, rechtsformübergreifende und unionsrechtlich der Niederlassungsfreiheit deutscher Gesellschaften im europäischen Binnenmarkt nach Art. 49, 54 AEUV gerecht werdende Erscheinung handelt. Kurz gewendet könnte man formulieren: So wie die GmbH und die AG einen statutarisch festzulegenden Satzungssitz haben müssen, müssen die OHG und die KG einen im Gesellschaftsvertrag festzulegenden Vertragssitz haben, der gleichzeitig auch als Registersitz der jeweiligen Gesellschaftsform zu verstehen ist (vorstehend II.1. bis 3.). b) Bestimmung des Vertragssitzes der GbR nach den Gesamtumständen Die hergebrachten Vorschriften zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB) kennen das Regelungskonzept eines Vertrags- und Registersitzes nicht. Weder schreibt das BGB die Aufnahme einer Regelung zum Vertragssitz in den Gesellschaftsvertrag vor, noch sieht das hergebrachte Gesellschafts- und Registerrecht − im markanten Gegensatz zu den Personenhandelsgesellschaften − die Eintragung der GbR in ein Register vor. Es wäre jedoch ein Trugschluss, daraus ableiten zu wollen, die GbR verfüge im Gegensatz zu den Personenhandelsgesellschaften (vgl. oben II.3.c)) nicht über einen Vertragssitz. Denn ebenso wie der GmbH, AG, OHG und KG kommt auch der GbR Niederlassungsschutz im europäischen Binnenmarkt nach der auf Art. 49, 54 AEUV fußenden kollisionsrechtlichen Gründungstheorie zu (vgl. oben II.3.a)). Bei der vom Kollisionsrecht geforderten Bestimmung des Gründungsstatuts der GbR ist nach zurzeit geltendem Recht in Anbetracht des Fehlens einer Registereintragung, die sich als Bestimmungskriterium verwenden ließe, auf die Gesamtumstände der ­Gesellschaftsgründung abzustellen.30 Hier ist in erster Linie nach objektiven Indizien 29 Heckschen, NZG 2020, 761, 763, mit Blick auf die in § 706 BGB-E des RegE MoPeG vorgesehene Sitzspaltungsfreit, die nach §§ 105 Abs. 3, 161 Abs. 2 HGB für die Personenhandelsgesellschaften entsprechend zur Anwendung käme (vgl. dazu oben II.2. bei Fn. 21); zu dem in diesem Zusammenhang angeführten Vorschlag, der KG ohne natürliche Person als Komplementär, gleich ob in- oder ausländischer Rechtsform, einen am Stammkapital der GmbH angelehnten Betrag der aggregierten Haftsummen vorzuschreiben Habersack, ZGR 2020, 539, 565. 30 Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4897 f.; Baumbach/Hopt/M. Roth, HGB, 40. Aufl. 2021, § 106 HGB Rz. 8 („Sitz in Gesamtschau zu bestimmen“).

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Ausschau zu halten, die den Willen der Gesellschafter bekunden, das Gesellschaftsverhältnis einer bestimmten Rechtsordnung zu unterstellen. Dazu gehören insbe­ sondere das Auftreten der Gesellschaft unter einer bestimmten nationalen Rechtsform wie die ausdrückliche Bezeichnung als „Gesellschaft bürgerlichen Rechts“ oder „GbR“ im Gesellschaftsertrag und/oder die Angabe einer bestimmten Rechtsform auf Visitenkarten und Geschäftsbriefen, die Bezugnahme auf deutsche Rechtsnormen im Gesellschaftsvertrag (z.B. §§ 705 ff. BGB), oder auch die Organisation der Gesellschaft nach dem für eine deutsche GbR typischen Muster, was etwa durch den Rückgriff auf bestimmte Hand- und Formularbücher geschehen kann.31 Die in §§ 707 BGB-E des RegE MoPeG vorgesehene Option der Registereintragung der GbR, die nach §  707 Abs.  2 Nr.  3 auch Angaben zur Vertretungsbefugnis enthalten müsste, dürfte der insoweit in rechtspolitischer Hinsicht durchaus erforderlich erscheinenden Schaffung von Rechtsklarheit durchaus dienlich sein.32 Bei dem Verwaltungssitz, präzisierend und gängigem Sprachgebrauch entsprechend als tatsächlicher oder effektiver Verwaltungssitz zu bezeichnen, handelt es sich um eine Rechtsfigur des Internationalen Privatrechts. Der tatsächliche Verwaltungssitz bezeichnet das Anknüpfungsmerkmal, nach dem entsprechend der sog. Sitztheorie des autonomen deutschen Gesellschaftskollisionsrechts bei Fällen mit Auslandsberührung das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht zu bestimmen ist.33 Diese deutsche kollisionsrechtliche Anknüpfungsregel ist von der an den Satzungs- bzw. Vertragssitz der Gesellschaft anknüpfenden unionsrechtlichen Gründungstheorie (siehe oben II.3.a)) sorgfältig zu unterscheiden, die auf grenzüberschreitende Sachverhalte im EU/EWR-Raum Anwendung findet:34 Der kollisionsrechtliche Verwaltungssitz im Sinne der Sitztheorie ist der Ort, wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden.35 31 Ausführlich zur Anwendung und Abgrenzung von Sitztheorie und unionsrechtlich fundierter Gründungstheorie bei der Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4874 ff. 32 Vgl. Habersack, ZGR 2020, 539, 550, der davor warnt, dass auch künftig Transparenzverweigerer gerne die Möglichkeit in Anspruch nehmen würden, die Segnungen der Rechtsfähigkeit unter Verzicht auf Publizität in Anspruch zu nehmen und auf diesem Weg die GbR als Vehikel für systematische Intransparenz und Vermögensverschleierung einzusetzen. 33 BGH v. 27.10.2008 − II ZR 158/06, BGHZ 178, 192, 196  ff.  – „Trabrennbahn“; BGH v.  20.7.2012 − V ZR 142/11, WM 2012, 1631, Rz.  27; BGH v. 1.7.2002 − II ZR 380/00, BGHZ 151, 204, 206 ff. – „Jersey Company“; BGH v. 21.3.1986 − V ZR 10/85, BGHZ 97, 269, 271 f.; BGH v. 5.11.1980 − VIII ZR 230/79, BGHZ 78, 318, 322, 334; BGH v. 30.1.1970 − V ZR 139/68, BGHZ 53, 181, 183; BGH v. 11.7.1957 − II ZR 318/55, BGHZ 25, 134, 144; Kindler in MünchKomm. BGB, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, 8.  Aufl. 2021, Rz.  423  ff.; Leible in Michalski/Leible/Heidinger/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, Syst. Darst. 2 Rz. 4 ff.; Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4874. 34 Vgl. oben II.3.a) bei Fn. 22. 35 BGH v. 21.3.1986 − V ZR 10/85, BGHZ 97, 269, 272; OLG Frankfurt v. 23.6.1999 – 22 U 219/97, GmbHR 1999, 1254 m. Anm. Borges; KG v. 13.6.1989 − 6 U 591/89, NJW 1989,

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Bei dem tatsächlichen Verwaltungssitz im Sinne der deutschen Gesellschaftskollisionsrechts handelt es sich um ein zwingendes Anknüpfungsmerkmal, das bezweckt, der Durchsetzung inländischer Schutzinteressen des von der Tätigkeit einer Gesellschaft in der Regel am stärksten betroffenen Sitzstaates zu dienen.36 Hingegen kommt in der Anknüpfung an das Recht des Satzungs- bzw. Vertragssitzes der Gesellschaft nach der unionsrechtlich bzw. staatsvertraglich (vgl. II.3.a) Fn. 24) fundierten Gründungstheorie eine Art kollisionsrechtlicher Rechtswahlfreiheit zum Ausdruck. Denn der unionsrechtliche Niederlassungsschutz bezieht sich allein auf den durch die Trennung von tatsächlichem Verwaltungssitz und Satzungssitz begründeten grenzüberschreitenden Zustand, nicht dagegen auf das Vorliegen einer tatsächlichen Mobilitätskomponente; er kommt deshalb richtiger Ansicht nach auch dann zum Tragen, wenn bereits im Zeitpunkt der Gesellschaftsgründung der effektive Verwaltungssitz einer deutschen GbR im europäischen Ausland belegen war, wie dies etwa bei der Gründung einer deutschen GbR als ARGE oder Bankenkonsortium mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Brüssel, Luxemburg oder Amsterdam der Fall sein könnte.37 Kurz gewendet bedeutet das: Die Gesellschafter können durch die Wahl der deutschen Rechtsform einer GbR und der damit zwingend verbundenen Wahl des deutschen Rechts der GbR als Vertragssitz iSd materiellen deutschen Gesellschaftsrechts und kollisionsrechtlich relevantes Gründungstatut das anwendbare Gesellschaftsrecht und den davon zu unterscheidenden Verwaltungssitz grundsätzlich frei wählen. Im markanten Gegensatz zur den Gesellschaftssitz zwingend festlegenden kollisionsrechtlichen Sitztheorie gewährleistet die kollisionsrechtliche Gründungstheorie, soweit der EU/EWR-Raum betroffen ist, damit eine umfassende Sitzwahlfreiheit, der Grenzen nur durch das unionsrechtliche Verbot des Missbrauchs der Niederlassungsfreiheit gesetzt sind.38 Dass die Ausnutzung der den Gesellschaftern einge­ räumten Gestaltungsfreiheit keinen Missbrauch der Niederlassungsfreiheit sondern 3100, 3101; BayObLG v. 18.7.1985 − BReg. 3 Z 62/85, BayObLGZ 1985, 272, 279; sowie im Schrifttum mit weiteren Einzelheiten Kindler in MünchKomm. BGB, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, 8. Aufl. 2021, Rz. 459 ff.; Weller in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Einl. Rz. 321 f.; Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4874; Paefgen, FS Vetter, 2019, S. 527, 528; Sandrock, FS Beitzke, 1979, S.  669, 683; Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996, S. 28. 36 BGH v. 30.3.2000 − VII ZR 370/98, NZG 2000, 926 (Vorlagebeschluss „Überseering“); BGH v. 26.9.1966 − II ZR 56/65, NJW 1967, 36, 38; Kindler in MünchKomm. Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, 8. Aufl. 2021, Rz. 424; Paefgen, WM 2003, 561, 563. 37 Vgl. OLG Zweibrücken v. 26.3.2003 − 3 W 21/03, NZG 2003, 537 (538); Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4885, I-4890, I-4896; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 4a Rz. 9; Saenger in FS Pöllath + Partner, 2008, S. 295, 306; Schön, ZGR 2013, 333, 352 f.; W.-H. Roth, ZGR 2014, 168, 198; Koch, ZHR 173 (2009), 101, 106; Verse, ZEUP 2013, 458, 473; Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2243 f.; Jaenisch, EWS 2007, 92, 100 (einschl. Fn. 142); Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 926 (929); Weller, IPRax 2003, 324 (327); aA Kindler, EuZW 2012, 888, 890; Teichmann, DB 2012, 2087; G. Roth, ZIP 2012, 1744 f.; W.-H. Roth, IPRax 2003, 117 (126); Kieninger, ZGR 1999, 724, 728 ff. 38 Die hier zu Tage tretende kollisionsrechtliche Dimension der Sitzspaltungsfreiheit zutr. betonend Heckschen, NZG 2020, 761, 746.

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vielmehr nur deren unionsrechtlich legitimen Gebrauch darstellt, entspricht der gefestigten Rspr. des EuGH.39

III. Internationalvertragsrechtliche Qualifikation der Innen-GbR Was die GbR in der Form einer Innengesellschaft betrifft40, so kommt gesellschaftskollisionsrechtlich weder dem für die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts nach der unionsrechtlichen Gründungstheorie auschlaggebenden Vertragssitz noch auch dem nach der deutschen Sitztheorie maßgeblichen tatsächlichen Verwaltungssitz (vorstehend II.4.) Bedeutung zu. Die Frage nach der Bestimmung des Gesellschaftssitzes stellt sich hier von vornherein nicht. Vielmehr sind Innengesellschaften bürgerlichen Rechts in kollisionsrechtlicher Hinsicht vertragsrechtlich zu qualifizieren; das anwendbare Recht ist daher gem. Art. 3 f. der EU-Verordnung Nr. 593/2008 (Rom I-­ VO) zu bestimmen.41 Die Unterscheidung bei der kollisionsrechtlichen Anknüpfung von Innen- und Außen-GBR findet ihren Grundlage darin, dass Personengesellschaften nur insoweit nach den in erster Linie aus der Perspektive der Kapitalgesellschaft entwickelten Regeln des Gesellschaftskollisionsrechts zu behandeln sind, als sie solchen körperschaftlich verfassten juristischen Personen ähnliche Wesensmerkmale aufweisen.42 Dies trifft neben Gesellschaften in der Form einer deutschen OHG, KG oder GmbH & Co. KG auch auf die nach der neueren Rspr. des BGH43 mit Rechtsfähigkeit aus­ gestattete BGB-Außengesellschaft zu.44 An dieser kollisionsrechtlichen Einordnung 39 EuGH v. 25.10.2017 − C-106/16, WM 2017, 2359, Rz.  62 und 40 (Polbud); zust. Bayer/​ J. Schmidt, ZIP 2017, 2225, 2232; EuGH v. 9.3.1999 – C-212/97, Slg. 1999, I-1459, Rz. 17 f. (Centros), sowie EuGH v. 30.9.2003 − C-167/01, Slg. 2003 I-10155 Rz. 95 ff., 137 f. (Inspire Art), m. Anm. Paefgen, WuB II N. Art. 43 EG 2.04, 119, 121; BGH v. 14.3.2005 − II ZR 5/03, NJW 2005, 1648, 1649, m. Bespr. Paefgen, GmbHR 2005, 957, 958; zusammenfassend Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4893. 40 Krit. gegenüber dieser auch im RegE MoPeG, S. 107 zu findenden Begriffsbildung Bachmann, NZG 2020, 612, 614, der moniert, „die bildhafte Trennung von „Innengesellschaft“ und „Außengesellschaft“ gehört in Lehrwerke, nicht in das Gesetz, welches die rechtsfähige von der nicht rechtsfähigen Gesellschaft zu trennen ha[be].“ 41 Ausführlich zum Folgenden Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-5902 ff. 42 BGH v. 26.9.1966 − II ZR 56/65, NJW 1967, 36, 38; RG v. 11.2.1896 – Beschw.-Rep. I 4/96, RGZ 36, 172, 177; Kindler in MünchKomm. BGB, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, 8. Aufl. 2021, Rz. 287; Großfeld in Staudinger, IntGesR, 1998, Rz. 746; W.-H. Roth, ZGR 2014, 168, 179; Trautrims, Das Kollisionsrecht der Personengesellschaften, 2009, S. 141 f. 43 BGH v. 29.1.2001 − II ZR 331/00, BGHZ 146, 341, 344 ff. – „ARGE weißes Ross“; sowie nachfolgend BGH v. 18.2.2002 − II ZR 331/00, NJW 2002, 1207; BGH v. 16.7.2001 − II ZB 23/00, BGHZ 148, 291, 293 f.; BGH v. 1.7.2002 − II ZR 380/00, BGHZ 151, 204, 206; BGH v. 24.2.2003 − II ZR 385/99, BGHZ 154, 88, 94. 44 Ebenroth, JZ 1987, 265 (266); Großfeld in Staudinger, IntGesR, 1998, Rz.  752; Kindler in Münch-Komm. BGB, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, 8.  Aufl. 2021, Rz. 286; Wiedemann, GesR II, 2004, § 1 IV 2 b; Schücking, WM 1996, 281 (286).

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würde auch die im Mauracher Entwurf noch vorgesehene Streichung der in §  14 Abs. 2 BGB zu findenden sachrechtlichen Definition der rechtsfähigen Personengesellschaft nichts ändern.45 Bei solchen Außengesellschaften gebietet es der Gedanke des Verkehrsschutzes, den internationalvertragsrechtlichen Grundsatz der Parteiautonomie bei der Wahl des anwendbaren Rechts hinter einer objektiven, für alle Beteiligten voraussehbaren und rechtssicheren Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts zurücktreten zu lassen.46 Dem steht es nicht entgegen, dass die rechtsfähige Außen-GbR de lege lata wie auch de lege ferenda nach dem RegE MoPeG nicht als juristische Person, sondern vielmehr nur als selbständiges Rechtssubjekt systematisch einzuordnen ist.47 Dagegen ist bei Innengesellschaften des Typs der deutschen stillen Gesellschaft (§ 230 Abs. 2 HGB), der Unterbeteiligung wie auch sonstigen BGB-Innengesellschaften, die sich auf die Begründung obligatorischer Rechte und Pflichten im Verhältnis der Gesellschafter zueinander beschränken48, die internationalprivatrechtliche Inte­ ressenlage derjenigen beim Abschluss schuldrechtlicher Verträge mit Auslandsberührung vergleichbar. Nach Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO herrscht daher grundsätzlich Rechtswahlfreiheit.49 Die Frage nach dem Sitz der Innen-GbR erweist sich in Anbetracht der internationalvertragsrechtlichen Qualifikation als obsolet.

IV. Sitzbegriff und Zivilverfahrensrecht Über die vorstehend (II. bis IV.) abgehandelten Aspekte des Kollisions- und materiellen deutschen Gesellschaftsrechts hinaus kommt dem Gesellschaftssitz der GbR − so wie bei den anderen deutschen Gesellschaftsformen − verfahrensrechtliche Bedeutung bezüglich solcher Zuständigkeitsregelungen zu, die an den Gesellschaftssitz anknüpfen. Dabei ist zwischen Zuständigkeitsregelungen des europäischen Unionsrechts und dem autonomen deutschen Zivilprozessrecht zu unterscheiden. 45 Vgl. Mauracher Entwurf (Fn. 2), S. 2; zu Recht krit. dagegen Bachmann, NZG 2020, 612, der § 14 Abs. 2 BGB die legitime Funktion zuschreibt, darauf hinzuweisen, dass es neben natürlichen und den juristischen Personen im deutschen Recht noch eine dritte Kategorie des Rechtssubjekts in der Form der rechtsfähigen Personengesellschaft gebe; dazu auch Bachmann, FS K. Schmidt, 2019, Bd. I, S.  49, 57  ff.; sowie Wertenbruch in FS Seibert, 2019, S. 1089, 1093. 46 Blaurock, FS Westermann, 2008, S. 821 (829 ff.); Schall in Heidel, HGB, 2. Aufl. 2015, Anh. Int. PersGesR Rz. 13 ff.; sowie ausführlich Trautrims, Das Kollisionsrecht der Personengesellschaften, S. 127 ff. 47 Zur fehlenden Qualität der juristischen Persönlichkeit der GbR Bachmann, FS K. Schmidt, 2019, Bd. I, S. 49, 57. 48 Sinnleich soll die Innengesellschaft sich nach § 740 BGB-E RegE MoPeG dadurch auszeichnen, dass sie nicht die in § 705 Abs. 2 BGB-E RegE MoPeG wie folgt definierten Voraussetzungen einer Außengesellschaft erfüllt: „Die Gesellschaft kann entweder selbst Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, wenn sie nach dem gemeinsamen Willen der Gesellschafter am Rechtsverkehr teilnehmen soll (rechtsfähige Personengesellschaft) … .“ Siehe dazu auch Begr. RegE MoPeG, S. 110, 135; Schäfer, ZIP 2020, 1149, 1150.  49 Zu weiteren Einzelheiten und typischen Fallkonstellationen wie internationalen Konsortien, Stimmrechtspools etc. Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-5903 ff.

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1. Unionsrechtliche Zuständigkeitsregelungen Unionsrechtliche Zuständigkeitsregelungen, die auf den Sitz der Gesellschaft abstellen, finden sich in Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO und Art. Art. 24 Nr. 2 EuGVVO.50 a) Vertragssitz iSv Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO Nach Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO (Verordnung (EU) Nr. 1215/2010 (kurz auch als Brüssel1a-VO bezeichnet) ist für die Begründung der internationalen Zuständigkeit am „Wohnsitz“ einer Gesellschaft iSv Art. 4 EuGVVO deren „satzungsmäßiger Sitz“ maßgeblich. Dazu hat der VI. Zivilsenat des BGH in einem Urteil, in dem es um die Klage gegen eine deutsche GmbH mit Verwaltungssitz in Italien ging, ausgeführt, dass der Begriff des Satzungssitzes iSv Art.  63 Abs.  1 lit. a EuGVVO auf den Satzungssitz nach § 4a GmbHG abhebe und keine Verwaltungs- oder Geschäftstätigkeit am Ort des Satzungssitzes der GmbH sowie generell keinen über den Registertatbestand hinausgehenden realwirtschaftlichen Bezug zum Registerstaat erfordere.51 Da bei der GbR der Vertragssitz funktional dem Satzungssitz nach §  4a GmbHG entspricht (vgl. oben II.4.), ist auf diesen dann folglich auch für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit am Sitz der GbR nach Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO abzustellen.52 b) Gesellschaftssitz iSv Art. 24 Nr. 2 EuGVVO Den für die Begründung der internationalen Zuständigkeit in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten maßgeblichen Begriff des Gesellschaftssitzes iSv Art.  24 Nr.  2 EuGVVO hat der II. Zivilsenat des BGH unter Berufung auf die europarechtliche Gründungstheorie als den Satzungssitz im Herkunftsland der Gesellschaft definiert, wobei es auf einen realwirtschaftlichen Bezug zum Gründungsstaat nicht ankomme. Da es bei der Anwendung der europarechtlichen Gründungstheorie auf die GbR auf den Vertragssitz der Gesellschaft ankommt (vgl. oben II.4.b)), ist auf diesen dann folglich auch für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit nach Art.  24 Nr. 2 EuGVVO abzustellen. 2. Gesellschaftssitz iSv § 17 Abs. 1 S. 2 ZPO § 17 Abs. 1 Abs. 1 S. 2 ZPO, der für die Bestimmung des allgemeinen Gerichtsstands der Gesellschaft nach dem autonomen deutschen Verfahrensrecht auf den Ort abstellt, wo die Verwaltung geführt wird, gilt auch für die mit Rechtsfähigkeit ausgestat50 Vgl. zum Folgenden die sinngleichen Ausführungen zur internationalverfahrensrechtlichen Bedeutung des Gesellschaftssitzes der Personenhandelsgesellschaften bei Paefgen in FS Vetter, 2019, S. 527, 537 f. 51 BGH v. 14.11.2017 – VI ZR 73/17, NZG 2018, 259, 260 f., m. Anm. Rüdiger, GmbHR 2018, 375 f., Werner, GmbHR 2018, 372 und Schwetlik, GmbHStB, 2018, 145 ff. 52 Vgl. Ringe, IPRax 2007, 388, 389 (der „satzungsmäßige Sitz“ ist nach allgemeiner Auffassung derjenige Sitz, der im Gesellschaftsvertrag genannt ist).

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tete Außengesellschaft bürgerlichen Rechts, „wenn sich nichts anderes ergibt.“53 Diese nicht gerade klar und aus sich selbst heraus verständliche Regelung ist so zu begreifen, dass es in erster Linie auf den nach dem jeweils einschlägigen materiellen Gesellschaftsrecht maßgeblichen Gesellschaftssitz ankommen soll. Für die GmbH und die AG ist damit in erster Linie auf den Satzungssitz iSv § 4a GmbHG, § 5 AktG verwiesen und für die Personenhandelsgesellschaften auf deren im Handelsregister eigetragenen Vertragssitz nach §§ 106 Abs. 2 Nr. 2, 161 Abs. 2 HGB.54 Nach dem oben unter II.4. Ausgeführten muss Gleiches dann auch bezüglich der Maßgeblichkeit des Vertragssitzes einer rechtsfähigen und dementsprechend nach § 50 Abs. 1 ZPO auch parteifähigen Außengesellschaft bürgerlichen Rechts gelten. Im Übrigen kommt den vorstehenden Ausführungen zur örtlichen Zuständigkeit nach § 17 ZPO auch dann Bedeutung zu, wenn es um die örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts am allgemeinen Gerichtsstand der Außen-GbR nach § 3 Abs. 1 S. 1 InsO geht. Auch insofern ist der Vertragssitz der Außen-GbR maßgeblich.55

V. Der Sitz der GbR nach dem RegE MoPeG Den Vorschlag der hochrangigen Mauracher Expertengruppe aufgreifend sieht der RegE MoPeG in § 706 Abs. 1 folgende Regelung zum Gesellschaftssitz der GbR vor: „Sitz der Gesellschaft ist der Ort, an dem deren Geschäfte tatsächlich geführt werden (Verwaltungssitz). Ist die Gesellschaft im Gesellschaftsregister eingetragen und haben die Gesellschafter einen Ort im Inland als Sitz vereinbart (Vertragssitz), so ist abweichend von Satz 1 dieser Ort Sitz der Gesellschaft.“56

Der Entwurf beabsichtigt, mit diesem Regelungsvorschlag, einer Empfehlung des 71. Deutschen Juristentages nach freier Sitzwahl für Personenhandelsgesellschaften Rechnung zu tragen.57 1. Zum Verhältnis von kollisionsrechtlicher und sachrechtlicher Definition des Gesellschaftssitzes: Sitzkongruenz versus Sitzspaltungsfreiheit Die Bezugnahme auf den „Verwaltungssitz“ in §  706 S.  1 RegE MoPeG weckt Anklänge an den kollisionsrechtlichen Begriff des tatsächlichen Verwaltungssitzes, der nach der deutsche Sitztheorie als Anknüpfungsmerkmal für die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts anzusehen ist (vgl. oben II.4.b)). Jedoch deutet der Umstand, dass 53 BGH v. 29.1.2001 − II ZR 331/00, BGHZ 146, 341; BGH v. 18.2.2002 − II ZR 331/00, BGH ZIP 2002, 614; LG Bonn, Zwischenurteil v. 20.2.2002 − 2 O 111/01, NJW-RR 2002, 1399; Patzina in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, § 17 Rz. 2; Toussaint in BeckOK ZPO, Rz. 3.1.; Wertenbruch, NJW 2002, 324. 54 Patzina in MünchKomm. ZPO, 6. Aufl. 2020, § 17 Rz. 9 ff., sowie auch Nachw. in Fn. 8. 55 Vgl. Ganter/Bruns in MünchKomm. InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 Rz. 19. 56 RegE MoPeG, S. 8; Mauracher Entwurf, S. 4. 57 RegE MoPeG, S. 137, unter Bezugnahme auf den Beschluss 26 des 71. Deutschen Juristentages, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages, Bd. II/2, 2017, S. O223.

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diese Vorschrift im RegE MoPeG bei den Vorschriften des deutschen Rechts der GbR (§§ 705 ff. BGB) angesiedelt ist, darauf hin, dass es sich dabei um eine Vorgabe des sachlichen deutschen Gesellschaftsrechts mit insoweit eigenständiger Bedeutung handeln soll. Der Entwurf lässt letztlich offen, ob diese Definition des Verwaltungssitzes inhaltlich dem kollisionsrechtlichen Sitzbegriff der Sitztheorie entsprechen soll.58 In der Entwurfsbegründung findet sich dazu nichts; vielmehr heißt es dort nur lapidar: „Als Verwaltungssitz wird dabei der Ort verstanden, an dem die Verwaltung tatsächlich geführt wird. Einer weiteren sinnvollen Konkretisierung ist dieser Begriff nicht zugänglich.“59 Das steht in markantem Gegensatz zu dem mittlerweile recht ausdifferenzierten Verständnis des gesellschaftskollisionsrechtlichen Sitzbegriffs.60 In welchem Verhältnis der sachrechtliche zum kollisionsrechtlichen Sitzbegriff stehen soll, ob der sachrechtlich relevante Verwaltungssitz in einem anderen Staat liegen kann als der kollisionsrechtliche Verwaltungssitz, ob insoweit also ein Gebot der Sitzkongruenz oder aber Sitzspaltungsfreiheit gelten soll, regelt § 706 S. 1 RegE MoPeG nicht. Dafür, dass der Entwurf von einer Prämisse der Sitzkongruenz ausgeht, scheint allerdings die in der Begründung zu findende Bemerkung zu sprechen, mit der Bezugnahme auf den Verwaltungssitz folge die noch herrschende Meinung der kollisionsrechtlichen Sitztheorie, was der Entwurf mit dem Verweis auf ein Urteil des OLG Schleswig vom 14.11.2011 zu begründen versucht.61 Bei dieser den Regelungsvorschlag des RegE MoPeG zum Sitz der GbR tragenden Annahme handelt es sich allerdings um eine fehlsame Prämisse. Denn richtiger Weise ist de lege lata sowohl bezüglich des Gesellschaftssitzes der GmbH und der AG (§ 5 AktG, § 4a GmbHG idF des MoMiG), wie auch bezüglich des Gesellschaftssitzes der Personenhandelsgesellschaften (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB) und des in der lex scripta nicht ausdrücklich erwähnten Sitzes der GbR von einer durch die Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) untermauerten Sitzspaltungsfreiheit aller Außengesellschaften deutschen Rechts einschließlich der rechtsfähigen Außen-GbR auszugehen; nach diesem dualistisch ansetzenden Sitzverständnis ist der kollisionsrechtliche Sitz der Gesellschaft von deren Satzungsbzw. Vertragssitz sorgfältig zu unterscheiden (vgl. oben II.3. und 4.).62 Es erscheint an 58 Zum kollisionsrechtlichen Sitzbegriff siehe oben II.4.b). 59 RegE MoPeG, S. 138; Mauracher Entwurf, S. 72. 60 Zu den Einzelheiten des kollisionsrechtlichen Sitzbegriffs Kindler in MünchKomm. BGB, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, 8. Aufl. 2021, Rz. 459 ff.; Paefgen in FS Vetter, 2019, S. 527, 528; Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4874; Großfeld in Staudinger, IntGesR, 1998, Rz. 230 ff.; Koppensteiner, Internationale Unternehmen im deutschen Gesellschaftsrecht, 1971, S. 124. 61 RegE MoPeG, S. 143, mit Bezugnahme auf OLG Schleswig, NZG 2012, 775, wo die Frage allerdings offengelassen wurde (vgl. juris Rz. 16); auch aus den Rz. 20 ff. dieser Entscheidung (nachzulesen bei juris) ergibt sich nicht die von der Entwurfsbegründung postulierte Bezugnahme auf den Verwaltungssitz als maßgeblichen Sitz iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB. 62 Konsequent daher die Stellungnahme des DAV zum Mauracher Entwurf, Stellungnahme 4972020, Juli 2020, abrufbar unter www.anwaltverein.de, S. 8 f., mit dem Vorschlag, § 706 BGB-E folgendermaßen zu formulieren: „Ist die Gesellschaft im Gesellschaftsregister eingetragen, ist Sitz der Gesellschaft der Ort im Inland, den die Gesellschafter als Sitz vereinbart haben (Vertragssitz); er kann vom Verwaltungssitz abweichen.“

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dieser Stelle durchaus bemerkenswert, dass sich neben weiteren Stimmen im Schrifttum, denen sich der Verfasser zurechnen darf, auch der hochrangige Mauracher Experte Carsten Schäfer – im Gegensatz zu dem im RegE MoPeG zitierten Beschluss des OLG Schleswig – bei seiner Interpretation des § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB diesem zweigeteilten Verständnis des Gesellschaftssitzes angeschlossen hat.63 2. Sitzspaltungsfreiheit nur für die eingetragene GbR? a) Grundsatz: Sitzspaltungsfreiheit der GbR Erklärtes Ziel des §  706 RegE MoPeG ist es, wie bereits ausgeführt wurde, „dass ­deutschen Personengesellschaften ermöglicht [werden soll], sämtliche Geschäftstätigkeit außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes zu entfalten, ohne auf eine für sie vertraute deutsche Rechtsform verzichten zu müssen.“64 Damit macht der Entwurf die gesetzliche Festschreibung der Sitzspaltungsfreiheit, wie sie der deutschen AG, GmbH, OHG, KG und auch der rechtsfähigen GbR bereits de lage lata zugutekommt (oben II. 3. und 4.), zum Programmsatz der MoPeG-Reform. Der Umsetzung dieses Regelungsziels soll § 706 S. 2 MoPeG dienen. Die Vorschrift erlaubt es den Gesellschaftern der GbR, anstelle des nach § 706 S. 1 grundsätzlich maßgeblichen Verwaltungssitzes einen im Inland belegenen „Vertragssitz“ zu bestimmen.65 Ausweislich der Begründung will der MoPeG-Entwurf mit der Festschreibung dieser Sitzspaltungsfreiheit nach § 706 S. 2 BGB-E RegE MoPeG − in der Entwurfsbegründung als „Sitzwahlrecht“ bezeichnet66 dem Regelungsansatz von § 4a GmbH und § 5 AktG folgend wie den Kapitalgesellschaften, so auch den Personengesellschaften einschließlich der GbR die Möglichkeit eröffnen, gesellschaftsvertraglich eine Art von Rechtssitz festzulegen, der in einem anderen Staat liegen kann als der tatsächliche Verwaltungssitz der Gesellschaft.67 Ihre unionsrechtliche Grundlage findet diese Einräumung einer Sitzspaltungsfreiheit in der Niederlassungsfreit der Gesellschaften nach Art. 49, 54 AEUV. Kollisionsrechtlich erhält die nach deutschem Recht gegründete GbR damit die Möglichkeit, unter Inanspruchnahme der europarechtlichen Grün-

63 Vgl. Nachw. in Fn. 20. 64 RegE MoPeg, S. 137; M. Noack, NZG 2020, 581, 583; Otte-Gräbener, BB 2020, 1295, 1296; Punte/Pelle/Sambulski, ZIP 2020, 1230, 1232. 65 M. Noack, NZG 2020, 581, 583. 66 Im Gegensatz zum hier gewählten Terminus „Sitzspaltungsfreiheit“ beschreibt der Ausdruck „Sitzwahlrecht“ nicht gerade deutlich, dass es um den rein tatsächlichen Vorgang der Allokation des Verwaltungssitzes in einem anderen Staat als dem Gründungsstaat der Gesellschaft geht. 67 RegE MoMiG, S. 137: „Das Sitzwahlrecht liegt zudem im Interesse der Rechtsvereinheitlichung, weil für die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und die Aktiengesellschaft die privatautonome Sitzwahl nach Streichung der § 4a Absatz 2 GmbHG, § 5 Absatz 2 AktG durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23.10.2008 (BGBl. I 2008, S. 2026) bereits gesetzlich anerkannt ist.“

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dungstheorie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz ins Ausland zu legen, ohne dabei ihres deutschen Gesellschaftsstatuts verlustig zu gehen.68 b) Unionsrechtswidrige Beschränkung der Sitzspaltungsfreiheit auf die eingetragene GbR Nach dem RegE MoPeG soll die Option der Sitzspaltung (im Entwurf als „Sitzwahl“ bezeichnet) auf die mit den §§ 707 ff. BGB-E RegE MoPeG neu eingeführte Rechtsform der in ein Gesellschaftsregister (§ 707 BGB-E)69 eingetragenen GbR beschränkt sein (§ 706 S. 2 BGB-E). In der Entwurfsbegründung heißt es dazu: „Der formlos mögliche Gesellschaftsvertrag einer Personengesellschaft bietet im Vergleich zu der notariell zu beurkundenden Satzung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Aktiengesellschaft (§ 2 Absatz 1 Satz 1 GmbHG, § 23 Absatz 1 Satz 1 AktG) nur dann eine verlässliche Grundlage für die Sitzbestimmung, wenn die Angabe zum Sitz zur Eintragung in das Register angemeldet wird. In diesem Fall wird dem Registergericht der Sitz, auf den sich die Gesellschafter geeinigt haben, im Zuge der Anmeldung mitgeteilt (§  707 Absatz 1 BGB-E). Dass diese Einigung dem tatsächlichen Willen der Gesellschafter entspricht, wird dadurch sichergestellt, dass sämtliche Gesellschafter die Anmeldung zu bewirken haben (§ 707 Absatz 4 Satz 1 BGB-E). Bezogen auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts hängt das Sitzwahlrecht also davon ab, ob die Gesellschafter von ihrem Eintragungswahlrecht Gebrauch machen. Hierbei muss der Vertragssitz – der Wertung des § 4a GmbHG folgend – zwingen im Inland liegen. Dadurch soll die Gesellschaft fest in der deutschen Rechtsordnung „verankert“ werden. Ein ausländischer Vertragssitz würde hingegen die Durchsetzung des deutschen Gesellschaftsrechts durch deutsche Gerichte und Behörden erschweren oder gar verhindern (vgl. J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 4a Rz. 5).“70

Daran ist zu begrüßen, dass, ganz so wie der Satzungssitz der GmbH (§ 4a GmbHG) und der AG (§ 5 AktG) und auch der Vertragssitz der im inländischen Handelsregister anzumeldenden OHG oder KG (§§ 106 Abs. 2 Nr. 2, 161 Abs. 2 HGB) im Inland liegen muss, bei der GbR ein inländischer Vertragssitz erforderlich ist, um die Gesellschaft in der deutschen Rechtsordnung zu „verankern“.71 Mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften nach Art. 49, 54 AEUV erscheint es jedoch fraglich, ob es unionsrechtlich zulässig ist, wie in der Entwurfsbegründung ausgeführt wird, im Sinne rechtssicherer „Verankerung“ einer GbR mit 68 Vgl. oben II.3.a). 69 Nicht zu Unrecht krit. gegenüber der Einführung eines besonderen Gesellschaftsregisters allerdings Altmeppen, NZG 2020, 822 f., mit Hinweis darauf, dass es nach § 2 HGB jeder Gesamthandspersonengesellschaft freistehe, sich im Handelsregister eintragen zu lassen, wenn die Gesellschafter dafür einen Bedarf erkennen; wie auch Schall, ZIP 2020, 1143, 1144, mit dem Hinweis, viel einfacher scheine es doch, der unternehmerischen (oder auch jeder) Außen-GbR den „Opt-in“ zu einer Kann-OHG zu eröffnen, wie es dem Regelungsmodell der Vermögensverwaltungsgesellschaft in § 105 Abs. 2 HGB entspreche; auf Öffnung des Handelsregisters abzielend auch bereits K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 728 f. 70 RegE MoPeG, S. 138. 71 Das in Fn. 10 referierte Zitat von Weller, FS Blaurock, 2013, S. 497, 509 ff., sinngemäß abwandelnd könnte man dazu formulieren: „Eine deutsche GbR mit Vertragssitz in London ist genauso ausgeschlossen wie eine englische partnership mit Vertragssitz in Berlin“.

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ausländischem Verwaltungssitz in der deutschen Rechtsordnung die Eintragung in einem deutschen Gesellschaftsregister vorzuschreiben.72 Denn für den Schutz der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit und der daraus abzuleitenden Sitzspaltungsfreiheit darf es auf die in der Entwurfsbegründung postulierte Herstellung von „Subjektpublizität“ mittels eines öffentlichen Registers nicht ankommen. Ausschlaggebend ist dafür vielmehr allein die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft iSd Fähigkeit, als eigenständiges Rechtssubjekt Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Auf die Eintragung in ein öffentliches Register kommt es dafür nicht an.73 Auch der RegE MoPeG geht davon, wie in § 707 Abs. 1 BGB-E („können … anmelden“) zu lesen ist, nicht aus. Die Entwurfsbegründung zeigt deutlich, dass den Entwurfsverfassern das Modell einer für die Erlangung der Rechtsfähigkeit konstitutiven Registereintragung gerade nicht vorschwebte, sondern vielmehr ein Eintragungswahlrecht in Kombination mit Anreizen und mittelbarem Zwang zur Eintragung.74 Zu der nach geltendem 72 Vgl. zu diesem im RegE MoPeG zum Ausdruck kommenden Postulat einer besonderen „Subjektpublizität“ RegE MoPeG, S.  138: „Da die Gesellschaft bürgerlichen Rechts über keine natürliche Publizität verfügt, kann die Subjektpublizität sinnvollerweise nur mittels eines öffentlichen Registers hergestellt werden. Bei der Einrichtung eines solchen Subjektregisters für die rechtsfähige Gesellschaft bürgerlichen Rechts handelt es sich also um eine Kehrseite zu ihrer Anerkennung als Rechtssubjekt.“ Mit der Einführung solcher Subjektpublizität einhergehen soll die Abschaffung von 899a BGB, in dem eine Begriffsbildung von einer Art „Objektpublizität“ zum Ausdruck kommt; vgl. RegE MoPeG, S. 221. 73 Vgl. Paefgen in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4887 f., I-4898; ders., WM 2009, 529, 531. 74 Vgl. RegE MoPeG, S. 139: „Eine solche konstitutive Eintragung würde zwar den Gleichlauf von Rechtsträgerschaft und Subjektpublizität besonders konsequent umsetzen: Für die eingetragene und damit rechtsfähige Gesellschaft bürgerlichen Rechts ergäbe sich die Subjektpublizität über das Register. Rechtsträger einer nicht eingetragenen und damit nicht rechtsfähigen Gesellschaft bürgerlichen Rechts wären dagegen deren Gesellschafter, die entweder als natürliche Personen über eine natürliche Subjektpublizität verfügen oder als juristische Personen oder rechtsfähige Personengesellschaften ihrerseits der Subjekt­publizität unterliegen. Dieser Vorschlag hätte allerdings zur Folge, dass die nicht eingetragene Gesellschaft bürgerlichen Rechts in die Zeit vor Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit durch die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs in der Rechtssache „ARGE Weißes Ross“ zurückgeworfen würde. Dies würde zu erheblichen Friktionen führen, zumal Rechte, die von oder gegen die als rechtsfähig behandelte Gesellschaft bürgerlichen Rechts erworben worden sind, womöglich Bestandsschutz zu gewähren wäre. Es ist daher in typisierender Weise zu bestimmen, in welchen Konstellationen der Rechtsverkehr ein anerkennenswertes Interesse an Subjektpublizität hat. Diesem Ansatz wird nur ein Eintragungswahlrecht in Kombination mit Anreizen und mittelbarem Zwang zur Eintragung gerecht, wie es auch mehrheitlich vom 71. Deutschen Juristentag empfohlen wurde (vgl. Beschluss 5c des 71. Deutschen Juristentages in Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages, Bd. II/2, 2017, S. O220). Die Gesellschafter sollen selbst entscheiden können, ob sie die Gesellschaft wegen intensiver Teilnahme am Rechtsverkehr eintragen lassen wollen, um sich so die Vorteile der Subjektpublizität insbesondere in Bezug auf den Nachweis der Existenz, Identität und ordnungsgemäßen Vertretung der Gesellschaft zunutze zu machen. Der Entwurf sieht deshalb an verschiedenen Stellen positive Anreize vor, vom Eintragungswahlrecht Gebrauch zu machen. Zu nennen sind insbesondere das Sitzwahlrecht (§ 706 BGB-E) und das Recht, mit Publizitätswirkung über die Vertretungsbefugnis zu disponieren (§ 720 BGB-E). Es steht zudem zu vermuten, dass eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit ihrer Eintragung grö-

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Recht bestehenden Möglichkeit der Bestimmung des deutschen Vertragssitzes einer GbR nach den Gesamtumständen siehe oben III.4.b). So fallen unter den Niederlassungsschutz nicht nur juristische Personen wie die GmbH und die AG, sondern eben auch rechtsfähige Personengesellschaften wie die OHG und die KG (§§ 124 Abs. 1, 161 Abs.  2 HGB) und die Außengesellschaft bürgerlichen Rechts.75 Bereits de lege lata setzt die Rechtsfähigkeit der gemäß §  718 BGB als Gesamthand konstruierten Außen-GbR die Eintragung in ein öffentliches Register nicht zwingend voraus.76 Dabei soll es, wie in der Entwurfsbegründung zu lesen ist, auch nach dem RegE MoPeG bleiben.77 Bedenkt man dies, so erweist sich die im RegE MoPeG postulierte Beßeres Vertrauen des Rechtsverkehrs für sich in Anspruch nehmen kann, was sich positiv auf ihren Leumund bei Vertragspartnern und auf ihre Kreditwürdigkeit auswirken kann. Diesen positiven Anreizen steht ein mittelbarer Zwang zur Registrierung gegenüber insoweit, als die Eintragung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts insbesondere zur verfahrensrechtlichen Voraussetzung für den Erwerb von und die Verfügung über regis­trierte Rechte durch die Gesellschaft sowie für die Umwandlungsfähigkeit der Gesellschaft gemacht wird.“ Zum Regelungsansatz des Eintragungswahlrechts in Kombination mit Anreizen und mittelbarem Zwang zur Eintragung siehe auch: Roßkopf, Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. II.1, Referat, S. 013 f.; Bergmann, DB 2020, 994, 995; Schäfer, ZIP 2020, 1149, 1150; dagegen argumentiert aber Habersack, ZGR 2020, 539, 555, mache man die Erlangung der Rechtsfähigkeit allein von der Registrierung der Gesellschaft abhängig, werde nicht in einen „Besitzstand“ der Gesellschafter eingegriffen; den Gesellschaftern würde, knapp 20 Jahre nach „ARGE/Weißes Ross“, vielmehr nur das abverlangt, was den Gesellschaftern anderer rechtsfähiger Gesellschaften aus gutem Grund längst (wenn auch für OHG und KG derzeit im Sinne einer verpflichtenden Eintragung mit nur deklaratorischer Wirkung) abverlangt werde. 75 Vgl. zur Rechtsfähigkeit der Außen-GbR und dem Einfluss der Dissertation des Jubilars auf diese richtungweisende Entwicklung der Rspr. siehe oben I. einschl. Fn. 1. 76 Vgl. BGH v. 29.1.2001 − II ZR 331/00, BGHZ 146, 341, 344 ff. – „ARGE weißes Ross“; sowie in Anlehnung an die sog. „Gruppentheorie“ von Flume, ZHR 136 (1972), 177 ff. und ders., BGB AT I 1 § 4 II., sodann namentlich auch Aderhold, Das Schuldmodell der BGB-Gesellschaft, 1981, S. 110 ff. (mit der vom BGH, a.a.O., aufgegriffenen Begründung, eine Schuld könne immer nur Subjekte, nicht aber Vermögensmassen treffen); Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 705 Rz. 306, 309; sowie nachdrücklich jüngst noch einmal Altmeppen, NZG 2020, 822 f., mit dem Aufruf an die Verfasser des Mauracher Entwurfs, ihre Aussage zu überdenken, nach geltendem Recht seien „die Gesellschafter in ihrer gesamthände­ rischen Verbundenheit“ Träger des Gesellschaftsvermögens (vgl. RefE MoPeG (Fn.  2), S. 140), was, so Altmeppen, „schlicht falsch“ sei; krit. im letzteren Sinne auch Schall, ZIP 2020, 1443, 1445 f.; Wilhelm, NZG 2020, 141 ff.; sowie Geibel, ZRP 2020, 137, 138; dazu nun auch RegE MoPeG, S. 136, wo es deutlich heißt, „dass Trägerin der dem Gesellschaftsvermögen zugehörigen Rechte und Pflichten die Gesellschaft selbst ist, nicht mehr die Gesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit.“ 77 RegE MoPeG, S. 139: „Ebenfalls abzusehen ist von einer Koppelung der Rechtsfähigkeit an die Eintragung, wie sie von prominenten Stimmen im Schrifttum diskutiert wird (Röder, AcP 215 (2015) 451, 471-475; Weber in Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages, Bd. II/2, 2017, S. O 124).“ Weiter heißt es dann auf S. 143 f. noch dazu: „Dies würde zu erheblichen Friktionen führen, zumal Rechte, die von oder gegen die als rechtsfähig behandelte Gesellschaft bürgerlichen Rechts erworben worden sind, womöglich Bestandsschutz zu gewähren wäre. Es ist daher in typisierender Weise zu bestimmen, in welchen Konstellationen der Rechtsverkehr ein anerkennenswertes Interesse an Subjektpublizität hat. Die-

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schränkung der Sitzspaltungsfreiheit („Sitzwahlfreiheit“) als Verstoß gegen das europäische Unionsrecht. Im Gegensatz zur vorstehend dargelegten Ansicht meint Schall, das Erfordernis der Registereintragung als Voraussetzung der Sitzspaltung sei grundsätzlich mit dem primären Unionsrecht vereinbar.78 Dafür beruft er sich auf die ursprünglich im „Daily Mail“-Urteil des EuGH vertretene sog. „Geschöpftheorie“, der zufolge „eine Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat.“79 Von dieser Theorie ist der EuGH jedoch in seiner zuletzt im Urteil „Polbud“ kulminierenden neueren Rspr. abgerückt, der zufolge die Ansiedelung des Satzungssitzes und des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer EU/EWRGesellschaft in verschiedenen Mitgliedstaaten in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit fällt.80 Das hat nach dem Verständnis des Verfassers wohl auch Schall in früheren Stellungnahmen so gesehen.81 sem Ansatz wird nur ein Eintragungswahlrecht in Kombination mit Anreizen und mittelbarem Zwang zur Eintragung gerecht, wie es auch mehrheitlich vom 71.  Deutschen Juristentag empfohlen wurde (vgl. Beschluss 5c des 71.  Deutschen Juristentages in Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages, Band II/2, 2017, S. O 220). Die Gesellschafter sollen selbst entscheiden können, ob sie die Gesellschaft wegen intensiver Teilnahme am Rechtsverkehr eintragen lassen wollen, um sich so die Vorteile der Subjektpublizität insbesondere in Bezug auf den Nachweis der Existenz, Identität und ordnungsgemäßen Vertretung der Gesellschaft zunutze zu machen. Der Entwurf sieht deshalb an verschiedenen Stellen positive Anreize vor, vom Eintragungswahlrecht Gebrauch zu m ­ achen.“ Zur Ablehnung der Koppelung der Rechtsfähigkeit auch bereits Schäfer, Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. I Gutachten E zum 71. DJT, S. E 61 ff.; sowie dann wieder C. Schäfer, ZIP 2020, 1149 1151; Roßkopf, Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. II.1, Referat, S. O 11, O 13 ff. siehe auch bereits zum Mauracher Entwurf Schall, ZIP 2020, 1143, 1144; krit. gegenüber der Zweiteilung in eingetragene und nicht eingetragene GenbR Heckschen, NZG 2020, 761, 762 f., der durchaus überzeugend moniert, infolge dieser Zweiteilung könnten sich dann „in weiten Bereichen des Rechtsverkehrs auch in Deutschland weiterhin Rechtssubjekte bewegen, deren Existenz nicht überprüfbar ist, und deren Vertretungsverhältnisse nicht nachvollziehbar sind.“ Siehe dazu auch Wicke, Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. II.1, Referat, S O 31, 032 f.; ebenso Geibel, ZRP 2020, 137, 140, der mit Blick auf den Mauracher Entwurf anriet, noch einmal zu überdenken, ob nicht doch der Vorschlag aufgegriffen werden könne, die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der GbR an eine konstitutive Eintragung im Gesellschaftsregister zu knüpfen; gleichsinnig Habersack, ZGR 2020, 539, 544 („Zumutungen für den Rechtsverkehr“). 78 Schall, ZIP 2020, 1143, 1148. 79 EuGH v. 27.9.1988 – C-81/87 (Daily Mail), Rz. 17 ff., [Zitat aus Rz. 19]. 80 EuGH v. 25.10.2017 C-106/16, WM 2017, 2359 (Polbud) Rz. 48 ff., mit Bezugnahme auf die in EuGH v. 16.12.2008 – C-210/06, WM 2009, 223 (Cartesio), Rz. 112 f. näher ausformulierte Definition des Begriffs der Freiheitsbeschränkung; deutlich dazu Paefgen, WM 2018, 981, 986 f. („Daily Mail“ overuled); Paefgen in Handbuch der Personengesellschaften, Stand März 2019, § 60 Rz. I-4882; Stelmaszczyk, EuZW 2017, 890, 891; sowie auch bereits zum Urteil „Cartesio“ Paefgen, WM 2009, 529, 532 f. 81 Vgl. Schall, DB 2017, M4, M5, der dort eine späte Präzisierung von „Daily Mail“ wahrnimmt und formuliert: „Die Geschöpftheorie – das Recht des Wegzugstaates zur Wahl der Anknüpfungsmomente für die (Fort-)Existenz der nach seinem Recht errichteten Gesell-

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3. Der Gesellschaftssitz als Zuständigkeitsort für Beschlussmängelklagen Aufgrund der ihnen zukommenden Vertragsfreiheit (§ 311 Abs. 1 BGB) können die Gesellschafter einer GbR de lege lata im Gesellschaftsvertrag die Geltung eines Regelungsmodells der gegen die Gesellschaft zu richtenden Beschlussmängelklagen gegen Gesellschafterbeschlüsse vorschreiben, das sich an das zwischen anfechtbaren und nichtigen Beschlüssen unterscheidende Vorbild der §§  241  ff. AktG anlehnt.82 Der RegE MoPeG verweist für die GbR auf die Wahlmöglichkeit, unter Inanspruchnahme der Gestaltungsfreiheit nach § 708 BGB-E die Geltung der in §§ 110-115 HGB-E ­vorgesehenen Beschlussmängelregelungen im Gesellschaftsvertrag zu vereinbaren oder es stattdessen bei der Anwendung des hergebrachten Modells der Geltendmachung von Beschlussmängeln im Wege der Feststellungsklage zu belassen.83 Auch die §§ 110-115 HBG-E idF des RegE MoPeG sehen die Einführung eines Systems von Beschlussmängelklagen gegen Gesellschafterbeschlüsse vor, das nach dem Vorbild der §§ 241 ff. AktG zwischen anfechtbaren und nichtigen Beschlüssen unterscheidet.84 schaften  – erlaubt den Mitgliedstaaten nicht, ihre Gesellschaften einzusperren oder sie beim Grenzübertritt „totzuschlagen““; sowie Schall, ZfPW 2018, 176, 187  ff. („Erbsünde Daily Mail“); gleichsinnig auch, Schollmeyer, ZGR 2018, 186, 192. 82 Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 709 Rz. 119; sinngleich zum Recht der Personenhandelsgesellschaften BGH v. 15.11.1982 – II ZR 62/82, BGHZ 85, 350, 353; BGH v. 9.6.1999 – II ZR 278/78, NJW 1999, 3113, 3115; BGH v. 20.12.1989 – VIII ZR 139/89, NJWRR 1990, 474, 475; BGH v. 30.6.1966  – II ZR 149/64, BeckRS 1966, 31168894; KG v. 21.3.2011  – 23  U 4/10, ZIP 2011, 659, 660; Freitag in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, § 119 Rz. 80. 83 Zum Wahlrecht der Gesellschafter RegE MoPeG, S. 115. Zum hergebrachten Modell der Geltendmachung von Beschlussmängeln im Wege der Feststellungsklage, die gegen diejenigen Gesellschafter zu richten ist, die der beantragten Feststellung widersprechen, siehe BGH v. 9.6.1999 – II ZR 278/78, NJW 1999, 3113, 3115; Schäfer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 709 Rz. 118; Freitag in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, § 119 Rz. 79. 84 Zu den §§ 714a-714e des Mauracher Entwurfs, mit denen dieses Regelwerk zunächst präsentiert wurde, D. Otte, ZIP 2020, 1743 ff.; zur Forderung nach Schaffung eines besonderen Beschlussmängelrechts der Personengesellschaften im Zuge einer umfassenden Reform des Beschlussmängelrechts der Beschluss Nr. 19 in Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. II/2, S. O 219 ff. (Beschlüsse); sowie die Empfehlung von Roßkopf, Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. II.1, Referat, S. O 20 f.; K. Schmidt, ZHR 180 (2016), 411, 416; Herchen in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S. 118 f.; Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 808.; für ein an das aktienrechtliche Vorbild angelehntes Beschlussmängelrecht der Personengesellschaften eintretend Koch, Gutachten F in Verhandlungen des 72. Deutschen Juristentages (Leipzig 2018), Bd. I (Gutachten), S. F 74 ff., F 76; Beschlüsse 14, 17 des 72. Deutschen Juristentages in Verhandlungen des 72. Deutschen Juristentages Bd. II/1, 2018, S. O 28; für ein am aktienrechtlichen Vorbild angelehntes, aber die Besonderheiten des Personengesellschaftsrechts berücksichtigendes Beschlussmängelrecht jüngst C. Schäfer, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 323 ff. Bereits de lege lata für analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG bei den Personenhandelsgesellschaften plädierend Freitag in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4.  Aufl. 2020, § 119 Rz. 81; in die Richtung auf Anwendung des aktienrechtlichen Modells der Beschlussmängelklagen tendierend auch schon Paefgen, FS U. H. Schneider, 2011, S. 929, 950 einschl. Fn 108, mit Bezugnahme auf K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 24 ff.

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Die bereits de lege lata ggf. kraft gesellschaftsvertraglicher Verweisung85 bzw. analog anzuwendenden §§ 246 Abs. 3 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG, wie auch §§ 113 Abs. 1, 114 S. 1 HGB-E RegE MoPeG schreiben für gegen die Gesellschaft zu er­hebende Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen (§§ 113  Abs.  2 S.  1, 114 RegE MoPeG/§  246 Abs.  2 S. 1AktG analog) die Zuständigkeit des Landgerichts vor, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat.86 Es liegt auf der Hand, dass als Sitz der GbR im Sinne dieser Vorschriften, wie dies auch bezüglich des Begriffs des Gesellschaftssitzes iSv Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO und Art. Art. 24 Nr. 2 EuGVVO der Fall ist (vgl. oben IV.1.), der Vertragssitz der GbR (vgl. oben II.4) anzusehen ist.

VI. Resümee Zusammenfassend ist festzuhalten: 1.a) De lege lata ist gemäß § 4a GmbHG für die GmbH und gemäß § 5 AktG für die Aktiengesellschaft zwischen einem nach diesen Vorschriften zu bestimmenden Satzungssitz und dem kollisionsrechtlich relevanten tatsächlichen Verwaltungssitz der Gesellschaft zu unterscheiden (II.1.). b) Im dogmatischen Einklang mit dem für die Kapitalgesellschaften geltenden Regelungsmodell ist de lege lata auch bei den Personenhandelsgesellschaften zwischen dem nach § 106 Abs. 2 Nr. 2, 161 Abs. 2 HGB beim Handelsregister anzumeldenden Vertragssitz und dem kollisionsrechtlich relevanten tatsächlichen Verwaltungssitz zu unterscheiden (II.2.). c) Weiter ist im dogmatischen Einklang mit dem für die GmbH, AG, OHG und KG geltenden Regelungsmodell (vorstehend 1.a) und b)) auch bei der GbR zwischen dem kollisionsrechtlich relevanten tatsächlichen Verwaltungssitz der Gesellschaft und deren Vertragssitz zu unterscheiden, der mangels ausdrücklicher Bestimmung im Gesellschaftsvertrag nach den Gesamtumständen zu ermitteln ist (II.4.). d) In der Zulassung der Wahl eines vom Satzungssitz der Gesellschaft abweichenden tatsächlichen Verwaltungssitzes nach § 4a GmbHG, § 5 AktG und § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB sind auf der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV gründende versteck85 Zu Recht wies Bachmann, NZG 2020, 612, 613 darauf hin, dass die im RefE MoPeG vorgeschlagenen besonderen Beschlussmängelvorschriften angesichts der Möglichkeit gesellschaftsvertraglicher Regelung nicht zwingend erscheinen müssen; überzeugend aber auch sein Hinweis, falls verabschiedet, werde man sich bei der GmbH wegen deren personalistischer Struktur anstelle des Modells der §§  241  ff. AktG zukünftig wohl am Modell der §§ 110 ff. HGB-E RegE MoPeG nach Vorgabe von §§ 714a ff. Mauracher Entwurf orientieren müssen. 86 Zum Verweis auf den dem Vertragssitz der GbR entsprechenden Satzungssitz der AG nach § 5 AktG (vgl. oben II.1.) in § 246 Abs. 3 S. 1 AktG Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 246 Rz. 37; zum Verweis auf den dem Vertragssitz der GbR entsprechenden Satzungssitz der GmbH nach §  4a GmbHG (vgl. oben II.1.) bei entsprechender Anwendung von §  246 Abs. 3 S. 1 AktG Teichmann in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl. 2019, § 4a Rz. 71.

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te Kollisionsnormen zu erkennen, in denen die europarechtliche Gründungstheorie zum Ausdruck kommt (II.3.). e) Im zurzeit geltenden Recht der GbR fehlt es an einer besonderen Vorschrift zum Vertragssitz der Gesellschaft. Da der unionsrechtliche Niederlassungsschutz jedoch nicht nur zu Gunsten der Personenhandelsgesellschaften, sondern auch zu Gunsten der rechtsfähigen Außen-GbR zum Tragen kommt (II.3.a)), bildet auch bei dieser der vom tatsächlichen Verwaltungssitz zu unterscheidende Vertragssitz das Anknüpfungsmerkmal für die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts nach der unionsrechtlich fundierten Gründungstheorie des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts (II. 4.b)). f) Insgesamt kommt in der Anknüpfung an das Recht des Satzungs- bzw. Vertragssitzes der Gesellschaft nach der unionsrechtlich  – oder auch staatsvertraglich (vgl. Fn. 21) – fundierten Gründungstheorie ein rechtsformübergreifendes Prinzip kolli­ sionsrechtlicher Rechtswahlfreiheit zum Ausdruck, das für die GbR ebenso Geltung erheischt wie für die GmbH, AG, OHG und KG (II.4. b) a.E.). 2. Für die Innengesellschaft bürgerlichen Rechts kommt der Frage nach dem Sitz der Gesellschaft keine rechtliche Bedeutung zu. Die kollisionsrechtliche Anknüpfung des maßgeblichen Rechts folgt hier den Regeln des Internationalen Vertragsrechts (III.). 3. Im Zivilverfahrensrecht kommt dem Vertragssitz der GbR Bedeutung hinsichtlich der Bestimmung der internationalen und örtlichen Zuständigkeit in solchen Fallkonstellationen, zu, in denen die einschlägigen Zuständigkeitsregelungen auf den Sitz der Gesellschaft abstellen. Das gilt de lege lata für alle einschlägigen gesetzlichen und vertraglichen Zuständigkeitsregelungen (IV.), muss aber de lege ferenda ebenso auch für die im RegE MoPeG vorgesehenen Vorschriften gelten, die für die örtliche Zuständigkeit bei Beschlussmängelklagen an den Gesellschaftssitz anknüpfen (V. 3.). 4. De lege ferenda erheischt die in § 706 BGB-E RegE MoPeG vorgesehene Möglichkeit der Ansiedelung des Verwaltungssitzes einerseits und des Vertragssitzes andererseits in verschiedenen Staaten (Sitzspaltungsfreiheit) in Anbetracht des Schutzes der Niederlassungsfreiheit nach Art.  49, 54 AEUV nicht nur Geltung in Bezug auf die eingetragene GbR, wie der RegE MoPeG dies vorsieht, sondern auch für die nicht registrierte GbR (V.).

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Tido Park

Familienunternehmen und Wirtschaftsstrafrecht – eine Fallstudie* Inhaltsübersicht I. Sachverhalt II. Rechtsfragen 1. Untreue, § 266 Abs. 1 StGB a) Verletzung einer Vermögen­ betreuungspflicht

b) Herbeiführung eines Vermögens­ nachteils c) Untreuevorsatz 2. Besonders schwerer Fall 3. Strafantragserfordernis III. Und die Moral von der Geschicht’ …

Aus seiner jahrzehntelangen anwaltlichen Betreuung von Familienunternehmen im Zusammenhang mit Nachfolgeregelungen weiß der verehrte Jubilar nur allzu gut, wie konfliktbehaftet diese Materie sein kann. Gleichwohl wird er bei dem Thema „Streit und Streitvermeidung im Familienunternehmen“ sicherlich zuletzt an das Wirtschaftsstrafrecht denken. Anhand einer realen Fallstudie lässt sich jedoch aufzeigen, dass ein Streit im Zusammenhang mit Nachfolgeregelungen eines großen Familienunternehmens auch erhebliche wirtschaftsstrafrechtliche Relevanz erlangen kann und welche Wechselwirkungen zwischen Zivil- und Strafrecht dabei bestehen können. In diesem Fall stand am Ende einer mehrstufigen Gestaltung der Erbfolge eines sehr vermögenden, betagten Unternehmers dessen Strafantrag gegen zwei seiner eigenen Kinder wegen gemeinschaftlicher Untreue in einem besonders schweren Fall zum Nachteil des eigenen Vaters gem. § 266 Abs. 1, 2 i.V.m. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB. Vorgeworfen wurde die Herbeiführung eines Vermögensverlustes großen Ausmaßes zum Nachteil des Unternehmers in Höhe von mindestens 75 Mio. Euro. Was war passiert?

I. Sachverhalt Der betagte Unternehmer war seit vielen Jahren verheiratet, allerdings war seine Ehefrau schwer an Demenz erkrankt. Beide hatten vier gemeinsame (erwachsene) Kinder – eine Tochter und drei Söhne (im Folgenden: Sohn A, B und C). Der Unternehmer hatte im süddeutschen Raum über Jahrzehnte sehr erfolgreich eine Unternehmensgruppe aufgebaut, deren Obergesellschaft die X GmbH & Co. Verwaltungs-KG bildete. Er selbst war Geschäftsführer der Komplementärgesellschaft, der X-VerwaltungsGmbH, sowie alleiniger Kommanditist dieser Einheits-GmbH & Co. KG mit einem Für wertvolle Unterstützung danke ich Herrn RA Dr. Sebastian Wagner, Dortmund.



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Gesellschaftsanteil von 100  %. Aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Konfiguration der Unternehmensgruppe konnte der Unternehmer dergestalt sämtliche Konzerngesellschaften steuern. Anfang 2012 entschloss er sich jedoch aus Altersgründen, die Leitung der Unternehmensgruppe niederzulegen. Aus diesem Grund bestellte er Sohn A zum Geschäftsführer der X-Verwaltungs-GmbH. Seine Tochter war bereits seit 2004 Geschäftsführerin der Tochtergesellschaft Z-GmbH. Diesen beiden Kindern hatte der Unternehmer zudem im Jahre 2009 jeweils 12,5% der Anteile an der wirtschaftlich bedeutendsten Gruppengesellschaft, der Y-GmbH & Co. KG, geschenkt, die Eintragung der Anteilsübertragung in das Handelsregister jedoch aufgrund anhaltender innerfamiliärer Streitigkeiten betreffend seinen Lebenswandel, der aus Sicht dieser beiden Kinder für einen über 80-jährigen Mann unangemessen kostspielig war, zunächst vehement verweigert. Die beiden Kinder verklagten ihren Vater daraufhin vor dem zuständigen Landgericht auf Vollzug der Schenkung. Zum Zwecke der Beilegung dieses Rechtsstreits schloss der Unternehmer mit ihnen im Februar 2012 einen notariellen Erbvertrag. Demzufolge sollten beide Kinder jeweils zu einem Viertel Erbe werden. Erbin der anderen Hälfte seines umfassenden Vermögens sollte eine zum damaligen Zeitpunkt noch nicht existente Familienstiftung werden. Zu Destinatären wurden neben der Ehefrau des Unternehmers seine beiden weiteren Söhne B und C bestimmt, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen weder eine leitende Funktion innerhalb der Unternehmensgruppe übernehmen noch Gesellschaftsanteile erhalten sollten. Darüber hinaus enthielt der Erbvertrag diverse Vermächtnisse, u.a. sollte die Tochter 50 % der Geschäftsanteile der von ihr geleiteten Z-GmbH sowie – unter Anrechnung der 2009 schenkweise empfangenen 12,5%-Beteiligung – 26 % der Gesellschaftsanteile an der Y-GmbH & Co. KG erhalten. Von dieser Gesellschaft sollte Sohn A 50,15 % der Gesellschaftsanteile – ebenfalls unter Anrechnung der bereits 2009 empfangenen 12,5% – erhalten, außerdem die andere Hälfte der Geschäftsanteile der Z-GmbH sowie sämtliche Geschäftsanteile der Y-Verwaltungs-GmbH. Bereits acht Jahre zuvor, im Mai 2004, hatte der Unternehmer seiner Tochter und dem Sohn A eine umfassende notarielle General- und Betreuungsvollmacht eingeräumt, die sie zur gemeinschaftlichen Vertretung ihres Vaters berechtigte. Konkreter Anlass für die seinerzeitige Bevollmächtigung waren die damals aufkommende demenzielle Erkrankung und Pflegebedürftigkeit der Ehefrau des Unternehmers, also der Mutter der beiden Kinder, die den Unternehmer in diesem Zusammenhang umfassend notariell bevollmächtigt hatte. Vor dem Hintergrund der einschneidenden Erfahrungen, die der Unternehmer in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Betreuung und Pflege seiner ebenfalls schwer an Demenz erkrankten eigenen Mutter hatte machen müssen, hatten er und seine Ehefrau sich zu diesem Schritt entschieden, um dergestalt für den Fall einer Geschäfts- und/oder Einwilligungsunfähigkeit Vorsorge zu treffen. Zwar ermöglichte diese Vollmacht der Tochter und dem Sohn A als Bevollmächtigten auch Schenkungen. Dabei ging es jedoch, wie alle Beteiligten wussten, lediglich um alltägliche Geschenke. Nachdem der mittlerweile 86-jährige Unternehmer in der Zwischenzeit selbst an einer fortschreitenden Demenz erkrankt war, ordnete das zuständige Amtsgericht im 332

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Juni 2014 seine dauerhafte Betreuung an, wobei zum Betreuer ein mit langjähriger einschlägiger Erfahrung versehener Rechtsanwalt bestellt wurde. Nach den Feststellungen des Betreuungsgerichts bedurfte es der gerichtlichen Betreuungsanordnung trotz der bestehenden notariellen General- und Betreuungsvollmacht aus dem Jahr 2004, da der gegenwärtige Wille des Unternehmers „eindeutig gegen eine Vertretung durch seine Kinder gerichtet“ gewesen sei und er sich wegen des belasteten Verhältnisses zu seinen Kindern „von der damals erteilten Vollmacht (…) nunmehr in aller Deutlichkeit“ distanziere. Bereits 2012 hatte eine große Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gemeinsam mit einer renommierten Anwaltskanzlei auf Veranlassung des Sohnes A begonnen, ein Umstrukturierungskonzept für die über die Jahre sehr heterogen gewachsene Unter­ nehmensgruppe zu erarbeiten. Unter anderem wurde damit das Ziel verfolgt, die Struktur der Gruppe steuerlich zu optimieren. Neben der ertragsteuerlichen Nutzbarmachung von Verlustvorträgen einzelner Konzerngesellschaften galt es vor dem Hintergrund der durch den erwähnten Erbvertrag aus Februar 2012 gewillkürten Erbfolge, das Betriebs- vom Immobilienvermögen zu trennen, um die steuerliche Belastung im Erbfall nach Möglichkeit zu minimieren. Vor dem Hintergrund eines befürchteten Wegfalls der erbschaftsteuerlichen Privilegierung von Unternehmenserben arbeitete die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in der Folgezeit zusätzlich ein Modell für eine vorweggenommene Erbfolge aus. Auf der Grundlage dieses Modells verhandelte der Betreuer seit Ende 2014 mit der Tochter und dem Sohn A über die Bedingungen einer Vorwegnahme der mit dem Erbvertrag aus Februar 2012 gere­ gelten Erbfolge. Im Interesse des Unternehmers bestand sein Betreuer in diesen ­Verhandlungen immer darauf, dass beide Kinder sich im Gegenzug zur vorweggenommenen Übertragung der Unternehmensanteile dazu verpflichteten, für einen angemessenen und abgesicherten Ausgleich mit den beiden anderen Söhnen B und C Sorge zu tragen, dem Unternehmer ein Mindestmaß an Mitspracherecht zu erhalten sowie seinen gewohnten  – und seinem außergewöhnlichen beruflichen Erfolg entsprechenden – Lebensstandard nachhaltig sicherzustellen. Den dafür erforderlichen finanziellen Bedarf berechnete der Betreuer auf 2,2 Mio. Euro jährlich. Dieser vergleichsweise hohe Betrag beruhte im Wesentlichen auf Unterhaltskosten für ein 13.000 m2 großes Grundstück mit herrschaftlicher Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert, Unterhaltskosten für ein von seinem Sohn A unentgeltlich genutztes Schlossgut samt Inventar, Unterhaltskosten für eine zum Teil museale Kunstsammlung s­ owie Kosten für Hausbedienstete und Pflegepersonal, Betreuungskosten und steuerlichen Verpflichtungen. Obwohl dieser Betrag weit geringer ausfiel als die laufenden jähr­ lichen Einnahmen, die der Unternehmer bis dato aus seiner Unternehmensgruppe erzielt hatte, lehnten seine Tochter und sein Sohn A eine entsprechende Regelung ab. Das von ihnen unterbreitete Gegenangebot über rund 700.000 Euro pro Jahr war sowohl aus Sicht des Unternehmers als auch seines Betreuers inakzeptabel. Als der Unternehmer erfuhr, dass seine beiden Kinder nicht bereit waren, seinen Unterhalt  in einem Maße sicherzustellen, der es ihm ermöglicht hätte, seinen aktuellen ­Lebensstandard beizubehalten, erklärte er mehrfach ausdrücklich gegenüber seiner Tochter und dem Sohn A, keine vorweggenommene Erbfolge mehr zu wünschen. Am 15.1.2016 begab er sich sogar zu einem Notar, um seine Abneigung gegenüber 333

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der Vorwegnahme der Erbfolge beurkunden zu lassen. Neben dem Wunsch, dass sein bisheriger Betreuer auch weiterhin als Betreuer bestellt bleibe, weil dieser das ausdrückliche Vertrauen des Unternehmers genieße, erklärte er insofern wörtlich: „Ich wünsche nicht, dass zum momentanen Zeitpunkt Vermögensübertragungen auf meine Kinder als vorweggenommene Erbfolge (…) stattfinden. Solche Zuwendungen an meine Kinder entsprechen derzeit nicht meinem Wunsch und meinem Interesse. (Name des Betreuers) soll daher auch keine Verhandlungen mit meinen Kindern über eine solche vorweggenommene Erbfolge führen.“

Ungeachtet dessen und ohne den Unternehmer oder seinen Betreuer zuvor in Kenntnis zu setzen, erklärten die beiden Geschwister am 20.1.2016 vor einem Notar in ­eigenem sowie im Namen ihres Vaters die Übertragung von dessen Kommanditbeteiligung an der X GmbH & Co. Verwaltungs-KG auf sich selbst. Allein dieser Unternehmensanteil hatte einen geschätzten Verkehrswert von mindestens 75 Mio. Euro. Als „Gegenleistung“ wurde in der notariellen Urkunde zugunsten des Unternehmers eine Leibrente in Höhe von 48.000 Euro monatlich gewährt, allerdings in Abhängigkeit von der Gewinnsituation der Unternehmensgruppe und im Übrigen nur, solange der Unternehmer nicht die Pflegestufe 3 erreicht haben würde. Die Befugnis zur Vertretung ihres Vaters stützten die Kinder auf die bereits erwähnte notarielle „General- und Betreuungsvollmacht“ aus dem Jahr 2004.  Wie ebenfalls bereits erwähnt, hatte der Unternehmer sich im Zuge der Anhörung durch das Betreuungsgericht im Juli 2014 jedoch ausdrücklich und in aller Deutlichkeit von der 2004 erteilten Vollmacht distanziert. Der Betreuer forderte deshalb den Sohn A im August 2014 per E-Mail auf, ihm zu bestätigen, dass er von der erteilten Vollmacht keinen Gebrauch machen werde, was der Sohn A entsprechend bestätigte.  Kurz darauf forderte der Betreuer die Tochter und den Sohn A in einer weiteren E- Mail auf, ihm umgehend sämtliche Vollmachtsurkunden herauszugeben. Die Tochter übersandte daraufhin im September 2014 die ihr erteilte Ausfertigung der Vollmachtsurkunde und erklärte, die ihrem Bruder erteilte Ausfertigung der General- und Betreuungsvollmacht sei „im Augenblick nicht auffindbar“. Nachdem der Sohn A im Februar 2015 den Eindruck erweckt hatte, dass er die gesellschaftsrechtliche Stellung seines Vaters nicht länger akzeptieren wollte, forderte ihn der Betreuer erneut auf, die ihm erteilte Ausfertigung der General- und Betreuungsvollmacht herauszugeben. Der Sohn A antwortete daraufhin, dass sich die Ausfertigung der Vollmacht nicht in seinen Händen befinde und er über den Verbleib leider keine andere Auskunft erteilen könne als seine Schwester im September 2014.  Trotz ihrer Beteuerungen nutzten die beiden Geschwister die Sohn A erteilte und nach ihrem gemeinsamen Bekunden nicht auffindbare Ausfertigung der „Generalund Betreuungsvollmacht“ vom 12.5.2004, um sich die Kommanditanteile ihres Vaters an der X GmbH & Co. Verwaltungs-KG anzueignen. Ferner beriefen die beiden Geschwister unter Verwendung der Vollmacht im Namen ihres Vaters den von diesem im April 2015 anstelle von Sohn A zum Geschäftsführer der X-Verwaltungs-GmbH bestellten RA/StB H. ab und bestellten sich selbst zu al334

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leinvertretungsberechtigten und von § 181 BGB umfassend befreiten Geschäftsführern. Am Folgetag übertrugen sie weitere Vermögensgegenstände des Unternehmers durch Gebrauch der Vollmacht auf sich selbst sowie auf weitere Personen. Unmittelbar nachdem er von diesem Vorgang durch Schreiben des beurkundenden Notars Kenntnis erlangt hatte, beantragte der Betreuer beim zuständigen Betreuungsgericht die Erweiterung seiner Aufgaben um den Pflichtenkreis des Widerrufs von Vollmachten. Nach einer Anhörung des Betreuers gab das Gericht seinem Antrag statt und stellte in seinen Entscheidungsgründen fest, dass die Kinder „mit der ihnen erteilten Vollmacht mit notariellem Vertrag vom 20.1.2016 eine vorweggenommene Erbfolge umgesetzt haben, (…). Tatsache ist, dass die Transaktion das aktuelle Vermögen des Betroffenen massiv geschädigt hat. Tatsache ist auch, dass er das nicht wollte und will.“

Auf mehrfach geäußerten, ausdrücklichen Wunsch des Unternehmers ließ der Betreuer den Sachverhalt daraufhin durch eine spezialisierte Anwaltskanzlei auf strafrechtliche Relevanz überprüfen. Dabei äußerte der Unternehmer sowohl gegenüber dem Betreuer als auch gegenüber dem hinzugezogenen Strafrechtler wiederholt den Wunsch, tatsächlich Strafanzeige gegen seine Tochter und seinen Sohn A erstatten bzw. Strafantrag gegen diese stellen zu wollen, sofern die rechtliche Überprüfung des Sachverhalts eine strafrechtliche Relevanz des Handelns seiner Kinder ergeben würde. Im Zuge der Mandatierung, der Erfassung des Sachverhalts und dessen anschließender strafrechtlicher Überprüfung fanden im Beisein des anwaltlichen Betreuers diverse Gespräche mit dem Unternehmer statt, in denen ihm neben bedeutsamen rechtlichen Gesichtspunkten – wie mögliche gravierende Sanktionsfolgen für seine beiden Kinder als Konsequenz des Betreibens einer Strafverfolgung – insbesondere die Ungewöhnlichkeit erläutert wurde, die Strafverfolgung der eigenen Abkömmlinge betreiben zu wollen. Zugleich wurde wiederholt auf die absehbare zusätzliche Belastung des familiären Miteinanders durch eine derartige Maßnahme hingewiesen. Wegen der Besonderheit der Situation erfolgten die erläuternden Hinweise zusätzlich ausführlich in schriftlicher Form und in enger Abstimmung mit dem Betreuer. Ungeachtet dessen erteilte der – bei diesen Gesprächen sehr „wach“ und orientiert wirkende  – Unternehmer den ausdrücklichen Auftrag zur Stellung eines entsprechenden Strafantrages, nachdem die strafrechtliche Begutachtung abgeschlossen war und zu dem Ergebnis geführt hatte, der zur Prüfung unterbreitete Sachverhalt lasse durchaus strafrechtliche Relevanz erkennen. Der Betreuer erteilte in seiner Funktion vorsorglich noch einmal eine eigene, gesonderte Vollmacht zur Stellung des Strafantrages. Sodann wurde mit Schreiben vom 17.3.2016 durch die bevollmächtigten Rechtsanwälte ein Strafantrag gegen die Tochter und den Sohn A wegen Untreue in einem besonders schweren Fall gem. § 266 Abs. 1, 2 i.V.m. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB gestellt. Aufgrund dieses Strafantrages leitete die zuständige Staatsanwaltschaft am 21.3.2016 ein Ermittlungsverfahren gegen die Tochter und den Sohn A ein und nahm die Ermittlungen auf. Ende 2016 verstarb der Unternehmer. 335

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Bevor die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen abgeschlossen waren, wurde der Strafantrag durch die Söhne B und C als nächste Angehörige des Unternehmers gem. § 77d Abs. 2 StGB zurückgenommen. Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren wegen des nicht behebbaren Verfahrenshindernisses eines fehlenden Strafantrages ein.

II. Rechtsfragen 1.  Untreue, § 266 Abs. 1 StGB Der Untreuetatbestand des § 266 Abs. 1 StGB stellt ein treffendes Beispiel dafür dar, wie eng das Zivil- und das Strafrecht miteinander verzahnt sein können. Denn die  Strafbarkeit wegen Untreue setzt sowohl in der Missbrauchs- als auch in der Treubruchs-Variante die Herbeiführung eines Vermögensnachteils durch Verletzung ­einer  – für beide Tatbestandsvarianten identischen  – Pflicht zur fremdnützigen ­Vermögensbetreuung voraus.1 Sowohl für die Frage, ob eine derartige – strafrechtliche – Pflichtenstellung vorliegt, als auch für die Beurteilung, ob diese Pflicht verletzt worden ist, werden vielfach zivilrechtliche Wertungen herangezogen. a)  Verletzung einer Vermögenbetreuungspflicht Im Ausgangsfall war eine entsprechende Pflichtenstellung der Tochter und des Sohnes A zugunsten des Unternehmers durch die ihnen am 12.5.2004 erteilte Generalund Betreuungsvollmacht bzw. das der Vollmachtserteilung zugrundeliegende Auftragsverhältnis zivilrechtlich begründet.2 Diese Vermögensbetreuungspflicht haben die Geschwister durch die Erklärung der Übertragung der Kommanditbeteiligung an der X GmbH & Co. Verwaltungs-KG am 20.1.2016 verletzt, und zwar ungeachtet der Frage, ob die Anteilsübertragung im Außenverhältnis zivilrechtlich wirksam erfolgte (dann Missbrauch der Verfügungsbefugnis gem. § 266 Abs. 1 Var. 1 StGB), oder ob aufgrund der nachträglich erfolgten Beschränkung, eines kollusiven Zusammenwirkens oder des (evidenten) Vollmachtmissbrauchs bereits die Vertretungsmacht fehlte (dann Bruch des Treueverhältnisses gem. § 266 Abs. 1 Var. 2 StGB). aa)  Keine Befugnis zur Ausübung der General- und Betreuungsvollmacht Die Qualifizierung dieses Verhaltens als untreuerelevante Pflichtverletzung folgt vorliegend bereits daraus, dass Sohn A und seiner Schwester im Tatzeitpunkt nicht nur für die konkrete Anteilsübertragung, sondern bereits generell – zumindest im Innen1 So die heutige Rechtsprechung des BGH und h.M. im Schrifttum, s. BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, BGHSt 50, 331, 342; Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 40; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 266 StGB Rz. 6a; Waßmer in G/J/W, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht, 2.  Aufl. 2017, §  266 StGB Rz.  29  f.; a.A. Schünemann in LK-StGB, 12. Aufl. 2012, § 266 StGB Rz. 13 ff. 2 Vgl. allg. BGH v. 11.8.1993 – 2 StR 309/93, NStZ 1994, 35, 35 f.

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verhältnis zu ihrem Vater – die Befugnis zur selbstständigen Ausübung der ihnen im Mai 2004 erteilten General- und Betreuungsvollmacht fehlte. So hatte der konkrete Anlass für die Erteilung der General- und Betreuungsvollmacht am 12.5.2004 in der aufkommenden demenziellen Erkrankung und Pflege­ bedürftigkeit der Ehefrau des Unternehmers sowie seinen einschneidenden Erfahrungen im Zusammenhang mit der Betreuung und Pflege seiner ebenfalls stark an Demenz erkrankten Mutter bestanden. Zwar sollte den Bevollmächtigten für den Fall einer späteren Geschäfts- und/oder Einwilligungsunfähigkeit ihres Vaters auch die Vornahme von Schenkungen möglich sein. Diese Ermächtigung bezog sich jedoch – wie sämtliche Beteiligten wussten – lediglich auf alltägliche Geschenke. Nicht davon erfasst war hingegen die unentgeltliche Übertragung von Gesellschaftsanteilen im Zuge einer vorweggenommenen Erbfolge. Die Annahme einer entsprechenden Befugnis ließ sich auch nicht auf den Erbvertrag vom 23.2.2012 stützen, da dieser keinerlei Anhaltspunkte dafür enthielt, dass der Unternehmer gewillt war, seinen Kindern bereits zu Lebzeiten (weitere) Anteile an der Unternehmensgruppe zu übertragen. Jedenfalls aufgrund der seit August 2014 wiederholt erfolgten Aufforderung des Betreuers ihres Vaters, eine Verwendung der General- und Betreuungsvollmacht zu unterlassen und die ihnen erteilten Ausfertigungen herauszugeben, dürfte es Sohn A und seiner Schwester am 20.1.2016 sogar an der generellen Befugnis zur Ausübung ihrer Bevollmächtigung gefehlt haben. Denn laut des Anordnungsbeschlusses des Amtsgerichts vom 31.7.2014 umfasste die Betreuung durch den Rechtsanwalt insbesondere auch „die Geltendmachung von Rechten gegenüber den Bevollmächtigten“.

Die Rechtsprechung des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, wonach „eine Befugnis zum Vollmachtwiderruf […] dem Betreuer […] als eigenständiger Aufgabenbereich ausdrücklich zugewiesen sein [muss]“3 dürfte dem nicht entgegenstehen. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass die bloße Anweisung, von der Vollmacht gegenwärtig keinen Gebrauch zu machen, anders als der Widerruf nicht das irreversible Erlöschen der General- und Betreuungsvollmacht zur Folge hat. Er regelt vielmehr lediglich die Modalitäten ihrer Ausübung. Ist der Bevollmächtigte der Auffassung, dass die Anweisung des Betreuers rechtswidrig ist, steht es ihm – ebenso wie dem Betreuten selbst  – frei, das Betreuungsgericht anzurufen und dieses gem. §  1837 Abs.  2 i.V.m. § 1908i Abs. 1 BGB zu einer korrigierenden Anordnung gegenüber dem Betreuer zu veranlassen. bb)  Der entgegenstehende Wille des Unternehmers Unabhängig davon ist die Übertragung der Kommanditbeteiligung an der X GmbH & Co. Verwaltungs-KG am 20.1.2016 aber auch deshalb als untreuerelevante Verlet3 BGH v. 13.5.2020 – XII ZB 61/20, NJW-RR 2020, 1073, 1074; BGH v. 28.7.2015 – XII ZB 674/14 NJW 2015, 3572, 3572 ff.

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zung der Vermögensbetreuungspflicht zu qualifizieren, weil sie gegen den ausdrücklichen Willen des Unternehmers verstieß. Dieser hatte sich nicht nur bei verschiedenen Gelegenheiten gegen eine Vertretung durch seine Tochter und seinen Sohn A gewandt, sondern auch wiederholt erklärt, eine Vorwegnahme der Erbfolge durch die Übertragung von Gesellschaftsanteilen zu seinen Lebzeiten abzulehnen. Dieser entge­genstehende Wille war für die Tochter und den Sohn A im Innenverhältnis zu ihrem Vater rechtlich verbindlich. Dass der Unternehmer aufgrund seiner fortschreitenden Demenz möglicherweise geschäftsunfähig war, ändert diesbezüglich nichts. Denn anders als das „Ob“ des Bestehens einer zeitlich zuvor erteilten General- und Be­treuungsvollmacht richtet sich das „Wie“ ihrer Ausübung auch nach Eintritt der Geschäftsunfähigkeit immer nach dem „aktuellen (wirklichen oder mutmaßlichen) Willen“ des Vollmachtgebers.4 Dies ist zwingende Konsequenz des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts des Vollmachtgebers und findet folgerichtig auch in der betreuungsrechtlichen Regelung des § 1901 Abs. 3 BGB seinen Niederschlag. Hiernach ist – unabhängig von der Frage der Geschäftsfähigkeit – Maßstab für sämtliche Rechtshandlungen des Betreuers grundsätzlich der gegenwärtige Wunsch des Betreuten. Dieser „Willensvorrang“ findet seine Grenze erst dort, wo die Erfüllung seiner persönlichen Wünsche dem Wohl des Betreuten zuwiderlaufen würde.5 In Anbetracht der Bedeutung der Fähigkeit, das eigene Leben nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten, ist hiervon nicht schon dann auszugehen, wenn der gegenwärtige Wille des Betreuten seinem objektiven Interesse widerspricht. Vielmehr ist sein Wunsch im Grundsatz beachtlich, sofern dieser Wunsch auf der Grundlage ausreichender Tatsachenkenntnis gefasst wurde und sich nicht als Ausdruck der Erkrankung darstellt oder seine Erfüllung höherrangige Rechtsgüter des Betreuten gefährden bzw. dessen gesamte Lebens- und Versorgungssituation erheblich verschlechtern würde.6 Für die Ausübung einer General- und Betreuungsvollmacht dürften diese Erwägungen entsprechend gelten.7 Auch ein derart Bevollmächtigter hat im Innenverhältnis das Selbstbestimmungsrecht des Vollmachtgebers zu berücksichtigen. Er ist damit im Grundsatz ebenfalls an den gegenwärtigen Willen des zwischenzeitlich geschäftsunfähigen Vollmachtgebers gebunden.8 Etwas anderes  kann nur dann gelten, wenn einer der genannten Ausnahmefälle vorliegt, d.h. 4 Burchardt, Die Vertretung handlungsunfähiger Patienten durch Angehörige, 2010, S. 38. 5 Vgl. BT-Drucks. 11/4528, S. 67, 133 f. 6 BGH v. 22.7.2009 – XII ZR 77/06, NJW 2009, 2814, 2816 f. 7 Vgl. Kurze, VorsorgeR, 2017, § 662 BGB Rz. 35; Stascheit, RNotZ 2020, 61, 75 f. 8 Vgl. Stascheit, RNotZ 2020, 61, 76; vgl. auch BGH v. 25.3.2014 – X ZR 94/12, NJW 2014, 3021, 3023, wonach aus einer General- und Betreuungsvollmacht und der damit gerade bei einem Verlust der Geschäftsfähigkeit verbundenen weitreichenden Befugnisse eine besondere persönliche Verantwortung erwachse, die es dem Bevollmächtigten gebiete, die personelle Autonomie des Vollmachtgebers zu respektieren und dessen Willen so weit wie möglich zu beachten; a.A. Tschersich, Die Definition des vermögensrechtlichen Missbrauchs von General- und Vorsorgevollmachten, S. 143, der annimmt, dass der Wille des Vollmachtgebers bereits ab Wahrscheinlich-Werden der Geschäftsunfähigkeit durch stillschweigende Vereinbarung unbeachtlich für das Innenverhältnis werde; kritisch hierzu Müller, MittBayNot 2016, 307, 307, der zufolge dieser „nicht gerade autonomiefreundliche Standpunkt“ zumindest angreifbar sei.

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der gegenwärtige Wille dem eigenen Wohl des Vollmachtgebers in erheblichem Maße widerspricht, Ausdruck seiner Erkrankung ist oder auf dessen unzureichender Kenntnis von den Tatsachen basiert.9 All dies war vorliegend jedoch nicht der Fall. Weder waren höherrangige Rechtsgüter des Unternehmers gefährdet bzw. drohte seiner gesamten Lebens- und Versorgungssituation erhebliche Verschlechterung, falls seine Kommanditbeteiligung an der X GmbH & Co. Verwaltungs-KG nicht bereits zu Lebzeiten auf seinen Sohn A und dessen Schwester übergehen würde. Noch war seine ablehnende Haltung gegenüber einer solchen Vorwegnahme der Erbfolge Ausdruck seiner demenziellen Erkrankung oder basierte auf einer unzureichenden Kenntnis der relevanten Tatsachen. Ganz im Gegenteil war es gerade so, dass der Unternehmer die Vorwegnahme der Erbfolge zu keinem Zeitpunkt gewollt hatte und sich diese Einstellung trotz der wiederholt  – nicht zuletzt auch von seinem Betreuer  – detailliert aufgezeigten erbschaftsteuerlichen Vorteile bis zuletzt nicht geändert hat. b)  Herbeiführung eines Vermögensnachteils Durch ihr pflichtwidriges Verhalten haben die Tochter und Sohn A dem Vermögen ihres Va­ters auch einen Nachteil im Sinne des §  266 Abs.  1 StGB zugefügt. Dieser liegt auf der Hand, sollte die Kommanditbeteiligung aufgrund des notariell beurkundeten Übertra­gungsakts am 20.1.2016 rechtswirksam auf sie übergegangen sein. Ein untreuerelevanter Vermögensnachteil dürfte dem Unternehmer jedoch auch dann entstanden sein, wenn die Anteilsübertragung aufgrund von Kollusion bzw. evidentem Vollmachtmissbrauch rechtsunwirksam gewesen sein sollte.10 Denn nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung von Bundesgerichtshof11 und Bundesverfassungsgericht12 ist bereits die Herbeiführung eines „Gefährdungsschadens“ bzw. einer „schadensgleichen“ oder „konkreten Vermögensgefährdung“ tatbestandlich relevant. Zwar werden auch insoweit keinesfalls lediglich drohende, sondern ausschließlich bereits eingetretene Vermögensminderungen erfasst,13 so dass rein abstrakte Gefahren nicht ausreichend sind.14 Es genügt jedoch, dass die Gefährdung nach den Umständen des Einzelfalls auf Basis einer wirtschaftlichen Betrachtung bereits zu einer Verschlechterung der gegenwärtigen Vermögenslage geführt hat.15 Zumindest dies war vorliegend der Fall. Sollte der Unternehmer seine Kommanditbeteiligung nicht an seine Tochter und Sohn A verloren haben, hat deren pflichtwidriges Verhalten 9 Stascheit, RNotZ 2020, 61, 76. 10 Vgl. BGH v. 25.4.2006 – 1 StR 539/05, wistra 2006, 306, 306 f. 11 BGH v. 30.5.2013 – 5 StR 309/12, BeckRS 2013, 10904; BGH v. 2.4.2008 – 5 StR 354/07, BGHSt 52, 182, 188; BGH v. 17.2.1999 – 5 StR 494/98, BGHSt 44, 376, 384. 12 BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3214. 13 BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3219. 14 BGH v. 30.5.2013 – 5 StR 309/12, BeckRS 2013, 10904. 15 Vgl. BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3219; BGH v. 25.4.2019 – 1 StR 427/18, NStZ 2020, 294, 296; BGH v. 30.5.2013 – 5 StR 309/12, BeckRS 2013, 10904; BGH v. 2.4.2008 – 5 StR 354/07, BGHSt 52, 182, 188; BGH v. 17.2.1999 – 5 StR 494/98, BGHSt 44, 376, 384. 

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den wirtschaftlichen Wert der Beteiligung doch zumindest erheblich beeinträchtigt. Wegen der Ungewissheit hinsichtlich der Frage, ob die Anteilsübertragung am 20.1.2016 rechtswirksam erfolgte und des damit verbundenen, beträchtlichen zivilrechtlichen Prozessrisikos wäre ein objektiver Dritter im Nachgang  – wenn überhaupt – allenfalls unter einem erheblichen Risikoabschlag bereit, die Kommanditbeteiligung des Unternehmers zu erwerben.16 Eine objektive Untreuestrafbarkeit ist damit zu bejahen. c) Untreuevorsatz Auf subjektiver Tatbestandsebene setzt § 266 Abs. 1 StGB zumindest bedingten Vorsatz voraus. Sohn A und seine Schwester mussten also lediglich erkennen und billigend in Kauf nehmen, dass sie mit der Übertragung des Kommanditanteils an der X GmbH & Co. Verwaltungs-KG der ihnen obliegenden Vermögensbetreuungspflicht zuwiderhandelten und dadurch das Vermögen des Unternehmers zumindest konkret gefährdeten.17 Auch dies war vorliegend der Fall. Insbesondere war den Geschwistern der entgegenstehende Wille ihres Vaters bekannt. Dass sie diesen ggf. für rechtlich unbeachtlich einstuften, spielt insoweit keine Rolle. Denn selbst für den Fall hätten sie keinem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum gem. § 16 StGB, sondern allenfalls einem Verbotsirrtum nach § 17 StGB unterlegen,18 den sie durch die Einholung kompetenten Rechtsrats hätten vermeiden können. Vorsatz ist damit gegeben. 2.  Besonders schwerer Fall Durch den Verweis auf § 263 Abs. 3 StGB in § 266 Abs. 2 StGB wird eine Strafrahmenverschiebung für besonders schwere Fälle postuliert, wobei die besonders schweren Fälle in § 263 Abs. 3 Satz 2 StGB als Regelbeispiele ausgestaltet sind. Einschlägig könnte hier das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB sein, das Herbeifüh16 Zum Vermögensnachteil i.S.d. § 266 Abs. 1 StGB durch Prozessrisiken BGH v. 17.2.1999 – 5 StR 494/98, BGHSt 44, 376, 385; BGH v. 25.4.2006 – 1 StR 539/05, wistra 2006, 306, 307; Schramm in Mommsen/Grützner, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2.  Aufl. 2020, §  19 Rz. 140; Waßmer in G/J/W, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 266 StGB Rz. 221b; kritisch im Anschluss an BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209 ff. in Bezug auf § 263 StGB BGH v. 8.6.2011 – 3 StR 115/11, NStZ 2013, 37, 38, wonach es nicht ersichtlich sei, „nach welchen wirtschaftlich nachvollziehbaren Maßstäben ein bezifferbarer Vermögensschaden allein in dem Bestehen eines zivilrechtlichen Prozessrisikos liegen kann, wenn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Strafverfahren feststeht oder nicht ausschließbar ist, dass der getäuschte Käufer gutgläubig Eigentum an dem Fahrzeug erworben hat“. 17 Vgl. BGH v. 28.5.2013 – 5 StR 551/11, NStZ 2013, 715, 715.  18 Vgl. zum Irrtum über die rechtliche Wirksamkeit einer Einwilligung BGH v. 1.2.1961  – 2 StR 457/60, BGHSt 16, 309, 313 f.; BGH v. 27.3.1953 – 1 StR 689/52, BGHSt 4, 113, 119; BGH v. 26.5.2004 – 2 StR 505/03, NJW 2004, 2458, 2460; BGH v. 22.2.1978 – 2 StR 372/77, NJW 1978, 1206, 1206; OLG Düsseldorf v. 6.6.1997 – 2 Ss 147/97 – 49/97 II, NStZ-RR 1997, 325, 327.

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ren eines Vermögensverlusts großen Ausmaßes. Wann ein Vermögensverlust so groß ist, dass er ein „großes Ausmaß“ im Sinne dieses Regelbeispiels darstellt, ist gesetzlich nicht definiert. Die Rechtsprechung hat für den Betrugstatbestand eine Wertgrenze von 50.000 Euro bestimmt.19 Nach h.M. soll diese Wertgrenze in gleicher Weise für den Untreuetatbestand gelten.20 Da der eingetretene Vermögensverlust im vorliegenden Fall die Wertgrenze um ein Vielfaches übersteigt, ist das Regelbeispiel offenkundig erfüllt. Dies gilt jedenfalls für den Fall, dass Sohn A und seine Schwester die Beteiligung an der X GmbH & Co. Verwaltungs-KG am 20.1.2016 wirksam auf sich übertragen haben.21 Ist ein Regelbeispiel verwirklicht, indiziert dieses – anders als bei einem Qualifikationsmerkmal, das bei seinem Vorliegen eo ipso die Qualifikationsfolge herbeiführt22 – das Vorliegen eines besonders schweren Falles.23 Einer besonderen Prüfung, ob die Anwendung des erhöhten Strafrahmens geboten ist, bedarf es grundsätzlich nicht.24 Die Indizwirkung des Regelbeispiels kann aber im Einzelfall widerlegt werden.25 Ist der Schwellenwert, wie im vorliegenden Fall, allerdings um etwa das Eintausendfünffache (sic!) überschritten, ist für eine Widerlegung des Regelbeispiels kein Raum. Die gesetzliche Folge ist gem. § 266 Abs. 2 i.V.m. § 263 Abs. 3 Satz 1 StGB eine Anhebung des Strafrahmens, der beim Grunddelikt von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe reicht, auf eine Mindeststrafe von sechs Monaten bis zu einer Höchststrafe von zehn Jahren. 3. Strafantragserfordernis In der Grundstruktur ist der Straftatbestand der Untreue ein sog. Offizialdelikt, d.h. die Verfolgbarkeit hängt nicht von einem Strafantrag ab. Vielmehr genügt es gem. §  152 Abs.  2 StPO grundsätzlich, dass die Staatsanwaltschaft  – auf welchem Wege auch immer – Kenntnis von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für ein Untreuedelikt erlangt. Im vorliegenden Fall besteht allerdings eine Besonderheit aufgrund des Umstandes, dass durch die Tat ein Angehöriger verletzt worden ist. Dieser 19 BGH v. 7.10.2003 – 1 StR 274/03, BGHSt 48, 360, 361 ff. 20 BGH v. 10.10.2012 – 2 StR 591/11, NZG 2013, 268, 270; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 263 StGB Rz. 209; Lackner/Kühl, StGB, 29 Aufl. 2018, § 266 StGB Rz. 22; kritisch Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 302; Schünemann in LK-StGB, 12. Aufl. 2012, § 266 StGB Rz. 218; Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 5. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 135. 21 Ob das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB auch dann erfüllt worden ist, sollte die Übertragung zivilrechtlich unwirksam gewesen sein, erscheint demgegenüber fraglich. Gegen die Annahme eines Vermögensverlustes großen Ausmaßes im Falle einer schadensgleichen Vermögensgefährdung Perron in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 263 StGB Rz.  188c m.w.N.; für eine kritische Überprüfung dieser Rechtsauffassung vor dem Hintergrund der qualitativen Gleichsetzung von Gefährdungs- und Endschaden Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 263 StGB Rz. 216. 22 Vgl. Roxin/Greco, Strafrecht AT, Bd. I, 5. Aufl. 2020, § 10 Rz. 134. 23 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 263 StGB Rz. 209. 24 BGH v. 31.3.2004 – 2 StR 482/03, wistra 2004, 339, 340. 25 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 263 StGB Rz. 209.

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Fall stellt in Bezug auf die Verfolgbarkeit einen Ausnahmetatbestand dar, der eigentlich dem sog. Haus- und Familiendiebstahl gem. § 247 StGB entstammt, durch den ausdrücklichen gesetzlichen Verweis in § 266 Abs. 2 StGB aber auch im Bereich der Untreue Geltung erlangt. Wird durch die Tat ein Angehöriger verletzt, wird die Tat danach nur auf Antrag verfolgt, und zwar unabhängig von der Höhe des vorgeworfenen Vermögensnachteils.26 Dogmatisch handelt es sich insoweit um ein sog. absolutes Antragsdelikt, d.h. anders als bei relativen Antragsdelikten kann ein fehlender Strafantrag auch nicht durch die Bejahung eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung durch die Strafverfolgungsbehörde kompensiert werden. Wird der erforderliche Strafantrag nicht (rechtzeitig) gestellt oder wieder zurückgenommen, fehlt es an einer Prozessvoraussetzung; eine Fortsetzung des Verfahrens zur Herbeiführung einer verfahrensabschließenden Sachentscheidung wäre unzulässig.27 Im vorliegenden Fall wurde fristgerecht ein wirksamer Strafantrag gestellt, allerdings verstarb der strafantragsberechtigte Unternehmer nach Antragstellung vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens. Es ist anerkannt, dass ein vor dem Tod gestellter Antrag wirksam bleibt.28 Für das Antragsrecht als solches bestimmt § 77 Abs. 2 StGB, dass dieses nach dem Tod des Antragstellers (nur) in gesetzlich bestimmten Fällen29 auf den Ehegatten, den Lebenspartner und die Kinder übergeht. Sind diese bei Versterben des Verletzten nicht (mehr) existent, geht das Antragsrecht auf die Eltern bzw.  – nach deren Tod vor Ablauf der Antragsfrist – auf die Geschwister und Enkel des Verletzten über (§ 77 Abs.  2 Satz 2 StGB). Bei mehreren Rechtsnachfolgern hat jeder von diesen ein ei­ genständiges Antragsrecht (§  77 Abs.  4 StPO).30 Da allerdings die Vorschrift des §  247 StGB keine entsprechende Bestimmung enthält und aufgrund des unmittel­ baren Verweises in § 266 Abs. 2 auf § 247 StGB eine solche Bestimmung auch für die Untreue fehlt, gilt die Vorschrift des § 77 Abs. 2 StGB für das Antragsrecht nach § 247 StGB bzw. § 266 Abs. 2 StGB nicht, es geht also nicht auf die bezeichneten Rechtsnachfolger über.31 Für die Rücknahme eines gestellten Antrags nach dem Tod des Antragstellers gilt dieses allerdings keineswegs spiegelbildlich. Vielmehr enthält § 77d Abs. 2 StGB für einen solchen Fall eine spezielle Regelung, wonach der Ehegatte, Lebenspartner, die Kinder, die Geschwister und die Enkel des Antragstellers den Antrag nach dessen Tod in der Rangfolge des § 77 Abs. 2 StGB zurücknehmen können, allerdings mehre26 Vgl. BGH v. 21.12.2016 – 3 StR 453/16, StV 2019, 92, 92. 27 Mitsch in MünchKomm. StGB, 4. Aufl. 2020, Vor § 77 StGB Rz. 1, 12; vgl. auch Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, Vor § 77 StGB Rz. 4, § 77d StGB Rz. 8; Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 77d StGB Rz. 7.  28 Dies ergibt sich aus § 77d Abs. 2 StGB, der den Kreis und die Rangfolge der zur Rücknahme des Strafantrags nach dem Tod des Verletzten Berechtigten regelt. 29 Vgl. § 165 Abs. 1, § 194 Abs. 1, 2, § 205 Abs. 2, § 230 Abs. 1 Satz 2. 30 Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 77 StGB Rz. 6. 31 BGH v. 21.12.2016 – 3 StR 453/16, StV 2019, 92, 92; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 77 StGB Rz. 4.

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re Angehörige des gleichen Ranges nur gemeinsam (Satz 2) und nicht, wenn sie selbst an der Tat beteiligt sind (Satz 3). Für den vorliegenden Fall bedeutet das, dass der Strafantrag nach dem zwischenzeitlichen Tod der Ehefrau nur von den beiden nicht an der Tat beteiligten Kindern (Söhne B und C) zurückgenommen werden konnte, nicht aber von den an der Tat beteiligten Kindern (Tochter und Sohn A). Fraglich ist dabei, wie es sich auswirkt, wenn – wie hier – der Wille des Antragstellers zu dessen Todeszeitpunkt einer Antragsrücknahme eindeutig entgegengestanden hat. Während die Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 4 StGB für die Antragstellung als solche bestimmt, dass das Antragsrecht nicht übergeht, wenn die Verfolgung dem erklärten Willen des Verletzten widerspricht, findet sich in der Rücknahmevorschrift des §  77d Abs.  2 StGB keine entsprechende Regelung. Vor dem Hintergrund des systematischen Zusammenhangs zwischen § 77 Abs. 2 und § 77d Abs. 2 StGB, insbesondere angesichts des ausdrücklichen Verweises in § 77d Abs. 2 Satz 1 auf § 77 Abs. 2 StGB, wird man darin keine planwidrige Regelungslücke sehen können, so dass für eine Analogie kein Raum ist. Das bedeutet, dass die beiden Söhne B und C den Strafantrag gegen ihre Geschwister zurücknehmen konnten, obwohl dies dem erklärten Willen des durch die Tat Verletzten, des verstorbenen Unternehmers, widersprach. Da ein Ermittlungsverfahren wegen eines absoluten Antragsdelikts nach einer Rücknahme des Strafantrags wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung zwingend ein­ zustellen ist,32 bestand für die Staatsanwaltschaft aufgrund der Rücknahme keine Möglichkeit, das Verfahren fortzusetzen; es wurde also eingestellt. Damit fand ein bemerkenswertes Verfahren seinen Abschluss.

III. Und die Moral von der Geschicht’ … Dass zivilrechtliche Auseinandersetzungen in Strafanzeigen bzw. Strafanträgen münden, ist so ungewöhnlich nicht. Häufig werden strafrechtliche Ermittlungen aus taktischen Gründen angestoßen, etwa um über eine Akteneinsicht im Strafverfahren gem. § 406e StPO an Informationen zu gelangen, die die Staatsanwaltschaft im Zuge ihrer Ermittlungen erlangt hat (z.B. über Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen oder etwa Auskunftsersuchen an Banken) und an die Zivilparteien häufig selbst gar nicht herankommen können. Teilweise werden strafrechtliche Ermittlungen auch angestoßen, um „Druck zu machen“, d.h. um die Gegenpartei einzuschüchtern und sie möglicherweise aus Furcht vor strafrechtlichen Sanktionen etwas einigungsbereiter in der zivilrechtlichen Auseinandersetzung zu machen. Einer gewissen Beliebtheit erfreut sich in geeigneten Fällen deshalb auch die Androhung einer Strafanzeige/eines Strafantrags unter gleichzeitigem Aufzeigen der Abwendungsmöglichkeit durch eine zivilrechtliche Einigung.33 Gemein ist diesen Maßnahmen, dass sie 32 Mitsch in MünchKomm. StGB, 4. Aufl. 2020, Vor § 77 StGB Rz. 1, 12; Bosch in Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 77d StGB Rz. 7. 33 Hier kann sich allerdings bei ungeschicktem Vorgehen ein eigenes strafrechtliches Gefahrenfeld eröffnen: das der (versuchten) Erpressung gem. § 253 StGB oder Nötigung gem. § 240 StGB (ggf. i.V.m. § 22 StGB). S. dazu näher BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – 3 StR 105/16,

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nicht in erster Linie einem Strafverfolgungsinteresse dienen, sondern ein Vehikel darstellen, um die Position in der zivilrechtlichen Auseinandersetzung zu verbessern. Klug eingesetzt, können all diese Dinge im Einzelfall eine Menge bewirken. Selbst in schwierigen Familienkonstellationen ist jedoch ungewöhnlich, dass von derartigen Schritten innerhalb der eigenen Familie zwischen Eltern und Kindern Gebrauch gemacht wird. Noch ungewöhnlicher ist es sicher, wenn dieses wie im vor­ liegenden Fall nicht aus taktischen Motiven erfolgt, um sich in der zivilrechtlichen Auseinandersetzung Vorteile zu verschaffen, sondern aus originärem, ernsthaftem Strafverfolgungsinteresse. Am Ende steht dann in aller Regel ein Scherbenhaufen, in dessen Angesicht man sich kopfschüttelnd fragt, wie es so weit kommen konnte. Schlechte Anwälte können hier viel Negatives beitragen, indem sie Öl ins Feuer gießen und die Beteiligten gegeneinander aufwiegeln. Das vorschnelle und nicht zu Ende gedachte Hineintreiben in strafrechtliche Ermittlungsverfahren kann sich als regelrechter „Brandbeschleuniger“ auswirken. Umgekehrt können kluge und umsichtige Anwälte hier sehr segensreich und befriedend wirken, indem es ihnen gelingt, auf eine Konfliktlösung hinzuwirken, die derartige Scherbenhaufen vermeidet. Zur letztgenannten Anwaltskategorie gehört fraglos auch der verehrte Jubilar, der schon häufig bewiesen hat, wie man durch eine kluge und verantwortungsvolle Herangehensweise Lösungen findet, die die geschilderten Scherbenhaufen vermeiden und ihren Mandanten damit letztlich viel mehr dienen. Ad multos annos!

BeckRS 2016, 15363; BGH v. 19.11.1953 – 3 StR 17/53, BGHSt 5, 254, 260 f.; Sinn in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2017, § 240 StGB Rz. 136 f.

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Planung eines neuen Stadtteils in den Sechzigern – Ein Vergleich mit der Gegenwart Inhaltsübersicht I. Die Frankfurter Nordweststadt

VII. Bebauungsplanverfahren heute

II. Anmerkungen zur Entwicklung der Nordweststadt

VIII. Lärmschutz in der Bauleitplanung

III. Die Macher der Nordweststadt IV. Der Planungsprozess der Nordweststadt 1. Der städtebauliche Wettbewerb 2. Die Schaffung von Planungsrecht a) Die Fluchtlinienpläne b) Die Bebauungspläne V. Regionales Raumordnungsrecht heute VI. Flächennutzungsplanung heute

IX. Ausgleich von Eingriffen in Natur und Landschaft in der Bauleitplanung X. Artenschutz in der Bauleitplanung XI. Der großflächige Einzelhandel in der Bauleitplanung XII. Bodenschutz in der Bauleitplanung XIII. Denkmalschutz in der Bauleitplanung XIV. Last but not least

Seit zehn Jahren weisen die prosperierenden Ballungsräume in der Bundesrepublik einen erheblichen Zuzug von Einwohnern auf. In den letzten Jahren hat sich dadurch eine Knappheit von insbesondere „bezahlbarem“ Wohnraum eingestellt. Obwohl in den Städten eine intensive Wohnbautätigkeit herrscht, die die viele Jahre leerstehenden Baulücken füllt, und Arrondierungen von Stadtvierteln erfolgen, ist offenbar nicht genügend bezahlbarer Wohnraum vorhanden. Angeheizt durch eine Niedrigzinspolitik und größere Renditen beim Eigentumswohnungsbau entstehen vorwiegend hochpreisige Eigentumswohnungskomplexe. Betriebswirtschaftlich haben die hohen Kosten solcher Wohnungen eine hohe Wohnungsmiete zwangsläufig zur Folge, was es immer schwerer macht, dass Bürger mit durchschnittlichen Verdiensten eine Wohnung finden, die sie bezahlen können. Die Krankenschwester und der Polizist werden zum wohnungspolitischen Problemfall. Die Immobilienwirtschaft weiß sich daher einig, dass diese Knappheit im Angebot des Wohnungsmarktes nur dadurch beseitigt werden kann, indem das Angebot für Wohnungen in den Ballungsräumen erheblich ausgeweitet wird, sodass dadurch keine Knappheitspreise bei den Mieten zu zahlen sind. Eine solche Angebots-Vergrößerung käme jedoch in vielen Fällen dieser prosperierenden Ballungsräume nur dadurch zustande, dass vollkommen neue Stadtviertel gebaut werden müssten. Quer durch alle Parteien stellt die Schaffung neuen Wohnraums durch Ausweisung neuer Wohnstadtteile wenigstens einen Baustein ihrer jeweiligen Vorstellung dar, wie es zu mehr bezahlbarem Wohnraum kommen kann. Die eine oder andere Partei fordert weitere Maßnahmen, wie einen Mieten-Deckel; dennoch darf festgestellt werden, dass es in den Ballungsräumen ohne neue Stadtviertel nicht geht. 345

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Offenbar ist es in der Nachkriegszeit und in den sechziger Jahren gelungen, große neue Wohnstadtteile sehr viel schneller herzustellen, als es heute üblich ist. Unabhängig von lokalen Besonderheiten wird hierfür auch das komplizierter gewordene Planungsrecht für den Städtebau verantwortlich gemacht. Ein populärer running gag ist insoweit die Behauptung, dass die streng geschützte Art des Feldhamsters oder der Zauneidechse ganze Stadtteile verhindern würde.

I. Die Frankfurter Nordweststadt Es soll daher im Folgenden an einem konkreten Beispiel in Frankfurt am Main die Planungsrechtsgeschichte der Entstehung eines Stadtteils in den sechziger Jahren mit heutigen Anforderungen verglichen werden. Um diesen Kandidaten aus der Frankfurter Planungsrechtsgeschichte geht es: die Nordweststadt. Hierzu ein erster Steckbrief, um die städtebaulichen Dimensionen einschätzen zu können. Der neue Stadtteil wurde in neun Jahren, gerechnet von der Entscheidung über einen städtebaulichen Wettbewerb im Jahre 1959 bis zur Fertigstellung 1968, gebaut. Die Nordweststadt erstreckt sich auf einer Fläche von 170 ha. Es sind 7005 Wohnungen für ca. 23.000 Bewohner geschaffen worden. 1968 wurde ebenfalls nach dreieinhalbjähriger Bauzeit ein riesiges Einkaufszentrum als der neue Mittelpunkt des neuen Stadtviertels in Betrieb genommen, das Nordwestzentrum. Neben den 37.000 m² Verkaufsfläche für Einzelhandel sind dort eine Vielzahl öffentlicher Einrichtungen, einschließlich Hallenbad und Bürgerhaus sowie Schulen, untergebracht worden. Im Jahre 1968 nahm zudem die U-Bahn, die in der Tiefebene des Nordwestzentrums ihre Station hat, den Betrieb auf. Sie war die erste U-Bahn der Stadt Frankfurt überhaupt und verbindet das Nordwestzentrum binnen 20 Minuten mit der Hauptwache, dem Herzen der Frankfurter Innenstadt.1 All das lässt insbesondere den Frankfurter Betrachter solcher Zahlen nur staunen. Es gibt einen direkten Frankfurter Vergleich, was das Tempo der Entwicklung eines neuen Stadtteils betrifft, nämlich die Entstehung des letzten vollständigen Stadtteils, den die Stadt Frankfurt entwickelt hat, den Riedberg. Ebenso wie die Nordweststadt wurde der Stadtteil Riedberg auf der grünen Wiese errichtet. Der Stadtteil Riedberg erstreckt sich auf einer Fläche von 270 ha und hat 27 Jahre gebraucht, um fertiggestellt zu werden.2 Es sollten 6.000 Wohneinheiten für 15.0003 Einwohner errichtet werden. Dass weniger Wohneinheiten für weniger Bürger auf einer größeren Fläche errichtet wurden, liegt an der Zielgruppe, für die der Riedberg geplant wurde. Am Riedberg sind sehr viel mehr Einfamilienhäuser und Reihenhäuser sowie Mehrfamilienhäuser mit geringerer Geschosszahl realisiert worden, als in der Nordweststadt. 1 Kampffmeyer, Die Nordweststadt Frankfurt am Main, 1968; Müller-Raemisch, Frankfurt am Main Stadtentwicklung und Planungsgeschichte seit 1945, 1996. 2 Dazu der damalige Leiter des Stadtplanungsamtes von Lüpke in Kauffmann/Peterek (Hrsg.), Der Frankfurter Riedberg, S. 31. 3 Hessen Agentur, Tätigkeitsbericht zur städtebaulichen Erschließungsmaßnahme Am Riedberg, Stand 25.8.2017, S. 6.

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Auch am Riedberg wurde die in diesem Bereich oberirdisch verkehrende U-Bahn von einer vorhandenen Strecke abgezweigt und dorthin verlängert. Dort nahm die U-Bahn ihren Betrieb im Dezember 2010 auf.4

II. Anmerkungen zur Entwicklung der Nordweststadt So verlockend es wäre, allen Gründen nachzuspüren, die für die unterschiedliche Geschwindigkeit bei der Entwicklung des gesamten Stadtteils maßgeblich waren, so soll sich im Folgenden jedoch allein auf den Beitrag des Planungsrechtes für die verlangsamte Entwicklungsgeschwindigkeit von Stadtteilen im Jahre 2020 beschränkt werden. Alles andere würde den Rahmen dieser Darstellung, womöglich sogar auch eines eigenen Buches, sprengen. Dabei soll, schon allein um die Relativität der Bedeutung des Planungsrechts für die Entwicklung eines Stadtteils zurecht zu rücken, nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass auf vielen anderen Arbeitsfeldern sehr maßgebliche Weichen für das Entwicklungstempo eines Stadtteils gestellt werden. Zu nennen sind hier der Grundstückserwerb, der Verkauf der Grundstücke, die Durchsetzung von bestimmten Gestaltungsanforderungen, die Vergabe und die Durchführung von Erschließungsmaßnahmen und natürlich die allgemeinen volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die den Bau von Wohnungen beschleunigen oder hemmen können. Dennoch ist es für das Verständnis der Planungsrechtsgeschichte der Nordweststadt ganz instruktiv, einige Stichworte zum Komplex Grundstückserwerb und zur Kooperation zwischen den Bauherren und der Stadt darzustellen. Die Stadt hat vor Beginn der Baumaßnahme alle Grundstücke aufgekauft. Sie war dort weitestgehend „freihändig“ tätig und hat kein Umlegungsverfahren oder Flurbereinigungsverfahren durchgeführt. Es gab 500 unterschiedliche Eigentümer, da­ runter 35 hauptberuflich tätige Landwirte, zwei Ziegeleibetriebe und fünf Gärtne­ reien. Zwar hätte die Stadt Anfang der sechziger Jahre noch auf der Grundlage der seit dem Jahre 1936 geltenden Baulandbereitstellungsverordnung handeln können. Sie hat jedoch schnell erkannt, dass auf Grundlage der nach dieser Verordnung geforderten niedrigen Ankaufspreise keine freiwillige Vereinbarung mit den Grundstückseigentümern zustande kommen würde. Auf Grundlage eines Wertgutachtens hat sie anfangs den Quadratmeter für 2,50 bis 6,00 DM erworben. Diese Preise lagen bereits deutlich über denjenigen der Baulandbereitstellungsverordnung.5 Eine Aktualisierung des Wertgutachtens hat in einer späteren Phase der Verhandlungen zu einer Erhöhung der Kaufpreise auf 4,10 bis 10,00 DM pro Quadratmeter geführt. Es kam lediglich zu 40 Enteignungsverfahren, die nur in 18 Fällen vor die Gerichte getragen wurden. Summa summarum lässt sich feststellen, dass die städtischen Behörden hier einer Mammutaufgabe nachgekommen sind, die aber letztlich wohl durch

4 Hessen Agentur, Tätigkeitsbericht zur städtebaulichen Erschließungsmaßnahme Am Riedberg, Stand 25.8.2017, S. 103. 5 Kampffmeyer, Die Nordweststadt Frankfurt am Main, 1968, S. 27.

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attraktive Grundstückskaufpreise zu einem so erfolgreichen Ende geführt werden konnte.6 Die Fläche, auf der die Nordweststadt entstehen sollte, war zu wenigstens 80 % durch Landwirtschaft geprägt. Blickt man auf Luftbilder, die relativ kurz vor dem Bau der Nordweststadt aufgenommen wurden,7 erkennt man eine landwirtschaftliche Nutzung, die sich in den fünfziger Jahren noch ganz erheblich von der heutigen Landwirtschaft unterschied. So ist dort eine Vielzahl kleinerer Ackerflächen zu erkennen, die ausweislich des Luftbildes offenbar auch mit sehr unterschiedlichen Feldfrüchten bebaut wurden. In der Nähe der vorhandenen Siedlungskerne der umgebenden Stadtteile kann man eine ganze Reihe von Streuobstwiesen erkennen sowie Gärtnereibetriebe. Bei den Ziegeleien, die aufgekauft wurden, sind die Betriebsgelände zu erkennen, aber auch benachbarte Abraumhalden. Oberirdische Gewässer von wasserwirtschaftlicher Bedeutung waren auf der Fläche der Nordweststadt praktisch nicht vorhanden. Der Steinbach fließt an der westlichen Grenze der Nordweststadt vorbei und die Nidda im Süden ist durch das Baugebiet in keiner Weise berührt. Das Gebiet war durchzogen von nicht ausgebauten Landwirtschaftswegen, also klassischen Feldwegen, und im Übrigen, wie beschrieben, praktisch nicht bebaut und unversiegelt. Zur vollständigen Geschichte, was vor der Nordweststadt auf dieser Fläche war, gehört der Hinweis, dass sich auf Teilen dieses Areals die frühere Römerstadt Nida befand. Das dortige Grabungsfeld wurde als „deutsches Pompeji“ im 19. Jahrhundert bezeichnet. Es waren Fundstücke von Bauwerken jeder Nutzung bis hin zu Alltagsgegenständen im Erdboden reichhaltig aufzufinden.8

III. Die Macher der Nordweststadt 90 % der Wohnungen in der Nordweststadt wurden von drei Bauträgern des sozialen Wohnungsbaus errichtet, nämlich der Nassauischen Heimstätte (auch damals in der Hand von Gebietskörperschaften), der AG für kleine Wohnungen (Wohnungsbauunternehmen der Stadt Frankfurt am Main) und der Neuen Heimat Hessen (soziales Wohnungsbauunternehmen des DGB).9 Durch die gesamte Darstellung der Baugeschichte der Nordweststadt zieht sich das Bekenntnis der verschiedensten städtischen Behörden (siehe hierzu die Darstellung bei Kampffmeyer), dass Planung und Bau des neuen Stadtteils in engster Kooperation zwischen den Behörden selbst, aber vor allen Dingen mit den Bauherren, erfolgte. Hierzu gehörte auch eine gemeinsame Prozessorganisation, um die Teilung der Grundstücke, die Baugenehmigungsverfahren für die zu errichtenden Gebäude, von der Stadt durchzuführende Erschließungsmaßnahmen sowie den Freianlagenbau miteinander zu verbinden. Zu alledem findet sich 6 Kampffmeyer, Die Nordweststadt Frankfurt am Main, 1968, S. 26 ff. 7 Dem Institut für Stadtgeschichte sei Dank für einen Blick in Luftbilder aus dem Jahre 1956 und 58 sowie die Stadtgrundkarte aus dem Mai 1954, die in diesem Bereich im Jahre 1958 sowie im November 1960 ergänzt wurde. 8 Siehe hierzu den Eintrag bei Wikipedia: „Nida (römische Stadt)“ mit zahlreichen Nachweisen zur Geschichte der Stadt aus der Zeit der Römer. 9 Kampffmeyer, Die Nordweststadt Frankfurt am Main, 1968, S. 40.

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kein städtebaulicher Vertrag, der diese Aufgabenverteilung und die daraus sich ergebende Finanzierung der diversen Maßnahmen zwischen den Akteuren regeln würde. Es hat offenbar auch kein Bieterverfahren beim Verkauf der städtischen Grundstücke an die Träger der sozialen Wohnungsbauunternehmen stattgefunden. An ein solches Bieterverfahren hätte man aus mehreren Gründen denken können, nicht zuletzt zur Erfüllung des Gebots zu wirtschaftlichem Handeln, das auch damals in der Hessischen Gemeindeordnung verankert war.10 Besonders hätte sich dies aufdrängen können, weil der damalige Planungsdezernent Kampffmeyer, bevor er in dieses Amt ­gewählt wurde, technischer Geschäftsführer eines Unternehmens der Neuen Heimatgruppe war.11 Um keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen: Aus den Unterlagen ist nicht ersichtlich, dass es hier zu Unregelmäßigkeiten gekommen wäre, die für den Planungsdezernenten ehrenrührig wären. Dennoch ist leicht nachvollziehbar, dass eine solche Konstellation in heutiger Zeit das politische Ende eines Stadtplanungsdezernenten bedeuten würde. Ebenfalls freihändig, also ohne Bieteroder Vergabeverfahren, kam die Vereinbarung mit dem Bauherrn und späteren ­Eigentümer des Nordwestzentrums, der Gewerbebauträger GmbH aus Hamburg, zustande. Der Investor hat dort die Errichtung diverser öffentlicher Gebäude übernommen, darunter ein Parkhaus, ein Bürgerhaus, Sozialstationen und Kindertagesstätten, etc., die später von der Stadt angemietet wurden. Solche Mietverträge, die die Errichtung von Gebäuden für die öffentliche Hand vorsehen, die nicht ohne weiteres für andere Zwecke genutzt werden können, wären heute nach § 103 Abs. 2 Nr. 2 GWB ein vergabepflichtiger Bauauftrag, der wegen der Überschreitung der vergaberechtlichen Schwellenwerte europaweit auszuschreiben wäre. Doch zurück zur Darstellung der städtebaulichen Planung für die Nordweststadt. Die Initiative für einen neuen Stadtteil ging von den Geschäftsführern der Nassau­ ischen Heimstätte sowie einem Unternehmen aus der Neuen Heimatgruppe aus. Im Jahre 1955 richteten sie einen Brief an den Frankfurter Oberbürgermeister, indem sie die Entwicklung eines neuen Stadtteils im Frankfurter Nordwesten vorschlugen, weil in zwei Jahren, so die Briefe, der Wiederaufbau der Stadt Frankfurt abgeschlossen sei, alle Baulücken gefüllt und daher nur so der dringend notwendige soziale Wohnungsbau12 geschaffen werden kann.13

10 Siehe § 92 Abs. 1 der Hessischen Gemeindeordnung v. 25.2.1952. 11 Müller-Raemisch, Frankfurt am Main Stadtentwicklung und Planungsgeschichte seit 1945, 1996, S.  129; Hans Kampffmeyer war von 1950 bis 1956 technischer Direktor der GEWOBAG Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft mbH, so Thomas ­ Kampffmeyer in M. Wentz (Hrsg.), Hans Kampffmeyer – Planungsdezernent in Frankfurt am Main 1956–1972, 2000, S. 236. 12 Nach Müller-Raemisch, Frankfurt am Main Stadtentwicklung und Planungsgeschichte seit 1945, 1996, S. 133 lebten damals noch 10.000 Frankfurter Familien zum Teil mit 4 Personen gemeinsam auf einer Wohnfläche von weniger als 30 m². 13 Müller-Raemisch, Frankfurt am Main Stadtentwicklung und Planungsgeschichte seit 1945, 1996, S. 128.

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IV. Der Planungsprozess der Nordweststadt Im Jahre 1957 wurden in der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Frankfurt bereits die ersten Grundsatzbeschlüsse gefasst, um den Magistrat zu ermächtigen, den Erwerb aller Grundstücke für den beabsichtigten neuen Stadtteil durchzuführen. 1. Der städtebauliche Wettbewerb Im Jahr 1959 fand sodann ein städtebaulicher Wettbewerb zum Entwurf des neuen Stadtteils statt. Den Vorsitz im Preisgericht hatte Ernst May inne, der der herausragende Planungsdezernent der Zwanzigerjahre der Stadt Frankfurt war. Er hat die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Nordweststadt gelegene Römerstadt, ein Stadtteil Frankfurts, an den Hängen des Tals der Nidda im Stil des Funktionalismus in nur vier Jahren gebaut. Die Entscheidung für Ernst May als Vorsitzenden lässt erkennen, dass der Frankfurter Magistrat auch hier bereit war, eine nicht alltägliche Architektur und eine experimentierfreudige Gestaltung des neuen Stadtteils zu ermöglichen. Zur Realisierung wurde schließlich der auf dem 3.  Platz der Preisgerichtsentscheidung gelandete Entwurf der von dem Architekten Schwagenscheidt angeführten planerischen Arbeitsgemeinschaft vorgesehen.14 Letztlich blieb von dem städtebaulichen Entwurf nur die Grundstruktur des aus Straßen und Wegen, Freianlagen und Standorten der einzelnen Gebäude sich ergebenden Grundbauplanes der Nordweststadt übrig. Die Planung der einzelnen Wohngebäude selbst wurde schnell von den Unternehmen des sozialen Wohnungsbaus übernommen. Denn auch damals musste bereits der Zielkonflikt zwischen Herstellung aller genehmigungsrechtlichen Voraussetzungen in der Genehmigungsplanung, den bautechnischen Möglichkeiten der Realisierung eines Gebäudes und im Fall der Errichtung von öffentlichen geförderten Wohnungen die Erfüllung der Richtlinien für die Gestaltung dieser Wohnungen gelöst werden. Als für die Realisierung kritisch hatte sich insbesondere die Erfüllung der Richtlinien des sozialen Wohnungsbaus im Planungsvorschlag von Schwagenscheidt herausgestellt. Daher haben die Architekten der Bauherren, der sozialen Wohnungsbauunternehmen, das Heft des Handelns übernommen, da hier sowohl mehr Know-how vorlag als auch, aufgrund der Vielfalt von Arbeitsbeziehungen, eine größere Durchsetzungskraft gegenüber den Förderstellen für den sozialen Wohnungsbau erwartet werden durfte. Entstanden ist eine städtebauliche Planung, die nicht nur im Jahre 1959 auf der Höhe der Zeit war, sondern ihrer Zeit erkennbar voraus. So hat man das Konzept einer sogenannten Raumstadt verfolgt. Darunter wurde verstanden, dass die einzelnen Gebäude in diesem Stadtteil sehr viel größere Abstände zueinander aufweisen, als dies nach dem Abstandsflächenrecht der Hessischen Bauordnung heute erforderlich wäre. Alle Gebäude wurden entweder in Nord-Süd oder West-Ost Richtung ausgerichtet. Zwischen den Gebäuden finden sich umfangreiche Grünanlagen, einschließlich eines eigenen Parks. Das Verkehrssystem und die daraus sich ergebenden Folgen 14 Müller-Raemisch, Frankfurt am Main Stadtentwicklung und Planungsgeschichte seit 1945, 1996, S. 131; Kampffmeyer, Die Nordweststadt Frankfurt am Main, 1968, S. 15 ff.

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für die Wohnqualität waren sehr zukunftsorientiert. So ist der Grundriss der Nordweststadt durch einige Sammelstraßen geprägt, von denen Stichstraßen zu einzelnen Gebäude-Ensembles abgehen. Für das Jahr 1959 geradezu futuristisch anmutend wurden große Tiefgaragen geplant, um den irgendwann einmal zu erwartenden ruhenden Verkehr unter die Geländeoberfläche zu bringen. Gleichzeitig wurde ein vom Straßensystem vollkommen unabhängiges Fußgängerwegesystem entwickelt, das mit einer Vielzahl von Brücken über die Sammelstraßen eine Nutzung zulässt, die nicht auf Bürgersteige an viel befahrenen Straßen angewiesen ist. In dieselbe Kategorie des Futurismus gehörte es, darauf zu setzen, dass die Nordweststadt mit einer U-Bahn an die Frankfurter City angeschlossen wird. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine einzige U-Bahn in Frankfurt, keine technische Vorplanung hierfür, keine Klärung der Finanzierung und erst recht kein Genehmigungsrecht, das deren Realisierung ermöglicht hätte. Dennoch konnte sie im Jahre 1968 in die Station im Nordwestzentrum einfahren. Über diese Maßgaben hinaus hat die Stadt mit den Bauherren Richtlinien zur Gestaltung der Gebäude verabredet, die jedoch offenbar nicht Gegenstand eines städtebaulichen Vertrages waren. Es bestand keine Gelegenheit, die Kaufverträge einzusehen, die zwischen der Stadt und den Bauherren geschlossen wurden. Es ist gut möglich, dass dort weitergehende Regelungen getroffen wurden, um den städtebaulichen Entwurf, den die Stadt verfolgt hat, so gut es geht mit zivilrechtlichen Bauverpflichtungen auch rechtlich durchzusetzen. 2. Die Schaffung von Planungsrecht Planungsrechtlich ist für uns heute selbstverständlich, dass aus einem gelungenen städtebaulichen Konzept und der Bereitschaft von drei großen Bauträgern, einen solchen Stadtteil zu entwickeln, allein noch kein Baurecht folgt. Planungsrechtlich fiel die Entwicklung der Nordweststadt in eine gesetzliche Umbruchsituation, da am 29. Juni 1960 das Bundesbaugesetz, der Vorläufer des heutigen Baugesetzbuchs, verkündet wurde und kurz danach in Kraft trat. Zur Erinnerung: Der städtebauliche Wettbewerb zur Gestaltung der Frankfurter Nordweststadt wurde im Sommer des Jahres 1959 entschieden. Mit den ersten Baumaßnahmen für die ersten Wohngebäude wurde 1962 begonnen.15 Nach unserem heutigen Verständnis müsste die Genehmigungsplanung für ein solches Gebäude wenigstens ein Jahr vor Baubeginn gestartet werden. Es wäre also zu erwarten gewesen, dass im Jahr 1961 ein Bebauungsplan, der das Planungsrecht für die neue Stadt auf der grünen Wiese schafft, vorgelegen hätte. Selbst wenn man unterstellt, dass ein nach dem frisch aus der Druckpresse gekommenes Bundesbaugesetz entstandener Bebauungsplan sehr viel schneller Rechtskraft erlangen kann, als dies heute üblich ist, ist an dieser Rückrechnung aber leicht zu erkennen, dass, selbst wenn man einen Tag nach Verkündung des Bundesbaugesetzes, also am 30.  Juni 1960, mit der Erarbeitung von Bebauungsplänen für die Nordweststadt angefangen hätte, kein solcher bis zu der Genehmigung des ersten Wohngebäudes vorgelegen hätte. Dementsprechend gestaltete sich auch die Aufstel15 Kampffmeyer, Die Nordweststadt Frankfurt am Main, 1968, S. 33.

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lung der Bebauungspläne: Man hat sie einfach dann aufgestellt, wenn Zeit dafür war. Der damalige Planungsdezernent sagt dazu selbst: „Folgerichtig wurden die endgültigen Bebauungspläne erst 1963/64 ins Verfahren gebracht und rechtskräftig gemacht, als die Nordweststadt schon lange im Bau war.“16 Für das Nordwestzentrum selbst, also das große Einkaufszentrum mit vielen öffentlichen Einrichtungen und ca. 150 Wohnungen, wurde überhaupt kein Bebauungsplan aufgestellt. Auch heute noch ist das Nordwestzentrum eine Insellage eines unbeplanten Innenbereichs, umgeben von Bebauungsplänen. Es ist nicht zu übersehen, dass damals an führender Stelle in der Stadt Frankfurt ein grobes Unverständnis für die unverzichtbare Bedeutung eines Bebauungsplans bestand, wenn man Vorhaben auf der grünen Wiese oder nach heute geläufigem planungsrechtlichen Verständnis im Außenbereich errichten will. a) Die Fluchtlinienpläne Im Jahre 1961 hat die Stadt Frankfurt, eine Übergangsregelung im Bundesbaugesetz ausnutzend, sogenannte Fluchtlinienpläne nach altem Recht beschlossen, die die Grundstruktur der Straßen des neuen Stadtteils festlegten.17 Nach dem Aufbaugesetz des Landes Hessen18 waren die Städte und Gemeinden befugt, Grenzen der Bebauung durch Fluchtlinien festzulegen. Straßenfluchtlinien grenzten den Straßenraum von der bebaubaren Fläche ab und Baufluchtlinien legten die Grenzen fest, innerhalb derer eine Bebauung zulässig war. Die Stadt Frankfurt hat sozusagen in der letzten Minute von den Möglichkeiten des Aufbaugesetzes Gebrauch gemacht, bevor an die Stelle des hessischen Aufbaugesetzes das Bundesbaugesetz trat. Das Bundesbaugesetz wurde zwar am 23.  Juni 1960 verkündet. Dennoch sah sein §  189 Abs.  1 vor, dass unter anderem der Erste Teil des Bundesbaugesetzes, nämlich die Vorschriften zur Bauleitplanung, erst ein Jahr nach der Verkündung in Kraft treten sollten.19 Bei dem Fluchtlinienplan, der die angesprochenen Grundstrukturen des neuen Stadtteils festlegte, handelte es sich um den Fluchtlinienplan F 1853, der aus drei Blättern bestand. Er wurde am 8. Juni 1961 durch die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Frankfurt beschlossen und nach einer öffentlichen Beteiligungsphase am 18.  Dezember 1961 durch die Stadtverordnetenversammlung festgestellt. Demnach hat die Stadtverordnetenversammlung zwei Wochen vor dem formellen Inkrafttreten der Vorschriften zur Bauleitplanung nach dem neuen Bundesbaugesetz noch auf der Grundlage des alten Gesetzes wichtige „Pflöcke eingeschlagen“. Wenigstens rechtlich unklar bleibt, weshalb sechs Monate nach Inkrafttreten der Vorschriften zur Bauleitplanung im Bundesbaugesetz und dem damit einhergehenden Außerkrafttreten des hessischen Aufbaugesetzes noch ein Beschluss nach dem Aufbaugesetz zur Feststellung des Fluchtlinienplans F 1853 getroffen werden konnte. Nach unserem heutigen Verständnis sind Fluchtlinienpläne „einfache“ Bebauungspläne nach § 30 Abs. 3 BauGB, da sie zwar Festsetzungen zu den überbaubaren Flächen enthalten, aber keine sonsti16 Kampffmeyer, Die Nordweststadt Frankfurt am Main, 1968, S. 15. 17 So auch ausdrücklich die Erläuterung in den Begründungen der unten dargestellten Bebauungspläne. 18 Hessisches Gesetz über den Aufbau der Städte und Dörfer des Landes Hessen v. 25.10.1948. 19 Halstenberg, Das neue Baurecht, Gemeinnütziges Wohnungswesen, 1960, S. 245 ff.

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gen Festsetzungen zum Maß oder gar zur Art der Bebauung. So wurde Planungssicherheit für die Vorbereitung des Straßenbaus als wichtigster Bestandteil der Erschließungsmaßnahmen geschaffen. b) Die Bebauungspläne Anhand von fünf Bebauungsplänen soll exemplarisch dargestellt werden, wie die Stadt Frankfurt damals die Aufgabe der Erstellung von Bebauungsplänen für den neuen Stadtteil angegangen ist. Dabei geht es um die auch heute noch in Kraft befindlichen Bebauungspläne NW 83a Nr.  1 (Geltungsbereichsfläche: 34,31 ha), den Bebauungsplan NW 83b Nr.  1 (Geltungsbereichsfläche: 32,52  ha), den Bebauungsplan NW 83d Nr. 1 (Geltungsbereichsfläche: 45,55 ha), den Bebauungsplan NW 100 3c Nr. 1 (Geltungsbereichsfläche: 45,97 ha) und den Bebauungsplan NW 100 3d Nr. 1 (Geltungsbereichsfläche: 32,87 ha). Nicht in allen Fällen dieser Bebauungspläne gibt es einen Aufstellungsbeschluss. Zum Teil erblickten sie das Licht außerhalb der Amtsstuben des Stadtplanungsamtes zum ersten Mal mit ihrer öffentlichen Auslegung. Heute sind bezüglich der diversen Beschlüsse, die die kommunale Vertretung zu einem Bebauungsplan fassen muss, der Aufstellungsbeschluss und der Satzungsbeschluss ein unverzichtbares Muss. Die Verfahrensdauer dieser Bebauungspläne lag zwischen neun Monaten (für den Bebauungsplan NW 100 3d Nr. 1) und anderthalb Jahren (für die Bebauungspläne NW 83d Nr. 1 und NW 100 3c Nr. 1). Alle genannten Bebauungspläne weisen eine in ihrem materiellen Gehalt einheitliche Begründung auf, die nicht mehr Platz als eine Seite benötigt. Sie unterscheiden sich nur in den jeweils für den konkreten Bebauungsplan notwendigen Änderungen von Maßzahlen, beispielsweise zu überbaubaren Flächen. Schaut man in die Beschlussvorlagen, die den Stadtverordneten zum Satzungsbeschluss für den Bebauungsplan vorgelegt wurden,20 ist zu erkennen, dass ihnen ­keinerlei Gutachten, wie dies heute üblich ist, zu den verschiedenen vom Bebauungsplan berührten Belangen wie Verkehrsprognosen, Lärmprognosen, landschaftsplanerischen Darstellungen, oder artenschutzrechtliche und bodenschutzrechtliche Gutachten, um nur einige prominente Belange in der bauplanungsrecht­lichen Abwägung anzusprechen, vorgelegt wurden. Die Magistratsberichte geben nicht zu erkennen, dass solche Unterlagen, die die konkrete Betroffenheit in dem jeweiligen Geltungsbereich des Bebauungsplans auf den Punkt bringen würden, überhaupt vorlagen. Die Magistratsberichte berichten schließlich über das Ergebnis der Beteiligung der Träger öffentlicher Belange und der Öffentlichkeitsbeteiligung, die auch nach dem Bundesbaugesetz der ersten Stunde bereits zu erfolgen hatte. Bezüglich der Anzahl der eingegangenen Einwendungen ist der Bebauungsplan NW 100 3c Nr. 1 der eindeutige Spitzenreiter. Hierzu gingen vier Einwendungen ein. Bei der Mehrzahl der übrigen Bebauungspläne ging keine einzige Einwendung ein. 20 Dem Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt am Main sei Dank für die Möglichkeit, in die Vorlagen der Stadtverordnetenversammlung zu schauen, die der Magistrat ihnen für den Satzungsbeschluss unterbreitet hat.

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Der Blick in die Protokolle der jeweiligen Sitzungen der Stadtverordneten, in denen die Satzungsbeschlüsse zu den oben genannten Bebauungsplänen getroffen wurden, zeigt, dass alle oben genannten Bebauungspläne einstimmig beschlossen wurden.21 Die Satzungsbeschlüsse wurden in allen Fällen ohne Diskussion in der Stadtver­ ordnetenversammlung gefasst. Wie den Protokollen der Sitzungen zu entnehmen ist, befanden sich alle Beschlussvorlagen zu den Bebauungsplänen jeweils auf einer Sammelliste, der sogenannten Tagesordnung II, über die vor Beginn der übrigen Beratun­ gen vorab en bloc abgestimmt wurde.

V. Regionales Raumordnungsrecht heute Wollte die Stadt Frankfurt die Nordweststadt heute bauen, wäre sie nicht mehr befugt, alleine über die Umwandlung der Ackerflächen in einen Wohnstadtteil zu entscheiden. Das System der regionalen Raumordnung mit landesweiten Raumordnungsplänen und regionalen Raumordnungsplänen, wie wir es heute kennen, befand sich zum Zeitpunkt der grundlegenden planungsrechtlichen Beschlüsse für die Nordweststadt erst in seiner Entstehung. So hat erst am 1. Februar 1962 die „Gesellschaft für regionale Raumordnung im engeren Untermaingebiet“ als private Gesellschaft zwischen der Stadt Frankfurt und einer ganzen Reihe von Gebietskörperschaften im Umland zur Vorbereitung einer regionalen Raumordnung ihre Arbeit aufgenommen. Nachdem im Juli 1962 das erste hessische Landesplanungsgesetz in Kraft trat, wurde die Gesellschaft am 21. Juli 1965 in einen kommunalen Zweckverband umgewandelt, der nunmehr als Regionale Planungsgemeinschaft Untermain firmierte.22 Der erste regionale Raumordnungsplan wurde sodann im Jahre 1968 vorgelegt.23 Als raumbedeutsame Maßnahme kann regionalplanungsrechtlich ein Stadtteil mit einer Größe von 170 ha nur errichtet werden, wenn er in einem regionalen Raumordnungsplan als eine solche Siedlungsfläche vorgesehen ist. Die Flächenausweisungen der Regionalpläne, also hier die „Siedlungsfläche“, werden regelmäßig als sogenanntes Ziel der Regionalplanung festgesetzt. Da Bebauungspläne, die die Grundlage der Bebauung in einem bislang (planungsrechtlich) unbeplanten Bereich sind, nach § 1 Abs. 4 BauGB nur aufgestellt werden dürfen, wenn sie den Zielen der Regionalplanung entsprechen, muss vor Inkrafttreten des Bebauungsplans eine kongruente Ausweisung des Stadtteils im regionalen Raumordnungsplan vorgenommen worden sein. Die Ziele der regionalen Raumordnung sind übrigens in der bauleitplanerischen Abwägung nicht überwindbar, sondern ihnen als unüberwindbare Vorgabe vorgelagert.24 Die rechtzeitige Anmeldung des regionalplanerischen Handlungsbedarfs ist für die zeitgerechte Schaffung von Planungsrecht für einen neuen Stadtteil 21 Die SPD hatte in Frankfurt am Main in der ab 1960 beginnenden Wahlperiode eine absolute Mehrheit von 50,7 % der Stimmen und in der ab 1964 beginnenden Wahlperiode eine von 53,5 %, so Häfner, Bewegte Zeiten − Frankfurt in den sechziger Jahren, 2020. 22 Magistratsbericht M 766 v. 30.9.1964 der Stadt Frankfurt am Main. 23 König, Organisationsformen interkommunale Zusammenarbeit in Großstadtregionen am Beispiel Frankfurt am Main, 2004. 24 VGH Kassel v. 29.6.2016 – 4 C 1440/14.N, Rz. 137 ff.

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von hoher Bedeutung. Regionalpläne sollen in Hessen nach § 6 Abs. 6 des Hessischen Landesplanungsgesetzes alle 10 Jahre neu aufgestellt werden. Idealerweise kann zu diesem Zeitpunkt die Gemeinde beim Träger der Regionalplanung den Antrag auf eine entsprechende Flächenausweisung in ihrem Gemeindegebiet stellen. Kann nicht auf einen solchen Termin gewartet werden, müsste ein Zielabweichungsverfahren nach § 6 Raumordnungsgesetz und § 8 Hessisches Landesplanungsgesetz betrieben werden, um eine Änderung der, so unser hier vorliegendes Beispiel, Ausweisung einer Landwirtschaftsfläche im Regionalplan in eine Fläche für Siedlungsentwicklung zu veranlassen. Der Regionalplan muss seinerseits den Zielen des Landesentwicklungsplans ent­ sprechen.25 Die Landesentwicklungspläne haben mittlerweile einen Detaillierungsgrad erreicht, der geeignet ist, dass einzelne konkrete raumbedeutsame Vorhaben „in Konflikt“ mit Ausweisungen des Landesentwicklungsplans kommen können. „In Konflikt“, weil für den Vorhabenträger absehbar ist, dass eine konflikthafte Fest­ setzung im Landesentwicklungsplan sich wegen der Anpassungspflicht auch im Regionalen Raumordnungsplan wiederfinden wird. So hat alle Stadtplaner im Land Hessen überrascht, dass im Landesentwicklungsplan als Ziel festgelegt wurde, dass beidseits von Höchstspannungsleitungen, also solchen, die dem Transport von mehr als einer Nennspannung von 220 kV Strom dienen, eine Bebauungsbeschränkung von je 400m im Innenbereich einzuhalten ist.26 Ein Abstand als solcher von Höchstspannungsleitungen ist in der Fachwelt vollkommen unstrittig, jedoch hat die große Distanz von 400m beidseits wegen ihrer fehlenden fachlichen Begründung überrascht, hat sie doch einen erheblichen Ausschluss von Flächen für die Bebauung im Ballungsraum zur Folge. Zurück zum Regionalplan: Sowohl bei der Aufstellung des Regionalplans als auch bei der Durchführung eines Abweichungsverfahrens wäre eine Umweltprüfung als planerische Umweltverträglichkeitsprüfung nach §  8 Raumordnungsgesetz erforderlich.27 Die Durchführung einer solchen Umweltprüfung verursacht einen eigenen Verfahrensaufwand, der der Absicht geschuldet ist, alle maßgeblichen, für das Vorhaben bedeutsamen Umweltauswirkungen in den Blick zu nehmen. So wird in einem sogenannten Screening-Verfahren zu Beginn der Umweltprüfung der maßgebliche Untersuchungsrahmen mit den zuständigen Umweltbehörden festgelegt. Dieser ist sodann durch entsprechende Gutachten abzuarbeiten und zum Gegenstand eines eigenen Umweltberichts zu machen.28 Das Verfahren der Regionalplanung sieht ebenfalls nach § 9 Raumordnungsgesetz eine Auslegung des Regionalplan-Entwurfs für die Öffentlichkeit für einen Monat vor, binnen derer Stellungnahmen abgegeben 25 So der Name des landesweiten Raumordnungsplans nach § 13 Abs. 1 ROG in Hessen, § 3 Hessisches Landesplanungsgesetz. 26 3. Änderung des Landesentwicklungsplans Hessen 2000, S. 89, Ziff. 5.3.4-5 (Z), beschlossen von der Hessischen Landesregierung am 27.3.2017. 27 Hiermit wird eine Anforderung der sogenannten Plan-UmweltverträglichkeitsprüfungsRichtlinie umgesetzt, RL 2001/42/EG über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme v. 27.6.2001. 28 Im Fall des Regionalplan Südhessen 2010 umfasst ein solcher Umweltbericht 91 Seiten.

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werden können. All dies muss aufbereitet und abgewogen werden und zum Gegenstand der Beschlussfassung in der Regionalversammlung über den Regionalplan gemacht werden. Ohne hier auf weitere Details einzugehen, ist ein Zielabweichungsverfahren sehr ähnlich ausgestaltet, was den verfahrensmäßigen Aufwand betrifft. Die Entscheidung über den Regionalplan kommt schließlich durch einen Beschluss der Regionalversammlung zustande. Die Regionalversammlung setzt sich zusammen aus entsandten Vertretern der Städte und Gemeinden, die innerhalb der Planungsregion, im Fall der Stadt Frankfurt der Planungsregion Südhessen, liegen. Sie hat 99 Mitglieder. Ein positiver Beschluss zu einem neuen Stadtteil für Frankfurt kommt daher nur zustande, wenn dieser sowohl in die parteipolitische Arithmetik der Regionalversammlung passt als auch der je aktuellen Konfliktlage zwischen Kernstadt und Umland entspricht. An dieser Stelle scheitert die Stadt Frankfurt gerade mit ihrer Absicht, einen neuen Stadtteil beidseits der Autobahn A5 zum Gegenstand einer regionalplanerischen Ausweisung zu machen.

VI. Flächennutzungsplanung heute Als die Stadt Frankfurt im Jahre 1965 die oben beschriebenen Bebauungspläne zur Realisierung der Nordweststadt verabschiedet hat, galt, wie ausgeführt, das Bundesbaugesetz seit dem Juli des Jahres 1961 ohne Einschränkungen für die Stadt. Demnach hätte sie den Bebauungsplan aus dem Flächennutzungsplan entwickeln müssen, wie dies heute § 8 Abs. 2 BauGB vorsieht. Dies konnte die Stadt zum damaligen Zeitpunkt schon allein deswegen nicht, weil kein Flächennutzungsplan vorlag. Heute müsste die Stadt Frankfurt selbstverständlich dem Entwicklungsgebot aus dem Flächennutzungsplan bei Aufstellung neuer Bebauungspläne für einen neuen Stadtteil gerecht werden. Infolge der Hierarchie des regionalen Raumplanungsrechtes muss der Flächennutzungsplan wiederum den Zielen des ihm übergeordneten Regionalplans angepasst sein. Eine Besonderheit für die Stadt Frankfurt besteht darin, dass sie im Jahre 2021 nicht mehr eigenständiger Träger der Flächennutzungsplanung ist, sondern nach § 9 Hessisches Landesplanungsgesetz ein gemeinsamer Regionalplan und Flächennutzungsplan für den Ballungsraum Rhein-Main aufzustellen ist, der Regionale Flächennutzungsplan. Diese Aufgabe wird vom Regionalverband Frankfurt/Rhein-Main wahrgenommen, dessen Gebiet die Fläche von 75 Gemeinden abdeckt. Eine davon ist die Stadt Frankfurt am Main. Für den auf den Flächennutzungsplan bezogenen Teil des Regionalen Flächennutzungsplans gelten alle Anforderungen des BauGB, was sein Zustandekommen angeht. Daher ist für den Flächennutzungsplan ebenfalls ein Umweltbericht aufzustellen.29 Im Rahmen des Flächennutzungsplanverfahrens muss eine frühzeitige Bürgerbeteiligung nach §  3 Abs.  1 BauGB, ebenso eine Beteiligung von Trägern öffentlicher Belange, stattfinden und nach Feststellung eines Entwurfs für den Regionalen Flächennutzungsplan oder einer Änderung des Flächennutzungsplans sodann die reguläre Bürgerbeteiligung nach §  3 29 Der Umweltbericht des RegFNP 2010 umfasst 528 Seiten und derjenige für den Teilplan erneuerbare Energien noch einmal 154 Seiten.

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Abs. 2 BauGB, ebenfalls ergänzt um die Beteiligung von Trägern öffentlicher Belange. Die Verbandskammer des Planungsverbandes, die sodann über die Aufnahme eines neuen Stadtteils in den Flächennutzungsplan nach § 10 Abs. 2 Metropolgesetz (vollständiger Titel: Gesetz über die Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main) entscheidet, besteht aus je einem Vertreter jeder Gemeinde, die dem Planungsverband angehört. Hierzu gehört ein Vertreter der Stadt Frankfurt, dem nach § 11 Abs. 2 Metropolgesetz jedoch ein Stimmgewicht von 12 Stimmen zukommt. Hinsichtlich der Durchsetzungschancen des Vertreters der Stadt Frankfurt gilt gleiches wie bei der Regionalversammlung: Die Zustimmung zu einem neuen Stadtteil muss sowohl den Mehrheitsverhältnissen im Planungsverband entsprechen als auch den häufig quer dazu liegenden Koalitionen zwischen Kernstadt und Umlandgemeinden. Sollte es bei der zeitgleichen Aufstellung des Regionalplans und des Flächennutzungsplans als den zwei Bestandteilen des Regionalen Flächennutzungsplans im Frankfurter Raum zu divergierenden Beschlusslagen der für den Regionalplan zuständigen Regionalversammlung und der für den Flächennutzungsplan zuständigen Verbandskammer des Planungsverbandes kommen, werden Vermittlungsverfahren nach § 9 Abs. 2 Hessisches Landesplanungsgesetz eingeleitet, um zu einer einheitlichen Ausweisung des Gebietes zu kommen. Nur wenn die Ausweisung im Regionalplan und im Flächennutzungsplan gleich ist, kann sie nach der Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Hessisches Landesplanungsgesetz in dem einen Dokument, dem Regionalen Flächennutzungsplan, dargestellt werden. Demnach stellt das heute geltende System der regionalen Raumordnung, zu dem man im Frankfurter Raum auch den Flächennutzungsplan zählen muss, eine höchst anspruchsvolle Hürde für einen neuen Frankfurter Stadtteil dar. Letztlich geht es bei dem Erfolg der Stadt, einen neuen Stadtteil planungsrechtlich genehmigt zu bekommen, um eine anspruchsvolle Aufgabe des Planungsmanagements, die im Schnittbereich zwischen Raumordnung, Fachwissen über die einzelnen betroffenen Belange und letztlich Regionalpolitik liegt. Die gesamte Tätigkeit der Stadt zur Durchsetzung eines solchen Stadtteils muss von Anfang an sensibel im Blick behalten, welche Auswirkungen bestimmte öffentliche Akzentsetzungen des geplanten Vorhabens, also der Verkehr, die Höhe der Gebäude, etc. für die Entscheidung der Regionalversammlung und der Verbandskammer haben. Über all das mussten sich die Macher der Nordweststadt nicht den Kopf zerbrechen.

VII. Bebauungsplanverfahren heute Sind all diese Voraussetzung geschaffen, folgt der letzte Schritt der Schaffung von Baurecht für einen Stadtteil, nämlich die Verabschiedung von Bebauungsplänen, die bauplanungsrechtlich erst das ermöglichen, was Gegenstand der städtebaulichen Planung ist. Dabei weist das Bebauungsplanverfahren im Wesentlichen zwei Komplexe auf. Zum einen geht es um die „Übersetzung“ dessen, was städtebaulich gewollt ist, in die Darstellungsformen des Bebauungsplans (siehe die Festsetzungsmöglichkeiten in §  9 BauGB, die BauNVO und die Planzeichenverordnung), zum anderen geht es 357

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um  die Zusammenstellung des Abwägungsmaterials für die bauleitplanerische Abwägung, das entscheidungstheoretische Herzstück der Planungsentscheidung, die Gegenstand des Satzungsbeschlusses am Ende des Bebauungsplanverfahrens ist. Hiernach sind alle von der Planung betroffenen Belange zu ermitteln, je für sich zu gewichten und sodann einem Abwägungsprozess zuzuführen, so heute §  1 Abs.  7 und § 2 Abs. 2 BauGB. Anfang der sechziger Jahre, als damit begonnen wurde, die Bebauungspläne für die Nordweststadt aufzustellen, waren dies alles noch unbekannte Begriffe. Stolleis30 stellt fest, dass sich damals selbst die Staats- und Verwaltungsrechtslehre nur zögernd dem Planungsrecht zugewandt hat. So resümiert er die ­Diskussionen auf der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1959, auf der sich die Staatsrechtslehrer mit dem Thema „Der Plan als verwaltungsrechtliches Institut“ befasst haben, mit folgenden Worten: „Man wusste nicht recht, wohin mit diesem Gebilde, das keinen unmittelbaren Regelungscharakter hatte, aber normative Wirkungen entfaltete, ohne ein Gesetz im materiellen Sinn zu sein. Selbst Forsthoff, der neue Entwicklungen stets aufmerksam beobachtete, bezeichnete den Plan „als ein unserer Rechtstypik im Grunde fremdes Rechtsinstitut““. In wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht stellt Stolleis fest31, dass die Publikationen zum Planungsrecht erst seit 1965 steil anstiegen und 1969 bis 1975 einen Höchststand erreichten. Da es ohnehin stets einige Zeit braucht, bis die wissenschaftliche Durchdringung eines Verwaltungsrechtsgebiets im Alltag der kommunalen Praxis angekommen ist, kann nicht verwundern, dass der oben dargestellte Ablauf des Planungsverfahrens für die Frankfurter Nordweststadt nicht ansatzweise heutigen Standards der Zusammenstellung des planerischen Abwägungsmaterials und einer darauf fußenden Abwägungsentscheidung entsprach. Die Zusammenstellung des Abwägungsmaterials erfordert nach § 2 Abs. 3 BauGB, dass diejenigen betroffenen Belange zu ermitteln und zu bewerten sind, die nach Lage der Dinge von dem Planungsvorhaben betroffen sind. Dabei sind alle Belange zu ermitteln, denen über eine Geringfügigkeitsschwelle hinaus Relevanz zukommt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ausdrücklich jedoch kein wissenschaftliches Forschungsprojekt aus diesem Anlass zu veranstalten. Mittlerweile hat sich eine Kanonisierung der Themenkomplexe herausgebildet, die üblicherweise in einem Bebauungsplanverfahren abgeprüft werden. Diese Themen, wie beispielsweise Lärmschutz oder Natur- und Landschaftsschutz, werden in der Art ihrer Ermittlung und vor allen Dingen auch bezüglich ihrer Bewertung durch die Fachgesetze geprägt, die zu ihrem Schutz erlassen wurden. Nur auf Grundlage dieser Fachgesetze bewegt sich der Planer auf sicherem Boden, was die Definition von Begriffen, die Art und Weise der Ermittlung ihrer Beeinträchtigung und nicht zuletzt die Bewertung dieser Beeinträchtigungen angeht. Gerade bezüglich der Bewertung der Ermittlungsergebnisse spielt es eine herausgehobene Rolle, ob das entsprechende Fachgesetz Verbote kennt, wie Grenzwerte oder Tötungsverbote bezüglich streng geschützter Arten. Denn die Befugnis zur planerischen Abwägung erlaubt nicht, solche durch die Gesetze vorgegebenen Grenzen zu überschreiten. Negativ gewendet be30 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4. Bd. 1945-1990, 2012, S. 266. 31 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4. Bd. 1945-1990, 2012, S. 269.

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deutet dies, dass, sobald die genaue Betrachtung eines Belangs ergibt, dass eine gesetzliche Grenze überschritten wird, ein Planungshindernis gegeben ist. Die planerischen Vorstellungen müssen dann solange nachgebessert werden, bis in einer Neubewertung festgestellt werden kann, dass keine gesetzlichen Verbote verletzt werden. Die Gesetze oder Vorschriften, die die Bearbeitung typischer Themenkomplexe strukturieren und die im Folgenden dargestellt werden, gab es allesamt Anfang der sechziger Jahre noch nicht. Im Folgenden werden die heutigen Anforderungen einiger im Bebauungsplanverfahren immer wieder berührten Themenkomplexe dargestellt, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie viel schwieriger es geworden ist, einen neuen Stadtteil erfolgreich auszuweisen.

VIII. Lärmschutz in der Bauleitplanung Einen der bedeutendsten, in der Abwägung zu berücksichtigenden Belange stellt der Lärmschutz dar.32 Die maßgeblichen Grundlagen für den in der Bauleitplanung zu berücksichtigenden Lärmschutz finden sich im Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG), das am 18. Januar 1974 in Kraft getreten ist. In § 50 BImSchG findet sich zunächst ein für Neuplanungen auf der grünen Wiese besonders bedeutungsvoller sogenannter Planungsleitsatz, nämlich, dass Wohngebiete, und um die geht es in der Nordweststadt (abgesehen von dem großen Zentrum in der Mitte) ausschließlich, zu immissionsschutzrechtlich störenden Nutzungen so zugeordnet werden sollen, also einen solchen Abstand einhalten sollen, dass mit keinen schädlichen Auswirkungen auf die Wohnnutzung zu rechnen ist. Ob es zu Störungen der Wohnnutzung kommt, wird man freilich erst durch die Ermittlung möglicher Störungen feststellen können. Die Lärmschutzvorschriften spielen hierbei eine ganz entscheidende Rolle. Im Mittelpunkt einer lärmschutzrechtlichen Betrachtung nach heutigen Standards stünde im Fall der Nordweststadt das Verhältnis zwischen Straßenverkehrslärm und der benachbarten Wohnnutzung. Hierzu hat sich unter Stadtplanern eine Ermittlung des Konfliktpotenzials anhand der DIN 18005–1, Beiblatt 1, herausgebildet. Dort finden sich sogenannte Orientierungswerte für Schallimmissionen, die vom Straßenlärm ausgehen und die bei der benachbarten Wohnnutzung nicht überschritten werden sollen. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts werden diese „Orientierungswerte“ nicht als Grenzwerte, sondern als ein plausibler fachlicher Standard beurteilt, der auch Abweichungen bis zu -10  % der Orientierungswerte hierzu zulässt. 33 Als weiteres hier zu beachtendes lärmschutzrechtliches Regelwerk ist die Verkehrslärmschutzverordnung, die 16.  Bundesimmissionsschutzverordnung (16.  BImSchV, die es seit dem 12.06.1990 gibt), zu betrachten. Im Fall des Neubaus von Wohnungen an Straßen verlangt deren § 2 Abs. 1, sicherzustellen, dass die Immissionsgrenzwerte 32 Diese Bedeutung entspricht der Gefühlslage der Bevölkerung: 50 % der Bevölkerung fühlen sich mittelmäßig bis äußerst stark belästigt, Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umweltgutachten 2020, S. 266. 33 BVerwG v. 22.3.2007 – 4 C N2/06, NVwZ 2007, 831.

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der 16. BImSchV an den Gebäuden der Wohnnutzung nicht überschritten werden. Dies kann im Fall der 16. BImSchV auch durch passiven Lärmschutz an den Wohnungen erfolgen, Einzelheiten finden sich in der Verkehrswege-Schallschutzmaßnahmen-Verordnung, der 24. BImSchV. Schließlich wären auch im Fall der Nordweststadt die Lärm-Auswirkungen von gewerblichen Anlagen oder von immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftigen Anlagen auf die einzelnen Baugebiete, aber insbesondere auf die benachbarte Wohnnutzung, heutzutage gutachterlich zu untersuchen. Ins Auge springen insbesondere zwei solcher Anlagen, nämlich das Nordwestzentrum, aber auch die in der unmittelbaren Nachbarschaft zur Nordweststadt neu errichtete Müllverbrennungsanlage Nordweststadt. Der von diesen Anlagen ausgehende Lärm wäre nach dem Regelwerk der TA Lärm, einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift, die die Zulässigkeit des Lärms nach den Bestimmungen des BImSchG konkretisiert, heute zu untersuchen. Da im Gebiet der Nordweststadt auch Sportanlagen als Teil von schulischen Anlagen errichtet wurden, wäre nach heutigem Standard der Lärm, der von solchen Sportanlagen ausgeht, nach der Sportanlagenlärmschutzverordnung, der 18.  BImSchV, die am 18. Juli 1991 in Kraft getreten ist, zu untersuchen. Bezüglich des hiervon ausgehenden Konfliktpotenzials hat es in der Vergangenheit immer wieder Konflikte zwischen bestehenden Sportanlagen und einer heranrückenden Wohnbebauung gegeben. Erst eine Entscheidung des BVerwG hat geklärt, dass Wohnbebauung, die erst nach dem Sportplatz dort entstanden ist, ein geringeres Schutzniveau nach der Sportanlagenlärmschutzverordnung zukommen kann.34 Die so in Stichworten umrissene Untersuchung lärmschutzfachlicher Fragen folgt dem Grundsatz, dass die einzelnen Lärmarten, also im Fall der Nordweststadt der gewerbliche Lärm, der Verkehrslärm und der Lärm von Sportanlagen, je gesondert nach dem eigenen hierfür erlassenen Regelwerk zu untersuchen und zu beurteilen sind.35 Die Folge solcher Lärmschutzuntersuchungen könnten nach heutigem Standard im Fall der Nordweststadt bedeuten, dass bei bestimmten Gebäuden, die zu nahe an Verkehrswegen stehen, bestimmte Schallschutzanforderungen zu erfüllen sind, dass Lüftungsaggregate des großen Einkaufszentrums Nordwestzentrum nicht mehr als einen bestimmten zu definierenden Schall emittieren dürfen und dass bestimmte Lärmkontingente für Teile der Baugebiete festgesetzt werden, die nicht überschritten werden dürfen, um nur einige Beispiele zu nennen, wie Belastungen des Lärmschutzes in der bauleitplanerischen Abwägung so aufgefangen werden können, dass sowohl reduzierte Lärmemissionen als auch das Wohnen nebeneinander zulässig sind.

34 BVerwG v. 23.9.2000 – 4 C 6/98, NVwZ 2000, 1050. 35 Sehr instruktiv hierzu Halama/Stüer, Lärmschutz in der Planung, NVwZ 2003, 137.

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IX. Ausgleich von Eingriffen in Natur und Landschaft in der Bauleitplanung § 1a Abs. 3 BauGB verlangt einen Ausgleich bereits auf der Ebene des Bebauungsplans für auf der Grundlage des Bebauungsplans zu erwartende Eingriffe in die Natur, also Fauna und Flora sowie das Landschaftsbild. § 18 Bundesnaturschutzgesetz regelt, dass, soweit es um solche Eingriffe geht, die Regelungen des Baugesetzbuchs vor denen des Bundesnaturschutzgesetz Vorrang haben. Demnach hat ein Ausgleich von durch den Bebauungsplan zu erwartenden Eingriffen nach § 1a Abs. 3 BauGB entweder durch Ausgleichsmaßnahmen in dem aufzustellenden Bebauungsplan selbst zu erfolgen oder durch Ausgleichsflächen außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Bebauungsplans, die entweder wiederum durch einen Bebauungsplan festgesetzt und gesichert werden oder durch sonstige Maßnahmen wie vertragliche Vereinbarungen mit Grundstückseigentümern, auf deren Grundstücken die Ausgleichsmaßnahmen stattfinden sollen. Nach heutigem Standard müssten die 170 ha, auf denen die Nordweststadt errichtet wurde, daraufhin untersucht werden, welchen naturschutzfachlichen Wert die vorhandene Fauna und Flora hat. Der „Wert“ der Ausstattung der Natur kann im Fall der Bauleitplanung durch verschiedene, fachlich fundierte Methoden erfolgen. In der Praxis ist es jedoch, zumindest in Hessen, weit verbreitet, dass sich hierzu der in der naturschutzrechtlichen hessischen Kompensations-Verordnung vorgegebenen Wertpunkte, im Jargon Öko-Punkte genannt, für einen entsprechenden Biotoptyp bedient wird.36 Danach kann berechnet werden, welche Anzahl von Öko-Wertpunkten durch die im Bebauungsplan vorgesehene Bebauung verloren geht. In der Größe dieses Defizits wird in der Praxis ein Ausgleich angestrebt, sodass von der in § 1a Abs. 3 BauGB eröffneten Möglichkeit des teilweisen Verzichts eines Ausgleichs im Rahmen der bauleitplanerichen Abwägung selten Gebrauch gemacht wird. Ein Teil dieses durch die Bebauung erzeugten Ausgleichsbedarfs hätte im Fall der Nordweststadt sicherlich durch die Herstellung großer Grünflächen zwischen den Baukörpern erfolgen können. Hätte man damals bereits etwas von der Ökowert-Arithmetik gewusst, hätte man möglicherweise die Grünanlagen im Baugebiet mit ökologisch werthaltigeren Begrünungsmaßnahmen versehen, um einen größeren Ausgleich des naturschutzfachlichen Defizits innerhalb des Baugebiets zu ermöglichen, was kostengünstiger als die Durchführung von Ausgleichsmaßnahmen auf Flächen außerhalb des Bebauungsplans sein dürfte. Im Fall des Frankfurter Stadtteils Riedberg, der um die Jahrtausendwende entwickelt wurde und 270 ha umfasst, waren über die reichhaltigen Begrünungsmaßnahmen innerhalb des Bebauungsplangebiets hinaus drei externe Ausgleichsflächen notwendig.37 36 Der eigentliche Anwendungsbereich der Kompensations-Verordnung liegt in selbständigen Ausgleichsverfahren nach dem BNatSchG. Wird die Kompensations-Verordnung schematisch auch im Bauleitplanverfahren angewendet, kann dies einen Abwägungsmangel darstellen, so VGH Kassel v. 12.6.2003, BeckRS 2003, 24105. 37 Siehe hierzu Hessen Agentur, Tätigkeitsbericht zur städtebaulichen Erschließungsmaßnahme Am Riedberg, Stand 25.8.2017 Tätigkeitsbericht, S. 108.

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X. Artenschutz in der Bauleitplanung Von den Erfordernissen des naturschutzrechtlichen Ausgleichsbedarfs ist die Erfüllung der Anforderungen des Artenschutzes zu unterscheiden, der ebenfalls im Bundesnaturschutzgesetz geregelt ist, jedoch eine eigene naturschutzrechtliche Materie gegenüber dem naturschutzrechtlichen Eingriff darstellt. Das Tötungs- und Beeinträchtigungsverbot nach § 44 BNatSchG für geschützte Arten (aus Vereinfachungsgründen werden hier als die „geschützten Arten“ die „besonders geschützten Arten“ und die „streng geschützten Arten“ im Sinne des BNatSchG verstanden) kann auch im Wege der bauleitplanerischen Abwägung nicht überwunden werden. Wird ein Bebauungsplan aufgestellt und finden sich in seinem Geltungsbereich geschützte Arten, kann dem Bebauungsplan im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO entgegengehalten werden, dass er nicht nach § 1 Abs. 3 BauGB erforderlich ist, weil seine Umsetzung rechtlich nicht möglich ist.38 Nachdem dieses Artenschutzregime aufgrund europarechtlicher Vorschriften in das Bundesnaturschutzgesetz aufgenommen wurde, haben sich viele Vorhabenträger darauf verlassen, dass es ihnen schon gelingen wird, eine Befreiung vom Beeinträchtigungs- und Tötungsverbot für geschützte Arten zu erlangen. Vielfach war das von dem Motto getragen, dass dann, wenn schon so vieles im Rahmen der Bauleitplanung abgewogen wurde, auch hier die Behörden mit ein bisschen gutem Willen helfen können. Die Befreiungsvorschrift in § 67 BNatSchG war und ist allerdings so eng gefasst, dass Ausnahmen praktisch nicht möglich sind. Es ist eine konsequente Folge, dass dann, wenn eine Art deswegen geschützt ist, weil sie vom Aussterben bedroht ist, ein unbedingter Schutz gewährleistet sein muss, um das Aussterben zu verhindern. Nach langen Kontroversen und vielen intelligenten Aufsätzen, die hierzu geschrieben wurden, wurde schließlich die Vorschrift des § 44 Abs. 5 Satz 3 in das Bundesnaturschutzgesetz aufgenommen, die den artenschutzrechtlichen Problemdruck dadurch entschärft, dass dann, wenn ein Umzug der geschützten Art im räumlichen Zusammenhang mit ihrem Vorkommen, also in der Nähe des Bebauungsplangebiets und nicht irgendwo, gesichert ist, der Umsetzung des Bebauungsplans nichts entgegensteht. Denn wenn sich die geschützte Art nicht mehr im Gebiet des Bebauungsplans befindet, ist auch zu ihrem Schutz innerhalb des Bebauungsplangebiets nichts mehr zu veranlassen. Ein vorausschauender Vorhabenträger oder die planende Stadt selbst wird daher so früh wie irgend möglich im Gebiet des aufzustellenden Bebauungsplans untersuchen, ob geschützte Arten vorhanden sind, um mit genügend Zeit bis zu den ersten Eingriffen in das Habitat der geschützten Art auf Grundlage des in Kraft getretenen Bebauungsplans einen Umzug der geschützten Art bewirkt zu haben. Hierzu sind entsprechende Verpflichtungen in begleitenden städtebaulichen Verträgen vorzusehen, wenn der Vorhabenträger selbst diese Pflichten erfüllen soll. Bei der Entwicklung des jüngsten Stadtteils der Stadt Frankfurt, des Riedbergs, die 1998, wie oben geschildert, begonnen wurde, hat man im Jahr 2015 festgestellt, dass die geschützte Art des Feldhams-

38 Siehe hierzu aus jüngster Zeit OVG Schleswig v. 27.8.2020  – 1 KN 10/17, BeckRS 2020, 24524.

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ters dem Bau eines Sportplatzes entgegensteht.39 Dies 17 Jahre nach Beginn der Entwicklung des Baugebiets festzustellen, ist ungeschickt. Die naturschutzfachlichen Prüfungen bei Aufstellung eines Bebauungsplans werden schließlich dadurch vervollständigt, dass zu prüfen ist, ob bestimme geschützte Landschaftsteile, angefangen beim Naturschutzgebiet (§  23 BNatSchG) über das Natura2000-Gebiet (§ 31 BNatSchG) bis zu Vogelschutzgebieten, durch das Bebauungsplanvorhaben beeinträchtigt werden. Sind solche Beeinträchtigungen nach dem konkreten Schutzregime, das für im Vorhabengebiet oder in der Nachbarschaft liegende entsprechende Gebiete aufgestellt wurde, zu befürchten, muss der Vorhabenträger und die planende Gemeinde die Planung so anpassen, dass solche Beeinträchtigungen ausgeschlossen sind. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass im Fall der Nordweststadt nach heutigem Verständnis an solche geschützten Gebiete hätte gedacht werden müssen.

XI. Der großflächige Einzelhandel in der Bauleitplanung Da im Nordwestzentrum eine Verkaufsfläche von 37.000 m² realisiert wurde, denkt jeder heutige Planer sofort daran, dass nach gegenwärtigen Standards eine ganze Reihe von Anforderungen des Planungsrechts für einen solchen großflächigen Einzelhandel, wie es heute in § 11 Abs. 3 BauNVO heißt, zu erfüllen wären. Oben wurde bereits erwähnt, dass es für das Nordwestzentrum keinen Bebauungsplan gab und auch heute immer noch nicht gibt. In Anbetracht einer dort realisierten Geschossfläche von 178.015,49 m² 40 und einer Baumassen-Entwicklung, die mit ihrer Umgebung nicht das Geringste zu tun hat, bestünde nach heutigem Planungsrechtsverständnis überhaupt gar kein Zweifel daran, dass zur Realisierung eines solchen Vorhabens eine Pflicht zur Erstellung eines Bebauungsplans nach § 1 Abs. 7 BauGB besteht. Um solch ein großes Einkaufszentrum nach der heutigen Rechtslage genehmigt zu bekommen, gibt es sowohl planungsrechtliche Vorgaben, wenn ein solches Vorhaben im unbeplanten Innenbereich liegt und daher nach § 34 BauGB genehmigt werden könnte, als auch Vorgaben, wann dies im Rahmen eines aufzustellenden Bebauungsplans erfolgen soll. Mit einer Novelle des Baugesetzbuchs vom 24. Juli 2004 wurde ein eigenes Planungsrecht für großflächigen Einzelhandel in das Baugesetzbuch und die Baunutzungsverordnung eingefügt. So wurde ein neuer § 34 Abs. 3 BauGB aufgenommen, der anordnet, dass von solchen Vorhaben keine schädlichen Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche in der eigenen Gemeinde oder in anderen Gemeinden zu erwarten sein dürfen. Eine ähnliche Prüfpflicht ordnet §  11 Abs.  3 BauNVO für den Fall an, dass ein großflächiges Einzelhandelsvorhaben in einem Bebauungsplan ermöglicht werden soll. Eine Änderung in § 2 Abs. 2 BauGB hat schließlich dafür gesorgt, dass benachbarten Gemeinden ein eigenes Klagerecht zusteht, wenn zu befürchten ist, dass von einem genehmigten Einzelhandelsvorhaben in 39 Hessen Agentur, Tätigkeitsbericht zur städtebaulichen Erschließungsmaßnahme Am Riedberg, Stand 25.8.2017, S. 125. 40 Magistratsbericht M 200 v. 12.6.1967, S. 2.

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der Nachbarstadt schädliche Auswirkungen auf eigene zentrale Versorgungsbereiche ausgehen. Als die Genehmigungen für das Nordwestzentrum erteilt wurden, enthielt die eben genannte Vorschrift der Baunutzungsverordnung keinerlei Aussagen zu Einkaufszentren. Trotzdem ist in der Fortentwicklung der Baunutzungsverordnung zu erkennen, dass das Problem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ernsthafter in den Blick genommen wurde. Insbesondere die Novellen der Baunutzungsverordnung aus dem Jahr 1977 und 1986 sind von ständigen Verschärfungen für die Zulässigkeit von Einkaufszentren geprägt, um den vorhandenen Einzelhandel in Innenstädten zu schützen, aber auch eine möglichst fußläufige Nahversorgung für alle Bevölkerungsgruppen aufrecht zu erhalten. Eine europarechtliche Motivation für diese Regelung gab es nicht. In der planungsrechtlichen Praxis bedeutet dies, dass sich Vorgaben zum Umgang mit großflächigen Einzelhandelsvorhaben auf allen Planungsebenen finden. So finden sich beispielsweise im hessischen Landesentwicklungsplan Grundsätze, denen Einkaufszentren genügen müssen, damit sie möglichst wenig schädliche Fernwirkungen für andere zentrale Versorgungsbereiche erzeugen und möglichst städtebaulich integriert sind, also nicht auf der grünen Wiese liegen.41 Die Regionalpläne, die dies aufgrund ihrer Bindung an den Landesentwicklungsplan umzusetzen haben, ­haben diese Ziele weiter ausdifferenziert. So findet sich im Regionalplan Südhessen ein eigenes zehnseitiges Kapitel zu Zielen und Grundsätzen für die Ansiedlung von großflächigem Einzelhandel bzw. Einkaufszentren. Auf der Ebene des Regionalen Flächennutzungsplan in der Frankfurter Region wurde sodann ein regionales Einzelhandelskonzept aufgestellt, dass auf Grundlage der Zielvorgaben des Regionalplans Standorte ausweist, in denen den Zielen der Regionalplanung bezüglich des großflächigen Einzelhandels genügt wird. Auf der Ebene der Baugenehmigung, soweit ein Vorhaben nach § 34 BauGB genehmigt wird, wie damals wohl das Nordwestzentrum, oder auf der Ebene der Aufstellung eines Bebauungsplans, der ein solches Vorhaben ausweisen will, wird sodann ein Einzelhandelsgutachten erstellt, das prüfen soll, ob von dem Vorhaben schädliche Auswirkungen auf andere zentrale Versorgungsbereiche ausgehen. Hierzu wird anhand der konkreten Sortimente (beispielsweise Schuhe) und der hierfür vorgesehenen Verkaufsflächen durch einen entsprechenden Gutachter ermittelt, wie attraktiv dieses Angebot für die Kundschaft in der Region ist. Anhand der Reichweite wird sodann geprüft, ob diese Konkurrenzsituation zu einer Schädigung in benachbarten Versorgungsbereichen führt. Für eine solche Feststellung kommen viele Kriterien, die den Einzelfall berücksichtigen müssen, in Betracht. Die Berechnung von zu erwartenden Umsatzeinbußen in Einzelhandelsgutachten entwickelt jedoch wie immer, wenn Zahlen im Spiel sind, ihre eigene Faszination von Genauigkeit. Demnach sollen nach der Rechtsprechung Umsatzeinbußen von 10 % schon eine solche Schädigung möglich machen.42 Dies hätte zur Folge, dass die hiervon betroffene Gemeinde gute Klagemöglichkeiten gegen eine Baugenehmigung für ein solches großflächiges Einzelhandelsvorhaben oder gegen einen entsprechenden Bebauungsplan hätte. Der Vorhabenträger wäre in diesem Fall also gut beraten, sein Vorhaben nach den im Gutachten aufgezeigten Grenzen noch einmal zu ändern. 41 Landesentwicklungsplan Hessen 2000, festgestellt durch RVO v. 13.12.2000, S. 17 f. 42 Siehe zum Stand der Rechtsprechung von BVerwG und den Obergerichten Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 14. Aufl. 2019, § 34 BauGB Rz. 79.

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Wird das Vorhaben auf der Grundlage von § 34 BauGB genehmigt, findet eine Sicherung der „verträglichen“ Sortimente und ihrer Flächen innerhalb der erteilten Baugenehmigung statt, gegebenenfalls ergänzt um die Bestellung einer Baulast. Eröffnet ein Bebauungsplan die Möglichkeit für ein großflächiges Einzelhandelsvorhaben, kann die Sicherung der verträglichen Sortimente durch textliche Festsetzungen im Bebauungsplan erfolgen, wenn ein Sondergebiet nach § 11 Abs. 3 BauNVO festgesetzt wird oder auch durch Abschluss eines städtebaulichen Vertrages vor Inkrafttreten des Bebauungsplans, der den Vorhabenträger an diese Flächenbegrenzung bindet. Im Rahmen der Beschlüsse der städtischen Gremien der Stadt Frankfurt zum Verkauf des Grundstücks für das spätere Nordwestzentrum finden sich auch recht klare Festlegungen dazu, welche Sortimente in welcher Größenordnung in dem zukünftigen Einkaufszentrum vorhanden sein sollen. Sie waren Bestandteil der Bauverpflichtungen, die der Investor im Kaufvertrag für das Grundstück gegenüber der Stadt eingegangen ist. Den entsprechenden Beschlüssen43 ist jedoch zu entnehmen, dass dies nicht dem Schutz von Nachbargemeinden diente, sondern städtischerseits sicherstellen sollte, dass im Nordwestzentrum die Versorgung mit Gütern stattfindet, die die Stadt Frankfurt für sinnvoll hielt. Hierzu hat der Erwerber, die Gewerbebauträger GmbH, ein eigenes Gutachten anfertigen lassen. Den historisch anderen Mobilitätsmöglichkeiten ist es geschuldet, dass der Investor damals von einem Einzugsbereich von 5-10 km für das Einkaufszentrum ausging. Der faktische Einzugsbereich des Zentrums dürfte heute weit darüber hinausgehen. Nach heutigen planungsrechtlichen Standards wäre demnach die Errichtung eines Einkaufszentrums mit einer solch großen Verkaufsfläche nur möglich, wenn, um bei dem Beispiel zu bleiben, die Stadt Frankfurt schon Jahre im Voraus, wenn es um die Aufstellung des regionalen Einzelhandelskonzeptes geht, auf dieser Planungsebene ihre Interessen wahrt. Der gesamte Vorgang der Durchleuchtung der marktwirtschaftlichen Konkurrenzsituation durch das Einzelhandelsgutachten bietet darüber hinaus vielen Akteuren Gelegenheit, Widerstand gegen entsprechende planungsrechtliche Ausweisungen zu mobilisieren. Um nicht in einen nicht enden wollenden Aushandelnsprozess mit allen Beteiligten einzutreten, bliebe der Stadt in einem solchen Fall nichts anderes übrig, als die rechtlichen Rahmenbedingungen der Zulässigkeit ihres Vorhabens genau zu studieren, um möglichst ohne das Wohlwollen Anderer das Vorhaben soweit wie möglich durchsetzen zu können.

XII. Bodenschutz in der Bauleitplanung Allein schon die oben erwähnte Abraumhalde des einen Ziegeleibetriebs auf dem Gebiet der Nordweststadt würde nach heutigen Maßstäben Veranlassung geben, das gesamte Gebiet auf Altlasten abzusuchen. Dazu gehören Altstandorte, wie der erwähnte Ziegeleibetrieb, ehemalige Mülldeponien oder sonstige Hinweise auf Flächen mit schädlichen Bodenverunreinigungen. Erstmals hat der BGH im Jahre 198944 ei43 Magistratsbeschluss N3 150 v. 12.5.1964. 44 BGH v. 26.1.1989 – III ZR 194/87, BGHZ 106, 323.

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nem Grundstückseigentümer einen Amtshaftungsanspruch gegenüber der planenden Gemeinde zugesprochen, weil diese ein Baugebiet für Einfamilienhäuser und Reihenhäuser auf einer ehemaligen Deponie ausgewiesen hat. Heute kennt das BauGB eine Kennzeichnungspflicht für Flächen in Bebauungsplänen, bei denen der Verdacht auf das Vorhandensein erheblicher Bodenverunreinigung besteht in §  9 Abs. 5 BauGB. Nach der zivilrechtlichen Amtshaftungsrechtsprechung muss die planende Stadt klären, ob ein Verdacht einer solchen erheblichen Bodenverunreinigung vorliegt, muss jedoch nicht auf eine Sanierung dieser Flächen hinwirken, bevor sie einen entsprechenden Bebauungsplan erlässt. Das Regime zur Sanierung von schädlichen Bodenverunreinigungen wird durch das Inkrafttreten eines Bebauungsplans selbstverständlich nicht verändert. Dies spielt nach heutigen Maßstäben eine große Bedeutung für Konversionsflächen. Diese wären nicht überplanbar, wenn die Gemeinde die Pflicht treffen würde, vorab für jeden Quadratmeter die Erfüllung von Sanierungspflichten zu klären. Die Kennzeichnungsmöglichkeit erlaubt in einem solchen Fall nicht das gesamte Verfahren zur Aufstellung des Bebauungsplans zu stoppen. Seit dem 1. März 1999 gibt es das Bundesbodenschutzgesetz und die eine Vielzahl von Grenzwerten hierzu regelnde Bundesbodenschutzverordnung vom 12. Juli 1999. Das Bundesbodenschutzgesetz stellt eines der letzten großen Umweltgesetze zu Umweltmedien dar, wenn man den Beginn der umweltschutzgesetzgeberischen Aktivität mit dem Inkrafttreten des Bundesimmissionsschutzgesetzes im Jahre 1974 festlegt. Die Länder haben bereits zuvor eigene sogenannte Altlastengesetze erlassen, Hessen beispielsweise am 20. Dezember 1994 das Hessische Altlastengesetz. Seitdem werden insbesondere alle Informationen, die Behörden zu schädlichen Bodenverunreinigungen bekannt werden, in einem Altlastenkataster gesammelt. Dies vereinfacht die Arbeit bei Aufstellung eines Bebauungsplans erheblich. All das hat Anfang der sechziger Jahre beim Bau der Nordweststadt keine Rolle gespielt. Die sechziger Jahre waren schließlich die Zeit, in der man leicht vor sich hin qualmende Deponien für den abfallwirtschaftlichen Normalfall hielt. Auch nach heutiger Rechtslage stellt der Bodenschutz nur in Ausnahmefällen ein echtes Planungshindernis dar, nämlich, wenn die zu beplanende Fläche großflächig verschmutzt ist und eine Sanierung nicht in Aussicht steht. Im Übrigen beschränkt sich die Aufgabe der Planer darauf, Informationen über Verdachtsflächen zusammenzutragen und für eine entsprechende Berücksichtigung in der Begründung bzw. der Kennzeichnung im Bebauungsplan zu sorgen.

XIII. Denkmalschutz in der Bauleitplanung Ebenso wie die zuvor genannten Themenkomplexe hat ausweislich der Unterlagen zum Bebauungsplanverfahren für die Frankfurter Nordweststadt das großflächige Vorhandensein reichhaltiger Funde aus der alten römischen Stadt Nida im Bebauungsplanverfahren keine Rolle gespielt. Mittlerweile ordnet das BauGB in § 1 Abs. 6 Nr. 5 an, dass bei Aufstellung der Bebauungspläne die Belange der Baukultur und des Denkmalschutzes zu berücksichtigen sind. „Berücksichtigen“ hätte in diesem Fall nach heutigen Maßstäben bedeutet, dass in einem denkmalschutzfachlichen Gutach366

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ten Informationen über die möglicherweise vorhandenen historischen Schätze im Boden zusammengestellt werden und dargestellt wird, in welchem Ausmaß sie von der beabsichtigten Bebauung betroffen sind. Darin erschöpfen sich jedoch bereits die Pflichten auch nach heutigem Standard im Rahmen eines Bebauungsplanverfahrens. Dies hängt maßgeblich damit zusammen, dass das Bebauungsplanverfahren keinen Einfluss auf den denkmalschutzrechtlichen Status geschützter Denkmäler hat. Stellt sich bei Umsetzung des Bebauungsplans heraus, dass die für die Verwirklichung von Vorhaben notwendigen denkmalschutzrechtlichen Genehmigungen nicht erteilt werden können, weil dies denkmalschutzrechtlich unzulässig ist, ändert die entsprechende Ausweisung in einem Bebauungsplan nichts daran. Das Denk­malschutzrecht fällt in die Gesetzgebungskompetenz der Länder. Das erste Denk­malschutzgesetz des Landes Hessen wurde am 23. September 1974 erlassen. Zwar hat einer der Vorgängerstaaten des Landes Hessen, der Volksstaat Hessen Darmstadt, schon im Jahre 1902 (damals noch das Großherzogtum Darmstadt) sich ein Denkmalschutzgesetz gegeben, das aber keine Rechtskraft mehr im am 19. September 1945 neu gegründeten Land Hessen, wie wir es heute kennen, hatte.45 Nach dem aktuellen hessischen Denkmalschutzgesetz genießen Bodendenkmäler, wie die angesprochenen zu erwartenden Funde der Stadt Nida, keinen besonders hohen Schutzstatus. Nach § 21 Abs. 3 Hessisches Denkmalschutzgesetz hat das Auffinden von Bodendenkmälern im Wesentlichen zur Folge, dass zunächst ein einwöchiger Baustopp verhängt wird und die Sicherungsarbeiten der Denkmalschützer so lange fortgesetzt werden können, solange die Bauunterbrechung nicht zu unverhältnismäßig hohen Kosten führt, wie es im Gesetz heißt. Die Bodendenkmäler sind demnach kein dauerhaftes, sondern höchstens ein vorübergehendes Realisierungshindernis. Dabei sei auch zu diesem Punkt noch einmal auf die Relativität der Strukturierung solcher Entscheidungsprozesse durch ­Gesetze hingewiesen. Zum einen gab es bereits damals ein engagiertes Frankfurter Museum für Vor- und Frühgeschichte (heutiger Name: Archäologisches Museum Frankfurt), dass an Funden sicherte, was es bei den Bauarbeiten noch finden konnte. An Mahnern hat es also sicherlich nicht gefehlt. Teile der Funde finden sich heute in einer eigenen Ausstellung des Museums. Im Übrigen entsprach es nicht dem Zeitgeist der sechziger Jahre, auf solche Zeugen der Vergangenheit große Rücksicht zu nehmen. Nicht umsonst werden die im Rahmen des Wiederaufbaus der sechziger Jahre erfolgten großflächigen Abrissmaßnahmen als die zweite Stadtzerstörung nach den Bombardements der Städte im Zweiten Weltkrieg bezeichnet.

XIV. Last but not least Was den heutigen Betrachter erstaunt, ist die Abwesenheit jeglicher Klagen gegen das Baurecht, das für die Nordweststadt geschaffen wurde. Viele Großprojekte in Deutschland werden durch langwierige Gerichtsverfahren verzögert. Ein maßgeblicher Grund, weshalb dies im Fall der Nordweststadt anders war, liegt darin, dass in Hessen erst 45 Kummer, Denkmalschutzrecht in Hessen, 1987, S.  16  ff. unter Verweis auf Großherzog Ernst Ludwig, der unter anderem das Jugendstilensemble der Mathildenhöhe in der Stadt Darmstadt veranlasst hat.

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mit der am 1. April 1960 in Kraft getretenen Verwaltungsgerichtsordnung ein Normenkontrollverfahren, mit dem Bebauungspläne angegriffen werden können, zur Verfügung stand. Das bis dorthin im Land Hessen geltende „Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit“ in der Fassung des Jahres 1949 sah keine Normenkontrollklage vor. Ebenso war die Anwaltsdichte damals deutlich geringer als heute. Im Jahr 1962 kamen 3.897 Einwohner auf einen Rechtsanwalt, während im Jahre 2020 502 Einwohner auf einen Rechtsanwalt in Deutschland kommen. Ein neues Baugesetzbuch, eine neue Verwaltungsgerichtsordnung und kaum Rechtsanwälte, die sich zudem in alldem schon auskennen, sind ganz sicher maßgebliche Gründe, weshalb keine Klagen gegen das Projekt angestrengt wurden. Darüber hi­ naus ist natürlich nicht zu verkennen, dass Individualismus als Triebfeder für Klagen gegen Projekte im „Back Yard“ 17 Jahre nach dem Ende eines totalitären Staates kaum verbreitet war. Während die Gesellschaft in den sechziger Jahren sicher als uniforme Gesellschaft bezeichnet werden kann, ist sie im Jahre 2021 eher das Gegenteil, nämlich eine ausgeprägt individualistische, auf die auch das Rechtssystem zugeschnitten ist. Reckwitz hat diese Entwicklung jüngst wie folgt beschrieben: „Während die industrielle Moderne (Anmerkung: also die Zeit der Entstehung der Nordweststadt) in verschiedensten Bereichen auf der Reproduktion von Standards, von Normalität und Gleichförmigkeit, basierte und man von einer Herrschaft „des Allgemeinen“ sprechen konnte, ist die spätmoderne Gesellschaft (Anmerkung: also jetzt im Jahre 2021) an der Verfestigung von Besonderheiten und Einzigartigkeiten, sie ist an der Prämierung von qualitativen Differenzen, Individualität, Partikularität und dem Außergewöhnlichen orientiert.“46 Dass das Planungsrecht seit dem Jahr 1960 viel komplizierter geworden ist, hängt natürlich auch von der Verwaltungsgerichtsbarkeit ab, die in großem Ausmaß eigenständiges Richterrecht im Bereich des Planungsrechts geschaffen hat. Es gibt leider keine vernünftige Maßzahl, um diesen Zuwachs an Komplexität zu messen, der nur noch von ausgesuchten Experten zu überblicken ist. Als Ergebnis ist zunächst festzuhalten, dass der Feldhamster unschuldig ist, soweit es um längere Planungsverfahren für neue Stadtteile geht. Angesichts der Vielzahl von großen Themenkomplexen, die zu durchdringen sind, bevor erfolgreich Planungsrecht für einen neuen Stadtteil geschaffen werden kann, könnten viele Generationen von Feldhamstern in ein neues Quartier umziehen. Der Grund für den sehr viel längeren Planungsprozess liegt darin, dass er der Preis für mehr Kooperation in der Region, für mehr Umweltschutz, insbesondere im Bereich des Lärmschutzes, Naturund Artenschutzes ist, für regulatorische Eingriffe in den Einzelhandel sowie für eine ausgeprägte Bürgerpartizipation auf allen Planungsebenen – und all das auf einmal! Abgesehen vom Artenschutz, der in seiner stringenten Form dem Europarecht zu verdanken ist, sind alle anderen für die gestiegene Komplexität der Bauleitplanung verantwortlichen Themenkomplexe selbstständig so vom deutschen Rechtsstaat gewollte rechtliche Entwicklungen. 46 Reckwitz, Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, 2019, S. 19.

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Compliance in mittelständischen Unternehmen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtliche Grundlagen der CompliancePflichten 1. Rechtsdogmatische Anknüpfung 2. Grenzen der Compliance-Pflicht 3. Präventive Compliance 4. Repressive Compliance 5. Maßstabsgerechte Anforderungen III. Rechtsfolgen bei Fehlen eines wirksamen Compliance-Management-Systems

1. Rechtsfolgen für die Geschäftsführung a) Compliance als Geschäftsführungsaufgabe b) Zivilrechtliche Haftung 2. Rechtsfolgen für die Gesellschafter a) Compliancerelevanter Einfluss der Gesellschafter b) Zivilrechtliche Haftung IV. Zusammenfassung

I. Einleitung Compliance verlangt von den Leitungs- und Überwachungsorganen die Einhaltung der für ihr Handeln gesetzten Regeln. Quelle für diese Regeln sind Gesetz und Satzung und – auf der Stufe darunter – Ausführungsregeln, wie man sie zum Beispiel in Geschäftsordnungen oder ähnlichen allgemeinen Richtlinien findet.1 Den Ausgangspunkt der zunehmenden Sensibilisierung für Compliance bildete das Bekanntwerden der Korruptionsaffäre bei der Siemens AG ab November 2006.2 Seit dem Siemens/Neubürger-Urteil des LG München I aus Dezember 20133 erreicht die Anzahl einschlägiger Publikationen und entwickelter Anforderungen zur aktienrechtlichen Compliance ein kaum noch überschaubares Ausmaß. Im Mai 2017 hat der 1. Strafsenat des BGH zudem erstmals einer sog. Compliance Defense den Weg bereitet. Sowohl positive Compliance-Vor- als auch Nachtatbemühungen eines Unternehmens können bei der Bußgeldbemessung honoriert werden.4 Auch der Regierungsentwurf eines Verbandssanktionengesetzes des BMJV aus April 2020 tritt dafür ein, Unternehmenssanktionen neu zu regeln und Compliance-Bemühungen sanktionsmildernd zu berücksichtigen.5 1 Goette, ZHR 175 (2011) 389, 390; exemplarisch OLG Hamm v. 29.5.2019  – 8 U 147/18, BeckRS 2019, 14258 (Verstoß gegen unternehmensinterne Compliance-Richtlinien als schwerwiegende Pflichtverletzung). 2 Näher zur Compliance-Entwicklung Harbarth/Brechtel, ZIP 2016, 241; Unmuth, AG 2017, 249. 3 LG München I v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, NZG 2014, 345. 4 BGH v. 9.5.2017 – 1 StR 265/16, NZWiSt 2018, 379, 387. 5 Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten („Verbandssanktionengesetz“ – VerSanG); zum „inoffiziellen Vorentwurf “ aus August 2019 Ott/Lüneborg, NZG 2019, 1361.

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Wenngleich in der Öffentlichkeit meistens die Compliance-Probleme von Großunternehmen wie Siemens im Vordergrund stehen, so hat das Thema doch längst auch den Mittelstand erreicht. Gerade für den Mittelstand können hohe Bußgelder eine existentielle Bedrohung darstellen.6 Andererseits stehen der mittelständischen Wirtschaft zur Umsetzung von Compliance-Maßnahmen nur beschränkte Mittel zur Verfügung. Studien zeigen, dass kleinere und mittelständische Unternehmen vielfach den finanziellen und organisatorischen Aufwand scheuen bzw. nicht über die erforderlichen finanziellen Ressourcen, personellen Kapazitäten und das nötige rechtliche und wirtschaftliche Know-How verfügen. Beispielsweise sind die wenigsten kleinen oder mittelständischen Unternehmen in der Lage, eine separate, eigenständige Compliance-Abteilung aufzubauen.7 Vor diesem Hintergrund gilt es, nicht zuletzt zur Förderung der unternehmensinternen Akzeptanz, vorhandene Organisationsstrukturen zu nutzen und starre, überdimensionierte Maßnahmenkonzepte zu vermeiden.8 Besonderheiten ergeben sich aber nicht nur aus den Unterschieden in der wirtschaftlichen Potenz, sondern auch daraus, dass Großunternehmen und Mittelständler traditionell auf verschiedene Rechtsformen zurückgreifen. Während große international agierende Unternehmen sich üblicherweise für die AG – oder die SE – entscheiden, sind für den Mittelstand die GmbH oder auch die GmbH & Co. KG verbreitete Rechtsformen. Aufgrund bestehender Organisations- und Realstrukturen dieser Gesellschaftsformen sind auf Großunternehmen zugeschnittene Compliance-Standards nicht ohne weiteres auf die GmbH und GmbH & Co. KG übertragbar.9 Compliance-Management-Systeme sind in der Regel von den Anforderungen einer (börsennotierten) AG her entwickelt, die mit Vorstand und Aufsichtsrat über eine dualistische Organisationsverfassung verfügt und regelmäßig eine Größe erreicht, die eine institutionalisierte Compliance-Organisation unverzichtbar macht.10 Die GmbH hingegen ist eine personalistisch ausgerichtete11, hierarchisch organisierte12 Kapitalgesellschaft. Die Gesellschafterversammlung bildet das oberste Organ der GmbH, das, soweit die Satzung nicht ausnahmsweise Abweichendes bestimmt, regel-

6 Haag/Acikgöz, CB 2016, 353; Campos Nave/Zeller, BB 2012, 131, 133; Wermelt/Görtz, ZRFC 2011, 22. 7 Vgl. Achauer, CB 2018, 205, 206; Haag/Acikgöz, CB 2016, 353, 356; Makowicz/Stadelmaier, CB 2015, 89; Berstein/Klein, CCZ 2014, 284. 8 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1142 f. 9 Beurskens in Baumbach/Hueck, 22.  Aufl. 2019, §  37 GmbHG Rz.  6; Paefgen in Ulmer/­ Habersack/Löbbe, 3. Aufl. 2020, § 43 GmbHG Rz. 56; Balke in MünchHdb. GesR/Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 111 Rz. 7; Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1142 f. 10 Merkt, ZIP 2014, 1705, 1709. 11 Grunewald, GesR, 11.  Aufl. 2020, 2  F Rz.  3; ähnlich Altmeppen, ZIP 2010, 1973, 1975 („­materiell Personengesellschaft“). 12 BGH v. 6.3.1997  – II  ZB  4/96, NJW 1997, 1985, 1986; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 37 GmbHG Rz. 1.

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mäßig über die Richtlinienkompetenz verfügt.13 Die Geschäftsführer sind bei der Unternehmensleitung im Unterschied zum Vorstand der AG nicht kraft Gesetzes ­unabhängig, sondern gegenüber der Gesellschafterversammlung weisungsgebunden. Anders als in der AG ist in der GmbH nur unter den Voraussetzungen der Mitbestimmung ein Aufsichtsrat einzurichten. Den Gesellschaftern ist im Gegensatz zur AG (§  23 Abs.  5 AktG) deutlich mehr Gestaltungsspielraum eingeräumt.14 Dies führt zu einem breiten Spektrum von Erscheinungsformen der GmbH.15 Unter Beachtung der rechtsformspezifischen Besonderheiten wird in der Praxis ein auf die realtypischen Faktoren der jeweiligen GmbH angepasstes Compliance-Konzept benötigt.16 Am Beispiel der GmbH und GmbH & Co. KG zu veranschaulichen, wie sich Com­ pliance-Verantwortung und Rechtsform gegenseitig bedingen, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags, gewidmet einem sehr kundigen und angesehenen Kenner der gesellschaftsrechtlichen Praxis. In dem gegebenen Rahmen kann das Thema selbstverständlich nicht erschöpfend dargestellt werden.17 Viele Aspekte können nur kurz angesprochen werden, andere müssen gänzlich unerwähnt bleiben, wie etwa die Anforderungen an die Compliance-­ Organisation im (mittelständischen) Konzern.18 Auch die Rolle und Funktion eines etwaigen (GmbH-) Aufsichtsrats oder Beirats19 findet keine Berücksichtigung. Ebenso wenig kann eingegangen werden auf die compliancerechtlichen Implikationen des Verbandssanktionengesetzes, das sich gegenwärtig noch im Gesetzgebungsverfahren befindet.20

II. Rechtliche Grundlagen der Compliance-Pflichten Ungeachtet der noch näher zu beleuchtenden rechtsformspezifischen Besonderheiten der Compliance-Pflichten in mittelständischen Unternehmen steht außer Frage, 13 Raiser/Veil, Kapitalgesellschaften, 6. Aufl. 2015, § 31 Rz. 2 („Entscheidungszentrum des Unternehmens“). 14 Fastrich in Baumbach/Hueck, 22.  Aufl. 2019, Einl. Rz.  4; grdl. Zöllner in FS  100  Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 85. 15 Vgl. im Compliance-Kontext Nietsch in Gehrlein/Born/Simon, 4.  Aufl. 2019, GmbHG Anh. 4 Rz. 7 ff. 16 Goette, ZHR 175 (2011), 388, 396 f.; Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1142 f. 17 Der Beitrag basiert auf Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6. Aufl. 2021, § 20, und Reichert/Ullrich in Reichert, GmbH & Co. KG, 8. Aufl. 2021, § 19a (im Druck). Dort finden sich auch weitergehende Erläuterungen und Nachweise. 18 Dazu näher Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6.  Aufl. 2021, §  20 Rz. 59 ff.; Reichert/Ullrich in Reichert, GmbH & Co. KG, 8. Aufl. 2021, § 19a Rz. 28 f. 19 Dazu näher Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6.  Aufl. 2021, §  20 Rz. 43 ff.; Reichert/Ullrich in Reichert, GmbH & Co. KG, 8. Aufl. 2021, § 19a Rz. 22 ff. 20 Reg-E VersanG: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/ RegE_Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.pdf;jsessionid=879B2B6034DF3B7AD16F957​4A​ A​0CF6C3.1_cid297?__blob=publicationFile&v=2.

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dass es so etwas wie einen „allgemeinen Teil“ in Bezug auf Grundlagen und Ziele unternehmerischer Compliance gibt, an dem sich auch die Geschäftsführer und Gesellschafter einer GmbH bzw. GmbH & Co. KG zu orientieren haben. 1.  Rechtsdogmatische Anknüpfung Die Rechtsgrundlage der Compliance-Pflichten ist nicht aus einer Gesamtanalogie zu den Compliance-Vorgaben des Aufsichts- und Ordnungswidrigkeitenrechts (insbesondere § 25a KWG, § 80 WpHG, § 130 OWiG)21 und des DCGK (insbesondere D.3, D.6, A.2)22 abzuleiten und ebenso wenig aus einer (analogen) Anwendung der Pflicht zur Einrichtung eines Früherkennungssystems (vgl. § 91 Abs. 2 AktG).23 Geht es um die effiziente Wahrung und Durchsetzung von Recht und Gesetz und mithin um die Verwirklichung des Legalitätsprinzips, hat Compliance früher anzusetzen.24 Nach heute herrschender Meinung handelt es sich bei Compliance-Pflichten um eine Ausprägung der allgemeinen Sorgfaltspflicht der Geschäftsführer aus § 43 Abs. 1 GmbHG (in der GmbH & Co. KG liegt die Compliance-Verantwortung bei der Komplementär-GmbH und mittelbar bei deren Geschäftsführer).25 Steht fest, dass sich Geschäftsführer bei der Ausübung ihrer Tätigkeit rechtstreu zu verhalten haben, impliziert das Gebot der Rechtstreue nicht nur Legalitätspflichten (eigene Gesetzesbindung), sondern auch Legalitätskontrollpflichten (Gesetzesbindung des Unternehmens und seiner Angehörigen). Legalitätskontrolle umfasst dabei nicht nur die repressive Aufklärung und Ahndung von Rechtsverstößen, sondern gerade auch deren Prävention. 2.  Grenzen der Compliance-Pflicht Wenngleich die Sorgfaltspflichten des Geschäftsführers und das daraus abgeleitete Legalitätsprinzip umfassende Geltung beanspruchen, folgt daraus nicht, dass Legalitätskontrolle um jeden Preis verlangt wäre (keine „Overcompliance“26). In einer älteren Entscheidung hatte der BGH klargestellt, dass es „weder möglich noch notwendig (ist), betriebliche Aufsichtsmaßnahmen so zu gestalten, dass sie alle vorsätzlichen Verstöße gegen betriebliche Pflichten verhindern.“ Die jeweiligen Maßnahmen hingen von den Umständen des Einzelfalls ab und müssten sich in den Grenzen des für den Aufsichtspflichtigen „realistischerweise Zumutbaren“ bewegen. Dabei sei die Eigenverantwortung des zu überwachenden Mitarbeiters ebenso zu berücksichtigen wie der Umstand, dass „überzogene, von zu starkem Misstrauen geprägte Aufsichts-

21 So noch U. H. Schneider, ZIP 2003, 645, 648 f. 22 So Bürkle, BB 2007, 1797, 1798 ff. 23 So Dreher in FS Hüffer, 2010, S. 161, 168 ff.; Spindler, WM 2008, 905, 906 f. 24 Goette, ZHR 175 (2011), 388, 392. 25 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 20.  Aufl. 2020, §  43 GmbHG Rz.  8; Diekmann in MünchHdb. GesR/Bd. 3, 5. Aufl. 2018, § 43 Rz. 85; Klöhn in Bork/Schäfer, 3. Aufl. 2015, § 43 GmbHG Rz. 32. 26 So prägnant Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1311.

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maßnahmen den Betriebsfrieden stören und die Würde des Arbeitnehmers verletzen können“.27 In kleinen, gut überschaubaren Unternehmen mit geringer Risikoexposition bedarf es keiner institutionalisierten Compliance-Strukturen, wohl aber eines Minimums an Präventionsmaßnahmen.28 Die Erkenntnis, dass sich kein uniformes, für alle Unternehmen verbindliches Compliance-Konzept aufstellen lässt (kein „one size fits all“), ist nicht zuletzt für Unternehmen in der Rechtsform der GmbH und GmbH & Co. KG von Bedeutung. Erst recht ist bei der uneingeschränkten Übertragung aktienrechtlicher Compliance-Anforderungen Zurückhaltung geboten.29 Grenzen der Compliance-Verantwortung ergeben sich insbesondere aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen verlangt.30 Compliance zielt auf Norm- und Regeleinhaltung, Haftungsvermeidung und Risikokontrolle. Weder realistisch noch erforderlich ist aber lückenloser Schutz vor Gesetzesverletzungen.31 Die Verhältnismäßigkeit der Compliance-Maßnahmen wird durch den Vertrauensgrundsatz ergänzt, der eine systematische Überwachung und Sicherstellung auf diejenigen Tätigkeitsbereiche beschränkt, in denen nicht auf ein rechtstreues Verhalten der Angehörigen der Gesellschaft vertraut werden kann.32 3.  Präventive Compliance Durch die Compliance sollen bereits vorbeugend Regelverstöße verhindert werden (Präventive Compliance). Der Umfang der organisatorischen Vorkehrungen hängt von der einzelnen Gesellschaft ab. Die IDW- und ISO-Branchenstandards ersetzen keine individuelle Prüfung der Compliance-Bedürfnisse.33 In einem größeren Unternehmen kann die Einrichtung eines komplexeren Compliance-Systems, die Bestellung 27 BGH v. 11.3.1986 – KRB 7/85, wistra, 1986, 222. Der Referentenentwurf des BMJV zum Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft vom 22.4.2020 greift dies in seiner Begründung zum VerSanG (dort, S. 78 f.) ausdrücklich auf. 28 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 144; Klöhn in Bork/ Schäfer, 3.  Aufl. 2015, §  43 GmbHG, Rz.  33; Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 37 GmbHG Rz. 28. 29 Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 37 GmbHG Rz. 4; Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 145; Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1142. 30 Eingehend Reichert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 943, 951 f.; Reichert/Ullrich in Reichert, GmbH & Co. KG, 8. Aufl. 2021, § 19a Rz. 3. 31 Scholl/Fischer in BeckOGK HGB, Stand: 15.10.2020, § 114 HGB Rz. 111. Vgl. zur GmbH: Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  43 GmbHG Rz.  142; Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 37 GmbHG Rz. 25. 32 Reichert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 943, 952; ferner (u.a. auch zur Bagatellschwelle) Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6. Aufl. 2021, § 20 Rz. 11. 33 Jenne, Überprüfung und Zertifizierung, 2017, S.  131  ff.; zur GmbH: Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1146.

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eines Compliance-Beauftragten oder sogar die Bildung einer Compliance-Abteilung erforderlich sein, während in kleineren Unternehmen ein geringer organisatorischer Aufwand genügen mag.34 Die im Rahmen der präventiven Compliance erforderlichen Maßnahmen sind mittels einer Risikoanalyse festzustellen, die in drei Schritte unterteilt werden kann.35 Am Anfang des Analyseprozesses steht eine Bestandsaufnahme der Compliance-­ relevanten Risikobereiche.36 Es müssen die von der Gesellschaft einzuhaltenden Rechtsnormen und die Risiken aus ihrer Geschäftstätigkeit ermittelt werden. Dies umfasst die Prüfung vergangener Compliance-Verstöße und die Analyse der Orga­ nisationsstrukturen, Funktionsbereiche, Geschäftsfelder, Produkte, Kunden und Absatzmärkte. Durch eine Top-Down/Bottom-Up-Vorgehensweise können Informa­ tionen aus sämtlichen Ebenen in die Bestandsaufnahme einbezogen werden. Das Ergebnis ist Grundlage für die Risikokategorisierung im zweiten Schritt.37 Sie erfasst die abstrakte Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und die erwartete Höhe des Schadens, der sowohl in Vermögensschäden als auch z.B. in Beeinträchtigungen des Firmenimages liegen kann. Weist man der Schadenswahrscheinlichkeit und der Schadenshöhe einen Zahlenwert zu, so kann man diese Zahlen in eine Risikomatrix eintragen und auf diesem Wege einen „Risikoscore“ erhalten. Dieser „Risikoscore“ dient im letzten Schritt dazu, das Erfordernis und die Dringlichkeit von ComplianceMaßnahmen in den einzelnen Unternehmensbereichen festzustellen (Risikopriorisierung).38 Anhand der Ergebnisse der Risikoanalyse muss die Geschäftsführung eine angemessene präventive Compliance einrichten. Bei der Auswahl der Maßnahmen kommt ihr das oben beschriebene unternehmerische Ermessen zu, wobei das ComplianceSystem aus Gründen der effizienten Umsetzbarkeit auf die Bedürfnisse und Kapazitäten der jeweiligen Gesellschaft zuzuschneiden ist.39 Die Einführung der Maßnahmen sollte von einer ausdrücklichen Selbstverpflichtung der Geschäftsleitung zur Compliance (sog. Commitment) begleitet sein.40 Die Kommunikation der Compliance-Grundsätze vonseiten der Geschäftsleitung an die Angehörigen der GmbH & Co. KG (sog. Tone from the top) erfolgt üblicherweise mittels eines schriftlichen Code of Conduct41 und es sollte ein transparenter Umgang (Speak-up-Culture) mit Compliance-­ Verstößen gefördert werden. Über den schriftlichen Code of Conduct hinaus sind Schulungen und eine Compliance-Hotline Mittel, um die Compliance unternehmensweit zu kommunizieren. Zudem kann ein interner oder externer Ansprechpartner 34 Vgl. Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1145. 35 Zu weiteren Einzelheiten: Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6.  Aufl. 2021, §  20 Rz.  21  f.; Reichert/Ullrich in Reichert, GmbH & Co. KG, 8.  Aufl. 2021, §  19a Rz. 9 ff. 36 Zur GmbH: Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1143. 37 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1144. 38 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1144. 39 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1144. 40 Reichert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 943, 947. 41 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1144.

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benannt werden; ein Hinweisgebersystem (Whistleblowing-System) ist zwar nicht generell üblich, kann aber durchaus zu empfehlen sein.42 Die Compliance kann außerdem dadurch in das laufende Geschäft integriert werden, dass Dokumentations-, Transparenz- und Freigaberegeln43 sowie Kontrollmechanismen in den Prozessdefinitionen festgeschrieben werden. Die Wirksamkeit eines Compliance-Systems ist nur gewährleistet, wenn die Effizienz kontinuierlich kontrolliert und weiterentwickelt wird.44 Teil der Compliance sind daher regelmäßige und anlassbezogene („Adhoc“-) Berichte der Verantwortlichen an die Geschäftsführung sowie Kontrollen durch sog. „Compliance Audits“ der Revisionsabteilung. Zu beachten ist darüber hinaus, dass ein an sich wirksames Compliance-­ System immer nur auf die Risiken zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeschnitten ist, aber die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft sich stetig ändern. Die Geschäftsführung muss diese Veränderungen überwachen und das Compliance-System laufend anpassen (sog. adaptive Compliance). 4.  Repressive Compliance Sobald ein Geschäftsführer oder ein anderer Compliance-Verantwortlicher den schlüssigen Verdacht eines Regelverstoßes hat, ist nach dem allgemein anerkannten Grundsatz „Aufklären, Abstellen, Ahnden“ vorzugehen (Repressive Compliance).45 Die Mittel stehen im Auswahlermessen des Verantwortlichen, das wiederum vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestimmt wird: Die Art des Einschreitens muss geeignet, erforderlich und angemessen zu Ausmaß und Schwere des Regelverstoßes sein.46 Bei gravierenden Verstößen wird Aufklärung durch – bisweilen aufwändige – interne Untersuchungen, gegebenenfalls auch unter Hinzuziehung externer Berater, notwendig sein. Zur Ahndung ist zwischen arbeitsrechtlichen Sanktionen leichten (z.B. Ermahnung) bis schweren Grades (ultima ratio der fristlosen Kündigung) auszuwählen, außerdem ist die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs oder die behördliche Anzeige in Betracht zu ziehen. Der Richtwert für die Angemessenheit der Sanktion ist grundsätzlich das wohlverstandene Unternehmensinteresse und nur im Ausnahmefall begründet ein öffentliches Interesse die Pflicht zu einer bestimmten Sanktion. Die repressive Compliance ist mit dem unverzüglichen Einschreiten nicht abgeschlossen. Ein Abschlussbericht über den Vorfall dient nicht nur der zukünftigen Verbesserung der Compliance, sondern ermöglicht der Geschäftsführung den Nach42 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1145. 43 Zur Dokumentation von ergriffenen Maßnahmen Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6. Aufl. 2021, § 20 Rz. 31. 44 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1145. 45 Zu weiteren Einzelheiten: Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6.  Aufl. 2021, § 20 Rz. 27 ff.; Reichert/Ullrich in Reichert, GmbH & Co. KG, 8. Aufl. 2021, § 19a Rz. 12 ff.; Reichert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 943, 958 ff. 46 Reichert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S.  943, 961  f.; zur GmbH: Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1146.

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weis, ordnungsgemäß auf den Regelverstoß reagiert zu haben. Dabei sind Beweismittel getrennt und mit der Kennzeichnung als „Verteidigungsmittel“ aufzubewahren, um ein Beschlagnahmeverbot nach §§ 97, 148 StPO zu erreichen. Aus Sicht des Unternehmens kann sich die Frage einer umfassenden Kooperation mit den Ermittlungs- bzw. Aufsichtsbehörden stellen. Zwar besteht grundsätzlich keine Verpflichtung, Rechtsverstöße gegenüber den Behörden anzuzeigen oder im Rahmen der Aufklärung mit diesen zusammenzuarbeiten.47 Vielmehr steht dies, wenn man von gesetzlichen Anzeigepflichten48 absieht, im pflichtgemäßem Ermessen der Geschäftsführer.49 Die Bandbreite der möglichen Verhaltensweisen reicht von Verweigerung jeglicher Kooperation unter Verweis auf die den Behörden zur Verfügung stehenden Zwangsmaßnahmen, über die sog. Sockelverteidigung in Form von Absprachen zu Verfahrensstrategie und -taktik unter den Verteidigern der aufseiten des Unternehmens Beteiligten bis zur umfassenden Zusammenarbeit mit den Behörden.50 Eher selten dürfte eine Sachlage gegeben sein, in der eine Entscheidung klar auf der Hand liegt, weil etwa eine Bestätigung der Verdachtsmomente – unter Umständen in Verbindung mit dem Risiko einer Aufdeckung weiterer Sachverhalte – die Existenz des Unternehmens bedrohen würde oder die Beweislage so eindeutig ist, dass jegliches Bemühen um eine Verteidigung aussichtslos erscheint.51 Daher ist letztlich eine Abwägungsentscheidung anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu treffen, ob es im Interesse des Unternehmens liegt, den Behörden einen Verdachtsfall anzuzeigen oder in einem laufenden Behördenverfahren Erkenntnisse und Beweismittel aus internen Untersuchungen freiwillig offenzulegen und sich hiermit selbst zu belasten. Die Entscheidung hängt maßgeblich von der Frage ab, wie wahrscheinlich das Aufgreifen der Sachverhalte durch Behörden ist bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit im Fall fortgesetzter behördlicher Ermittlungen der Tatnachweis gelingt und welche weiteren Risiken bestehen.52 Ganz allgemein sind mögliche Vorteile einer Kooperation etwa die Vermeidung eines langwierigen behördlichen Verfahrens einschließlich der damit verbundenen Unsicherheiten für das Unternehmen und seine Angehörigen und der Chance zur schnelleren Neuausrichtung, die Verhinderung presseträchtiger und damit imageschädlicher Zwangsmaßnahmen, die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit und 47 Wilsing/Goslar in Krieger/U. H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 15 Rz. 15.73 f. 48 Abseits des hier weitgehend irrelevanten § 138 StGB sind etwa spezialgesetzliche Pflichten zur Anzeige von Verdachtsfällen aus § 43 Abs. 1 GWG, § 23 WpHG, § 3 SubvG und § 153 Abs. 1 AO zu beachten. 49 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 149; Wilsing/Goslar in Krieger/U. H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 15 Rz. 15.75; Zimmer/ Weigl, CCZ 2019, 21, 23; Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173, 2180. 50 Loer/Glass, DB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 48. 51 Badle/Raschke, DB Sonderausgabe Nr.  02/2017, 16, 18; Loer/Glass, DB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 48. 52 Wilsing/Goslar in Krieger/U. H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 15 Rz. 15.75 ff.

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Zuverlässigkeit des Unternehmens in der Öffentlichkeit und bei Geschäftspartnern sowie (bei komplexeren Verfahren) die Möglichkeit der frühzeitigen Beschränkung des Verfahrens- und Untersuchungsgegenstands aufgrund entsprechender Absprachen und mitunter erheblicher Einfluss auf die Höhe der nach § 30 OWiG zu bestimmenden Geldbuße.53 Von besonderer Bedeutung sind Kooperationen im Kartellrecht, wo sich Bußgeldbefreiung aufgrund der sog. Kronzeugenregelung erreichen lässt, wenn das Unternehmen die Kartellbehörden als erstes über die (voraussichtlichen) Verstöße unterrichtet.54 5.  Maßstabsgerechte Anforderungen Wie schon bemerkt, sind Art und Umfang von Compliance-Organisationen so vielfältig wie die Unternehmen selbst und müssen es auch sein, wenn die Verhältnis­ mäßigkeit gewahrt bleiben soll. Generalisieren lassen sich nicht die konkreten Maßnahmen, sondern allenfalls die Maßstäbe, nach denen die Risikogeneigtheit eines Unternehmens zu bemessen ist. Eine wichtige Rolle spielt zunächst selbstverständlich die Größe eines Unternehmens. Wie ein Blick etwa in das Bilanzrecht des HGB belehrt, unterscheidet auch der  Gesetzgeber nach der Größe des Unternehmens („kleine“, „mittelgroße“ und „große“ Kapitalgesellschaften entsprechend der Bilanzsumme) und knüpft daran unterschiedliche Rechtsfolgen (§§ 267 ff. HGB). Ein multinationaler Konzern mit einigen 10.000 oder 100.000 Mitarbeitern sieht sich mit weit größeren NoncomplianceRisiken konfrontiert als ein mittelständischer Familienbetrieb, der an einem einzigen Standort tätig ist und nur eine überschaubare Anzahl an Spezialisten beschäftigt. Letztere lassen sich ohne größeren Aufwand beaufsichtigen; einer Compliance-Organisation im engeren Sinne bedarf es insoweit regelmäßig nicht. Gleichwohl ist die Verpflichtung zu normgemäßem Verhalten unmissverständlich zu kommunizieren und zu kontrollieren. Je nach Branche und Tätigkeit – etwa in korruptionsanfälligen oder kartellrechtlich riskanten Branchen – können sich auch in solchen Unternehmen weitergehende Überwachungserfordernisse ergeben. Bei Großunternehmen sind die Verhältnisse regelmäßig komplexer, so dass Rechtsverstöße ohne ein funktionierendes Compliance-System weder hinreichend verhindert noch im Falle des Verstoßes rechtzeitig aufgedeckt werden.55 Stets von Belang ist die Branche und das geschäftliche Umfeld. Zwar sollte man nicht ganze Bereiche des Wirtschaftslebens unter Generalverdacht stellen, gleichwohl hat sich gezeigt, dass bestimmte Branchen für Compliance-Verstöße besonders anfällig sind. Genannt werden immer wieder die Rüstungsindustrie oder ganz allgemein Unternehmen, die von großvolumigen Beschaffungsvorhaben unter Beteiligung der öf53 Loer/Glass, DB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 48, 49. 54 Vgl. speziell zur Kartellcompliance: Reichert/Ullrich in Wieland/Steinmeyer/Grüninger, Handbuch Compliance-Management, 3. Aufl. 2020, Kap. 2.3 (Kartellrechtliche Compliance-­ Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat). 55 Vgl. Merkt, ZIP 2014, 1705, 1709. 

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fentlichen Hand abhängig sind.56 Ähnliches gilt für den geographischen Radius der unternehmerischen Tätigkeit. Einige ausländische (vor allem außereuropäische) Märkte weisen eine größere Anfälligkeit für Korruption und regelwidriges Verhalten auf als der deutsche (im Siemens/Neubürger-Fall waren Aktivitäten in Nigeria betroffen).57 Schließlich ist auch noch die Compliance-Historie eines Unternehmens als Kriterium heranzuziehen: Wiederholte Verstöße legen den Verdacht nahe, dass gravierende, systemische Defizite vorliegen, die größere Anstrengungen bei der Einrichtung oder Reform eines Compliance-Systems erforderlich machen als ein isolierter, einmaliger Vorfall.58 Auch kann es etwa, was Kartellverstöße anbelangt, von Bedeutung sein, ob solche in der Branche in der Vergangenheit  – möglicherweise sogar wiederholt – bekannt geworden sind.59

III. Rechtsfolgen bei Fehlen eines wirksamen ComplianceManagement-Systems Wenn der Ernstfall eingetreten ist und sich herausstellt, dass die Compliance-Organisation des Unternehmens mangelhaft war, stellt sich die Frage, auf welche Weise Geschäftsführer und Gesellschafter einer GmbH oder GmbH & Co. KG dafür einstehen müssen. 1.  Rechtsfolgen für die Geschäftsführung Die zivilrechtliche Haftung der Geschäftsführung (b.) hängt davon ab, in welchem Umfang Compliance zu deren wesentlichen Aufgaben zählt (a.). a) Compliance als Geschäftsführungsaufgabe Die Compliance-Verantwortung wird in kleinen Gesellschaften mbH in der Regel von einem (Allein-)Geschäftsführer getragen. Bei großen Gesellschaften mit mehrköpfigem Geschäftsführungsorgan haben die Geschäftsführer die Compliance-Verantwortung als Gesamtorgan inne (Gesamtverantwortung).60 Eine vollständige Pflichtendelegation an einzelne Geschäftsführer oder nachgeordnete Abteilungen wäre problematisch.61 Zulässig und geboten kann aber gerade in größeren Unternehmen die Einrichtung einer gestuften Compliance-Organisation sein, bei der die Ge56 Merkt, ZIP 2014, 1705, 1709. 57 Merkt, ZIP 2014, 1705, 1710. 58 Merkt, ZIP 2014, 1705, 1710. 59 Reichert/Ullrich in Wieland/Steinmeyer/Grüninger, Handbuch Compliance-Management, 3.  Aufl. 2020, Kap. 2.3 (Kartellrechtliche Compliance-Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat) Rz. 7 ff. 60 Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  37 GmbHG Rz.  31; Reichert/ Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1145. 61 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 151; Paefgen in Ulmer/ Habersack/Löbbe, 3. Aufl. 2020, § 43 GmbHG Rz. 55.

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samtgeschäftsführung nur in wesentliche konzeptionelle Grundentscheidungen einbezogen wird, während die Ausformung der Compliance-Struktur einem bestimmten Geschäftsführer zugewiesen wird (horizontale Delegation).62 Unterhalb der Geschäftsführungsebene kann es sich anbieten, einen Compliance-Beauftragten (Compliance Officer) zu ernennen.63 Zulässig und ausreichend kann es aber auch sein, die Rechtsabteilung oder ähnlich qualifizierte Stellen im Unternehmen mit Compliance-Aufgaben zu betrauen (vertikale Delegation).64 Für eine horizontale Delegation ist „eine klare und eindeutige Abgrenzung der Geschäftsführungsaufgaben aufgrund einer von allen Mitgliedern des Organs mitgetragenen Aufgabenzuweisung (erforderlich), die die vollständige Wahrnehmung der Geschäftsführungsaufgaben durch hierfür fachlich und persönlich geeignete Personen sicherstellt und ungeachtet der Ressortzuständigkeit eines einzelnen Geschäftsführers die Zuständigkeit des Gesamtorgans insbesondere für nicht delegierbare Angelegenheiten der Geschäftsführung wahrt“.65 Bei der vertikalen Delegation auf nachgeordnete Ebenen hat der delegierende Geschäftsführer Auswahl-, Einweisungs- und Überwachungspflichten zu beachten. 66 Es gelten die allgemeinen Regeln.67 Vornehmlich kommt es darauf an, kompetente, loyale und unabhängig handelnde Personen zu betrauen und ordnungsgemäß zu instruieren.68 In der GmbH & Co. KG ist die Komplementär-GmbH zur Führung der Geschäfte berufen, § 164 HGB, und damit auch für die Compliance zuständig. Die Ausgestaltung der Geschäftsführung im individuellen GmbH & Co. KG-Gesellschaftsvertrag kann an dieser Organpflicht der Komplementär-GmbH grundsätzlich nichts ändern. Da sich die Komplementär-GmbH zur Ausübung ihrer Geschäfte wiederum eines Geschäftsführers bedient, handelt dieser Geschäftsführer mittelbar auch als Geschäftsführer der KG. Die Compliance-Verpflichtung des GmbH-Geschäftsführers besteht unabhängig von der Gestaltung der vertraglichen Beziehungen zwischen Geschäftsführer, Komplementär-GmbH und KG. b) Zivilrechtliche Haftung Wird der GmbH-Geschäftsführer schuldhaft seinen Compliance-Pflichten nicht gerecht und entsteht der Gesellschaft hierdurch ein Schaden, kommt eine Haftung ge62 Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 37 GmbHG Rz. 4; Kiethe, GmbHR 2007, 393, 397. 63 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1145. 64 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 151; Paefgen in Ulmer/ Habersack/Löbbe, 3. Aufl. 2020, § 43 GmbHG Rz. 55. 65 BGH v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, NJW 2019, 1067. 66 Zur verbleibenden Überwachungspflicht und „Residualverantwortung“: Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6. Aufl. 2021, § 20 Rz. 16. 67 Ziemons in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3.  Aufl. 2017, §  43 GmbHG Rz.  17; Kort, GmbHR 2013, 566, 567. 68 Goette, ZHR 175 (2011), 388, 395. 

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genüber der Gesellschaft nach §  43 Abs.  2 GmbHG in Betracht.69 Hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast gilt §  93  Abs.  2 Satz  2 AktG analog.70 Anknüpfungspunkte für einen Schadensersatzanspruch können sich ergeben, wenn Geschäftsführer entweder selbst rechtswidrig handeln, trotz Hinweisen auf Fehlverhalten im Unternehmen nicht unverzüglich einschreiten oder keine oder im Rahmen des ihnen zustehenden haftungsfreien Ermessenspielraums keine hinreichenden organisatorischen Vorkehrungen getroffen haben, um Fehlverhalten zu verhindern. Dabei gilt auch im Zusammenhang mit einem Organisationsverschulden, dass die Haftung aus § 43 Abs. 2 GmbHG keine Erfolgshaftung ist. Sofern die Geschäftsführer aus ex anteSicht erforderliche und angemessene Compliance-Maßnahmen etabliert haben, sind sie ihrer Compliance-Verantwortung nachgekommen.71 Im Übrigen können verbindliche Gesellschafterweisungen haftungsfreistellende Wirkung entfalten. Bei der Geschäftsführerhaftung handelt es sich um eine reine Innenhaftung. Außenstehende Dritte können ebenso wenig wie Gesellschafter aus §  43 Abs.  2 GmbHG unmittelbare Schadensersatzansprüche gegen Geschäftsführer ableiten, auch nicht in Verbindung mit § 823 Abs. 2 BGB.72 Zwar hatte der BGH ursprünglich eine Außenhaftung wegen Verstoßes gegen interne Organisationspflichten für den Fall der Verletzung absoluter Rechte Dritter zugelassen.73 Indes hat er diese Rechtsprechung zwischenzeitlich relativiert und den Grundsatz bekräftigt, dass interne Organisationspflichten grundsätzlich nur gegenüber der Gesellschaft bestehen.74 Eine deliktische Außenhaftung für unzureichende Compliance-Organisationen scheidet mithin aus.75 Unberührt bleibt eine Außenhaftung wegen eigener deliktischer Verstöße des Geschäftsführers (§ 823 Abs. 1, § 823 Abs. 2 BGB iVm Schutzgesetz, § 826 BGB).76 Im Compliance-Kontext ist aufgrund der die Geschäftsführer treffenden Vermögensbetreuungspflicht regelmäßig zu prüfen, ob eine Erfüllung des Straftatbestands der Untreue (§ 266 StGB) in Betracht kommt.77 Begeht ein Mitarbeiter im Unternehmen eine betriebsbezogene Straftat oder Ordnungswidrigkeit, kann die Geschäftsführer

69 U. H. Schneider in Krieger/U. H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 2 Rz. 2.42; Nietsch in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl. 2019, Anh. 4 Rz. 35; Reichert/ Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1148 f.; Kort, GmbHR 2013, 566, 572. 70 Allg.M., vgl. nur Altmeppen in Altmeppen, 10. Aufl. 2021, § 43 GmbHG Rz. 112; Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 270.  71 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 148; Klöhn in Bork/ Schäfer, 3. Aufl. 2015, § 43 GmbHG Rz. 34; zur Gefahr eines Rückschaufehlers auch Bachmann, ZIP 2014, 579, 580; Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598; Ott/Klein, AG 2017, 209 ff. 72 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 22.  Aufl. 2019, §  43 GmbHG Rz.  64; Kleindiek in ­Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 43 GmbHG Rz. 48. 73 BGH v. 5.12.1989 – VI ZR 335/88, NJW 1990, 976; vgl. auch BGH v. 24.1.2006 – XI ZR 384/03, NJW 2006, 830; näher Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  43 GmbHG Rz. 348 ff. 74 BGH v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26. 75 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1147. 76 Zu den Einzeltatbeständen Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 347 ff. 77 Näher Altmeppen in Altmeppen, 10. Aufl. 2021, § 43 GmbHG Rz. 152 ff.

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als „Inhaber des Betriebes“ unter den Voraussetzungen des § 130 OWiG eine Bußgeldhaftung treffen.78 Die Geschäftsführung in der GmbH & Co. KG liegt im vorliegend unterstellten Regelfall bei der Komplementär-GmbH und mittelbar bei den GmbH-Geschäftsführern.79 Kommt es aufgrund mangelhafter Compliance der GmbH-Geschäftsführer bei der KG zu einem Haftungsfall, dann haftet die Komplementär-GmbH für die daraus entstehenden Verbindlichkeiten. Zudem kann die KG für ihren eigenen Schaden einen Ersatzanspruch gegen die geschäftsführende Komplementär-GmbH aus § 280 Abs. 1 BGB geltend machen; das Verschulden der GmbH-Geschäftsführer wird der GmbH nach § 31 BGB zugerechnet.80 Gegen die GmbH-Geschäftsführer kann sowohl die GmbH als auch die KG einen Schadensersatzanspruch haben. Der Anspruch der GmbH folgt aus §  43 Abs.  2 GmbHG und, falls die Geschäftsführer bei der GmbH angestellt sind, aus dem Anstellungsvertrag. Sind die Geschäftsführer bei der GmbH als Geschäftsführungsorgan bestellt, aber nur bei der KG angestellt, kann die KG einen Ersatzanspruch aus dem Anstellungsvertrag geltend machen. Doch auch wenn kein Anstellungsverhältnis mit der KG existiert, kann die KG selbst den Anspruch aus § 43 Abs. 2 GmbHG gegen die GmbH-Geschäftsführer geltend machen, weil sie in der GmbH & Co. KG zumindest dann in die Schutzwirkungen des GmbH-Geschäftsführer-Organverhältnisses einbezogen ist, wenn die wesentliche Tätigkeit der GmbH in der KG-Geschäftsführung besteht. Von Bedeutung ist, inwieweit einem Geschäftsführer, soweit sich die eingerichtete Compliance-Organisation als  – im Hinblick auf erfolgte Legalitätsverstöße  – nicht hinreichend effektiv erweist, die sog. Business Judgement Rule zugutekommt. Die Geschäftsführung soll sich bei unternehmerischen Entscheidungen nach der Business Judgment Rule grundsätzlich auf unternehmerisches Ermessen berufen können.81 Denn es ist regelmäßig im Vorhinein nicht sicher feststellbar, welche Maßnahmen notwendig sind, um die gewünschte Prävention und gewünschte Aufklärung herbeizuführen. Der Geschäftsführer muss insoweit aus ex ante-Sicht eine Entscheidung zugunsten der Maßnahme treffen, die ihm geeignet und angemessen erscheint.82 Dies gilt grundsätzlich auch für die zu etablierenden Überwachungsmaßnahmen. Seiner Pflicht genügt der Geschäftsführer aber nur, wenn er eine sorgfältige Analyse anstellt und keine völlig unvertretbare Entscheidung trifft.83 78 Näher Nietsch in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl. 2019, Anh. 4 Rz. 21. 79 Zur Haftung eines geschäftsführenden Kommanditisten: Weipert in EBJS, 4.  Aufl. 2020, § 164 HGB Rz. 26 f. 80 Roth in Baumbach/Hopt, 39. Aufl. 2020, § 114 HGB Rz. 15. 81 Drescher in EBJS, 4. Aufl. 2020, § 114 HGB Rz. 32; Lieder in Oetker, 6. Aufl. 2019, § 114 HGB Rz. 31; Rawert in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 114 HGB Rz. 56. 82 Scholl/Fischer in BeckOGK HGB, Stand: 15.10.2020, § 114 HGB Rz. 141. 83 Scholl/Fischer in BeckOGK HGB, Stand: 15.10.2020, §  114 HGB Rz.  141, mit Erläuterung eines engeren Spielraums bei der aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG entwickelten Business Judgment Rule im Personengesellschaftsrecht.

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Besonderheiten gelten bei der Beurteilung von Rechtsfragen. Zwar wird eine sog. ­Legal Judgment Rule von der h.M. abgelehnt, aber eine Enthaftung kommt unter den Voraussetzungen der sogenannten ISION-Entscheidung des BGH84 in Betracht: In Fällen von Rechtsunsicherheit ist die Rechtslage zu ermitteln, gegebenenfalls durch Einholung qualifizierten Rechtsrats, und bei verbleibenden Zweifeln ist nach überwiegender Auffassung ein vertretbarer Rechtsstandpunkt einzunehmen. Auf den Rat qualifizierter unabhängiger rechtlicher Berater, deren Ergebnisse plausibilisiert werden, kann die Geschäftsführung ihre Entscheidung stützen und sich, soweit die Ergebnisse sich als unzutreffend erweisen, unter Hinweis auf die eingeholte Expertise exkulpieren.85 2. Rechtsfolgen für die Gesellschafter Die Stellung der Gesellschafter ist in einer GmbH und einer GmbH & Co. KG eine andere als in einer AG oder SE. Das hat auch Auswirkungen auf die unternehmerische Compliance. a) Compliancerelevanter Einfluss der Gesellschafter Während der Vorstand der AG die Gesellschaft in eigener Verantwortung zu leiten hat (§ 76 Abs. 1 AktG) und Weisungen anderer Gesellschaftsorgane nicht, sondern nur nach Maßgabe des § 111 Abs. 4 AktG bestimmten Beschränkungen unterliegt, ist die Lage in der GmbH für den Geschäftsführer mit Rücksicht auf das umfassende, in §  37 Abs.  1 GmbHG normierte Weisungsrecht der Gesellschafterversammlung grundlegend anders geartet. Er ist nach dem Gesetz der Gesellschafterversammlung als dem zentralen Entscheidungsorgan der GmbH untergeordnet.86 Über ihr Weisungsrecht können die Gesellschafter mithin Einfluss auf die Etablierung von Compliance im Unternehmen ausüben. Einerseits ist es ihnen gestattet, qua Satzung oder Beschluss bestimmte Compliance-Aufgaben zu übernehmen und dem Geschäftsführer hierdurch seine entsprechenden Rechte und Pflichten zu entziehen.87 Andererseits können die Gesellschafter die Geschäftsführer anweisen, spezi­ fische Compliance-Maßnahmen (nicht) durchzuführen, eine Compliance-Organisation einzurichten, Hinweisen auf Fehlverhalten im Unternehmen nachzugehen oder im Rahmen interner Untersuchungen (bestimmte) externe Berater hinzuziehen.88 Erforderlich ist – vorbehaltlich abweichender Satzungsgestaltung – ein Beschluss mit einfacher Mehrheit. Verweigert ein Mehrheitsgesellschafter seine Zustimmung, kann der Beschluss in eng begrenzten Ausnahmefällen wegen treuwidriger Stimmabgabe 84 BGH v. 20.9.2011 − II ZR 234/09, NZG 2011, 1271. 85 BGH v. 20.9.2011 − II ZR 234/09, NZG 2011, 1271, 1273. Vgl. Ott/Lüneborg, NZG 2019, 1361, 1366. 86 W. Goette/M. Goette, GmbH, 3. Aufl. 2019, § 8 Rz. 150. 87 Kort, GmbHR 2013, 566, 567; Merkt, ZIP 2014, 1705, 1712. 88 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1147; spez. zur Nachteiligkeit von Weisungen im Compliance-Kontext für AG- und GmbH-Konzern Schockenhoff, ZHR 180 (2016), 197, 213 ff.

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anfechtbar sein.89 Denkbar wäre etwa der Fall, dass ein die Existenz der GmbH bedrohendes Bußgeld im Raum steht, dessen Höhe durch bestimmte Compliance-Vorkehrungen gemildert werden könnte.90 Unter solchen Umständen kann eine Gegenstimme treuwidrig und daher nichtig und im Rahmen der Beschlussfeststellung nicht zu berücksichtigen sein. Mit dem Weisungsrecht der Gesellschafter korrespondiert grundsätzlich die Folgepflicht der Geschäftsführer.91 Die Weisungsbefugnis findet dort ihre Grenze, wo die Beachtung der Weisung zu einer Verletzung der dem Geschäftsführer im Allge­ meininteresse auferlegten Compliance-Pflichten führen würde.92 Folglich ist beispielsweise eine Weisung der Gesellschafter, gesetzliche Verbote zu unterlaufen oder Fehlverhalten im Unternehmen zu tolerieren, als Verstoß gegen die Legalitäts- und Legalitätskontrollpflichten rechtswidrig und unbeachtlich.93 Unter Umständen muss die Gesellschafterversammlung, wenn sie ein bestimmtes Vorgehen des Geschäftsführers erreichen will, auch eine entsprechende Weisung erteilen. Das kommt vor allem dann in Betracht, wenn es um die Ausübung unternehmerischen Ermessens geht.94 Freilich reicht in solchen Fällen die Folgepflicht des Geschäftsführers nur soweit wie sein Ermessen.95 Eine unmittelbare Verantwortlichkeit der Gesellschafter, für die Einhaltung von Recht und Gesetz durch das Unternehmen oder seiner Mitarbeiter zu sorgen, besteht dagegen nicht.96 Sie lässt sich auch nicht aus der Weisungsbefugnis ableiten.97 Daraus wird abgeleitet, dass die GmbH-Gesellschafter einvernehmlich von einer Rechtmäßigkeitskontrolle des Geschäftsführerhandelns absehen können, selbst dann, wenn der Verdacht naheliegt, dass Geschäftsführer ihren Compliance-Pflichten nicht nachkommen, also entweder selbst gegen Gesetze verstoßen oder Gesetzesverstöße im Unternehmen nicht unterbinden.98 Dem ist mit der Maßgabe zuzustimmen, dass eine Pflicht zum Tätigwerden ausnahmsweise dann bestehen bleibt, wenn Verdachtsmomente für Verstöße gegen zwingende Gläubigerschutzvorschriften (§§ 30 f., 33, 43 Abs. 3, §§ 43a, 64 GmbHG) oder existenzvernichtende Eingriffe (§§ 826, 830 BGB) vorliegen (arg. ex § 43 Abs. 3 Satz 2, 3 GmbHG analog). Gleiches gilt, wenn sich aus

89 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1149; allg. zu Stimmbindungen aus Treupflicht BGH v. 12.4.2016 – II ZR 275/14, NZG 2016, 781. 90 Vgl. zur Bußgeldminderung bei Compliance-Maßnahmen BGH v. 9.5.2017 – 1 StR 265/16, NZWiSt 2018, 379; vgl. zu den geplanten Neuregelungen (Milderung der Verbandssank­tion bei verbandsinternen Untersuchungen) auch §§ 16 ff. VerSanG-E. 91 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 37 GmbHG Rz. 17. 92 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 37 GmbHG Rz. 5; Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 37 GmbHG Rz. 40. 93 Balke in MünchHdb. GesR/Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 111 Rz. 7; Fuhrmann, NZG 2016, 881, 885; Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1147. 94 W. Goette/M. Goette, GmbH, 3. Aufl. 2019, § 8 Rz. 228. 95 Balke in MünchHdb. GesR/Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 111 Rz. 7; Fuhrmann, NZG 2016, 881, 884. 96 Andeutend Nietsch in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl. 2019, Anh. 4 Rz. 41. 97 AA wohl Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 37 GmbHG Rz. 33. 98 Fuhrmann, NZG 2016, 881, 884; Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1147.

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Normen außerhalb des Gesellschaftsrechts – wie etwa aus dem Aufsichtsrecht – eine Pflicht zum Tätigwerden ergibt.99 Die der Gesellschafterversammlung gemäß §  46 Nr.  6 GmbHG eingeräumte Aufsichtskompetenz ist in dem Sinne umfassend, dass alle zur Prüfung und Überwachung der Geschäftsführung geeigneten und verhältnismäßigen Maßnahmen zu­ lässig sind.100 Das  – mangels abweichender Satzungsregelungen  – unbeschränkte Abberufungsrecht gibt der Gesellschafterversammlung101 das Mittel an die Hand, mit der sofortigen Entfernung des Geschäftsführers aus der Organstellung auf die Verletzung von Compliance-Pflichten oder die Missachtung ihrer Weisungen zu reagieren (§ 38 Abs. 1, § 46 Nr. 5 GmbHG).102 Schon die Möglichkeit, dass so verfahren werden kann, wird regelmäßig auf den Geschäftsführer präventiv wirken.103 Verletzt dieser dennoch seine Pflichten oder führt er Weisungen nicht aus, kommt eine Haftung des Geschäftsführers nach § 43 Abs. 2 GmbHG in Betracht. Über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen entscheidet die Gesellschafterversammlung vorbehaltlich abweichender Regelung mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen.104 Der betroffene Gesellschafter hat bei der Beschlussfassung nach § 47 Abs. 4 GmbHG kein Stimmrecht.105 Den Gesellschaftern steht bei der Entscheidung, ob ein Anspruch geltend gemacht werden soll oder nicht, ein Ermessen zu.106 Die Entscheidung kann nur eingeschränkt gerichtlich kontrolliert werden.107 Insbesondere finden die für die AG entwickelten Grundsätze der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung108 keine Anwendung.109 Dass von einer Regelverfolgungspflicht voraussichtlich aussichtsreicher Ersatzansprüche nicht die Rede sein kann, ergibt sich schon aus ihrer Befugnis zum Verzicht auf Ersatzansprüche (arg. ex § 43 Abs. 3 Satz 2, 3 GmbHG), aber auch aus ihrer Stellung als alleinig wirtschaftlich Berechtigte der GmbH. Die Gesellschafter sind bei der Ent 99 Fuhrmann, NZG 2016, 881, 884. 100 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 46 GmbHG Rz. 50. 101 Einschränkungen gelten bei GmbHs im Anwendungsbereich des MitBestG nach §  31 Abs. 1 Satz 1 iVm § 84 Abs. 3 AktG (Abberufung durch Aufsichtsrat nur aus wichtigem Grund). 102 Vgl. auch OLG Hamm v. 29.5.2019 – 8 U 147/18, BeckRS 2019, 14258 (fristlose Kündigung eines Geschäftsführers wegen Verstoßes gegen unternehmensinterne ComplianceVorschriften). 103 W. Goette/M. Goette, GmbH, 3. Aufl. 2019, § 8 Rz. 30, 150. 104 Näher zu dem Gesellschafterbeschluss Reichert/Ullrich in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6. Aufl. 2021, § 20 Rz. 41. 105 Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 46 GmbHG Rz. 247 f.; Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, 3. Aufl. 2020, § 46 GmbHG Rz. 109. 106 Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 46 GmbHG Rz. 39. 107 Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  46 GmbHG Rz.  250; Kleindiek in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 387, 394. 108 BGH v. 5.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926; zuletzt bestätigt in BGH v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, NZG 2018, 1301; Reichert, ZIP 2016, 1189. 109 Kleindiek in FS Graf von Westphalen, 2010, S.  387, 393  f.; Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1147.

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scheidung jedoch zugleich an ihre Treupflicht gebunden. Andernfalls besteht das ­Risiko, dass der Beschluss anfechtbar ist.110 Demnach kann – vom Fall der EinmannGmbH oder einer Zustimmung aller Gesellschafter abgesehen  – von einer An­ spruchsverfolgung nicht aus Sonderinteressen, sondern nur aus sachlichen, nachvollziehbaren Gründen abgesehen werden.111 In einer GmbH & Co. KG bedarf die geschäftsführende Komplementär-GmbH nach dem – freilich dispositiven – gesetzlichen Regelungsmodell des § 164 HGB nur für außergewöhnliche Geschäfte der Zustimmung der Kommanditisten. Dies sind Geschäfte, die nach ihrem Gegenstand, Zuschnitt oder dem mit ihnen verbundenen Risiko über das hinausgehen, was in der KG häufiger geschieht.112 Compliance-Maßnahmen lassen sich nicht allgemein als gewöhnlich oder außergewöhnlich einordnen. Auch eine eindeutige Definition in einem gesellschaftsvertraglichen Katalog zustimmungspflichtiger Geschäfte wird kaum möglich sein, und es wäre angesichts der Vielfalt von Compliance-Maßnahmen auch nicht zweckmäßig, etwa für Tätigkeit im Bereich der „Compliance“ eine Zustimmungsbedürftigkeit festzulegen.113 Wie bei allen Geschäftsführungsmaßnahmen ist die Zustimmungspflichtigkeit daher im Einzelfall zu prüfen. Nach der gesetzlichen Regelung des §  164  HGB können die Kommanditisten dem Komplementär keine Weisungen, auch nicht mittels Gesellschafterbeschluss, erteilen.114 Abweichend kann der Gesellschaftsvertrag jedoch eine Weisungsbefugnis der Kommanditisten gegenüber der geschäftsführenden Komplementär-GmbH bestimmen.115 Sie können der Komplementär-GmbH die Verantwortung für die Compliance vollständig entziehen oder durch Gebote oder Verbote, die sie allgemein oder im Einzelfall erlassen können, auf die Compliance-Tätigkeit einwirken. Die Geschäftsführung muss den Weisungen grundsätzlich Folge leisten, behält aber stets die Legalitäts- und Legalitätskontrollpflichten; insoweit trägt sie weiterhin ihre ComplianceVerantwortung. Die bloße Weisungsbefugnis begründet für die Kommanditisten keine Pflicht zum Tätigwerden auf dem Gebiet der Compliance. Den Kommanditisten steht nach  §  166  HGB nur das Recht zu, eine abschriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses zu verlangen und dessen Richtigkeit unter Einsicht der Bücher und Papiere zu prüfen. Weitergehende Kontrollrechte räumt das Gesetz nicht ein.116 Doch ebenso wie der Gesellschaftsvertrag den Kommanditisten Wei110 Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 46 GmbHG Rz. 39; Kleindiek in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 387, 394; Fuhrmann, NZG 2016, 881, 884. 111 Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 46 GmbHG Rz. 250. 112 Grunewald in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2019, § 164 HGB Rz. 10. 113 Zur Zulässigkeit eines solchen Katalogs: Grunewald in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2019, § 164 HGB Rz. 10. 114 Roth in Baumbach/Hopt, 39. Aufl. 2020, § 164 HGB Rz. 1; Grunewald in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2019, § 164 HGB Rz. 23. 115 Roth in Baumbach/Hopt, 39. Aufl. 2020, § 164 HGB Rz. 7; Grunewald in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2019, § 164 HGB Rz. 23. 116 Im Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts vom 20.1.2021 ist folgender § 166 Abs. 1 Satz 2 HGB vorgesehen: „Daneben kann

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sungsbefugnisse einräumen kann, sind auch gesellschaftsvertragliche Erweiterungen der Kontrollbefugnisse zulässig.117 b) Zivilrechtliche Haftung GmbH-Gesellschafter mit Geschäftsführungsbeteiligung unterliegen grundsätzlich derselben Compliance-Verantwortung wie Fremdgeschäftsführer und haften daher nach den allgemeinen Grundsätzen des § 43 Abs. 2 GmbHG. Haftungsfreiräume genießen jedoch Alleingesellschafter-Geschäftsführer aufgrund der Willensidentität von Gesellschaftern und Geschäftsführung. Der faktische Geschäftsführer haftet für Verletzungen der Compliance-Pflichten ebenfalls nach Maßgabe des §  43 Abs.  2 GmbHG, soweit er deren Erfüllung nach außen sichtbar übernommen hat.118 Im ­Übrigen scheidet eine Gesellschafterhaftung aus § 43 Abs. 2 GmbHG aus.119 Weisungen allein rechtfertigen keinen Haftungsdurchgriff, soweit nicht die Voraussetzungen des existenzvernichtenden Eingriffs (§ 826 BGB) erfüllt sind.120 Da §§ 37, 38, 46 Nr. 5, 6 und Nr. 8 GmbHG der Gesellschafterversammlung das Recht zur Erteilung von Weisungen, zur Überwachung und Abberufung der Geschäftsführung sowie zur Entscheidung über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen primär in deren Eigeninteresse einräumen und gerade keine Pflichten begründen, scheidet zugleich eine Haftung der Gesellschafter wegen mangelnder Ausübung dieser Rechte aus.121 Allenfalls entfernt denkbar erscheint eine Haftung nach § 280 Abs. 1 BGB ausnahmsweise für den Fall, dass ein Gesellschafter treuwidrig gegen Maßnahmen stimmt, die der (Wieder-)Herstellung von Compliance im Unternehmen und der Kompensation des der Gesellschaft entstandenen Schaden dienen.122 Unberührt bleibt eine deliktsrechtliche Außenhaftung der Gesellschafter (§  823 Abs.  2 BGB iVm Schutzgesetz, §§  826, 830 BGB) oder eine strafrechtliche Verantwortlichkeit in Fällen der Mittäter- oder Gehilfenschaft.123 Strafbarkeitsrisiken als er von der Gesellschaft Auskunft über die Gesellschaftsangelegenheiten verlangen, soweit dies zur Wahrnehmung seiner Mitgliedschaftsrechte erforderlich ist, insbesondere, wenn Grund zu der Annahme unredlicher Geschäftsführung besteht.“ 117 Roth in Baumbach/Hopt, 39. Aufl. 2020, § 166 HGB Rz. 21. 118 Allg. Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 229. 119 Ulmer, ZHR 148 (1984), 391, 418 f.; aA Wilhelm, Rechtsform und Haftung bei juristischen Personen, 1981, S. 285 ff. 120 Fastrich in Baumbach/Hueck, 22.  Aufl. 2019, §  37 GmbHG Rz.  13; gegen Haftung aus Treupflicht Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 20.  Aufl. 2020, §  43 GmbHG Rz.  37; aA ­Ziemons in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 43 GmbHG Rz. 36 ff. 121 Zur Überwachung Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1149; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 46 GmbHG Rz. 194; Ganzer in Rowedder/Schmidt-Leithoff, § 46 GmbHG Rz. 50. 122 Reichert/Lüneborg, GmbHR 2018, 1141, 1149; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 46 GmbHG Rz. 194 (zur Überwachung); allg. zur Haftung bei treupflichtwidriger Stimmabgabe BGH v. 5.6.1975 – II ZR 23/74, NJW 1976, 191. 123 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 13 GmbHG Rz. 375 (zur Deliktshaftung).

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Compliance in mittelständischen Unternehmen

Unterlassungstäter scheiden dagegen ebenso aus wie eine Bußgeldhaftung. Entgegen dem auf den ersten Blick durchaus missverständlichen Wortlaut der Bestimmung unterfallen Gesellschafter nicht dem Ordnungswidrigkeitenverdikt des § 130 OWiG wegen Verletzung der Aufsichtspflicht.124 In der GmbH & Co. KG haftet die Komplementär-GmbH unabhängig von ihrer Eigenschaft als Geschäftsführerin der KG unbeschränkt für Verbindlichkeiten der KG aus einem Compliance-Verstoß. Der Kommanditist haftet nur in Höhe seiner Haftsumme für KG-Verbindlichkeiten. Seine Haftung ist ausgeschlossen, soweit er die Einlage geleistet hat, § 171 Abs. 1 HGB.

IV. Zusammenfassung 1. Die Pflicht zur Compliance trifft nicht nur große börsennotierte Aktiengesellschaften; vielmehr handelt es sich um ein allgemeines verbandsrechtliches Institut, das grundsätzlich auch für kleine und mittelständische Unternehmen Geltung beanspruchen kann. Präventive Compliance dient der Verhinderung künftiger Rechtsverstöße durch vorbeugende Maßnahmen. Repressive Compliance zielt auf das „Aufklären, Abstellen, Ahnden“ von rechtswidrigem Verhalten in der Vergangenheit. 2. Es gibt allerdings keine Pflicht zur Legalitätskontrolle um jeden Preis. Die Einrichtung eines Compliance-Systems muss verhältnismäßig sein und sich im Rahmen des „realistischerweise Zumutbaren“ bewegen und daher den Ressourcen der Gesellschaft Rechnung tragen. Bei der verhältnismäßigen Ausgestaltung der ComplianceOrganisation sind die konkreten Gegebenheiten maßgeblich, dazu zählen beispielsweise die Größe des Unternehmens, die betroffene Branche, der geographische Tätigkeitsschwerpunkt und die Häufigkeit von Verstößen in der Vergangenheit. 3.  Mittelständische Unternehmen unterscheiden sich nicht nur mit Blick auf die schiere Größe (Bilanzsumme, Zahl der Angestellten usw.) von Großunternehmen. Während bei letzteren AG oder SE verbreitete Rechtsformen sind, sind mittelständische Unternehmen typischerweise als GmbH und GmbH & Co KG organisiert. Dies erlaubt der Gesellschaft regelmäßig eine weitreichende Einflussnahme auf die für Compliance-Maßnahmen zu tätigenden Aufwendungen. Auch im Fall der NonCompliance unterliegen die Gesellschafter im Rahmen der Entscheidung, ob Organhaftungsansprüche geltend zu machen sind, nicht dem strengen Regime der für die AG entwickelten ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung. Allerdings können Mehrheitsbeschlüsse, die nicht dem Unternehmensinteresse entsprechen, treuwidrig und daher anfechtbar sein.

124 Vgl. nur Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 Rz. 25.

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Thomas Reichmann

Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen Das integrierte, an der Unternehmensgesamtplanung ­orientierte ­Risiko-Controlling Inhaltsübersicht 1. Status quo Risikomanagement 2. Die elementaren Bestandteile des RisikoControllings 3. Effektives Risiko-Controlling mit Kennzahlen

4. Skizze eines IT-gestützten Risiko-­ Controllings für familiengeführte ­Unternehmen 5. Perspektiven: Optimierung der risiko­ bezogenen Informationsversorgung durch Kennzahlennetze 6. Fazit

Das Risikomanagement ist in den großen, börsennotierten Unternehmen etabliert. Für mittelständische, oftmals familiengeführte Unternehmen stellt sich auf Grund ihrer besonderen Struktur insbesondere die Frage der betriebswirtschaftlichen Angemessenheit und Umsetzbarkeit. Der Beitrag skizziert den Status Quo des Risikomanagements für diese Unternehmen, so dass ein Risiko-Controlling als Bestandteil einer systemgestützten Controlling-Konzeption hier den geforderten Mehrwert stiften kann. Zudem wird ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen geboten. 1. Status quo Risikomanagement Seit der Einführung des KonTraG hat sich ein systematisches Risikomanagement eta­ bliert und weitestgehend ein Standard für dessen Umsetzung in den Unternehmen herausgebildet. Die Initiativen des Gesetzgebers sowie der wirtschaftsprüfenden Praxis können demnach als grundsätzlich erfolgreich bezeichnet werden. Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass diese Aussage insbesondere für die „großen“, börsennotierten Publikumsgesellschaften uneingeschränkt getroffen werden kann. Sowohl die vorgenannten Aktivitäten als auch die Blicke der Öffentlichkeit fokussieren zumeist auf eben diese Gesellschaften respektive diesen in Größe, Komplexität und Struktur ähnelnden Organisationen. Kleine und mittelständische Unternehmen werden zumeist über die Ausstrahlungswirkung mit der rechtlichen Notwendigkeit eines Risikomanagements konfrontiert, die mangelnde Klarheit hinsichtlich der Interpretation für den jeweiligen Betrieb führt jedoch dazu, dass für diese Unternehmen die betriebswirtschaftliche Sinnhaftigkeit eine größere Rolle bei der Implementierung risikobezogener Steuerungsmechanismen einnimmt.

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Thomas Reichmann

Damit erweitert sich für das Controlling in diesen Unternehmen die essenzielle ­Fragestellung „Führen Sie mit den richtigen Informationen?“ um eine explizite risi­ kobezogene Komponente. Dass diese Erweiterung notwendig ist, wird heutzutage (auch ohne die vorliegende Corona-Krise bemühen zu müssen) von keiner verantwortungsbewusst handelnden Geschäftsführung mehr negiert werden. Dieser Beitrag setzt sich mit der Fragestellung auseinander, welche Steuerungsgrößen ein ­mittelständisches Unternehmen für ein entscheidungs- und erfolgsorientiertes Risiko-Controlling benötigt und wie eine moderne IT-Umsetzung ausgestaltet werden kann. Für die in den Unternehmen tätigen Controller ist diese Fragestellung auch deshalb  virulent und diffizil, weil nicht auf eine Standardlösung zurückgegriffen werden  kann. Mit anderen Worten: Während es z.B. für DAX-notierte Unternehmen  im  Rahmen der SAP-Software sehr gute Lösungen und Benchmarks zum Risiko-Controlling gibt, ist das Angebot im Mittelstand heterogener. Dies erschwert die Umsetzung in den jeweiligen Unternehmen und stellt für die Controller eine ­besondere Herausforderung dar (die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum Rollenverständnis der Risiko-Controller finden Sie in dem Beitrag von Vanini/ Hunziker1). 2.  Die elementaren Bestandteile des Risiko-Controllings Bestenfalls agiert das Risikomanagement vorausschauend und proaktiv: Risiken werden im Vorfeld bereits erkannt und durch entsprechende risikosteuernde Maßnahmen wird dafür gesorgt, dass potenzielle Risken nicht eintreten. Sollte der Eintritt eines Risikos dennoch nicht zu verhindern sein, oder das Risiko sogar bewusst eingegangen werden, dann ist es die Aufgabe des Risikomanagements, dessen Auswirkungen vorab bereits durch vorbeugende Maßnahmen soweit abzuschwächen, dass der wirtschaftliche Schaden akzeptabel ist. Beide Vorgehensweisen verlangen eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Risikosituation des Unternehmens. Demzufolge sind ein permanentes Risikomanagement und Risiko-Controlling notwendig, welches sich in zwei Teilbereiche untergliedern lässt: – Gestaltung der Ablauforganisation: Wie sind die Prozesse auszugestalten, damit die oben genannten Ziele erreicht werden? Welche Instrumente kommen hierbei zum Einsatz? – Gestaltung der Aufbauorganisation: Welche Mitarbeiter „tragen“ das Risikomanagement? Wie sind Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung im Unternehmen verteilt? Eine stringente, konsistente Aufbau- und Ablauforganisation des Risikomanagements sind dabei die Voraussetzung für eine valide Planung und ein aussagefähiges

1 Vanini/Hunziker, Kompetenzprofile von Risikomanagern. Anforderungen nach COSO ERM und Umsetzungsstand, Controlling 32 (2020), 323-329. 

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Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen

Reporting. Hinsichtlich der Ablauforganisation sind folgende Phasen zu unterscheiden: – Risiko-Identifikation – Risiko-Beurteilung – Risiko-Steuerung – Risiko-Überwachung Im Rahmen der Risikoidentifikation wird ausgehend von einer Risiko-Inventur unter Verwendung verschiedener Instrumente und Methoden ein allgemeines Risiko-Profil des Unternehmens (Abb. 1) erstellt. Wie diese und die weiteren Phasen – beispielhaft in einem börsennotierten Unternehmen – durchlaufen und ausgestaltet werden können, kann im Beitrag von Verhoeven et al. nachgelesen werden.2 Für entsprechende weitergehende Ausführungen auch zur Aufbauorganisation des Risikomanagements sei auf entsprechende Fachbücher3 und für das Risiko-Controlling auf das Standardwerk zum Controlling von Reichmann et al.4 verwiesen.

Politik/ Gesetzgebung Natürliche Umwelt Kapitalbeschaffung

Markt/ Kunde

Konkurrenz/ Technologie

Externe Risiken

Beschaffung

Logistik Produktion

Leistungswirtschaftliche Risiken

Absatz

Unternehmensrisiken Finanzwirtschaftliche Risiken Liqidität

Kundenbonität

Planung Risiken aus Management und Organisation Personal Managementqualität Organisationsstruktur

Abb. 1: Risikoidentifikation: Allgemeines Risikoprofil5

2 Verhoeven/Riesch/Diederichs, Risikomanagement im Aurubis Konzern. Basis für ein agiles Management in volatilen Zeiten, Controlling 32 (2020), 323-329.  3 Diederichs, Risikomanagement und Risikocontrolling, 4. Aufl. 2018; Gleißner, Grundlagen des Risikomanagements. Mit fundierten Informationen zu besseren Entscheidungen, 3. Aufl. 2017; Vanini, Risikomanagement. Grundlagen – Instrumente – Unternehmenspraxis, 2012.  4 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017. 5 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017, S. 644.

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Thomas Reichmann

Wie oben bereits ausgeführt, ist für mittelständisch geprägte Unternehmen insbesondere der betriebswirtschaftliche Nutzen maßgeblich. Unternehmerisches Handeln besteht in der Nutzung von Chancen und dem Management der damit verbundenen Risiken. Die allein risikoorientierte Betrachtung von Entwicklungen, die den Erfolg oder gar die Existenz eines Unternehmens gefährden, ist daher unvollständig, solange sie den Zusammenhang mit den risikobegründenden Chancen nicht einbezieht. Dementsprechend ist auch eine singuläre Betrachtung des Risikomanagements nicht sinnvoll. Notwendig ist eine Integration des Risikomanagements in das Controlling (anknüpfend hierzu auch der Beitrag von Gleißner6). Ein betriebswirtschaftliches Modell unternehmerischen Handelns muss demnach den Zusammenhang von Chancen und Risiken abbilden, ohne dessen Komplexität sowie die mangelhafte Strukturierbarkeit des Risikophänomens zu vernachlässigen. Dies bedeutet auch, dass im Risikomanagement analog zum Controlling sowohl eine strategische als auch eine operative Komponente zu betrachten ist. Eine integrierte Betrachtung von Chancen und Risiken unter Berücksichtigung ihrer Zusammenhänge ermöglicht im Bereich des strategischen Managements die in der Abb. 2 dargestellte Balanced Chance and Risk Card (BCR-Card®), die auf einer Synthese von Balanced Scorecard und Risikomanagement basiert. Im Unterschied zur Balanced Scorecard werden im Rahmen der BCR-Card Chancen und Risiken gleichzeitig erfasst und die vier traditionellen Perspektiven der Balanced Scorecard durch Strategische Erfolgsfaktoren ersetzt (z. B. Finanzen, Kunden/Absatzmarkt, Produkt, Prozesse und Personal) sowie durch Strategische Ziele konkretisiert (zu den Implikationen für ein risikoorientiertes Kundenbeziehungsmanagement siehe Burgartz/Krämer7). Als dokumentierende Übersicht beinhaltet die BCR-Card infolgedessen eine systematische Zusammenstellung wesentlicher Kennzahlen und Indikatoren und stellt entscheidungsrelevante Informationen hinsichtlich der Wert- und Geschäftsentwicklung des Unternehmens bereit. Im Chancen beschreibenden Bereich werden jedem Strategischen Ziel eine bzw. mehrere Kennzahlen zugeordnet, für die neben einer Gegenüberstellung von IST und Budget des aktuellen Betrachtungs-zeitraums auch ein Vergleich zwischen dem aktuellen Wert und dem Vorjahreswert erfolgt. Diese Betrachtung wird um Werte für den Planungshorizont von bspw. drei Jahren ergänzt. Der daran anschließende, durch ein Balkendiagramm visualisierte, Realisierungsstand beschreibt die Erreichung der Ziele zum aktuellen Betrachtungszeitpunkt. Im Rahmen der mit den Strategischen Zielen verbundenen Risiken erfolgt eine Einschätzung des jeweiligen Risikos einerseits durch eine qualitative Einschätzung von „nicht signifikant“ bis „bedrohlich“ und andererseits hinsichtlich der Auswirkungen auf das Ergebnis. Darüber hinaus erfolgt eine Dokumentation der im Zusammenhang mit diesem Risiko eingeleiteten Maßnahmen.

6 Gleißner, Integratives Risikomanagement: Schnittstellen zu Controlling, Compliance und Interner, Controlling 32 (2020), 323-329. 7 Burgartz/Krämer, Risikoorientiertes Kundenbeziehungsmanagement. Fokus auf die Kausalkette im Kundenbeziehungsmanagement, Controlling 32 (2020), 323-329.

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Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen

Strategische Ziele – Perspektivzuordnung – fixiert im Strategiepapier Kennzahlen & Indikatoren – Messung der Zielerreichung durch Abgleich mit Plandaten – Früherkennung durch Indikatoren Risiokomanagement – Identifikation – Zuordnung von Risiken – Bewertung & Analyse Projekte & Maßnahmen – Zuordnung von zielerreichenden bzw. risikosteuernden Maßnahmen – Beschreibung des Zielbezugs und Fortschritts

Abb. 2: Die Balanced Chance and Risk Card (in Anlehnung an Reichmann et al., 2017, S. 662)8

Im Mittelstand kann eine BCR-Card mit überschaubarem Umfang umgesetzt werden; hier ist in der Praxis jedoch noch ein deutlicher Mangel zu attestieren. Empfehlenswert wäre es, die BCR-Card im Sinne einer Strategischen Checkliste zu nutzen, die einen aktuellen Überblick der Strategischen Ziele, ihrer Erreichung, der damit verbundenen Risiken und der eingeleiteten bzw. geplanten Maßnahmen bietet. Dies kann – falls entsprechende Ressourcen nicht zur Verfügung stehen – in einem ersten Schritt auch ohne Anbindung an die jeweiligen Vorsysteme erfolgen. Wesentlich ist die Integration von Chancen- und Risikomanagement hinsichtlich der Strategie, die einen Einstieg in eine umfassende, zielorientierte und koordinierende Steuerung des Unternehmens ermöglicht. 8

8 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017, S. 662.

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Thomas Reichmann

3.  Effektives Risiko-Controlling mit Kennzahlen Neben dieser strategischen Komponente hat sich das Risikomanagement insbesondere im operativen Berichtswesen niederzuschlagen. Entscheidungsrelevante Informationen für das Top-Management sind hierbei ohne den Rückgriff auf Kennzahlen heute nicht mehr denkbar. Dabei werden (Einzel-) Kennzahlen bzw. Key Performance Indicators zu Recht kritisch betrachtet, da die Konzentration auf nur eine Spitzenkennzahl zu einem erheblichen Kollateralschaden führen kann. Ebenso kontraproduktiv sind „Kennzahlenfriedhöfe“ im Reporting, welche  – gerade in der heutigen Zeit  – zu einem gefürchteten „Information Overload“ der Führungskräfte führen können: Das Reporting hält zu viele Informationen vor, wesentliche Sachverhalte bleiben dennoch (oder deswegen) unentdeckt. Im Gegensatz zum Strategischen Management, wo in einem ersten Ausbauschritt z.B. bei der Implementierung einer BCR-Card, die Anbindung der Vorsysteme unterlassen werden kann, ist dies auf der operativen Ebene nicht möglich. Unzureichende Kennzahlendefinitionen, die Verwendung einzelner Kennzahlen anstatt sachlogisch aufgebauter Kennzahlensysteme und die mangelnde Qualität der Daten bereits bei ihrer primären Erfassung konterkarieren ansonsten eine entscheidungsrelevante Informationsversorgung. Solche Kennzahlen suggerieren in Berichten eine nicht gegebene Informationslage („Scheingenauigkeit“) und lassen die darauf basierenden Managemententscheidungen zu einem (teilweise unwissentlichen) Glücksspiel werden. Um hier valide Informationen zu erhalten und die oben beschriebenen Missstände zu verhindern, ist eine systemgestützte Controlling-Konzeption notwendig. Kennzahlen sind die logische Konsequenz der prozessual vorgelagerten und strukturell übergeordneten Planungs-, Steuerungs- und Kontroll-Logik, um in einer immer komplexer werdenden  – bzw. mittels einer entsprechenden IT-Unterstützung auch immer besser modellierbaren  – Informations- und Planungsstruktur den entscheidenden Überblick zu erhalten und damit die Entscheidungsfähigkeit in einem Unternehmensgesamtplanungs- und -steuerungssystem zu gewährleisten. Der Mensch ist in seiner Entscheidungsfähigkeit nicht selten genial, aber doch nur mit einer begrenzten „Speicher- und Verarbeitungsfähigkeit“ komplexer Daten und Interdependenzen ausgestattet. Komprimierte Informationen können Entscheidungen hier zielführend vorbereiten. Sachlogisch zu einem System verknüpfte Kennzahlen sind am geeignetsten, um bei komplexen Entscheidungsnotwendigkeiten aus verschiedenen Bereichen (z.B. die funktionalen Teilbereiche Absatz, Logistik, Finanzen etc.) den Überblick über diese Entscheidungsbereiche im Einzelnen und das Unternehmen in Gänze sicherzustellen. Die kennzahlengestützte Unternehmenssteuerung wurde daher in den vergangenen Jahrzehnten stetig weiterentwickelt und an neue Anforderungen angepasst. So entwickelte sich aus dem Rentabilitäts-Liquiditäts-Jahresabschlusskennzahlensystem („RLSystem“) durch die Berücksichtigung branchen- und größenspezifischer Beson­ derheiten eine RL-Kennzahlenfamilie, welche ausgehend von einem systembildenden Rentabilitäts- und Liquiditäts-Teil spezifische Sonderteile enthält. So „zieht“ sich das RL-Kennzahlensystem durch das gesamte Unternehmen und hält auch (Spitzen-) 394

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Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen

Kennzahlen zum z.B. Logistik-Controlling, Produktions-Controlling, MarketingControlling und Beschaffungs-Controlling vor. Der Praxis dienen diese wissenschaftlichen Vorarbeiten als Blaupausen für die Applikation in den jeweiligen Unternehmen.9 Die Abb. 3 stellt das RL-Kennzahlensystem dar, welches in ähnlicher Form auch für den (größeren, international aufgestellten) Mittelstand als Blaupause dienen kann. Für eine erweiterte risikoorientierte Betrachtung können die Informationen des Risikomanagements in einem RL-R(isiko)-Kennzahlensystem abgebildet werden; dieses wird als risikoorientierte Erweiterung des RL-Kennzahlensystems im fünften Kapitel dieses Beitrags erläutert und in der Abb. 6 visualisiert. Auf dieser Basis kann auch ein wöchentliches oder quartalsweises Risiko-Reporting konzipiert werden. Die Qualität des RL-Kennzahlensystems sowie des RL-R-Kennzahlensystems kann nur sichergestellt werden, wenn man das Controlling als eine rechnungswesen- und vorsystemgestützte Systematik zur Verbesserung der Entscheidungsqualität auf allen Führungsebenen der Unternehmung begreift. Diese Betrachtungsweise ist deshalb so wichtig, weil nur durch eine eindeutige, konsistente und widerspruchsfreie Informationsbeschaffung und Informationsbearbeitung quantitativ erfassbare Sachverhalte auch in der nötigen Qualität in konzentrierter Form dargestellt werden können. Dies bedeutet, dass die Informationen konsistent aus den Vorsystemen abgeleitet werden müssen (hierzu siehe auch Gliederungspunkt 2 dieses Beitrags). Durch die konzeptionelle Integration von den Abrechnungs- und Dispositionssystemen wird der Notwendigkeit verdichteter Informationen unter der Berücksichtigung von Drill-Down-Analysepfaden Rechnung getragen, was einen Grundpfeiler der modernen Datenverarbeitung darstellt. Das Risiko-Controlling ist also umfassend zu denken, sodass auch die Kennzahlen des RL-Kennzahlensystems mit dem RL-R-Kennzahlensystem zu verknüpfen sind. Rentabilitätskennzahlen, Liquiditätskennzahlen und Risiko-Kennzahlen sind aus einem Gesamtsystem abzuleiten. Die moderne Informationstechnologie kann hier bereits Systeme vordenken, welche eine starre sachlogische Verknüpfung teilweise aufheben können, so dass das Management und der Controller auf ein auf das jeweilige Entscheidungsproblem ausgerichtetes Kennzahlennetzwerk zugreifen können, in dem wesentliche Kennzahlen interdependent vorgehalten werden.

9 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017, S. 86 ff.

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Betriebsergebnis × 100 Gesamtkapital (betriebsbedingt)

Jahresüberschuss/ Jahresfehlbetrag + Zinsaufwand × 100 Gesamtkapital

Eigenkapitalrentabilität Jahresüberschuss/ Jahresfehlbetrag × 100 Eigenkapital

Beteiligungsertrag + Zinsertrag ./. Beteiligungsaufwand

Außerordentliches Ergebnis

Außerordentl. Ertrag ./. Außerordentl. Auwand

Betriebsleistung ./. Kosten

Betriebsergebnis

Erzeugnisbestand ×T Umsatz

Erzeugnisumschlagszeit

Return on Investment

Finanzergebnis

Gesamtkapitalrentabilität

Rentabilitäts-Kennzahlen Return (KPI)

Jahresüberschuss/ Jahresfehlbetrag Ordentl. Betriebsergebnis + Ordentl. Finanzergebnis + Außerordentl. Ergebnis

Materialbestand ×T Materialeinsatz

Materialumschlagszeit

Umsatz Gesamtkapital (betriebsbedingt)

Kapitalumschlagshäufigkeit

Forderungsbestand ×T Umsatz

Forderungsumschlagszeit

Betriebsergebnis × 100 Umsatz

Umsatzrentabilität

Allgemeiner Teil

Thomas Reichmann

Abb. 3: RL-Kennzahlensystem, Rentabilitäts- und Liquiditätsteil10

10 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017, S. 58 f.

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Laufende Einzahlungen ./. Laufende Auszahlungen

Gesamte Verbindlichkeiten Cash Flow (genau)

Liquide Mittel × 100 kurzfristige Verbindlichkeiten

Disponierbare Einzahlungen ./. Disponierbare Auszahlungen

Eigenkapital + langfristiges Fremdkapital Anlagevermögen × 100

Anlagendeckung

wöchentlich

monatlich

vierteljährlich

jährlich

Berichtsintervall

Liquiditätskoeffizient

Disponierbarer Einzahlungsüberschuss

Intervallfinanzplanung

Laufender Einzahlungsüberschuss

Umlaufvermögen ./. kurzfristige Verbindlichkeiten

Jahresüberschuss/ Jahresfehlbetrag + Abschreibungen +/./. Veränderungen der Rückstellungen

Dynamischer Verschuldungsgrad

Working Capital

Anfangsbestand an liquiden Mitteln + Ges.-Einzahlungen ./. Ges.-Auszahlungen

Cash Flow

Liquiditäts-Kennzahlen Liquidity (KPI)

Liquide Mittel

Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen

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Thomas Reichmann

4. Skizze eines IT-gestützten Risiko-Controllings für familiengeführte Unternehmen In den vorherigen Abschnitten wurde beschrieben, warum eine inte­grierte Betrachtung des Risikomanagements notwendig ist und wie diese konzeptionell ausgestaltet werden kann. Abschließend soll nun die technische Dimension unter Berücksichtigung der Voraussetzungen und Herausforderungen im Mittelstand beleuchtet werden. Die mehrdimensionale Controlling- und Informationskonzeption (auch als „Controlling-Pyramide“ bezeichnet) stellt eine ganzheitliche, durchgängige Konzeption einer systemgestützten Controlling-Konzeption dar. Hierbei eröffnet deren dreidimensionale Ausrichtung die Möglichkeit, einerseits funktionsbezogene und -übergreifende Bereiche des Controllings zu vereinen sowie andererseits die Daten- und Informationsaggregation in Verbindung mit verschiedenen Zeithorizonten vorzunehmen. Die funktionsbezogene Dimension beinhaltet hier auch die für das Risikomanagement erforderlichen Informationen. Neben der entsprechenden theoretisch sauberen Konzeption ist eine „saubere technische“ Umsetzung unter Berücksichtigung der sich stetig weiterentwickelnden Möglichkeiten der IT für die Qualität des Risiko-Controllings von hoher Bedeutung. Ein leistungsfähiges Controlling setzt eine entsprechend konfigurierte Datenbasis (z.B. heute in Form eines Data Warehouse) voraus, welche die in der Praxis anzu­ treffende heterogene IT-Landschaft der Vorsysteme miteinander vereint und einem entsprechenden Berichtswesen zugänglich macht (ein Beispiel aus der Praxis liefern Wiesehahn et al.11). Die multidimensionale Konzeption eines Data Warehouse ermöglicht es dann, dass nahezu beliebig viele themenbezogene Berichtswürfel gebildet ­werden können, welche die einzelnen Elemente der systemgestützten ControllingKonzeption abbilden (Rentabilitäts-, Liquiditäts- und Risiko-Kennzahlen, Kostenrechnungs-Kennzahlen, Logistik-Kennzahlen etc.; Abb. 4). Die Passgenauigkeit zwischen dem Fachkonzept und dem IT-Konzept auf der informationstechnologischen Ebene kann dabei als ein Erfolgskriterium bezeichnet werden. Das Risiko-Controlling ist für die risikobezogene Informationsversorgung der Führungskräfte zuständig und definiert diesbezüglich die entscheidungsrelevanten Informationen im Rahmen einer betriebswirtschaftlichen Konzeption. So ergeben sich branchen- und unternehmensspezifische Merkmale eines Risikomanagement-Systems, welche auch das Risiko-Reporting prägen. Ein integriertes Risikomanagement hat einerseits sicherzustellen, dass die risikobezogenen Informationen auf Transaktions- und Dispositionsebene sowie in einem aggregierten Risikobericht auch dem TOPManagement zur Verfügung stehen. Dazu ist es unabdingbar, dass spezifische risikobezogene Informationen in einem separaten Datenwürfel abgelegt sind. Hier sind spezifische Informationen über alle Prozessschritte des Risikomanagements hinweg sowie wesentliche Daten der Risikomanagement-Organisation zu erfassen. Dies sind beispielhaft für Informationen aus der Risikoidentifikation:

11 Wiesehahn/Habich/Nikodem, BI-gestütztes Controlling in KMU: Digitalisierung mit Augenmaß bei Schüt-Duis Fenster & Türentechnik, Controlling 27 (2015), 323-329.

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Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen

Abb. 4: Integriertes Risiko-Controlling in der systemgestützten Controlling-Konzeption (in Anlenung an Reichmann et al.)12 12 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017, S. 77. 

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Thomas Reichmann

– die Bezeichnung des Risikos (nebst Primärschlüssel), – die Einordnung in die Risikolandschaft des Unternehmens und – die Zuordnung der Risiko-Manager (als beispielhafte Schnittstelle auch zur Risikomanagement-Organisation). Auf dieser Basis können die Informationen dann in einem separaten Risiko-Berichtswesen ausgewertet werden. Ein integriertes Risiko-Reporting setzt voraus, dass die Informationen des Risikomanagements nicht ausschließlich separat behandelt werden. Nicht nur die Risiko-Beurteilung verlangt hier bereits die Verknüpfung zu Informationen des Kosten- und Erfolgs-Controllings, der Finanz- und Anlagenbuchhaltung sowie des Finanz-Controllings. Werden die im Data Warehouse vorgehaltenen themenbezogenen Berichtswürfel zusammengefasst und im Reporting genutzt, wird die Möglichkeit einer integrierten Denkweise  – charakteristisch für die systemgestützte Controlling-Konzeption  – eröffnet. In dieser sind risikobezogene Informationen ein wesentlicher Bestandteil eines Führungs- und Informationssystems, welches kennzahlengestützt in komprimierter Form über wesentliche Informationen berichtet. In einem wie in Abb.  5 visualisierten RL-R-Kennzahlensystem können risikobezogene Sachverhalte einerseits von der obersten Führungsebene bis zu den unteren Ebenen im Sinne eines „drill-downs“ nachverfolgt und andererseits zielbezogen verdichtet werden. Damit stellt eine dermaßen informationsorientierte Konzeption die risikobezogenen Informationsflüsse im Unternehmen in das Zentrum der Betrachtung, die dann mittels geeigneter Datenverarbeitungs- und Informationstechnologie zur Planung, Steuerung und Kontrolle durch die Unternehmensführung genutzt werden können.13 Die benötigten Technologien stellten in der Vergangenheit einen für den Mittelstand limitierenden Faktor dar. Mittlerweile stellen auf den Mittelstand fokussierende Software-Hersteller Lösungen für ein risikobezogenes Reporting zur Verfügung, welche mittels eines Data Warehouse auch für diese Unternehmen zugänglich sind. Das TOP-Management wird durch OLAP-basierte Frontend-Systeme und Dashboards zur Datenanbindung, -verwaltung, -auswertung und -nutzung umfassend informiert.14 So ist der von der Diamant Software GmbH entwickelte Business Connector bewusst für das Controlling-Cockpit entwickelt worden, weil hier auch aus dritten Planungsund Dokumentationsteilen über die Schnittstelle von den Vorsystemen wichtige Informationen für das Risiko-Controlling, genauer für die Risikoplanung, übernommen werden können.

13 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017, S. 159 ff.; Baumöl/Kißler in Wiesehahn/Kißler (Hrsg.), Erfolgreiches Controlling. Theorie, Praxis und Perspektiven. Prof. Dr. Thomas Reichmann zum 80. Geburtstag, 2018, S. 21-38. 14 Schön, Planung und Reporting im Mittelstand  – Grundlagen, Business Intelligence und Mobile Computing, 2012, S. 277.

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Allgemeiner Teil

1

∑ Risikobereiche 1



Q

P Finanzrisikobereiche

Finanz-Risiken

Markt-Risiken

Sonderteil

m

B

m

1

N

+ SHN

1

∑ HRM

L

Personal-Risiken

Netto Risk Map

∑ EW – ∑ Maßnahmen 1

1

∑ EW

m

Risiken

1



E

Einkaufsrisikobereiche

Einkaufs-Risiken

1



10

Top 10 Risiken

Risikoerwartungswert des Unternehmens

Brutto-/Netto-Risiko

Brutto Risk Map

Allgemeine Geschäftsrisiken Finanzrisiken Führung/Organisation Marktrisiken Rechtliche Risiken Technische Risiken

Risiko Kategorie

R (Profitability) L (Liquidity) R (Risk)

1

∑ Produktionsrisikobereiche

X

Produkt-Risiken

1

∑ Länder

k

Segment-/Länder-Risiko

Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen

Abb. 5: RL-R-Kennzahlensystem, Risiko-Reporting15

15 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017, S. 152.

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5. Perspektiven: Optimierung der risikobezogenen Informationsversorgung durch Kennzahlennetze Kennzahlennetze können daher zukünftig eine weitere Variante der Kennzahlensysteme darstellen. Diese haben dann den großen Vorteil, dass sie aufgrund der ihnen zu Grunde liegenden integrierten Planung wichtige Aussagen – zunächst wie üblich im Rahmen eines Kennzahlensystems – vorhalten, die entscheidungs- und ergebnisrelevant für das Unternehmen sind. Dabei können sie aus wesentlichen, unterschiedlichen Unternehmensbereichen in konzentrierter Form Aussagen zur Unternehmensplanung und -entwicklung geben. Der Vorteil von Kennzahlennetzen ist, dass sie in der zeitlichen Dimension nicht nur statisch, sondern dynamisch und damit auch über mehrere Perioden hinweg in ihrer strukturellen Entwicklung vorgestellt werden können. Daher können sie auch als dynamische Kennzahlennetze bezeichnet werden. Solche Kennzahlennetze eröffnen durch ihren hinsichtlich der ausgewählten Kennzahlen selektiven und – entsprechend der abgebildeten sachlogischen Verknüpfungen zwischen diesen Kennzahlen – zugleich integrativen Charakter einen neuen Blick auf das Unternehmen. Hierzu ein pragmatisches Beispiel: Auf Basis einer integrierten Unternehmensplanung werden der Absatz und hieraus abgeleitet der Umsatz zunächst auf der Basis statistischer oder mathematischer Verfahren ermittelt. Die Komplexität der hierbei zum Einsatz kommenden Instrumente sollte insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen des Mittelstands mit Augenmaß gewählt werden. In einer von Globalisierung und Internationalisierung geprägten Welt zeigen sich insbesondere in Deutschland mittelständische Unternehmen in der Lage, die sich damit rasch verändernden Umfeldbedingungen für den geschäftlich Erfolgt zu nutzen. Reichmann/Kißler/Baumöl haben die zwölf treibenden Kräfte beschrieben, von denen im Folgenden sechs wesentliche Faktoren nebst hieraus erwachsenen Risiken skizziert werden: 1. Interdependenzen zwischen den Wirtschaftsräumen (Anfälligkeit der Wertschöpfungsketten für externe Schocks) 2. Wertschöpfungsketten umfassen Schwellen- und Entwicklungsländer (mit entsprechenden wirtschaftlichen und politischen Risiken) 3. Volatilität bei Rohstoffpreisen und Wechselkursänderungen (Zunahme der Risiken für Absatz und Investition) 4. „Nachhaltigkeitsdebatte“ und die Reaktion der Politik (Gefahr irrationaler politischer Entscheidungen, mangelnde Stabilität des Umfelds) 5. Fachkräftemangel (Sicherung einer günstigen Kostenstruktur, Vermeidung von Engpässen) 6. Politische Risiken im Euro-Währungsraum (divergierende Einstellungen in der Migrationspolitik, Rolle der EZB und Stabilität des Euros).16 16 Reichmann/Kißler/Baumöl, Controlling mit Kennzahlen. Die systemgestützte ControllingKonzeption, 9. Aufl. 2017, S. 580 ff.

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Risiko-Controlling für mittelständische Unternehmen

Moderne IT-Lösungen bieten die Möglichkeit, auch komplexe Planungsprämissen zu berücksichtigen und fundierte Simulationen durchzuführen. Grundlage der Simulationen sind entsprechende Planungsmodelle. Diese können z.B. mittels Big Data identifizierte Kausalzusammenhänge berücksichtigen. Zusätzlich sollte jedoch auch die Expertise des Controllers mit einem entsprechenden betriebs- und volkswirtschaftlichen Sachverstand einbezogen werden. Ausnahmesituationen, wie z.B. die momentane Pandemie („Corona-Krise“), erfordern eine besondere Art der Intelligenz, die durch die Künstliche Intelligenz bisweilen nur unterstützt werden kann. So kann für den weiteren Verlauf der Krise und deren Implikationen die Infektionsrate als eine zentrale Kennzahl angesehen werden. Durch die exponentielle Entwicklung kann eine Infektionsrate von 0,5 ein baldiges Ende der Krise in bestimmten Volkswirtschaften (Deutschland, Italien) bedeuten, während deutlich höhere Infektionsraten (z.B. in den USA) gravierende Auswirkungen auf die Produktivität und Nachfrage haben werden. Ein international aufgestelltes Unternehmen könnte in einem entsprechend aufgestellten Planungsmodell unterschiedliche Prämissen berücksichtigen und die Auswirkungen auf den Absatz und den Umsatz simulieren. In Kombination mit einem entsprechenden Erfolgs-Controlling (Stichwort Fixkostenmanagement) sowie dem RL-Kennzahlensystem können zudem mittels Sensitivitätsanalysen kritische Grenzwerte identifiziert und entsprechende risikosteuernde Maßnahmen rechtzeitig ergriffen werden. Von den Größen Absatz bzw. Umsatz ausgehend werden in einem weiteren Schritt – und hier kommen dann die Kennzahlennetze zum Einsatz  – für mehrere Jahre simultan die mit diesen Größen verbundenen Spitzenkennzahlen aus der Produktion, der Logistik und der Finanzierung zu einer Gesamtunternehmensplanung ermittelt. Die Auswahl der entsprechenden Kennzahlen innerhalb des Netzwerks kann dann gemäß der jeweiligen Entscheidungssituation erfolgen. Sind diese Verknüpfungen einmal „konzeptionell vorgedacht“, so können diese bei sich verändernden Planungsprämissen auf „Knopfdruck“ neu berechnet werden, was insbesondere bei disruptiven Entwicklungen von großem (zeitlichen) Vorteil ist. In der Abb. 6 wird das grundsätzliche gedankliche Konstrukt einmal visualisiert. Werden die Kennzahlennetze dynamisch und mehrperiodisch angelegt, so können Entwicklungen auch in ihrer zeitlichen Dimension nachverfolgt werden. Wir erleben diese Diskussion momentan hinsichtlich des erwarteten Wirtschaftswachstums im Jahr 2021, welches sehr stark vom weiteren Verlauf des aktuellen Wirtschaftsjahres einerseits und der Fähigkeit der Volkswirtschaft zur Regeneration andererseits abhängt. Die „Intelligenz“ solcher Interdependenzen innerhalb eines das Planungssystem berücksichtigenden Modells liegt in der vorgedachten Struktur zur Anlage eines der jeweiligen Entscheidungssituation entsprechenden Kennzahlennetzes, so dass diese den Charakteristika eines aus der Neuroinformatik bekannten Neuronalen Netzes entsprechen. Als neuronales Kennzahlennetz kann demnach ein mehrperiodischer, dynamischer Verbund aus Spitzenkennzahlen verschiedener Unternehmensbereiche (z.B. Gewinn, Produktionskapazität, Auslastung, Absatz, Umsatz) verstanden werden, wenn deren Interdependenzen auf der Basis von Planungsprämissen sachlogisch hergeleitet und in einem IT-System vorstrukturiert sind. Änderungen der Planungs403

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Thomas Reichmann

Abb. 6: RL-R-Kennzahlennetze

prämissen können dann kurzfristig antizipiert und entsprechende (risikosteuernde) Maßnahmen ergriffen werden. Selbstredend befinden sich auch in der Betriebswirtschaftslehre und im Controlling solche Lösungen noch im Aufbau. Es lohnt sich jedoch, die Notwendigkeit solcher Entwicklungen vom zukünftigen Bedarf der Praxis einerseits und den technischen Möglichkeiten andererseits aus zu denken. Eng damit verbunden ist jedoch auch eine Diskussion hinsichtlich der Kompetenzen, Fähigkeiten und Rollenbilder von Managern und Controllern, welche zuletzt eher technisch geführt wurde, vor dem Hintergrund der oben dargestellten Problematik aber wieder eine stärkere konzeptionelle Komponente erfahren sollte. Ausreichend rasche Entscheidungen des Managements werden in Zukunft nur noch möglich sein, wenn logisch sauber zwischen dem „Ent404

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scheider“ – also dem Manager – und dem Informationsbeschaffer und Vorbereiter der Entscheidung – dem Controller – unterschieden wird. Zugleich wird noch stärker darauf geachtet werden müssen, dass der Controller komplexe Entscheidungsgrundlagen sauber vorstrukturiert, selbst den Überblick über die gesamten komplexen Zusammenhänge hat und die Interdependenzen in einem kennzahlengestützten Con­ trolling-Cockpit entsprechend gut verstehbar präsentiert werden. 6. Fazit Die vorgestellten Lösungen sind bereits jetzt konzeptionell und technisch mit überschaubarem Aufwand in familiengeführten Unternehmen umsetzbar. Wesentlich ist jedoch, dass sich (auch) dieser (identifizierten) Risiken präventiv angenommen wird. 405

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Einzelwirtschaftlich können in Form von differenzierten Planungen und Simula­ tionen bereits viele  – übliche  – Risiken sehr gut gesteuert werden. Auf Grund der begrenzten Güte menschlicher Entscheidungen bei komplexer werdenden Entscheidungsmodellen wird die sich momentan abzeichnende Option IT-gestützter Kenn­ zahlen in mehrperiodischen (dynamischen) Kennzahlennetzen für Manager und Controller eine zunehmende Relevanz haben  – eine rechtzeitige Berücksichtigung ist empfohlen.

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Zur Geschäftsführer-Abberufung in der paritätischen ­Zwei-  Mann-GmbH Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Geschäftsführer-Abberufung in der ­paritätischen Zwei-Mann-GmbH 1. Freie Abberufbarkeit gemäß § 38 Abs. 1 GmbHG 2. Abberufbarkeit gemäß § 38 Abs. 2 GmbHG 3. Einschränkungen a) Hälftige Beteiligung b) Treuepflicht c) Wichtige Gründe III. Beschlussfassung 1. Präsenz oder schriftlich 2. Stimmrecht des Betroffenen



3. Nachschieben von Gründen 4. Verwirkung 5. Schwebezustand

IV. Rechtslage bei Holdinggesellschaften 1. Geltung für mittelbare Gesellschafter 2. Anfechtungsbefugnis des mittelbaren Gesellschafter-Geschäftsführers

V. Schwebezustand auch beim Handelsregister

VI. Strategien zur Streitvermeidung 1. Übertragung der Abberufungs­ kompetenz auf Beirat 2. Exit-Strategien VII. Ergebnis

I. Einleitung1 Mit über 1,2 Millionen Gesellschaften ist die GmbH die Rechtsform des deutschen Mittelstandes.2 Viele GmbHs haben einen überschaubaren Gesellschafterkreis.3 Ungefähr ein Viertel hat nur zwei Gesellschafter, die häufig hälftig beteiligt sind und auch die Geschäftsführung innehaben.4 Solche paritätischen Zwei-Mann-GmbHs sind in besonderem Maße konfliktanfällig, denn Meinungsverschiedenheiten der Gesellschafter können zu Pattsituationen führen. In welcher Pattsituation5 sich paritätische Gesellschafter in der Zwei-Mann-GmbH wiederfinden können, wird bei deren Gründung nur selten bedacht. Den Verbrauch des Gesellschaftszwecks und das Ende ihrer Gemeinsamkeit haben sie häufig nicht geregelt.

1 Der Verfasser dankt Frau Rechtsanwältin Dr. Katrin Feldmann-Gerber, Herrn Pascal Potthoff, M. Iur. und seinem Sohn Dr. Konrad Rotthege für wertvolle Mitarbeit und Hinweise zu diesem Beitrag. 2 G. Rotthege in Rotthege/Wassermann, Unternehmenskauf bei der GmbH, 2.  Aufl. 2019, 1. Kap. Rz. 8. 3 Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, Syst Darst. 1 Rz. 108. 4 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Einleitung Rz. 37; Werner, GmbHR 2019, 265 m.w.N. 5 Vgl. hierzu Leistikow in Beck’sches RA-Hdb, 11. Aufl. 2016, § 44 Rz. 112 ff.

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Georg Rotthege

Der historische Gesetzgeber ging wohl von dem Idealbild steter Eintracht aus; dementsprechend sehen §§  60  f. GmbHG für den Fall des Zerwürfnisses lediglich die Auflösung durch qualifizierten Beschluss oder Urteil vor, was aus anwaltlicher Sicht als Ausnahmefall erscheint. Dabei sah schon der Entwurf zur GmbH-Reform von 19736 in § 69 Abs. 5 Satz 3 GmbHG für zweigliedrige Gesellschaften den Entzug der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis bei Vorliegen eines wichtigen Grundes durch ein Gericht vor; der Vorschlag wurde jedoch nicht umgesetzt. Bis heute sind Judikatur und Literatur zur Abberufung von Gesellschafter-Geschäftsführern in der paritätischen Zwei-Mann-GmbH umfangreich und längst nicht immer einheitlich. Dies gilt auch für den Fall, dass die GmbH als Holding Tochtergesellschaften hat und ihre Gesellschafter auch deren Geschäftsführung übernehmen. Sie werden damit zu „mittelbaren Gesellschafter-Geschäftsführern“, deren Abberufbarkeit in Rechtsprechung und Literatur bisher wenig Beachtung findet. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, ob und inwieweit der Grundsatz der freien Abberufbarkeit des Geschäftsführers (§  38 Abs.  1 GmbHG) in der paritätischen Zwei-Mann-GmbH Einschränkungen erfährt, und nimmt dabei auch die Situation des „mittelbaren Gesellschafter-Geschäftsführers“ im Konzern in den Blick.

II. Geschäftsführer-Abberufung in der paritätischen Zwei-Mann-GmbH Der Geschäftsführer ist gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 GmbHG gesetzlicher Vertreter der GmbH. §  6 Abs.  3 GmbHG erlaubt die Bestellung von Gesellschaftern (Selbstor­ ganschaft) und gesellschaftsfremden Dritten (Fremdorganschaft). Die Zahl der Geschäftsführer ist gesetzlich nicht beschränkt, die Gesellschaft muss aber wenigstens einen Geschäftsführer haben (vgl. §  6 Abs.  1 GmbHG). In der paritätischen ZweiMann-GmbH sind zwei Gesellschafter hälftig beteiligt und haben in der Regel auch die Geschäftsführung inne (Selbstorganschaft). 1. Freie Abberufbarkeit gemäß § 38 Abs. 1 GmbHG Gemäß § 38 Abs. 1 GmbHG kann die Gesellschafterversammlung die Bestellung des Geschäftsführers jederzeit widerrufen. Hierin drückt sich die Organ-Verantwortung des Geschäftsführers gegenüber den Gesellschaftern aus, die seine Befugnisse durch Weisungen weitgehend einschränken (§ 37 Abs. 2 GmbHG) und ihn jederzeit – d.h. insbesondere ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes und ohne Begründung – abberufen können (§  46 Nr.  5 GmbHG). Hierzu genügt einfache Stimmenmehrheit, falls nicht eine qualifizierte Mehrheit in der Satzung vorgesehen ist. Ist ein Gesellschafter zugleich Geschäftsführer, so ist er stimmberechtigt. Der Gesellschaftsvertrag kann die Befugnis zur Berufung und Abberufung auch einem anderen Gesellschaftsorgan zuweisen.7 In der paritätischen Zwei-Mann-GmbH spielt die Abberufung nach 6 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Einleitung Rz. 107; Deutscher Bundestag – 7. Wahlperiode, Drucksache 7/253. 7 G. Rotthege, Beratung der GmbH, 3. Aufl. 2009, Kap. E Rz. 8 f. m.w.N.; siehe dazu Ziffer VI. 1. dieses Beitrags.

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§ 38 Abs. 1 GmbHG praktisch keine Rolle, da eine Mehrheit gegen einen Gesellschafter nicht erreichbar ist. 2. Abberufbarkeit gemäß § 38 Abs. 2 GmbHG Anders verhält es sich bei der Abberufung aus wichtigem Grund gemäß § 38 Abs. 2 GmbHG, bei welcher der betroffene Gesellschafter-Geschäftsführer gemäß §  47 Abs. 4 GmbHG vom Stimmrecht ausgeschlossen ist. Besonders heikel kann die Auseinandersetzung in der paritätischen Zwei-MannGmbH werden, in der sich gleichberechtigte Gesellschafter-Geschäftsführer gegenüberstehen. Kommt es hier zum Streitfall, erweist sich § 47 Abs. 4 GmbHG häufig als Hebel für den anderen Gesellschafter, um Beschlüsse gegen den vom Stimmrecht ausgeschlossenen Mit-Gesellschafter zu fassen und damit Fakten zu schaffen. Wer als Gesellschafter sein Recht zur Geschäftsführung verloren hat, indem er aus wichtigem Grunde abberufen wurde, verliert auch die Möglichkeit, Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft zu nehmen und ist dem verbliebenen Gesellschafter-Geschäftsführer insoweit ausgesetzt. Seine hälftige Beteiligung verliert ohne seinen Einfluss womöglich an Wert. Denn sein hälftiges Stimmrecht reicht nicht aus, um dem verbleibenden Geschäftsführer Weisungen zu erteilen oder diesen durch einen Dritten zu ersetzen. Wird ein paritätisch beteiligter Gesellschafter-Geschäftsführer aus wichtigem Grund wirksam abberufen, wird die dem Gesellschaftsverhältnis innewohnende Balance zwischen der hälftigen Beteiligung und dem Recht zur Geschäftsführung aus den Angeln gehoben. Dem Abberufenen verbleibt dann häufig nur die Möglichkeit, seinerseits den anderen Gesellschafter-Geschäftsführer aus wichtigem Grunde abzuberufen, wodurch die Gesellschaft führungslos wird, falls es nicht gelingt, sich zu einigen. Mit großer Dringlichkeit stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, unter welchen Voraussetzungen und mit welcher Wirkung eine Abberufung bei hälftiger Beteiligung möglich ist. 3. Einschränkungen Der Grundsatz der freien Abberufbarkeit8 kann Einschränkungen erfahren. So kann einem Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag oder bei seiner Bestellung ein Sonderrecht auf Geschäftsführung eingeräumt werden mit der Folge, dass seine Abberufung einen wichtigen Grund gemäß § 38 Abs. 2 GmbHG erfordert; weitere satzungsmäßi8 Besonderes gilt für den Anstellungsvertrag des Geschäftsführers, für den arbeitsrechtliche Vorschriften an sich nicht gelten. Gleichwohl bedarf dessen außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB eines wichtigen Grundes, der hier strenger auszulegen ist als bei § 38 Abs. 2 GmbHG. So kann es dazu kommen, dass die Organstellung des Geschäftsführers endet, sein Anstellungsverhältnis (inklusive Vergütungsanspruch) jedoch in Ermangelung eines wichtigen Grundes bis zur Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung fortbesteht.

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ge Beschränkungen sind unzulässig, weil diese die Mindestgarantie des § 38 Abs. 2 GmbHG verletzen würden.9 In der paritätischen Zwei-Mann-GmbH könnten sich Einschränkungen aus der hälftigen Beteiligung der Gesellschafter sowie der Treuepflicht ergeben. a) Hälftige Beteiligung Für die zweigliedrige GmbH wird vertreten, dass die Geschäftsführer-Abberufung keiner Sonderbehandlung bedürfe.10 Insbesondere wird argumentiert, dass es hier bei Fehlen einer Satzungsregelung beim Grundsatz des § 38 Abs. 1 GmbHG bleibe und es insbesondere nicht auf das Vorliegen eines wichtigen Grundes ankomme. Andernfalls würde dem ausdrücklichen Wortlaut des §  38 Abs.  1 GmbHG und dem Grundsatz der freien Widerruflichkeit ebenso zuwidergehandelt wie der Vertragsfreiheit der Gesellschafter. Diese Auffassung betont die Autonomie der GmbH-Gesellschafter und haftet am Wortlaut des Gesetzes. Andere argumentieren, dass das Regel-Ausnahme-Verhältnis von § 38 Abs. 1 und 2 GmbHG in sein Gegenteil verkehrt würde.11 In der Praxis kann diese Meinung zu einem Wettlauf um die (einfache) Abberufung bis hin zur Blockade durch wechselseitige Beschlüsse führen. Das sei nach Ansicht der Befürworter einer freien Abberufbarkeit aber immer noch besser, als dass Gerichte urteilen müssten.12 Für die paritätische Zwei-Mann-GmbH erscheint eine Einschränkung der freien Abberufbarkeit indes unumgänglich. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn die hälftig beteiligten Gesellschafter sich die Geschäftsführung teilen.13 Dahinter steht die Überlegung, dass kein Gesellschafter den jeweils anderen aus vorgeblich wichtigem Grund aus dessen Geschäftsführer-Stellung drängen darf. Ohne das Erfordernis eines wirklich wichtigen Grundes wäre jeder Gesellschafter hierzu in der Lage. b) Treuepflicht Des Weiteren kann der Grundsatz der freien Abberufbarkeit des Geschäftsführers eine Einschränkung durch die gesellschafterliche Treuepflicht erfahren. Diese knüpft an den von den Gesellschaftern gebildeten Personenverbund an und lässt sich dogmatisch aus der Förderungspflicht gemäß § 705 BGB und dem Grundsatz von Treu

9 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9.  Aufl. 2019, §  38 GmbHG Rz.  36; eine Einschränkung gilt ferner gemäß § 31 Abs. 1 MitbestG i.V.m. § 84 Abs. 3 AktG in der mitbestimmten GmbH. 10 LG Stade v. 19.10.2020 – 8 O 85/20 – unveröffentlicht. 11 Lieder/Ringlage, GmbHR 2017, 1065, 1066. 12 Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 94; Lieder/Ringlage, GmbHR 2017, 1065, 1069. 13 Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 25; Oetker in Henssler/Strohn, GesR, 4.  Aufl. 2019, §  38 Rz.  17; Lieder/Ringlage, GmbHR 2017, 1065, 1067 fassen den Meinungsstand zusammen.

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und Glauben (§ 242 BGB) herleiten.14 Sie beinhaltet die Pflicht, als Mitglied der Gesellschaft deren Interessen zu wahren, aktiv zu fördern und sie keinesfalls durch schädigendes Verhalten zu beeinträchtigen. Als allgemeine Verhaltensregel beschränkt die Treuepflicht die Ausübung von Rechten wie auch die tatsächliche Einflussnahme innerhalb des Gesellschaftsverhältnisses.15 Letztere ist ein zentraler Rechtssatz des Personengesellschaftsrechts, dessen konkrete Ausformung auf die frühe Rechtsprechung des BGH zurückgeht.16 Die gesellschafterliche Treuepflicht kann eine Abberufung des Gesellschafter-Geschäftsführers in jeder personalistisch geprägten GmbH mit einem überschaubaren Kreis von Gesellschaftern einschränken.17 Denn personalistische Kapitalgesellschaften weisen eine deutliche Nähe zu Personengesellschaften auf, woraus sich eine stärkere Betonung der Treuepflicht18 erklärt. Jede personalistische GmbH – und insbesondere die paritätische Zwei-Mann-GmbH – ist auf eine enge Zusammenarbeit der Gesellschafter angewiesen. Insbesondere dürfen Abberufungsbeschlüsse nicht auf gezielt herbeigeführte Kontroversen und Streitigkeiten oder ein dadurch eingetretenes Zerwürfnis gestützt werden. Deshalb ist ein wesentlicher Beitrag des abzuberufenden Geschäftsführers zu dem Zerwürfnis notwendig und es müssen erhebliche objektive Umstände klar für den einen und gegen den anderen Gesellschafter-Geschäftsführer sprechen. Verhältnismäßig geringe Vorfälle haben dabei außer Betracht zu bleiben. Hierher gehört zumeist auch ein Zerwürfnis auf privater Ebene, denn private Konflikte der Gesellschafter dürfen nicht auf Ebene der Gesellschaft ausgetragen werden.19 Besonders in Familien- oder Ehegatten-Gesellschaften ist die Gefahr latent, dass private Konflikte auf die Ebene der Gesellschaft durchschlagen. Hält die Satzung – wie in der Praxis zumeist der Fall – keine hinreichenden Konfliktlösungsmechanismen bereit,20 bleibt häufig nur die ungeschriebene Treuepflicht, um den Geschäftszweck nicht zu gefährden. Ziel muss es sein, dass die Gesellschafter private Konflikte außen vor lassen und die Struktur der Gesellschaft solange respektieren, bis die rechtlichen Verhältnisse geklärt sind.21 Allerdings wird auch vertreten, dass der Gesellschafter-Geschäftsführer aufgrund seiner Treuepflicht nicht gegen die Abbe-

14 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  13 GmbHG Rz. 131 ff. 15 OLG Jena v. 12.8.2015 – 2 U 219/15, GmbHR 2015, 1267, 1268. 16 Schäfer in MünchKomm. BGB, Bd. 7, 8. Aufl. 2020, § 705 BGB Rz. 228. 17 Für die personalistisch geprägte GmbH mit überschaubarem Kreis von Gesellschafter-­ Geschäftsführern: Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Einleitung Rz. 38; vgl. ferner Immenga, Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, S.14. 18 Allgemeine Meinung: G. Rotthege, Firmen und Vereine, 1996, S. 154 f.; Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 13 GmbHG Rz. 22. 19 LG Düsseldorf v. 4.12.2019 – 41 O 82 bis 88/19, unveröffentlicht. 20 Insbesondere bietet sich die Einrichtung eines neutral besetzten Beirats, der in Gesellschafterstreitigkeiten Entscheidungskompetenzen hat, an. Vgl. hierzu Habbe/Gieseler, NZG 2016, 1010 und unten Teil VI. 21 LG Düsseldorf v. 4.12.2019 – 41 O 82 bis 88/19, S. 13.

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rufung des Anderen stimmen müsse.22 Letztlich geht es hierbei um Einzelfallentscheidungen, die sich einer abschließenden Kategorisierung entziehen. Neben die gesellschafterliche Treuepflicht, die das Verhältnis der Gesellschafter untereinander sowie zwischen den Gesellschaftern und der GmbH prägt, tritt die organschaftliche Treuepflicht. Sie verpflichtet den Geschäftsführer und weitere Organe, ihre Rechte und Pflichten im besten Interesse zum Wohl der Gesellschaft auszuüben.23 Zwar kann sie als einseitige Treuepflicht keine Rechte des Geschäftsführers begründen, doch kommt ihr dann besondere Relevanz zu, wenn in einem Konzerngefüge die Gesellschafterversammlung der abhängigen Gesellschaft, die über die Abberufung ihres Geschäftsführers entscheidet, von der Geschäftsführung der Holding gebildet wird. In diesem Fall muss der Holding-Geschäftsführer die organschaftliche Treuepflicht beachten und sein Geschäftsführeramt im besten Interesse des Konzerns ausüben.24 c) Wichtige Gründe Die Zulässigkeit der Abberufung kann im Gesellschaftsvertrag an das Vorliegen eines wichtigen Grundes geknüpft werden, z.B. grobe Pflichtverletzung oder Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung (§ 38 Abs. 2 GmbHG). Das Vorliegen eines wichtigen Grundes wurde anerkannt bei Annahme von Schmiergeldern, Tätlichkeiten gegenüber Mitarbeitern, Duldung pflichtwidrigen Handelns eines anderen Geschäftsführers oder Missbrauch von Gesellschaftsvermögen für eigene Zwecke.25 Es genügt grundsätzlich, wenn nach den Gesamtumständen ein sachlicher Grund vorliegt, der einen verständigen Entscheidungsträger zur Abberufung veranlassen würde. Allerdings sind in der personalistischen GmbH, insbesondere in der paritätischen Zwei-Mann-GmbH, an das Vorliegen eines wichtigen Grundes strengere Anforderungen zu stellen. Es müssen Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung das Ergebnis rechtfertigen, dass der Geschäftsführer wegen grober Pflichtverletzung für die Gesellschaft untragbar geworden ist. Nach allgemeiner Ansicht berechtigt eine tiefgreifende Zerrüttung des persönlichen Verhältnisses der Gesellschafter zur Abberufung des Geschäftsführers nach §  38 Abs. 2 GmbHG.26 In der paritätischen Zwei-Mann-GmbH führt ein solches Zerwürfnis sogar dazu, dass beide Gesellschafter-Geschäftsführer abberufen werden können, 22 LG Stade v. 19.10.2020 – 8 O 85/20 – unveröffentlicht. Es sei angemerkt, dass sich das Beschwerdegericht dieser Rechtsauffassung ausdrücklich nicht angeschlossen hat: OLG Celle v. 17.11.2020 – 9 W 112/20, unveröffentlicht. 23 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  13 GmbHG Rz. 137. 24 Zu den Geschäftsführer-Pflichten in Krise und Insolvenz vgl. K. Rotthege in Rotthege/Wassermann, Unternehmenskauf bei der GmbH, Kap. 12. 25 Vgl. G. Rotthege, Beratung der GmbH, 2. Aufl. 2019, Kap. E Rz. 10 m.w.N. 26 OLG Düsseldorf v. 7.1.1994 – 16 U 104/92, GmbHR 1994, 884.

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Zur Geschäftsführer-Abberufung in der paritätischen ­Zwei- Mann-GmbH

wenn nicht in der Person eines von ihnen erhebliche Gründe hinzutreten, die allein seine Abberufung als angemessen erscheinen lassen. Werden beide GesellschafterGeschäftsführer abberufen, bleibt nur die Möglichkeit eines Notgeschäftsführers analog § 29 BGB, soll die Gesellschaft nicht aufgelöst werden.27

III. Beschlussfassung Beschlussfassungen zur Abberufung von Gesellschafter-Geschäftsführern sind in der paritätischen Zwei-Mann-GmbH zumeist streitbefangen. Denn bei Stimmrecht beider Gesellschafter kommt keine Mehrheit zustande, sodass es darum geht, dieses Stimmrecht durch wichtige Gründe zu verhindern. 1. Präsenz oder schriftlich Beschlüsse können in der Gesellschafterversammlung oder im Umlaufverfahren gefasst werden. Oftmals beginnt der Streit bereits mit der Einberufung der Gesellschafterversammlung, die gemäß § 49 Abs. 1 GmbHG durch jeden (Gesellschafter-)Geschäftsführer erfolgen kann. Wird ein Geschäftsführer von der Abberufung des anderen überrascht, ist seine Verteidigungsmöglichkeit faktisch oftmals begrenzt, insbesondere wenn dem Abberufenen mit dem Beschluss ein Hausverbot für die Geschäftsräume erteilt wird und er hierdurch Zugriff auf wichtige Unterlagen verliert. Die frühere Abberufung darf allerdings keine Relevanz für die Beurteilung einer nachfolgenden haben.28 Gemäß §  48 Abs.  2 GmbHG erfordern schriftliche Beschlussfassungen das Einverständnis aller Gesellschafter, auch dasjenige des gemäß §  47 Abs.  4 GmbHG nicht stimm-, aber teilnahmeberechtigten (!) Gesellschafters.29 Widerspricht dieser der schriftlichen Beschlussfassung, kann es zu einem „Show-Down“ kommen: Die Gesellschafter erscheinen im Beistand ihrer Anwälte, können sich weder auf Versammlungsleiter noch Protokollführer einigen und nehmen zu ihrem jeweils selbst geführten Protokoll, was ihrer jeweiligen einseitigen Wahrnehmung entspricht. Vergnügungssteuerpflichtig sind solche Versammlungen auch für gut bezahlte Anwälte in der Regel nicht. 2. Stimmrecht des Betroffenen Einem Stimmverbot nach §  47 Abs.  4 GmbHG unterliegt der Gesellschafter-Geschäftsführer nur bei der Beschlussfassung über seine Abberufung aus wichtigem 27 BGH v. 12.1.2009 – II ZR 27/08, NJW-RR 2009, 618; BGH v. 24.2.1992 – II ZR 79/91, NJWRR 1992, 993, jeweils m.w.N. 28 OLG München v. 22.7.2010 – 23 U 4147/09, BeckRS 2010, 18766 mit Verweis auf BGH v. 12.1.2009 – II ZR 27/08, NZG 2009, 386. 29 OLG Düsseldorf v. 13.7.1989 – 8 U 187/88 sowie 31/89, GmbHR 1989, 468, 469.

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Grund nach § 38 Abs. 2 GmbHG. Er soll keine Maßnahme gegen sich selbst verhindern können, die aus wichtigem Grund erforderlich ist, und so Richter in eigener Sache sein.30 Das gilt auch für das Stimmrecht einer von dem betroffenen Gesellschafter-Geschäftsführer beeinflussten Gesellschaft.31 Unter welchen Voraussetzungen dieses Stimmverbot besteht, ist streitig.32 Teilweise soll es für ein Stimmverbot genügen, dass die Abberufung auf einen wichtigen Grund gestützt wird, der substantiiert und nachvollziehbar dargelegt wird (sog. verschärfte Behauptungslösung).33 Hierfür spricht nicht unbedingt die Rechtsklarheit, wie oft argumentiert wird. Denn wer entscheidet, ob der wichtige Grund schlüssig ist? Stellt dies der Versammlungsleiter (bzw. der den Versammlungsleiter stellende Mehrheitsgesellschafter) fest? § 47 Abs. 4 GmbHG knüpft an den Gegenstand der Beschlussfassung an, und mit dem Verbot des Richtens in eigener Sache erscheint es legitim, das Stimmverbot (lediglich) vom Beschlussgegenstand abhängig zu machen. Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung lässt sich ein wichtiger Grund häufig nicht abschließend beurteilen. Gerade deshalb verlangen andere, dass der wichtige Grund tatsächlich bestehen müsse.34 Anderenfalls würden die Interessen des Abberufenden bevorzugt. Das Stimmrecht des Abzuberufenden könne durch bloßes Äußern wichtiger Gründe vereitelt werden. Dass ein mit 50 % und mehr beteiligter Gesellschafter materiell zu Unrecht, aber aufgrund einer „förmlichen Feststellung“ des Versammlungsleiters seiner Rechte auf Geschäftsführung beraubt werden kann, erscheint unbillig. Der BGH hat zum Meinungsstreit ausführlich Stellung bezogen: Steht ein abstimmungserhebliches Stimmverbot in Frage, kommt es im Rechtsstreit allein auf das tatsächliche Vorliegen des wichtigen Grunds an. Das Gericht darf nicht schon aufgrund schlüssiger Behauptung von einem Abberufungsgrund ausgehen, über dessen Vorliegen die Parteien streiten. Eine Anfechtungsklage des Mehrheitsgesellschafters gegen seine Abberufung kann nicht abgewiesen werden, weil seine Stimme vermeintlich zu Unrecht nicht gezählt wurde. Dann würde das Vorliegen eines wichtigen Grundes gerade nicht geklärt und dem Betroffenen der Rechtsschutz verweigert.35 30 Wiegand-Schneider in MünchHdb GesR VII, 6. Aufl. 2020, § 40 Rz. 241. 31 OLG Karlsruhe v. 4.5.1999 – 8 U 153/97, NZG 2000, 264, 265. 32 Ausführlich: Altmeppen, NJW 2016, 2833 und Trölitzsch, Der behauptete wichtige Grund als Grundlage für ein Stimmverbot in der Gesellschafterversammlung, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, Jahrestagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung 2018, S. 117 f. 33 OLG Naumburg v. 23.2.1999 – 7U 25/98, NZG 2000, 44, 46; Diekmann in MünchHdb GesR III, 5.  Aufl. 2018, §  42 Rz.  62; Heilmeier in Beck’scher Online-Komm. GmbHG, 45.  Ed. Stand: 1.6.2016, §  38 GmbHG Rz.  65; Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 38 GmbHG Rz. 61; Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 80. 34 OLG Karlsruhe v. 25.6.2008 – 7 U 133/07, NZG 2008, 785, 786; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 60; Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 31; Werner, GmbHR 2015, 1185, 1187; Bayer, GmbHR 2017, 665, 669; Hillmann in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 47 GmbHG Rz. 68. 35 Obwohl das Urteil v. 4.4.2017 – II ZR 77/16, NZG 2017, 700 recht klar formuliert, ist in der Kommentarliteratur häufig zu lesen, dass der BGH hierzu noch nicht „eindeutig“ entschie-

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3. Nachschieben von Gründen Die Abberufung kann nachträglich auf andere Gründe gestützt werden, wenn diese bei der Abberufung bereits vorlagen, unabhängig davon, ob sie dem Abberufungsorgan bekannt waren.36 Das Motiv für die spätere Geltendmachung ist unbeachtlich. Gesellschafter, die aus vernünftigem Anlass Abberufungsgründe zunächst zurückhalten, sollen diese nicht verlieren (es gilt jedoch die Grenze der Verwirkung, s.u.). Gründe, die nach der Beschlussfassung eingetreten sind, können Berücksichtigung finden, wenn eine Gesamtbetrachtung ergibt, dass wegen der Gefahr einer erneuten Verfehlung bereits zum Zeitpunkt der Abberufung eine Fortsetzung der Geschäftsführerstellung unzumutbar gewesen ist.37 Für das Nachschieben von Gründen sind grundsätzlich ein erneuter Beschluss und ein abermaliger Ausspruch der Abberufung erforderlich.38 In der Zwei-Mann-GmbH wäre ein solcher Beschluss allerdings bloße Förmelei, wenn ein Gesellschafter-Geschäftsführer den anderen abberuft und der Abberufende die Gesellschaft zugleich im Prozess vertritt. Dann kann er den ergänzenden Beschluss dort nachholen.39 Da­ rin kommt ein typisches Element der zweigliedrigen GmbH zum Ausdruck: Der Abberufende gibt seine Stimme sowohl als Gesellschafter wie auch als Geschäftsführer ab.40 4. Verwirkung Das Abberufungsrecht ist verwirkt, wenn die zugrunde liegenden Tatsachen über längere Zeit nicht zum Ausspruch der Abberufung geführt haben und der Geschäftsführer nach Treu und Glauben annehmen durfte, die Gesellschaft werde hierauf nicht mehr zurückkommen.41 Die Zwei-Wochen-Frist aus § 636 Abs. 2 BGB ist hierbei unbeachtlich.42 Jedoch soll sich nach Ansicht des OLG Düsseldorf43 die Gesellschaft auf eine sieben Monate zuvor begangene Pflichtwidrigkeit nicht mehr berufen können. Die Zeitspanne muss im Einzelfall genau betrachtet werden. Dabei geht es stets um den habe, vgl. Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  38 GmbHG Rz. 78. 36 BGH v. 14.10.1991 – II ZR 239/90, NJW-RR 1992, 292, 294. 37 Stephan/Thieves in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 174. 38 So BGH v. 29.3.1972 – II ZR 20/71, NJW 1973, 1122, 1123. 39 BGH v. 14.10.1991 – II ZR 239/90, NJW-RR 1992, 292, 294; Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 17; Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 174. 40 BGH v. 14.10.1991 – II ZR 239/90, NJW-RR 1992, 292, 294. 41 Ebenso wenig könne die Gesellschaft zur Begründung einer Abberufung ihres Geschäftsführers aus wichtigem Grund auf zum Zeitpunkt seiner Bestellung bekannte Vorgänge zurückgreifen. Durch die Berufung in das Amt des Geschäftsführers mache die Gesellschaft in noch höherem Maß als durch Unterlassung der Abberufung deutlich, dass sie den bekannten Vorgang nicht als Hinderungsgrund für dessen Geschäftsführertätigkeit betrachten will: BGH v. 14.10.1991 – II ZR 239/90, NJW-RR 1992, 292, 294. 42 Diekmann in MünchHdb GesR III, 5. Aufl. 2018, § 42 Rz. 63. 43 OLG Düsseldorf v. 16.7.2020 – I-6 U 1 bis 3/20 – unveröffentlicht.

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die Frage, ob das Zuwarten als Ausdruck des Willens verstanden werden darf, die Zusammenarbeit trotz des an sich zur Abberufung genügenden Ereignisses fortzusetzen. 5. Schwebezustand Nichtige Gesellschafterbeschlüsse entfalten keine Rechtswirkung, anfechtbare Beschlüsse sind jedoch zunächst wirksam. Für die Bestandskraft (und die Art der Klage hiergegen) ist analog §§  241  f. AktG wegführend, ob der Beschlussinhalt förmlich festgestellt wurde. In diesem Fall kann der Beschluss mit dem festgestellten Inhalt bestandskräftig werden, wenn er nicht binnen Monatsfrist (analog § 246 Abs. 1 AktG)44 angefochten wird. Ohne Feststellung soll die objektive Rechtslage im Rahmen einer Feststellungsklage klären, ob überhaupt und mit welchem Inhalt ein Beschluss gefasst worden ist.45 Einer Analogie dieser aktienrechtlichen Bestimmungen für die paritätische ZweiMann-GmbH hat der BGH46 schon früh eine grundsätzliche Absage erteilt. Sie gilt allgemein als untragbar, weil der Abberufende mit der Behauptung eines wichtigen Grundes den geschäftsführenden Mitgesellschafter unter Ausschluss von dessen Stimmrecht auf Dauer aus der Geschäftsführung ausschließen könnte.47 Vielmehr hängt die Wirksamkeit der Abberufung – unabhängig vom Bestehen eines Stimmverbotes – allein von der materiellen Rechtslage ab, und bis zur rechtskräftigen Entscheidung amtieren beide Gesellschafter-Geschäftsführer weiter.48 Hierdurch entsteht ein Schwebezustand, der hinzunehmen ist. Dem abberufenen Gesellschafter-Geschäftsführer kann über eine einstweilige Verfügung die Vertretungsmacht und die Erlaubnis für Geschäftsführungsmaßnahmen entzogen werden. Hierfür müssen ein wirksamer Beschluss und wichtige Gründe glaubhaft gemacht werden, die eine sofortige Abberufung erfordern. Parteien eines solchen Verfügungsverfahrens sind der Abberufene und die Gesellschaft, welche gemäß § 46 Nr. 8 GmbHG von dem anderen Gesellschafter vertreten wird.49 Auch der abberufene Gesellschafter-Geschäftsführer kann über eine einstweilige Verfügung den Fortbestand seiner Vertretungsmacht für die Gesellschaft bis zur Entscheidung über seine Anfechtungsklage gegen den Abberufungsbeschluss sichern.

44 BGH v. 18.4. 2005 – II ZR 151/03, NZG 2005, 551. 45 BGH v. 4.5.2009 – II ZR 169/07, NJW-RR 2010, 49; Altmeppen, NJW 2016, 2833 m.w.N. 46 BGH v. 20.12.1982 – II ZR 110/82, GmbHR 1983, 149; OLG Düsseldorf v. 16.7.2020 – I-6 U 1 bis 3/20 – unveröffentlicht 47 Fischer in MünchHdb GesR VII, 6. Aufl. 2020, § 19 Rz. 38; Keßler, GmbHR 2015, 342, 343; Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 38 GmbHG Rz. 67. 48 Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 72; Diekmann, MünchHdb GesR III, 5. Aufl. 2018, § 42 Rz. 70; Oppenländer in Oppenländer/Trölitzsch, Praxishdb. GmbH-Gf, 3. Aufl. 2020, § 9 Rz. 17. 49 OLG München v. 10.12.2012 – 23 U 4354/12, NZG 2013, 947 f.

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IV. Rechtslage bei Holdinggesellschaften Besonders spannend ist die Holdingstruktur mit hälftig beteiligten Konzernherren, die zugleich als Geschäftsführer der Töchter fungieren. Finden auf deren Abberufung die vorstehenden Einschränkungen ebenfalls Anwendung? Und ist der Geschäfts­ führer der Tochtergesellschaft als deren nur mittelbarer Gesellschafter gegen seine durch den anderen Konzernherrn als Holding-Geschäftsführer veranlasste Abberufung klagebefugt? 1. Geltung für mittelbare Gesellschafter Der alleinvertretungsberechtigte Holding-Geschäftsführer kann mit sich selbst als Gesellschafter der Tochtergesellschaft zusammentreten und den Tochter-Geschäftsführer abberufen. Ist die Holding eine paritätische Zwei-Mann-GmbH, liegt die Einschränkung der freien Abberufbarkeit des mittelbaren Gesellschafter-Geschäftsführers auf der Hand. Denn dann befindet sich die Tochter über die Holding im hälftigen Mitbesitz der Konzernherren, und die Interessenlage ist identisch mit derjenigen auf Ebene der Holding.50 Zu demselben Ergebnis führt die gesellschafterliche Treuepflicht, sofern die personalistische Struktur den Konzern prägt, die Holding als alleiniger Gesellschafter der Tochter deren Gesellschafterversammlung bildet und über die Abberufung entscheidet. Die organschaftliche Treuepflicht bindet den Gesellschafter-Geschäftsführer der Holding, er darf bei der Beschlussfassung in der Beteiligungsgesellschaft nicht einseitig seine persönlichen Interessen durchsetzen. 2. Anfechtungsbefugnis des mittelbaren Gesellschafter-Geschäftsführers Der Konzernherr der Holding ist in der vorstehend beschriebenen Konstellation nur mittelbarer Gesellschafter der Tochter. Fungiert er dort als Geschäftsführer und ficht seine Geschäftsführer-Abberufung durch die Holding an, stellt sich die Frage nach seiner Aktivlegitimation. Bekanntlich steht das Anfechtungsrecht nur Gesellschaftern zu; ein Fremd-Geschäftsführer muss seine Abberufung hinnehmen.51 In der Holdingstruktur können Gesellschafter-Geschäftsführer daher gegen ihre Abberufung in Beteiligungsgesellschaften nicht vorgehen, es sei denn, die Anfechtungsbefugnis wird ihnen als (mittelbare) Gesellschafter zuerkannt. Überträgt man die Einschränkung der Abberufbarkeit auf Tochtergesellschaften, ist es nur konsequent, für die Anfechtungsbefugnis die mittelbare Gesellschafterstellung des Geschäftsführers ausreichen zu lassen. Dies erscheint auch interessengerecht: In einem zweigliedrigen Konzern sind die Konzernherren nur bei formaler Betrachtung 50 Vgl. OLG Düsseldorf v. 16.7.2020 – I-6 U 1 bis 3/20 und OLG Düsseldorf v. 7.5.2020 – I-3 Wx 52 sowie 54/20, beide unveröffentlicht. 51 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, Anh. § 47 Rz. 136, 140 und LG Stade v. 19.10.2020 – 8 O 85/20, unveröffentlicht.

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Fremd-Geschäftsführer der Töchter und üben dort eine gesellschaftergleiche Funktion aus.52

V. Schwebezustand auch beim Handelsregister In der paritätischen Zwei-Mann-GmbH erreicht der Streit über die Wirkung von Abberufungsbeschlüssen und deren Umsetzung rasch das Registergericht. Denn derjenige Gesellschafter, der die Abberufung des anderen als Geschäftsführer beschlossen hat, will den Beschlussinhalt nach außen umsetzen und meldet diesen in notariell beglaubigter Form zum Handelsregister an mit dem Ziel, die Eintragung des Mit-Gesellschafters als Geschäftsführer möglichst sofort zu löschen. Letzterer will dieses naturgemäß verhindern. Registergerichtliche Eintragungsverfahren sind bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Rechtsstreit nach § 21 Abs. 1 FamFG auszusetzen. Sobald sich ein Konflikt abzeichnet, sollte dies deshalb dem Registergericht angezeigt werden (Schutzschrift), um zu verhindern, dass Abberufungsbeschlüsse auf Betreiben des Mit-Gesellschafters erfolgreich im Handelsregister umgesetzt werden. Besonders fragwürdig – auch mit Blick auf die gesellschafterliche Treuepflicht – ist es, im Konzern den Mit-Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft vor vollendete Tatsachen zu stellen und den ohne dessen Beteiligung gefassten Abberufungsbeschluss zum Handelsregister anzumelden, bevor er hiervon erfahren hat. Dies ist rechtlich möglich, wenn jeder Konzernherr die Holdinggesellschaft allein vertreten kann und diese einen Gesellschafterbeschluss bei der Tochter fasst, mit der deren Geschäftsführer abberufen wird. Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 HGB ist das Registergericht an auch vorläufig vollstreckbare Entscheidungen des Prozessgerichts  – hier zumeist einstweilige Verfügungen gegen die Abberufung – gebunden, ohne dass es auf deren Rechtskraft ankäme.53 Dabei muss das Registergericht eine Entscheidung des Prozessgerichts als materiell richtig behandeln, wenn es auch an das rechtskräftige Urteil gebunden wäre. Es muss selbst dann, wenn es die ergangene Entscheidung für unzutreffend hält, die Löschung verfügen, ohne eigene materiell-rechtliche Erwägungen anstellen zu dürfen.54 Hat das Registergericht  – in Unkenntnis des Hintergrundes  – den Geschäftsführer im Handelsregister gelöscht, muss es diesen materiell unzulässigen Vorgang gemäß §  395 FamFG nach Gewährung rechtlichen Gehörs von Amts wegen löschen und den Geschäftsführer damit wieder eintragen. Der Schwebezustand, dem die Abberu-

52 In einem ähnlichen Fall LG Stuttgart v. 28.7.2020 – 31 O 16/20, NZG 2020, 1224. 53 Vgl. nur Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 39. Aufl. 2020, § 16 HGB Rz. 1. 54 Drescher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 935 ZPO Rz. 48; Schaub in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4.  Aufl. 2020, §  16 HGB Rz.  6, zur Anfechtungsbefugnis des Fremd-Geschäftsführers vgl. OLG Hamm v. 17.9.2001 – 8 U 126/01, NZG 2002, 50.

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fung bis zu ihrer rechtskräftigen gerichtlichen Bestätigung ausgesetzt ist,55 ist auch vom Registergericht zu respektieren.

VI. Strategien zur Streitvermeidung Ist eine gütliche Einigung unerreichbar, werden einstweiliger Rechtsschutz und Hauptsacheverfahren vor Gericht ausgetragen. Diese sind zumeist mit rechtlichen Unwägbarkeiten verbunden und erfordern Zeit. Es ist daher angeraten, über Strategien nachzudenken, die den Gesellschaftern helfen, aus eigener Kraft eine Lösung zu suchen. 1. Übertragung der Abberufungskompetenz auf Beirat Die Gesellschafter können die Abberufungs- und Kündigungszuständigkeit aus § 38 GmbHG einem anderen Gesellschaftsorgan, etwa einem Aufsichtsrat oder Beirat,56 zuweisen. Größere Unternehmen richten Beiräte ein, damit diese eine Kontrollfunktion gegenüber der Geschäftsführung übernehmen.57 Auch Gesellschafter kleinerer GmbHs machen von dieser Möglichkeit Gebrauch und nutzen den von § 52 Abs. 1 letzter Halbsatz GmbHG eröffneten Weg, von den Anforderungen des AktG für ihren Aufsichtsrat abzuweichen oder diesen im Rahmen ihrer Satzungsautonomie frei zu regeln.58 Gerade in der paritätischen Zwei-Mann-GmbH macht das Sinn. Dem Beirat können alle Aufgaben übertragen werden, die der Gesellschafterversammlung obliegen und keine Grundlagenentscheidungen (Satzungs- und Strukturänderungen) betreffen; die Bestellungs- und Abberufungskompetenz aus § 46 Nr. 5 GmbHG ist keine zwingend den Gesellschaftern vorbehaltene Befugnis. Sie kann zwar aufgespalten werden, bei einer Auslegung ist jedoch davon auszugehen, dass Bestellungs- und Abberufungskompetenz in einer Hand liegen sollen. 59 Kann die Delegation der Aufgaben aus § 46 Nr. 5 GmbH auf einen Beirat wirksam verhindern, dass zerstrittene Gesellschafter dessen Beschlüsse wieder kassieren? Eine Meinung im Schrifttum qualifiziert die dem Beirat eingeräumte Kompetenz im Zweifel als konkurrierend, weil in der Regel ein Minimaleingriff in die GmbH-Verfassung

55 Vgl. oben Ziff. III. 5. 56 Zum Beirat in der GmbH: G. Rotthege, Beratung der GmbH, 3. Aufl. 2009, Kap. I. G. Rotthege. in FS Elsing, 2015, S. 117 f. 57 Rund 49 % der großen Familienunternehmen haben einen Beirat installiert, vgl. Pressemitteilung v. 23.12.2013, „Familienunternehmen statten Beiräte mit mehr Kompetenzen aus“, abgerufen über www.pwc.de/de/pressemitteilungen/2013 am 30.11.2020. 58 Zur Zulässigkeit von Verträgen mit Aufsichtsratsmitgliedern und deren Haftung vgl. G. Rotthege in FS Elsing, 2015, S. 117 f. 59 Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  38 GmbHG Rz. 15; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 8.

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gewollt sei.60 Andere sehen stets eine verdrängende Kompetenz des Beirats, weil es sonst zu Konflikten zwischen Organen komme.61 Besonders für die zweigliedrige GmbH stellt sich die Frage, ob eine verdrängende Kompetenz des Beirats auch die Abberufung aus wichtigem Grund umfasst oder diese zwingend bei den Gesellschaftern verbleiben muss. Diese Frage ist in der Literatur umstritten. Eine Ansicht geht davon aus, dass die Gesellschafterversammlung in jedem Fall die Befugnis zur Abberufung behalten müsse. Andernfalls sei die Bindung der Geschäftsleitung an den Willen der Gesellschafter gefährdet.62 Andere Meinungen erstrecken die Zuständigkeitsverlagerung auch auf die Abberufung aus wichtigem Grund.63 Die Interessen der Gesellschafter seien durch die Rechte auf Abschaffung des fakultativen Organs im Wege der Satzungsänderung ausreichend geschützt; eine Auffangkompetenz der Gesellschafterversammlung greife lediglich bei Funk­ tionsunfähigkeit des statutarischen Abberufungsorgans. Gerade für die paritätische Zwei-Mann-GmbH ist dieser Auffassung zuzustimmen; denn ein starker Beirat, auf den sich die hälftig beteiligten Gesellschafter in guten Zeiten geeinigt und dem sie die Berufungs- und Abberufungskompetenz bzgl. der Geschäftsführer anvertraut haben, muss auch in schlechteren Zeiten funktionsfähig bleiben, so schwierig dies dann auch sein mag. Auch bei eindeutiger Satzungsbestimmung verbleibt ein Rest an Unsicherheit, dass der abberufene Gesellschafter-Geschäftsführer eine durch den Beirat ausgesprochene Abberufung für unwirksam hält und dies gerichtlich klären lässt. Dies ist im Interesse der Gesellschaft hinzunehmen. 2. Exit-Strategien Ultima-ratio-Regelungen können den Gesellschaftern helfen, ihre Zusammenarbeit zu beenden. Üblicherweise kommen sie zum Einsatz, wenn eine wiederholte Gesellschafterversammlung oder eine Schlichtung scheitern, und haben den Vorteil, dass über das tatsächliche Vorliegen eines wichtigen Abberufungsgrundes nicht mehr entschieden werden muss. Damit sind sie gesichtswahrend für beide Gesellschafter. Recht drakonisch erscheinen auf den ersten Blick Auseinandersetzungen nach Maßgabe sogenannter „Russian Roulette“64 und „Texan Shoot Out“-Klauseln. Bei erste60 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 45 GmbHG Rz. 19; zur Begründung wird z.T. die herrschende Meinung zum fakultativen AR herangezogen, die ebenfalls keine verdrängende Kompetenz annimmt. 61 Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 45 GmbHG Rz. 94; Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 45 GmbHG Rz. 51. 62 Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 28; Fleck, ZGR 1988, 104, 121; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  38 GmbHG Rz. 13; Diekmann in MünchHdb GesR III, 5. Aufl. 2018, § 42 Rz. 58. 63 Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  38 GmbHG Rz.  18; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20.  Aufl. 2020, §  38 GmbHG Rz.  16; Schneider, ZGR 1983, 544. 64 Nach Ansicht des OLG Nürnberg v. 20.12.2013 – 12 U 49/13, RNotZ 2014, 180, kann eine Russian-Roulette-Klausel unwirksam sein, wenn einer der beiden Gesellschafter von Anfang an finanziell gar nicht in der Lage ist, dem anderen Gesellschafter ein Erwerbsangebot

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rem Szenario kann jeder Gesellschafter dem anderen seine Geschäftsanteile zu einem bestimmten Preis anbieten; dieser kann das Angebot annehmen und Alleingesellschafter werden oder dem Bieter seine eigenen Geschäftsanteile zu dem angebotenen Preis verkaufen und ausscheiden. Nach dem „Texan Shoot Out“ übermitteln beide Gesellschafter einem unabhängigen Dritten (häufig einem Notar) ein verdecktes Kaufangebot für die Anteile des jeweils anderen. Die Angebote werden gleichzeitig geöffnet und das höhere Angebot kommt zum Zug; der Mehrbietende muss die Anteile des anderen Gesellschafters erwerben.

VII. Ergebnis In der paritätischen Zwei-Mann-GmbH unterliegt der Grundsatz der freien Abberufbarkeit des Gesellschafter-Geschäftsführers erheblichen Einschränkungen. Hier verbietet es insbesondere die Treuepflicht, den Mitgesellschafter aus vermeintlich wichtigen Gründen abzuberufen. Derartige Beschlüsse entfalten Rechtswirkung erst mit gerichtlicher Feststellung. Bis dahin bleibt der betroffene Gesellschafter-Geschäftsführer im Amt. Der dadurch entstehende Schwebezustand ist hinzunehmen. GmbH-Gesellschafter sind gut beraten, den Streitfall schon bei der Gründung einzuplanen und Exit-Strategien zu entwickeln. In jedem Fall lohnt sich das Bemühen um eine gütliche Einigung. Dann liegt es an den Parteien, ihren Streit zu beenden und ihre Zukunft zu gestalten.

zu machen. Der Zweck, die Auflösung einer möglichen Selbstblockade herbeizuführen, sei aber zumindest bei einer Gesellschaft mit zwei gleich hoch beteiligten Gesellschaftern sachlich gerechtfertigt.

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Plädoyer für eine Neujustierung der Ausfallhaftung für ausstehende Stammeinlagen bei der GmbH Inhaltsübersicht I. Einführung II. Verfahren I II. Gegenstand und Schuldner 1. Aufbringung des „Fehlbetrags“ 2. „Übrige Gesellschafter“ a) Zeitpunkt b) Gesellschafterliste und Altfälle c) Eigene Anteile

3. Kapitalerhöhung 4. Verschmelzung IV. Inkonsequenzen und Umgehungs­ möglichkeiten V. Kritik VI. Schluss

I. Einführung Die Kaduzierung, nämlich der entschädigungslose Zwangsausschluss eines säumigen Gesellschafters nach §§ 21-23 GmbHG, ermöglicht der GmbH die Erzwingung rückständiger Leistungen auf die Stammeinlage. Zwar handelt es sich um ein Instrument zur Durchsetzung der Kapitalaufbringung,1 weshalb das Verfahren (II.) nach §  25 GmbHG zwingend ausgestaltet ist. Auch wenn das generalpräventive Element im Vordergrund stehen mag,2 findet es wegen offener Fragen in der Judikatur3 immer wieder Beachtung (III.). Dabei betreffen gleich mehrere Entscheidungen des BGH aus jüngerer Zeit die letzte Stufe der Kaduzierung nach Erfolglosigkeit der Verwertung des Anteils, nämlich die subsidiäre ratierliche Ausfallhaftung der übrigen Gesellschafter nach § 24 GmbHG als äußerstem Mittel.4 Aber gerade Letztere ist keineswegs zwingend (IV.) und erfährt zunehmend Kritik,5 weshalb sich die Frage stellt, ob man es bei der bisherigen Regelung belassen soll, die vor allem durch eine weitgehende „Schonung“ ausgeschiedener Gründer und von Rechtsvorgängern des Ausgeschlossenen gekennzeichnet ist (V.). 1 Kersting in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 1; Leuschner in Habersack/ Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, Vor § 21 GmbHG Rz. 1 f.; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 21 GmbHG Rz. 1; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 2 und 5.  2 S. nur Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, Vor § 21 GmbHG Rz. 6, 8. 3 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3.  Aufl. 2019, Vor §  21 GmbHG Rz.  7 m.w.N. in Fn. 2. 4 BGH v. 18.9.2018 – II ZR 312/16, BGHZ 219, 327 = GmbHR 2018, 1303; BGH v. 19.5.2015 – II ZR 291/14, GmbHR 2015, 935; Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, Vor § 21 GmbHG Rz. 2. 5 Dazu nur Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 97 ff.; Verse in Hennsler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 1a.

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II. Verfahren Das mehrstufige Verfahren der Kaduzierung, das Voraussetzung der subsidiären Ausfallhaftung der übrigen Gesellschafter ist, steht bei verzögerter Erfüllung der Bareinzahlungspflicht auf den Geschäftsanteil des Gesellschafters – sei es bei Übernahme des Geschäftsanteils, bei der Gründung oder bei späterer Kapitalerhöhung – offen.6 Es nimmt seinen Ausgang in § 5 Abs. 2 GmbHG. Danach setzt die Anmeldung lediglich voraus, dass auf jeden Geschäftsanteil ein Viertel des Nennbetrags und insgesamt mindestens die Hälfte des Mindeststammkapitals eingezahlt ist. Dass man es nicht selten damit bewenden lässt und es nicht selten auch zur Überbewertung von Sacheinlagen kommt, belegt die Rechtsprechung zur Ausfallhaftung der übrigen Gesellschafter. Man darf annehmen, dass dabei meist Insolvenzverwalter tätig werden und unvermittelt geltend gemachte Ansprüche gegen Gesellschafter, die ihre eigene Einlagepflicht längst vollständig erfüllt haben, mitunter in den Ruin treiben können. Das Verfahren lässt sich rasch skizzieren: Erstens bedarf es einer eingeforderten, aber nicht bewirkten Stammeinlage, zu deren Zahlung der säumige Gesellschafter unter Fristsetzung und Androhung seines Ausschlusses nochmals aufgefordert werden muss (§  21 Abs.  1 GmbHG). Und hier liegt bereits die erste Hürde, die auch den Gläubigerschutz in Frage stellen mag: Die Einforderung der Einlagen erfolgt nach §  46 Nr.  2 GmbHG durch Gesellschafterbeschluss. Zweitens ist nach fruchtlosem Fristablauf der entschädigungslose Zwangsausschluss zu erklären, der auch zum Verlust bereits geleisteter Zahlungen führt (§ 21 Abs. 2 Satz 1 GmbHG). Gleichwohl haftet der ausgeschlossene Gesellschafter weiter auf die nicht erfüllte Einlageverpflichtung (§ 21 Abs. 3 GmbHG) und neben ihm im Wege des Staffelregresses auch dessen Rechtsvorgänger (§  22 GmbHG). Wenn auch von diesen der rückständige Betrag nicht zu erlangen ist, kann die Gesellschaft drittens den Geschäftsanteil im Wege öffentlicher Versteigerung nach § 23 GmbHG verkaufen lassen. Erst wenn die Stammeinlage weder von dem Ausgeschlossenen oder seinen Rechtsvorgängern eingezogen noch durch den Verkauf des Geschäftsanteils gedeckt werden kann, haben viertens die verbleibenden Gesellschafter den verbleibenden Fehlbetrag aufzubringen. Nach § 24 Satz 1 und 2 GmbHG hat dies nach dem Verhältnis der Nennbeträge ihrer Geschäftsanteile zu erfolgen; soweit einzelne Gesellschafter ihre so berechneten Anteile der Ausfallshaftung nicht aufbringen können, haben die übrigen auch deren Anteile pro rata aufzubringen.

III. Gegenstand und Schuldner Das Verfahren der Kaduzierung und insbesondere die Vorschrift des § 24 GmbHG über die Ausfallhaftung der übrigen Gesellschafter wirft bis heute zahlreiche Fragen auf und bereitet deshalb nach wie vor erhebliche Anwendungsprobleme.7 Diese betreffen den Haftungsgegenstand (1.) ebenso wie die Qualifikation als haftender Mit6 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 33. 7 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 98.

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gesellschafter insbesondere in zeitlicher Hinsicht (2.) sowie die Beurteilung besonderer Situationen wie der Kapitalerhöhung (3.) oder der Verschmelzung (4.). 1.  Aufbringung des „Fehlbetrags“ Als Teil des Kaduzierungsverfahrens erstreckt sich die Ausfallhaftung nur auf rückständige Bareinlagebeträge auf die Stammeinlage. Daneben werden die Zahlungspflichten aus der Differenzhaftung bei Überbewertung von Sacheinlagen (§ 9 GmbHG), der Unterbilanzhaftung8 und für den in bar zu erbringenden Teil bei der gemischten Einlage erfasst.9 Die Vorschrift ist auch bei der Verlustdeckungshaftung in der Vorgesellschaft entsprechend anwendbar, auch wenn hier die Voraussetzung der Kaduzierung nicht gegeben sein kann.10 Ausgeschlossen ist die Haftung für Sachleistungen und auch für Zinsen, Vertragsstrafen oder sonstige Nebenleistungen.11 Im Übrigen erfasst die Ausfallhaftung nicht nur die Einlagebeträge, wegen derer kaduziert wurde, sondern auch solche, die erst danach eingefordert oder fällig wurden.12 Darauf, dass der ausstehende Betrag tatsächlich zur Deckung von Schulden erforderlich ist, kommt es im Umkehrschluss zu § 31 Abs. 3 GmbHG nicht an.13 Bei Vorliegen der Voraussetzungen haftet jeder Mitgesellschafter für den gesamten Bareinlagebetrag, der nach Durchführung des Kaduzierungsverfahrens noch offen ist. Auch später fällig gewordene, auf den kaduzierten Anteil fallende Einlagefor­ derungen sind erfasst.14 Wurde die Gesellschaft ordnungsgemäß gegründet und sind keine Zahlungen entgegen § 30 Abs. 1 GmbHG geleistet worden (§ 31 Abs. 3 GmbHG), kommt daher wegen § 7 Abs. 2 Satz 1 GmbHG eine Haftung in Höhe von drei Vierteln des gesamten Stammkapitals in Betracht, wenn die Mitgesellschafter ihre Stammeinlagen nicht leisten. Umstritten ist, ob die Gesellschafter auch über den gesamten Betrag des Stammkapitals hinaus in Anspruch genommen werden können. Diese Frage stellt sich etwa im Rahmen der Vorbelastungshaftung oder auch, wenn eine unterwertige Sacheinlage, etwa ein kontaminiertes Grundstück oder ein überschuldetes Unternehmen, in die 8 BGH v. 9.3.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129, 141 = GmbHR 1981, 114; BGH v. 23.11.1981 – II ZR 115/81, GmbHR 1982, 235. 9 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 15 f.; Saenger in Saenger/Inhester, 4. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 2. 10 Kersting in Baumbach/Hueck, 22.  Aufl. 2019, §  24 GmbHG Rz.  2; Ulmer/Habersack in ­Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 11 GmbHG Rz. 82; Gummert, DStR 1997, 1009; a.A. Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 3. 11 Kersting in Baumbach/Hueck, 22.  Aufl. 2019, §  24 GmbHG Rz.  2; Ebbing in Michalski, 3. Aufl. 2017, § 24 GmbHG Rz. 12. 12 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9.  Aufl. 2019, §  24 GmbHG Rz.  4; Ebbing in Michalski, 3. Aufl. 2017, § 24 GmbHG Rz. 14. 13 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3.  Aufl. 2019, §  24 GmbHG Rz.  21; Kersting in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 3. 14 Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 3a; Ebbing in Michalski, 3. Aufl. 2017, § 24 GmbHG Rz. 57.

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Gesellschaft eingebracht wurde und damit ein negativer Wert geleistet wurde.15 Eine Haftungsbeschränkung wird im Wesentlichen damit begründet, dass das Risiko der Gesellschafter überschaubar bleiben müsse.16 Im Sinne der Kapitalaufbringung und mangels gesetzlicher Grundlage ist eine solche Beschränkung jedoch abzulehnen.17 Die Gesellschafter haben in ihrer Gesamtheit Verantwortung für die Aufbringung der Stammkapitalziffer übernommen. Deshalb ist es ihnen zuzumuten, sich entsprechend abzusichern oder zu informieren, was auch im Rahmen der notariellen Belehrung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BeurkG bedeutsam werden kann.18 Die Gesellschafter haften indes nicht gesamtschuldnerisch, sondern anteilig nach dem Verhältnis ihrer Geschäftsanteile, also pro rata. Das Verhältnis bemisst sich allein nach den Nennbeträgen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Baroder Sacheinlage handelt und wie viel darauf tatsächlich schon an die Gesellschaft geleistet wurde.19 Der kaduzierte und ein etwaiger eigener Anteil der GmbH bleiben bei der Berechnung unberücksichtigt. Soweit Fehlbeträge von einzelnen Gesellschaftern nicht zu erlangen sind, haften die Mitgesellschafter wiederum nach dem Verhältnis ihrer Anteile für diesen Fehlbetrag (§ 24 Satz 2 GmbHG). Dabei verjährt der Anspruch aus § 24 GmbHG ebenso wie der Anspruch auf Zahlung der Einlage (§ 19 Abs. 4 GmbHG) nach bislang überwiegender Ansicht regelmäßig in zehn Jahren.20 Der BGH geht hingegen von der dreijährigen Regelverjährung nach §§ 195, 199 BGB aus.21 2.  „Übrige Gesellschafter“ Weiten Raum nimmt in der Judikatur die Bestimmung der „übrigen Gesellschafter“ ein. Die Frage, wann ein Anteilseigner anstelle des kaduzierten Gesellschafters oder

15 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 44; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1128 f. 16 So K. Schmidt, BB 1985, 154 f.; ders., BB 1995, 529, 532; ders., FS Raiser, 2005, S. 311, 317; Kersting in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 7; Wicke, DB 2019, 529, 533 f. Für eine Beschränkung de lege ferenda spricht sich Lieder, ZGR 2016, 760, 779 aus. 17 Ebenso Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 44; Ebbing in Michalski, 3. Aufl. 2017, § 24 GmbHG Rz. 63; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 8; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 71; Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 93; Gätsch, BB 1999, 701; Wilhelm, FS Flume II, 1978, S. 337, 361 f. 18 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 44; Saenger in Saenger/Inhester, 4. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 11. 19 Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 18; Schütz in MünchKomm., 3. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 60. 20 Wie hier Kersting in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 9; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 14. 21 BGH v. 18.9.2018 – II ZR 312/16, BGHZ 219, 327 = GmbHR 2018, 1303, 1309; Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 55; Verse in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 11; Foerster, NZG 2019, 366, 372.

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seiner Rechtsvorgänger subsidiär herangezogen werden kann, hat geradezu einen „Jahrhundertstreit“22 entfacht. a) Zeitpunkt Maßgeblich für das Vorliegen der Gesellschafterstellung ist richtigerweise23 bereits der Zeitpunkt der Fälligkeit24 der (restlichen) Einlageschuld, wegen derer sodann die Kaduzierung nach § 21 Abs. 2 GmbHG erfolgte.25 Der Anspruch der Gesellschaft auf Ausfallhaftung entsteht daher nicht erst mit dem Ausschluss des Säumigen nach § 21 Abs. 2 GmbHG, sondern schon früh unter der aufschiebenden Bedingung des Eintritts der weiteren Voraussetzung des § 24 GmbHG.26 Deshalb trifft einen noch vor Einforderung rückständiger Einlagen aufgrund eines Beschlusses nach §  46 Nr.  2 GmbHG ausgeschiedenen Gesellschafter selbst dann keine Ausfallhaftung, wenn dieser seinen Geschäftsanteil gerade an den später Kaduzierten abgetreten hatte; offen bleibt allerdings, ob dies auch im Fall einer rechtsmissbräuchlichen Übertragung gilt.27 Aufgrund dieser Wertung des § 24 GmbHG kann denjenigen, der seinen Anteil an den später Kaduzierten übertragen hat, auch keine Haftung aus § 22 GmbHG als dessen Rechtsvorgänger treffen.28 Erfolgt die Übertragung hingegen erst nach Fälligkeit der Einlageforderung, bleibt die gegen den Veräußerer als Mitgesellschafter bereits nach § 24 GmbHG begründete Ausfallhaftung bestehen und haftet der Erwerber neben diesem gesamtschuldnerisch, was dem für die Aufbringung der Einlage geltenden Grundsatz des § 16 Abs. 2 GmbHG29 entspricht.30 Der Innenausgleich ist dann abhängig davon, was Veräußerer und Erwerber beim Anteilskauf vereinbart haben. Nur wenn von beiden der auf diesen Geschäftsanteil anteilig entfallende Fehlbetrag nicht zu erlangen ist, haben die verbleibenden Gesellschafter nach § 24 Satz 2 GmbHG diesen wiederum pro rata zu 22 So Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 95; zur Entwicklung auch Bayer/Scholz, NZG 2015, 1089, 1092 f. 23 Ausführlich zum Streitstand Bayer/Scholz, NZG 2015, 1089, 1092 f. 24 Zur Frage der Fälligkeit Wicke, DB 2019, 529, 532. 25 BGH v. 18.9.2018  – II ZR 312/16, BGHZ 219, 327 = GmbHR 2018, 1303, 1304; BGH v.  19.5.2015  – II ZR 291/14, GmbHR 2015, 935, 936; BGH v. 13.5.1996  – II ZR 275/94, BGHZ 132, 390, 394 = GmbHR 1996, 601, 603; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9.  Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 14; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 9; Kersting in Baumbach/Hueck, §  24  GmbHG Rz.  6; Saenger in Saenger/Inhester, 4.  Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 7; Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 90. 26 BGH v. 18.9.2018 – II ZR 312/16, BGHZ 219, 327 = GmbHR 2018, 1303, 1310. 27 BGH v. 19.5.2015 – II ZR 291/14, GmbHR 2015, 935, 937, jedoch hinsichtlich der Rechtsmissbräuchlichkeit offengelassen; Letzteres ablehnend, jedenfalls soweit eine Inanspruchnahme des Veräußerers aus § 24 GmbHG nicht bereits im Zeitpunkt der Übertragung konkret drohte, Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 91 und ebenso Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 9. 28 BGH v. 19.5.2015 – II ZR 291/14, GmbHR 2015, 935, 935 f. 29 Dazu Pfisterer in Saenger/Inhester, 4. Aufl. 2020, § 16 GmbHG Rz. 22. 30 Verse in Hennsler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 4; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 9, 13; Bayer/­Scholz, GmbHR 2016, 89, 92.

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tragen.31 Für eine abweichende Beurteilung, etwa eine nur subsidiäre Haftung des Veräußerers entsprechend dem Gedanken des § 22 Abs. 2 GmbHG, wie dies für den Fall der Anteilsübertragung vor Fälligkeit der Ausfallhaftung vorgeschlagen wird,32 bei dem eine Haftung des Veräußerers nach dem Voranstehenden ohnehin allenfalls bei Rechtsmissbrauch in Betracht kommt, bleibt kein Raum. Die Ausfallhaftung trifft aber auch, wie der BGH33 klargestellt hat, einen Gesellschafter, der seine Gesellschafterstellung erst nach Fälligkeit der Einlageforderung erlangt.34 Dies gilt selbst, wenn sein Geschäftsanteil durch Teilung des Anteils des bisherigen Alleingesellschafters, der seine fällige Einlageschuld nicht erbracht hat, entstanden und ihm übertragen worden ist.35 Der Haftung unterfällt ebenso der, dessen eigener Gesellschaftsanteil danach kaduziert wird.36 Die Gegenansicht,37 die sich auf eine fehlende gesetzliche Verankerung beruft, stellt auf den Zeitpunkt ab, in dem der Anspruch aus § 24 GmbHG geltend gemacht werden kann. Ein solch später Zeitpunkt würde den Gesellschaftern aber die Möglichkeit eröffnen, den Geschäftsanteil noch vor der drohenden Inanspruchnahme zu veräußern.38 Dies widerspräche der für die Kaduzierung maßgeblichen ratio der Kapitalaufbringung. Ausreichend ist jedenfalls nicht, dass die Gesellschafterstellung zu keinem der beiden Zeitpunkte, sondern nur dazwischen bestand.39 b) Gesellschafterliste und Altfälle Schuldner der GmbH sind alle übrigen Gesellschafter, die gem. §  16 Abs.  1 i.V.m. § 40 GmbHG gegenüber der Gesellschaft als solche gelten, also in der Gesellschafterliste eingetragen sind,40 nicht aber der nach § 21 Abs. 3 GmbHG vorrangig haftende Ausgeschlossene und der Erwerber nach § 23 GmbHG.41 Indes gilt § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG mangels Rückwirkungsanordnung nicht für Sachverhalte aus der Zeit vor 31 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 92. 32 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 92. 33 BGH v. 18.9.2018  – II ZR 312/16, BGHZ 219, 327 = GmbHR 2018, 1303, 1304; s. auch Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 23 ff. 34 Ebenso Schütz, DStR 2019, 111, 112; Pfisterer, DB 2019, 478  f.; krit. aber Foerster, NZG 2019, 366, 369 f.; Wicke, DB 2019, 529, 530. 35 BGH v. 18.9.2018 – II ZR 312/16, BGHZ 219, 327 = GmbHR 2018, 1303, 1304. 36 LG Hildesheim v. 30.9.1997 – 4 O 416/96, GmbHR 1998, 44, 45 f. 37 Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 31; Ebbing in Michalski, 3. Aufl. 2017, § 24 GmbHG Rz. 30, allerdings mit der Maßgabe, dass auch die Einforderung der Beträge nach § 24 noch vor der Veräußerung des Geschäftsanteils stattgefunden haben muss. 38 BGH v. 13.5.1996 – II ZR 275/94, BGHZ 132, 390, 394 = GmbHR 1996, 601; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 15; ausf. Bayer/Scholz, NZG 2015, 1089, 1093 ff. 39 OLG Celle v. 27.7.1994 – 9 U 101/93, GmbHR 1995, 124; Ebbing in Michalski, 3. Aufl. 2017, § 24 GmbHG Rz. 32; a.A. Bayer/Scholz, NZG 2015, 1089, 1097. 40 Nach Foerster, NZG 2019, 366, 371 f. haftet auch ein nichteingetragener Gesellschafter. 41 Saenger in Saenger/Inhester, 4. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 5; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 23.

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Inkrafttreten des MoMiG zum 1.11.2008; als „übrige Gesellschafter“ gelten insoweit die bei der Gesellschaft nach § 16 Abs. 1 Satz 1 a.F. angemeldeten Erwerber.42 c) Eigene Anteile Soweit die GmbH eigene Anteile hält, muss eine Zahlungsverpflichtung ausscheiden. Denn dadurch würde in entsprechender Höhe Konfusion eintreten und die Kapitalaufbringung wäre durch die entfallende Zahlungsverpflichtung gefährdet.43 Als formelle Gesellschafter haften auch Treuhänder oder Strohleute, die einen Anteil für Dritte halten. Hinterleute oder Treugeber können jedoch wegen Fehlens dieser formalen Gesellschafterstellung nicht nach § 24 GmbHG in Anspruch genommen werden; daran vermag auch eine wirtschaftliche Betrachtung nichts zu ändern.44 3. Kapitalerhöhung Bei einer Kapitalerhöhung, durch die neue Gesellschafter aufgenommen werden, haften alte und neue Gesellschafter gleichermaßen für Rückstände aus sämtlichen – alten wie neuen – Einlageverpflichtungen.45 Eine Differenzierung ist sowohl mit dem Wortlaut, der von allen „übrigen Gesellschaftern“ spricht, als auch mit dem Grundsatz der Kapitalaufbringung unvereinbar.46 Aus dem gleichen Grund ist auch keine Unterscheidung zwischen den der Kapitalerhöhung zustimmenden bzw. den diese ablehnenden Gesellschaftern angezeigt; zur Vermeidung eines unzumutbaren Risikos ist Altgesellschaftern, die unverzüglich nach der Kapitalerhöhung widersprochen haben, jedoch ein Austrittsrecht aus wichtigem Grund zuzugestehen.47 Schließlich ist auch die verschiedentlich vertretene Auffassung48 abzulehnen, nach der nicht geschäftsführende Gesellschafter mit einer Beteiligung von unter 10  % entsprechend § 39 Abs. 5 InsO von der Ausfallhaftung bei Kapitalerhöhungen befreit sein können. Insoweit fehlt es bereits an einer Vergleichbarkeit der Interessenlage. 42 BGH v. 18.9.2018 – II ZR 312/16, BGHZ 219, 327 = GmbHR 2018, 1303, 1305; zust. Wicke, DB 2019, 529, 531 f. 43 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 32. 44 Ulmer, ZHR 156 (92), 377  ff.; Ebbing in Michalski, 3.  Aufl. 2017, §  24 GmbHG Rz.  45; ­Saenger in Saenger/Inhester, 4. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 6; a.A. gefestigte Rspr. BGH v. 13.4.1992 – II ZR 225/91, BGHZ 118, 107 = GmbHR 1992, 525 u. Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 13; vgl. dazu auch Köhl, GmbHR 1998, 119. 45 RG v. 1.4.1913 – II 580/12, RGZ 82, 116, 118 ff.; RG v. 15.5.1931 – II 459/30, RGZ 132, 392, 394 ff.; LG Mönchengladbach v. 23.10.1985 – 7 O 45/85, ZIP 1986, 306; Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 33 f.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 17; mit Ausführungen zur früheren Gegenansicht s. Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 16 f. 46 Saenger in Saenger/Inhester, 4. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 8; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 55.  47 LG Mönchengladbach v. 23.10.1985  – 7 O 45/85, ZIP 1986, 306; Ebbing in Michalski, 3.  Aufl. 2017, §  24 GmbHG Rz.  52; Kersting in Baumbach/Hueck, 22.  Aufl. 2019, §  24 GmbHG Rz. 5; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 24 GmbHG Rz. 55. 48 Grunewald, FS Lutter, 2000, S. 413, 416 ff.; Gaiser, GmbHR 1999, 210, 213 ff.

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4. Verschmelzung Wird bei einer Verschmelzung auf eine GmbH übertragen, haften die Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft zunächst für ausstehende Einlagen bei der aufnehmenden Gesellschaft. Der Schutz dieser Gesellschafter erfolgt über das Zustimmungserfordernis aller bei der Beschlussfassung anwesenden Anteilsinhaber gem. § 51 Abs. 1 Satz 3 UmwG.49 Umgekehrt müssen auch die Gesellschafter der aufnehmenden Gesellschaft für etwa ausstehende Einlagen bei der übertragenden Gesellschaft einstehen. Insoweit bedarf es sogar einer Zustimmung aller Gesellschafter des übernehmenden Rechtsträgers (§  51 Abs.  1 Satz 3 UmwG).50 Dies gilt freilich nur, wenn ausstehende Einlagen bei Wirksamwerden der Verschmelzung bereits durch Beschluss der Gesellschafterversammlung der übertragenden GmbH eingefordert sind; ist die übertragende GmbH im Zuge der Verschmelzung erst einmal erloschen, können sich ihre Gesellschafter auch nicht mehr versammeln, um den nach §  46 Nr. 2 GmbHG erforderlichen Einforderungsbeschluss zu fassen, weshalb die Einzahlungsverpflichtung erlischt.51

IV. Inkonsequenzen und Umgehungsmöglichkeiten Um die Berechtigung der Ausfallhaftung des §  24 GmbHG zu hinterfragen, bieten sich gleich mehrere Ansatzpunkte. Der offensichtlichste, nämlich die Tatsache, dass die Parallelregelung der §§ 63 ff. AktG über die Kaduzierung im Aktienrecht keine Ausfallhaftung der Mitaktionäre kennt, lässt sich freilich unter Hinweis auf die regelmäßig deutlich personalistischere Struktur einer GmbH52 beiseite wischen. Fragt man aber, was der Gläubigerschutz des § 24 GmbHG wert ist, sind durchaus Zweifel angebracht. Weil dies nach § 46 Nr. 2 GmbHG einen entsprechenden Beschluss voraussetzt, hat es die Gesellschafterversammlung in der Hand, ob und wann überhaupt restliche Einlagen eingefordert werden53  – wovon die Gläubiger keinerlei Kenntnis haben können. Die „Wertschätzung“ des Gläubigerschutzes zeigt sich aber ganz besonders bei Einpersonengesellschaften. Mit der aufgrund des MoMiG54 2008 erfolgten Aufhebung des früheren, erst 198055 angefügten Satz 3 des § 7 Abs. 2 GmbHG 49 Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 12; Kersting in Baumbach/ Hueck, 22. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 5; Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, Vor § 21 GmbHG Rz. 17.  50 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 13 m.w.N.; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, 20.  Aufl. 2020, §  24 GmbHG Rz.  12; Saenger in Saenger/Inhester, 4.  Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 9; Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, Vor § 21 GmbHG Rz. 14.  51 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, Vor § 21 GmbHG Rz. 16.  52 S. auch Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 24 GmbHG Rz. 1. 53 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 91 und 95. 54 Art. 1 des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I, S. 2026. 55 Aufgrund Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung und anderer handelsrechtlicher Vorschriften v. 4.7.1980, BGBl. I, S. 836.

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besteht kein Unterschied mehr hinsichtlich der Mindesteinzahlungserfordernisse von Mehr- und Einpersonengesellschaften und ist für letztere insbesondere das bis dahin bestehende Erfordernis der Bestellung einer Sicherheit für den übrigen Teil der Geldeinlage entfallen. Mit anderen Worten: Bei der Einpersonengesellschaft wurde auf den besonderen Kapitalaufbringungsschutz verzichtet, der in Form der Ausfallhaftung des § 24 GmbHG bei einer Mehrpersonengesellschaft nach wie vor besteht.56 Aber noch eine weitere Änderung hat das MoMiG mit sich gebracht, nämlich die Zulässigkeit des Hin- und Herzahlens nach § 19 Abs. 5 GmbHG, also einer Gestaltung, wonach die Einlage sofort als Darlehen an den einlegenden Gesellschafter zurückgezahlt wird. Danach ist die Einlageverpflichtung allerdings nur erfüllt, wenn der Darlehens- und Zinsanspruch der Gesellschaft gegen den Gesellschafter vollwertig ist.57 Dies kann sich hier als ein Umgehungsinstrument erster Wahl erweisen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem Hin- und Herzahlen vor und nach Eintragung der Gesellschaft. Vor Eintragung kann jedenfalls die gesamte Einlageschuld oder auch nur ein Teil davon mit Erfüllungswirkung gegen einen jederzeit fälligen, vollwertigen Darlehensrückzahlungsanspruch getauscht werden, wenn dies nach § 19 Abs. 5 Satz 2 und § 8 GmbHG in der Handelsregisteranmeldung offengelegt wird.58 Wird die Einlage auf diese Weise wirksam erbracht, kommen Kaduzierung und Ausfallhaftung der Mitgesellschafter nach § 24 GmbHG selbst dann nicht in Betracht, wenn der Gesellschafter später das Darlehen nicht zu tilgen vermag.59 Ob auch nach Eintragung der GmbH, wenn die Mindesteinlage also bereits erbracht ist, die verbleibende Einlage unabhängig von ihrer Einforderung ebenfalls im Wege des Hin- und Herzahlens mit Erfüllungswirkung gegen einen entsprechenden Darlehensanspruch getauscht werden kann, wird von Bayer/Scholz60 zutreffend bejaht, die damit einen Königsweg für die Verschonung der übrigen Gesellschafter von der Ausfallhaftung weisen. Dies wird überzeugend mit drei Argumenten begründet. Danach könne der Kapitalschutz für die Resteinlage keine strengeren Vorgaben erfordern als für den vor der Anmeldung zu leistenden Teil der Einlage; auch könne es keinen Unterschied machen, ob die Einlage gleich vollständig durch Hin- und Herzahlen geleistet werde oder zunächst eine Teilzahlung erfolge und die Resteinlage erst später durch Hin- und Herzahlen erbracht werden solle; schließlich erlaube die mit Blick auf die Kapitalerhaltung in § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG verankerte bilanzielle 56 Darauf weisen auch Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 96 f. und Verse in Hennsler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 24 GmbHG Rz. 1a hin. 57 Zur Frage, welche Nachweise das Registergericht verlangen kann, OLG München v. 17.2.2011 – 31 Wx 246/10, GmbHR 2011, 422 f. Zur Kritik daran Komo, BB 2011, 2307. 58 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 120/07, BGHZ 180, 38 = GmbHR 2009, 540, 543 – Qivive; BGH v. 20.7.2009 – II ZR 273/07, BGHZ 182, 103 = GmbHR 2009, 926, 928 – Cash Pool II. 59 Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe, 3. Aufl. 2019, Vor § 22 GmbHG Rz. 18; Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 19 GmbHG Rz. 358; Kersting in Baumbach/ Hueck, 22.  Aufl. 2019, §  19  GmbHG Rz.  83; Verse in Henssler/Strohn, 4.  Aufl. 2019, § 19 GmbHG Rz. 91; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, § 19 GmbHG Rz. 104, auch zur Kritik daran; Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 94; a.A. aber Ebbing in Michalski, 3. Aufl. 2017, § 19 GmbHG Rz. 178. 60 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 94 f.

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Betrachtungsweise sogar eine Auszahlung aus gebundenem Vermögen, weshalb auch ein Aktiventausch für die Resteinlage möglich sein müsse.61 Damit hängt die Frage, ob auch noch nach Eintragung die Ausfallhaftung vermieden werden kann, ohne dass auf die Vorteile von Teileinzahlungen verzichtet wird, alleine davon ab, ob ein nachträgliches Hin- und Herzahlen als unzulässige Umgehung des Anmeldeerfordernisses des § 19 Abs. 5 Satz 2 GmbHG zu qualifizieren ist; dies ist jedenfalls schon deshalb zu verneinen, weil nach Eintragung und Entstehung der Gesellschaft keine registergerichtliche Prüfung der Einlagenleistung, welche die Offenlegung einzig und allein ermöglichen soll, mehr stattfindet.62

V. Kritik Ist aus Gründen des Gläubigerschutzes die Kapitalaufbringung durchzusetzen, kommen als potentielle Haftende neben dem im Wege der Kaduzierung ausgeschlossenen Gesellschafter, dessen eventuellen Rechtsvorgänger, die Gründungsgesellschafter oder aber, wie dies § 24 GmbHG vorsieht, die zum Zeitpunkt der Fälligstellung der Einlageverpflichtung aktuellen Mitgesellschafter in Betracht. Es ist letztlich eine rechtspolitische Entscheidung, wer aus diesem Kreis in welcher Reihenfolge in Anspruch genommen werden kann. De lege lata bleibt somit die Haftung des Ausgeschlossenen zwar nach § 21 Abs. 3 GmbHG bestehen, ist aber bei dessen Unvermögen wertlos. Seine (subsidiär) haftenden eventuellen Rechtsvorgänger bis hin zu dem jeweiligen Gründungsgesellschafter können im Wege des Staffelregresses nur in Anspruch genommen werden, wenn die Bareinlage innerhalb von fünf Jahren nach ­ihrem Ausscheiden fällig wird; sie werden nicht herangezogen, wenn die (wide­r­ legliche) Vermutung der Zahlungsunfähigkeit greift, weil innerhalb eines Monats nach Zahlungsaufforderung und Benachrichtigung keine Zahlung erfolgt ist (§  22 GmbHG).63 Andere Gründungsgesellschafter, die zum Zeitpunkt der Fälligstellung der Einlageverpflichtung bereits ausgeschieden sind, haften gar nicht.64 Als Haftende kommen damit letztlich nur die in der Gesellschaft verbliebenen Gründungsgesellschafter und nicht zu den Gründern zählende aktuelle Gesellschafter in Betracht. Erstere haben die  – vom Gesetzgeber vorgesehene und nach §  7 Abs.  2 GmbHG zulässige – unvollständige Aufbringung des Stammkapitals zwar zu „verantworten“. Bedenkt man aber, dass die Fälligkeit der Einlagen nach § 46 Nr. 2 GmbHG von der ins Belieben der Gesellschafterversammlung gestellten vorherigen Beschlussfassung abhängt und damit von dieser steuerbar ist,65 ist der Kreis der potentiellen Schuldner doch recht willkürlich  – und lässt sich vor allen Dingen von Gründern ebenso wie von später beigetretenen Gesellschaftern, die nicht Rechtsvorgänger des 61 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 94. 62 Im Ergebnis ebenso Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 94 f. 63 Saenger in Saenger/Inhester, 4. Aufl. 2020, § 22 GmbHG Rz. 8, 10, 13; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 47 f., 51 ff., 59. 64 S. unter III.2.a bei Fn. 27. 65 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 95.

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Ausgeschlossenen sind, dahingehend steuern, dass sie eine entsprechende Beschlussfassung während ihrer Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu verhindern wissen. Auch wenn man das recht zufällige „den Letzten beißen die Hunde“-Prinzip des § 24 GmbHG um des Gläubigerschutzes willen hinnehmen wollte, überwiegen doch die Bedenken. Offensichtlich ist der bereits angesprochene66 Unterschied zum Aktienrecht. Dieser Vergleich verschiedener Formen von Kapitalgesellschaften drängt sich zwar geradezu auf. Dass §§ 63 ff. AktG im Fall der Kaduzierung keine Ausfallhaftung der Mitaktionäre vorsehen, mag man mit der eher personalistischen Struktur einer GmbH begründen. Gleichwohl belegt dies doch, dass eine solche Gesamthaftung dem Konzept einer Kapitalgesellschaft nicht immanent ist.67 Noch schwerer fällt aber die in Bezug auf den Gläubigerschutz eklatant unterschiedliche Behandlung von Einund Mehrpersonen-GmbHs ins Gewicht, nachdem für Erstere das Erfordernis der Sicherheitsleitung für die restliche Einlage entfallen ist.68 Will man dem Interessenausgleich zwischen Gläubigern und (ehemaligen) Gesellschaftern Rechnung tragen, bleibt damit nur die Möglichkeit, das „Übel“ an der Wurzel zu fassen. Schlüssiger als die gegenwärtige Lösung wäre insoweit, die Gründer zur Haftung heranzuziehen und nicht die Befriedigung bei hiervon verschiedenen aktuellen Gesellschaftern zu suchen. Ein solches Konzept würde lediglich ein Nachjustieren auf der vierten Stufe des Kaduzierungsverfahrens, also bei der Ausfallhaftung der Mitgesellschafter, erfordern, und könnte die vorrangigen Behelfe der §§ 22 und 23 GmbHG unberührt lassen. Hierzu wären als „übrige Gesellschafter“, anders als nach der bisherigen Vorstellung, sämtliche Gründungsgesellschafter zu qualifizieren, ungeachtet dessen, ob diese bereits aus der Gesellschaft ausgeschieden sind, und auch einschließlich des (letzten) Rechtsvorgängers des Ausgeschlossenen. Denn allein auf diese Gründungsgesellschafter geht die Entscheidung zurück, bei Anmeldung der Gesellschaft die Option der nicht vollständigen Einzahlung der Einlagen nach §  7 Abs. 2 GmbHG auszuüben. Der Interessenausgleich wäre unvollständig, würde nicht zu Gunsten der Gründer auch dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit zumindest in zeitlicher Hinsicht Rechnung getragen. Eine Lösung hierfür ist im Handels- und Gesellschaftsrecht indes allgegenwärtig. Im Zusammenhang mit registerrelevanten Veränderungen wird stets auf eine fünfjährige Frist (s. nur § 26 Abs. 1, § 61 Abs. 2, § 130a Abs. 2, § 159 Abs. 1, § 160 Abs. 1 HGB etc.) zurückgegriffen, die auch hinsichtlich der Haftung der Rechtsvorgänger des Ausgeschlossenen nach § 22 Abs. 3 GmbHG einschlägig und geeignet ist, sowohl eine interessengerechte Begrenzung der Nachhaftung ab Eintragung des (individuellen) Ausscheidens zu gewährleisten als auch rechtsmissbräuchlichen Verfügungen über den Geschäftsanteil vorzubeugen. Dem Schutz der Gläubiger, die sich ohnehin nicht sicher sein können, ob und wann die Stammeinlage eingefordert wird,69 sollte Genüge getan sein. Verlassen solvente 66 S. unter IV. bei Fn. 52. 67 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 97.  68 S. unter IV. bei Fn. 56.  69 In den Konsequenzen noch weitergehend Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 96 f.

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Gründungsgesellschafter die GmbH, ist dies erkennbar und registermäßig nachvollziehbar, was die Gelegenheit eröffnet, rechtzeitig Vorkehrungen zur Sicherung bestehender Forderungen zu treffen. Verlassen Gründungsgesellschafter nach und nach das (vielleicht noch nicht gleich) sinkende Schiff, sind die Fehlbeträge nach Ablauf der fünfjährigen Nachhaftung unter (immer weniger) verbleibenden Gründern nach § 24 Satz 2 GmbHG pro rata zu verteilen und können zu einer hohen Belastung führen.70 Gleichwohl ist dieses Risiko nicht den Gläubigern aufzubürden, sondern der Sphäre der Gründer zuzuordnen. Diese haben es in der Hand, darauf hinzuwirken, dass Einlagen rechtzeitig bewirkt werden, und wenn (nur für sie und nicht für die Gläubiger) ersichtlich ist, dass dies nicht geschehen wird, rechtzeitig Konsequenzen bis hin zum Ausscheiden zu ziehen.71 Es ist nicht zu leugnen, dass auch und gerade das Gesellschaftsrecht dem Prinzip von Actio und Reactio unterliegt. Jeder Änderung einer gesetzlichen Regelung oder auch nur der rechtlichen Beurteilung lässt sich mit einer veränderten Gestaltung begegnen – sodass das mit der einen bezweckte Ergebnis durch die andere konterkariert wird. So lassen sich natürlich auch leicht Argumente gegen den hier vorgeschlagenen Weg finden. Ebenso wie sich die Haftung nach § 24 GmbHG bereits heute im Wege des Hin- und Herzahlens72 vermeiden lässt, wäre eine ausschließlich auf die Gründer begrenzte Ausfallhaftung spätestens fünf Jahre nach der Übertragung aller Anteile auf Nachfolger gegenstandslos.73 Dies würde selbst dann gelten, wenn es sich bei den Nachfolgern um nur zu diesem Zweck gegründete juristische Personen handeln ­würde, hinter denen sich dieselben Gründer verbergen. Auch wenn darüber hinaus vielfältige Umgehungsmöglichkeiten denkbar sind, erscheint es gegenüber der derzeitigen Lösung interessengerechter und auch zweckmäßiger, den Grundsatz der Kapitalaufbringung im Wortsinne in den Mittelpunkt zu stellen: Dann wäre aber die Haftung auf vierter Stufe nicht an den in der zeitlichen Abfolge zufälligen aktuellen Mitgesellschaftern, sondern am Nukleus der Gründer festzumachen.

VI. Schluss Das mehrstufige Verfahren der Kaduzierung des Anteils an einer GmbH bei nicht vollständiger Erbringung der Einlage ist, wie zahlreiche Entscheidungen belegen, von praktischer Bedeutung. Die Rechtsprechung belegt zugleich, dass die Aufbringung von Fehlbeträgen auf den ersten drei Stufen, also die Inanspruchnahme von Gesellschaftern und Rechtsvorgängern ebenso wie der Versuch der Versteigerung des Geschäftsanteils, nicht selten erfolglos bleibt. Damit wird die eigentlich als äußerste Maßnahme gedachte Ausfallhaftung der übrigen GmbH-Gesellschafter für ausste70 Auf das extreme und geradezu existenzgefährdende Beispiel, das der Entscheidung BGH v. 13.5.1996 – II ZR 275/94, BGHZ 132, 390, 394 = GmbHR 1996, 601 zugrunde liegt, weisen Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 96 hin. 71 Zur „Steuerungswirkung“ der Regelung im Übrigen Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 98.  72 S. unter IV. bei Fn. 60. 73 Diese Zeitspanne präferieren ebenfalls Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 89, 95. 

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hende Stammeinlagen nach § 24 GmbHG zum Mittel erster Wahl. Die Regelung bereitet in ihrer praktischen Anwendung vielfältige Probleme. Ganz besonders gilt dies für die auch von der zeitlichen Perspektive abhängige Qualifikation der „übrigen Gesellschafter“. Sich dabei auf die gegenwärtigen Gesellschafter zu konzentrieren, erscheint weder konsequent noch interessengerecht. Dem Grundsatz der Kapitalaufbringung würde es eher entsprechen, die Verantwortung bei den Gründern zu suchen. Dabei vermag die hier skizzierte Lösung de lege ferenda auch dem Gedanken des Gläubigerschutzes hinreichend Rechnung zu tragen.

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Familienunternehmen in der Sanierung, besondere Hürden und Chancen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Praxisbeispiele I II. Die Themen in der Einzelbetrachtung 1. Auswirkungen von divergierenden ­Interessen und Konflikten im Familienunternehmen in Sanierungssituationen a) Grundsatz und Inhalt der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht b) Wirkungsweise der gesellschafts­ rechtlichen Treuepflicht insbesondere in Sanierungssituationen

c) Folgen und verfahrensrechtliche ­Möglichkeiten bei treuepflicht­ widrigen Handlungen d) Zwischenergebnis 2. Nachfolgebedingte Herausforderungen a) Nachfolgethemen auf Ebene der ­Gesellschafter b) Nachfolgethemen auf operativer ­Ebene c) Zwischenergebnis IV. Ergebnis

„Ein Familienunternehmen ist wie ein Kind, das man aufwachsen sieht und das man begleitet und unterstützt.“ Michael Otto1 Das obige Zitat veranschaulicht die ganz persönliche aber zugleich auch weitreichend gültige Sicht eines Familienunternehmers auf sein Unternehmen. Das Unternehmen wird personalisiert und als geliebtes Kind dargestellt. Diese Emotionalisierung begründet den Kern des Familienunternehmens und zeigt die spezielle Gemengelage, die einem solchen Konstrukt häufig zu eigen ist. Wie kann man diesen besonderen Unternehmenstypus bei Eintritt einer Krise erfolgreich sanieren, welche Herausforderungen gilt es in diesem Zusammenhang zu bewältigen und welche Besonderheiten sind zu berücksichtigen? Der folgende Beitrag beleuchtet einzelne, ausgesuchte Themen aus diesem doch sehr weit gefächerten Feld und legt dabei einen besonderen Fokus auf das Zusammenspiel von juristischer Theorie und Sanierungspraxis.

I. Einleitung Familienunternehmen sind der prägende Unternehmenstypus in Deutschland und es ist kein Geheimnis, dass Familienunternehmen eines der wesentlichen Standbeine 1 Michael Otto, Aufsichtsratsvorsitzender und ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Otto Group, Hamburger Abendblatt, 12.9.2007.

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unserer Wirtschaft sind. So werden neun von zehn Unternehmen als Familienunternehmen geführt.2 Inhaltlich ist die Spannbreite dabei weit: So zählen zu Familienunternehmen unabhängig von Größe oder Umsatz sowohl kleinere Handwerksbetriebe und Einzelhändler als auch international tätige Unternehmen und Konzerne in fast allen Wirtschaftszweigen. Aus juristischer Sicht stellt sich das „Familienunternehmen“ ähnlich divergent dar. Es gibt u.a. keine unumstrittene Definition des Begriffs „Familienunternehmen“. Zwar wird der Begriff im Gesetz erwähnt (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG)3, kann jedoch so nach ganz überwiegender Auffassung nicht als Legaldefinition Verwendung finden, da er im dortigen gesetzlichen Zusammenhang speziell auf mitbestimmungsrechtliche Zwecke zugeschnitten ist.4 Seit 2009 besteht eine von einer Expertengruppe der Europäischen Kommission empfohlene Definition für Familienunternehmen.5 Danach ist „ein Unternehmen beliebiger Größe ein Familienunternehmen, wenn 1. sich die Mehrheit der Entscheidungsrechte im Besitz der natürlichen Person(en), die das Unternehmen gegründet hat/haben, der natürlichen Person(en), die das Gesellschaftskapital des Unternehmens erworben hat/haben oder im Besitz ihrer Ehepartner, Eltern, ihres Kindes oder der direkten Erben ihres Kindes befindet, und 2. die Mehrheit der Entscheidungsrechte direkt oder indirekt besteht, und/oder 3. mindestens ein Vertreter der Familie oder der Angehörigen offiziell an der Leitung bzw. Kontrolle des Unternehmens beteiligt ist. Börsennotierte Unternehmen entsprechen der Definition eines Familienunternehmens, wenn die Person(en), die das Unternehmen gegründet oder das Gesellschaftskapital erworben hat/ haben oder deren Familie(n) oder Nachfahren, aufgrund ihres Anteils am Gesellschaftskapital mindestens 25 % der Entscheidungsrechte hält/halten. Diese Definition umfasst auch Familienunternehmen, die die erste Generationsübertragung noch nicht vollzogen haben. Sie umfasst weiterhin Einzelunternehmer und Selbstständige (sofern eine rechtliche Einheit besteht, die übertragen werden kann).“

2 Vgl. hierzu Überblick der Stiftung Familienunternehmen, abrufbar unter https://www.fami​ lienunternehmen.de/karte-top500-familienunternehmen. 3 § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG: „Ein Mitbestimmungsrecht im Aufsichtsrat besteht auch in einer Aktiengesellschaft mit in der Regel weniger als 500 Arbeitnehmern, die vor dem 10.  August 1994 eingetragen worden ist und keine Familiengesellschaft ist. Als Familiengesellschaften gelten solche Aktiengesellschaften, deren Aktionär eine einzelne natürliche Person ist oder deren Aktionäre untereinander im Sinne von § 15 Abs. 1 Nr. 2 bis 8, Abs. 2 der Abgabenordnung verwandt oder verschwägert sind“. 4 Vgl. etwa Holler, DStR 2019, 880, 883; Foerster, BB 2019, 1411, 1414; Habersack, ZIP 2020, 2093, 2095. 5 European Commission/KMU Forschung Austria, Final Report of Expert Group – Overview of Family-Business-Relevant Issues, Research, Networks, Policy Measures and Existing ­Studies, November 2009, S. 9 f.

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In der deutschen juristischen Literatur und Praxis wird abweichend von dieser Definition zur Eingrenzung des Begriffs auf die Charakteristika und typischen Merkmale eines Familienunternehmens abgestellt.6 Maßgeblich ist dabei der Umstand, dass ein hinreichender Einfluss von Familienmitgliedern auf die Geschicke des Unternehmens besteht, dies unabhängig davon, ob der Einfluss tatsächlicher Natur ist oder gesellschaftsrechtlich vermittelt wird.7 Daneben werden weitere Merkmale für die Unterscheidung von „üblichen“ Unternehmen benannt wie z.B. die Beschränkung des Gesellschafterkreises auf Familienmitglieder, der generationsübergreifende Charakter und die dadurch bedingte anwachsende Anzahl von Gesellschaftern, die Beschränkung der Anteilsübertragbarkeit oder –vererbbarkeit auf Abkömmlinge, die Organstruktur verbunden mit einer Einteilung nach Familienstämmen sowie die Finanzierungsstruktur mit möglichst geringer externer Beteiligung.8 Anhand der vorbenannten Merkmale lässt sich der Typus Familienunternehmen klar von sonstigen Erscheinungsformen abgrenzen. Maßgeblich für die rechtliche Einordnung sind insoweit neben den Vorgaben aus dem Erb- und Familienrecht insbesondere das Gesellschaftsrecht. So hat sich das Familienunternehmen auch dem numerus clausus der gesetzlich vorgesehenen Rechtsformen unterzuordnen. In der Praxis wird nahezu jede vom Gesetz vorgesehene Rechtsform einschließlich möglicher Typenkombinationen (z.B. die GmbH & Co. KG oder die SE & Co. KGaA) genutzt, ohne dabei eine Rechtsform wesentlich zu bevorzugen.9 Vielmehr richtet sich die Wahl nach den individuellen Belangen und Anforderungen des Unternehmens und der dahinterstehenden Familie, teils auch geprägt von steuerrechtlichen Überlegungen.10 Neben den klassischen Rechtsformen wie oHG, KG und GmbH werden für größere, zum Teil auch börsennotierte Unternehmen die Rechtsform der AG (z.B. Beiersdorf AG, Volkswagen AG, BMW AG), einschließlich Typenkombi­ nationen (Henkel AG & Co. KGaA), und auch die Rechtsform der SE (z.B. Freudenberg SE, Porsche Automobilholding SE, Fresenius SE & Co. KGaA) genutzt. Neben diesen etablierten Rechtsformen gibt es immer wieder Vorschläge für die Einführung einer neuen Rechtsform, die u.a. auch den Anforderungen eines Familienunternehmens besonders Rechnung tragen soll. Zunehmend in den Fokus gerückt ist dabei jüngst die sog. „Verantwortungseigentums-Gesellschaft“ oder die „GmbH in Verantwortungseigentum“, für die bereits ein durch eine wissenschaftliche Arbeits 6 Holler in Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 13 ff.; Ulmer, ZIP 549, 552; Habersack, ZIP 2020, 2093, 2095 f. 7 Habersack, ZIP 2020, 2093, 2096; Holler in Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 13. 8 Holler in Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 15; Ulmer, ZIP 549, 552. 9 Fleischer, NZG 2017, 1201, 1210; vgl. hierzu Überblick der Stiftung Familienunternehmen, abrufbar unter https://www.familienunternehmen.de/media/public/pdf/publikationenstudien/studien/Die-volkswirtschaftliche-Bedeutung-der-Familienunternehmen-2019_ Stiftung_Familienunternehmen.pdf. 10 Holler in Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 72 f.; Schücking in Münchener HdB. GesR., Bd. 1, 5. Aufl. 2019, § 4 Rz. 109.

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gruppe erarbeiteter Gesetzesentwurf veröffentlicht wurde.11 Kern des Konzepts des „Verantwortungseigentums“, welches an die Idee von Familienunternehmen und die dort verkörperten Werte von Tradition, Kontinuität, Selbstständigkeit und Werteorientierung anknüpft, sind die Selbstständigkeit des Unternehmens und das Prinzip der zweckorientierten Vermögensbindung.12 Das Unternehmen soll nicht individueller Gewinnerzielung dienen und die Geschäftsanteile bzw. Stimmrechte keine Investitionsgegenstände sein. Entsprechend sollen Gewinne allein dem Unternehmen und seinem Zweck zur Verfügung stehen. Die Geschäftsanteile werden treuhänderisch verwaltet und können mehrheitlich weder verkauft noch ohne Zustimmung der Gesellschafter vererbt werden, weshalb diese Rechtsform besonders zur Auflösung und Strukturierung von Nachfolgethemen geeignet sein soll.13 Ob dies aber auch bei der Sanierung des Familienunternehmens Vorteile mit sich bringt, ist bisher offen und soll nachstehend weitergehend bewertet werden. Zu diesen eher rechtstechnischen Themen kommen bei Familienunternehmen aufgrund der beschriebenen Struktur operative und psychologische Aspekte hinzu, die insbesondere in der Sanierung zu einigen Besonderheiten und Herausforderungen führen. Die Familie „tickt“ anders als ein Unternehmen mit externer Unternehmensleitung, denn hier spielen häufig subjektive und emotionale Momente insbesondere bei Entscheidungsfindungen eine exponierte Rolle. So besteht die Gefahr, dass mehr „Bauchentscheidungen“ getroffen werden, emotionale Erinnerungen Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen und objektive Erwägungen zurücktreten. Der Familienunternehmer sieht sich zudem in einer Doppelrolle gefangen: zum einen als ­Unternehmer, zum anderen als Familienmitglied mit Verantwortlichkeiten in verschiedene Richtungen. Nicht zu vernachlässigen ist zudem die Problematik der Begehrlichkeiten von einzelnen Familienmitgliedern, die insbesondere in Krisensituationen an die Oberfläche gelangen und eine erfolgreiche Sanierung erschweren können. Hinzu kommen Themen wie die Entfremdung aufgrund eines fortschreitenden Generationswechsels, abweichende Interessen der Gesellschafter, finanzielle Abhängigkeiten sowie die Suche nach einer geeigneten Nachfolge. Diese unterschiedlichen Aspekte, ob technischer oder emotionaler bzw. psychologischer Natur, führen insbesondere bei der Sanierung und Restrukturierung des Familienunternehmens zu Besonderheiten, die sich nicht nur auf die rechtliche Bewertung, sondern auch auf die Umsetzbarkeit in der Praxis auswirken. So kann etwa ein Konflikt zwischen Familienmitgliedern nicht nur der Auslöser für eine Krise sein, 11 Sanders/Kempny/Dauner-Lieb/Veil/Möslein/von Freeden, Entwurf eines Gesetzes für die Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Verantwortungseigentum, Stiftung Verantwortungseigentum (Hrsg.) 2020, abrufbar unter: https://www.gesellschaft-in-verantwortungseigentum.de/der-gesetzesentwurf. 12 Veith, NPLY 2019, 15; Sanders, ZRP 2020, 140; Reiff, ZIP 2020, 1750. 13 Vgl. dazu Sanders, ZRP 2020, 140 mit einer Übersicht zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppe (vgl. dazu Rz. 11); Reiff, ZIP 2020, 1750 ff.

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sondern die für eine erfolgreiche Sanierung erforderlichen Maßnahmen wesentlich erschweren. Gleiches gilt für die Suche nach einem geeigneten Nachfolger in den eigenen Reihen der Familie. Die Auswahl hat am Ende nicht nur Auswirkungen auf die erfolgreiche Fortführung des Unternehmens, sondern auch auf die Stabilität im Gesellschafterkreis und eine ggf. für die Neuausrichtung erforderliche Fremdfinanzierung. Welche konkreten Themen in der Praxis eine Rolle spielen, welche rechtlichen Herausforderungen sich dabei stellen und wie diese bewältigt werden können, soll anhand zweier Beispiele hervorgehoben werden.

II. Praxisbeispiele Zu den Praxisbeispielen wie folgt: Praxisbeispiel 1: Das Unternehmen ist bereits in der fünften Generation familiengeführt. Aufgrund des Generationenwechsels ist die Anzahl der Mitglieder des Gesellschafterkreises stark angestiegen und entsprechend die Kapital- und Stimmverteilung zerstückelt. Die Geschäftsführung wird nur von einem Familienstamm wahrgenommen, während die übrigen Familienmitglieder sich auf die Rolle der Gesellschafter beschränken. Das Interesse am Familienunternehmen ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während einige Gesellschafter sich noch stark mit dem Unternehmen, seiner Kultur, den Mitarbeitern und der entstandenen Tradition verbunden fühlen, sind andere nur noch finanziell vom Unternehmen abhängig oder haben das Interesse vollständig verloren. Als die ersten Anzeichen einer operativen Krise im Unternehmen sichtbar werden und ein Beitrag aller Gesellschafter gefordert ist, verstärken diese unterschiedlichen Interessen die Krise im Unternehmen noch. Neben Vorwürfen auf operativer Ebene, nicht frühzeitig etwas unternommen zu haben oder gar ganz unfähig zu sein, wollen und/oder können einige Gesellschafter keinen Beitrag zur Sanierung leisten. Gleichzeitig will sich aber auch keiner aus dem Unternehmen drängen, mit einer Abfindung „abspeisen“ oder im Rahmen einer Kapitalerhöhung in seiner Beteiligung verwässern lassen. Ein Ausweg scheint schwierig zu sein. Praxisbeispiel 2: Das Unternehmen befindet sich seit mehreren Generationen in Familienhand und wurde bis zuletzt operativ durch den Enkel des ursprünglichen Gründers mit viel persönlichem Einsatz erfolgreich geführt und immer weiter ausgebaut. Als dieser plötzlich und unerwartet stark erkrankt und kurze Zeit darauf verstirbt, wird kurzerhand der angeheiratete Schwiegersohn als Geschäftsführer in das Unternehmen eingeführt. Zusätzlich wird der Sohn des Unternehmers als Geschäftsführer eingesetzt. Auf die zunächst unerkannt gebliebene, sich nach und nach verschärfende Krise im Unternehmen können beide Nachfolger nicht in ausreichendem Maße reagieren. Dem Sohn fehlen die persönlichen Fähigkeiten und die Motivation, dem Schwiegersohn der Rückhalt in der Belegschaft und beim Rest der Familie. 441

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Bei beiden Beispielen treten die typischen und bereits beschriebenen Merkmale des Familienunternehmens hervor, d.h. der generationsübergreifende Charakter, die Anteilsübertragung oder -vererbung auf Abkömmlinge sowie der über den Generationenwechsel hinweg ansteigende Gesellschafterkreis. Gleichzeitig lässt schon die grobe Beschreibung des Lebenssachverhalts erahnen, welche besonderen Auswirkungen und Herausforderungen gerade diese Merkmale im Rahmen einer Sanierung sowohl in rechtlicher als auch in praktischer Hinsicht haben können.

III. Die Themen in der Einzelbetrachtung 1. Auswirkungen von divergierenden Interessen und Konflikten im Familienunternehmen in Sanierungssituationen Das Praxisbeispiel 1 verdeutlicht, wie sich die Interessen der einzelnen Familienmitglieder über den Generationenwechsel hinweg unterschiedlich entwickeln können und wie sich diese mit ansteigender Gesellschafterzahl noch weiter verstärken. Die Gesellschafter ziehen nicht mehr an einem Strang, was nicht nur erforderliche Entscheidungen auf Gesellschafterebene, sondern auch die Umsetzung von operativ erforderlichen Maßnahmen oder Veränderungen schwieriger macht. Persönliche Interessen erlangen Vorrang vor Interessen des Unternehmens.14 Mit der beschriebenen Entfremdung steigt zugleich die Konfliktanfälligkeit, die sich – soweit sie zunächst „nur“ den privaten Bereich unter den Familienmitgliedern betrifft – schnell und nahezu unvermeidbar auf das Gesellschaftsverhältnis ausweitet.15 Durch diese emotionale Komponente wird das Thema „schnelle Umsetzung von Maßnahmen“ nochmals erschwert, was sich insbesondere in Sanierungssituationen negativ auswirkt. Die Sanierung eines Unternehmens zeichnet sich zuvorderst dadurch aus, dass re­ gelmäßig einschneidende und tiefgreifende Maßnahmen ergriffen werden müssen, für deren Umsetzung sich der Zeitdruck verschärft, je weiter fortgeschritten die Krise im Unternehmen ist. Gerade für solche Maßnahmen bedarf es regelmäßig aufgrund  entsprechender Regelungen im Gesellschaftsvertrag oder aufgrund gesetzlicher Bestimmungen zustimmender Gesellschafterbeschlüsse, die üblicherweise erhöhte Stimmmehrheiten von mehr als 75% vorsehen. Bestehen in solchen Situationen Unstimmigkeiten zwischen den Gesellschaftern, ist eine zeitnahe Umsetzung von erforderlichen Gesellschafterbeschlüssen mangels Teilnahme oder Zustimmung der Gesellschafter schwierig. Bestenfalls sehen die Statuten des Unternehmens Regelungen vor, wie in solchen Konfliktfällen vorzugehen ist und die Blockadehaltung einiger Gesellschafter überwunden werden kann. In den meisten Fällen aber wird es äußerst problematisch sein, schnelle Entscheidungen und damit eine zeitnahe Lösung herbeizuführen. 14 Hierzu etwa Holler, ZIP 2018, 553, 556; Binz/Mayer, NZG 2012, 201, 204. 15 Holler, ZIP 2018, 553, 556.

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Zur Begegnung eines Teils dieser Problematik hat die Rechtsprechung aus dem Grundsatz der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht ein, auch in der Literatur anerkanntes, Obstruktionsverbot entwickelt, welches der unbegrenzten Stimmrechts­ ausübung bzw. der Blockadehaltung Grenzen setzen soll.16 Die in diesem Zusammenhang anzusetzenden Maßstäbe sind allerdings bisher nicht vereinheitlicht und vornehmlich auf den Einzelfall zugeschnitten. a) Grundsatz und Inhalt der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht aa) Allgemeiner Grundsatz Den Gesellschafter trifft basierend auf seiner Beteiligung an einer gemeinsamen Unternehmung neben den gesetzlichen und vertraglichen Pflichten auch die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht. Im Wesentlichen verlangt diese vom Gesellschafter, dass er sich loyal zu verhalten, die Zwecke der Gesellschaft zu fördern und Schaden von ihr fernzuhalten hat.17 Dabei hat die Treuepflicht zwei Wirkungsrichtungen: einmal zwischen dem jeweiligen Gesellschafter und der Gesellschaft und darüber hinaus unter den Gesellschaftern.18 Kern der Treuepflicht ist dabei, die „Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Gesellschaft und die gesellschaftsbezogenen Belange der Mitgesellschafter“.19 Die Auswirkungen, der Inhalt und die Reichweite dieses Grundsatzes der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht hängen dabei von den Umständen und einer Beurteilung im Einzelfall ab. Relevant sind eine Vielzahl von Faktoren. Ansatzpunkt ist, unabhängig von der gewählten Rechtsform,20 zunächst die Realstruktur der Gesellschaft, die sich im Wesentlichen aus der tatsächlichen Struktur, dem Zweck und dem Gegenstand der Gesellschaft ergibt. Ausschlaggebend ist zudem die aktuelle wirtschaftliche Lage der Gesellschaft, die Dauer und der Umfang der Beteiligung an der Gesellschaft sowie Einflussmöglichkeiten und persönliche Verbundenheit der einzelnen Gesellschafter.21 Bei Letzterem lässt sich festhalten, dass je stärker der Einfluss des Gesellschafters ist, desto größer und intensiver die anzusetzende Treuepflicht des Gesellschafters ausfällt. Gemäß der Aussage aus den Spider-Man Comics könnte man auch sagen: „Aus großer Macht folgt große Verantwor16 Seibt, ZIP 2014, 1909; Priester, ZIP 2010, 497, 499. 17 Merkt in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 13 Rz. 88. 18 BGH v. 1.2.1988 – II ZR 75/87, BGHZ 103, 184 ff.; BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, NJW 1995, 1739, 1741 f.; BGH v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, NJW 2019, 1289. 19 BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, NJW 1995, 1739, 1741 f. („Girmes“). 20 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 23/74, BGHZ 65, 15, 18; BGH v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, NJW 2019, 1289 (gesellschaftsrechtliche Treuepflicht als rechtsformübergreifendes Verbandsprinzip anerkannt); Born in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), HGB, 4. Aufl. 2020, § 109 Rz. 20. 21 Born in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), HGB, 4. Aufl. 2020, § 109 Rz. 20; Merkt in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 13 Rz. 89; Schmidt in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 105 Rz. 190.

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tung“.22 Dabei geht die Möglichkeit der Einflussnahme nicht unbedingt mit der Beteiligung am Kapital der Gesellschaft oder dem Stimmgewicht des jeweiligen Gesellschafters einher. Braucht es für eine Entscheidung einer bestimmten Mehrheit oder der wohlwollenden Mitwirkung aller Gesellschafter (z.B. keine Ausübung von Rechtsbehelfen gegen gefasste Gesellschafterbeschlüsse), kann auch der Minderheitsgesellschafter der ausschlaggebende Faktor sein. Relevant ist darüber hinaus die jeweils in Rede stehende Maßnahme. Insoweit gilt der Grundsatz, dass wenn es um uneigennützige Themen geht, wie z.B. eine Beschlussfassung über Geschäftsführermaßnahmen, das Gesellschaftsinteresse in der Regel Vorrang erhält, während das Gesellschaftsinteresse bei eigennützigen Rechten der Gesellschafter, wie z.B. bei Gewinnbeteiligungen oder Austrittsrechten, eher hinter die Eigeninteressen der Gesellschafter zurücktreten muss.23 Auf den ersten Blick scheint dies ein handhabbarer Richtungsweiser zu sein. Im Einzelfall ist es aber dann doch nicht so einfach. Dies etwa, wenn über die Aufnahme von Fremdkapital durch die Gesellschaft beschlossen werden soll, damit jedoch gleichzeitig ein Entnahmeverbot einhergeht. bb) Übertragung der Grundsätze auf die Familiengesellschaft Übertragen auf die Familiengesellschaft ergeben sich für diese Grundsätze basierend auf den bereits beschriebenen Spezifika der Familiengesellschaft auch Besonderheiten für Umfang und Anwendung der Treuepflicht. Bei der Familiengesellschaft hebt sich neben der besonderen Verbundenheit der Gesellschafter untereinander und der langjährigen Beteiligung, insbesondere hinsichtlich der Realstruktur, das Gesellschaftsziel bzw. deren Zweck von anderen Unternehmen ab. Neben oder sogar anstatt der Gewinnerzielungsabsicht stehen häufig die Erhaltung des Unternehmens für nachfolgende Generationen, die Beteiligung von Abkömmlingen und die langfristige, generationsübergreifende Vermögensverwaltung im Vordergrund.24 Der „Familiengesellschafter“ trägt mithin die Verantwortung, das Familienunternehmen dauerhaft auch für nachfolgende Generationen zu erhalten. Daraus folgt wiederum ein besonderes Maß an Rücksichtnahme für die Belange des Familienunternehmens. Insoweit wird sogar von einer „treuhänderähnlichen Stellung“ des Familiengesellschafters gesprochen.25 Für die vom „Familiengesellschafter“ zu beachtende Treuepflicht bedeutet dies, dass in vielen Fällen dem Interesse der Gesellschaft Vorrang einzuräumen ist.26 Dies geht so weit, dass über uneigennützige Maßnahmen hinaus auch bei der Ausübung von 22 Stan Lee, Spider-Man-Comic, Amazing Fantasy 15, 1962. 23 Holler, Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 360; Merkt in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 13 Rz. 92. 24 Holler in Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 363 f. 25 Ulmer, ZIP 2010, 805, 816. 26 So im Grundsatz BGH v. 15.11.1982  – II ZR 62/82, NJW 1983, 1056, 1059; Holler in ­Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 363 f.

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eigennützigen Rechten, d.h. den Gesellschaftern im eigenen Interesse verliehenen Gesellschafterrechte (wie z.B. das Recht auf Gewinnentnahme, Austritt und Ab­ findung), das Gesellschaftsinteresse, trotz abweichender Individualrechte, Vorrang erhält.27 Ein Beispiel hierfür aus der Praxis ist etwa die Umsetzung einer vorweg­ genommenen Nachfolgeregelung verbunden mit einer insoweit erforderlichen Än­ derung des Gesellschaftsvertrags28 oder die Begrenzung bzw. Stundung und ein ­zeitweiser Verzicht auf das Recht zur Gewinnentnahme, um eine Insolvenz des Unternehmens zu vermeiden.29 Gleichzeitig gibt es aber auch eine Vielzahl an Gegenbeispielen. So folgt etwa aus der Einrichtung eines Poolvertrags zur Bündelung der Anteile an der Familiengesellschaft nicht die Pflicht, einer Veräußerung aller Anteile ­zuzustimmen30 und es besteht keine Pflicht, bei Fehlen eines Geschäftsführers die Suche über eine Personalagentur zu unterstützen.31 Auch kann die Zustimmung zu einem von der Geschäftsführung vorgeschlagenen neuen Standortkonzept (Filialexpansion) ohne nähere Begründung abgelehnt werden, selbst wenn der Vorschlag aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll für das Unternehmen ist.32 b) Wirkungsweise der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht insbesondere in Sanierungssituationen aa) Auswirkung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht in Sanierungssituationen Nach der Bestimmung der relevanten Faktoren des Inhalts der Treuepflichten stellt sich auf der zweiten Stufe die Frage nach den Auswirkungen der Treuepflicht auf die konkrete Ausübung von Rechten, Befugnissen und Pflichten (z.B. die Ausübung von Stimmrechten (aktiv oder passiv) oder die Mitwirkung an Maßnahmen) bzw. die Beschränkung des Gesellschafters in der Ausübung seiner Rechte und die Steuerung seiner Pflichten innerhalb der Gesellschaft. Diese Kanalisierung der Rechte und Pflichten des einzelnen Gesellschafters durch die Treuepflicht unterteilt sich in eine Beschränkung der Ausübung von Mitverwaltungsrechten (Unterlassungspflicht) und in eine pflichtenbegründende Förderpflicht (Handlungspflicht).33 Treuepflichten werden in einer Vielzahl von Konstellationen relevant. Neben der vorrangig aufgrund ihrer Eingriffsintensität thematisierten positiven Stimmpflicht er27 Holler in Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 366; Holler, BB 2012, 719, 720. 28 BGH v. 8.11.2004 – II ZR 350/02, DNotZ 2005, 309. 29 LG Frankfurt a.M. v. 13.8.2013 – 3-09 O 78/13, NZG 2013, 1064. 30 OLG Stuttgart v. 24.3.2004 – 14 U 21/03, DStR 2004, 1622. 31 OLG München v. 23.6.2016 – 23 U 4531/15, NZG 2016, 1149. 32 BGH v. 12.4.2016 – II ZR 275/14, NZG 2016, 781 („Media-Saturn“). 33 Born in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), HGB, 4. Aufl. 2020, § 109 Rz. 20; Prinz/ Kahle in Beck´sches HdB. Personengesellschaften, 5.  Aufl. 2020, §  4 Rz.  156; Seibt, ZIP 2014, 1909, 1910.

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streckt sich die Treuepflicht auch auf Themen wie den Gebrauch von Weisungsrechten gegenüber der Geschäftsführung oder auf die Unterlassung einer unmittelbaren Einwirkung auf die Geschäftsführung unter Umgehung der Gesellschafterversammlung. Darüber hinaus sind die Unterlassung von kreditschädigenden Äußerungen in der Öffentlichkeit, das Unterlassen der Wahrnehmung von Geschäftschancen der Gesellschaft, die Mitwirkung an Gesellschafterbeschlüssen und Gesellschafterversammlungen (z.B. Unterlassung der Geltendmachung von Rechtsmitteln gegen Beschlussinhalte etc.) sowie die treuwidrige Ausübung von Auskunfts- und Einsichtsrechten Themen der Treuepflicht.34 Generell kann festgehalten werden, dass sich die Intensität und Reichweite der Treuepflicht verstärkt, je weiter die Maßnahme oder Tätigkeit sich im Bereich der Gesellschaft bewegt und wiederum dort Einschränkungen erfährt, wo der Kernbereich der Mitgliedschaft betroffen ist. Zudem ergibt sich ein Gefälle von bloßen Unterlassungs- hin zu Mitwirkungs- und Stimmpflichten. Gerade in Sanierungsfällen kommt es aufgrund der erforderlichen Maßnahmen und der gesetzlichen und / oder statuarischen Vorgaben zur Umsetzung dieser Maßnahmen besonders auf die Mitwirkung der Gesellschafter an. So bedarf es u.a. für eine Rekapitalisierung des Unternehmens regelmäßig eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung mit einfacher oder sogar qualifizierter Mehrheit.35 Dies unabhängig davon, ob es sich um eine Kapitalerhöhung handelt, bei welcher die bisherigen (oder neue) Gesellschafter neue Anteile gegen Einbringung frischen Kapitals zeichnen, Fremdkapital aufgenommen oder sonstige Maßnahmen betreffend die Finanzierung des Unternehmens in Frage stehen. Gleiches gilt für Umstrukturierungsmaßnahmen auf Gesellschafter- oder operativer Ebene (z.B. Umstrukturierung, Stilllegung oder Verkauf von Betriebsteilen oder ganzen Sparten, Aufnahme neuer Geschäftsbereiche etc.). Darüber hinaus bedarf es auch im Übrigen der Mitwirkung der Gesellschafter, die je nach Ausgestaltung und Möglichkeiten der Gesellschaft ganz unterschiedlich aussehen können. Für die Frage, wann aus der Treuepflicht eine Pflicht zur Zustimmung zu bestimmten Maßnahmen resultiert, hat sich in der Rechtsprechung eine Formel entwickelt.36 Ausgehend von dem Grundsatz, dass den Gesellschafter keine Rechtspflicht zur Zustimmung zu Maßnahmen trifft, da die Gesellschaft keinen allgemeinen Bestandsschutz gegenüber ihren Gesellschaftern genießt und der Gesellschafter selbst über die Zweckmäßigkeit einer Maßnahme urteilen kann,37 kann sich die Entscheidungs34 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt (Hrsg.), GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  13 Rz. 162 ff. u. 175 ff. 35 In der Personengesellschaft ist gesetzlich das Einstimmigkeitserfordernis vorgesehen (§§ 161 Abs.  2, 119 Abs.  1 HGB, §  709 BGB), wovon in der Praxis über Regelungen im Gesellschaftsvertrag häufig abgewichen und über Mehrheitserfordernisse relativiert wird. Aus dem Gesetz ergeben sich zudem zwingende Vorgaben für Mehrheitsbeschlüsse: § 50 UmwG sieht eine ¾ Mehrheit für einen Verschmelzungsbeschluss, §§ 182, 186 AktG sehen eine ¾ Mehrheit für Kapitalmaßnahmen vor. 36 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt (Hrsg.), GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  13 Rz. 140 f. 37 BGH v. 12.4.2016 – II ZR 275/14, NJW 2016, 2739, 2740.

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freiheit des Gesellschafters nur in Ausnahmefällen zu einer Zustimmungspflicht verdichten. Dies ist der Fall, „wenn die zu beschließende Maßnahme zur Erhaltung ­wesentlicher Werte, die die Gesellschafter geschaffen haben, oder zur Vermeidung erheblicher Verluste, die die Gesellschaft bzw. die Gesellschafter erleiden könnten, objektiv unabweisbar erforderlich ist und den Gesellschaftern unter Berücksichtigung ihrer eigenen schutzwürdigen Belange zumutbar ist, also wenn der Gesellschaftszweck und das Interesse der Gesellschaft gerade diese Maßnahme zwingend gebieten und der Gesellschafter seine Zustimmung ohne vertretbaren Grund verweigert.“38 Kurz gesagt: Das grundsätzliche Recht des Gesellschafters frei abzustimmen, verdichtet sich auf Basis der Treuepflicht zu einer Zustimmungspflicht, wenn (i) zur Verfolgung der Interessen der Gesellschaft keine andere Stimmabgabe denkbar ist, (ii) andernfalls für die Gesellschaft schwere Nachteile entstehen und (iii) der Gesellschafter seine Zustimmung ohne vertretbaren Grund verweigert. Für Sanierungssituationen kommt nach der Rechtsprechung als weitere Voraussetzung hinzu, dass eine Sanierung des Unternehmens nötig und möglich ist, was wiederum ein tragfähiges Sanierungskonzept voraussetzt.39 Insgesamt ist damit für eine Ermessensreduzierung und damit eine Zustimmungspflicht des Gesellschafters in der Sanierungssituation erforderlich, dass (i) das Unternehmen sanierungsbedürftig und sanierungsfähig ist, (ii) die Sanierungsmaßnahme nach objektiver Betrachtung den Fortbestand des Unternehmens nachhaltig sicherstellt und keine schonendere Sanierungsmaßnahme in Betracht kommt, (iii) bei Scheitern der Sanierungsmaßnahme der Zusammenbruch der Gesellschaft unvermeidlich und daher die Maßnahme dringend geboten ist und (iv) dem einzelnen Gesellschafter die Maßnahme unter Berücksichtigung seiner eigenen Belange zumutbar ist.40 Teilweise wird zusätzlich basierend auf der sog. „Girmes-Entscheidung“ des BGH verlangt, dass die Sanierung der Gesellschaft mehrheitlich angestrebt sein muss.41 bb) Besonderheiten für die Familiengesellschaft in Sanierungssituationen Überträgt man diese Grundsätze zu den Auswirkungen der Treuepflichten in der Sanierungssituation auf die Familiengesellschaft, ergibt sich folgendes Bild: Aufgrund der personalistischen Struktur ist es den Familiengesellschaftern möglich, auf vielfältige Weise auf die Sanierung und Restrukturierung des eigenen Unternehmens einzuwirken. Gleichzeitig handelt es sich um eine Sondersituation, in der die gemeinsam geschaffenen Werte einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind. Mit Blick auf die für die Bestimmung der Treuepflicht maßgebliche Realstruktur der Familiengesellschaft kann im ersten Schritt davon ausgegangen werden, dass soweit 38 BGH v. 12.4.2016 – II ZR 275/14, NJW 2016, 2739 (Leitsatz). 39 OLG München v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, GWR 2014, 106. 40 OLG München v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, GWR 2014, 106; OLG Düsseldorf v. 27.6.2014 – I-16 U 149/13, ZIP 2014, 2183; BGH v. 9.6.2015 – II ZR 420/13, NZG 2015, 995. 41 BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, NJW 1995, 1739, 1741 f. („Girmes“); kritisch hierzu: Seibt, ZIP 2014, 1909, 1914.

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nicht der Kernbereich der Mitgliedschaftsrechte betroffen ist, die Treuepflicht dem Familiengesellschafter enge Grenzen setzt. Beispiele hierfür wären das Unterlassen von kredit- oder rufschädigenden Aussagen in der Öffentlichkeit oder gegenüber wesentlichen Stakeholdern des Unternehmens, das Unterlassen einer unabgestimmten Einwirkung auf die Geschäftsführung, das Unterlassen der Geltendmachung einer Forderung von Sondervorteilen im Gegenzug für eine Mitwirkung an Sanierungsmaßnahmen, das Unterlassen von Blockaden oder Verzögerungen von Gesellschafterversammlungen oder Gesellschafterbeschlüssen durch Nichtteilnahme, die Nichtstörung von Gesellschafterversammlungen oder das Unterlassen der Geltendmachung von rechtsmissbräuchlichen Rechtsschutzbehelfen. Einen weiteren Spielraum wird man den Gesellschaftern bei der Frage nach der Aufnahme von (außenstehenden) Investoren einräumen müssen. Die Familiengesellschaft ist in ihrem Kern gerade darauf ausgelegt, dass die wesentliche Einflussnahme auf die Geschicke der Gesellschaft durch die Familie erfolgt. Im Einzelfall wird es daher maßgeblich darauf ankommen, wie dringend frisches Kapital erforderlich ist, ob es keine andere Möglichkeit der Kapitalbeschaffung gibt und wieviel Einfluss dem Investor zugestanden wird. Einer genaueren Betrachtung bedarf die Auswirkung der Treuepflicht auf die Stimmrechtsausübung insbesondere, wenn zusätzlich der Kernbereich der Mitgliedschaft, wie die Beteiligung am Unternehmen, das Ausscheiden oder das Gewinnrecht, betroffen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kernbereich der Mitgliedschaftsrechte auch mittelbar betroffen sein kann, so z.B. bei Aufnahme von Fremdkapital durch die Gesellschaft und einer damit einhergehenden Zusage der Gesellschafter über einen gewissen Zeitraum keine Entnahmen zu tätigen. Soweit die tatsächliche Situation der Gesellschaft eine Fremdfinanzierung erforderlich macht, wird eine Mitwirkungspflicht des einzelnen Gesellschafters aus seiner Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen, aber auch gegenüber seinen Mitgesellschaftern zum Erhalt des Unternehmens und des gemeinschaftlich erwirtschafteten Bestands erforderlich und zumutbar sein. Unmittelbar betroffen sind die Mitgliedschaftsrechte u.a. in Fällen von Kapitalmaßnahmen. Ausgehend von den in der Rechtsprechung hierzu entwickelten Grundsätzen sind für die Anwendung auf die Familiengesellschaft zunächst die strukturellen Unterschiede zwischen den Gesellschaften, die Gegenstand der einschlägigen Rechtsprechung waren, und die besonderen Aspekte der Familiengesellschaft zu beachten. So wurde im Rahmen der sog. „Girmes-Entscheidung“ für eine Aktiengesellschaft entschieden, dass zur Sanierung des Unternehmens den Minderheitsaktionären zugemutet werden kann, entsprechend erforderliche Kapitalmaßnahmen zu unterstützen (hier genügte eine bloße Enthaltung bei den relevanten Hauptversammlungsbeschlüssen).42 In weiteren Entscheidungen waren jeweils Publikumsgesellschaften in 42 BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, NJW 1995, 1739.

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Krisensituationen betroffen.43 Hier wurde für die nicht sanierungswilligen bzw. nicht an den relevanten Gesellschafterbeschlüssen mitwirkenden Gesellschafter ein Ausscheiden oder eine Verwässerung ihrer Beteiligung an bzw. aus der Gesellschaft als zumutbar erachtet.44 In allen Fällen wurde neben der zwingenden Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens jeweils festgestellt, dass die Gesellschafter durch ein Ausscheiden oder eine Verwässerung ihrer Beteiligung nicht schlechter stehen, als bei einer Liquidation des Unternehmens.45 Zudem wurde zum Verhältnis zwischen den Gesellschaftern ausgeführt, dass es den sanierungswilligen Gesellschaftern nicht zumutbar sei, die Gesellschaft mit den nicht zur Investition bereiten Gesellschaftern fortzusetzen.46 Allen vorbenannten Beispielen aus der Rechtsprechung ist gemein, dass die Gesellschafter „nur“ über ihren Kapitalanteil an der jeweiligen Gesellschaft beteiligt sind und der in der Familiengesellschaft vorherrschende Aspekt der persönlichen Verbundenheit gerade fehlt. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Realstruktur der Familiengesellschaft und insbesondere dem üblichen Zweck einer langfristigen und generationsübergreifenden Erhaltung des Familienvermögens sowie der persönlichen Verbundenheit der Gesellschafter untereinander und im Verhältnis zum Unternehmen wird man im Sanierungsfall von dem Grundsatz ausgehen können, dass das Gesellschaftsinteresse auf Erhalt des Unternehmens noch mehr im Vordergrund steht, als in den von der Rechtsprechung behandelten Fällen.47 Im Vergleich zu „Nicht-Familienunternehmen“ wirkt sich die Treuepflicht des Gesellschafters gegenüber der Familiengesellschaft gerade in solchen Situationen aufgrund der Realstruktur der Familienge­ sellschaft und dem Ziel, das Unternehmen für künftige Generationen zu erhalten, stärker aus. Dies erlaubt den Schluss, dass den Gesellschaftern Sanierungsmaßnahmen zum Erhalt des Unternehmens erst Recht zumutbar sind, wenn das Familienunternehmen sanierungsbedürftig und sanierungsfähig ist. Ob es allerdings einem Familiengesellschafter zumutbar ist, im Rahmen von Kapitalmaßnahmen auch in seiner Beteiligung zu verwässern oder gar aus der Gesellschaft auszuscheiden, wie es im Rahmen der „Sanieren oder Ausscheiden-Rechtsprechung“48 angenommen wird, ist äußerst fraglich. Die Problematik in diesem Zusammenhang verschärft sich noch, wenn die Beteiligung für den betreffenden Gesellschafter von existenzieller Bedeutung oder er operativ im Unternehmen tätig ist. 43 BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, NZG 2009, 1347; BGH v. 25.1.2011 − II ZR 122/09, NJW 2011, 1667; BGH v. 25.5.2009 – II ZR 259/07, NJW-RR 2009, 1264. 44 BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, NZG 2009, 1347 („Sanieren oder Ausscheiden“). 45 BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, NZG 2009, 1347 („Sanieren oder Ausscheiden“); BGH v. 25.1.2011 – II ZR 122/09, NJW 2011, 1667; BGH v. 25.5.2009 – II ZR 259/07, NJW-RR 2009, 1264 (1266 u. 1267); BGH v. 9.6.2015  – II ZR 420/13, NJW 2015, 2882; KG v. 27.4.2010 – 14 U 20/08, NZG 2010, 1184. 46 BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, NZG 2009, 1347, 1349. 47 Holler in Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 381 f. 48 Vgl. dazu BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, NZG 2009, 1347.

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Insoweit wird in der Literatur auf die Treuepflicht der finanzierungsbereiten Gesellschafter untereinander und gegenüber dem nicht mitwirkenden Gesellschafter verwiesen. Gleichzeitig wird aber eine Mittragung des zahlungsunwilligen oder zahlungsunfähigen Gesellschafters durch die übrigen Gesellschafter als nicht zumutbar erachtet49 oder allein auf die Belange der Gesellschaft abgestellt.50 Bei Beachtung der Grundsätze wird man aber abweichend annehmen müssen, dass sich hier die Treuepflicht der sanierungswilligen Gesellschafter gegenüber dem sanierungsunwilligen oder –unfähigen Gesellschafter aufgrund der Familienbande stärker auswirkt und ihnen deshalb ein Verzicht auf den Ausschluss dieses Gesellschafters zumutbar ist.51 Freilich wird es hier in der praktischen Anwendung zu Abstufungen kommen müssen. So kann der sanierungsunwillige Gesellschafter, der aufgrund von unternehmensfremden oder privaten Motiven eine Mitwirkung ablehnt, nicht mit dem Gesellschafter auf eine Stufe gestellt werden, der aus (unverschuldeten) Gründen (für eine gewisse Zeit) faktisch nicht in der Lage ist, das Unternehmen in gleichem Maße zu unterstützen, wie die sanierungswilligen Gesellschafter. Ähnliches gilt für einen Gesellschafter, der bisher aktiv im Unternehmen mitgewirkt hat. Hier muss eine Möglichkeit gefunden werden, die es dem sanierungsunfähigen aber gleichzeitig sanierungswilligen Gesellschafter ermöglicht, ggf. zeitlich verzögert oder über Eigenleistung im Unternehmen, an der Sanierung und dem Erhalt des Familienunternehmens mitzuwirken und damit zugleich seine Beteiligung am Unternehmen zu erhalten oder später wiederaufzubauen und zwar so, als hätte er unmittelbar und zeitgleich an der Sanierungsmaßnahme mitgewirkt.52 Ein Ausschluss eines solchen Gesellschafters oder die Verwässerung seiner Beteiligung auf faktisch Null würde gegen die von den Familiengesellschaftern untereinander zu beachtende Treuepflicht verstoßen. c) Folgen und verfahrensrechtliche Möglichkeiten bei treuepflichtwidrigen Handlungen Kommt die Gesellschafterversammlung oder der Versammlungsleiter im Rahmen einer Haupt- oder Gesellschafterversammlung zu dem Ergebnis, dass eine Stimmrechtsausübung treuwidrig erfolgte, stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen und dem weiteren Vorgehen. Nach ganz h.M. sind treuepflichtwidrig abgegebene Stimmen nichtig und bei der Abstimmung nicht mitzuzählen.53 Was daraus folgt und wie dieser Umstand festzustel49 Döge, ZIP 2018, 1220, 1224. 50 Holler in Münchener HdB. GesR., Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 75 Rz. 381. 51 Priester, ZIP 2010, 497, 501; Grunewald in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2019, § 161 Rz. 28. 52 Auf diese Weise müsste der (zeitlich begrenzt) sanierungsunfähige Gesellschafter nicht die durch die Sanierung entstehenden positiven Auswirkungen später mitfinanzieren und würde wirtschaftlich den anderen Gesellschaftern gleichgestellt. 53 Für die Nichtigkeit einer treupflichtwidrigen Stimmabgabe im Personengesellschaftsrecht: Schäfer in MünchKomm. BGB, 8.  Aufl. 2020, §  709 Rz.  117; Roth in Baumbach/Hopt (Hrsg.), HGB, 39. Aufl. 2020, § 109 Rz. 28; für die GmbH: Hüffer/Schäfer in Habersack/ Casper/Löbbe (Hrsg.), GmbHG Großkommentar, 3. Aufl. 2020, § 47 Rz. 205; Zöllner/Noack

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len ist, wird nicht nur für die verschiedenen Rechtsformen, sondern auch je nach Maßnahme (Geschäftsführermaßnahme oder Grundlagengeschäft) unterschiedlich beantwortet. Für die Aktiengesellschaft wird in diesem Zusammenhang vertreten, dass der Versammlungsleiter im Rahmen seiner Möglichkeiten und wie es die jeweilige Situation zulässt, überprüfen und darüber entscheiden muss, ob eine Stimmrechtsausübung wegen Verstoßes gegen die Treuepflichten unbeachtlich und daher nicht bei der Beschlussfassung zu berücksichtigen ist.54 Für die GmbH wird mehrheitlich eine Kompetenz des Versammlungsleiters zur Feststellung des Versammlungsergebnisses und damit zu der Frage, ob ein Treuepflichtverstoß vorliegt, angenommen, wenn es für eine solche Kompetenz eine Grundlage in der Satzung oder ein allseitiges Einverständnis der anwesenden Gesellschafter gibt.55 In der Praxis wird sich, selbst wenn es einen solchen qualifizierten Versammlungsleiter gibt, die Frage stellen, ob dieser auch mit Blick auf eine mögliche eigene Haftung und die Versammlungssituation überhaupt in der Lage und gewillt sein wird, ad hoc eine Entscheidung über das Vorliegen einer treuepflichtwidrigen Haltung zu treffen.56 Gibt es keinen (qualifizierten) Versammlungsleiter und wird das Beschlussergebnis nicht auf sonstige Weise festgestellt, bleibt nur der Rechtsweg, d.h. eine positive Feststellungsklage bei treuwidriger Verhinderung eines bestimmten Beschlussergebnisses oder eine Anfechtungsklage.57 Einstweilige Verfügungen sind mangels Verfügungsgrund in der Regel nicht möglich. Probleme sind diesbezüglich die Vorwegnahme der Hauptsache einerseits und die Schwierigkeit nachträglicher Wiedergutmachung andererseits.58 Für Personengesellschaften unterscheidet die h.M. zusätzlich zwischen Stimmpflichten in Geschäftsführungsfragen und Grundlagengeschäften. Während bei Geschäftsführungsfragen die treuwidrige Stimmabgabe unbeachtlich und die Zustimmung einfach fingiert wird, muss bei Beschlussfassungen über Grundlagengeschäfte grundsätzlich der Weg über eine Leistungsklage auf Zustimmung gesucht werden. Folge ist, dass die Zustimmung erst mit Rechtskraft des stattgebenden Urteils als erteilt gilt.59 Vereinzelte Ausnahmen werden in Fällen mit großer Dringlichkeit oder wenn es um „die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft geht“60 gemacht. Vergleichbares

in Baumbach/Hueck (Hrsg.), GmbHG, 22.  Aufl. 2019, §  47 Rz.  108; OLG Hamm v. 25.7.2016 – I-8 U 160/15, GmbHR 2016, 1154; für die AG: Koch in Hüffer/Koch (Hrsg.), AktG, 14. Aufl. 2020, § 53a AktG Rz. 30. 54 Koch in Hüffer/Koch (Hrsg.), AktG, 14.  Aufl. 2020, §  53a AktG Rz.  30; Seibt, ZIP 2014, 1909, 1915. 55 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck (Hrsg.), GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 47 Rz. 120; Altmeppen in Roth/Altmeppen (Hrsg.), GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 47 Rz. 85. 56 Vgl. hierzu ausführlich Bunz, NZG 2017, 1366, 1369. 57 Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 47 Rz. 262. 58 Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 47 Rz. 263; Altmeppen in Roth/Altmeppen (Hrsg.), GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 47 Rz. 87. 59 Freitag in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), HGB, 4. Aufl. 2020, § 119 Rz. 40; Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 Rz. 29. 60 BGH v. 29.9.1986 – II ZR 285/85, NJW-RR 1987, 285, 286.

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gilt für Publikumsgesellschaften.61 Hier gilt die Zustimmung als ersetzt, wobei dies jedoch auch wiederum umstritten ist.62 Die praktische Folge dieser unklaren Rechtslage ist, dass insbesondere bei einer zusätzlichen Konfliktsituation innerhalb des Gesellschafterkreises, die unweigerlich mit der Frage verbunden ist, ob ein treuwidriges Verhalten eines Gesellschafters vorliegt, kein zeitnahes Beschlussergebnis zu erlangen sein wird. Insbesondere in der Sanierungssituation kann dies kein hinnehmbares Ergebnis sein, da ein Urteil in der Regel zu spät kommen wird und sich damit die Aussichten auf eine erfolgreiche Sanierung des Unternehmens wesentlich verschlechtern. Dies zeigt deutlich, wie wichtig es in der Praxis für eine erfolgreiche Sanierung ist, dass der Berater unmittelbar zu Beginn der Sanierungsphase die Interessenlagen und Positionen der einzelnen Beteiligten aufnimmt, würdigt und in das Gesamtkonzept der Sanierung integriert und fortlaufend dahingehend überprüft, ob es aufgrund veränderter Interessenlagen ggf. anzupassen ist. Nur durch eine solche Einwirkung auf die Beteiligten und den Versuch, die verschiedenen Interessen in einen Gleichlauf zu bringen, lässt sich am Ende die Frage vermeiden, wie rechtlich durchgesetzt werden kann, dass ein Gesellschafter aufgrund der Treupflicht in einer bestimmten Weise abzustimmen oder an der Sanierung in sonstiger Weise mitzuwirken hat. d) Zwischenergebnis Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die seitens der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht auch im Familienunternehmen in den meisten Fällen die Seite der Sanierungswilligen unterstützt. Die spezifische Struktur des Familienunternehmens führt sogar dazu, dass im Vergleich zu anderen Unternehmen die Treuepflicht den Gesellschaftern zugunsten des Unternehmens und der Mitgesellschafter mehr abverlangt. In der Praxis führt dieses für die erfolgreiche Sanierung eines Unternehmens positive Ergebnis allerdings nicht zwingend zum gewünschten Ergebnis. Mangels gefestigter Meinung in Rechtsprechung und Literatur, wie in der Praxis im Falle eines treuwidrigen Verhaltens zu verfahren ist und ob stets ein den Treuepflichten genügendes Verhalten des Gesellschafters fingiert werden kann, verbleibt zumindest in den nicht ganz evidenten Fällen häufig nur die Möglichkeit über eine (außergerichtliche) Einigung und eine geschickte Mediation im Vorfeld, um nachhaltige Ergebnisse zugunsten des Unternehmens zu erreichen. 2. Nachfolgebedingte Herausforderungen Der fortschreitende Generationenwechsel und die damit einhergehende Zerstückelung des Gesellschafterkreises in Familienunternehmen führt darüber hinaus bei der Nachfolge zu besonderen Herausforderungen, die sich gerade in der Sanierung stark auswirken. So zeigt sich, wie das Praxisbeispiel 2 veranschaulicht, dass die Frage nach 61 BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, NZG 2009, 1347. 62 Vgl. Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 Rz. 29.

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einer geordneten Nachfolge nicht nur in der Beteiligung, sondern auch in der Führung erhebliche Auswirkungen und Folgen für den Fortbestand des Familienunternehmens haben kann. a) Nachfolgethemen auf Ebene der Gesellschafter Fällt der Unternehmer unerwartet aus oder verstirbt sogar, führt dies nicht selten zu einer gewissen Dynamik auf Gesellschafterebene. Neben Auflösungstendenzen kann es aus unterschiedlichen Gründen zu erheblichen finanziellen Belastungen kommen. So besteht etwa bei Ausscheiden von Erben aus dem Gesellschafterkreis die Gefahr von hohen Liquiditätsabflüssen, insbesondere, wenn solche Themen nicht im Vorfeld bedacht und abgesichert wurden. Wurde etwa ein Kind enterbt und erhält daher nur einen Pflichtteil oder macht ein Erbe nur seinen Pflichtteilsanspruch geltend, handelt es sich dabei um eine sofort fällige Geldforderung in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Erbteils.63 Da das Vermögen der übrigen Erben häufig im Unternehmensvermögen gebunden ist, ist oftmals die Entnahme der erforderlichen Liquidität aus dem Unternehmen die einzig mögliche Option. Je nach Fallgestaltung müssen zusätzlich die notwendigen Mittel zur Begleichung von Erbschaftssteuern aufgebracht werden können. Vergleichbares gilt für Ansprüche der(s) verbliebenen Witwe(rs) auf Zugewinnausgleich, der ebenfalls ausgezahlt werden können muss.64 Auch sind Liquiditätsabflüsse durch das Ausscheiden von Erben aus der Gesellschaft im Rahmen einer einvernehmlichen Lösung oder aufgrund von Vorgaben aus dem Gesellschaftsvertrag und damit einhergehende Abfindungszahlungen denkbar.65 Dies allein kann das Familienunternehmen schnell in eine Liquiditätskrise bringen. Befindet sich das Unternehmen schon in einer Sanierungsphase, können solch unvorhergesehene Abflüsse die Krise noch vertiefen oder gar die Sanierungsversuche ganz zu Nichte machen. Auch ein erforderlicher (Teil-)Verkauf des Familienunternehmens ist nicht auszuschließen. aa) Präventive Gestaltung der Nachfolge Zur Begegnung dieser Problematik wurden in der Praxis und Literatur zahlreiche Möglichkeiten entwickelt, wie diesen Nachfolgethemen durch Gestaltungsmaßnahmen im Vorfeld begegnet werden kann. Dazu gehören beispielsweise umfangreiche Nachfolgeregelungen im Gesellschaftsvertrag (z.B. Vorgaben zur Beschränkung des Abfindungsanspruchs, Vinkulierungsklauseln zur Verhinderung eines ungesteuerten Verkaufs von Anteilen)66 oder der Abschluss einer Familienverfassung67, die Schaf-

63 Lange in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 2317 Rz. 5 (für die Geltendmachung muss insbesondere nicht die Auseinandersetzung der Miterben abgewartet werden). 64 Godron in Feick, Stiftung als Nachfolgeinstrument, 2015, § 29 Rz. 34 ff.; Kaulbach, NZG 2020, 653; Dahlmanns, RNotZ 2020, 417, 418 f.; von Oertzen/Reich, DStR 2017, 1118. 65 Pogorzelski, RNotZ 2017, 489. 66 Dazu Feick/Weber, notar 2014, 395; Habersack, ZIP 2020, 2093, 2098; Ulmer, ZIP 2010, 805. 67 Holler, ZIP 2018, 553.

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fung einer Familienholding68 oder die Übertragung des Unternehmens an die nachfolgende Generation in mehreren Schritten über eine vorweggenommene Erbfolge.69 Häufig wird auch die Rechtsform der Stiftung in verschiedenen Ausprägungen genutzt.70 Gerade die Familienstiftung zeichnet sich dadurch aus, dass sie als eine verselbstständigte Vermögensmasse ohne Eigentümer bzw. Gesellschafter den Erhalt des Unternehmens bzw. der Unternehmensbeteiligung für die Zukunft sichern kann. Anders als die gemeinnützige Stiftung profitieren die Familienmitglieder auch weiterhin von den Erträgen des Unternehmens (Versorgung und wirtschaftliche Absicherung der Familienmitglieder), gleichzeitig besteht aber nicht die Gefahr des Ausscheidens und des Einforderns von Abfindungen mit dem damit einhergehenden Liquiditätsabfluss oder einem Verkauf des Unternehmens.71 Streitigkeiten in der Familie wirken sich nicht unmittelbar auf das Unternehmen aus und ein (unmittelbarer) Einfluss der Familienmitglieder auf die Geschicke des Unternehmens ist nur so weit möglich, wie es in der Stiftungssatzung vorgesehen ist. Der Stifter kann über die Gestaltung der Stiftungssatzung und den Einsatz von Stiftungsorganen steuern, inwieweit er den Familienmitgliedern Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte einräumen will.72 Der wesentliche Zweck der Familienstiftung bleibt dabei die Versorgung der Familie. Die Beteiligung am Familienunternehmen und damit die Fortführung und die Erhaltung des Unternehmens kann aufgrund des Verbots der „Selbstzweckstiftung“ nur teilweise Stiftungszweck sein, weshalb das Familienunternehmen eingebracht und fortan einen Teil oder das gesamte Stiftungsvermögen bildet.73 Die Führung des Familienunternehmens kann damit nicht unmittelbarer Zweck der Stiftung sein. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die vorgeschlagene neue Rechtsform der „Gesellschaft in Verantwortungseigentum“ hier nach einer Implementierung durch den Gesetzgeber eine Lösung bietet und damit zu den Möglichkeiten bei der Gestaltung der Nachfolge in Familienunternehmen als Alternative hinzutreten könnte. Zunächst fällt ins Auge, dass das ursprüngliche Konzept des „Unternehmens in Verantwortungseigentum“ an die Idee des Familienunternehmens und insbesondere an den Zweck des Erhalts einer geschaffenen Wertegemeinschaft anknüpfen und das Unternehmen in seinem Bestand für die Zukunft sichern und vor dem ungehinderten Zugriff der (nachfolgenden) Gesellschafter abschotten soll.74 Nicht erfasst, und 68 Vgl. dazu etwa Sabel/Schauer, ZStV 2018, 81. 69 Kußmaul/Schumann, StB 2020, 201; Ivens, ZEV 2010, 462. 70 Kirchdörfer/Lorz in Kirchdörfer/Lorz, Unternehmensnachfolge, 2. Aufl. 2011, Kap. 8 Rz. 1 ff.; als Beispiele können hier die Fielmann Familienstiftung, die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die Robert-Bosch-Stiftung und die Dietmar-Hopp-Stiftung angeführt werden. 71 Von Oertzen/Reich, DStR 2017, 1118; Dahlmanns, RNotZ 2020, 417, 418 f. 72 Von Oertzen/Reich, DStR 2017, 1119. 73 Biermann/Koslowski in Scherer, Unternehmensnachfolge, 6. Aufl. 2020, § 9 Rz. 31. 74 Vgl. dazu Sanders, ZRP 2020, 140, 141.

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bei genauer Betrachtung sogar von der Intention gegenläufig, ist der für die Ge­ sellschaft in Verantwortungseigentum vorgesehene sog. „asset-lock“. Im Gegensatz zu  dem im Familienunternehmen gelebten Versorgungsgedanken für die Familie sieht der Gesetzesentwurf für die Gesellschaft in Verantwortungseigentum vor, dass die Gesellschafter zwar die Leitungsmacht in Form von Stimm- und Teilhaberechten, zugleich aber keinen Zugriff auf den Unternehmensgewinn oder auf das im Unternehmen gebundene Vermögen haben.75 Vielmehr sollen sie über ihre Tätigkeit im Unternehmen vergütet werden. Hier stellt sich die Frage, wie dies bei einem wachsenden Gesellschafterkreis praktisch aussehen soll. Es ist nahezu ausgeschlossen und ggf. sogar gar nicht gewollt, dass alle Familienmitglieder im Unternehmen tätig sind. Darüber hinaus liegt ein wesentlicher Aspekt des Entwurfs auf der Sicherung der „Selbstständigkeit“ des Unternehmens. Dazu sind enge Vorgaben für den Gesellschafterkreis vorgesehen. So sind u.a. Kapitalgesellschaften als Gesellschafter der Gesellschaft in Verantwortungseigentum ausgeschlossen. Durch eine Vinkulierung der Anteile soll der Eintritt von Gesellschaftern gesteuert und damit zugleich die zugrundeliegende „Wertefamilie“ geschützt und erhalten werden. Diesem Zweck dient auch die Regelung zur Vererbung von Anteilen. Zwar sind Geschäftsanteile grundsätzlich vererblich, allerdings müssen die Gesellschafter dem Eintritt des Erben zustimmen. Bei Verweigerung oder Fristablauf fallen die Anteile der Gesellschaft zu. Die Gesellschafter können die Vererblichkeit ganz ausschließen. Die Anteile fallen dann der Gesellschaft selbst zu, wobei sichergestellt sein muss, dass zumindest eine „letztübernehmende Person“ vorhanden ist.76 Ob diese Gesellschaftsform gerade für die Fortführung von Familienunternehmen geeignet ist, scheint vor dem Hintergrund der Vermögensbindung und dem Umstand, dass eine Nachfolge, genau wie bei anderen Rechtsformen, detailliert geplant, durchdacht und vereinbart werden muss, fraglich zu sein. Auch für den Fall der Sanierung beinhaltet der Gesetzesentwurf für die Gesellschaft in Verantwortungseigentum bereits aus ihrer Struktur heraus einige Nachteile, da die Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. So ist die Gesellschaft bei Liquiditätsproblemen auf eine Fremdfinanzierung angewiesen. Die Erlangung von Eigenkapital aus den Reihen der Gesellschafter oder gar von Investoren wäre nämlich aufgrund der vorgegebenen Vermögensbindung faktisch nahezu ausgeschlossen.77

75 Zur Wirkung des „asset-lock“, Veil, ZIP 2020, 1750. 76 Insgesamt dazu: Sanders/Kempny/Dauner-Lieb/Veil/Möslein/von Freeden, Entwurf eines Gesetzes für die Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Verantwortungseigentum, Stiftung Verantwortungseigentum (Hrsg.) 2020, https://www.gesellschaft-in-verantwortungseigentum.de/der-gesetzesentwurf/; Sanders, ZRP 2020, 140 (mit einem Überblick bzw. einer Vorstellung der wesentlichen Aspekte). 77 Vgl. dazu Grunewald/Hennrichs, NZG 2020, 1201, 1204; Hüttemann/Rawert/Weitemeyer, npoR 2020, 296, 298.

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bb) Situation bei fehlender Implementierung präventiver Nachfolgegestaltungen Nicht selten wird der Nachfolgeplanung im laufenden Geschäft mit Blick auf akut anstehende operative Themen keine sonderlich hohe Priorität eingeräumt. Im Zweifel plant der Unternehmer, das Unternehmen noch viele Jahre zu führen und damit genug Zeit für die Gestaltung der Nachfolge zu haben. Fällt er doch unerwartet aus, ist es für die Einrichtung und Ausgestaltung eines Nachfolgemodells meist zu spät und es verwirklichen sich die bereits dargestellten Risiken.78 Die letzte Möglichkeit, um die Folgen abzufedern und eine Fortführung des Unternehmens zu gewährleisten, ist dann nur noch die Erlangung eines faktischen Einvernehmens zwischen den Gesellschaftern. Insoweit ist der Berater gefragt, im Rahmen einer Mediation alle Belange aufzunehmen und eine Gestaltung zu entwickeln, die es den Gesellschaftern ermöglicht ihre Interessen zu verfolgen, ohne aber dabei das Unternehmen zu stark kostenmäßig zu belasten oder seine Fortführung zu gefährden. b) Nachfolgethemen auf operativer Ebene Neben dem Thema der Nachfolge auf Gesellschafterebene stellt sich bei einem plötzlichen Ausscheiden des Unternehmers auch auf operativer Ebene die Frage nach einer geeigneten Strukturierung der Nachfolge. Hier kommt es weniger auf eine rechtliche, sondern vielmehr auf eine faktische und strategische Gestaltung an. Wird innerhalb der Familie nach einem geeigneten Nachfolger gesucht, stellt sich bei mehreren Abkömmlingen zunächst die Frage, wer am geeignetsten ist, das Vertrauen des Unternehmers genießt und die besten Aussichten darauf hat, das Familienunternehmen fortzuführen. Im zweiten Schritt kommt es auf die persönliche und fachliche Kompetenz des ausgewählten Nachfolgers an. Ist er fachlich dazu in der Lage, das Unternehmen fortzuführen, Entscheidungen zu treffen und die Zukunft des Unternehmens aktiv zu gestalten? Hinzu kommt der persönliche Faktor.79 Der Nachfolger muss in der Lage sein, Verantwortung zu übernehmen und diese auch nach außen zu tragen. Nur dann ist auch sichergestellt, dass die Mitarbeiter des Familienunternehmens, die bisher den Führungsstil und die Richtungsvorgaben des Unternehmers gewohnt waren und gelebt haben, den Nachfolger als neuen Geschäftsleiter anerkennen und in seiner Linie unterstützen. Vergleichbares gilt für Kunden, Lieferanten und Finanzierer. Bisher basierte der Erfolg auf der Unternehmerpersönlichkeit und dem Vertrauen, das er bei Kunden, Lieferanten und Finanzierern aufgebaut hat. Daran gilt es für den Nachfolger anzuknüpfen. Fehlt es in den eigenen Reihen an einem geeigneten Nachfolger, bleibt nur eine externe Lösung. Hier wird es weniger auf die fachliche Kompetenz des Nachfolgers an78 Vgl. dazu etwa Hastenteufel/Staub, StB 2019, 134, 138. 79 Vgl. dazu etwa Hastenteufel/Staub, StB 2019, 134, 137.

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kommen (auf diese kann schließlich im Auswahlprozess geachtet werden) als auf die persönlichen Eigenschaften und die Fähigkeit sich in das Familienunternehmen nahtlos zu integrieren. Wie bereits ausgeführt, zeichnet sich das Familienunternehmen häufig durch ein starkes Wertesystem aus, das über Jahre gewachsen und in den Köpfen der Familie und der Mitarbeiter verankert ist. Der Erfolg des Unternehmens ist durch die Unternehmerpersönlichkeit geprägt und das Geschäft auf ihn zugeschnitten. Für eine erfolgreiche Fortführung des Unternehmens wird es maßgeblich darauf ankommen, dass der externe Nachfolger sich neben der Unternehmerfigur etablieren kann, das Vertrauen der Mitarbeiter und der Familiengesellschafter gewinnt und auf Basis der Tradition eine Zukunft für das Unternehmen gestalten kann. Die richtige Auswahl und sorgfältige Vorbereitung bzw. Einführung des Nachfolgers in das Familienunternehmen ist nicht zuletzt in Sanierungsfällen einer der maßgeblichen Faktoren für eine erfolgreiche Umsetzung der Restrukturierungsmaßnahmen und damit für eine erfolgreiche Sanierung. Nur wenn der Nachfolger vollständig ­etabliert ist und die vollständige Unterstützung der Mitarbeiter und der Stakeholder genießt, können die erforderlichen Maßnahmen durch die Familiengesellschafter ­beschlossen und auf Gesellschaftsebene umgesetzt werden. Da die Sanierung maßgeblich davon abhängt, dass alle Beteiligten die ihnen jeweils zugeordneten Beiträge leisten, muss auch das Vertrauen in die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Nachfolgers bestehen. Andernfalls wird eine erforderliche Mitwirkung aller Beteiligten nicht zu erreichen sein. Beispielsweise wird die Hausbank die Kreditlinien des Familienunternehmens nicht bedarfsgerecht erweitern, wenn sie nicht Vertrauen darin hat, dass der Nachfolger in der Lage ist, das Unternehmen durch die Krise und wieder in die Erfolgsspur zu führen. Vergleichbar zu den Nachfolgethemen auf Gesellschafterebene bietet die Rechtspraxis auch für die operative Nachfolge Leitlinien und Gestaltungsmodelle. Während die bereits beschriebene Familienstiftung vornehmlich zum Einsatz kommt, wenn kein Nachfolger aus der Familie zur Verfügung steht, kann z.B. in der „Familienverfassung“ oder in einer anderen schuldrechtlichen Nebenvereinbarung zwischen den Familiengesellschaftern festgelegt werden, welche Eckpunkte bei der operativen Nachfolge zu beachten sind. So kann etwa bestimmt werden, wie Organe zu besetzen und zu vergüten sind oder welche Voraussetzungen sie mitbringen müssen.80 Daneben können zur „Lenkung“ der Nachfolger über eine Geschäftsordnung Leitlinien für die Führung der Geschäfte und Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche festgelegt werden, so dass ein Kompetenzgerangel und damit Reibungsverluste vermieden werden. Ein mit erfahrenen Personen ausgestatteter Beirat kann dem Nachfolger mit „Rat und Tat“ zur Seite stehen und der Nachfolger kann von den Erfahrungen, Kontakten und dem Netzwerk der Beiratsmitglieder profitieren.81 Die letzteren Gestaltungselemente könnten sogar noch nachträglich, d.h. auch im Falle der Sanierung, eingeführt werden und nachhaltig zum Restrukturierungserfolg beitragen. 80 Wicke in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 3 Rz. 131; Holler, ZIP 2018, 553, 560. 81 Vgl. hierzu etwa FAZ v. 26.11.2015 „Familienunternehmen – Warum so viele Betriebe keine Nachfolger finden“ mit einer Zusammenfassung einer Studie der ISM International School of Management in Dortmund.

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c) Zwischenergebnis Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Unternehmensnachfolge im Mittelstand frühzeitig sowohl auf Gesellschafter- als auch auf operativer Ebene angegangen, geplant und ausreichend vorbereitet werden muss. Alles andere gefährdet den Fortbestand des Familienunternehmens. Mit Blick auf die zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten und die dabei zu berücksichtigenden Aspekte aus zivil- und steuerrechtlicher Sicht ist dabei auch ein umfassendes Stakeholder-Management einzuplanen, um zu gewährleisten, dass die Nachfolgeregelung wirtschaftlich und rechtlich von den Beteiligten akzeptiert und damit ein Erfolg werden kann. Ein konkreter Zeitplan kann nur mit dem Unternehmer – bestmöglich ebenfalls unter Einbeziehung der zu beteiligenden Parteien – erarbeitet werden. Neben der fachlichen Expertise ist dabei ein entsprechendes „Fingerspitzengefühl“ zur Auflösung von unterschiedlichen Erwartungshaltungen und einer nachhaltigen Absicherung des Lebenswerkes zwingend geboten. Ein „Nachziehen“ von entsprechenden Strukturen und deren Umsetzung zu einem verspäteten Zeitpunkt, insbesondere nach einem unerwarteten Ausscheiden des ­Unternehmers, wird sich dagegen oftmals als überaus schwierig gestalten. Die „Nachfolger“ müssen sich aus ihrer persönlichen Betroffenheit herauslösen und die ordnende Hand des „Patriarchen“ fehlt, um den gebotenen neuen Strukturen zur Durch­ setzung zu verhelfen. In diesen Fällen kann eine Auflösung in der Regel nur gelingen, wenn eine Einwirkung durch die involvierten Berater auf alle am Prozess Beteiligten bis hin zu den wesentlichen Stakeholdern (Kunden, Lieferanten, Arbeitnehmer, Arbeitnehmervertreter, Banken, Warenkreditversicherer etc.) umfassend gewährleistet wird. Dies ist nicht nur erheblich schwieriger, sondern auch wirtschaftlich eine deutlich höhere Belastung für das betroffene Unternehmen. Zuallererst gilt es in solchen Situationen darauf zu achten, dass die mit einer entsprechenden Situation einhergehenden Liquiditätsabflüsse (Kosten, Steuern, Rückzug von Finanzierungspartnern etc.) sofort unter Kontrolle gebracht werden; ggf. ist auch parallel eine externe Finanzierung bis hin zu einem strukturierten M&A-Prozess zu erwägen. Dies zeigt nochmals die um ein Vielfaches höhere Komplexität im Falle einer fehlenden Vorbereitung der Unternehmensnachfolge.

IV. Ergebnis Insgesamt zeigt sich, dass das Familienunternehmen aus seiner Struktur heraus einige Besonderheiten aufweist, die sich nicht nur in der rechtlichen Bewertung, sondern gerade auch in der Praxis deutlich zeigen und die es insbesondere in der Sanierung zu berücksichtigen gilt. Besteht im Gesellschafterkreis des Familienunternehmens Uneinigkeit bzgl. der Auswahl, des Einsatzes und der Umsetzung von Restrukturie458

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rungsmaßnahmen und gibt es keinen zuvor vereinbarten Rahmen für die Handlungs- und Verhaltenspflichten der Gesellschafter in einem solchen Fall, steht die rechtliche Bewertung am Maßstab der gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten in den meisten Fällen auf der Seite der Sanierungswilligen. Allerdings fehlt es an einem gesicherten Rechtsfolgenmechanismus, der diesem Ergebnis zur Umsetzung verhilft. Auch für die Gestaltung der Nachfolge bietet die Rechtspraxis eine Fülle an Möglichkeiten, die allerdings im Vorfeld vom und für das Familienunternehmen ausgewählt und gestaltet werden müssen, um im Ernstfall die gewünschten Folgen herbeiführen zu können. An der tatsächlichen Umsetzung des Konzepts fehlt es jedoch häufig. Damit ist in beiden Fällen in der Umsetzung die Praxis gefragt. Insbesondere im Fall der Sanierung, in welchem oftmals schnelle Entscheidungen erforderlich sind, um Restrukturierungsmaßnahmen noch rechtzeitig umsetzen und damit die Fortführung des Unternehmens gewährleisten zu können, wird es auf eine einvernehmliche Lösung und Konsens im Familienkreis ankommen. Um dies zu erreichen, ist es erforderlich auf sämtliche Belange einzugehen, alle (auch divergierende) Interessen zu berücksichtigen und vor dem Hintergrund der erforderlichen Restrukturierungsmaßnahmen einen Weg zu finden, den alle Familienmitglieder gleichermaßen mitgehen können und wollen. Nur auf diese Weise ist es möglich, Blockaden und Störfeuer aus den eigenen Reihen auszuräumen und eine nachhaltige Sanierung des Familienunternehmens anzugehen und umzusetzen.

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Herbert Tschersich

Die funktionelle Zuständigkeit bei den Gerichten für „Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen“ im Sinne von § 72a Satz 1 Nr. 4 und § 119a Satz 1 Nr. 4 GVG Inhaltsübersicht I. Vorwort II. Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen 1. Anknüpfungspunkt der funktionellen Zuständigkeit 2. Rückanbindung an den besonderen Gerichtsstand des § 215 VVG

3. Sachnähe als Zuordnungskriterium 4. Negative Begrenzung des Anwendungsbereichs 5. Zweifelsfragen III. Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung

I. Vorwort Der junge Anwalt Dr. Aderhold nahm seine Tätigkeit in einer renommierten Dortmunder Anwaltskanzlei Anfang der 80er Jahre auf, nicht lange nachdem auch der Autor seine ersten Schritte als Richter am Landgericht Dortmund unternommen hatte. So blieb es nicht aus, dass man alsbald die juristischen Klingen kreuzte, die der junge Anwalt schon so vortrefflich zu führen verstand, dass im Richterkollegium sehr schnell die Erkenntnis vorherrschte, besser die ein oder andere Stunde mehr für die Aufarbeitung der Akten und die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung aufzubringen, wenn aus dem Diktatzeichen der Schriftsätze ersichtlich war, dass Dr. Ader­ hold eine der Prozessparteien vertrat. Neben seinen unbestrittenen juristischen Fähigkeiten stach auch sein souveränes und zugleich ausgleichendes, aber natürlich stets die Interessen der von ihm vertretenen Partei im Blick haltendes und nie die Grenzen des Angemessenen überschreitendes Auftreten im Sitzungssaal hervor, das man als Richter auch manchem seiner Berufskollegen gewünscht hätte. Die wissenschaftliche und berufliche Entwicklung des Jubilars über die Veröffentlichung von Handbüchern und Beiträgen in angesehenen Kommentaren und die Verleihung der Honorarprofessur bis hin zu der vor zwei Jahrzehnten erfolgten Gründung der überaus erfolgreich gewordenen Aderhold Rechtsanwaltsgesellschaft hat der Autor mit großem Respekt und Hochachtung wahrgenommen. Das Gesellschaftsrecht war und ist die Domäne des Jubilars und so liefen die juristischen Berührungspunkte aus, als der Autor von einer Kammer für Handelssachen in einen vornehmlich für Rechtsstreitigkeiten aus dem Privatversicherungsrecht spezialisierten Spruchkörper wechselte, wodurch sich auch der folgende juristische Teil dieses Beitrags erklärt. 461

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Dafür intensivierten sich abseits der Justiz die persönlichen Kontakte untereinander und entwickelten sich über die Jahre zu einer anhaltenden – nicht nur rotarischen – persönlichen Freundschaft, für die der Autor dem Jubilar und seiner Frau Cordula, ohne deren Unterstützung das gewaltige Arbeitspensum des zu Ehrenden nicht vorstellbar wäre, bis heute sehr dankbar ist.

II. Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen 1.  Anknüpfungspunkt der funktionellen Zuständigkeit In einem Versicherungsprozess werden Ansprüche im Zusammenhang mit Versicherungsverträgen behandelt und entschieden. Er hat – wenn auch nicht im Wortsinne  – schon verschiedentlich durch den Gesetzgeber eine Hervorhebung gegenüber Verfahren erfahren, die manch andere Rechtsgebiete betreffen. Bereits das ZPO-Reformgesetz1 hat mit Wirkung vom 1.1.20022 in § 348 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe h) ZPO u.a. für Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen eine Ausnahme vom Prinzip des originären Einzelrichters angeordnet, wenn nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts die Zuständigkeit einer oder mehrerer Spezialkammern für derartige Streitigkeiten begründet wird. Die dann begründete (originäre) Kammerzuständigkeit fußte auf der Notwendigkeit der besonderen Einarbeitung, Kenntnissen und Erfahrungen für die prozessuale Abwicklung versicherungsvertragsrechtlicher Streitigkeiten mit ihren vielfältigen vom Schuldrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches abweichenden spezialgesetzlichen Regelungen, der erforderlichen Kenntnis einer umfangreichen Rechtsprechung im Bereich des Rechts der Obliegenheiten sowie auch der erforderlichen Sachkenntnis bei der Beurteilung medizinischer Befunde etwa im Rahmen einer Berufsunfähigkeitsversicherung.3 Der durch Gesetz zur Reform des Bauvertragsrechts, zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung, zur Stärkung des zivilrechtlichen Rechtsschutzes und zum maschinellen Siegel im Grundbuch- und Schiffsregisterverfahren vom 28.4.20174 eingefügte § 72a Satz 1 Nr. 4 GVG sieht mit Wirkung vom 1.1.2018,5 gem. § 40a EGVVG allerdings nicht für die vor diesem Stichtag anhängig gewordenen Verfahren, an allen Landgerichten neben der Bildung von Spezialkammern für drei weitere Rechtsgebiete die obligatorische Einrichtung von Versicherungsspezialkammern vor, denen die Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen zugewiesen sind. Da §  72a GVG nicht zwischen der erst- und zweitinstanzlichen Zuständigkeit unterscheidet, gilt er auch für die Zuständigkeit der Berufungs- und Beschwerdekammern bei den

1 Gesetz zur Reform der Zivilprozessordnung vom 27.7.2001 (BGBl. I, S. 1881). 2 Art. 53 Nr. 3 ZPO-Reformgesetz 3 BT-Drucks. 14/4722, S. 89; BT-Drucks. 14/3750, S. 62; Wittschier in Musielak/Voit Zivilprozessordnung, 16. Aufl. 2019, § 348 ZPO Rz. 6. 4 BGBl. I, S. 969. 5 Art. 10 des Gesetzes vom 28.4.2017 (BGBl. I S. 969).

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Landgerichten.6 Deren Spezialzuständigkeit für die zweitinstanzlichen Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen kann organisatorisch mit der erstinstanzlichen Zuständigkeit für dieses Sachgebiet dergestalt verknüpft werden, dass dieselbe Kammer sowohl für die erst- als auch die zweitinstanzlichen Versicherungssachen zuständig ist, um so die besondere Sachkunde des Spruchkörpers für die gesamte Breite der beim Landgericht anfallenden Versicherungsstreitigkeiten zu nutzen. Daneben können den spezialisierten Spruchkörpern zur besseren Auslastung auch allgemeine Zivilsachen zugewiesen werden, § 72a Satz 2, § 119a Satz 2 GVG. §  119a Satz  1 Nr.  4 GVG enthält in der Fassung des Gesetzes vom 28.4.20177 eine identische Regelung für die Zivilsenate beim Oberlandesgericht. Hintergrund für die  obligatorische Bildung von auf Versicherungsrechtsstreitigkeiten spezialisierten Spruchkörpern war die Erkenntnis und Erwartung, dass durch eine Konzentrierung der für Verbraucher wie Versicherungswirtschaft gleichermaßen bedeutsamen Rechtsstreitigkeiten eine häufigere Befassung des Spruchkörpers mit der Materie des Versicherungsvertragsrechts und mit dem damit einhergehenden Wissens- und Erfahrungszuwachs eine Qualitätssteigerung der Rechtsprechung verbunden ist.8 Die Spezialzuständigkeit betrifft auch Verfahren über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und über Anträge auf Arrest oder einstweilige Verfügung, einschließlich der Neben- und Folgeentscheidungen sowie der Beschwerdeverfahren.9 2.  Rückanbindung an den besonderen Gerichtsstand des § 215 VVG Zur inhaltlichen Bestimmung, welche Streitigkeiten im so definierten Versicherungsprozess ausgetragen werden und damit zu den in den § 72a Satz 1 Nr. 4, § 119a Satz 1 Nr. 4 GVG und § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe h) ZPO genannten „Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen“ gehören, kann auf die Auslegung zurückgegriffen werden, die der BGH10 bei der Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs der Vorschrift des § 215 VVG vorgenommen hat. Denn was zu den Klagen aus dem weit auszulegenden Begriff des Versicherungsvertrags oder der Versicherungsvermittlung im Sinne von § 215 VVG gehört, für die in dieser Bestimmung die Zuständigkeit des Wohnsitzgerichts des Versicherungsnehmers begründet wird, macht 6 Rogler in Boetius/Rogler/Schäfer (Hrsg.), Rechtshandbuch Private Krankenversicherung, 1. Aufl. 2020, § 64 Rz. 51; Lückemann in Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 72a GVG Rz. 2; Feldmann in BeckOK GVG, § 72a GVG Rz. 4; Hüßtege in Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 40. Aufl. 2019, § 72a GVG Rz. 2; Fölsch, NJW 2020, 801, 802; vgl. auch Klose, MDR 2017, 793, 795; a.A. Hunke in Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, Zivilprozessordnung, 78. Aufl. 2020, § 72a GVG Rz. 1. 7 BGBl. I, S. 969. 8 BT-Drucks. 18/11437, S. 44 f.; OLG Hamburg v. 6.8.2018 – 6 AR 10/18, BeckRS 2018, 18116 Rz. 13; OLG Bamberg v. 31.8.2018 – 2 ZIV AR 2/18, NJW-RR 2018, 1386; Wittschier in Musielak/Voit, Zivilprozessordnung, 16. Aufl. 2019, § 72a GVG Rz. 1; Klose, MDR 2017, 793; Fölsch, NJW 2020, 801. 9 Fölsch, NJW 2020, 801, 802. 10 BGH v. 8.3.2017 – IV ZR 435/15, BGHZ 214, 160 = r+s 2017, 389 = VersR 2017, 779 und BGH v. 8.11.2017 − IV ZR 551/15, BGHZ 216, 358 = r+s 2018, 54 = VersR 2018, 182.

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zugleich die Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen aus, für die § 72a Satz 1 Nr. 4, § 119a Satz 1 Nr. 4 GVG und § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe h) ZPO Regelungen treffen. Danach gehören zum Versicherungsprozess alle Ansprüche, bei denen das Bestehen, Nichtbestehen oder Nichtmehrbestehen eines Versicherungsverhältnisses auch nur die Rolle einer klagebegründenden Behauptung spielt,11 also insbesondere die beiderseitigen Erfüllungsansprüche sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdversicherung12 nebst den sie vorbereitenden Auskunftsansprüchen, auch soweit sie isoliert geltend gemacht werden, und die positiven wie negativen Feststellungsklagen, mit denen der (Fort-)Bestand oder Nichtbestand von Versicherungsverträgen oder einzelner Vertragsinhalte festgestellt werden soll. Er erstreckt sich auch auf Ansprüche aus gesetzlichen Schuldverhältnissen, sofern diese im Zusammenhang mit einem Versicherungsvertrag stehen und er schließt damit z.B. auch Klagen ein, die auf die (bereicherungsrechtliche) Rückabwicklung des Versicherungsvertrages nach Widerspruch, Rücktritt oder Anfechtung wegen Verletzung vorvertraglicher Anzeigeobliegenheiten, auf Rückzahlung der Entschädigungsleistung nach arglistiger Täuschung über den Grund des Entschädigungsanspruchs bzw. dessen Höhe in der Hausrat- oder Gebäudeversicherung sowie auf Schadensersatz aus Beratungsverschulden bei Anbahnung des Versicherungsvertrages unter Einschluss der Prospekthaftung im weiteren und im engeren Sinne gerichtet sind. Auch solche Ansprüche, gleichviel ob man sie als quasivertraglich oder deliktisch qualifiziert, stehen in engem Zusammenhang mit dem Versicherungsvertrag, von dessen Abschluss oder Anbahnung sie unmittelbar abhängen. Deshalb fallen auch Ansprüche aus gewohnheitsrechtlich anerkannter Erfüllungs- und Vertrauenshaftung für die im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss erfolgten Zusagen und Auskünfte eines Versicherungsvermittlers unter die Versicherungsstreitigkeiten, sofern man diese Rechtsfigur unter dem Regime des VVG 2008 noch anerkennt.13 3.  Sachnähe als Zuordnungskriterium Schon nach den Gesetzesbegründungen zu §  72a Satz  1 Nr.  4, §  119a Satz  1 Nr.  4 GVG und § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe h) ZPO umfassen die dort aufgeführten Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen nicht nur Streitigkeiten aus Versicherungsverträgen zwischen dem Versicherungsnehmer, der versicherten Person oder dem Bezugsberechtigten einerseits und dem Versicherer andererseits, sondern wegen der Sachnähe auch Streitigkeiten aus der Versicherungsvermittlung und -beratung im Sinne von § 59 VVG, auch soweit dafür jeweils außervertragliche Scha-

11 BGH v. 14.3.2017 − IV ZR 435/15, BGHZ 214, 160 Rz. 15 m.w.N. = r+s 2017, 389. 12 Z.B. der Direktanspruch des Reisenden aus dem Sicherungsschein gem. §  651k Abs.  3 Satz 1 BGB. 13 Dafür OLG Frankfurt v. 19.5.2011 – 7 U 67/08, VersR 2012, 342; LG Saarbrücken v. 5.8.2013 – 14 O 152/12, VersR 2014, 317; a.A. Rixecker in Langheid/Rixecker, Versicherungsvertragsgesetz, 6. Aufl. 2019, § 6 VVG Rz. 3 m.w.N.

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densersatzansprüche Entscheidungsgrundlage sind.14 Zu diesem vom Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung geäußerten weiten Verständnis setzt sich das KG15 in offenen Widerspruch, indem es für eine enge Auslegung der in den §§ 72a, 119a GVG geregelten Sonderzuständigkeit mit der Begründung plädiert, die Erwägung in der Gesetzesbegründung habe letztlich keinerlei Niederschlag in dem ansonsten eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut der Gesetzesbestimmung gefunden, so dass lediglich nur Streitigkeiten zwischen den Parteien des Versicherungsvertrages erfasst würden. Damit lässt das KG nicht nur außer Betracht dass der BGH in seiner grundlegenden Entscheidung zur Auslegung des §  215 VVG,16 dessen Einführung letztlich dieselbe gesetzgeberische Wertung zugrunde liegt wie der Schaffung der Sonderzuständigkeit nach § 72a Satz 1 Nr. 4 und § 119a Satz 1 Nr. 4 GVG, ein weites Begriffsverständnis für den Versicherungsvertrag vorgegeben hat. Es lässt auch unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber den ein weites Verständnis nahelegenden Begriff des „Versicherungsvertragsverhältnisses“ gewählt17 und damit durchaus seiner in der Gesetzesbegründung geäußerten Auffassung im Gesetz selbst Ausdruck verliehen hat.18 Weil mithin die Sachnähe ein Zuordnungskriterium darstellt, fallen auch Klagen der nach § 3 Abs. 1 Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) anspruchsberechtigten Stellen auf Unterlassung der Verwendung (angeblich) unwirksamer Versicherungsbedingungen oder von Zuwiderhandlungen i.S.v. § 2 UKlaG, für die durch § 6 Abs. 1 UKlaG eine sachliche Zuständigkeit der Landgerichte begründet wird, unter die Versicherungsstreitigkeiten in diesem Sinne, auch wenn diese Stellen am Versicherungsvertrag nicht beteiligt sind. Gleiches gilt für Feststellungsklagen des – ebenfalls am Versicherungsvertrag unbeteiligten – geschädigten Dritten gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers auf Gewährung von Deckungsschutz für den Schädiger19 oder für Klagen aus einer Haftungsübernahme für eine Schuld, die im Zusammenhang mit einem Versicherungsvertragsverhältnis steht und durch die der Übernehmer in die Position desjenigen rückt, für dessen Streit die Spezialzuständigkeit begründet wurde.20 Stammt der Vollstreckungstitel von einem für Versicherungsvertragsverhältnisse zuständigen Spruchkörper, gilt die Zuständigkeit auch für Vollstreckungsabwehrklagen nach § 767 ZPO. Denn nach § 767 ZPO soll über die Vollstreckungsabwehrklage das für den Vorprozess zuständige Gericht entscheiden. Seine im Vorprozess erworbene 14 BT-Drucks. 18/11437, S.  45; OLG München v. 7.2.2019  – 34 AR 114/18, r+s 2019, 358 Rz. 13; Feldmann in BeckOK GVG, § 72a GVG Rz. 16. 15 KG v. 18.7.2019 – 2 AR 29/19, VersR 2019, 1315 = r+s 2019, 546 m. Anm. Piontek. 16 BGH v. 8.3.2017 – IV ZR 435/15, BGHZ 214, 160 = r+s 2017, 389 = VersR 2017, 779. 17 Vgl. Hunke in Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, Zivilprozessordnung, 78. Aufl. 2020, § 72a GVG Rz. 8. 18 Kritisch zur Entscheidung des KG auch Piontek, r+s 2019, 548. 19 Vgl. dazu BGH v. 14.3.2017 – IV ZR 435/15, BGHZ 214, 314 Rz. 24 = r+s 2017, 301 = VersR 2017, 683; BGH v. 22.7.2009 – IV ZR 265/06, VersR 2009, 1485; BGH v. 15.11.2000 – IV ZR 223/99, VersR 2001, 90; OLG München v. 18.12.2015 – 25 U 1668/15, VersR 2016, 1363; OLG Naumburg v. 25.7.2013 – 2 U 23/13, VersR 2014, 54; Felsch, r+s 2010, 265, 275. 20 Klimke in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 30. Aufl. 2018, § 215 VVG Rz. 8a; Rattey, r+s 2015, 316, 317.

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Sachkunde soll im Verfahren über die Vollstreckungsabwehrklage genutzt werden. Das ist bei Verfahren, die vom Gesetzgeber besonderen Spruchkörpern zugewiesen sind, nur gewährleistet, wenn dieser Spruchkörper auch über Vollstreckungsabwehrklagen gegen die von ihnen geschaffenen Titel entscheiden.21 Streitigkeiten aus Renten- oder Lebensversicherungsverträgen werden nicht deshalb den für Versicherungssachen zuständigen Spruchkörpern entzogen, weil sie als Kapitalanlage zu qualifizieren sind. Auch Streitigkeiten mit Einrichtungen der Zusatzversorgung, die die Altersversorgung des öffentlichen und kirchlichen Dienstes als eine Sonderform der betrieblichen Altersversorgung übernommen haben, wie die in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts organisierte Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL), die in derselben Rechtsform organisierten kirchlichen Zusatzversorgungskassen (KZVK)22 oder eine kommunale Zusatzversorgungseinrichtung werden ebenfalls im Versicherungsprozess entschieden, weil die Versorgungsansprüche auf Gruppenversicherungsverträgen zwischen der Versorgungskasse und den beteiligten Arbeitgebern beruhen, deren Arbeitnehmer durch die Anmeldung zur Versicherung den Status einer versicherten Person erlangen.23 Diese Zuordnung erfolgt unabhängig ­davon, ob die Einrichtung der Zusatzversorgung auf der Aktiv- oder Passivseite des Verfahrens steht und ob es um Ansprüche von oder gegen einen Beteiligten oder Versicherten geht. Vor den Versicherungsspezialkammern und -senaten sind auch die Ansprüche gegen Pensionskassen aus Versorgungszusagen des Arbeitgebers zu verhandeln, sofern die Kasse keine Sozialeinrichtung i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b) ArbGG darstellt, wodurch der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet wäre.24 4.  Negative Begrenzung des Anwendungsbereichs Allein die Beteiligung einer Versicherung auf der Aktiv- oder Passivseite eines Zivilprozesses macht die zugrundeliegende Streitigkeit freilich noch nicht zu einem Versicherungsprozess, weil Versicherungsunternehmen gewerbsmäßig auch abseits von Versicherungsangelegenheiten am Geschäftsleben teilnehmen, wie etwa bei der Geldanlage oder der Übernahme von Bürgschaften. Zu den Geschäften eines Versicherungsunternehmens gehört auch die Anlage des gebundenen (und auch des eige-

21 Vgl. BGH v. 6.2.1975 – III ZB 11/74, NJW 1975, 829. 22 Stürmer, NJW 2004, 2480. 23 BGH v. 22.5.1967  – VII ZR 188/64, BGHZ 48, 35 = NJW 1967, 2057 (VBL); BGH v. 22.9.1971  – IV ZR 15/70, VersR 1971, 1116 (VBL); BGH v. 14.11.2007  – IV ZR 74/06, BGHZ 174, 127 = VersR 2008, 1625 (VBL); BGH v. 5.12.2012 – IV ZR 110/10, VersR 2013, 219 (KZVK); OLG Hamm v. 10.6.1987 – 20 U 367/86, NJW-RR 1988, 155 für eine kommunale Versorgungskasse mit Nachweisen zu weiteren Zusatzversorgungseinrichtungen; Stürmer, NJW 2004, 2480. 24 S. dazu BGH v. 3.4.2019 – IV ZB 17/18, VersR 2019, 633.

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nen) Vermögens etwa durch langfristige Kredite.25 Die Ansprüche aus derartigen Verträgen haben ihren sachlichen Grund in der Kreditvereinbarung und nicht im Versicherungsvertrag, selbst wenn das Darlehen mit der Ablaufleistung aus einer Versicherung gesichert ist. Wird eine Kapitallebensversicherung zur Tilgung eines endfälligen Darlehens eingesetzt, liegt bei einer Kombination beider Verträge bei demselben Versicherer eine Versicherungsstreitigkeit vor, wenn der Versicherungsund Darlehensnehmer in einem Schadensersatzprozess geltend macht, die hinter den Erwartungen zurück gebliebene Ablaufleistung aus der Lebensversicherung sei als Tilgungsersatz vereinbart worden oder der Versicherer habe seine Aufklärungspflichten hinsichtlich der Risiken der gewählten Konstruktion verletzt. Richten sich derartige Klagen gegen die kreditgebende Bank, liegen demgegenüber Versicherungsstreitigkeiten nicht deswegen vor, weil die Ablaufleistung aus einer Versicherung als Tilgungsersatz in Betracht kommt oder die Bank diesbezügliche Aufklärungspflichten verletzt haben soll. Auch die im Zusammenhang mit Versicherungsverträgen stehenden Streitigkeiten um (Rück-) Forderungen von Provisionen aus der Vermittlung von Versicherungsverträgen gehören nicht zu den Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen.26 Derartige Ansprüche haben ihre Grundlage im Agentur- oder Provisionsvertrag und nicht im Versicherungsvertrag oder dessen Anbahnung. Dass im Rechtsstreit über Provisionszahlungen Fragestellungen versicherungsvertraglicher Art von Bedeutung sein können, rechtfertigt noch keine Zuordnung zu den Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen. Die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen Rechtsanwälte wegen Pflichtverletzungen bei der Durchsetzung oder Abwehr versicherungsrechtlicher Ansprüche haben ihren sachlichen Grund in der Verletzung des Anwaltsvertrages und sind deshalb im Anwaltshaftungs- und nicht im Versicherungsprozess zu klären, auch wenn versicherungsrechtliche Fragestellungen in einem derartigen Verfahren von Bedeutung sein können. Der Direktanspruch nach § 115 VVG ist ungeachtet seiner Anknüpfung an das Versicherungsverhältnis nach h.M. deliktischer Natur27 und – da es auch keine vertragliche oder vorvertragliche Verbindung zwischen Geschädigtem und Versicherer 25 BT-Drucks. 18/11437, S. 45; OLG Hamburg v. 6.8.2018 – 6 AR 10/18, BeckRS 2018, 18116 Rz. 20; Schäfer in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, 5. Aufl. 2016, § 2 KWG Rz. 15; Schwennicke in Schwennicke/Auerbach, KWG, 3. Aufl. 2016, § 2 KWG Rz. 9. 26 OLG München v. 7.2.2019 – 34 AR 114/18, r+s 2019, 358. 27 BGH v. 3.12.1971 – VI ZR 97/70, BGHZ 57, 265 = NJW 1972, 387; BGH v. 18.12.1980 – IVa ZR 56/80, BGHZ 79, 170 = NJW 1981, 925; OLG Hamm v. 17.12.2015 – 6 U 139/14, VersR 2016, 1308; Schneider in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2016, § 115 VVG Rz. 46; Looschelders in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2016, § 215 VVG Rz. 37; Langheid in Langheid/Rixecker, Versicherungsvertragsgesetz, 6. Aufl. 2019, § 115 VVG Rz. 10; Knappmann in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 30. Aufl. 2018, § 115 Rz. 11; Jahnke in Stiefel/Maier, Kraftfahrtversicherung, 19.  Aufl. 2017, §  115 VVG Rz.  134; Schimikowski in Rüffer/Halbach/ Schimikowski, Versicherungsvertragsgesetz-Handkommentar, 4.  Aufl. 2020, §  115 VVG Rz. 10; Piontek, Haftpflichtversicherung, 1. Aufl. 2016, § 6 Rz. 29; ders., r+s 2018, 113, 117;

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gibt – damit als Anspruch aus einem gesetzlichen Schuldbeitritt zum Haftpflichtverhältnis kein Anspruch aus dem Versicherungsvertrag, über den im Versicherungsprozess von der Versicherungsspezialkammer oder dem -senat zu entscheiden wäre.28 Im Ergebnis Gleiches gilt für den durch §  192 Abs.  7 VVG eingeräumten Direktanspruch des Leistungserbringers im Basistarif der Krankenversicherung, bei dem es sich nicht um den Versicherungsanspruch des Versicherungsnehmers, sondern um den Vergütungsanspruch des Leistungserbringers handelt,29 der den Versicherungsspezialspruchkörpern nicht zur Entscheidung zugewiesen ist. Nicht anders ist auch der Rückforderungsanspruch des Haftpflichtversicherers gegen den geschädigten Dritten30 zu beurteilen, den der Versicherer geltend machen kann, wenn er in der irrigen Annahme des Bestehens eines Haftpflichtanspruchs gegen den Versicherungsnehmer zu dessen Erfüllung an den vermeintlichen Haftpflichtgläubiger gezahlt hat. Nimmt der Versicherer nach Entschädigung des Versicherungsnehmers und Übergang des Ersatzanspruchs gem. §  86 Abs.  1 Satz  1 VVG den Schädiger in Regress, bleibt für die Einordnung des Regressprozesses das ursprüngliche Rechtsverhältnis maßgebend, so dass die Zuständigkeit der Spruchkörper für Haftpflichtansprüche und nicht derjenigen für Versicherungssachen begründet ist. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn im Versicherungsvertrag Regressbeschränkungen verankert sind, wie etwa bei der Wohngebäudeversicherung in A. § 6 VGB 2010 und entsprechenden (unterschiedlichen) Regelungen in den Vorläuferbedingungen bei Schädigung des Gemeinschaftseigentums durch einen Miteigentümer. In diesen Fällen hat der auf den Versicherer übergegangene Schadensersatzanspruch aus Verletzung des Gemeinschaftverhältnisses oder aus § 823 BGB seinen Grund nicht im Versicherungsverhältnis, so dass die Notwendigkeit der Behandlung versicherungsvertraglicher Besonderheiten nicht ausreicht, um die Zuständigkeit der Spruchkörper für Rechtsstreitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen zu begründen. In Zusammenhang mit der Regressmöglichkeit nach § 86 VVG stehen Verträge zwischen Versicherern, durch die Probleme geregelt werden sollen, die durch einen Regress entstehen können. Regressverzichtsabkommen, z.B. zwischen den Feuerversicherern, sollen einen Regress durch die Vertragspartner ausschließen, sofern der Schädiger in den Schutzbereich des Abkommens einbezogen ist.31 Schadensteilungsabkommen, z.B. zwischen Kfz-Kaskoversicherer und Haftpflichtversicherer oder zwischen Kfz-Haftpflichtversicherer und einem Sozialversicherungsträger, sollen durch eine nach einer Durchschnittsquote bestimmten Teilung der Aufwendungen die nicht unerheblichen Kosten vermeiden, die durch eine außergerichtliche oder gerichtliche

Heß/Höke in Beckmann/Matusche-Beckmann (Hrsg.), Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl., 2015, § 30 Rz. 258. 28 Lückemann in Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 72a GVG Rz. 7. 29 Voit in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 192 VVG Rz. 225. 30 Vgl. BGH v. 28.11.1990 – XII ZR 130/89, VersR 1991, 356. 31 Möller/Segger in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2016, § 86 VVG Rz. 250.

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Prüfung eines Rückgriffs gegen mögliche Schadensverursacher entstehen können.32 Streitigkeiten aus derartigen Vereinbarungen, über die Abgrenzung ihres Anwendungsbereichs und ihre Auslegung, fallen nicht in die Zuständigkeit nach § 72a Satz 1 Nr. 4, § 119a Satz 1 Nr. 4 GVG, da es sich bei diesen Abkommen um gegenseitige Rahmenverträge zur vergleichsweisen Erledigung künftiger Rechtsverhältnisse handelt, die durch Schadensfälle entstehen können33 und die zudem im inneren Zusam­ menhang mit den ebenfalls nicht in die Zuständigkeit der Spruchkörper für Ver­ sicherungssachen fallenden Regressansprüchen nach §  86 VVG stehen. Dies gilt ­unabhängig davon, dass in derartigen Rechtsstreitigkeiten je nach Fassung des Abkommens auch spezielle versicherungsrechtliche Fragestellungen auftreten können und zu beantworten sind. Wegen des nur losen Zusammenhangs zu Versicherungsvertragsverhältnissen fallen die im FamFG geregelten Aufgebotsverfahren zur Kraftloserklärung von Versicherungsscheinen, auf die § 215 VVG keine Anwendung findet,34 sowie Klagen von Ärzten oder anderen medizinischen Behandlern gegen den Krankenversicherer auf Unterlassung oder Schadensersatz wegen des nach § 5 Abs. 1 Buchst. c) MB/KK vom Versicherer verfügten Ausschlusses von der Rechnungserstattung nicht in die Spezialzuständigkeit für Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen. Im Versicherungsprozess können demgegenüber Forderungen zur Aufrechnung gestellt werden, die in Sachgebiete fallen, für die eine funktionelle Zuständigkeit eines anderen Spruchkörpers gegeben ist. Auch über solche Aufrechnungen entscheidet der für Versicherungsrechtsstreitigkeiten zuständige Spruchkörper mit. Konnexe Widerklagen können gem. §  215 Abs.  2 VVG befreit von der Restriktion des §  33 Abs. 2 ZPO erhoben werden, im Aktivprozess des Versicherungsnehmers auch dann, wenn dieser nicht vor dem nach § 215 Abs. 1 Satz 1 VVG zuständigen Gericht klagt.35 5. Zweifelsfragen Unmittelbar gegen den Haftpflichtversicherer auf Zahlung vorgehen kann der Geschädigte auch, nachdem der Schädiger den Deckungsanspruch aus der Haftpflichtversicherung an ihn abgetreten (vgl. §  108 Abs.  2 VVG) oder der Geschädigte ihn pfänden und sich zur Einziehung hat überweisen lassen, oder wegen des dem Geschädigten gem. § 110 VVG zustehenden Anspruchs auf abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch des haftpflichtversicherten Schädigers nach Insolvenzeröffnung über dessen Vermögen und Feststellung der Haftpflichtforderung im Insolvenzverfahren. In diesen Konstellationen vereinigen sich Haftpflicht- und Ver32 Armbrüster in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 86 VVG Rz. 110; Möller/Segger in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2016, § 86 VVG Rz. 261; Hormuth in Beckmann/Matusche-Beckmann (Hrsg.), Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 22 Rz. 167; Bischoff, VersR 1974, 217. 33 Armbrüster in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 30.  Aufl. 2018, §  86 VVG Rz. 111. 34 OLG Düsseldorf v. 30.7.2012 – 3 Wx 102/12, r+s 2013, 50. 35 Looschelders in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2016, § 215 VVG Rz. 57.

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sicherungsanspruch in einer Hand36 und der Geschädigte verfolgt einen kombinierten Haftpflicht- und Versicherungsanspruch.37 Die Zuordnung dieses kombinierten Anspruchs unter den Katalog der § 72a und § 119a GVG erscheint nicht unproblematisch.38 Fällt der Haftpflichtanspruch auch in den Katalog derjenigen Rechtsgebiete, für die eine Spezialkammer bzw. ein Spezialsenat eingerichtet werden muss, konkurrieren mehrere Spezialmaterien miteinander. Hier sollten der Schwerpunkt der Streitigkeit und die den Prozess prägende Spezialmaterie das maßgebende Zuordnungskriterium darstellen.39 Sofern versicherungsrechtliche Einwendungen überhaupt nicht erhoben werden, besteht kein sachlicher Grund, die Versicherungsspe­ zialkammer mit den dann ausschließlich haftungsrechtlichen Fragen zu befassen. Dann kommt auch der mit der Spezialisierung verfolgte Zweck nur bei dem für den Haftpflichtanspruch zuständigen Spruchkörper zum Tragen, durch eine häufigere Befassung mit Streitigkeiten aus der Spezialmaterie zu einer Qualitätssteigerung in der Rechtsprechung zu gelangen.40 Betrifft das Haftpflichtverhältnis ein nicht unter den Katalog der Spezialmaterien fallendes Rechtsgebiet, bietet sich die Zuordnung des kombinierten Anspruchs zu den Versicherungsstreitigkeiten dann an, wenn der in Anspruch genommene Versicherer deckungsrechtliche Einwendungen erhebt. Fehlt es an solchen Einwendungen, macht die Befassung des nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts für den Haftpflichtanspruch zuständigen Spruchkörpers mit dieser Streitigkeit wegen der dort häufigeren Befassung mit der Materie mehr Sinn. Hat der in der Haftpflichtversicherung Versicherte den Geschädigten befriedigt und nimmt er nunmehr den Haftpflichtversicherer in Anspruch, macht er den mit der Befriedigung des Geschädigten in einen Zahlungsanspruch umgewandelten Freistellungsanspruch aus der Haftpflichtversicherung als auch in der Kfz-Haftpflichtversicherung den Ausgleichsanspruch gem. § 426 Abs. 1 BGB aus dem nach § 115 Abs. 1 Satz 4 VVG bestehenden Gesamtschuldverhältnis geltend, für den die Zuständigkeit in Versicherungsrechtsangelegenheiten gilt. Im Versicherungsprozess wird auch der Regress des Versicherers gegen den Versicherungsnehmer/Versicherten entschieden, wenn der Versicherer den Geschädigten befriedigt hat, aber im Innenverhältnis z.B. wegen einer Obliegenheitsverletzung oder unterbliebener Prämienzahlung gem. § 116 Abs. 1 Satz 2 VVG frei ist. Die gegenteili-

36 BGH v. 20.4.2016 – IV ZR 531/14, r+s 2016, 455 = VersR 2016, 783; BGH v. 17.3.2004 – IV ZR 268/03, r+s 2004, 281 = VersR 2004, 634; OLG Saarbrücken v. 8.9.2004 – 5 U 21/04, VersR 2005, 394; Piontek, Haftpflichtversicherung, 1. Aufl. 2016, § 3 Rz. 33 m.w.N. 37 A.A. Hösker, VersR 2013, 952, 956: modifizierter Deckungsanspruch. 38 Vgl. Langheid, VersR 2009, 1043, 1045; Langheid in Langheid/Rixecker, Versicherungsvertragsgesetz, 6. Aufl. 2019, § 108 VVG Rz. 23. 39 Göertz in Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, Zivilprozessordnung, 78. Aufl. 2020, § 348 ZPO Rz. 21; Grooterhorst/Loomann, NZG 2015, 215, 218, die generell die Zuständigkeit für das Versicherungsrecht befürworten. 40 BT-Drucks. 18/11437, S. 44 f.; OLG Hamburg v. 6.8.2018 – 6 AR 10/18, BeckRS 2018, 18116 Rz. 13; OLG Bamberg v. 31.8.2018 – 2 ZIV AR 2/18, NJW-RR 2018, 1386.

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ge Auffassung des KG41 überzeugt nicht. Das Gericht, das zur Entscheidung eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Versicherungsspezialsenat und dem für Verkehrsunfallsachen zuständigen Senat aufgerufen war, hat sich der Auffassung des die eigene Zuständigkeit leugnenden Versicherungsspezialsenats angeschlossen, der gemeint hatte, dass der streitgegenständliche Regressanspruch sich nicht aus dem zwischen dem Haftpflichtversicherer und der Fahrzeughalterin bestehenden Kraftfahrt-Versicherungsvertrag ergebe. Vielmehr handele es sich um einen gesetzlichen Anspruch, der seine Grundlage im Deliktsrecht habe. Dem ist der für die Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zuständige Senat des KG mit der Begründung gefolgt, dass sich im Hinblick auf die gesamtschuldnerische Haftung von Versicherer und Versicherten die vom Versicherer geltend gemachte Regressforderung zum einen auf die Ausgleichsregelung in § 426 Abs. 1 BGB stützen lasse, bei der es sich um eine selbstständige gesetzliche Anspruchsgrundlage handele. Zum anderen könne der Versicherer die auf ihn nach § 426 Abs. 2 BGB übergegangenen deliktischen Ansprüche des Geschädigten aus § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 18 Abs. 1 StVG geltend machen. Beide Ansprüche hätten ihre Grundlage nicht in dem zwischen dem Versicherer und dem Fahrzeughalter als Versicherungsnehmer bestehenden Versicherungsvertragsverhältnis. Dieses Vertragsverhältnis sei vielmehr lediglich für die nachgelagerte Frage von Bedeutung, ob und ggf. in welcher Höhe Obliegenheitsverletzungen des Versicherungsnehmers bzw. der versicherten Person im Innenverhältnis zu einer Leistungsfreiheit des Versicherers führen könnten. Das KG verkennt, dass das Rückgriffsverhältnis durchaus seinen Ursprung im Versicherungsvertrag hat42 und es berücksichtigt  – ebenso wie der für Versicherungsrechtsstreitigkeiten zuständige Senat  – mit seinem formalen Abstellen auf die Anspruchsgrundlagen nicht ausreichend, dass die Beteiligen des Regressverhältnisses anders als beim Direktanspruch des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer gem. §  115 VVG über eine versicherungsvertragliche Sonderbeziehung verbunden sind, die auch andere, auf gesetzlicher Grundlage bestehende Ansprüche zu solchen aus Versicherungsvertragsverhältnissen werden lässt, wie die Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit Beratung, Abschluss und Durchführung des Versicherungsvertrages oder Bereicherungsansprüche aus der Rückabwicklung eines Versicherungsvertrages. Der BGH43 hat explizit betont, dass bei der gebotenen weiten Auslegung zu den Klagen aus Versicherungsverträgen nach §  215 VVG auch gerichtlich geltend gemachte Ansprüche aus gesetzlichen Schuldverhältnissen gehören, sofern diese im Zusammenhang mit einem Versicherungsvertrag stehen. Da der Begriff „Versicherungsvertragsverhältnis“ im Sinne von § 72a Satz 1 Nr. 4, § 119a Satz 1 Nr. 4 GVG mindestens inhaltsgleich wie der Begriff „Versicherungsvertrag“ i.S.v. § 215 VVG und eher noch umfassender zu interpretieren ist,44 trifft dieses Verständnis auch auf den hier diskutierten Regress des Kfz-Haftpflichtversicherers zu. Hinzu kommt, dass der41 KG v. 18.7.2019 − 2 AR 29/19, r+s 2019, 546 = VersR 2019, 775; so auch Piontek, r+s 2019, 546, 548. 42 BGH v. 18.3.2020 − IV ZR 62/19, VersR 2020, 614 Rz. 14. 43 BGH v. 8.3.2017 − IV ZR 435/15, BGHZ 214, 160 Rz. 15 = r+s 2017, 389 = VersR 2017, 779. 44 Hunke in Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, Zivilprozessordnung, 78. Aufl. 2020, § 72a GVG Rz. 8.

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artige Streitigkeiten erfahrungsgemäß den Schwerpunkt nicht im Haftungsrecht haben, sondern sich um Obliegenheitsverletzungen drehen, wie der der Entscheidung des KG zugrundeliegende Sachverhalt (Trunkenheitsfahrt mit Fahrerflucht) als geradezu klassisches Beispiel für eine Regressforderung zeigt. Bei deren Behandlung ist die besondere Sachkunde der Spezialkammern und -senate gefordert, die ein entscheidender Grund für die Einrichtung der Spezialzuständigkeit in Versicherungssachen war. Wollte man dem KG folgen, könnte der Versicherungsnehmer, der dem Begehren seines eigenen Haftpflichtversicherers mit einer negativen Feststellungs­ klage mit der Begründung entgegentreten will, es liege keine zur Leistungsfreiheit des Versicherers führende Obliegenheitsverletzung vor, nicht am Gerichtsstand des § 215 ZPO klagen, der Ansprüche im Zusammenhang mit einem Versicherungsvertrag ­voraussetzt.

III. Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung Die Verweisung von oder nach einem für Versicherungssachen zuständigen Spruchkörper erfolgt wegen der gesetzlich angeordneten Zuständigkeit analog § 17a Abs. 2 GVG durch eine über den internen Charakter hinausgehende Entscheidung des abgebenden Spruchkörpers.45 Bei einem Zuständigkeitsstreit zwischen einem Spruchkörper, dem die Rechtsstreitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen zugewiesen sind, und einem für die Behandlung anderer Rechtsgebiete kraft Gesetzes oder Geschäftsverteilung zuständigen Spruchkörper desselben Gerichts findet eine Lösung dieses i.d.R. negativen Kompetenzkonflikts analog §  36 ZPO statt.46 Zwar setzt § 36 ZPO nach seinem Wortlaut voraus, dass sich verschiedene Gerichte und nicht einzelne Spruchkörper des gleichen Gerichts rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Allerdings ist die Vorschrift nach allgemeiner Auffassung entsprechend anwendbar, wenn mehrere Spruchkörper desselben Gerichts um ihre Zuständigkeit streiten und die Entscheidung des Kompetenzkonflikts nicht von der Auslegung des Geschäftsverteilungsplans, sondern von einer gesetzlichen Zuständigkeitsregelung abhängt.47 Entscheidend für die entsprechende Anwendung der Regelung ist aber die Erwägung, dass es in solchen Fällen dem Präsidium des Gerichts, das als richterliches Selbstverwaltungsorgan gem. § 21e GVG bei einer den Geschäftsverteilungsplan be45 Klose, MDR 2017, 793, 795; Hüßtege in Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 40. Aufl. 2019, § 72a GVG Rz. 8. 46 KG v. 18.7.2019 – 2 AR 29/19, r+s 2019, 546 Rz. 4 = VersR 2019, 1315; KG v. 15.4.2019 – 2 AR 9/19, VersR 2019, 775; KG v. 13.12.2018 – 2 AR 60/18, NJW-RR 2019, 593 Rz. 3; KG v. 22.3.2018  – 2 AR 11/18, NJW-RR 2018, 639 Rz.  4; OLG München v. 7.2.2019  – 34 AR 114/18, r+s 2019, 358 Rz. 9; OLG Braunschweig v. 8.2.2019 – 1 W 1/19, BeckRS 2019, 2014 Rz. 5; OLG Nürnberg v. 7.1.2019 – 1 AR 2663/18, NZI 2019, 600 = BeckRS 2019, 663 Rz. 6; OLG Nürnberg v. 18.6.2018 – 1 AR 990/18, MDR 2018, 1015; OLG Frankfurt v. 20.6.2018 – 11 SV 25/18, NJW-RR 2018, 1274 Rz. 12; OLG Hamburg v. 6.8.2018 – 6 AR 10/18, BeckRS 2018, 18116 Rz. 9; OLG Hamburg v. 3.12.2018 – 11 AR 21/18, BeckRS 2018, 33588 Rz. 4; OLG Bamberg v. 31.8.2018 – 2 ZIV AR 2/18, NJW-RR 2018, 1386 Rz. 18; OLG Celle v. 4.10.2006 – 4 AR 74/06, NJOZ 2007, 39; Fölsch, NJW 2020, 801, 802 f. 47 BGH v. 11.3.2014 – X ARZ 664/13, NJW-RR 2014, 573.

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treffenden Meinungsverschiedenheit mehrerer Spruchkörper grundsätzlich eingreifen kann, verwehrt ist, den Konflikt durch Auslegung und Anwendung einer gesetzlichen Zuständigkeitsnorm verbindlich zu entscheiden.48 Bei der in §  72a GVG aufgeführten Zuständigkeit der Spezialkammern handelt es sich um eine gesetzliche Zuständigkeitsverteilung.49 Der Zuständigkeitsstreit zwischen Senaten desselben Oberlandesgerichts wird gem. § 36 Abs. 2 ZPO durch Entscheidung des nach der Geschäftsverteilung zuständigen Senats dieses Oberlandesgerichts und nicht durch den BGH gelöst, weil seit der Ergänzung von § 36 ZPO um die Abs. 2 und 3 durch das Gesetz zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts vom 22.12.199750 der BGH für  die Entscheidung derartiger Kompetenzkonflikte nur noch ausnahmsweise zuständig ist.51 Den negativen Kompetenzkonflikt zwischen Zivilkammern des Landgerichts entscheidet das zuständige Oberlandesgericht in analoger Anwendung von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO. Die Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers analog § 36 ZPO kommt in einem Klageverfahren grundsätzlich erst in Betracht, nachdem in der Streitsache Rechtshängigkeit eingetreten ist,52 die an dem Zuständigkeitsstreit beteiligten Spruchkörper sich rechtskräftig (wofür bei der analogen Anwendung des § 36 ZPO bei der Abgabe eines Spruchkörpers an den anderen beim selben Gericht allein die verfahrensrechtlich unangreifbare gerichtliche Ablehnung seiner Zuständigkeit ausreichend ist53) für unzuständig erklärt haben und diese Entscheidung den Parteien – nicht notwendig von dem entscheidenden Spruchkörper54  – mitgeteilt wurde.55 Nicht ausreichend sind daher lediglich gerichtsinterne Vorgänge, wie die Rücksendung der Akten mit der Anregung, eine ergangene Entscheidung über die Abgabe/Verweisung wieder aufzuheben oder abzuändern.56 Erforderlich ist ferner eine förmliche Entscheidung der beteiligten Spruchkörper, bei der es sich nicht notwendigerweise um einen Be48 BGH v. 3.5.1978 – IV ARZ 26/78, BGHZ 71, 264, 270 = NJW 1978, 1531; BGH v. 11.3.2014 – X ARZ 664/13, NJW-RR 2014, 573. 49 BT-Drucks. 18/11437, S. 45; OLG München v. 7.2.2019 – 34 AR 114/18, r+s 2019, 358 Rz. 9; OLG Bamberg v. 31.8.2018  – 2 ZIV AR 2/18, NJW-RR 2018, 1386 Rz.  18; Feldmann in ­BeckOK GVG, § 72a GVG Rz. 6; Lückemann in Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 72a GVG Rz. 2; Fölsch, MDR 2018, 1481 ff. 50 BGBl. I, S. 3224. 51 BGH v. 11.3.2014 – X ARZ 664/13, NJW-RR 2014, 573. 52 BGH v. 18.10.1995 – XII ARZ 18/95, NJW-RR 1996, 254; OLG München v. 7.2.2019 – 34 AR 114/18, r+s 2019, 358 Rz. 10. 53 OLG Dresden v. 21.4.2006  – 21 ARf 8/06, NJW 2006, 2128; Heinrich in Musielak/Voit, ­Zivilprozessordnung, 17. Aufl. 2019, § 36 ZPO Rz. 30. 54 OLG München v. 7.2.2019 – 34 AR 114/18, r+s 2019, 358 Rz. 10; KG v. 22.3.2018 – 2 AR 11/18, NJW-RR 2018, 639 Rz. 6; OLG Hamburg v. 6.8.2018 – 6 AR 10/18, BeckRS 2018, 18116 Rz. 10. 55 BGH v. 14.7.1993 – XII ARZ 16/93, NJW-RR 1993, 1282; KG v. 18.7.2019 – 2 AR 29/19, r+s 2019, 546 Rz. 4; OLG München v. 7.2.2019 – 34 AR 114/18, r+s 2019, 358 Rz. 10; OLG Braunschweig v. 8.2.2019 – 1 W 1/19, BeckRS 2019, 2014 Rz. 5; OLG Nürnberg v. 18.6.2018 – 1 AR 990/18, MDR 2018, 1015. 56 KG v. 22.3.2018 – 2 AR 11/18, NJW-RR 2018, 639 Rz. 6; KG v. 13.12.2018 – 2 AR 60/18, NJW-RR 2019, 593 Rz. 4; OLG Frankfurt v. 20.6.2018 – 11 SV 25/18, NJW-RR 2018, 1274

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schluss handeln muss, so dass auch über den internen Charakter hinausgehende Verfügungen oder Aktenvermerke ausreichen.57 Eine Bindungswirkung zu Lasten des konkurrierenden Spruchkörpers tritt nicht ein, weil eine Vorschrift, die – wie etwa § 281 ZPO oder § 102 GVG – die Bindung eines Verweisungsbeschlusses regeln würde, im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsregelung der §§ 72a, 119a GVG fehlt.58 Hat eine Kammer irrtümlich die Zuständigkeit für einen Versicherungsrechtsstreit angenommen, greift die in manchen Geschäftsverteilungsplänen der Landgerichte enthaltene Zuständigkeitsbestimmung „kraft Irrtums“ nicht, die eine Abgabe/Verweisung an die an sich zuständige Kammer ab einem bestimmten Verfahrensstand nicht mehr zulässt. Denn die gesetzliche Zuständigkeitsbestimmung geht der Geschäftsverteilung vor. In derartigen Fällen findet § 39 ZPO analoge Anwendung. Dessen Normzweck, die Wiederholung bereits vorgenommener Verhandlungsabschnitte zu vermeiden und damit der Prozessökonomie wie der Verfahrensbeschleunigung zu dienen,59 trifft auch auf einen bei einer funktionell unzuständigen Kammer anhängigen Versicherungsrechtsstreit zu.

Rz. 15; Heinrich in Musielak/Voit, Zivilprozessordnung, 17. Aufl. 2019, § 36 ZPO Rz. 30; Schultzky in Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 36 ZPO Rz. 25. 57 OLG Frankfurt v. 20.6.2018 – 11 SV 25/18, NJW-RR 2018, 1274 Rz. 15; KG v. 22.3.2018 – 2 AR 11/18, NJW-RR 2018, 639 Rz. 6. 58 KG v. 14.3.2019 – 2 AR 6/19, BeckRS 2019, 3923 Rz. 10; OLG München v. 7.2.2019 – 34 AR 114/18, r+s 2019, 358 Rz. 11; OLG Hamburg v. 6.8.2018 – 6 AR 10/18, BeckRS 2018, 18116 Rz. 11; a.A. OLG Nürnberg v. 7.1.2019 – 1 AR 2662/18, NZI 2019, 600 = BeckRS 2019, 663; OLG Celle v. 4.10.2006 – 4 AR 74/06, NJOZ 2007, 39. 59 Heinrich in Musielak/Voit, Zivilprozessordnung, 16. Aufl. 2019, § 39 ZPO Rz. 1.

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Besonderheiten der Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften Inhaltsübersicht I. Vorbemerkungen II. Ausgewählte Bilanzierungs-, Bewertungsund Ausweisfragen 1. Einordnung der GmbH & Co. KG 2. Vermögensgegenstände im handelsrechtlichen Jahresabschluss 3. Ansatz von Eigenkapital in der Personenhandelsgesellschaft 4. Sonderposten für aktivierte Anteile an der Komplementär-GmbH 5. Ausweis des Eigenkapitals und des ­Ergebnisses a) Ausweis der Kapitalanteile b) Ausweis des Jahresergebnisses c) Ausweis von Entnahmen 6. Abgrenzung zwischen der Sphäre der Gesellschaft und der Sphäre der ­Gesellschafter in der Gewinn- und ­Verlustrechnung 7. Bilanzierung bei Abfindung ausscheidender Gesellschafter durch die Personenhandelsgesellschaft

III. Gesellschaftsebene und Gesellschafterebene 1. Bilanzierung und Ausweis von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften 2. Zugangsbewertung von Anteilen an ­Personenhandelsgesellschaften 3. Vereinnahmung von Gewinnanteilen a) Gesetzliche Regelung b) Gewinnverwendung durch die ­Gesellschafterversammlung 4. Folgebewertung von Anteilen an ­Personenhandelsgesellschaften 5. Risiken der Kommanditistenhaftung a) Gesetzliche Regelung des § 172 Abs. 4 HGB b) Anhangangaben nach § 264c Abs. 2 Satz 9 HGB c) Sonderfall der Rückforderungs­ ansprüche der Personenhandels­ gesellschaft aus Steuereinbehalten IV. Ausblick

I. Vorbemerkungen Die Rechtsform der Personenhandelsgesellschaft erfreut sich bei Familienunternehmen nach wie vor großer Beliebtheit. Gestattet sie doch eine große Flexibilität in der unternehmensverfassungsrechtlichen Gestaltung, ohne sich den weitaus strengeren formaljuristischen Anforderungen, die an Kapitalgesellschaften gestellt werden, zu unterwerfen. Dabei eröffnet das Recht der Personenhandelsgesellschaften auch ertragsteuerliche Spielräume, die dem Recht der Kapitalgesellschaften mit Blick auf die Gesellschafterebene grundsätzlich fremd sind, auch wenn es dort ebenfalls bspw. über das Vehikel der sog. atypisch stillen Gesellschaft Gestaltungsspielräume gibt.

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Georg van Hall

Gegenstand dieses Beitrags ist jedoch die Beleuchtung der Besonderheiten der handelsrechtlichen Rechnungslegung für Personenhandelsgesellschaften, insbesondere in der Erscheinungsform der GmbH & Co. KG, in der die meisten Personenhandelsgesellschaften verfasst sind. Auf die Regelungen des Publizitätsgesetzes wird ebenso wenig eingegangen wie auf die handelsrechtlichen Vorschriften zur Konzernrechnungslegung nach §§ 290 ff. HGB. Latente Steuern spielen in der einzelgesellschaftlichen Rechnungslegung schon generell wegen des vom Bilanzierenden in der Regel nicht ausgeübten Wahlrechts zur Aktivierung latenter Steuern kaum eine Rolle, geschweige denn bei Personenhandelsgesellschaften, sind diese doch weder körperschaftsteuer- noch einkommensteuerpflichtig. Des Weiteren lassen gewerbesteuerliche Hinzurechnungs- und Kürzungsvorschriften steuerliche Abbaueffekte auf Ebene der Personenhandelsgesellschaft und ihren Gesellschaftern regelmäßig nicht entstehen. Der Hauptfachausschuss (HFA) des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW) hat sich in zwei Stellungnahmen zur Rechnungslegung (RS) zum einen mit den Besonderheiten der handelsrechtlichen Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften (IDW RS HFA 7 n.F.) befasst und zum anderen mit dem IDW RS HFA 18 (Bilanzierung von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften) die Ebene des bilanzierenden Gesellschafters einer Personenhandelsgesellschaft adressiert.

II. Ausgewählte Bilanzierungs-, Bewertungs- und Ausweisfragen 1. Einordnung der GmbH & Co. KG Personenhandelsgesellschaften haben für den Schluss eines jeden Geschäftsjahrs eine Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen (§  242 Abs.  1 Satz 1 HGB) und dabei die rechtsformunabhängig für alle Kaufleute geltenden Vorschriften der §§ 243 bis 256a HGB zu beachten. Neben dieser öffentlich-rechtlichen Bilanzierungspflicht bezweckt die gesellschaftsrechtliche Bilanzierungspflicht darüber hinaus die Ergebnisermittlung als Grundlage der Gewinnteilhabe der Gesellschafter und ihrer Ausschüttungsansprüche. Bei der Personenhandelsgesellschaft kann auf eine Er­ gebnisermittlung nach den Regeln der kaufmännischen Buchführung deshalb nicht verzichtet werden.1 Auf Personenhandelsgesellschaften i.S.d. § 264a Abs. 1 HGB sind darüber hinaus die für Kapitalgesellschaften geltenden ergänzenden Vorschriften über die Aufstellung, Prüfung und Offenlegung von Jahresabschlüssen und ggf. von Lageberichten (§§  264 bis 330 HGB) anzuwenden. Mit dem Kapitalgesellschaftenund-Co-Richtlinie-Gesetz (KapCoRiLiG) wurde mit den Vorschriften der §§  264a bis 264c HGB im Jahr 1999 der Geltungsbereich der vormals nur für Kapitalgesellschaften geltenden Vorschriften der §§ 264 ff. HGB auf haftungsbeschränkte Personenhandelsgesellschaften erweitert und gleichzeitig an die aus den in Teilen beson-

1 Priester in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 120 HGB Rz. 12.

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Besonderheiten der Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften

deren gesellschaftsrechtlichen Strukturen resultierenden besonderen Erfordernisse der Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften angepasst.2 Diese ergänzenden Vorschriften sind von Personenhandelsgesellschaften dann an­ zuwenden, wenn nicht wenigstens ein persönlich haftender Gesellschafter (also ein Komplementär) eine natürliche Person ist oder letztlich in einer doppel- oder mehrstöckigen GmbH & Co. KG-Konstellation eine natürliche Person als Komplementär eingesetzt worden ist. Da die Rechnungslegung jeweils für den Schluss eines Geschäftsjahrs erfolgt (§ 242 HGB), ist der Abschlussstichtag auch maßgebend für die Prüfung der Anwendbarkeit des § 264a HGB. Tritt eine natürliche Person kurz vor dem Abschlussstichtag als Komplementär ein und kurz nach dem Abschlussstichtag wieder aus, so dass nur noch die verbleibende GmbH als Komplementär fungiert, entfällt die Anwendbarkeit der Vorschriften der § 264 ff. HGB über die Aufstellung, Prüfung und Offenlegung von Jahresabschlüssen und ggf. von Lageberichten. Indes der Rechtsverkehr wird insoweit geschützt, als dass für die ein- und austretende natürliche Person eine Nachhaftungsfrist von fünf Jahren ab Austritt gilt (§ 160 Abs. 1 HGB). Erfolgt der Eintritt einer natürlichen Person als Komplementär erst nach dem Abschlussstichtag, so entfällt die Pflicht zur Anwendung der ergänzenden Vorschriften der §§ 264 ff. HGB ex nunc, da es der strengeren Gläubigerschutzvorschriften insoweit nicht mehr bedarf. Ist also die Pflicht zur Prüfung oder Offenlegung des Vorjahresabschlusses noch nicht erfüllt, entfällt sie zwar nicht ex tunc, aber doch ex nunc, auch mit Wirkung für den früheren Abschluss, so dass dessen Prüfung bzw. Offenlegung nicht nachgeholt werden muss.3 2. Vermögensgegenstände im handelsrechtlichen Jahresabschluss Vermögensgegenstände sind im Jahresabschluss gem. § 246 Abs. 1 Satz 1 und 2 HGB nach dem Konzept des wirtschaftlichen Eigentums anzusetzen, soweit es sich um Gesamthandsvermögen handelt. Eine wirtschaftliche Zugehörigkeit zum Gesellschaftsvermögen liegt aber auch dann vor, wenn Vermögensgegenstände der Gesellschaft auf der Grundlage einer gesellschaftsrechtlichen Einbringung, also nicht nur zur Nutzung, sondern auch dem Wert nach (sog. Einlage quoad sortem) überlassen worden sind und demzufolge weder zivilrechtliches Gesamthandeigentum besteht noch eine Verpflichtung zur Eigentumsübertragung.4 Vermögensgegenstände, die steuerlich notwendiges (Sonder-)Betriebsvermögen einzelner Gesellschafter sind, dürfen im handelsrechtlichen Jahresabschluss nicht bilanziert werden, wenn es an der Einlage quoad sortem mangelt.

2 Stute in Bertram/Kessler/Müller, HGB Bilanzkommentar, 11. Aufl. 2020, § 264c HGB Rz.1. 3 Vgl. zur Offenlegung LG Osnabrück v. 1.7.2015 – 15 T 6/05. 4 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 11.

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3. Ansatz von Eigenkapital in der Personenhandelsgesellschaft Eigenkapital ist bei Personenhandelsgesellschaften nur dann gegeben, wenn die bereitgestellten Mittel als Verlustdeckungspotenzial zur Verfügung stehen. Dies ist nur dann der Fall, wenn – künftige Verluste mit diesen Mitteln bis zur vollen Höhe zu verrechnen sind und – im Fall einer Insolvenz der Personenhandelsgesellschaft eine Insolvenzforderung nicht geltend gemacht werden kann oder – bei einer Liquidation der Gesellschaft Ansprüche erst nach Befriedigung aller Gesellschaftsgläubiger mit dem sonstigen Eigenkapital auszugleichen sind (Grundsatz der Nachrangigkeit). Die Dauerhaftigkeit der Kapitalüberlassung ist hingegen keine notwendige Voraussetzung für die Qualifikation als Eigenkapital der Personenhandelsgesellschaft, da generell Entnahmen zulasten des Eigenkapitals jederzeit von den Gesellschaftern beschlossen werden können.5 4. Sonderposten für aktivierte Anteile an der Komplementär-GmbH Für den Fall einer sog. Einheitsgesellschaft, wenn also die GmbH & Co. KG sämtliche Anteile an der Komplementär-GmbH hält, demnach das Eigenkapital des persönlich (voll) haftenden Gesellschafters aus dem Vermögen der Personenhandelsgesellschaft stammt, hat die Personenhandelsgesellschaft in Höhe des unter den Finanzanlagen für diese Beteiligung unter Anteilen an verbundenen Unternehmen aktivierten Betrags nach dem Posten Eigenkapital – nicht innerhalb des Eigenkapitals – gem. § 264c Abs. 4 Satz 2 HGB einen Sonderposten unter der Bezeichnung „Ausgleichsposten für aktivierte eigene Anteile“ zu bilden, wofür wiederum § 272 Abs. 4 HGB entsprechend anzuwenden ist. Rein formal erscheint diese Bezeichnung problematisch, weil es sich ja nicht um Anteile an der Personenhandelsgesellschaft handelt, sondern um Anteile an der Komplementär-GmbH und damit nicht um eigene Anteile.6 Wenn aber das Vermögen der Komplementär-GmbH aus dem Vermögen der Personenhandelsgesellschaft geschaffen wurde, liegt zumindest wirtschaftlich eine Beteiligung an sich selbst vor. In der Literatur wird gelegentlich vorgeschlagen, auf die Bildung dieses Sonder­ postens dann zu verzichten, wenn sich die Komplementär-GmbH ihrerseits nicht an der Personenhandelsgesellschaft beteiligt (dies entspricht dem Regelfall in der Praxis), weil damit eine Kapitalvermehrung, die letztlich durch eine Beteiligung an sich selbst ohne Mittelzufluss von außen entstünde, nicht stattfinde.7 Diese Sichtweise verkennt, dass das Vermögen des Vollhafters letztlich aus dem Vermögen der Personenhandelsgesellschaft stammt und den Gläubigern über das Vermögen der Perso5 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 13 f. 6 Stute in Bertram/Kessler/Müller, HGB Bilanzkommentar, 11. Aufl. 2020, § 264c HGB Rz. 39. 7 Schmidt/K. Hoffmann in BBK, 12. Aufl. 2020, § 264c HGB Rz. 86 f.

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nenhandelsgesellschaft hinaus kein weiteres Haftungssubstrat zur Verfügung steht, noch nicht mal in Höhe des Mindeststammkapitals der Komplementär-GmbH, das wiederum aus dem Vermögen der Personenhandelsgesellschaft aufgebracht wurde. Der Sonderposten ist entweder aus Rücklagen oder aus dem Jahresüberschuss zu bilden. Reichen weder Rücklagen noch Jahresüberschuss aus, ist der (restliche) Betrag von den Kapitalanteilen abzubuchen.8 Werden die Anteile an der Komplementär-GmbH nicht von der Personenhandels­ gesellschaft, sondern von einem in deren Mehrheitsbesitz stehenden Tochterunternehmen gehalten, hat die Tochtergesellschaft in entsprechender Anwendung von § 272 Abs. 4 HGB den Sonderposten nach § 264c Abs. 4 Satz 2 HGB zu bilden.9 5. Ausweis des Eigenkapitals und des Ergebnisses a) Ausweis der Kapitalanteile Nach der unveränderten gesetzlichen Regelung und damit nach der Vorstellung des Gesetzgebers im Jahre 1897 hat jeder Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft nur einen einzigen Kapitalanteil, dessen Höhe sich durch Einlagen und Entnahmen sowie durch Gewinn- und Verlustanteile ändert (§ 120 Abs. 2 HGB).10 Dem Kapitalanteil des Kommanditisten wird der Gewinn jedoch nur solange gutgeschrieben, bis der Kapitalanteil den Betrag der bedungenen Einlage (Pflichteinlage) erreicht (§ 167 Abs. 2 HGB). Haftungsbeschränkte Personenhandelsgesellschaften haben in Abweichung vom Gliederungsschema des § 266 Abs. 3 HGB die besonderen Bestimmungen des § 264c Abs. 2 HGB zu beachten. In Ermangelung einer festen Eigenkapitalgröße sind anstelle des Postens „Gezeichnetes Kapital“ die Kapitalanteile der Komplementäre und der Kommanditisten, die in den jeweiligen Gesellschaftergruppen auch zusammengefasst werden dürfen, auszuweisen. Auf die Kapitalkonten der Komplementäre und Kommanditisten entfallende Verlustanteile sind von dem Kapitalanteil abzuschreiben (§ 264c Abs. 2 Satz 3 und 6 HGB), wenn sie nicht in einem Verlustvortragskonto nach gesellschaftsvertraglichen Regelungen erfasst werden. Eine Saldierung negativer Kapitalkonten einzelner Gesellschafter mit positiven Ka­ pitalkonten anderer Gesellschafter – auch in der gleichen Gesellschaftergruppe – ist nicht sachgerecht11 und würde auch gegen das allgemeine Saldierungsverbot des 8 Mit weiterführenden Erläuterungen auch Ischebeck/Nissen-Schmidt in HdR, § 264c Rz. 35. 9 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 17. 10 In der Praxis ist es indes üblich, aufgrund der Dispositionsfreiheit im Gesellschaftsrecht auch zulässig, im Gesellschaftsvertrag das Führen verschiedener Konten vorzusehen, z.B. Festkapitalkonto (Kapitalkonto I), variables Eigenkapitalkonto (Kapitalkonto II), ggf. Verlustvortragskonto, Gesellschafter-Fremdkapitalkonto (Verbindlichkeit). 11 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 44.

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§ 246 Abs. 2 Satz 1 HGB verstoßen. Übersteigen die Verlustanteile die Kapitalkonten, so ist in Abwandlung von § 268 Abs. 3 HGB nach Gesellschaftergruppen getrennt auf der Aktivseite ein Posten mit der Bezeichnung „Nicht durch Vermögenseinlagen gedeckte Verlustanteile persönlich haftender Gesellschafter und/oder der Kommanditisten“ auszuweisen. b) Ausweis des Jahresergebnisses aa) Gewinnanteile Nach dem gesetzlichen Regelstatut des § 120 HGB sind die Gewinnanteile der Komplementäre deren Kapitalanteile zuzuschreiben. Dasselbe gilt für Gewinnanteile der Kommanditisten, soweit der Kapitalanteil noch nicht vollständig erbracht ist. Darüber hinausgehende Gewinnanteile sind einem Gesellschafter-Fremdkapitalkonto, das unter den Verbindlichkeiten aufzuweisen ist, gutzubringen, weil den Kommanditisten ein grundsätzliches Entnahmerecht nach § 169 Abs.1 HGB zusteht. Die Bilanz ist also immer unter vollständiger Ergebnisverwendung aufzustellen. Zu einem Ausweis eines Jahresüberschusses in der Bilanz kann es insoweit nicht kommen. Von der Anwendung dieses gesetzlichen Regelstatuts geht der Gesetzgeber indes in § 264c Abs. 2 HGB selbst nicht aus, schreibt er doch dort vor, dass neben den Kapitalanteilen (siehe Abschnitt 5a)) Rücklagen, Gewinn-/Verlustvortrag sowie Jahresüberschuss/-fehlbetrag gesondert zu zeigen sind. Zu einem solchen Ausweis kann es nur kommen, wenn die Ergebnisverwendung ganz oder teilweise unter die Disposition der Gesellschafterversammlung gestellt ist.12 Von einer teilweisen Disposition der Gesellschafterversammlung über den Jahresüberschuss ist bspw. auszugehen, wenn bereits bei der Aufstellung des Jahresabschlusses bestimmte Rücklagen gebildet werden dürfen oder wenn die Gesellschafter, etwa für Steuer(voraus-)zahlungen Vorabausschüttungen auf den zu erwartenden Gewinn erhalten haben.13 bb) Verlustanteile Verlustanteile sind von den Kapitalanteilen der Gesellschafter abzuschreiben (§§ 120 Abs. 2, 264c Abs. 2 Satz 3 und 6 HGB), die – vorbehaltlich von abweichenden gesellschaftsvertraglichen Regelungen – nicht zu Forderungen der Gesellschaft gegen die Gesellschafter führen. Dies gilt auch für die Verlustanteile der Komplementäre (§ 105 Abs. 3 HGB i.V.m. § 707 BGB), auch wenn die Komplementäre im Außenverhältnis den Gläubigern gegenüber für den durch die Verluste entstandenen Überschuss der Passiva über die Aktiva haften. Es ist zulässig, Verluste vorweg mit gesamthänderisch gebundenen Rücklagen zu verrechnen, sofern dem keine gesellschaftsvertraglichen Regelungen oder abweichende Vereinbarungen der Gesellschafter entgegenstehen. Der danach verbleibende Verlust ist dann von den Kapitalanteilen der Gesellschafter abzuschreiben.14 12 Graf von Kanitz, WPg 2003, 334. 13 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 48. 14 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 49-51.

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Durch diese Verrechnung wird verhindert, dass negative Kapitalanteile auf der Aktivseite ausgewiesen werden, solange gleichzeitig noch sonstiges dem entsprechenden Kapitalanteil zuzurechnendes Eigenkapital ausgewiesen wird. Die Verrechnung ist insoweit rein ausweistechnisch, als sie nur die Zusammenfassung des Verlustkontos mit dem Rücklagenkonto für die externe Rechnungslegung verlangt, also damit keine Aussage verbunden ist, ob im Innenverhältnis der Gesellschaft die Rücklage aufgelöst sein soll.15 c) Ausweis von Entnahmen Bei Personenhandelsgesellschaften gibt es keine gesetzlichen Entnahmeverbote.16 Entnahmen zulasten des Kapitalanteils eines Gesellschafters sind von dem Kapitalanteil abzuschreiben. Übersteigen die Entnahmen den Kapitalanteil, sind sie auf der Aktivseite der Bilanz – ggf. neben den ebenfalls dort auszuweisenden die Kapitalanteile übersteigenden Verluste – als aus Entnahmen entstandenes negatives Kapital der Komplementäre und/oder der Kommanditisten getrennt auszuweisen. Führen sowohl Entnahmen als auch Verluste innerhalb eines Geschäftsjahres zu negativen Kapitalkonten, sind zuerst die Entnahmen zu buchen und dann die Verluste, weil die Verluste erst nach Ablauf des Geschäftsjahres im Rahmen der Aufstellung des Jahresabschlusses die Kapitalkonten belasten, während die Entnahmen bereits im Laufe des Geschäftsjahres erfolgt sind.17 Durch zulässige Entnahmen entstehen – vorbehaltlich gegenteiliger Absprachen zwischen den Gesellschaftern  – keine Ansprüche der Gesamthand gegen den entnehmenden Gesellschafter. Dies gilt unabhängig davon, dass die Haftung der Komplementäre gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft unbegrenzt ist und die Haftung bei den entnehmenden Kommanditisten wiederauflebt (§  172 Abs.  4 HGB). Diese Haftung besteht nur im Außenverhältnis, begründet aber keine Ansprüche der Gesellschaft auf Rückgewähr der zulässigen Entnahmen gegen den entnehmenden Gesellschafter. Ausnahmsweise können bei einer GmbH & Co. KG gesetzliche Ansprüche der Gesamthand gegen den entnehmenden Gesellschafter analog §§ 30, 31 GmbHG entstehen, wenn durch die Entnahme gleichzeitig das Stammkapital der KomplementärGmbH angegriffen würde.18 Rückgewähransprüche können auch dann entstehen, wenn der genehmigte Zweck sich später als nicht gegeben herausstellt, z.B. bei Entnahmen für Steuervorauszahlungen auf der Basis einer bestimmten Gewinnerwartung, wenn tatsächlich aber ein geringerer Gewinn erwirtschaftet worden ist.19

15 Schmidt/K. Hoffmann in BBK, 12. Aufl. 2020, § 264c HGB Rz. 42. 16 Stute in Bertram/Kessler/Müller, HGB Bilanzkommentar, 11.  Aufl. 2020, §  264c HGB Rz. 22. 17 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 52. 18 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 53. 19 BGH v. 29.5.1967 – VII ZR 66/65, BGHZ 48, 70, 74.

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6. Abgrenzung zwischen der Sphäre der Gesellschaft und der Sphäre der Gesellschafter in der Gewinn- und Verlustrechnung Die in der Bilanz zu beachtenden Abgrenzungen zwischen den Sphären der Gesellschaft und der Gesellschafter entfalten auch Auswirkungen auf den Inhalt der Gewinn- und Verlustrechnung. Rechtsbeziehungen zwischen der Gesellschaft und ihren Gesellschaftern (z.B. Verzinsung von Gesellschafterkonten oder Tätigkeitsvergütungen geschäftsführender Gesellschafter) können entweder auf der Basis schuldrechtlicher Vereinbarungen zu Aufwand und Ertrag der Gesellschaft führen oder auf der Basis gesellschaftsvertraglicher Vereinbarungen erst im Anschluss an die Ergebnisermittlung bei der Ergebnisverteilung zu berücksichtigen sein. Die daraus resultierende unterschiedliche Darstellung der Ertragslage wird vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen.20 Erträge aus Beteiligungen umfassen auch die einbehaltene Kapitalertragsteuer sowie den Solidaritätszuschlag, die bei Einbuchung des Kapitalertrags als Entnahme der Gesellschafter zu behandeln sind, weil diese letztlich auf deren Körperschaft- bzw. Einkommensteuerschuld angerechnet werden. 7. Bilanzierung bei Abfindung ausscheidender Gesellschafter durch die Personenhandelsgesellschaft Ausscheidende Gesellschafter werden in Abhängigkeit entsprechender vertraglicher Regelungen häufig von den verbleibenden Gesellschaftern abgefunden, die die Anteile der ausscheidenden Gesellschafter übernehmen. Wird ein ausscheidender Gesellschafter jedoch durch die Personenhandelsgesellschaft abgefunden, ist eine Differenz zwischen dem für den Anteil gezahlten Abfindungsbetrag und dem Buchwert des Kapitalanteils des ausscheidenden Gesellschafters im Zeitpunkt des Ausscheidens erfolgsneutral zu behandeln. Das Institut der Wirtschaftsprüfer hat für diese Konstellationen die vor 2017 geltende Auffassung geändert und präferiert nunmehr entsprechend internationaler Übung die sogenannte Verrechnungslösung vor der (immer noch zulässigen) Aufstockungslösung. In der vom IDW präferierten Verrechnungslösung ist ein positiver Differenzbetrag vorzugsweise mit dem verbleibenden Eigenkapital der Personenhandelsgesellschaft, d.h. mit den Kapitalanteilen der verbleibenden Gesellschafter und ggf. mit bestehenden Rücklagen zu verrechnen. Werden durch die Verrechnung (Reduzierung) die Kapitalanteile von verbleibenden Gesellschaftern negativ, sind diese als „nicht durch Vermögenseinlagen gedeckte Abfindungen an ausgeschiedene Gesellschafter“ getrennt nach Gesellschaftergruppen am Schluss der Bilanz auf der Aktivseite entsprechend § 264 c Abs. 2 Satz 5 und 6 HGB auszuweisen.21 Werden durch die Verrechnung die Kapitalanteile verbleibender Kommanditisten unter den auf die bedungene Einlage (Pflichteinlage) geleisteten Betrag herabgemin20 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 29. 21 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 58b.

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dert, ist vorbehaltlich einer abweichenden Bestimmung im Gesellschaftsvertrag (vgl. §  163 HGB) oder eines abweichenden Gesellschafterbeschlusses nach Sinn und Zweck des § 169 Abs. 1 Satz 2 HGB davon auszugehen, dass eine Gewinnentnahme erst wieder nach Wiedererreichung der Höhe der Pflichteinlage erfolgen darf.22 Eine haftungsbegründende Einlagenrückgewähr nach § 172 Abs. 4 HGB (siehe Abschnitt III.3.) liegt indes nicht vor, soweit aufgrund einer Abfindung durch die Personenhandelsgesellschaft an einen ausscheidenden Gesellschafter oberhalb des Buchwerts seines Kapitalanteils die Kapitalanteile der verbleibenden Kommanditisten unter den Betrag ihrer geleisteten Einlage sinken. Eine solche Minderung ist weder auf Entnahmen der verbleibenden Kommanditisten noch auf sie entfallende Verluste zurückzuführen.23 Alternativ zur Verrechnungslösung bleibt nach Sichtweise des IDW die Aufstockungslösung nach wie vor zulässig, die anteilig auf den ausscheidenden Gesellschafter entfallenden und im Rahmen der Abfindung vergüteten stillen Reserven bei den Vermögensgegenständen zu aktivieren, deren Buchwerte stille Reserven enthalten. Bei dieser Step-up-Lösung ist auch die nachträgliche Aktivierung von selbst geschaffenen immateriellen Vermögensgegenständen des Anlagevermögens oder eines Geschäfts- oder Firmenwerts zulässig.24 Ungeregelt ist weiterhin die Frage der bilanziellen Behandlung von Fällen, in denen die (Bar-)Abfindung des ausscheidenden Gesellschafters geringer als sein Kapitalanteil ist, weil z.B. stille Lasten im Vermögen der Personenhandelsgesellschaft vorhanden sind oder eine ungünstige Entwicklung oder negative Ertragslage der Personenhandelsgesellschaft erwartet wird. Auch in diesem Fall ist der Abfindungsvorgang im Jahresabschluss der Personenhandelsgesellschaft erfolgsneutral abzubilden. Dies kann dadurch erreicht werden, dass die (negative) Differenz in einem Passivposten mit der Bezeichnung „negativer Unterschiedsbetrag aus der Abfindung ausgeschiedener Gesellschafter“ nach dem Eigenkapital ausgewiesen wird (analog DRS 23.91 zum negativen Unterschiedsbetrag aus der Kapitalkonsolidierung). Der negative Unterschiedsbetrag wird bei Eintritt der negativen Erfolgsbeiträge ertragswirksam aufgelöst oder kann alternativ bei nicht-monetären Vermögensgegenständen abgestockt werden.25

III. Gesellschaftsebene und Gesellschafterebene Dieses Spannungsfeld zwischen Gesellschaftsebene und Gesellschafterebene eröffnet sich immer bei bilanzierenden Gesellschaftern, so dass die Besonderheiten der Bilan22 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 58b. 23 BGH v. 12.7.2016 – II ZR 74/14; IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 36a. 24 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 59. Bei der Veräußerung von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften durch einen Gesellschafter an einen Mitgesellschafter oder Dritte im Wege der Sonderrechtsnachfolge sind derartige Aktivierungen allerdings nicht zulässig. 25 Pwc, HGB direkt, 3.2.2018, 2.

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zierung, der Bewertung und des Ausweises von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften im Jahresabschluss von bilanzierenden Gesellschaftern zu beleuchten sind. 1. Bilanzierung und Ausweis von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften Anteile an Personenhandelsgesellschaften sind, sofern sie als Anlagevermögen i.S.v. § 247 Abs. 2 HGB zu qualifizieren sind, unabhängig von der Beteiligungshöhe stets als Beteiligungen i.S.v. § 271 Abs. 1 HGB bzw. als Anteile an verbundenen Unternehmen i.S.v. § 271 Abs. 2 HGB auszuweisen. Ein gesonderter bilanzieller Ausweis von in der Praxis eher selten vorkommenden Anteilen an Personenhandelsgesellschaften im Jahresabschluss des Komplementärs wird vom Gesetz nicht gefordert. Es können sich aus der unbeschränkten Haftung jedoch passivierungspflichtige Verbindlichkeiten ergeben.26 2. Zugangsbewertung von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften Die bei der Bewertung von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften zu ermittelnden Anschaffungskosten i.S.v. § 253 Abs. 1, § 255 Abs. 1 HGB beruhen entweder auf einem Erwerb von Dritten oder auf gesellschaftsvertraglich begründeten Einzahlungsverpflichtungen bei Gründung oder Kapitalerhöhung der Gesellschaft. Eine Bareinlage innerhalb der gesellschaftsvertraglich begründeten Einzahlungs­ verpflichtung wird nach der sog. Nettomethode abgebildet, d.h. mit dem geleisteten Betrag zuzüglich eingeforderter Beträge. Der Betrag der eingeforderten, aber noch nicht geleisteten Einlage ist als (Rest-)Einzahlungsverpflichtung zu passivieren, während noch nicht eingeforderte Resteinzahlungsverpflichtungen unter den Voraussetzungen des § 285 Nr. 3a HGB als sonstige finanzielle Verpflichtung im Anhang anzugeben sind.27 Im Fall vereinbarter Sacheinlagen bei Gründung oder Kapitalerhöhung der Per­ sonenhandelsgesellschaft darf nach Maßgabe der Grundsätze für den Tausch von Vermögensgegenständen als Anschaffungskosten wahlweise der Buchwert oder der höhere Zeitwert des Einlageobjekts angesetzt werden. Im Fall einer daraus resultierenden Steuerbelastung ist als weitere Option die ergebnisneutrale Behandlung zulässig, d.h. die Aktivierung zum Buchwert des Einlageobjekts zuzüglich der aus dessen Abgang beim Gesellschafter resultierenden Ertragsteuerbelastung, höchstens jedoch zum Zeitwert.28 Eine im Handelsregister eingetragene über die Pflichteinlage hinausgehende Haftsumme betrifft ausschließlich die Außenhaftung des Gesellschafters und ist im Innenverhältnis für die Bestimmung der Anschaffungskosten ohne Bedeutung. Wird ein Gesellschafter wegen der erweiterten Außenhaftung von Gläubigern der Personenhandelsgesellschaft in Anspruch genommen, erwächst ihm grundsätzlich ein Ersatz26 IDW RS HFA 18 Rz. 5. 27 IDW RS HFA 18 Rz. 8. 28 IDW RS HFA 18 Rz. 9.

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Besonderheiten der Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften

anspruch gegen die Gesellschaft aus § 110 HGB29, der im Umlaufvermögen unter den Forderungen gegen verbundene Unternehmen bzw. gegen Unternehmen, mit denen ein Beteiligungsverhältnis besteht, auszuweisen ist. Gleiches gilt, wenn der Gesellschafter bspw. zur Abwendung einer drohenden Krisensituation der Gesellschaft vorsorglich Zahlungen an die Gesellschaft leistet, ohne im Innverhältnis dazu verpflichtet zu sein.30 Nachträgliche Anschaffungskosten der Beteiligung liegen nur vor, wenn diese Gesellschafterleistung aufgrund einer Änderung des Gesellschaftsvertrags als Einlage qualifiziert worden ist.31 Eine derartige Änderung des Gesellschaftsvertrags kann jedoch jederzeit formfrei herbeigeführt werden und stellt insoweit keine nennenswerte Hürde dar. 3. Vereinnahmung von Gewinnanteilen Der einem Gesellschafter zukommende Anteil am Gewinn ist insoweit realisiert (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 HGB) und damit als Forderung (im Umlaufvermögen, nicht im Anlagevermögen) bilanzierungspflichtig, als dem Gesellschafter ein Anspruch zusteht, über den er losgelöst von seinem Geschäftsanteil verfügen kann.32 a) Gesetzliche Regelung Ohne abweichende Regelungen im Gesellschaftsvertrag ist nach den gesetzlichen Bestimmungen (§§ 120–122, 161, 167 und 169 HGB) bei Personenhandelsgesellschaften das Entstehen eines individuellen Anspruchs auf den Gewinnanteil bereits am Abschlussstichtag dem Grunde nach so gut wie sicher. Anders als bei Kapitalgesellschaften steht der Gewinnanteil den Gesellschaftern einer Personenhandelsgesellschaft ohne weiteren Gesellschafterbeschluss unmittelbar zu. Damit der Gewinnanteil im bilanziellen Sinne als realisiert angesehen werden kann, muss das Geschäftsjahr der Personenhandelsgesellschaft spätestens mit dem des (bilanzierenden) Gesellschafters enden.33 Ein nach den vorstehenden Grundsätzen aktivierter Gewinnauszahlungsanspruch eines Gesellschafters kann durch Gesellschaftervereinbarung ganz oder teilweise in das Gesellschaftsvermögen eingelegt werden oder für den Komplementär als durch Zeitablauf eingelegt gelten (§ 122 Abs. 1 und § 169 Abs.1 HGB). In diesen Fällen stehen dem Abgang der Forderung (im Umlaufvermögen) nachträgliche Anschaffungskosten der regelmäßig im Finanzanlagevermögen auszuweisenden Anteile an der Personenhandelsgesellschaft gegenüber.34 29 IDW RS HFA 18 Rz. 11. 30 BGH v. 20.6.2000 – II ZR 252/03, WPg 2005, 1130. 31 IDW RS HFA 18 Rz. 11. 32 IDW RS HFA 18 Rz. 12. 33 IDW RS HFA 18 Rz. 13-17 mit weiteren Überlegungen zur Handhabung bei Änderungen des Jahresabschlusses bis zu dessen Feststellung. 34 IDW RS HFA 18 Rz. 18

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Ist der Gewinnanteil im Entstehungszeitpunkt aufgrund gesetzlicher Vorschriften der individuellen Verfügungsgewalt des Gesellschafters entzogen (bspw. im Fall der Auszahlungssperre nach § 169 Abs. 1 Satz 2 HGB), entsteht für den Gesellschafter zum Abschlussstichtag der Personenhandelsgesellschaft kein bilanzieller Anspruch und demzufolge auch kein Beteiligungsertrag.35 b) Gewinnverwendung durch die Gesellschafterversammlung Nach dem Grundsatz der Dispositionsfreiheit im Gesellschaftsrecht kann abweichend von der vorstehend dargestellten Rechtslage der Gewinnanteil durch gesellschaftsvertragliche Bestimmung oder aufgrund eines Gesellschafterbeschlusses zum Zeitpunkt seiner Entstehung der individuellen Verfügungsgewalt des Gesellschafters entzogen sein. Entweder kann die Einstellung von Teilen des Jahresüberschusses in Rücklagen angeordnet oder überhaupt die Gewinnverwendung einem Beschlussvorbehalt der Gesellschafterversammlung unterworfen sein.36 Im letzteren Fall entsteht eine aktivierungsfähige Forderung des Gesellschafters entsprechend der Regelung für Kapitalgesellschaften erst im Zeitpunkt der stichtagsnachgelagerten Beschlussfassung. Verfügt ein Gesellschafter indes über die Mehrheit der Stimmrechte, so ist sein Gewinnanteil unter entsprechender Anwendung der BGH-Rechtsprechung37  – ggf. auch schon vor Beschlussfassung  – phasengleich zu vereinnahmen.38 Diese für Kapitalgesellschaften entstandene Rechtsprechung ist auf Personenhandelsgesellschaften, die nicht dem gesetzlichen Regelstatut des §  120 HGB unterliegen, entsprechend anzuwenden. Ein Gesellschafterbeschluss zur Ausschüttung von Rücklagen durch Gutschrift auf den Darlehenskonten der Gesellschafter führt bei diesen im Zeitpunkt der Beschlussfassung zu einem Beteiligungsertrag. Hierdurch gelangen bisher thesaurierte Gewinne in die individuelle Verfügungsgewalt der Gesellschafter.39 Werden aber durch Beschluss Rücklagen aufgelöst, die bereits zum Zeitpunkt des Erwerbs der Beteiligung bestanden haben und daher in die Bemessung der Anschaffungskosten der Beteiligung eingeflossen sind, ist von einer erfolgsneutral zu behandelnden Kapitalrückzahlung auszugehen.40 Werden hingegen seit dem Beitritt des Gesellschafters thesaurierte Gewinne zur Erfüllung einer bestehenden oder neu begründeten Einlageverpflichtung verwendet und dem Kapitalkonto des Gesellschafters unmittelbar gutgeschrieben, löst dies auf Ebene des Gesellschafters eine Gewinnvereinnahmung aus.41 35 IDW RS HFA 18 Rz. 19. 36 IDW RS HFA 18 Rz. 20. 37 BGH v. 12.1.1998 – II ZR 82/93, BGHZ 137, 378; IDW-Verlautbarung zur phasengleichen Vereinnahmung von Gewinnanteilen, WPg 1998, 427; FN-IDW 1998, 179. 38 IDW RS HFA 18 Rz. 21. 39 IDW RS HFA 18 Rz. 22. 40 IDW RS HFA 18 Rz. 23. 41 IDW RS HFA 18 Rz. 24.

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Besonderheiten der Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften

4. Folgebewertung von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften Bei der Folgebewertung von Anteilen an Personenhandelsgesellschaften erfolgt keine Fortschreibung als „Spiegelbild“ des Eigenkapitals der Personenhandelsgesellschaft, wie sie in der Steuerbilanz abzubilden ist. Zur Behandlung von (phasengleich vereinnahmten) Gewinnanteilen wird auf die Ausführungen im vorherigen Abschnitt 3.b) verwiesen. Kapitalrückzahlungen spielen sich auf der Vermögensebene ab und sind beim Gesellschafter als ergebnisneutrale Minderungen des Beteiligungsbuchwerts zu behandeln und entsprechend im Anlagespiegel als Beteiligungsabgang zu zeigen. Hierzu gehören Auszahlungen an Gesellschafter, die auf Entnahmen zulasten des Kapitalanteils beruhen. Des Weiteren können Auszahlungen an Gesellschafter als Kapitalrückzahlungen zu behandeln sein, sofern sich der ausgezahlte Betrag in den Anschaffungskosten der Beteiligung niedergeschlagen hatte, also entweder die zur Ausschüttung verwendeten Rücklagen beim Beteiligungserwerb bereits bestanden oder aus Mittelzuführungen des Gesellschafters resultieren, die nachweislich zu entsprechenden Erhöhungen des Beteiligungsbuchwerts geführt haben.42 Ebenfalls Kapitalrückzahlungen sind Liquiditätsausschüttungen an Gesellschafter, ohne dass es sich dabei um eine Ausschüttung laufender oder thesaurierter Gewinne oder eine Auflösung von Rücklagen handelt. Überschreiten gesellschaftsrechtlich zulässige Liquiditätsausschüttungen den Buchwert der Beteiligung oder erfolgen weitere Liquiditätsausschüttungen, nachdem der Beteiligungsbuchwert bereits auf null gemindert war, so ist in Höhe des übersteigenden Betrags eine Verbindlichkeit zu passivieren, die den Charakter eines Vorschusses auf künftig entstehende Gewinnanteile hat.43 Entstehen in der Folgezeit bei der Personenhandelsgesellschaft Gewinne, die nicht zur Auszahlung gelangen, weil sie aufgrund gesellschaftsvertraglicher Bestimmungen oder aufgrund von Gesellschafterbeschlüssen zum Ausgleich der entnahmebedingt geminderten Kapitalkonten verwendet werden, hat der Gesellschafter die insoweit gebildete Verbindlichkeit in entsprechender Höhe ertragswirksam zu vereinnahmen. Nach Tilgung dieser Verbindlichkeit ist bis zur Höhe aktivisch abgesetzter Liquiditätsausschüttungen ein Zugang beim Beteiligungsbuchwert zu erfassen. In beiden Fällen erfolgt der erfolgswirksame Ausweis unter den Beteiligungserträgen.44 Eine Abschreibung der Beteiligung darf vorgenommen werden, wenn dieser nach § 253 Abs. 3 Satz 6 HGB ein vorübergehender niedrigerer Wert beizulegen ist; bei einer voraussichtlich dauernden Wertminderung muss die Abschreibung vorgenommen werden (§ 253 Abs. 3 Satz 5 HGB). Der beizulegende Wert der Beteiligung ist gem. IDW RS HFA 10 nach den Unternehmensbewertungsgrundsätzen des IDW S 1 42 IDW RS HFA 18 Rz. 26; Gleiches gilt für die Ausschüttung eines im Erwerbszeitpunkt im Jahresabschluss der Personenhandelsgesellschaft ausgewiesenen Gewinnvortrags oder Bilanzgewinns. 43 IDW RS HFA 18 Rz. 28. 44 IDW RS HFA 18 Rz. 29.

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zu ermitteln, sofern Anhaltspunkte für die Wertminderung am Abschlussstichtag vorliegen. Wie bei der Ermittlung des Eigenkapitals (s.o.) sind bei der Beteiligungsbewertung ebenfalls vom Beteiligungsbuchwert zuerst die Liquiditätsausschüttungen abzusetzen und anschließend die Abschreibungen.45 5. Risiken der Kommanditistenhaftung a) Gesetzliche Regelung des § 172 Abs. 4 HGB Die Haftung von Kommanditisten gegenüber Gläubigern ist nach § 171 Abs. 1 HGB auf den Betrag der Einlage beschränkt. Soweit die Einlage eines Kommanditisten zurückgezahlt wird, gilt sie den Gläubigern gegenüber als nicht geleistet (§ 172 Abs. 4 Satz 1 HGB). Darüber hinaus kann es gem. § 172 Abs. 4 Satz 2 HGB zu einem Wiederaufleben der Haftung eines Kommanditisten kommen, – wenn er Gewinnanteile entnimmt, während sein Kapitalanteil durch Verlust unter den Betrag der geleisteten Einlage herabgemindert ist oder – soweit der Kapitalanteil durch die Entnahme unter den bezeichneten Betrag herabgemindert wird. Die alleinige Umbuchung von Gewinnanteilen auf das Darlehenskonto des Kommanditisten stellt indes keine schädliche Haftung i.S.d. § 172 Abs. 4 Satz 2 HGB dar.46 In Fällen der haftungsbegründenden Gewinnentnahme nach §  172 Abs.  4 Satz 2 HGB sind bei der Ermittlung des Umfangs der wiederauflebenden Haftung Beträge von der bestehenden Einlage in Abzug zu bringen, die bei einer Kapitalgesellschaft nach § 268 Abs. 8 HGB einer Ausschüttungssperre unterliegen würden (§ 172 Abs. 4 Satz 3 HGB). Die vom Gesetzgeber als eher unsicher angesehenen Erträge, die deswegen einer Ausschüttungssperre unterliegen, sollen nicht die mögliche Haftung von Kommanditisten reduzieren. Die Vorschrift geht bei haftungsbeschränkten Personenhandelsgesellschaften als lex specialis der Bestimmung des § 268 Abs. 8 HGB vor. Die ausschüttungsgesperrten Beträge aus der Abzinsung von Pensionsrückstellungen mit unterschiedlichen durchschnittlichen Marktzinssätzen gem. § 253 Abs. 6 Satz 1 HGB sind für die Frage des Wiederauflebens der Außenhaftung eines Kommanditisten den ausschüttungsgesperrten Beträge nach § 268 Abs. 8 HGB gleichgestellt.47 Sofern sich die aufgrund der Haftung nach § 172 Abs. 4 HGB drohende Inanspruchnahme konkretisiert, ist eine Verbindlichkeitsrückstellung nach § 246 Abs. 1, § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB zu bilden.

45 IDW RS HFA 18 Rz. 31-33. 46 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 37. 47 Graf von Kanitz, WPg 2018, 486; IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 39a.

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Besonderheiten der Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften

Von einer hinreichenden Konkretisierung des Haftungsrisikos ist insbesondere im Fall der insolvenzrechtlichen Überschuldung einer haftungsbeschränkten Personenhandelsgesellschaft auszugehen, die die Pflichten nach § 15a Abs.1 InsO auslöst.48 Bei drohender Zahlungsunfähigkeit (§  18 Abs.  2 InsO) der Personenhandelsgesellschaft kann ein konkretes Haftungsrisiko des Gesellschafters insbesondere dann bestehen, wenn die Struktur des Gesellschaftsvermögens eine kurzfristige Verwertung nicht ermöglicht bzw. nicht sinnvoll erscheinen lässt. Dann können sich Gesellschafter schon vor der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens oder einer individuellen Inanspruchnahme durch die Gesellschaftsgläubiger sowohl zum Zweck der Sicherung der Gesellschaft als auch zur Abwendung einer drohenden Haftung veranlasst sehen, Zahlungen an die Gesellschaft oder unmittelbar an die Gesellschaftsgläubiger zu zahlen. Daher ist nach allgemeinen Grundsätzen (anhand der Kriterien: Außenverpflichtung, Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme, wirtschaftliche Verursachung) zu prüfen, ob eine Rückstellung für Haftungsrisiken zu bilden ist.49 Übersteigt die Hafteinlage eines Kommanditisten seine Pflichteinlage, so besteht keine Verpflichtung, den Unterschiedsbetrag nach § 251 HGB anzugeben, da diese Vorschrift für gesetzlich normierte Haftungsverhältnisse nicht gilt. Indes ergibt sich für Kommanditisten in der Rechtsform einer (mittelgroßen oder großen) Kapitalgesellschaft oder haftungsbeschränkten Personenhandelsgesellschaft eine Pflicht zur Angabe dieser sonstigen finanziellen Verpflichtung gem. § 285 Nr. 3a HGB, wenn die Angabe für die Beurteilung der Finanzlage von Bedeutung ist.50 b) Anhangangaben nach § 264c Abs. 2 Satz 9 HGB Der Betrag der im Handelsregister gem. § 172 Abs. 1 HGB eingetragenen Einlagen ist im Anhang anzugeben, soweit diese nicht geleistet sind (§ 264c Abs. 2 Satz 9 HGB). Mit dieser Angabe soll die sog. überschießende Außenhaftung der Kommanditisten den Gläubigern gegenüber deutlich gemacht werden, weshalb die Differenz zwischen den Hafteinlagen der Kommanditisten und den geleisteten Einlagen unter Berücksichtigung der durch Entnahmen wiederauflebenden Haftung gem. § 172 Abs. 4 Satz 2 HGB anzugeben ist.51 Dieser Konstellation liegen regelmäßig steuerliche Motive zugrunde, da die über die Pflichteinlage hinausgehenden Hafteinlagen nach §  15a EStG zu einer erweiterten steuerlichen Verlustausgleichsmöglichkeit führen, ohne der Gesellschaft tatsächlich weiteres Eigenkapital bspw. in Form von liquiden Mitteln zur Verfügung stellen zu müssen.52 Die Angabepflicht umfasst sowohl ausstehende Hafteinlagen (§ 172 Abs. 1 HGB) als auch Differenzbeträge, die aus dem Wiederaufleben der Haftung aufgrund einer Einlagenrückgewähr nach § 172 Abs. 4 Satz 2 HGB resultieren. 48 Auf die Ausnahmetatbestände nach § 1 COVInsAG wird hier nicht eingegangen. 49 IDW RS HFA 18 Rz. 36 f. 50 IDW RS HFA 18 Rz. 40. 51 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 35. 52 Stute in Bertram/Kessler/Müller, HGB Bilanzkommentar, 11.  Aufl. 2020, §  264c HGB Rz. 25.

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Bei der Berechnung dieser Differenz ist zu berücksichtigen, dass es an einer haftungsbegründenden Gewinnentnahme mangelt, – wenn Gewinnanteile auf gesetzlicher Grundlage (§ 169 Abs.1 Satz 2 HGB) oder – nach einer gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung den Kapitalkonten von Kommanditisten zugeschrieben oder – in eine Rücklage eingestellt oder – bei Geltung des gesetzlichen Regelstatuts des § 120 HGB unmittelbar auf die Gesellschafterdarlehenskonten umgebucht werden, ohne dass es dabei zu einer Entnahme im Sinne eines Abgangs von Vermögensgegenständen kommt.53 Soweit diese Mittel als Gesellschafterdarlehen anzusehen sind, verwirklicht sich der Gläubigerschutz durch die Nachrangigkeit von Gesellschafterforderungen in der Insolvenz (§ 39 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 4 und 5 InsO), das Anfechtungsrecht des Insolvenzverwalters (§ 135 InsO) sowie den nach § 264c Abs. 1 HGB gebotenen gesonderten Bilanzausweis von Gesellschafterdarlehen bzw. durch eine entsprechende Anhangangabe. Eine Angabe nach § 264c Abs. 2 Satz 9 HGB ist erst nach einer Auszahlung des Darlehens an den Gesellschafter erforderlich, sofern im Auszahlungszeitpunkt noch die Voraussetzungen nach § 172 Abs. 4 Satz 2 HGB gegeben sind.54 c) Sonderfall der Rückforderungsansprüche der Personenhandelsgesellschaft aus Steuereinbehalten Erträge aus Beteiligungen umfassen auch die einbehaltene Kapitalertragsteuer sowie den Solidaritätszuschlag (auch zusammen als Zinsabschlag bezeichnet), die bei Einbuchung des Kapitalertrags aufgrund des Transparenzprinzips als für den einzelnen Gesellschafter einbehalten gelten und demnach als Entnahme der Gesellschafter zu behandeln sind, weil diese letztlich auf deren Körperschaft- bzw. Einkommensteuerschuld angerechnet werden. Sieht der Gesellschaftsvertrag den unmittelbaren Ausgleich negativer Kapitalkonten vor, besteht aus der Abführung des Zinsabschlags ein Anspruch der Gesellschaft ­gegen den Gesellschafter, wenn das Kapitalkonto durch die der Anrechnung der Steuereinbehalte geschuldeten Entnahme negativ wird.55 Dieser Anspruch wird regelmäßig im Jahresabschluss des Geschäftsjahrs zu aktivieren sein, in dem der Steuereinbehalt erfolgt ist. Neben der generellen Nachschusspflicht durch den Gesellschafter ist das mögliche Aufleben der Kommanditistenhaftung nach §  172 Abs.  4 HGB zu beachten.

53 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 37. 54 IDW RS HFA 7 n.F. Rz. 37. 55 BGH v. 16.4.2013 – II ZR 118/11, WPg 2013, 784.

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Besonderheiten der Rechnungslegung bei Personenhandelsgesellschaften

IV. Ausblick Mit dem im November 2020 vorgelegten Referentenentwurf eines Gesetzes zur ­Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (MoPeG)56 soll das Recht der Ge­ sellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) unter Aufrechterhaltung des systembildenden Unterschieds zwischen kaufmännischen und nichtkaufmännischen Personengesellschaften konsolidiert werden. Dies wird zum Anlass genommen, das über­wiegend aus dem 19. Jahrhundert stammende Recht der Personengesellschaften insgesamt zu modernisieren. Dazu soll u.a. auch gehören, den Angehörigen Freier Berufe den Zugang zu den Rechtsformen der Personenhandelsgesellschaften (z.B. GmbH & Co. KG) unter der Voraussetzung berufsrechtlicher Zulässigkeit zu eröffnen, um Ihnen eine weitergehende Haftungsbeschränkung zu ermöglichen, als sie ihnen die Rechtsform der PartGmbB gegenwärtig gewährt.57 Inwieweit sich Änderungen in der handelsrechtlichen Rechnungslegung für Personenhandelsgesellschaften aus dieser Initiative ergeben, wird sich erst im weiteren Gesetzgebungsverfahren zeigen. Die vorgesehenen Klarstellungen und Neufassungen der für die Ergebnisermittlung und Ergebnisverteilung zentralen Vorschriften der §§  120 bis 122 HGB beschreiben lediglich in modernerer Sprache die derzeitige Rechtslage zur Ergebnisverwendung, zur Feststellung des Jahresabschlusses und zu den Entnahmerechten der Gesellschafter, ohne damit grundsätzlichen Neujustierungen dieses Regelungsbereichs vorzunehmen.

56 Dem Einfallsreichtum des Gesetzgebers zu Silbenclustern sind wohl keine Grenzen gesetzt. 57 Noack, BB 2020, I.

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Der Strafrichter soll es richten, oder: Lehren aus Leerverkäufen bei Cum-ex-Geschäften Inhaltsübersicht I. Cum-ex-Geschäfte: Das Prinzip II. Die Grundidee des Vorwegabzugs: schlüssig III. Systemfehler? IV. Was hätte die Finanzverwaltung tun ­können? V. Die Reaktion der Gesetzgebung VI. Was hätte die Bundesregierung tun ­können bzw. was tat sie? 1. Keine Änderung des Gesetzes



2. Maßnahmen zwischen 2007 und 2011 3. Änderung durch Zusammenführung von Einbehalt- und Bescheinigungspflicht

VII. Der Ruf nach dem Strafrichter 1. Strafrecht als Steuerungsmittel für ein bestimmtes Verhalten? 2. Kontrolle im Vorfeld 3. Die Macht des Faktischen 4. Die Lösung: Prävention mit Hilfe des Steuerrechts

Der folgende Beitrag zieht den Jubilar in die Niederungen des Strafrechts. Dem Titel dieser Festschrift dient er allenfalls mittelbar: unter dem Gesichtswinkel der Streitvermeidung in Familienunternehmen, nach dem Motto „künftig keine Investitionen in undurchsichtige Transaktionen“. Cum-ex-Geschäfte schienen vielversprechend, aber mehr im Sinne von „Radio Eriwan“: Im Prinzip ja, wenn der Staat schläft.* Am 29.1.2020 hat der Bundestag einen Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE ­GRÜNEN mit dem Titel „Cum/Ex-Steuerskandal unverzüglich beenden“1 und einen Antrag der Fraktion DIE LINKE., überschrieben mit „Steuerskandale wie Cum/Ex zukünftig verhindern“,2 beraten und nach leidenschaftlicher Diskussion an den Finanzausschuss verwiesen.3 Die Erstattung nicht gezahlter Kapitalertragsteuer wird als „größter Steuerraub der Geschichte Deutschlands“ bzw. als „der größte Raubzug der Geschichte“ bezeichnet. Was war geschehen?

I. Cum-ex-Geschäfte: Das Prinzip Bei Aktienverkäufen kurz vor und Vollzug erst nach dem Dividendenausschüttungsbeschluss der Gesellschaft führten bestimmte gesetzliche Rahmenbedingungen zu * Der Beitrag wurde im Juni 2020 abgeschlossen. Den Anstoß hierzu verdanke ich der Empörung meiner Frau und Kollegin, der Rechtsanwältin Dr. Gunde Weidemann, über die Inkompetenz dessen, den es angeht, bei der Steuererhebung. 1 BT-Drucks. 19/5765. 2 BT-Drucks. 19/16836. 3 Auszugsweise Wiedergabe der Debatte in wistra, Heft 4/2020, V ff.

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Jürgen Weidemann

mehrfachen Erstattungen von Kapitalertragsteuer, obwohl diese nur einmal an die Finanzbehörde abgeführt worden war. Das geschah vor allem seit Ende der 90-er Jahre, wobei das JStG 20074 eine gewisse Zäsur markiert und erst das OGAW-IVUmsG5 mit Wirkung von 2012 die Mehrfacherstattung verhinderte, indem es die Pflicht zu Einbehalt, Abführung und Bescheinigung der Steuer in eine Hand legte. Wie es zu diesen Mehrfacherstattungen kommen konnte, erläutert verständlich das für den Cum-ex-Untersuchungsausschuss6 erstattete Gutachten Spengel: 7 „Cum/Ex-Geschäfte bezeichnen Aktientransaktionen, bei denen die Übertragung bzw. der Erwerb von Aktien mit (cum) Dividendenanspruch und die Lieferung der Aktien nach dem Dividendenstichtag ohne (ex) Dividende erfolgt. Das schuldrechtliche Kaufgeschäft erfolgt somit vor dem Dividendenstichtag und das dingliche Erfüllungsgeschäft danach. Beim Cum/Ex-Geschäft mit Leerverkauf ist der Veräußerer nicht Eigentümer der Aktien, sondern die Aktien, die veräußert werden, gehören einem Dritten. Der Dritte ist am Dividendenstichtag zivilrechtlicher und wirtschaftlicher Eigentümer der Aktien und vereinnahmt auch die Dividende. Der Verkäufer (Leerverkäufer) muss sich diese Aktien nach dem Dividendenstichtag vom Dritten besorgen und liefert sie anschließend an den Erwerber (Leerkäufer). Dem Leerkäufer schuldet der Leerverkäufer aber nicht nur die Aktien, sondern auch eine Zahlung in Höhe der Dividende (sogenannte Dividendenkompensationszahlung), da er sich verpflichtet hat, mit Dividende zu liefern, dies aber nicht kann. … Die Zielsetzung von Cum/Ex-Geschäften mit Leerverkauf bestand darin, dass einmal einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer mindestens zweimal bescheinigt und sodann mindestens zweimal angerechnet bzw. erstattet werden sollte. Den „Gewinn“ aus solchen Geschäften finanzierte somit ausschließlich der Staat quasi durch eine „Negativsteuer“. Bei den in der Öffent­ lichkeit bekannt gewordenen Fällen handelte es sich zum einen um Anlageprodukte, welche von Banken und anderen Produktanbietern sowie deren Beratern entwickelt und vermögenden Privatpersonen angeboten wurden. Zum anderen gibt es Hinweise, dass im Zeitablauf die Banken nicht nur in die Produktentwicklung einbezogen waren, sondern auch als Leerkäufer und teilweise auch noch gleichzeitig als Depotbank auftraten, um sich dann selbst Steuerbescheinigungen auszustellen. Bei den bisher bekannt gewordenen Einzelfällen waren Steuerausfälle im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich zu verzeichnen, wohinter sich häufig Aktientransaktionen im zweistelligen Milliardenbereich verbargen. Der dem Staat insgesamt entstandene Steuerschaden soll rund zwölf Milliarden Euro betragen.

4 Jahressteuergesetz 2007 v. 13.12.2006, BGBl I 2006, 2878. 5 OGAW-IV-UmsG v. 22.6.2011, Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren, BGBl I 2011, 1126 ff. 6 BT-Drucks. 18/12700 v. 20.6.2017, Beschlussempfehlung und Bericht des 4. Untersuchungsausschusses nach Art. 44 des Grundgesetzes. 7 Spengel, Sachverständigengutachten vom 28.7.2016 nach §  28 PUAG für den 4.  Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode, abrufbar von der Homepage des Deutschen Bundestags, im Vorspann, III  ff., künftig zitiert Spengel, Gutachten; vgl. auch Spengel/Eisgruber, DStR 2015, 785  ff.; Anzinger, RdF 2012, 394  ff.; Jachmann-Michel, JM 2020, 212  ff. und 251 ff.; Ebner, jurisPR-SteuerR 40/2015, Amm. 1.

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Lehren aus Leerverkäufen bei Cum-ex-Geschäften Das mehrfache Erwirken von Steuerbescheinigungen durch Cum/Ex-Geschäfte mit Leerver­ käufen war bis zum Jahr 2011 einschließlich möglich, weil die Abführung und die Bescheinigung der Kapitalertragsteuer institutionell auseinandergefallen sind. Während der Emittent der Aktien die Kapitalertragsteuer einbehalten hat, wurde die Steuerbescheinigung von der Depotbank des ­Inhabers der Aktien ausgestellt. Diese Sollbruchstelle8 im System nutzten die Initiatoren der Modelle, um durch Cum/Ex-Geschäfte mit Leerverkäufen für den Leerkäufer eine zweite Steuerbescheinigung durch dessen Depotbank zu erwirken. Die durch die Depotbank des Leerkäufers ausgestellte Steuerbescheinigung hätte nach der Gesetzeslage allerdings nie ausgestellt werden dürfen und war daher falsch. Die erste Steuerbescheinigung steht unstreitig dem zivilrechtlichen Eigentümer der Aktien und damit der Dividenden am Dividendenstichtag zu. Der Leerkäufer hingegen erhielt keine Dividenden, sondern nur eine Dividendenkompensationszahlung. Auf die Dividendenkompensationszahlung wurde bis zum Jahr 2006 einschließlich nie Kapitalertragsteuer einbehalten und zwischen 2007 und 2011 nur soweit, als der Leerverkauf über eine inländische Depotbank abgewickelt wurde. In der Praxis bedienten sich die Leerverkäufer allerdings regelmäßig ausländischer Depotbanken, weshalb in diesen Fällen auf die Dividendenkompensationszahlung zu keinem Zeitpunkt Kapitalertragsteuer einbehalten wurde; dies ist letztlich auch der Grund dafür, dass keine Bescheinigung hätte erstellt werden dürfen. Dies war aber gegebenenfalls für die ausstellende Bank nicht erkennbar. Die beschriebene Sollbruchstelle wurde erst mit Wirkung für das Jahr 2012 beseitigt.9 Seitdem sind die die Dividenden auszahlenden Depotbanken sowohl zum Einbehalt als auch zur Abführung verpflichtet. Somit ist es nicht mehr möglich, dass mehrere Steuerbescheinigungen ausgestellt werden.“

II. Die Grundidee des Vorwegabzugs: schlüssig Die Grundkonzeption der Steueranrechnung ist denkbar einfach: Einkommensteuer wird an der Quelle ihrer Entstehung, dem Kapitalzufluss, z.B. in Gestalt einer Di­ vidende, als Kapitalertragsteuer erhoben und bei der späteren Veranlagung angerechnet bzw. erstattet, wenn die geschuldete Einkommensteuer niedriger als die im Vorwegabzug erhobene ist. Die Kapitalertragsteuer ist also eine im Vorwegabzug erhobene Unterart der Einkommensteuer. Dahinter steht der Gedanke, die Besteuerung am ersten Ort der Steuerbarkeit, also an der Quelle, anzusetzen. Das generiert den Steuerzufluss zeitnah und setzt den Staat nicht dem Risiko aus, dass der Kapitalzufluss bei der späteren Steuererklärung unter den Tisch fällt. Der Vorwegabzug ist indessen nur sinnvoll, wenn er effektiv gestaltet ist und nicht seinerseits Schäden verursacht, die er gerade vermeiden soll. So wie sich die Dinge allerdings entwickelt haben, hätte der Staat womöglich besser auf den gesamten Vorwegabzug verzichtet und sich damit Schäden in Milliardenhöhe erspart.10

8 Es war wohl eher eine nicht beabsichtigte Bruchstelle, ein Systemfehler, der die mehrfache Steuerbescheinigung ermöglichte. 9 Durch das OGAW-IV-UmsG v. 22.6.2011. 10 Geschätzt auf 12 Milliarden Euro, so Budras, FAS v. 12.6.2016, S. 44; zitiert nach Spengel, Gutachten, IV, 16. Vgl. auch das Sondervotum des Berichterstatters der Fraktion BÜND-

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III. Systemfehler? Stein des Anstoßes waren „Leerverkäufe“, d.h. solche, bei denen der Verkäufer nicht Eigentümer der verkauften Aktien ist und sie erst dann an den Leerkäufer liefern kann, wenn er sie sich von einem Dritten (dem Eigentümer) besorgt hat. Die Dividende vereinnahmt noch der Eigentümer, ihm wird die Kapitalertragsteuer abgezogen, und dafür erhielt er – nach altem Recht von seiner Depotbank – eine Steuerbescheinigung. Wäre es dabei verblieben, wäre nicht mehr als die Steuer bescheinigt, die vorweg abgezogen und demzufolge bei der endgültigen Veranlagung anzurechnen (bzw. wenn mangels Steuerschuld nichts anzurechnen, zu erstatten) war. Die Gefahr der Mehrfachanrechnung rührte daher, dass auch der Käufer, der die Aktie „cum“ Dividendenanspruch gekauft hatte, sie aber ohne („ex“) Dividendenbezugsrecht geliefert bekam und für die entgangene Dividende vom Verkäufer eine Kompensationszahlung erhielt, ebenfalls von seiner Depotbank eine Steuerbescheinigung ausgestellt bekam, sodass zwei Steuerbescheinigungen in der Welt waren, obwohl die Steuer nur einmal abgeführt worden war. Aus der These, der Leerkäufer könne neben dem Aktieninhaber ebenfalls Eigentümer, nämlich wirtschaftlicher im Sinne von § 39 AO, sein, wurde gefolgert, auch der „cum“ Dividende kaufende aber „ex“ Dividende belieferte Erwerber sei berechtigt, „unter Vorlage der üblicherweise zu seinen Gunsten ausgestellten Steuerbescheinigung … die Anrechnung von KapErtSt geltend zu machen.“11 Warum die jeweilige Depotbank des Leerkäufers „üblicherweise“ derartige Steuerbescheinigungen erteilte, obwohl sie keinen Einblick in das Abzugsverfahren hatte, kann hier dahin stehen.12 Entscheidend ist, dass derartige Bescheinigungen in der Welt waren und zur Mehrfacherstattung führten. Der Vorgang ließ sich beliebig oft wiederholen, sofern nur „cum“ und „ex“ (im Wege des Leerverkaufs) weitergehandelt wurde. Die Ursache für die Mehrfacherstattung der Steuer liegt in der dem Leerkäufer durch dessen Bank erteilten weiteren Steuerbescheinigung. Nach Spengel NIS 90/DIE GRÜNEN im Bundestag, des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, BT-Drucks. 18/12700 v. 20.6.2017, 458 ff., 472 ff. 11 So z.B. Englisch, FR 2010, 1023 ff., 1031; dazu die Feststellungen des Untersuchungsausschusses, BT-Drucks. 18/12700 v. 20.6.2017, 187: Nach einem Bericht des Finanzamts Wiesbaden an die OFD Frankfurt/M soll der Aufsatz in weiten Passagen wörtlich mit einem in einem finanzgerichtlichen Verfahren erstatteten Gutachten übereinstimmen. Der Untersuchungsausschuss: „Es ist davon auszugehen, dass es sich bei der Veröffentlichung um ein Auftragsgutachten handelt.“; Vgl. auch die Sondervoten des Berichterstatters der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bundestag, des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, BT-Drucks. 18/12700 v. 20.6.2017, 458 ff., 514 und des Berichterstatters der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, des Abgeordneten Richard Pitterle, BT-Drucks. 18/12700, 381 ff., 410 ff.; zum wirtschaftlichen Eigentum Spengel, Gutachten, 46 ff., 67 ff., und Spengel/Eisgruber, DStR 2015, 785 ff., 788 f. 12 Nach Seer/Krumm, DStR 2013, 757 ff., soll der Grund hierfür „darin liegen, dass für die zur Ausstellung der Bescheinigung berufenen Depotbanken (vgl. §  45a Abs.  3 EStG) eben nur ­erkennbar ist, dass eine in rechtlicher Hinsicht nicht näher konkretisierte Nettodividende (Originaldividende oder Dividendenausgleichszahlung) gutgeschrieben worden ist.“; ähnlich Anzinger, RdF 2012, 394  ff., 397: Unvollständige Informationserhebung und Informationsweitergabe durch die Wertpapiersammelbank.

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Lehren aus Leerverkäufen bei Cum-ex-Geschäften

war diese unzulässig und hätte nicht erteilt werden dürfen.13 Wenn es stimmt, dass das Gesetz die doppelte Anrechnung gar nicht zuließ und dem Leerkäufer mangels Abführung der Steuer eine Steuerbescheinigung nicht erteilt werden durfte, hätte ­jeder Anrechnungs- bzw. Erstattungsantrag daraufhin überprüft werden müssen, ob  die Steuer tatsächlich erhoben im Sinne des Gesetzes war. Zumindest hätte die Unzulässigkeit der Bescheinigung durch „entsprechende Prüfung bei den inländischen Depotbankenbanken des Leerkäufers“ festgestellt werden müssen.14 Ob die Auffassung von Spengel zutrifft, braucht nicht vertieft zu werden, denn die Finanzverwaltung wäre mit derartigen Prüfungen ohnehin überfordert gewesen. Im Einzelnen:

IV. Was hätte die Finanzverwaltung tun können? Wie effektiv solche Prüfungen hätten durchgeführt werden können, ergibt sich aus der Aussage des Betriebsprüfers einer GroßBP, Fachbereich Kreditinstitute, Stephan Rau vor dem Untersuchungsausschuss: „Die ausländische Verwahrung, die hatte ich so richtig dicke auch noch nicht auf dem Schirm, weil das war ja auch bedingt durch die Fusion von Clearstream Banking Luxemburg mit Cedel. Erst da kamen ja dann im massiven Maße auch die europäischen Banken dazu. Und ich hätte mir auch nie vorstellen können, dass jetzt so eine geballte Phalanx sich dann über diesen ­ausländischen Stellen bilden wird. Aber ich war ja eigentlich der Auffassung: Es ist nicht gelungen. Aber ich bin schon der Auffassung – das hat ja auch das hessische Finanzgericht bestätigt –: Man kann aus diesem Gesetz so keine doppelte Anrechnung ableiten. Aber es ist natürlich schwer gewesen, überhaupt erst mal diese Sachverhalte zu ermitteln, um zu sagen: So, jetzt habe ich ein Indiz für den Leerverkauf. – Das war das Problem.15“

Derartige Prüfungen hätte die Finanzverwaltung vor nahezu unlösbare Probleme gestellt, da die Feststellung, ob der Steuerbescheinigung ein Leerverkauf zugrunde lag,

13 Spengel, Gutachten, 27, 65 f., begründet dies wie folgt: Nach § 36a Abs. 2 Nr. 2 EStG werden (und wurden) auf die Einkommensteuer angerechnet „die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer“ (wozu auch die Kapitalertragsteuer zählt). Die Steuer war aber nicht „erhoben“ im Sinne des Gesetzes. Bis zum Jahr 2006 hatte der Leerkäufer mit der Kompensationszahlung, die erst das JStG 2007 den Einkünften aus Kapitalvermögen gleichstellte, überhaupt keine Einkünfte aus Kapitalvermögen erworben (die Einkünfte waren nicht steuerbar), so dass schon von daher auf die Kompensationszahlung keine Kapitalertragsteuer vorweg abgezogen werden konnte und deshalb keine Steuerbescheinigung erteilt werden durfte. Ab 2007 erzielte der Leerkäufer zwar solche Einkünfte, da die Kompensationszahlung als „sonstige Einkünfte“ nunmehr auch der Kapitalertragsteuer unterlag, aber die mit der Dividende zugleich abgehaltene Steuer war nicht abgeführt, wenn sich der Verkauf über eine ausländische Bank abwickelte, da diese gesetzlich nicht zur Abführung verpflichtet werden konnte. Die Steuer war dementsprechend in den Auslandsfällen nicht „erhoben“ und durfte nicht bescheinigt werden. 14 Spengel, Gutachten, 106. 15 BT-Drucks. 18/12700, 158; vgl. Jachmann-Michel, JM 2020, 212 ff., und 251 ff., 253, Fn. 18: Auch unter Geltung des Zahlstellenprinzips ist die Richtigkeit der Steuerbescheinigung „in der Praxis schwer kontrollierbar.“

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immensen Aufwand erforderte.16 Irgendetwas musste also passieren. Dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) in Gestalt des zuständigen Fachreferats war das Problem seit dem Schreiben des Bundesverbandes Deutscher Banken (BdB) vom 20.12.200217 bekannt. Das Schreiben weist – zwar etwas verklausuliert – aber immerhin so deutlich, dass es der Kundige hätte verstehen können, auf die Gefahr hin, dass es bei Leerverkäufen zu Steuerbescheinigungen ohne Steuereinbehalt kommen konnte.18

V. Die Reaktion der Gesetzgebung Dass die Finanzverwaltung über Jahre, nahezu zwei Jahrzehnte,19 klaglos mehr Kapitalertragsteuer erstattete, als sie eingenommen hatte, ist wohl darauf zurückzuführen, dass ihr Kenntnisse über technische Abläufe, Funktion des börslichen und außerbörslichen Handels fehlte und sie die den Anlegern empfohlenen einschlägigen „Finanzprodukte“ nicht durchschauen konnte.20 Den Umgang mit dem erwähnten21 und einem weiteren Schreiben des Bankenverbandes erläutert der Bericht des Untersuchungsausschusses auf S. 141 ff.: „Die Schreiben des Bundesverbands deutscher Banken vom 20. Dezember 2002 und 9. Januar 2003 gingen im Dezember 2002 beziehungsweise Januar 2003 beim BMF ein und lagen dem zuständigen Referat IV C 1 Mitte Januar 2003 vor. Nachdem dort beide Schreiben zunächst u. a. vom damaligen Referatsleiter, dem Zeugen M. G…, zur Kenntnis genommen worden waren, die in den Schreiben dargestellte Problematik jedoch nicht ausreichend verstanden wurde, entschied der Zeuge M. G…, dass – vor einer möglichen Weiterleitung der Schreiben an die Bundesländer – 16 Rau, FR 2014, 1012 ff., 1017. 17 Abgedruckt in BT-Drucks. 18/1603, 4. 18 Es heißt dort, S. 5 f.: „Deshalb sind in diesem Fall zusätzliche Regelungen notwendig, um dem Fiskus die Kapitalertragsteuer betragsmäßig zur Verfügung zu stellen, die dem Anrechnungsanspruch entspricht, der dem Aktienerwerber als wirtschaftlichem Eigentümer und Dividendenbezieher zusteht.“. 19 Vgl. Spengel, Gutachten, 38, 39: „In der Gesamtschau der Zusammenhänge zu Cum/Ex-Geschäften mit Leerverkäufen muss der Eindruck entstehen, dass die Initiatoren dieser Geschäfte sowie die weiteren Beteiligten einerseits und die Finanzverwaltung andererseits mit ungleichen Waffen gekämpft haben. Auf der einen Seite standen die Initiatoren dieser Modelle mit profunden Kenntnissen über den Kapitalmarkt sowie dessen Modalitäten und Instrumenten, die sich im Zeitablauf bedingt durch den technischen Fortschritt rasant fortentwickelt und durch eine zunehmende Intransparenz ausgezeichnet haben. Auf der anderen Seite stand die Finanzverwaltung, die diesen Entwicklungen lediglich steuerrechtliche Kenntnisse entgegensetzen konnte, die alleine nicht ausreichen, um diese Modelle vollumfänglich zu verstehen und aufzudecken. Rückblickend wurden hinsichtlich der Ausstattung mit genügend und fachlich diversifizierten personellen Ressourcen in der Finanzverwaltung vermutlich falsche Prioritäten gesetzt. Letzteres gilt aber auch mit Blick auf die am Markt weiterhin anzutreffenden Cum/Cum-Geschäfte, die jährliche Steuerausfälle im Milliardenbereich verursachen.“. 20 Spengel, Gutachten, 38 f. 21 Schreiben des Bundesverbandes Deutscher Banken v. 20.12.202, abgedruckt in BT-Drucks. 18/1603, 4.

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Lehren aus Leerverkäufen bei Cum-ex-Geschäften diesbezüglich mit dem Bundesverband deutscher Banken Kontakt aufgenommen werden solle. Im Rahmen seiner Vernehmung führte der Zeuge M. G… vor dem Untersuchungsausschuss dazu aus: ,Als wir das Schreiben bekamen – wir haben es zwei-, dreimal gelesen, im Grunde kaum verstanden und gesagt: Wenn wir das nicht verstehen, werden es die Länder auch nicht verstehen. Wir müssen da noch mal nachfragen.‘ Sowie an späterer Stelle: ,Also, ich habe nicht gesagt, dass wir nicht verstanden haben, sondern es war -- Man musste das erste Bankenschreiben mindestens zweimal lesen, und es war schwierig zu verstehen. Und wir haben uns gesagt: Für eine Aufbereitung, für eine Diskussion mit den Ländern muss man das ein bisschen ausführlicher darstellen – was dann auch hier gelungen ist. Aber dass man für diese Materie, die ja eigentlich für alle neu war und sehr exotisch war, sich erst mal anschaut, was die Bankenverbände formuliert haben, vorschlagen, und das dann mit den Ländern diskutiert, das ist eigentlich nichts Außergewöhnliches.‘…“

Das weitere Verfahren ist auf den Seiten 141 ff. des Untersuchungsberichts geschildert. Es kam zu Treffen zwischen dem zuständigen Referat des BMF mit Vertretern des Bankenverbandes (BdB). Das Referat wollte Aufklärung, so der Zeuge G. (Referatsleiter): „Wir haben das dem BdB gesagt: Wir verstehen das nicht; wir wollen noch mal einsteigen. Und da waren – im Dezember, habe ich nachher in meinem Terminkalender gesehen – also die Frau […] und ich beim BdB. […] Wir haben da gesagt: Das versteht man so nicht; wir wollen noch mal einsteigen. - Die haben dann eine Präsentation vorbereitet. Wir waren den ganzen Nachmittag dort, haben uns alles noch mal erklären lassen.“ 22

Nach dem Bericht des Untersuchungsausschusses kam es bis zum August 2005 seitens des Referats IV C 1 zu keiner weiteren inhaltlichen Befassung mit dem Vorschlag des Bundesverbands deutscher Banken. Dazu der Referatsleiter G.: „Es war nicht ganz so eilig, weil ich in diesem Jahr - - Ich hatte seit zwei Jahren keinen Referenten. Ich war beschäftigt mit der Erstellung eines Gesetzentwurfs zur kleinen Abgeltungsteuer, wo man Zinsen usw. per Abgeltung besteuern wollte. Das verlief ja nachher im Sand, bis dann die große Abgeltungsteuer kam. Parallel musste ich in aller Eile einen Gesetzentwurf zum Investmentsteuergesetz erstellen, weil da haushaltsmäßige, fühlbare Ausfälle drohten, weil es alles EU-rechtswidrig möglicherweise war. Also, es war nicht ganz so dringend. […] Und dann haben wir gesagt - - Ich kann das nur vermuten, dass es so gelaufen war, dass wir sagten: Das ist eine Sache, die muss gemacht werden, aber da brennt im Augenblick nichts an; die sehen wir vor für ein Steuerbereinigungsgesetz. […] Da haben wir auch gesagt: Es gehört rein ins Bereinigungsgesetz. - Und dann hat es eben lange gedauert. Dann waren ja Wahlen gewesen in 2005. Vor und nach Wahlen ist erst mal - - gesetzgeberisch läuft nichts. Und dann, sobald wir grünes Licht bekamen für das Bereinigungsgesetz – das war ja das Jahressteuergesetz 2007 –, haben wir es sofort den Ländern geschickt – ich habe es gesehen in den Akten –, zusammen mit fünf, sechs anderen Punkten, die auch aufgelaufen waren, die wir da gesammelt hatten im KapSt-Be22 BT-Drucks. 18/12700 v. 20.6.2017, 143.

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Jürgen Weidemann reich, um das dann reinzubringen in das nächste Bereinigungsgesetz. Aber das kann ich nur so vermuten, weil ich in den Akten gesehen habe, dass, sobald wir grünes Licht bekamen, ich die Liste geschickt hatte an die Länder, was sich alles angesammelt hat im KapSt-Bereich.“

Zur Frage, was zwischen Dezember 2003 und August 2005 passiert sei, erklärte der Zeuge G.: „Ich kann mich nicht mehr an Details erinnern, aber es war weiterhin ein offener Vorgang. Und wie ich vorhin sagte: Wir haben gesagt: Das ist eine Sache für das nächste Bereinigungsgesetz. Aber das hat eben ziemlich lange gedauert.“23

Schließlich wurden die Länder eingebunden, die Einkommensteuerreferenten der Länder tagten. Das Problem, dass „fehlerhafte Kapitalertragsteuerbescheinigungen erteilt werden oder erteilt wurden“ und dass eine ausländische Gesellschaft nicht zum Abzug deutscher Kapitalertragsteuer verpflichtet werden konnte, war bekannt und Gegenstand der Erörterungen. Bei dem Vertreter des Landes NRW zeichnete sich „eine gewisse Ratlosigkeit“ ab.24 Durchschaut hatte den Problembereich – im Gegensatz zu den Fachreferaten der Ministerien  – der Betriebsprüfer Rau,25 der seine Vorstellungen unter Umgehung des Dienstweges dem zuständigen Referat des BMF näherzubringen suchte, allerdings nie bis zum Referatsleiter vorgedrungen ist. Dazu Rau als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss: „Aber es war ja diese Zeit, in der das Gesetz in der Bearbeitung war. Und ich war zu dieser Zeit in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe hier in Berlin. Die hatte mit Cum/Ex nichts zu tun; es war Betriebsstättenbesteuerung. Da war ich für die Banken Vertreter Hessens. Und wir waren damals in der Mauerstraße. Wir waren genau noch in dieser schwebenden Situation, die ich vorhin geschildert hatte. Das Verfahren, die Revisionsverfahren wurden noch betrieben. Ich war mit der ganzen Sache nicht einverstanden. Und da bekam ich von meinem Ministerium die Genehmigung, einfach mal, wenn Pause ist in meiner Sitzung – wir waren im gleichen Haus - - kann ich ja mal rübergehen und versuchen, mit dem Referatsleiter, also Herrn G., zu sprechen, um mal auf dem direkten Wege meine Sichtweise zu übermitteln. Das habe ich etwa dreimal gemacht. Ich bin allerdings nie zu G. gelangt, sondern ich bin bei R.26 gelandet. Na ja, R hat sich das alles angehört, was ich zu sagen hatte, und hat gesagt: Ist in Ordnung, ich werde es ihm weitergeben. - Und das war eigentlich schon alles.“

23 BT-Drucks. 18/12700, 144. 24 BT-Drucks. 18/12700, 154. 25 Vgl. dessen Fachbeiträge DStR 2007, 1192 ff.; DStR 2010, 1267 ff.; FR 2011, 366 ff.; DStR 2011, 2325 ff.; DStZ 2012, 241 ff.; DStR 2013, 838 ff.; FR 2014, 1012 ff.; DStR 2015, 2048 ff.; DStR 2017, 1852 ff.; FR 2017, 891 ff.; Rau/Sahl, BB 2000, 1112 ff. 26 Einem ehemaligen Richter am FG, der für das BMF – und offenbar auch für den Bankenverband tätig war, vgl. Sondervoten des Berichterstatters der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bundestag, des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, BT-Drucks. 18/12700 v. 20.6.2017, 517: „Maulwurf R….“, und 537 zur „Causa R…“ , und des Berichterstatters der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, des Abgeordneten Richard Pitterle, BT-Drucks. 18/12700, 382.

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Und weiter: „Ich erzählte ja vorhin, dass ich in dieser Bund-Länder-Arbeitsgruppe in Berlin war und dann mal Kontakt gesucht habe für ein kurzes Gespräch. Und dann traf ich – zwei- oder dreimal war das – R. Mit ihm habe ich darüber gesprochen. Ich nehme an, dass wir auch darüber gesprochen haben. Er hat mir auch zugehört. Es waren angenehme Gespräche mit Herrn R. Ich sagte dann: Okay, ich habe meinen Part gebracht. Jetzt muss Berlin selbst sehen, was sie machen. Wie jetzt die Kommunikation R. und G. war, das kann ich nicht beschreiben.“ 27

Vier Jahre nach dem erwähnten Schreiben des Bankenverbands – das allerdings weniger auf die Vermeidung zu hoher Steueranrechnung, als auf die Abwendung eigener Haftung der Banken gerichtet war28 – reagierte der Gesetzgeber durch Erlass des JStG 2007, das auch die Dividendenkompensationszahlungen der Kapitalertragsteuer unterwarf und anordnete, dass das den Verkaufsauftrag ausführende (inländische) Kreditinstitut den Steuerabzug auf die Kompensationszahlung für Rechnung des Leerkäufers vorzunehmen und die Steuer auch abzuführen hatte. Der Haken war nur, dass die Abführungsverpflichtung nur der inländischen Veräußererbank oblag. Das führte nun dazu, dass sich gewitzte Verkäufer ausländischer Banken bedienten, die gesetzlich nicht zur Abführung verpflichtet werden konnten und dass gleichwohl die Erwerberbank die Steuerbescheinigung erteilte, obwohl sie keinen Einblick in das Abzugsverfahren hatte. Verschiedentlich wurde dies als vom Gesetz bewusst offen gelassene „Lücke“ dargestellt, so als ob es der Gesetzgeber zulassen wollte, bei Leerverkauf über eine ausländische Bank eine bescheinigte, aber nicht abgeführte Steuer zu erstatten.29 Der Entwurf der Bundesregierung zum JStG 2007 sagt hierzu:30 „Durch die vorgeschlagenen Änderungen sollen die negativen Auswirkungen auf das Steueraufkommen insoweit verringert werden, als das inländische Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut des Leerverkäufers zur Abführung von Kapitalertragsteuer verpflichtet wird. Zusammen mit der nach den allgemeinen Vorschriften von der Aktiengesellschaft abgeführten Kapitalertragsteuer soll so viel Quellensteuer erhoben werden, wie bei den Anteilseignern später steuerlich berücksichtigt wird…“

Dem Gesetzgeber war also bewusst, dass die „negativen Auswirkungen“ durch dieses Gesetz eben nur „insoweit“  – d.h. soweit inländische Institute zur Abführung verpflichtet wurden – verringert, aber nicht beseitigt wurden. Dies mag keine absichtlich offengelassene Lücke sein, wohl mehr das Eingeständnis „ultra vires non possumus“, nach dem Motto mehr „war nicht drin“. Ausländische Kreditinstitute kann das deutsche Gesetz nicht zur Abführung zwingen: Ein Ohnmachtseingeständnis, das den 27 BT-Drucks. 18/12700, 159. 28 So jedenfalls die Vermutung von Spengel, Gutachten, 104 ff.; nach § 45a Abs. 7 Satz 1 EStG haftet der Aussteller einer Bescheinigung, die den Absätzen 2 bis 5 nicht entspricht, für die auf Grund der Bescheinigung verkürzten Steuern oder zu Unrecht gewährten Steuervorteile. 29 Dazu Spengel/Eisgruber, DStR 2015, 785 ff. 30 BT-Drucks. 16/2712, 47 f.

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Rechtsbeflissenen mit der Frage zurücklässt, warum die vom Gesetzgeber als „negativ“ erkannten Folgen der Leerverkaufsgeschäfte im Jahre 2006 nur verringert und erst fünf Jahre später mit dem OGAW-IV-UmsG beseitigt werden konnten.

VI. Was hätte die Bundesregierung tun können bzw. was tat sie? 1.  Keine Änderung des Gesetzes Die Bundesregierung hätte auf eine Gesetzesänderung zur Anrechnungsfrage verzichten, d.h. den Zustand belassen können, wie er vor der Einführung des JStG 2007 bestand. Die Beibehaltung des gesetzlichen Zustands hätte allerdings die Finanzverwaltung mit der Überprüfung der Steuerbescheinigungen ersichtlich überfordert, vgl. o. zu IV. 2.  Maßnahmen zwischen 2007 und 2011 Zu den Maßnahmen der Bundesregierung für diese Zwischenzeit äußerte sich die Bundesregierung am 27.5.2013 auf eine Kleine Anfrage der Partei DIE LINKE.:31 „Das Bundesministerium der Finanzen erlangte im Jahr 2009 von den Leerverkaufsgestaltungen über ausländische Banken Kenntnis.32 … Um der Praxis entgegenzuwirken, wurden in einem BMF-Schreiben vom 5. Mai 2009 besondere Erfordernisse an Steuerbescheinigungen im Zusammenhang mit Leerverkäufen über ausländische Kreditinstitute formuliert. Es wurde geregelt, dass alle Steuerbescheinigungen, bei denen die Aktien über den Dividendenstichtag erworben wurden, besonders gekennzeichnet werden müssen. Außerdem wurde die Anrechnung der Kapitalertragsteuer davon abhängig gemacht, dass ein Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer derartig gekennzeichnete Steuerbescheinigungen überprüft und folgende Erklärung abgibt: ,Es liegen mir auf Grund des mir möglichen Einblicks in die Unternehmensverhältnisse und nach Befragung des Steuerpflichtigen keine Erkenntnisse über Absprachen des Steuerpflich­tigen im Hinblick auf den über den Dividendenstichtag vollzogenen Erwerb der Aktien im Sinne der Steuerbescheinigung sowie entsprechende Leerverkäufe, bei denen § 44 Abs. 1 Satz 3 i. V. mit § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG keine Anwendung gefunden hat, vor.´ …“

Das war nicht mehr als eine behelfsmäßige Aktion. Man meinte offenbar, dass durch die besondere Kennzeichnungspflicht der Bescheinigung und durch die zusätzliche Beratererklärung Mehrfacherstattungen eingedämmt (oder vielleicht verhindert?) würden.

31 BT-Drucks. 17/13638, 14. 32 Auf die Nichterfassung von Auslandsfällen wies allerdings bereits das Schreiben v. 20.12.2002 des Bankenverbandes hin, vgl. BT-Drucks. 18/12700, 140 f., und Aussage des damaligen Staatssekretärs im BMF.

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3. Änderung durch Zusammenführung von Einbehalt- und Bescheinigungspflicht Die Bundesregierung hätte, wie später durch das OAGW-IV-UmsG geschehen, die Pflicht zum Einbehalt und zur Bescheinigung in eine Hand (hier: der auszahlenden Depotbanken) legen können. Damit war die Gefahr mehrfacher Anrechnung bei nur einmaliger Steuerabführung faktisch gebannt, 33 allerdings erst ab 2012. Für die Zeit zwischen 2007 und 2011 nicht.

VII. Der Ruf nach dem Strafrichter Den vorläufigen Höhepunkt hat die Cum-ex-Odyssee mit den eingeleiteten Strafverfahren erreicht.34 Den Strafprozess entscheidet das ordentliche Gericht. Geht es um Steuerstrafrecht, muss es das materielle Steuerrecht als Vorfrage beurteilen. Hierfür hat es die uneingeschränkte Vorfragenkompetenz – ohne Bindung an Entscheidungen der Fachgerichte, auch nicht des BFH – ganz abgesehen davon, dass dieser über die hier einschlägige Rechtsfrage (Mehrfacherstattung von Kapitalertragsteuer) noch nicht entschieden hat. In der derzeitigen Konstellation ist offen, welches Oberste Bundesgericht, der 1. Strafsenat des BGH oder der BFH, in der Cum-ex-Frage eher entscheidet. In beiden Gerichtszweigen ist ein erstinstanzliches Urteil ergangen. Das LG Bonn hat an Cum-ex-Deals Beteiligte wegen Steuerhinterziehung verurteilt.35 Aber auch das FG Köln hat erstinstanzlich einschlägig entschieden. Die Revision ist anhängig.36

33 Auch nicht ganz, was die Überprüfung der Steuerbescheinigungen angeht, vgl. JachmannMichel, JM 2020, 212 ff., und 251 ff., 253, Fn. 18: Auch unter Geltung des Zahlstellenprinzips ist die Richtigkeit der Steuerbescheinigung „in der Praxis schwer kontrollierbar.“ 34 Zusammenfassung bei Winheller Blog, abrufbar unter: https://winheller.com/blog/cum-exstrafverfahren/: „Die Staatsanwaltschaften haben schon vor einiger Zeit die Planstellen zur Verfolgung der Verantwortlichen aufgestockt und besetzt. Aktuell werden zudem auch weitere Richterstellen geplant. Allein am Landgericht Bonn werden wohl zehn Strafkammern (jeweils mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen) für mehrere Jahre benötigt, um den Zusatzaufwand nur durch Cum-Ex-Fälle zu bearbeiten… Das aktuelle Verfahren vor dem Landgericht Bonn ist erklärtermaßen nur der Anfang. So gebe es laut der Staatsanwaltschaft allein in Köln Ermittlungen gegen weitere 600 (!) Beschuldigte. Die Staatsanwaltschaft geht selbst davon aus, demnächst Anklagen wie „am Fließband“ auszufertigen.“ Vgl. auch Barth/Poppelbaum, Juve Steuermarkt v. 26.7.2019, Gespräch mit Spengel, und Iwersen/Votsmeier, Handelsblatt v. 28.5.2020: Die StA Köln ermittelt gegen mehrere Banken, im Herbst 2019 bearbeiteten fünf Ermittler 56 Verfahren mit mehr als 400 Beschuldigten. 35 LG Bonn v. 18.3.2020 – 62 KLs 1/19. Schriftliche Urteilsgründe liegen bei Abfassung dieses Beitrags noch nicht vor. 36 Beim BFH ist unter VIII R 5/20 das Revisionsverfahren gegen die Entscheidung des FG Köln v. 19.7.2019 – 2 K 2672/17 (mehrfache Erstattung von nur einmal gezahlter Kapitalertragsteuer ausgeschlossen), anhängig; zur Frage, welcher Spruchkörper beim BFH dieses Verfahren entscheiden wird, vgl. Martini, JM 2020, 169 ff., 171.

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Zum Verständnis des Tatbestands: Nach § 370 AO wird bestraft, wer gegenüber der Finanzbehörde  – durch unrichtige Angaben über steuererhebliche Tatsachen oder Unterlassung richtiger  – Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Verkürzt ist die Steuer, wenn sie unzureichend (zu niedrig, zu spät oder gar nicht) festgesetzt wird. Werden rechtswidrig Steuern erstattet, ist dies entweder Steuerverkürzung oder – falls man als Verkürzung nur die der Finanzbehörde vorenthaltene Steuer, nicht aber die von der Behörde erstattete ansieht – ein Steuervorteil. Dogmatisch macht dies keinen Unterschied, auch nicht, ob Steuer angerechnet oder (falls keine Steuerschuld besteht, auf die anzurechnen wäre) ausgezahlt wird. Ob und unter welchen Voraussetzungen Cum-ex-Transaktionen, insbesondere Leerverkäufe, den Tatbestand der Steuerhinterziehung nach § 370 AO erfüllen, soll hier nicht näher erörtert werden. Die Frage ist strittig. Nach hier vertretener Ansicht scheitert die Strafbarkeit an dem Grundsatz „nullum crimen sine lege“, da die lex scripta den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügt, um in der grundgesetzlich erforderlichen Weise zu umschreiben, dass die Akteure unrichtige Angaben über steuererhebliche Tatsachen gemacht oder richtige unterlassen hätten.37 Es geht um etwas anderes: Wie viel Strafrecht braucht das Steuerrecht? 1.  Strafrecht als Steuerungsmittel für ein bestimmtes Verhalten? Das Problem liegt darin, dass das Strafrecht erst zum Zuge kommt, wenn etwas geschehen ist. Es schlägt zu, quia peccatur, und die Hoffnung auf ne peccetur erfüllt sich jedenfalls nicht für konkret sanktionierte Rechtsverletzungen, sie verhindert – vielleicht – spätere. Ein Straftatbestand sanktioniert. Jeder Sanktionsnorm liegt eine – die Sanktion rechtfertigende – Verhaltensnorm zugrunde. Im Fall des § 370 AO ist dies „du sollst nicht (durch das Machen unrichtiger oder Unterlassung richtiger Angaben gegenüber der Finanzbehörde) Steuern verkürzen.“ Sinn des § 370 AO ist Steuerung des Steuerpflichtigen. Er soll dazu gebracht werden, die Verhaltensnorm zu beachten. Unrichtige Angaben soll er lassen, richtige soll er machen. Modern gesprochen: „Nudging“ durch Strafrecht. Die Hoffnung des Strafgesetzgebers ist, dass die Sanktion wirke.38 Wäre sie voll wirksam, gäbe es keine Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung – aber sie ist immerhin ein Versuch, die Steuerhinterziehung einzudämmen. Dass ohne Strafdrohung mehr Steuern hinterzogen würden, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher. Kriminologen sagen uns, sie wüssten nicht, warum der Mensch Normen beachtet, erst recht nicht, warum er sie bricht. Vielleicht taugt für das Steuerrecht am ehesten die These von Perron, der den Täter als homo oeconomicus sieht, der Kosten gegen Nut-

37 Näher Weidemann, BB 2014, 2135 ff.; Zweifel an der Strafbarkeit bei Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, 57. Lfg., § 370 AO Rz. 1750 ff. (1773 ff.). 38 Auf Sanktionen (in Gestalt von Unternehmensstrafrecht) setzen auch die Anträge der ­LINKEN, BT-Drucks. 19/16836, zu 4. und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks. 19/5765, zu 6.

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zen abwägt,39 wobei auf der Passivseite zu Buche schlägt, wie groß die Entdeckungswahrscheinlichkeit ist. Damit landen wir bei Feuerbach, nach dessen Ansicht das stärkste Hindernis für die Wirksamkeit der Strafgesetze die Hoffnung auf Straflosigkeit ist. 2.  Kontrolle im Vorfeld Damit sind wir beim Thema: Sanktionsdrohungen allein nützen umso weniger, je geringer die Entdeckungswahrscheinlichkeit ist. Es muss also kontrolliert werden. In concreto, ob Steuern lege artis erklärt, oder ob falsche Angaben gemacht oder richtige unterlassen wurden. Dem dienen die Außenprüfungen, insbesondere die der Fahndung. Wenn aber ohnehin kontrolliert werden muss, warum nicht im Vorfeld, nicht ex post, sondern ex ante, nicht erst, wenn falsche Angaben zur Verkürzung ­geführt haben, sondern bevor sie eine Verkürzung, sprich falsche Veranlagung, verursacht haben? Die Praxis des Steuerrechts kennt solche Kontrollen. Bei den Landessteuern kam die  – an Personalnot gescheiterte  – Idee der „veranlagenden Betriebs­ prüfung“ auf. D.h. der Sachbearbeiter sollte bei der Bearbeitung der Steuererklärung diese nicht nur „abschreiben“, sondern auch prüfen; im Verbrauchsteuerrecht sieht der Zoll Belegheft und Lagerbuch durch, in das der Steuerlagerinhaber die Zu- und Abgänge einzutragen hat. Derartige Kontrollen, wenn sie fortlaufend stattfinden, verhindern zwar ebenso wenig wie nachträgliche Sanktionen, aber mindern immerhin die Hinterziehung. Im Fall der Cum-ex-deals haben solche Kontrollen – weil mit angemessenem Aufwand kaum darzustellen – gefehlt. 3. Die Macht des Faktischen In manchen Konstellationen ist eine Sanktion sinnlos: In welchem Flieger sitzen Sie lieber? An der Gangway des einen steht, dass Betreten mit Waffen schwerstens bestraft wird, an der des anderen steht nichts, aber ein Sicherheitsdienst kontrolliert auf Waffen. Keine Frage: nicht die Sanktionsdrohung hält den Terroristen ab, nur die Kontrolle. Ist sie akribisch, verhindert sie Waffen an Bord. Die Fakten verhindern die Tat. Der Gedanke lässt sich verallgemeinern. Wenn Sie wollen, dass eine Straße unter keinen Umständen befahren wird, begnügen Sie sich nicht mit einem Sperrschild, sondern stellen Poller auf. Eine Sanktion ist hier zwar nicht sinnlos, aber überflüssig, weil nicht benötigt. Es heißt, Strafrecht sei die „ultima ratio“. Wenn das stimmt, scheitert die Zulässigkeit des Strafrechts immer dann, wenn es nicht „erforderlich“ ist um den gewünschten Zweck zu erreichen.40 Nicht erforderlich ist Strafrecht, wenn es andere Steuerungsmittel gibt. Geht es darum, dass der Staat nur die Steuer anrechnet 39 Perron, JZ 1993, 918, 920; die Betriebswirtschaft ist mit der Forschung auf diesem Gebiet wohl etwas weiter als die Jurisprudenz, vgl. Daxhammer/Facsar, Behavioral Finance, 2. Aufl. 2018, 79 ff., 81: Marktteilnehmer sind „nur zu einem begrenzt rationalen Verhalten in der Lage,“ da sie „häufig durch kognitive und emotionale Aspekte beeinflusst“ sind. Wenn das zutrifft, ist die Aussicht auf erfolgreiches Nudging durch Strafrecht fraglich. 40 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, 571, 580; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, 126 ff.

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bzw. erstattet, die er im Abzugsverfahren zuvor eingenommen hat, liegt es nahe, dass die Finanzbehörde selbst nachhält, was im Vorwegabzug eingenommen wurde. Die Zulässigkeit strafrechtlicher Sanktionen in all den Fällen, in denen es andere Steuerungsmechanismen gibt, soll nicht schlechthin bestritten werden. Aber: Ist es zweckmäßig auf eine Sanktion zu vertrauen, wenn sich die Mehrfacherstattung auf andere Art verhindern lässt? Wer in solchen Fällen auf die Strafsanktion baut, macht das Strafrecht zur Pathologie des Steuerrechts. Welcher Patient lässt sich schon vom Pathologen behandeln? Der Mensch will wissen was heilt und nicht, woran er gestorben ist. Das Strafgericht aber bekommt nur die Leiche auf den Tisch. Es seziert, was steuerlich rechtens gewesen wäre und wie der Akteur zu bestrafen ist. Meint es, Steuerrecht sei strafwürdig verletzt, kann es die Tatvorteile einziehen. Wenn sie noch greifbar sind, kann dem Staat etwas zufließen. Zweckmäßiger wäre es, den Abfluss zu verhindern. 4.  Die Lösung: Prävention mit Hilfe des Steuerrechts Das Steuerrecht hat durchaus Präventionsmöglichkeiten. Nehmen wir als Beispiel das gegenwärtige Umsatzsteuersystem. In 2015 gingen nach Mitteilung der Europäischen Kommission aufgrund von Mängeln bei der Mehrwertsteuererhebung rund 152 Mrd. € verloren, aufgrund grenzüberschreitenden Betrugs allein 50 Mrd. €.41 Der dies auslösende gesonderte Umsatzsteuerausweis in Form einer Rechnung nach §§ 14,15 UStG hat geradezu den „Charakter eines Barschecks“42, der zum Nachteil des Staates nicht immer gedeckt ist. Würde die Finanzbehörde die Entrichtung der Umsatzsteuer nachhalten und Vorsteuer nicht schon mit Vorlage der die Vorsteuer ausweisenden Rechnung, sondern erst dann erstatten, wenn sie zuvor entrichtet wurde, wäre „Umsatzsteuerkarussell“ ein Fremdwort im Steuerstrafrecht und der „missing trader“, d.h. derjenige, der Vorsteuer bescheinigt und dann verschwindet ohne die Vorsteuer abzuführen, würde auch aus dem Steuerrecht verschwinden: ein Verlust allenfalls für die Kommentarliteratur. Einige vernünftige Worte des Gesetzgebers und dicke Ergänzungslieferungen wären Makulatur.43 „Den Gesetzgeber“ auszumachen, ist allerdings schwierig, denn die Umsatzsteuerregelungen sind durch europäische Richtlinien und Verordnungen überlagert, und in Europa rühren viele Köche. Das Umsatzsteuerrecht ist insbesondere durch den europäischen Binnenmarkt betrugsanfällig,44 weshalb Umsatzsteuerkarusselle vorzugsweise grenzüberschreitend arbeiten. Der Vorschlag der Europäischen Kommission vom 30.11.2017 mit der Aufmerksamkeit heischenden Überschrift „Auf dem Weg zu einem einheitlichen Mehr41 Europäische Kommission, Geänderter Vorschlag v. 30.11.2017 für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr.  904/2010 im Hinblick auf die Stärkung der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, COM (2017) 706 final, 1. 42 Rolletschke in Rolletschke/Kemper, Steuerstrafrecht, 104. Lfg., § 370 AO Rz. 470. 43 Angelehnt an von Kirchmann in dem durchaus ernst gemeinten Vortrag, gehalten in der juristischen Gesellschaft zu Berlin, „Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“, 3. Aufl. 1848, S. 17: Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers, und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur. 44 Rolletschke in Rolletschke/Kemper, Steuerstrafrecht, 104. Lfg., § 370 AO Rz. 470.

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Lehren aus Leerverkäufen bei Cum-ex-Geschäften

wertsteuerraum  – Zeit zu handeln“ wird zwar vom deutschen Bundesrat begrüßt, aber für verfrüht gehalten.45 Die Mitgliedstaaten – auch Deutschland – mauern. Zurück zu Cum-ex: Nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG wird auf die Einkommensteuer die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer angerechnet. Sie. wird nicht angerechnet, wenn die in § 45a Absatz 2 oder Absatz 3 EStG bezeichnete Bescheinigung nicht vorgelegt worden ist. Im Zeitalter der Digitalisierung sollte der Staat in der Lage sein, die erhobene Steuer mit eigenen Mitteln nachzuhalten, anstatt auf von Banken erteilte Steuerbescheinigungen zu vertrauen. Für die Überwachung ist eine Institution prädestiniert: Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Sie untersteht als Bestandteil der Bundesverwaltung der Rechts- und Fachaufsicht des BMF, führt u.a. die Banken-, Versicherungs-, Wertpapieraufsicht und sitzt, wie Spengel bemerkt, „auf einem wahren Datenschatz“.46 In einem Impulsvortrag am 27.11.2019 über „Künstliche Intelligenz  – Eine Revolution in der öffentlichen Verwaltung“47 sprach der Präsident der BaFin, Felix Hufeld, von der Vorreiterrolle, die die Bundesanstalt mit Hilfe von KI-Anwendungen beim Austausch und der Analyse relevanter Finanztransaktionsdaten einnehmen wolle: „…Ein Gebiet, auf dem wir dabei künftig stärker auf KI-Anwendungen setzen wollen, ist die Geldwäschebekämpfung (Anti Money Laundering – AML). Vor allem bei der Kundenauthentifizierung, dem Transaction Monitoring und der Bearbeitung von „false positives“ ist die Chance groß, Prozesse mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz weiter zu optimieren. … Digitale Verfahren sollen dazu beitragen, dass wir im manchmal hektischen Aufsichtsalltag stets den Blick für das Wesentliche behalten.“

In der Vergangenheit war der Aufsichtsalltag der BaFin offenbar doch zu hektisch, als dass sie Cum-ex-Geschäfte als „wesentlich“ im Blick halten konnte. Dazu Spengel: „Gemäß §  9 WpHG besteht eine Meldepflicht für Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Zweigniederlassungen im Sinne des § 53b des Kreditwesengesetzes an die BaFin über jedes Geschäft in Finanzinstrumenten, die zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen oder in den regulierten Markt oder den Freiverkehr einer inländischen Börse einbezogen sind. Eingeschlossen in die Meldepflicht sind auch die außerbörslichen Over The Counter (OTC) Geschäfte. Der BaFin ist somit jede einzelne Transaktion bekannt. Warum die BaFin angesichts der Aktientransaktionen rund um den Dividendenstichtag im Milliardenbereich keine Nachforschungen nach den Hintergründen dieser Transaktionen angestellt hat, entzieht sich meiner Kenntnis.“48

Wenn aber die BaFin „künftig stärker auf KI-Anwendungen setzen“ will, müsste es ihr ein Leichtes sein, neben den erwähnten hehren Beschäftigungen wie Anti Money Laundering und Bearbeitung von „false positives“ so prosaische Aufgaben wie die 45 BR-Drucks. 661/17 v. 15.12.2017, 2 (zu 4.). 46 Spengel, Gutachten, 102. 47 Abrufbar von der Homepage der BaFin. 48 Spengel, Gutachten, S.  102; vgl. auch die Sondervoten des Berichterstatters der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, des Abgeordneten Richard Pitterle, BT-Drucks. 18/12700, 381 ff., 431 f., und des Berichterstatters der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bundestag, des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, BT-Drucks. 18/12700 v. 20.6.2017, 458 ff., 497 ff.

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Jürgen Weidemann

zentrale Registrierung und Zuordnung vorweg abgezogener Kapitalertragsteuer49 mit Bravour zu erledigen, sodass Steuerbescheinigungen durch Dritte entbehrlich würden. Wenn der Staat selbst nachhält, was als vorweg abgezogen anzurechnen ist, ist der Mehrfacherstattung eine Sperre vorgeschoben, eine systemimmanente Prävention, die das Besteuerungsverfahren von sich aus bieten kann. Mehr kann es nicht tun, aber was es tun kann, sollte es auch tun. Das wäre ein Beitrag zur Entkrimina­ lisierung des Steuerrechts. Strafrechtliche Sanktion sollte erst einsetzen, wenn die „Bordmittel“ des Steuerverfahrens nicht mehr greifen. Kurz: (Steuerliche) Prävention vor Strafsanktion.

49 Vielleicht ließe sich, um diese Tätigkeit aufzuwerten, hierfür noch ein englischer Begriff finden, etwa SDCGTM (source deducted capital gains tax monitoring).

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Eine Projektentwicklung als Abenteuerreise Inhaltsübersicht I. Prolog

VII. Aufrüsten zum Bauen

II. Der Sprung ins kalte Wasser

VIII. Bauparcours der Bravourstücke

III. Der Grundstückserwerb

IX. Die Vermarktung

IV. Die DNA der Projektentwicklung

X. Die Vermietung

V. Von der Idee zur Gestalt – die Planungsphase

XI. Das Ende des Abenteuers

VI. „Ohne Moos nix los“

XII. Epilog

I. Prolog Wenn man ein Immobilienprojekt realisieren will, muss man sorgfältig planen – zumal dann, wenn es um zweistellige Millionenbeträge geht. Man muss alle Schritte im Voraus bedenken, die Risiken abwägen, die Wirtschaftlichkeit vorauskalkulieren und einfach alles tun, um das Schiff klar zu machen für eine Seereise durch schwierige Gewässer. Es ist gut, wenn man auf ausgetretenen Pfaden wandeln kann und zumindest ein ähnliches Projekt schon einmal realisiert hat und außerdem über ein kräftiges Finanzpolster verfügt. Wenn so vorgesorgt ist, kann alles einen ruhigen Verlauf nehmen – und ist der Erfolg in aller Regel garantiert. Nicht so ist dies, – wenn man mit seinem Vorhaben in vielfacher Weise persönliches Neuland betritt, – wenn man sich dem großen Treck in den Osten anschließt – ein wenig so wie die Siedler sich einstmals in den Westen Amerikas aufmachten mit allem, was irgendwie fahren, reiten oder laufen konnte. – Gemeint ist hier der Aufbruch in die damals sog. „Neuen Länder“, in denen vieles anders war – und z.T. noch heute ist – als in den westlichen Landesteilen, – wenn man sich ein Grundstück ausgerechnet inmitten einer verwinkelten historischen Altstadt aussucht, in der der Untergrund von Altlasten nur so strotzt und schweres Baugerät einzusetzen ein Kunststück ist,

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Wolfram Wessely

– wenn man in eine Nachbarschaft hineinbaut, die allen Neuerungen argwöhnisch gegenübersteht, – wenn man nur über eine schmale Kapitaldecke verfügt, die zur Übernahme umfangreicher persönlicher Haftung zwingt – und eben nicht die Regel einzuhalten vermag, dass eine Reserve in Höhe des aus dem geplanten Projekt erwarteten Gewinns bereits auf dem Konto liegt – und – wenn man nicht vom Fach ist, also kein Architekt oder Bauingenieur – und dazu auch noch in der Immobilien-Projektentwicklung eher noch ein Neuling. Dann wird aus ruhiger Seefahrt bei gutem Wetter die besagte Abenteuerreise, in der es stürmt und die Gestade des Scheiterns immer wieder einmal bedrohlich nahekommen. Was es dann vor allem braucht, ist viel Mut, einen guten Schuss Selbstvertrauen, hohe Einsatzbereitschaft und Zähigkeit. Was es dann aber vor allem auch braucht, sind gute Freunde, bei denen man Rat, Unterstützung und Ermutigung finden kann. Ein solcher Freund, der über alle Zeiten der Projektentwicklung an ganz vorderer Stelle gestanden hat und verfügbar war, ist der Jubilar, mein enger Freund Lutz Ader­ hold, der mir nicht nur bei dem Projekt, über das ich hier berichte, sehr wertvolle Unterstützung geleistet hat, sondern seit mehr als 50 Jahren ein Freund ist, den ich aus meinem Leben gar nicht mehr hinwegdenken kann. Ich schreibe diesen Bericht auch zum Zeichen dafür, was ich diesem Freund verdanke. Und mit solchem Dank reihe ich mich sehr gern ein in die gewiss gewaltige Schar von Freunden und Mandanten, die das Wirken des Jubilars über viele Jahrzehnte als für sie außerordentlich segensreich erfahren konnten.

II. Der Sprung ins kalte Wasser Der Standort der Projektentwicklung war Freiberg in Sachsen, die 1000-jährige Silberstadt, 37 km westlich von Dresden gelegen am Rande des Erzgebirges. Die Stadt, die das Silber lieferte, das August den Starken reich machte und ihm den Prunk ermöglichte, den er bei seinen legendären Festen im Zwinger in Dresden entfaltete – und den man heute im Grünen Gewölbe im Dresdner Schloss bewundern kann. Zu diesem historischen Ort hatte ich mich schon 1990 aufgemacht auf der Suche nach unternehmerischen Chancen im Aufbau Ost und getreu dem Motto: „Ex Oriente Lux“. Der erste Schritt meiner „Aktion Ost“ war die Übernahme des Betriebsteils III der Fortschritt Mähdrescherwerke am Standort Freiberg. Der aus vielen Fertigungsge510

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bäuden und -anlagen geradezu abenteuerlich zusammengewürfelte Industriebetrieb war ein schlagender Beweis dafür, dass nicht die Treuhandanstalt einer leistungsfähigen DDR-Industrie den Garaus gemacht hat, sondern viele Fertigungsstätten marode und im Wettbewerb mit westlicher Industriepotenz hoffnungslos unterlegen waren. Das knapp 20.000 qm große Industriegelände grenzte unmittelbar an die Kernstadt von Freiberg und befand sich in einer Lage, in der allein Wohnen und kleinteiliges Gewerbe seinen städtebaulich sinnvollen Platz haben konnten. Die Umwidmung des Industriegeländes in eben solche Nutzungen war daher geradezu zwingend. Sie gelang in kurzer Zeit und eröffnete mir die Möglichkeit, gemeinsam mit Partnern aus Siegen den größten Wohnpark der Stadt mit 19 Mehrfamilienhäusern und zwei Appartementblöcken für Studenten der TU Freiberg samt zugehörigen Garagenanlagen zu errichten. Dieses Projekt war ein anspruchsvolles Lehrstück im neuen Metier und eine harte Bewährungsprobe, bei der kaum eine Herausforderung fehlte, vor die man bei einem Projekt dieser Größenordnung gestellt sein kann. Dieses erste Projekt der frischgebackenen Projektentwicklungsgesellschaft, die ich zu verantworten hatte, war also eine gute Schule für das, was uns in der Folgezeit erwartete. Mit der voranschreitenden Fertigstellung des Wohnparks brauchten wir die nächste Betätigungsmöglichkeit. – Wir suchten also. – Und es gab noch jemanden, der suchte, nämlich die Stadt Freiberg, die die größte städtebauliche Wunde im Stadtzentrum heilen wollte. Auf uns durch den Wohnpark aufmerksam geworden, hoffte sie, in uns ein geeignetes Opfer gefunden zu haben, und sie tat dies nicht zu Unrecht. Worum ging es präzise: Gleich neben dem Theater der Stadt, einer Art Miniaturausgabe der Semperoper – wenn auch nicht so prunkvoll wie das große Vorbild, aber immerhin der Ort, an dem der „Freischütz“ von Carl Maria von Weber zum ersten Mal aufgeführt worden war – lag die besagte städtebauliche Wunde, die sozialistische Missachtung erhaltenswerter Bausubstanz hinterlassen hatte, als ein 2.600 qm großes Brachgelände mit offenen Kellerruinen, einer Hausruine und noch einem einzigen teilweise bewohnten Haus, das von etwa zehn ehemaligen Gebäuden auf dem Gelände übriggeblieben war und mit schwankenden Holzbalkendecken um sein Überleben kämpfte. – So traurig präsentierten sich noch in 1996 die maroden Hinterlassenschaften des Sozialismus. Bei der ersten Besichtigung des Projektareals in schmuddeligem Regenwetter war nun wirklich nichts dazu angetan, Begeisterung für ein Projekt an so trauriger Stelle zu wecken. Aber es gab den Zuspruch der Stadt – etwa so, wie man jemanden auf eine gefahrenträchtige Mission schickt, deren Scheitern einen selbst nicht berührt und von der man sich jederzeit distanzieren kann, aus deren Erfolg man jedoch andererseits Wasser auf die eigenen politischen Mühlen leiten kann. Was demgegenüber uns ins Risiko trieb, war die besagte Notwendigkeit, unser kleines Projektentwicklungsfähnlein an neuer Stelle aufpflanzen zu können. 511

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Und so gingen wir es an – oder besser: So sprangen wir ins kalte Wasser – nicht nur mit einigem Mut, sondern auch einer guten Portion Blauäugigkeit und – ruhig sei es hier gesagt – mit allerhand Gottvertrauen.

III. Der Grundstückserwerb Das Projektareal wurde umschlossen durch vier Gassen. Es ging also um eine Quartiersbebauung, die wegen des angrenzenden Theaters den Projektnamen „Theaterviertel“ erhielt. Nicht zur Attraktivität des Vorhabens trug bei, dass sich in einer Ecke des Areals ein ehemaliges Heizwerk mit einem Koksbunker befand, das ab Geländeoberkante drei Stockwerke tief in die Erde reichte. Das Projektareal bestand aus zwölf Parzellen, die wie Kuchenstücke einer Torte gleich aneinandergereiht waren. Gott sei Dank waren sechs davon bereits durch die Stadt vorerworben, sodass es nur noch um sechs weitere Eigentümer ging, die zum Verkauf zu bewegen waren. Das Baggern und manchmal fast Betteln dauerte nahezu sechs Monate. – Noch gut in Erinnerung sind mir die Kaufverhandlungen in der Nähe von Paderborn: Drei Mitglieder einer Erbengemeinschaft meinten dort, mit dem Verkauf noch einmal das große Glück machen zu können. Es war nicht einfach, sie davon zu überzeugen, dass ihr Eigentum nur als Teil einer Gesamtbebauung Wert gewinnen konnte und sie es als Glücksfall betrachten müssten, dass es überhaupt jemanden gab, der sich an eine solche Bebauung des kompletten Quartiers wagte. Begleitet wurde die mehrstündige Verhandlung durch immer neu aufgetischten Kaffee und Rodonkuchen.  – Beide freundlichen Gaben wollte ich nicht ablehnen, um das Verhandlungsklima nicht zu gefährden.  – Hinterher hatte ich Herzrasen vom Kaffee und das Gefühl einer Mastgans nach ich weiß nicht wie vielen Stücken Rodonkuchens. Aber ich hatte eben auch eine Verkaufszusage, die preislich noch ins Budget passte. Der schwierigste Verhandlungspartner freilich war der Betreiber eines Fischgeschäftes, der uns sein Grundstück nur geben wollte, wenn wir ihm einen neuen Fischladen errichteten. Von einem solchen „Bartergeschäft“ abbringen konnten wir ihn nur noch mit der dankenswerten Hilfe der Stadtverwaltung. Mit dem schließlich geschafften Erwerb – genau genommen der Optionierung – aller Parzellen war die erste Hürde genommen, und dies freilich nicht ohne die hier erstmals wirkungsvoll erwiesene juristische Unterstützung des Jubilars. Mit seiner Hilfe wurde zeitgleich zu den Erwerbsverhandlungen auch die „Theaterviertel Freiberg GbR“, die ich als geschäftsführender Gesellschafter bis heute zu verantworten habe, als künftige neue Grundstückseigentümerin ins Leben gerufen. 512

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IV. Die DNA der Projektentwicklung Eine jede Projektentwicklung steht und fällt mit einem klaren und bis zum Ende durchdachten Konzept als ihrem Kern, in dem alle Schritte angelegt sind – also als ihrer DNA. Die erste Projektidee muss geformt werden zu einem umfassenden Plan, in dem festgelegt wird, wie ein Grundstück genutzt und für diese Nutzung bebaut werden soll, in welchen Fristen das Projekt zu realisieren ist und wie es finanziert werden soll: Während seiner Planung durch eine Vorfinanzierung, während seiner Realisierung durch eine Zwischenfinanzierung und dann, wenn es fertig ist, durch eine End- oder Investorenfinanzierung. Dieses Projektkonzept muss also vorgeben, wer als Mieter der geplanten Immobilie zu gewinnen ist und wie die Architektur aussehen soll, die einerseits für diesen Mieter passt, die andererseits aber natürlich auch allen Zulässigkeitsvorschriften für die Bebauung genügt. Als Teile des Gesamtkonzepts sind Vermietungskonzept, Bebauungskonzept und Finanzierungskonzept die entscheidenden Elemente, die ineinandergreifen und einander bedingen: Ein Bau, der nicht vermietet werden kann, ist wertlos, und ein Mietvertrag über eine Immobilie, die dem Mieter nicht gemäß Mietvertrag geliefert wird, taugt ebenso wenig  – und schließlich helfen die besten Ideen zur Projektentwicklung nicht weiter, wenn ihre Umsetzung nicht finanziert werden kann.

V. Von der Idee zur Gestalt – die Planungsphase Für unser Projekt war die Nutzungsfrage recht einfach zu beantworten. Es ging nicht um ein Vorhaben auf der grünen Wiese mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten vom Wohnen übers Gewerbe bis zum Industriebau. Mit unserem Standort mitten in der Altstadt war die Hauptnutzung „Wohnen“ vorgegeben. – Nur im Erdgeschoss kamen andere Nutzungen infrage  – also die Ansiedlung von Einzelhandel, Ärzten, Büros oder sonstigen Dienstleistungen. Damit war auch der Rahmen für die architektonische Planung vorgegeben  – aber eben nur der Rahmen. Bei dessen Ausfüllung und der Erfüllung der baurechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen stießen unsere Architekten auf nicht geringe Probleme: Sie mussten sich in einem städtebaulichen Wettbewerb gegen zwei konkurrierende Architekturbüros durchsetzen und sich dann trotz des positiven Votums der Jury immer noch weiter mit Gestaltungsvorgaben der Bauverwaltung und des Denkmalschutzes sowie selbsternannter Bedenkenträger auseinandersetzen.  – Ein wenig war das so, wie der Kampf wider die vielköpfige Hydra, die immer neue Bedenken und Änderungswünsche ausspeit. 513

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U.a. musste ein sog. Massenmodell zur Sichtbarmachung der Gebäudekonturen des geplanten Bauvorhabens erstellt werden  – und mir ist noch eine Szene in Erinnerung, bei der wir am Boden lagen und gemeinsam mit dem späteren Baubürgermeister Blickbeziehungen zu städtebaulich prominenten Nachbargebäuden über die Konturen des Modells peilend nachvollziehen mussten. Am Ende schließlich fanden wir Gnade mit einer Planung, die unsere Architekten als „Micky-Maus-Architektur“ bezeichneten, weil sie die historische Nachbarbebauung vollständig nachzuahmen hatte. Das bedeutete eine geschlossene Blockrandbebauung innerhalb des Gassengevierts mit neun Häusern, die farblich unterschiedlich zu gestalten waren und deren Satteldächer steil aufsteigen mussten – mit geschwungenen Dachgauben, sog. Schlafaugen. Es war also ein Stück Altstadt wiederherzustellen, worin ein legitimes Anliegen lag, allerdings auch eine Bauweise vorgegeben war, die wegen ihrer Kleinteiligkeit das Vorhaben nicht unerheblich verteuerte. Am Ende also hatten wir unser Baurecht und damit die Grundlage für Bauantrag und Baugenehmigung, aus der wiederum die Kubatur und die herstellbaren Nutzflächen abgeleitet werden konnten. Wir wussten, was wir bauen durften und welche Flächen vermietet werden konnten  – nämlich insgesamt rund 5.700 qm, aufgeteilt auf 68 Wohneinheiten, davon 34 Wohnungen barrierefrei, z.T. sogar rollstuhlgerecht und mit angeschlossenen vier Aufzugsanlagen, weiteren sieben Gewerbeeinheiten und zwei Sondernutzungseinheiten in den Erdgeschossen – und dazu eine Tiefgarage mit 52 Stellplätzen, auf der ein begrünter, mit kleinwüchsigen Bäumen bepflanzter Innenhof als grüne Insel innerhalb des Gebäudeensembles anzulegen war. Damit hatte die Projektidee virtuelle Gestalt gewonnen und der Glaube an die Realisierbarkeit einen weiteren kräftigen Schub bekommen.

VI. „Ohne Moos nix los“ Ausgerüstet mit den Planungsdaten konnten wir an das nächste große Thema gehen: Nachdem die Kosten bis zur „virtuellen Gestalt“ noch aus eigenen Mitteln dargestellt werden konnten, brauchte es jetzt die Bauträger- oder Zwischenfinanzierung für die Haupt- bzw. Realisierungskosten: Der Schlüssel hierzu lag in der Vorausschätzung der realisierbaren Gesamtmieteinnahmen, um hieraus abzuleiten, welcher Kapitaldienst für die Zwischenfinanzierung dargestellt werden konnte – und später dann für die Endfinanzierung zur Verfügung stehen würde. Mit der darstellbaren Zwischenfinanzierung war definiert, welche Gesamtkosten verbraucht werden konnten bzw. welches Projektbudget zur Verfügung stand. 514

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Die Prognose der Mieteinnahmen basierte auf der vermietbaren Gesamtnutzfläche von rund 5.700 qm und deren Aufteilung auf Wohn- und Gewerbeeinheiten und den zu erwartenden Einnahmen aus der Tiefgarage. Die Beschaffung der Zwischenfinanzierung für ein Entwicklungsprojekt ist stets eine heikle Aufgabe, weil die Kreditinstitute sich nicht gern auf eine Kreditvergabe einlassen, bei der das Risiko besteht, dass der Bau aus welchem Grunde auch immer steckenbleibt und – wenn überhaupt – nur mit erheblich höheren Kosten als vorkalkuliert fertiggestellt werden kann. Gegen solche Zurückhaltung half uns eine über viele Jahre bestehende und sehr stabile Geschäftsbeziehung zweier unserer Partner mit der Sparkasse Siegen. Das Renommée unserer Partner war so groß, dass es gelang, die Sparkasse aus ihrem wahrlich weit entfernten Stammgebiet Siegerland heraus bis nach Freiberg zu locken und zur Übernahme der besagten Finanzierung zu bewegen. Ebenso groß wie die Freude über die Finanzierungszusage aus Siegen war dann im Weiteren das Bangen um die Einhaltung der prognostizierten Mieteinnahmen als Grundlage der Kreditzusage. Aber dazu noch später.

VII. Aufrüsten zum Bauen Mit dem Projektgrundstück gesichert durch notarielle Erwerbsoptionen, dem eingeräumten Baurecht und der zugesagten Zwischenfinanzierung für ein auskömmlich vorkalkuliertes Projektbudget und mit Kosten-, Liquiditäts- und Ablaufplanungen als Grundlage des Baucontrollings waren die Bauvorbereitungen bereits weit gediehen. Als Nächstes ging es um die Baugenehmigung und die Fachplanungen – Statik, Baugrundgutachten, Entwässerungsplanung usw. Hiernach standen die Vergabe der Bauleistungen und die mühseligen Verhandlungen an, die dies – wie leider üblich – mit sich bringt: Man sitzt dann mit gestandenen Bauleuten im Gespräch, die behaupten, den äußerst möglichen Preis anzubieten und bei Preisnachlässen in die Verlustzone oder gar den Ruin zu geraten. Und dennoch kommt im nächsten Termin ein Wettbewerber daher, der den Preis des Kollegen um Millionen unterbietet und dann auch wieder behauptet, am Limit zu sein, bis ein Dritter es dann noch einmal besser können will. Wenn man dazu neigt, den Worten seiner Mitmenschen  – zumindest im ersten Takt – Vertrauen zu schenken, muss man in derartigen Verhandlungen eine solche menschenfreundliche Einstellung tunlichst über Bord werfen. Wer gern pokert, mag sich bei solchen Verhandlungen besser aufgehoben fühlen. – Uns schwindelte es bei 515

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dem Karussell der Generalunternehmerangebote jedenfalls so sehr, dass wir uns für keine dieser Offerten entschieden und einen Projektsteuerer beauftragten, die Bauleistungen im Einzelverfahren zu vergeben. Das kostete zwar zusätzliches Ho­norar für den Projektsteuerer, ersparte aber die Marge, die die Generalunternehmer erfahrungsgemäß für die von ihnen selbst fremdvergebenen Leistungen in einer Größenordnung von 12–15  %  – und damit etwa dem Doppelten eines Projektsteuerer-­ Honorars – einrechnen. Mit unserer Entscheidung für einen Projektsteuerer erzielten wir einen sog. „Vergabegewinn“ als Differenz zwischen dem höchsten GU-Angebot und der später auch tatsächlich weitgehend eingehaltenen Kostenkalkulation des Projektsteuerers von rund DM 2 Mio. Und die Baukosten passten damit einschließlich einer angemessenen Reserve in das Projektbudget.

VIII. Bauparcours der Bravourstücke Die Vorbereitungen waren abgeschlossen und der Weg frei, mit dem Bau zu beginnen – und nun wurde es richtig abenteuerlich: Los ging es mit der Gründung: Der Baugrund in Freiberg war aufgrund des jahrhundertelangen Bergbaus extrem kontaminiert. Es gibt Altlastenkartierungen, in denen die Belastungsstufen farbig dargestellt sind: Sie beginnen mit hellbraun und steigern sich dann auf dunkelbraun. Die noch höhere Belastung wird mit rosa und sodann mit hellem Rot gekennzeichnet. Der Gipfel der Verunreinigung prangt in dunklem Rot. In dieser Farbe leuchtet der Innenstadtbereich von Freiberg an vielen Stellen – und so strahlte auch unser Baufeld. Wir waren an dieser Stelle jedoch – Gott sei Dank – nicht blauäugig gewesen, sondern auf die Misere einigermaßen vorbereitet: Was uns half, war, dass wir wegen der z.T. vorhandenen Kellerbereiche beim Bau der Tiefgarage weniger Aushub hatten – und was uns noch viel mehr half, war eine Spezialdeponie, in die der hochbelastete Aushub entsorgt werden konnte. Wegen des früheren Bergbaus in Freiberg gab es diese Sondermülllösung; ohne sie hätten die Entsorgungskosten das Projekt zum Scheitern bringen können. Dieser Drache am Wegesrande konnte also erfolgreich verjagt werden. Das nächste – massive – Problem bereitete die Versorgung der Baustelle über die engen Gassen der Altstadt. Hier waren die Bauleute manches Mal kurz vor dem Aufgeben und Zentimeterarbeit war an der Tagesordnung.

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Ein weiteres Kunststück war zu vollbringen, weil das Baufeld bis auf den letzten Zentimeter ausgenutzt werden musste und die Ausschachtung der Baugrube bis unmittelbar an die Bordsteinkante heranreichte. Diese Bauweise erforderte einen sog. „Berliner Verbau“, bei dem schwere Stahlbrammen in das Erdreich gerammt und die Zwischenräume zwischen ihnen mit Bohlen ausgefüllt werden mussten. Zum Einbringen der Stahlbrammen diente ein schwerer Bagger mit Ramm-Vorrichtung. Dieses Ungetüm war das erste schwere Gerät, das durch die schmalen Gassen wie das Kamel durch das berühmte Nadelöhr bugsiert werden musste, was den Bauleuten einen Bravourakt nach dem anderen abverlangte. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, mussten als nächster Kraftakt drei Turmdrehkräne, zwei mit einem 40 m- und einer mit einem 34 m-Ausleger aufgestellt und dazu ein gewaltiger Kran herangeschafft und platziert werden, um die Riesenteile an ihren Platz zu hieven. Und auch eine Meisterleistung war es, dass die drei Kräne mit ihren langen Auslegern sich auf dem relativ kleinen Baufeld kein einziges Mal ins Gehege kamen. Jedes Mal, wenn Baustahl mit schweren Fahrzeugen geliefert wurde, war der Verkehr in einem Teil der Altstadt lahmgelegt – und man tat gut daran, keinem, der deswegen im Stau stand, etwas von seiner Beteiligung an der Baustelle zu erzählen. Der größte Dinosaurier, den wir auf die winkelige Altstadt losließen, war dann ein nun wirklich gigantischer mobiler Kran, mit dem die sämtlichen Terrassenanlagen zum Einbau im Innenhof sowie die Rasenballen und Bäume für dessen Begrünung von außen über die fertigen hochaufragenden Dachfirste in den Gebäudering hineingehoben wurden. So häuften sich die Herausforderungen, die unseren Bauleuten Höchstleistungen abverlangten. Alle Expertise beim Bauen half jedoch nicht gegen das Unheil, das uns der Denkmalschutz bescherte: Unsere Baustelle lag mitten in einer Altstadt mit jahrhundertelanger Geschichte und vielem Denkmalswürdigem nicht nur auf, sondern natürlich auch unter der Erde. – Wen konnte es daher wundern, dass wir in den Fokus der Denkmalbehörde, insbesondere des Landesamtes für Archäologie in Dresden, dort residierend im „Japanischen Palais“, gerieten. Als also unsere Baugrube zu einem guten Teil ausgehoben war und den Denkmalschützern in aller Offenheit vor Augen lag, kam der GAU: Die Baustelle wurde wegen Grabungsarbeiten stillgelegt – und das noch dazu ohne eine konkrete Zeitangabe für deren Dauer. Konkret sah das so aus, dass ein Bagger, der noch vor Stund fleißig gebaggert hatte, seine mächtige, einen Kubikmeter fassende Schaufel im Erdreich stecken lassen musste und vor ihm in der Baugrube ein Zelt aufgestellt wurde, in dem fleißige Altertumsforscher mit Spateln und Bürstchen an kleinen, dem Unkundigen als völlig un517

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spektakulär erscheinenden Teilen herumwerkelten.  – Dass auch Teile von historischen Gefäßen und Gläsern gefunden wurden, entging seinerzeit dem Blick des Normalbetrachters.  – Aber dazu noch später. Ein Baustopp ist generell ein großes Ärgernis. Für uns jedoch war er dramatisch: Unser Konzept bestand darin, unser Objekt Investoren anzudienen – verbunden mit der Möglichkeit, eine 50%-ige Sonderabschreibung auf die Herstellungskosten in Anspruch zu nehmen, die es seinerzeit im Rahmen der Förderung des Aufbaus Ost gab. Diese Abschreibungsmöglichkeit freilich war an einen bestimmten Fertigstellungstermin gebunden, den es unbedingt einzuhalten galt. Im Frühjahr des Jahres, in dem hiernach die Fertigstellung zu erfolgen hatte, ereilte uns nun also der Baustopp und es blieb nur noch der Rest des Jahres nach dem Stillstand, um eine übergabefähige Immobilie herzustellen. – Der Stillstand traf uns daher mitten ins Mark. Unschwer auszumalen dürfte sein, mit wie viel wilder Entschlossenheit wir zu einem Termin zur Landesarchäologin ins Japanische Palais in Dresden fuhren, nachdem wir erfahren hatten, dass es allein dort noch Rettung geben könnte. Unsere wilde Entschlossenheit traf jedoch auf eine gleichgeartete Gemütsverfassung bei unserer Gesprächspartnerin, der energischen Frau Dr. Oechsle als Landesarchäologin und höchster Hüterin von Sachsens Altertümern. Nahezu hätte das Gespräch im Fiasko geendet, wenn wir uns nicht aufs Betteln verlegt und doch noch Mitgefühl für unsere Not gefunden hätten. Die strenge Dame ließ sich erweichen und aus sechs wurden nur noch drei Monate Stillstand. Das kostete dann schließlich trotz allen Strampelns um Baubeschleunigung eine ebenso lange Überschreitung des Steuertermins. – Aber dank der exzellenten Unterstützung durch unseren Steuerberater fanden wir Gnade beim Fiskus und funktionierte die Sonderabschreibung doch noch. Und schließlich staunten wir nicht schlecht, was die Archäologen mit viel Fleiß und Kenntnis zutage gefördert hatten. Auf schlagende Weise wurden Sinn und Berechtigung ihrer Arbeit erkennbar  – und wir in Sachen Altertumsforschung vom Saulus zum Paulus: Der frevelhafte Wunsch, mit einer einzigen Bewegung der Baggerschaufel die Herren Archäologen aus dem Wege zu räumen, wich größter Bewunderung: Die Funde in unserer Baugrube füllten bei einer spontan organisierten Ausstellung in der unserem Grundstück benachbarten Reinoldikirche sechs große Glas-Vitrinen: Es gab Glasgefäße, Tontöpfe und Haushaltsgegenstände aus längst vergangener Zeit; die Archäologen waren bis ins 11. Jahrhundert zurückgekommen, und es war außer518

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ordentlich spannend zu erfahren, wie aus vielen Funden – bis hin zu bloßen Wandverfärbungen – die einzelnen Epochen datiert und zurückverfolgt werden konnten. Wir beide, Frau Dr. Oechsle und ich, hielten zur Eröffnung der Ausstellung jeweils eine kleine Rede, in der wir einander Respekt bezeugten – und sich zeigte, dass von dem anfänglichen Unmut gar nichts mehr übriggeblieben war; im Gegenteil – ich erhielt das Angebot einer ganztägigen Führung durch das archäologische Landesmuseum durch die Chefin selbst. Der Ausflug in die Bewahrung kulturellen Erbes war verdienstvoll, er hatte aber seinen Preis, indem der auch ohne Baustopp eng getaktete Bauzeitplan noch mehr unter Druck geriet. Der Bauteil an der „Engen Gasse“ lag am weitesten hinter den Zeitvorgaben zurück. Der Rohbau dort musste daher so beschleunigt werden, dass pro Woche eine komplette Etage für drei Häuser aufzumauern war. Dies konnte nur erreicht werden, weil das Mauerwerk im Planblockverfahren hergestellt wurde. Planblockverfahren hieß, dass ein jeweiliger Wandabschnitt aus vorgefertigten Elementen zur kompletten Wand zusammengefügt wurde. Dies geschah, indem die Planblöcke in einem speziellen Klebeverfahren miteinander verbunden wurden. Eingesetzt werden konnte dieses Verfahren freilich nur bei Temperaturen oberhalb von plus 5° C. Es war jedoch in der fraglichen Zeit Winter mit Temperaturen bis zu minus 12° C – das Aufmauern also an sich ein unmögliches Unterfangen. Aber die Bauleute waren kreativ: Die Paletten mit den Planblöcken wurden per Turmdrehkran in das Kellergeschoss verfrachtet und dort mit Bauheizgeräten bis zur Verarbeitungsreife aufgeheizt, dann wieder hochgezogen und sofort zusammengefügt und damit die Vorgabe – ein Geschoss pro Woche – eingehalten. Auch das vorerwähnte DDR-Heizwerk komplett verschwinden zu lassen und termingerecht durch eine große moderne Heizungsanlage in einem über drei unterirdische Stockwerke reichenden Betriebsraum zu ersetzen, bedeutete einen Kraftakt, wie er vergleichbar kaum anderswo vorkommt. Der neue Heizkessel heizt außerdem nicht nur unser Objekt, sondern auch das angrenzende Stadttheater, sodass unser Objekt sehr mittelbar, aber doch unverzichtbar, einen Beitrag zum Kulturschaffen in der Stadt leistet.

IX. Die Vermarktung Bereits während der Bauphase stand die Vermarktung unseres Objektes an, das heißt das Finden von Investoren, die in das noch fertigzustellende Objekt investieren und uns damit ermöglichen würden, aus dem von ihnen nach Baufortschritt oder in einer Summe bei Fertigstellung des Objektes zu zahlenden Kaufpreis die Zwischenfinanzierung abzulösen und unsere Gewinnmarge zu realisieren. 519

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Wolfram Wessely

Wir begaben uns an diese Königsdisziplin der Projektentwicklung mit viel Zuversicht: Wir hofften, vom Investorenrun in den Osten profitieren zu können und wollten dabei nicht nur mit Steuervorteilen punkten, sondern vor allem auch mit Qualität: – Mit dem TU-Standort Freiberg, der mit seiner Wirtschaftskraft im Regionalvergleich herausragt, – mit der Zentrumslage als Garant für gute Vermietbarkeit, – mit dem hohen Wohnungsanteil als weiterem Stabilisierungsfaktor und – mit der Rentabilität des Investments auch bei moderat vorausgeplanten Mieteinnahmen. Unsere Vorzugsvariante war, einen Investor oder eine Investorengruppe zu finden, der oder die das Objekt insgesamt kaufen würde. Für diese Verkaufs-Konstellation gab es jedoch eine Absage nach der anderen. Vielleicht deshalb, weil das nur 37 km entfernte Dresden eben doch mehr im Fokus stand und vielleicht, weil es zu viele Konkurrenzangebote gab. Schließlich aber kam dann doch überraschend eine Kaufzusage und die Freude war groß, bis der mit großer Welle auftretende vermeintliche Investor den notariell vereinbarten Kaufpreis-Zahlungstermin platzen ließ und  – wen wundert’s  – die Sparkasse Siegen als Zwischenfinanzierer angesichts der sich immer weiter verzögernden Ablösung der Zwischenfinanzierung zunehmend nervös wurde. Unser großspuriger „Investor“ erwies sich endgültig als Schädling, weil er sich aus dem mit ihm geschlossenen Kaufvertrag nicht freiwillig zurückzog, sondern herausgeklagt werden musste, weshalb es ein Jahr bis zum rechtskräftigen Urteil dauerte, um diesen Spuk zu beenden. Mit dieser Pleite wuchs die Verzweiflung angesichts der fehlenden Ablöseperspektive für die Zwischenfinanzierung, die mit einer persönlichen Haftung von DM 12 Mio. verbunden war, immer mehr. Und als ob das noch nicht genug der Probleme gewesen wäre, kamen immer mehr Rückschläge in der Vermietung als dem Fundament aller Wirtschaftlichkeit hinzu, auf die ich später noch eingehen werde. Die Not wuchs, aber sie machte auch erfinderisch und führte zu einem grundlegend neuen Vermarktungskonzept: Nicht mehr der Verkauf war der Plan, sondern eine Kapitalerhöhung in der Theaterviertel Freiberg GbR. Mit dieser Kapitalerhöhung und einer langfristigen Kreditaufnahme sollte die Endfinanzierung dargestellt und mit dieser wiederum die Zwischenfinanzierung abgelöst und eine Gewinnmarge realisiert werden.

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Eine Projektentwicklung als Abenteuerreise

An der Kapitalerhöhung sollten mehrere Zeichner beteiligt werden. Es ging also um das Einwerben einer größeren Gemeinschaft kleinerer Investoren anstelle der bis dato erfolglosen Suche nach dem Großinvestor. Und dieses Konzept brachte Licht am Ende des Tunnels: Es war entwickelt worden gemeinsam mit meinem Steuerberater, der sich mit seinem hochkarätigen Mandantenstamm als wahrer Heilsbringer erwies. – Mit wachsendem Erfolg konnte er Mandanten von einer Investition in unser Objekt überzeugen, bis schließlich zusätzlich zu den vier Gründungsgesellschaftern der GbR 28 neue Mitgesellschafter eingeworben waren. Gewiss ging es meinem Steuerberater in erster Linie darum, seinen Mandanten mit einer attraktiven Investitionsmöglichkeit verbunden mit einem erheblichen Steuervorteil etwas Gutes zu tun, gewiss aber ging es ihm auch um einen Freundesdienst, der für alle Zeit unvergessen bleiben wird. Das Theaterviertel mauserte sich mit der erfolgreichen Zeichnungsaktion zum geschlossenen Immobilienfonds, der mit seiner GbR-Konstruktion den Gesellschaftern einen besonderen Vorteil bot: Als unbeschränkt persönlich haftende GbR-Gesellschafter konnten sie die auf ihren Anteil entfallende 50  %-ige Sonderabschreibung in vollem Umfange und unbeschränkt durch die Höhe der von ihnen geleisteten Einlage in Anspruch nehmen; sie waren insoweit nicht auf die Höhe ihrer Einlage beschränkt, wie dies etwa bei einer haftungsbeschränkten Beteiligung als Kommanditist der Fall gewesen wäre. – Als besonderes Bonbon kam hinzu, dass es gelang, den Bankkredit im Rahmen der Endfinanzierung so zu gestalten, dass ausschließlich das beliehene Objekt für den Kredit haftete und die Gesellschafter insoweit keinerlei persönliche Haftung traf.  – Die GbR-Konstellation ermöglichte also den unbeschränkten Steuervorteil, ohne mit einer persönlichen Haftung für die Kreditfinanzierung des Investments, aus der die Hauptverbindlichkeit der GbR herrührte, verbunden zu sein. Diese faktische Haftungsbeschränkung besteht auch nach zwei Umfinanzierungen bis heute.

X. Die Vermietung Und als ob die Zitterpartie bei der Vermarktung noch nicht genügend Nerven gekostet hätte, gab es gravierende Rückschläge auch bei der Vermietung – als dem zentralen Faktor, von dem die Wirtschaftlichkeit eines Projektes abhängt, an dem die Bank dessen Finanzierbarkeit misst und auf dem die Renditeerwartungen der Investoren aufbauen. Vor diesem Hintergrund planten wir die Vermietung so sorgfältig wie nur irgend möglich. Unser Konzept ging auf bei den Wohnungen. Dort gab es kaum Schwierigkeiten: 521

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Wolfram Wessely

Mit der Lage etwa 150m vom Zentrum der Stadt entfernt und der fußläufigen Erreichbarkeit aller Versorgungseinrichtungen des täglichen Bedarfs einerseits und der Anordnung der Wohnungen um den grünen Innenhof als kleine Oase der Ruhe mitten im geschäftigen Treiben der Innenstadt andererseits waren die Wohnungen ideal geeignet für die Seniorennutzung. Dementsprechend schnell fanden wir die Verbindung zum Diakonischen Werk in Freiberg als dem Hauptbetreiber von Senioreneinrichtungen in der Region. Trotz der guten Ausgangslage verliefen die Verhandlungen mit dem dortigen Vorstand allerdings recht zäh, weil er die Generalanmietung zwar wollte, jedoch zu dem Schlag von Leuten gehörte, die allem, was aus dem Westen kam, misstrauten und von der Furcht geplagt sind, von den „Wessis“ doch nur über den Tisch gezogen zu werden. Am Ende gelang aber doch der Abschluss des General-Mietvertrages für 34 Wohnungen, eine Begegnungsstätte und eine Einheit als Pflegebad. Bei der Generalvermietung hatten wir Erfolg, und auch die weiteren einzeln zu vermietenden Wohnungen konnten zügig im Markt untergebracht werden. Seit der Inbetriebnahme der Wohnungen in 1998 und bis 2019 hat im Wohnungs­ bereich nahezu durchgehend Vollvermietung bestanden.  – Erst die Insolvenz von ­SolarWorld, die einen Hauptstandort nahe Freiberg unterhielt, und die einige Zeit später ausbrechende Corona-Krise haben im Sommer 2020 zu einer „Delle“ in der Vermietung geführt, die aller Voraussicht nach aber in überschaubarer Zeit wieder aufgeholt sein wird. Nicht im Plan entwickelte sich dagegen die Gewerbevermietung: Das Vermietungskonzept sah einen Getränkemarkt, ein Theatercafé, eine Bäckerei, ein Möbelgeschäft und Dienstleistungsunternehmen in den Erdgeschossen vor. Dieses Konzept war plausibel, schlug jedoch in seiner Umsetzung weitgehend fehl: Der Getränkemarktbetreiber brach seinen Vertrag, weil ihm in letzter Minute einfiel, dass es vor der anzumietenden Einheit nur wenige Parkplätze gab; der Bäcker war ebenfalls nicht vertragstreu – vermutlich, weil er erkannte, dass rundum Bäckereien wie Pilze aus dem Boden schossen, und für das Theatercafé fand sich kein Betreiber, weil wir hier wie auch bei anderen Projekten erkennen mussten, dass die „Kneipenkultur“ jedenfalls in Sachsen geringer ausgeprägt ist, als wir dies mit unserer „Westerfahrung“ eingeschätzt hatten. Das Möbelgeschäft mietete zwar ein, ging aber nach zwei Jahren pleite – und die Ersatzmieterin für den Getränkemarkt erwies sich als eine besonders hartnäckige Mietnomadin. Vom ursprünglichen Vermietungskonzept blieb also nur wenig übrig und das gesamte Projekt geriet wegen der wegbrechenden Gewerbe-Mieteinnahmen bedenklich ins Wanken. 522

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Eine Projektentwicklung als Abenteuerreise

In der Wirtschaftslage des Investments gab es damit eine lange Durststrecke, die erst vor etwa fünf Jahren endgültig überwunden werden konnte. – Erst nach dieser Pro­ blemphase und vielem Unmut der Gesellschafter wegen fehlender Ausschüttungen konnte alles geradegestellt und neben der erfolgreichen Wohnungsvermietung auch die Gewerbevermietung nachhaltig stabilisiert werden: Statt eines Theatercafés gibt es heute eine große Physiotherapie, statt des Möbelgeschäfts eine Personalagentur. Zum neuen Mieterbesatz gehört eine gut etablierte Versicherungsagentur und als Paradepferd an der prominentesten Ecke des Gebäude­ ensembles, die mit der besagten Mietnomadin viele Kopfschmerzen bereitet hatte, eine moderne und große Zahnarztpraxis über zwei Etagen mit eigenem Aufzug, in der drei Ärztinnen tätig sind – also eine Vermietung, wie man sie sich kaum besser wünschen kann. Ganz maßgeblich ist dieser Turn-around das Verdienst einer exzellenten Hausverwaltung, einer der größten in Dresden, die ich 2007 engagieren konnte.

XI. Das Ende des Abenteuers Heute hat das Investment sein 20-jähriges Jubiläum hinter sich. Die Vermietungslage ist bis auf die vorgenannte „Delle“ in allen Bereichen stabil und auf dem Weg zur Rückkehr zur Vollvermietung der Vorjahre. Es werden laufende Ausschüttungen erwirtschaftet  – und die Eigenkapitalrendite liegt zwischen 5 und 6 %. Die heutigen Gesellschafter – noch neun an der Zahl, nachdem 2018 ein Großteil der Mitgesellschafter gegen Abfindung ausgeschieden ist – betrachten ihr Investment als eine langfristige und lohnende Vermögensanlage.

XII. Epilog Damit hat eine Abenteuerreise nach manchen Blessuren ein gutes Ende gefunden. Vieles hat sich anders entwickelt, als zu Beginn geplant – aber darin liegt ja wohl das Wesen eines Abenteuers. Allerdings gäbe es das Investment „Theaterviertel Freiberg GbR“ nicht in seiner heutigen Form, wenn der Jubilar nicht noch bis ins vergangene Jahr hieran tatkräftig mitgewirkt und dem sehr ausgetüftelten Gesellschaftsvertrag als „Mutter aller Regelungen“ für das „Leben des Immobilienfonds“ seine endgültige Gestalt gegeben hätte. Auch im heutigen ruhigen Fahrwasser soll nicht vergessen werden, dass das gesamte Projekt in seinem Entstehen manches Mal dem Abgrund nahe kam und es mehr als ein Trost war, im Drange der Ereignisse auf die Hilfe meines treuen Freundes als 523

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Wolfram Wessely

Konstante bauen zu können – und das im Übrigen nicht nur beim „Theaterviertel“, sondern bei noch mancher weiterer Unternehmung, bei der es ähnlich hoch herging. Ich schreibe diesen Bericht daher als Hommage an meinen Freund. – Ich schreibe ihn als Anerkennung für eine Ausnahmepersönlichkeit, einen Ausnahmejuristen, und einen Ausnahmefreund.

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Harm Peter Westermann

Recht und Ethos in der (künftigen) rechtsfähigen „Freiberufler-Personengesellschaft“ Inhaltsübersicht I. Entwicklung der Fragestellung II. Struktur und Systematik des Rechts der zukünftigen Freiberufler-Personengesellschaften

III. Unternehmensführung und Ethik in der Freiberufler-Gesellschaft

I. Entwicklung der Fragestellung Wer sich anschickt, von der „Entwicklung“ seiner konkreten Fragestellung zu sprechen, muss sich darauf einrichten, dass auf den ersten Blick diese Fragestellung schlaglichtartig, jedenfalls kurz, angesprochen werden muss, damit einem Leser der Überschrift klar wird, dass es hier eine Entwicklung – und zwar auch welche, vielleicht sogar in einigen Phasen – geben kann oder schon gegeben hat. 1.  Nun hat bekanntlich die Personengesellschaft im deutschen Recht seit einiger Zeit eine so grundsätzliche, tiefgreifende, aber gleichwohl stürmische Entwicklung durchgemacht,1 dass der vor kurzem veröffentlichte, ausführlich und eingehend begrün­ dete Gesetzesentwurf einer vom zuständigen Ministerium einberufenen Expertenkommission2 nach verhältnismäßig und  – erfreulich  – kurzer Zeit von einem ministeriellen RefE mit eben derselben Gründlichkeit aufgegriffen worden ist, nunmehr gedruckt vorliegt3 und zum großen Teil am 1.1.2023 in Kraft treten soll. Bei einem so umfang­reichen und eine fast unübersehbare Fülle von weit auseinanderliegenden Gesetzen betreffenden Vorhaben könnte die Konzentration einer Betrachtung auf einen einzelnen, wenn auch sicher wichtigen, Gesellschaftstyp wie die Freiberufler-Personengesellschaft die Fragestellung stark, wohl schon zu sehr verengen, dies schon, wenn man weiß, welch ungeheurer gedanklicher Aufwand auf die seit langem schwebende Diskussion um die eigene Rechtsfähigkeit der Personengesellschaften 1 Übersicht bei Habersack, ZGR 2020, 539 ff.; K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 716 ff.; Schäfer in Habersack/Schäfer (Hrsg.), Das Recht der OHG, 2. Aufl. 2018, § 105; H. P. Westermann, NZG 2017, 921 ff. 2 Sog. Mauracher Entwurf, dazu H. P. Westermann, DZWiR 2020, 321; DAV, NZG 2020, 1133; Altmeppen, NZG 2020, 822; Schall, ZIP 2020, 1443; Bachmann, NZG 2020, 612 ff.; Noack, NZG 2020, 581 ff.; Otte/Gräbener, BB 2020, 12, 25 ff.; zul. Punte/Klemens/Sambulski, ZIP 2020, 1230. 3 Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (MoPeG), 149 Artikel; auf 112 Druckseiten bis einschließlich S.  357 wird eine Begründung gegeben; zu diesem Entwurf bereits ausführlich Wertenbruch, GmbHR 2021, 1 ff.

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Harm Peter Westermann

und hier gerade der nicht handelsgewerblich tätigen aufgewendet worden ist, und welche praktischen, rechtlich wie wirtschaftlich weiten Perspektiven mit der Ordnung der Freiberufler-Gesellschaften auftreten. Dennoch erscheint ein von den grundsätzlichen Ausgangspunkten ausgehender und dann das im Entstehen begriffene Gesamtsystem betrachtender Beurteilungsansatz nicht aussichtslos, wenn man nämlich als Leser des gesamten RefE festgestellt hat, dass im ganzen Text ziemlich pauschal und fortlaufend nach der einleitenden Formulierung der Rechtsfähigkeit der Gesellschaft in §  705 Abs.  2 BGB RefE von der „rechtsfähigen Personengesellschaft“ gesprochen wird, die einen Leitbildwandel im Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts ausgelöst habe, mit dessen Umsetzung die Modernisierung des gesamten Normenkomplexes erreicht werden sollte.4 Wer die Entwicklung des Rechts der GbR in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, also nicht nur ein solcher Jurist, der schon in seinen Anfängen als wissenschaftlicher Autor vom „Schuldmodell“ der Gesellschaft geschrieben hat,5 ist sich sicherlich darüber im Klaren, dass die eigene Rechtsfähigkeit der Gesellschaft neben derjenigen der ­Gesellschafter hier den Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung ausmacht, aber im Hinblick auf die Verhältnisse von handelsgewerblicher und einfach-erwerbswirtschaftlicher Zielsetzung, auch von Publizität und Registrierung, von institutioneller und stillschweigend vereinbarter Haftungsbeschränkung, schließlich von klein- und großgewerblicher sowie freiberuflicher und land- und forstwirtschaftlicher Zielsetzung eine große Zahl von Differenzierungen im Rahmen einer weitgespannten Konzeption in sich aufzunehmen hat. Natürlich kann man die Floskel von der eigenen Rechtsfähigkeit der Personengesellschaft auch vor diesem Hintergrund gewissermaßen als Lippenbekenntnis vor sich hertragen, obwohl man sich hüten muss, den Eindruck großer Vereinfachung zu erwecken, was eine wesentliche Attacke aus der Wissenschaft auslösen könnte;6 aber man muss auch sehen, dass „Modernisierung“ nicht schon mit dem Bekenntnis zur Rechtsfähigkeit (und der Verabschiedung der Gesamthandlehre) erreicht wird, sondern nur durch Offenlegung der theoretischen und praktischen Folgeprobleme und deren Lösungsansätzen im neuen „Leitbild“. Das gilt dann auch und gerade für die nicht nur als Reform, sondern doch schon als fast revolutionäre Neuerung anzuerkennende Einführung der freiberuflich-erwerbswirtschaftlichen GbR des Handels- und des bürgerlichen Rechts, also des HGB und des BGB, zu der sich der RefE unverhohlen bekennt, obwohl sie sich immer noch mit beträchtlichen Hindernissen auseinandersetzen muss. 2.  Als wenn diese Sichtweise noch nicht genügend „festschriftreife“ Aspekte aufzeigte, sollte derjenige, der sich auf Zukunftsfragen des Gesellschaftsrechts einzulassen vorhat, keine Zweifel daran lassen, dass in der Rechtswissenschaft, damit in Forschung und Lehre sowie auch in der Praxis bzgl. der fallbezogenen Literatur, seit einiger Zeit der Umgang mit ethisch-moralischen Werten als Handlungsmaßstäben für unternehmerisches Tun, damit aber auch als Zielvorgabe und Beurteilungskriterium im Gesellschafterkreis, eine große und offenbar zunehmende Bedeutung erhal4 So wörtlich in Abs. 2 Nr. 2 (S. 120) der Begründung. 5 So unser Jubilar in seiner vom Verfasser betreuten Dissertation aus dem Jahre 1980. 6 Vgl. etwa Altmeppen, NZG 2020, 822; Schall, ZIP 2020, 1443.

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ten hat,7 die so groß zu sein scheint, dass die etablierten ökonomischen Wertmaßstäbe zurückzutreten scheinen. Um hierzu ein Bild vermitteln zu können – es überhaupt erst zu gewinnen –, ist eine Differenzierung nach einer praktisch nützlichen Neuregelung der in Gesellschaftsform verfolgten Unternehmensgegenstände wohl sinnvoll, was es dann rechtfertigen mag, im begrenzten Rahmen eines Einzel-Aufsatzes das Augenmerk auf einen verbreiteten Gesellschaftstyp, nämlich die Freiberufler-Gesellschaft, zu richten. Dies fügt sich in weitere Entwicklungen des Privatrechts ein, nämlich in die Frage nach der normativen Kraft ethischer Leitlinien für den Umgang mit künstlicher Intelligenz, die jüngst mit Blick auf Empfehlungen und Leitlinien der OECD und der Europäischen Kommission aufgetreten ist, und auf die hier wenigstens am Rande als Beispiel für einen unterschiedlich qualifizierten, aber doch beachtlichen Trend hingewiesen werden kann.8

II. Struktur und Systematik des Rechts der zukünftigen FreiberuflerPersonengesellschaften 1.  Der etwas begrenzte Umfang eines Festschriftbeitrages lässt es nicht zu, den ausführlich begründeten Referentenentwurf eines deutschen Fachministeriums kurz zu referieren; vertretbar erscheint aber eine Beschränkung auf die auch vor und im Mauracher Entwurf im Vordergrund stehenden Aspekte, die so ausformuliert werden könnten, dass aus ihnen Lösungen zu Teil-Problemen geschlossen werden können. Das ist hier im Wesentlichen der Unterschied von gewerblichen und nicht gewerblichen, aber doch auch erwerbswirtschaftlichen Gesellschaftstypen,9 die sämtlich, wenn sie sich an den Rechtsverkehr wenden sollen, hierdurch und nicht erst durch die dafür nicht zwingend vorgeschriebene Registereintragung eigene Rechtsfähigkeit erwerben können. Die durch § 105 Abs. 1 HGB zwingend dem Handelsrecht zugeordnete „Gesellschaft, deren Zweck auf den Betrieb eines Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma gerichtet ist“, ändert nichts an dem Prinzip, dass in den Gesetzen weiterhin zwischen kaufmännischer und nicht kaufmännischer Personengesellschaft unterschieden wird, weil es (u.a.) darum ging „das Recht der Personengesellschaften im bestehenden System zu konsolidieren“ und dabei ohne Rechtsunsicherheiten die GbR für den Rechtsverkehr, also für die Verfolgung erwerbswirtschaftlicher Zwecke ebenso wie für Vermögensverwaltung, verfügbar zu machen. Der Entwurf vertraut an dieser Stelle darauf, dass „die Unterscheidung von kaufmännischer und nicht kaufmännischer Personengesellschaft aufrechterhalten bleibt“, auch durch das weitere zentrale Bekenntnis zur Notwendigkeit eines schuldrechtlichen Gesellschaftsvertrags, wobei aber diese Rechtsform sich „zum Betrieb“ eines Unternehmens durch Angehörige freier Berufe sowie Kleingewerbetreibende und für das Halten und Verwalten z.B. von Immobilien eignet. Weiter sieht der Entwurf es nicht mehr als begründbar an, „an die Rechtsfähigkeit einer GbR höhere Anforderungen zu stellen als der gel7 Früherer Versuch bei Wiedemann, ZGR 1980, 147; H. P. Westermann, FS Stilz, 2014, S. 689; ­vorher Hopt, ZGR 1993, 554 ff.; Schreyögg, AG 2009, 758 ff. 8 Zum Letzteren vor kurzem Möslein, Recht-Digital 2020, 34 ff. 9 Hierzu und zum Folgenden die Begründung des RefE, S. 120.

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tende § 105 Abs. 2 HGB an die offene Handelsgesellschaft“, was am Ende bedeuten würde, „den klassischen Kaufmannsbegriff zugunsten eines in seinen Konturen unklaren Unternehmensbegriffs aufzugeben“, was gerade nicht gewollt ist. Wer dies noch vor fünf Jahren gesagt oder geschrieben haben würde, hätte selbst in der Diskussion zur Modernisierung der Personengesellschaft keinen leichten Stand gehabt, obwohl er sich jedenfalls die Auseinandersetzung um den Unternehmens­ begriff und die Frage erspart haben würde, ob eine freiberufliche Praxis ein „Unternehmen“ im Sinne einer Pflicht zur Registrierung im Handelsregister und zur Einführung und Beachtung kaufmännischer Buchführung darstellt.10 Aber auch jetzt erscheint es noch mutig, anzunehmen, dass die Trennung zwischen kaufmännischer und nicht kaufmännischer Personengesellschaft für die Ausübung freier Berufe durch die Gesellschafter (§ 107 Abs. 2 Satz 2 HGB E) einigermaßen leicht durchgehalten werden kann. Der Entwurf muss sich vor diesem Hintergrund natürlich auch mit dem zunächst zumindest in der Wirtschaft zögernd aufgenommenen, inzwischen beliebter gewordenen Konzept einer Partnerschaftsgesellschaft11 befassen, hat daher auch mit den bekannten Vorbehalten (nicht nur des Berufsrechts) gegenüber der „vollhaftungsbeschränkten Personengesellschaft für Anwälte und Anwältinnen“ zu rechnen,12 und es ist auch nicht sicher, dass es bei einer Zulassung nur der herkömmlichen Freien Berufe zu diesem Typus der nicht vollrechtsfähigen Personengesellschaft bleiben wird; man denke nur an eine – nicht nur theoretisch vorkommende – „Schutzgemeinschaft“ von Anlegern einer sog. Publikums-Personengesellschaft, von der fraglich sein kann, ob sie durch die bloße Einwerbung von vorhandenen Anleger-Gesellschaftern und ein gemeinsames Vorgehen gegen Mitgesellschafter oder den Komplementär schon im Sinne der Qualifizierung als zwingend rechtsfähige Außengesellschaft am Rechtsverkehr teilnimmt.13 Für die rechtsgrundsätzliche Fragestellung kommt es auf die Abgrenzung der Rechtsformen zur Ermittlung der zur Anwendung „ethischer Prinzipien“ bereiten Gesellschaftstypen vielleicht weniger an als auf eine klare Vorstellung von den einzelnen Lebenstypen. Insoweit dürften die auch in diesem Fragenkreis besonders erwähnten, berufsrechtlich ziemlich engherzig normierten rechts- und wirtschaftsberatenden Berufe und darunter vorwiegend die Anwaltschaft eine große Rolle spielen, neben der auch – bisher weniger erörtert, wenn auch zahlenmäßig herausragend – die Ärzte zu nennen sind, ein Seitenblick mag auch noch den Architekten gelten. Dass man hier unterscheiden sollte, hängt damit zusammen, dass im Einzelfall die Abgrenzung zwischen dem wirklich freiberuflichen und einem gewerblichen, wenn auch nicht

10 Auch dazu S. 120 der Begründung zum RefE. 11 Zu ihrer „Karriere“ zul. Lieder/Hoffmann, NZG 2020, 721  ff. Zu den Vorschlägen von K. Schmidt (ZHR 177 (2013), 712, 720), das Sondergesetz in § 128 HGB zu integrieren, zuletzt Habersack, ZGR 2020, 553. Rechtsvergleichende Hinweise zu der bedeutenden Wertschätzung haftungsbeschränkender Rechtsformen freiberuflicher Tätigkeit bei Henssler, FS Hommelhoff, 2012, S. 401 ff. 12 Auseinandersetzung hiermit auch schon bei H.P. Westermann, NZG 2019, 1 ff. 13 Der Jubilar wird dazu etwas sagen können.

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vollkaufmännischen Handeln (wie etwa bei Tanzschulen und Fortbildungsinstituten) nicht immer einfach sein wird. 2.  Für die Feststellung der Eignung der Personengesellschaften für freiberufliche Tätigkeiten (wie auch für unternehmerische Zielsetzungen) kommt natürlich der Rechtslage bezüglich der Haftung der Gesellschafter für Gesellschaftsverbindlichkeiten besonderes Gewicht zu. Diesen Aspekt als selbstverständlich gelöst hinzustellen, was de lege lata klar sein mag, muss immerhin noch mit einem (kleinen) Frage­ zeichen versehen werden angesichts der in den letzten Monaten aufgekommenen ­beachtlichen wissenschaftlichen Überlegungen zur Einführung einer Personenge­ sellschaft mit beschränkter Haftung.14 Die künftigen Freiberufler-Sozietäten in personengesellschaftsrechtlicher Form werden hierzu kaum als Denkmodell herhalten, wie schon die eigene Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft und die Folge zeigt, dass die begründeten Verbindlichkeiten zum Vermögen der Gesellschaft gehören (§ 712 BGB RefE), obgleich sonst auch eine rechtsfähige Gesellschaft nicht über ein Vermögen verfügen muss (§ 740 Abs. 1 BGB RefE), was auch zwingend dazu führt, dass für Gesellschaftsverbindlichkeiten die Gesellschafter unbeschränkt mit ihrem Privatvermögen haften müssen.15 Es finden sich keine Hinweise darauf, dass dies bei Freiberufler-Gesellschaften im Ausgangspunkt anders sein soll, obwohl wir ja unter der Geltung (noch) des BGB aF davon ausgegangen sind, dass etwa bei einer Anwalts­ sozietät gewöhnlich nur der einzelne, von einem Mandanten angesprochene Partner den Auftrag allein hat,16 was etwa bei einer Arztpraxis ebenso sein könnte, was dann aber für die „künftige“ Freiberufler-Sozietät noch einer etwas näheren Prüfung bedürfen wird. Nicht zu verkennen ist auch, dass die Haftungsregelung das Verhalten der Gesellschafter beim Eingehen von Gesellschaftsverbindlichkeiten beeinflussen wird, ­zumal nicht ganz klar ist, ob das Vorbild des § 8 Abs. 4 PartGG die kritischen Stimmen überzeugen wird. Daneben steht die im Entwurf auch betonte Möglichkeit, die sich ergibt, einer Überforderung der Gesellschafter durch Haftungsbeschränkungen entgegenzuwirken, die als „institutionell“ bezeichnet werden17 – auch dies ist ein Rechtsformproblem, dem möglicherweise als echtes Rechtsformelement die bisher für einige Berufe berufsrechtlich vorgesehene Pflicht zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung an die Seite treten wird.18 Abgesehen von den Rechtsfragen zum eigentlichen Versicherungsvertrag, die auch hier nicht vernachlässigt werden können, können sich eines Tages im Zusammenhang mit der Einbeziehung mehrerer, an sich selbständiger Partner in die Versicherung der Gesellschaft Anforderungen in Bezug auf Offenlegungspflichten und Erledigungsmöglichkeiten gegenüber einem Anspruchsteller ergeben, abgesehen von dem im wissenschaftlichen Schrifttum schon angesprochenen, hier noch aufzugreifenden Problem, ob wirklich die Versicherungspflicht ein fast übersteigliches Hindernis für eine „doppelstöckige“

14 Groß angelegt in einer Untersuchung von Röder, ZHR 2020, 457.  15 Begründung zum Referentenentwurf, S. 118. 16 Näher H. P. Westermann in Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, Vor § 705 BGB Rz. 31. 17 Begründung zum Referentenentwurf, S. 119, 126. 18 Auch hierzu die Begründung zum Referentenentwurf, S. 119, 126.

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Harm Peter Westermann

Freiberufler-Personengesellschaft, die ja möglicherweise auch kommen soll, bilden muss.19 Während hier ein Blick in die Zukunft schon ein wenig „rechtsformspezifisch“ aussehen dürfte, geht es bei den Haftungsfragen eher um Folgefragen aus der Art der gesellschaftlichen oder koordinierten privaten Aktivität. Nicht mehr – auch nur wesentlich – aus dem Innenverhältnis unter Berufsträgern ergeben müssen sich heute die allgemein zur Geschäftsführungstätigkeit gehörenden, für alle Beteiligten gleich wichtigen Compliance-Anforderungen und entsprechende Pflichten, die durch ethische Verhaltensmaßstäbe und Publizität anzuerkennen neuerdings an der Tagungsordnung ist, was aber in der Rechts- und Sozialpolitik so stark gefördert wird, dass ihre Einbeziehung in das von Recht und Ethos bestimmte Maßstäbe-System für Gesellschafter nicht mehr besonders anzukündigen, weil inzwischen wohl selbstverständlich, ist. Das kann aber auch zu Skepsis in Bezug auf die Entwicklung über die berufsrechtlichen Regelungen hinausgehender Ethik-Bestimmungen führen, obwohl natürlich nicht auszuschließen ist, dass es rechtsformspezifische Einschläge in den Ethik-Maßstäben gibt. 3.  Die Freiberufler-Gesellschaften, so sicher ihre Zulassung zu den personengesellschaftlichen Rechtsformen eine realistisch bevorstehende Modernisierung des geltenden Systems darstellt, bringen hierdurch nicht, was Vorbehalte begründen würde, bestehende Strukturen durcheinander, sondern könnten einen offenen Platz in der existierenden Ordnung einnehmen und in ihre Verfassung vorhandene – nur bisher anders lokalisierte – Rechtsformelemente einbauen. Über die in diesem Zusammenhang bereits erwähnte Haftungsverfassung hinaus muss man sehen, dass die Öffnung einiger diesbezüglicher Schranken des geltenden Rechts die Aussicht erschließt, die Stellung von beschränkt haftenden Gesellschaftern im System des Personengesellschaftsrechts, also etwa von Kommanditisten, im Rahmen einer freiberuflichen Zusammenarbeit möglich zu machen, was zu einem Nebeneinander – und damit einer Abgrenzungsnotwendigkeit  – von Partnerschaftstypen zwischen GmbH und KG führt. Dies ist auch ein Problem des RefE, der aber in diese Problematik zunächst mit der Bemerkung einstieg, dass § 8 Abs. 4 PartGG eine Haftungserleichterung nur für Schäden aus fehlerhafter Berufsausübung begründet,20 was durch die Berufshaftpflichtversicherung aufgefangen wird. Hierbei bleibt es aber nicht für einen an der Berufshaftung nicht teilnehmenden Partner, dem man, da er schließlich an den Erfolgen der Zusammenarbeit teilhaben wird, gewöhnlich schon einen Beitrag zu der Kapitalbildung und -erhaltung zumuten wird, der aber bei der Verfolgung des Gesellschaftszwecks etwas im Hintergrund bleibt. Dies wird womöglich keinen guten Eindruck auf die durch die Firmierung als handelsrechtlich oder hauptberuflich tä­ tige Kooperation angesprochene Öffentlichkeit machen, was zu der Überlegung zwingen könnte, ob nicht doch auch für die Freiberufler-Sozietät schon volle Betei­ ligungsmöglichkeiten für nicht oder nicht mehr aktiv tätige, aber dem Berufsstand 19 Dazu im Einzelnen Hospach/Brandel-Weiss, NZG 2017, 1321 ff.; zur steuerrechtlichen Anerkennung kürzlich BFH, GmbHR 2021, 27. 20 Begründung des Referentenentwurfs, S. 117.

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Recht und Ethos in der (künftigen) rechtsfähigen „Freiberufler-Personengesellschaft“

noch angehörige Partner mit einer (nur) kapitalmäßigen Beteiligung vorgesehen werden sollten. Aus der Sicht der anwaltlichen, besonders der unternehmensberatenden Praxis kann es sinnvoll erscheinen, im Rahmen „rein“ anwaltlicher Tätigkeit eine gemeinschaft­ liche Mandatsbearbeitung zugelassener Rechtsanwälte mit erfahrenen, möglichst durch wissenschaftliche Arbeit bekannt gewordenen Juristen, etwa mit einem hier als „of Counsel“ bezeichneten Hochschullehrer oder einem ehemaligen Richter zuzulassen, die nicht als Anwälte niedergelassen sind, aber mit denen in einem Rahmenvertrag eine mehr als nur für einen Einzelfall bestimmte Zusammenarbeit vereinbart und praktiziert wird, was dann auch beim Außenauftritt der Kanzlei deutlich gemacht wird. Solchen Gestaltungen steht nach der neueren Rechtsprechung §  59a Abs. 1 Satz 1 BRAO entgegen, was der Anwaltssenat des BGH außer mit dem Wortlaut des Gesetzes mit der Sicherung einer funktionsfähigen Rechtspflege begründete, nachdem vor kurzem eine Anwaltskammer die Zusammenarbeit eines Anwalts mit einem Professor als unzulässige gemeinsame Berufsausübung bezeichnet hatte.21 Man muss bei der Beurteilung natürlich sehen, dass der Beschränkung der Sozietätsfähigkeit auch solcher Berufsgruppen, die einer strafrechtlichen wie prozessual akzeptierten Verschwiegenheitspflicht unterliegen, verfassungsrechtlicher Rang zukommen soll.22 Folgerichtig sieht wohl auch der RefE in diesem Zusammenhang in den ­bundes-landesgesetzlichen Unterschieden bezüglich der Kombination der schwerpunktmäßig zu verfolgenden freiberuflichen Aktivitäten mit untergeordneten gewerblichen Tätigkeiten einen problematischen Punkt, was allerdings bei den Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, wenn deren Berufsrecht kein Hindernis bildet, die Mischung von Tätigkeiten erlaubt, eben nicht aber bei den Rechtsanwälten.23 Daraus können Hindernisse für die Einbeziehung nicht voll berufsangehöriger Personen einschließlich Familienangehöriger folgen, im Extremfall sogar eines durch eine namhafte Vermögensspritze verdienstlichen Verwandten, auch wenn dies nur seinen Kindern, Enkelkindern oder Neffen und Nichten den Einstieg in den Beruf ermöglichen sollte, der etwa bei einer Arztpraxis mit Röntgen und Radiologie sehr kostenträchtig sein kann. Was die Beteiligung gerade von Familienangehörigen anbelangt, so muss in einem dem diesbezüglich erfahrenen Jubilar gewidmeten Beitrag gewiss nicht auf die Schwierigkeiten hingewiesen werden, aus dem persönlich-familiären Bereich stammende Konflikte oder Spannungen aus dem Gesellschaftsverhältnis fernzuhalten und umgekehrt sachlich begründete Probleme um der Verwandtschaft oder der Schwägerschaft willen zu tolerieren; da Streitigkeiten in diesem Bereich häufig – aus der Perspektive des Gesellschaftsvertrags – an die Substanz gehen und damit den Bestand der Gesellschaft gefährden, wird überlegt werden müssen, ob die in diesem Zusammenhang hieraus resultierende und immer wieder aktuelle Bestim21 Zum Ganzen s. den Beschluss des BGH v. 22.7.2020 – AnwZ (Brfg) 3/20, NJW 2020, 3170 und die (zustimmende) Anmerkung von Korf, EWiR 2020, 751; vorherige Urteile bei BGH v. 29.1.2018 – AnwZ (Brfg) 32/17, ZIP 2018, 1600; AGH Celle v. 11.11.2019 – AGH 39/16 (I/13), DB 2020, 2068. 22 BVerfG v. 12.1.2016 – 1 BvL 6/13, BVerfGE 141, 82; zustimmend Prütting, EWiR 2016, 195. 23 Nachweise in der Begründung des Referentenentwurfs, S. 116 unter Nr. 4; zu den landesgesetzlichen Unterschieden des Berufsrechts krit. Wertenbruch, GmbHR 2021, 1, 6.

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mung der gesellschaftlichen Tätigkeiten und der Anforderungen an ihre Akteure praktisch unbefriedigende (um nicht zu sagen faule) Kompromisse zu verursachen droht, was natürlich bei einem starken familiären Band unter den Berufsgenossen weniger zu besorgen, aber darum nicht irrelevant ist. Die Gestaltungsfragen für den RefE zum Personengesellschaftsrecht gehen nicht durchweg so sehr in die Einzelheiten des gesellschaftlichen Innenverhältnisses, da wohl klar ist, dass Familiengesellschaften im freiberuflichen Bereich gesellschaftsrechtlich nicht zurückzutreten haben, anders womöglich im Erb- und Familienrecht, anders auch im Hinblick auf Individualrechte und Minderheitenschutz. Man wird also hinzunehmen haben, dass die in diesem Beitrag noch näher zu behandelnden ethischen Verhaltensanforderungen in diesem Bereich eigenständig sind; wiederum kann hier möglicherweise an die Einsichten des im Unternehmensbereich (auch: von Familiengesellschaften) erfahrenen Jubilars appelliert werden, wie sie übrigens auch in neueren Forderungen an die persönliche Beratung im Rahmen einer Unternehmensberatung24 wirksam zu werden scheinen.

III. Unternehmensführung und Ethik in der Freiberufler-Gesellschaft 1.  Die vorstehende Zwischenüberschrift kann den Verfasser in den Verdacht überreizter Phantasie geraten lassen, z.T. hergeleitet aus der Information über das in ­manchen juristischen Fakultäten25 heute angebotene Zertifikationsstudium „RechtEthik-Wirtschaft“. Die jedenfalls in dem mir vorliegenden Papier „meiner“ Fakultät aufgeführten Angaben zu den Inhalten sind stichwortartig, vermitteln aber doch den einen oder anderen weiterführenden Einblick. So ist von einem „Grundlagenmodul“ zum Thema „Grundfragen der Ethik in Recht und Wirtschaft“ sowie zu „Public and Private Governments“ die Rede, während Modul II Leseeinheiten zu den Themen „Mächte und Zivilgesellschaft“ sowie „Geld und Verteilungsgerechtigkeit“ umfasst. Das ist allerdings neben dem volljuristischen Studium, das die Teilnehmer zu ab­ solvieren haben, und in dem sie den gewöhnlichen Anforderungen genügen müssen,  nach Möglichkeit zu beziehen und zu konzentrieren auf Ergänzungen und ­Einschränkungen privatautonomer und gewöhnlich auf ökonomische Risiko- und Chancenverteilung blickender Verhaltensanforderungen, schließlich vor dem Hintergrund einer gesamtwirtschaftlichen Ordnung,26 wobei wohl auch einzuräumen sein wird, dass es mit etwa gleichem Gewicht regelmäßig um die individualrechtliche Ausgewogenheit und Zumutbarkeit der Kräfteverteilung im Innenverhältnis von Partnern gehen wird, andererseits – und mit ziemlich demselben Gewicht – um den Schutz des Rechtsverkehrs und der in ihm wirkenden Außenstehenden vor Verlusten und Enttäuschungen ihres Vertrauens. Die Maßgeblichkeit derartiger Kriterien wird 24 Kürzlich zum „Mandat“ in einer Familiengesellschaft H. P. Westermann, FS Krieger, 2020, S. 1087 ff. 25 Etwa in Tübingen, sogar unter der – von der Fakultät vorgeschlagenen – Mitwirkung des Verfassers; ausführlicher Studienleitfaden in der Version vom 28.9.2018. 26 Erste zaghafte Ansätze in diese Richtung bei H. P. Westermann, FS Stilz, 2014, S. 689 ff.

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auch jeder Gesellschafter einer Freiberufler-Gesellschaft akzeptieren, ihre Bedeutung und Tragweite außerhalb positiv bestehender Regelungen einschließlich der privatautonom gesetzten ist aber sicherlich in der juristischen Alltagspraxis ein ständiges Thema, das – um eine Prognose zu wagen – nicht nur die erwähnten Zertifikatsstudierenden (und ihre Lehrer) wird beschäftigen müssen, sondern alle verwandten wirtschaftsnahen Rechtsmaterien mit einiger gesellschaftspolitischer Relevanz. In einem Gespräch mit den hier angesprochenen Studenten der Rechtswissenschaft wird man sich nicht allzu schwer tun mit einem einleitenden Hinweis, dass „Ethik“ und „Anforderungen der Moral“ nicht theologisch formuliert oder hergeleitet sein müssen, aber dass ihnen doch ein Gewicht zukommen kann, das Korrekturen einfach-gesetzlicher Regeln erlauben oder – was wichtiger sein sollte – gesetzliche Generalklauseln ausfüllen kann. Nach der soeben befürchteten überreizten Sichtweise kann man nach allem die Frage an den Anfang stellen, ob bei den Freiberufler-Sozietäten ein genereller Gegensatz (dessen Ausgleichung dann das Ziel wäre) schon bestehen kann zwischen den üblichen vollen (außerhalb eines bloßen Ausschüttungsinteresses stehenden) Wünschen und einer „ethischen“ Sicherung im Rahmen des Berufsrechts. Das betrifft nicht so sehr die Ratschläge und die Vertretungsmaßnahmen für die Mandanten, sondern das Innenverhältnis unter den Partnern, wiewohl im ersteren Bereich auch hier dem öffentlichen Eindruck entgegengewirkt werden sollte, dass etwa menschenrechtsverletzendes Verhalten eines (unternehmerisch tätigen) Mandanten durch Gestaltung seiner Bezugsverträge oder Lieferbeziehungen verdeckt oder sogar unterstützt werden soll, ohne dass es für die aus dem Handelsrecht mittlerweile sattsam bekannten Berichtspflichten gegenüber der Öffentlichkeit27 hier schon eine Grundlage gäbe. Anders mag es sich auch in diesem Punkt mit gesellschaftsrechtlichen Regeln für die Sozietät oder Praxis verhalten, wobei man mit Kriterien operieren muss wie Individualschutz, besonders Schutz der Entscheidungsfreiheit bezüglich des Inhalts der Mitgliedschaft, der Haftungsrisiken, der Verhinderung einer zu starken Bindung des Gesellschafters an die Gesellschaft, alles Gesichtspunkte also, mit denen man bei Anwendung des Maßstabs des „Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden“ im Verhältnis unter Rechtsanwälten, die von Berufs wegen ja gerecht zu denken gewohnt sein sollten, einigermaßen sollte zurechtkommen können. 2.  Dies zeigt sich in einem Beitrag eines Juristen für einen anderen Juristen noch leicht, dasselbe dürfte für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer gelten. Zusätzliche Überlegungen müssen aber für die Verhältnisse in Arztpraxen angestellt werden, die z.T. auch als „Zentren“ für bestimmte Teile und Disziplinen des Lebenskomplexes firmieren, etwa Radiologie oder Sportmedizin, und bei denen Einflüsse nicht-medizinischer oder -rechtlicher Normen und Richtigkeitsvorstellungen denkbar sind. Nun wissen wir, dass der RefE von der gesetzlichen Geschäftsführungsverteilung für die bürgerlich-rechtlichen und die handelsrechtlichen Personengesellschaften nicht abzuweichen gedenkt, was dann auch für die Geschäftsführungsverteilung in einer Arztpraxis gilt, so dass einem den Patienten allein behandelnden Partner allenfalls in 27 Auch dazu näher H. P. Westermann, FS Stilz, 2014, S. 689 ff. m.w.N. zu § 289 HGB.

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Grenzen vorgeschrieben werden darf, welche Methoden, Medikamente, Tests und Therapien er anwendet.28 Das kann natürlich auch ökonomische Gründe und Be­ strebungen hinter sich haben, vorstellbar ist vielleicht auch eine Einwirkung von – etwas vergröbernd  – als „ethisch“ bezeichneten Anschauungen und Überzeugungen,  die angesichts der verbreiteten Qualifikation des Respekts vor Rechtsnormen (einschließlich autonomer Vereinbarungen) als Einhaltung eines „ethischen Minimums“29 im Aufwand zwar hinter der reinen Gesetzestreue zurückbleiben können, deren Beachtung aber Reputation und gerade bei Freiberuflern auch Chancen bei der Mandantschaft versprechen kann, sodass ein Ausstieg aus diesbezüglichem Verhalten als „unethisch“ abqualifiziert werden könnte. Beispiele (vorgestellt): Die leitenden Partner einer Anwaltssozietät (vielleicht auch: LLP), die schwerpunktmäßig Asylbewerber betreut, geben die Devise an die über die Annahme von Mandaten Entscheidenden heraus, dass künftig keine Muslime in derartigen Sachen vertreten werden, so wenig wie auf das Tragen eines Kopftuchs am Arbeitsplatz in Anspruch genommene Mitarbeiterinnen der öffentlichen Hand im Inland, wohl aber die jeweilige Gegenseite. Ein im Bereich der internationalen Sportverbände tätiges Anwaltsbüro verlautbart einen Entschluss, künftig nur afro-amerikanischen Sportlern gegen Angriffe von Verbandsseite wegen Dopings helfen zu wollen, nicht aber den zu Recht verdächtigten Repräsentanten der SU oder ebenfalls volksdemokratischer Gesellschaften. Rein gesellschaftsrechtlich gesehen mögen solche Beschlüsse die – an sich selbständig geschäftsführungsbefugten – Partner binden; können diese sich dagegen auf ethische Prinzipien berufen? In einer Arztpraxis schickt sich die Gesellschaftermehrheit oder der mit Prärogativen in der Unternehmenszielbestimmung ausgestattete Senior-Partner an, Schwangerschaftsunterbrechungen auszuschließen und Empfängnisverhütung auf Patientinnen eines bestimmten religiösen Bekenntnisses zu beschränken.30 Wie vorher ausgeführt, kann man menschenrechtsgerechtes Verhalten zum Ethos rechnen, die Fälle zeigen, dass die Einhaltung oder Überwindung derartiger ethischer Verhaltensmaßstäbe auch wirtschaftliche Perspektiven eröffnen kann. Das gilt dann auch im praktisch für die freiberufliche Beratung in Rechts- und Wirtschafts-

28 Zu Kollisionen in der Geschäftsführung bei einer vertraglichen Kompetenzaufteilung oder bei einem Informationssystem allgemein H. P. Westermann in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Rz. I 256. 29 Diese verbreitet angenommene Rangordnung unter den menschliches Verhalten regelnden Normen und Richtigkeitsanschauungen ist heute nicht mehr als ein Einstieg in die Problematik, siehe dazu das ZRP-Rechtsgespräch zwischen Kress und Gerhardt zum Thema „Grenzlinien zwischen Recht und Ethik“ in ZRP 212, 28. 30 Hier eingreifende Beschränkungen können einen ziemlich weiten Mandantenkreis, nämlich „Dritte“ i.S. eines Vertrags mit Drittwirkung, von der Beratung fernhalten, s. dazu den bei H. P. Westermann, FS Adomeit, 2008, S. 827 ff. erörterten Fall einer fehlgeschlagenen Antikonzeptionsberatung.

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fragen viel beachteten Nachfolgeregelungen in der Unternehmensführung oder Gesellschafterstellung: Wäre es eine zu respektierende Richtlinie, dass bei der – ohnehin schwierigen – Beratung mehrerer oder aller Mitglieder einer Familiengesellschaft Fragen (auch streitige) der „Unternehmensführung“31 nur von fachlich qualifizierten, aber darüber hinaus mit einem englischen oder US-amerikanischen degree ausgezeichneten Familienmitgliedern sollen bearbeitet werden können? Wie, wenn ein großes Architektenbüro für eine von ihm entworfene und während des Baus (im Ausland) betreute große Anlage vom Bauherrn verlangt, dass die hierbei benötigte große Zahl von ortsansässigen Hilfsarbeitern nicht gewerkschaftlich oder durch einen Betriebsrat vertreten oder organisiert wird? Um noch einmal auf das Innenverhältnis einer Gesellschaft zurückzukommen, so sieht sich gerade bei fachlich qualifizierter Art der Tätigkeit, wie sie in einer Freiberufler-Sozietät gewöhnlich gebraucht wird, ein älterer Partner, der nicht mehr voll arbeitsfähig ist, bisweilen vor das Ansinnen gestellt, sich zumindest von der vorderen Front zurückzuziehen, was wegen der daraus folgenden Einkommenseinbußen ein Versorgungsproblem aufwerfen kann, das nicht immer schon dadurch aufgefangen wird, dass andere beteiligte Familienmitglieder – etwa Sohn oder Tochter – ein wenig profitieren. Wenn es hierzu keine vorausschauende Vertragsregelung gibt, stellt sich wieder die Frage, ob Anstand oder Partizipationsgerechtigkeit, also eben doch Ethik, eine spezielle Lösung zu finden helfen, aber ohne auf die bei den Freiberuflern – wie besprochen – nicht immer mögliche rein kapitalmäßige Beteiligung zurückgreifen zu müssen. Demgegenüber lässt sich der bloß subjektive Kummer um den beruflichen Rückzug vielleicht durch eine repräsentative Stellung in Verbänden oder Instituten ausgleichen, wenn dies nicht – was auch wieder auf einen Ethik-Verstoß hinausliefe – auf reinen Lobbyismus beschränkt ist. 3.  Die Art der Einwirkung ethischer oder auch nur von Anstandsprinzipien auf die Bewältigung von Rechtsproblemen dürfte ganz unterschiedlich sein, eine Systematisierung oder auch nur feste Zuordnung von tatsächlichen Umständen bzw. subjektiven Begehrensvorstellungen zu über- oder zumindest nebengeordneten Richtigkeitswünschen erscheint schwierig, da alles sehr einzelfallbezogen ist und zu verlaufen pflegt. Insbesondere sind wir in den Beispielen nicht so weit, die Regelung des Innenverhältnisses der privatrechtlich verfassten Freiberufler-Gesellschaften sowie ihres Auftretens auf einem – schon etwas speziellen – Markt durch einen Ethik-Kodex ergänzen zu können, vielleicht eher in Ansehung solcher spezieller Normenkomplexe, die es schwerpunktmäßig mit der Rechtsnachfolge im Todesfall zu tun haben, die auch menschliche Trauer- und Krisensituationen betreffen.32 Der Verfasser würde 31 Zu den hierbei auftretenden Problemen für den Berater mehrerer Familienmitglieder und womöglich sogar „der Gesellschaft“ H. P. Westermann, FS Krieger, 2020, 2087 ff. 32 Etwas näher in Anschauung der wichtigsten Einzelheiten kommt man einem solchen Ziel beim Umgang mit ethischen Ergänzungen (oder gar Korrekturen) von Äußerungen der Testierfreiheit eines seine Verhältnisse in einer Personengesellschaft gesellschaftsvertrag-

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sich geehrt fühlen und Freude empfinden, dieses und ähnliche spezielle Rechts-Szenarien mit praktisch erfahrenen Freiberuflern etwas breiter beleuchten und erörtern zu können, etwa als FS-Autor mit dem Jubilar, der vor Jahrzehnten zum „Schülerkreis“ gehört hat. Eine über die bloße Diskussion des vorliegenden Textes hinausgehende Randfrage würde dann in dem vom Jubilar ebenfalls akademisch betreuten Studienbetrieb einer juristischen Fakultät und hier im Rahmen eines oben erwähnten Zertifikatsstudiums „Recht-Ethik-Wirtschaft“ auftreten können. Hierbei Studenten der Rechtswissenschaft eine über bloßes „Hineinsehen“ hinausreichende Befassung mit „Recht und Ethos“ zu vermitteln, könnte die universitäre Lehre vielleicht etwas überfordern; dass ein anwaltlicher Praxisgründer und -leiter wie der Jubilar seine juristischen Partner wie auch ihm anvertraute Schwerpunkt-Studenten an diese Probleme erfolgreich heranbringt, dürfte realisierbar sein. Zu hoffen ist noch, dass für solche Diskussionen und Anstrengungen in der Lehre Zeit genug bleibt, da diese Probleme, die neben den allgemein-gesellschaftsrechtlichen stehen, spezielle, „rein“ rechtsdogmatische Fragen mit sich bringen, zum einen die schon seit längerem praxisnahe allgemeine Problematik der Zulassung der Grundtypenvermischung für Freiberufler-Gesellschaften,33 zum anderen die durch § 47 Abs. 2 GBO, § 899a BGB nur in einem Teilaspekt angefasste komplexe Rechtslage der GbR (was also auch bei einer Freiberufler-Gesellschaft praktisch werden kann) bei Grundstücksgeschäften.34 Die Kooperation von Ärzten oder Rechtsanwälten, die ein großes und vielschichtiges Praxis-Gebäude suchen und sich über Haftungsbeschränkungen für die Partner zumindest im „eigentlichen“ Geschäft Gedanken machen, wird solche Gedanken benötigen.

lich und letztwillig regelnden Gesellschafter-Erblassers, näher dazu H. P. Westermann, „Ethische und ökonomische Aspekte bei erbrechtlichen Geschäften“, ZfPW 2006, 85 ff. 33 Dazu hier nur H. P. Westermann, NZG 2019, 1 ff. 34 Hierzu zusammenfassend H. P. Westermann in Erman, BGB, 16.  Aufl. 2020, §  705 BGB Rz. 72; die Dinge werden aber durch den soeben publizierten RefE zum MoPeG, der § 899a BGB aufzuheben vorschlägt, eine Wendung erfahren.

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Familienunternehmen in der Krise „Hilfe durch eine unbekannte Größe, die Genossenschaft?“ Inhaltsübersicht Vorwort I. Einstieg 1. Klarstellung 2. Musterfirma 3. Unternehmenskrise II. Analyse III. Sanierungskonzept als Entscheidungsgrundlage für die Neukonzeption 1. Leitbild 2. Sanierungsmaßnahmen IV. Umwandlung in eine Genossenschaft als Lösungsweg 1. Was sollte man über Genossenschaften wissen? a) Der genossenschaftliche Verbund b) Rechtsgrundlage und Wesen der ­Genossenschaft

2. Kritik an der Rechtsform der Genossenschaften im Falle des Eintretens einer Unternehmenskrise V. Umsetzung der Neukonzeption (von der GmbH zur eingetragenen Genossenschaft) 1. Zulässigkeit der Umwandlung einer GmbH in eine Genossenschaft? 2. Die Satzung a) Förderauftrag b) Mitgliederstruktur c) Erwerb der Mitgliedschaft d) Eigenkapital e) Beendigung der Mitgliedschaft f) Auseinandersetzung nach dem ­Ausscheiden 3. Die Aufsicht und deren Qualität 4. Beschaffung von Finanzierungsmitteln VI. Fazit

Vorwort Unabhängig von der Unternehmensform sind durch die Auswirkungen der COVID19-Pandemie viele Unternehmen bereits in erhebliche Schwierigkeiten geraten oder werden (extrem) schwierige Situationen zu meistern haben. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen dieses plötzlich von außen  – auch auf Familienunternehmen  – mit dieser Dynamik hereinbrechenden Ereignisses konnte sicherlich in dieser Form niemand vorhersehen. Die meisten der heutigen Unternehmensleitungen und Entscheidungsträger haben bisher niemals vorher so etwas erlebt und verfügen daher auch nicht über ausreichende Erfahrungen im Umgang mit Krisen. Man kann sicherlich unterstellen, dass ohne Eingreifen des Staates viele dieser Unternehmen nicht überleben würden. Diese Sondersituation sollte allerdings nicht dazu führen, dass der Staat in der Pflicht gesehen wird, über die jetzt sicherlich sinnvolle und notwendige Hilfe hinaus eine „allgemeine Lebensversicherung“ für Unternehmen auszusprechen. Auch ohne Be537

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lastung durch die COVID-19-Pandemie hätten einige Unternehmen keine oder nur eine sehr geringe Überlebenschance. Schließlich waren und sind – auch schon vor COVID-19 – nicht alle Unternehmen gut aufgestellt und auf „sie treffende Krisen­ situationen“ vorbereitet. Diese Feststellungen sollen keine Verharmlosung der derzeitigen Belastung der Wirtschaft und der einzelnen Unternehmen oder eine Kritik an der Hilfe durch den Staat sein. Vielmehr ist dies nur ein Besinnen darauf, dass es Unternehmenskrisen für alle Unternehmenstypen und in unterschiedlicher Ausprägung schon immer gegeben hat. Die Zuhilfenahme dieser „Krisenhistorie“ hat den Vorteil, dass neben der jetzt von allen Interessenvertretungen geforderten staatlichen Hilfe bereits in der Vergangenheit erfolgreich auch andere Restrukturierungs- und Sanierungsmöglichkeiten und -maßnahmen entwickelt worden sind. Hiermit und nicht mit der Sondersituation „COVID-19“ beschäftigt sich dieser Ar­ tikel. Auch geht es hier nicht um die in der Praxis üblicherweise angewandten Sanierungsmaßnahmen, sondern um ergänzende Maßnahmen, die vielleicht noch nicht allgemein bekannt sind. Es geht um die Betrachtung der Möglichkeiten, die die Rechtsform der Genossenschaft  – ein durchaus weitgehend unbekannter „Riese“  – beim Auftreten von Problemen, Krisenanzeichen oder in der Krise selbst insbesondere für Familienunternehmen bietet. Selbstverständlich können und sollen die dargestellten Möglichkeiten der Genossenschaft die klassischen Sanierungsmaßnahmen und Instrumente nicht ersetzen. Sie können auch nicht in allen Fällen und allen Krisensituationen eines Unternehmens eingesetzt werden. Allerdings verbreitern sie den Handlungsspielraum bei der Lösung von Problemen bzw. der Behebung von Krisen und bieten teilweise sinnvolle Alternativen.

I. Einstieg Am Beispiel der Rodzina GmbH, einem in die Krise geratenen Familienunternehmen, wird nachfolgend erläutert, wie die Möglichkeiten des „genossenschaftlichen Weges“ aussehen könnten. 1. Klarstellung Dazu sind zunächst einige Klarstellungen notwendig: Zwar ist der Begriff „Familienunternehmen“ weit verbreitet. Dennoch gibt es trotz zahlreicher Versuche in der Literatur1 bislang keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs: „Familienunternehmen“. 1 Eggersberger, Bewältigung der Unternehmenskrise im Turnaround, 2020. 

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Familienunternehmen in der Krise

Grundsätzlich wird von einem Familienunternehmen immer dann gesprochen, wenn – sich ein Unternehmen ganz oder teilweise im Eigentum einer Familie oder mehrerer Familien bzw. Familienverbände befindet, – die Eigentümerfamilien aus einer unternehmerischen Verantwortung heraus die Entwicklung des Unternehmens maßgeblich bestimmen, – diese Verantwortung entweder aus einer Führungs- oder Aufsichtsfunktion bzw. aus beiden Funktionen parallel heraus wahrgenommen wird, – wenn die Familie plant, das Unternehmen in die nächste Familiengeneration weiterzugeben.2 2. Musterfirma Bei der hier herangezogenen Firma Rodzina, die um 1900 von Otto Rodzina als Einzelunternehmen gegründet wurde und heute in der Rechtsform der GmbH geführt wird, kann man zumindest bislang sicherlich von einem Familienunternehmen sprechen, zumal die Firma bisher immer im Eigentum der Familie Rodzina stand. Die derzeitige Geschäftsführung liegt bei Franz Rodzina (68 Jahre alt). Die Geschäftsanteile liegen zu je einem Drittel bei ihm und seinen zwei Schwestern (65 und 62 Jahre alt). Alle drei haben Kinder, die – wie die Schwestern – nicht im Unternehmen arbeiten und auch kein Interesse daran haben, in die Führung des Unternehmens einzutreten. In der Vergangenheit kam es unter den Geschwistern immer wieder zu Diskussionen u.a. über mögliche Nachfolgeregelungen in der Geschäftsführung. Eine interne Übertragung der Geschäftsführung ist – aus unterschiedlichsten Gründen – aus dem Familienkreis heraus nicht darstellbar. Bisher sprechen sich allerdings alle Familienmitglieder gegen einen Verkauf des Unternehmens aus. Gleichwohl soll die Zukunft des Unternehmens für die Familie gesichert werden. Rodzina ist als Zulieferer für die Automobilindustrie tätig, produziert in Deutschland, China und Mexiko und genießt einen hervorragenden Ruf am Markt. Zusammen mit einer Universität und einem Entwicklungs-Institut hat das Unternehmen mit erheblichem Aufwand Teile entwickelt, die für E-Autos notwendig sind und die – sollten sie marktreif geworden sein – durchaus nachgefragt werden dürften. Gleichwohl hat das Unternehmen derzeit unter den Schwächen des Automobilmarktes zu leiden. Die Umsätze sind drastisch eingebrochen. Eine Anpassung der Aufwendungen ist bisher nicht erfolgt. Das Unternehmen „schreibt rote Zahlen“. Es befindet sich in einer Krise. Allen ist klar, dass etwas getan werden muss. 2 Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU).

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Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse hat es aufgrund der noch nicht marktreifen Neuentwicklung, des guten Rufs des Unternehmens in der Branche und des hervorragend ausgebildeten Personals bereits einige Übernahmeangebote, i.W. allerdings von Equity-Firmen, gegeben. Dies hat allerdings nicht zu einer Beruhigung der Situation, sondern zu erheblicher Unruhe in der Familie und unter der Belegschaft geführt. Sowohl die Familie als auch der größte Teil der Mitarbeiter sieht bei einem Verkauf die bisher kreative Firmenkultur in Gefahr. 3. Unternehmenskrise Betrachten wir zunächst die angesprochene Krise. Ebenso wie beim Begriff des Familienunternehmens gibt es auch bei der Unternehmenskrise eine Vielzahl von Definitionen und darauf aufbauende Erklärungen einer Krisensituation. Allerdings lassen sich die wesentlichen Elemente als eine ungeplante und ungewollte, endogen oder exogen bedingte Existenzgefährdung für das gesamte Unternehmen, deren Ende nicht absehbar ist,3 zusammenfassen. Bei Familienunternehmen können neben diesen allgemeinen Gründen noch familieninterne Situationen hinzukommen. Auch bei der Behandlung der Krise4 spielt die Familie eine wesentliche Rolle. Sie ist natürlich zwingend bei der Krisenbeseitigung zu berücksichtigen. Grundsätzlich lassen sich die Ursachen einer Krise in zwei Kriterien systematisieren. Zum einen kann die Ursache im Unternehmen selbst (intern) oder außerhalb des Unternehmens liegen (extern). Zum anderen kann die Ursache durch den Markt oder durch Wettbewerber des Unternehmens indiziert sein.5 Ab welchem Zeitpunkt von einer Unternehmenskrise gesprochen wird, ist in der Literatur nicht exakt definiert. Man ist sich jedoch einig, dass eine Krise mit der Bedrohung bzw. konkreten Existenzgefährdung des Unternehmens zusammenhängt und Liquidität, Ertragskraft und auch strategische Erfolgspotenziale gefährdet sind.6 Im Rahmen einer Krise kann das Unternehmen verschiedene Krisenstadien durchlaufen bzw. abhängig von der Krisenursache den unterschiedlichen Krisenstadien zugeordnet werden.7 3 Krystek, Unternehmenskrisen, 1987; David, Externes Krisenmanagement aus Sicht der Banken, 2001. 4 Rüsen, Praxisleitfaden Krisenmanagement und Krisenfestigkeit in Familienunternehmen, 2020.  5 Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 2009. 6 Müller, Krisenmanagement in der Unternehmung, 1985. 7 Krystek/Moldenhauer, Handbuch Krisen- und Restrukturierungsmanagement, 2007.

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Der den Wirtschaftsprüfer bindende, in der Sanierungspraxis analog angewandte Standard IDW S 6 zur Erstellung von Sanierungskonzepten benennt insgesamt sechs Krisenphasen, die als Stakeholderkrise, Strategiekrise, Produkt- und Absatzkrise, Erfolgskrise, Liquiditätskrise und Insolvenzreife bezeichnet werden.8 Unternehmen müssen die genannten Krisenphasen nicht zwingend in ihrer zeitlichen Abfolge durchlaufen.9 Relevant ist aber, dass jeder dieser „Krisenzeitpunkte“ für sich den im Unternehmen Verantwortlichen Handlungsnotwendigkeiten geradezu aufzwingt. So unangenehm Krisen auch sein mögen – in ihnen liegt die Chance, die Unternehmensstrategie neu auszurichten und das ursprüngliche Konzept aufzufrischen. Die Voraussetzung dafür ist eine konsequente und passgenaue Strategie. Welche Schritte im Einzelnen einzuleiten sind, hängt davon ab, wo die Ursache der Krise liegt und in welcher Krisenphase sich das Unternehmen befindet. Es reicht von Anpassung der Geschäftsmodelle, Erschließung neuer Märkte und Vertriebswege sowie der Erweiterung des Produktsortiments und der Vornahme technischer Ver­ änderungen über z.B. Anpassung der Verkaufspreise, Erschließung günstigerer Einkaufsquellen bis hin zur Sicherstellung von Liquiditätszuflüssen. Die Beseitigung der Krise wird in der Wirtschaft allgemein „Sanierung“ genannt. Hierunter wird die Vereinigung aller betriebswirtschaftlichen, steuerlichen und rechtlichen Maßnahmen der Problembewältigung im Unternehmen mit dem Ziel der Erzielung existenzerhaltender Gewinne verstanden. Patentrezepte zur Unternehmenssanierung kann es angesichts der Einzigartigkeit und Komplexität der individuellen Situation nicht geben. Das Ziel einer „Restrukturierung“ ist es, das Unternehmen strategisch neu auszurichten und es fit für die Zukunft zu machen. Die moderne Restrukturierungs- und Sanierungspraxis zielt zudem auf eine ganzheitliche Betrachtung des Unternehmens ab. Mithilfe von Analysen der Unternehmensplanung, der Erstellung eines tragfähigen Sanierungskonzepts, aber auch der Entwicklung von notwendigen Restrukturierungsmaßnahmen eröffnen sich neue Chancen für das Unternehmen.10

II. Analyse Um die erforderlichen Veränderungen vornehmen zu können, ist es erforderlich, zu erkennen, wo die Probleme, die zu Schwierigkeiten im Unternehmen geführt haben, liegen. Bei der Rodzina GmbH hat der Geschäftsführer – in Abstimmung mit seinen Schwestern – die „Neue Wege GmbH“ mit der Analyse und Begleitung eventuell notwendiger Veränderungen beauftragt. 8 IDW S 6 (2018). 9 Crone in Crone/Werner (Hrsg.), Modernes Sanierungsmanagement, 2017. 10 Restrukturierung und Sanierung Rödl & Partner.

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Im Rahmen dieses Auftrags wurde sowohl das Unternehmen als auch das Zusammenspiel zwischen Unternehmen und Familie untersucht. Hierbei wurden u.a. folgende Schwachpunkte ermittelt: – Die Rodzina GmbH hat in der Vergangenheit voll auf die Automobilindustrie gesetzt und ist damit gut gefahren. Der Branche ging es gut, was über mehrere Jahre hinweg zu einem kontinuierlichen Wachstum bei Rodzina geführt hat. Man sah seitens des Unternehmens keine Veranlassung, über eine Verbreiterung des Angebots und dem möglichen Eintritt in andere Branchen nachzudenken. Diese Abhängigkeit von einer Brache und dort wenigen Dauerkunden ist letztlich ein wesentlicher Auslöser der jetzt aufgetretenen Probleme. – Geblendet durch das Wachstum des Unternehmens hat man es in der Vergangenheit versäumt, althergebrachte und nicht mehr zeitgemäße Strukturen anzupassen und erforderliche Veränderungen der Abläufe vorzunehmen. – Zwar hat man sich hinsichtlich der E-Mobilität Gedanken gemacht und versucht, entsprechend neue Produkte zu entwickeln. Allerdings ist dies relativ unstrukturiert vorgenommen worden. Man hat „Geld in die Hand genommen“, wusste aber noch nicht genau „wofür“ und wie es mit dem neuen Produkt weitergehen sollte. – Neben diesen unternehmensinternen Problemen gab es erhebliche Diskussionen innerhalb der Familie um die Zukunft der Firma. Zwar wollten die Eigentümergeschwister das Unternehmen unter keinen Umständen verkaufen, aber es war auch niemand – auch nicht aus dem Kreis der Kinder der Gesellschafter – bereit, Führungsverantwortung zu übernehmen. Diese Unklarheit über die Zukunft, gepaart mit erheblichen Verzögerungen bei notwendigen Entscheidungen, hat zu Irritationen innerhalb der Belegschaft und dem Weggang einiger hervorragender Mitarbeiter geführt. Im Rahmen der Analyse kamen aus dem Kreise der Familie Signale, die zeigten, dass – man das Unternehmen in der derzeitigen Form und Verfassung nicht an die Kinder weitergeben sollte und wollte, – ein Verkauf des Unternehmens an eine Equity-Firma nicht in Frage kommt. Man ging davon aus, dass vieles von dem, was das Unternehmen Rodzina und die Familie in der Vergangenheit ausgemacht hat und worauf man sehr großen Wert legte, zerstört würde. Die Familie sah sich gegenüber ihren Mitarbeitern und der Region in der Verantwortung.

III. Sanierungskonzept als Entscheidungsgrundlage für die Neukonzeption Die Analyse hat der Familie deutlich gemacht, dass es Zeit zum Handeln und ein „Weiter so“ nicht möglich ist, wenn das Unternehmen erhalten bleiben soll. Auf Basis der Ergebnisse der Analyse und eingehender Diskussionen mit den Familienmitglie542

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dern sowie der das Unternehmen bisher finanzierenden Bank hat die „Neue Wege GmbH“ ein Konzept vorgelegt, das neben allgemein üblichen Sanierungsmaßnahmen auch eine Veränderung in der gesellschaftsrechtlichen Struktur des Unternehmens beinhaltet. Zur eigenen Entscheidungsfindung und Absicherung der rechtlich notwendigen bzw. zulässigen Schritte, aber vor allem auch zur Entscheidungsfindung wesentlicher Beteiligter, ist generell die Erarbeitung eines ausführlichen und fachlich fundierten ­Sanierungskonzepts zwingend erforderlich. In diesem Sanierungskonzept müssen Chancen und Risiken der Sanierung aufgezeigt und gegeneinander abgewogen werden. Erst auf Basis eines solchen Konzepts kann für alle Beteiligten die richtige Entscheidung getroffen werden. Das Sanierungskonzept enthält eine Analyse der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens innerhalb seiner Branche und erfasst die für das Unternehmen relevanten spezifischen Krisenursachen. Das Konzept muss die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens zutreffend beurteilen. Das vorgeschlagene Konzept sieht neben der Reduktion des hohen Abhängigkeitsgrades von der Automobilbranche und der Vornahme von wesentlichen Veränderungen in den Abläufen auch die Schaffung einer Möglichkeit zur Eigenkapitalstärkung durch die Familie, Kunden und Mitarbeiter vor. Um dies zu erreichen, soll die bisherige GmbH in eine Genossenschaft umgewandelt werden, an der sich sowohl die Mitarbeiter als auch Kunden und interessierte Dritte als Mitglieder beteiligen können. Die anfänglich gezeigte Zurückhaltung bei der Familie wird dadurch aufgehoben, dass man bei der Neuausrichtung möglicherweise – je nach Definition – den nominellen Status als Familienunternehmen aufgeben muss, der Einfluss der Familie allerdings nach wie vor groß bleibt. Vorabanfragen bei einigen größeren Kunden waren ebenso wie die Resonanz aus der Mitarbeiterschaft positiv. Insbesondere deshalb, weil auch die Nachfolgeregelung im Konzept Eingang gefunden hat. Um für weitere Klarheit zu sorgen, war es zunächst erforderlich, festzulegen, wie das „neue“ Unternehmen aussieht. Zur Klärung hat man mit den Gesellschaftern (der Familie) und einer Anzahl von Mitarbeitern ein „neues Leitbild“ des Unternehmens entwickelt. 1. Leitbild Unter „Leitbild“ wird eine schriftliche Erklärung einer Organisation über ihr Selbstverständnis und ihre Grundprinzipien, also eine Selbstbeschreibung, verstanden. Es formuliert einen Zielzustand (realistisches Idealbild).11 11 Bleicher, Leitbilder. Orientierungsrahmen für eine integrative Managementphilosophie, 1994. 

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Nach innen soll ein Leitbild Orientierung geben und somit handlungsleitend und motivierend für die Organisation als Ganzes sowie die einzelnen Mitglieder wirken. Nach außen (Öffentlichkeit, Kunden) soll es deutlich machen, wofür eine Organisation steht. So stehen zum Beispiel im Leitbild eines Unternehmens12 u.a. folgende Aussagen: Wir sind unabhängig: „Unabhängigkeit bedeutet für uns, schnell und selbstständig Entscheidungen treffen zu können.“ Als Familienunternehmen streben wir ein hohes Maß an Entscheidungs- und Handlungsfreiheit bei allen unseren Aktivitäten an. Grundlage hierfür ist unsere finanzielle Unabhängigkeit, die wir durch solides Wirtschaften und den Verbleib der erzielten Gewinne im Unternehmen erreichen. Schlüssel zum Erfolg sind unsere Mitarbeiter: „Wir schätzen sehr, dass sich unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stark mit (unserem Unternehmen) identifizieren.“

Die Familie Rodzina war in der Vergangenheit stolz darauf, dass ihr Unternehmen nie darauf ausgerichtet war, maximalen Gewinn abzuwerfen. Es ging dem Unternehmen und der Familie vielmehr immer um das nachhaltige Wachstum der Firma und die persönliche Entwicklung der Mitarbeiter und der Region. Für alle Beteiligten war klar, dass dies im Wesentlichen auch zukünftig Bestand haben sollte. Daher wurde in das zu verändernde Leitbild aufgenommen, dass – man weitgehend unabhängig bleiben will, – man die Mitarbeiter stärker an das Unternehmen binden will, – man Kunden und Dritten die Möglichkeit bietet, sich am Unternehmen zu betei­ ligen, wobei niemand die Möglichkeit bekommen sollte, die grundsätzliche Ausrichtung des Unternehmens ohne Zustimmung der Mehrheit der anderen Gruppen verändern zu können. Neben dieser grundsätzlichen Neuausrichtung, auf die später noch näher eingegangen wird, wurden noch Maßnahmen im finanzwirtschaftlichen und leistungswirtschaftlichen Bereich (Erläuterung hierzu nachfolgend unter 2.) als notwendig angesehen und im Konzept ausführlich erläutert. 2. Sanierungsmaßnahmen Bei der Sanierung von Unternehmen, die in eine Krisensituation geraten sind, müssen sowohl leistungswirtschaftliche als auch finanzwirtschaftliche Aspekte berücksichtigt werden. Bei der finanzwirtschaftlichen Begleitung eines Krisenengagements 12 Als Muster: Liebherr.

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denkt man sofort an Kreditinstitute, deren Interesse es in aller Regel ist, einerseits das Überleben des Kunden zu sichern und andererseits Ausfälle und Wertberichtigungen zu vermeiden oder zu minimieren.13 Die finanzwirtschaftliche Sanierung ist die Summe aller finanziellen Maßnahmen, die die Zahlungs- und Ertragsfähigkeit des Unternehmens wiederherstellen und die dazu beitragen, die drohende Insolvenz zu vermeiden oder die Überschuldung zu beseitigen. Diese Maßnahmen beziehen sich auf die Kapitalstruktur bzw. auf die Liquidität des Unternehmens und zielen somit auf eine Beseitigung der Liquiditätskrise ab.14 Das Eintreten insolvenzrechtlicher Tatbestände, wie Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, soll verhindert werden.15 Die erfolgreiche Umsetzung finanzwirtschaftlicher Maßnahmen schafft die Voraussetzung, um mit leistungswirtschaftlichen und strategischen Maßnahmen die Sanierung erfolgreich abschließen zu können.16 Bei der Rodzina GmbH sah das Konzept bezogen auf den finanzwirtschaftlichen Bereich u.a. eine Ausweitung der Kreditlinien vor. Die finanzierenden Banken erklärten sich zwar grundsätzlich dazu bereit. Sie erwarteten hierfür allerdings Klarheit über die Zukunft des Unternehmens, der zukünftigen Geschäftsführung, ein Verbleib der Familienbeteiligung und eine Stärkung des Eigenkapitals. Die leistungswirtschaftliche Sanierung ist eine Form der materiellen Sanierung und entspricht einer Strukturverbesserung des Unternehmens im Führungs-, Beschaffungs-, Produktions-, Absatz- und Finanzbereich. Das Ziel besteht darin, die Ertragsund Finanzkraft wiederherzustellen und nachhaltig zu sichern.17 Die leistungswirtschaftliche Sanierung ist ein mittel- bis langfristiger, strukturierter Prozess und darauf ausgerichtet, die nachhaltige Renditefähigkeit des Unternehmens wieder herzustellen. Im Fokus stehen hier die Leistungserstellung und die Leistungsverwertung.18 Leistungswirtschaftliche Maßnahmen zielen darauf ab, die Ergebniskrise abzuwenden.19 13 Lützenrath/Thiele, Finanzinstrumente zur Sanierung von Unternehmen, abrufbar auf https://www.restrukturierungsmanagement.info/Finanzinstrumente-zur-Sanierung-vonUnternehmen. 14 von der Horst, Bewältigung von Unternehmenskrisen, 2000. 15 Buschmann, Erfolgreiches Turnaround-Management, Empirische Untersuchung mit Schwerpunkt auf dem Einfluss der Stakeholder, 2006. 16 Buschmann, Erfolgreiches Turnaround-Management, Empirische Untersuchung mit Schwerpunkt auf dem Einfluss der Stakeholder, 2006. 17 Stiegler, Sanierungsmanagement, abrufbar auf http://www.daswirtschaftslexikon.com/d/ sanierung/sanierung.htm, 1998. 18 Wöhe/Döring, Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 2008. 19 Kall, Controlling im Turnaround-Prozess, 1999.

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Das Augenmerk liegt auf den Aufwendungen und Erträgen, bzw. Kosten und Erlösen.20 Durch diese Maßnahmen soll die Profitabilität21 bzw. die betriebliche Effizienz und Effektivität22 des Unternehmens wieder hergestellt werden. Das Konzept der „Neue Wege GmbH“ hat auch in diesem Bereich eine Vielzahl von Vorschlägen aufgenommen und mit den Beteiligten abgestimmt. Wesentlich ist zum einen eine Verbreiterung der Angebotspalette, die Minderung der Abhängigkeit von einer Branche sowie eine Verbesserung der internen Abläufe und des Controllings. Auf die einzelnen Maßnahmen diesen Bereich betreffend soll hier allerdings nicht weiter eingegangen werden.

IV. Umwandlung in eine Genossenschaft als Lösungsweg Ein umfangreicher Rechtsformvergleich, den die „Neue Wege GmbH“ durchgeführt hat, ist zu dem Ergebnis gekommen, dass zur Abdeckung der geforderten Ziele die eingetragene Genossenschaft die sinnvollste der möglichen Alternativen darstellt. Mit dieser Rechtsform ist sowohl eine Stärkung des Eigenkapitals als auch eine Einbindung von Mitarbeitern, Kunden und Dritten möglich, und zwar, ohne dass jemand die Möglichkeit hat, das Unternehmen ohne Zustimmung der anderen Anteilseigner zu übernehmen. Durch die vorgeschlagene Umwandlung kann auch das bisher weitgehend dilatorisch behandelte Problem der Stärkung und Sicherung einer Nachfolgeregelung in der Geschäftsführung sowie deren strukturierte Überwachung und Beratung durch ein fachlich versiertes Aufsichtsgremium geregelt werden. Die vorgesehene Umwandlung in eine Genossenschaft mit gleichzeitiger Beteiligungsmöglichkeit für Kunden und Mitarbeiter bietet eine dem neuen Leitbild folgende Alternative zum Verkauf. Ein großes Problem der Genossenschaften ist, dass in der breiten Öffentlichkeit kaum über sie gesprochen wird, obwohl sie in der Geschäftswelt in einer großen Anzahl in nahezu jeder Unternehmensbranche zu finden sind. Sei es als „Kleinst-Gesellschaft“ mit nur drei Mitgliedern, sei es als „Großunternehmen“ mit zigtausend an Mitgliedern. Das Geschäftsvolumen reicht von wenigen hundert Euro bis hin zur Milliardengröße.

20 Kall, Controlling im Turnaround-Prozess, 1999. 21 Buschmann, Erfolgreiches Turnaround-Management, Empirische Untersuchung mit Schwerpunkt auf dem Einfluss der Stakeholder, 2006. 22 Schley, Erfolgsfaktoren von Sanierungen, 2010.

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1. Was sollte man über Genossenschaften wissen? Ein Unternehmen als Genossenschaft zu führen, bietet durchaus einige interessante Vorteile. Dazu gehören: – umfassende Möglichkeiten der Mitarbeiterbeteiligung – gleiches Mitbestimmungsrecht für alle durch demokratische Unternehmensverfassung – wirtschaftlicher Erfolg dient auch der Förderung der Mitarbeiter – es besteht keine Obergrenze für die Zahl der Genossenschaftsmitglieder – (wenn die Satzung dies vorsieht): begrenzte Haftung der Mitglieder – genossenschaftliche Rückvergütung als Instrument der Steueroptimierung – insolvenzsicherste Rechtsform in Deutschland a) Der genossenschaftliche Verbund Die Genossenschaft und der genossenschaftliche Verbund sind weitgehend unbekannt, obwohl es sich um die mitgliederstärkste Wirtschaftsform in Deutschland handelt, die zudem noch zum immateriellen Kulturerbe der UN gehört. Auch wenn der eine oder andere die örtliche Volks- oder Raiffeisenbank kennt und möglicherweise sogar selbst dort Mitglied ist, ist den meisten die Genossenschaft als Rechtsform unbekannt und wird – wenn überhaupt – in aller Regel mit der Landwirtschaft in Verbindung gebracht. Im DGRV,23 dem branchenübergreifenden Spitzen- und Prüfungsverband des Genossenschaftswesens, sind – bis auf wenige Ausnahmen – alle Genossenschaften und Institute des genossenschaftlichen Verbundes direkt oder indirekt zusammengefasst. Hierzu gehören z.B. die meisten genossenschaftlichen Prüfungsverbände mit den ihnen angeschlossenen Genossenschaftsbanken, Fachverbände, wie z.B. EDEKA, PSD Banken, Sparda Banken, Unternehmen der genossenschaftlichen FinanzGruppe, wie z.B. Bausparkasse Schwäbisch Hall, DZ-Bank, R+V Versicherung, Union Asset Management, die Unternehmen der BÄKO- und der REWE-Gruppe. Es ist kaum bekannt, dass es heute rund 7.500 genossenschaftliche Unternehmen in Deutschland mit mehr als 20 Millionen Mitgliedern gibt. Es ist auch kaum bekannt, dass die Rechtsform der Genossenschaft mit Insolvenzraten von 0,124 (0,125)  % als eine der sichersten Rechtsformen in Deutschland gilt.

23 Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband. 24 Creditreform 2020. 25 Creditreform 2019.

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b) Rechtsgrundlage und Wesen der Genossenschaft Die Genossenschaft ist ein Zusammenschluss von natürlichen oder juristischen Personen. Zweck der Genossenschaft ist es, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle Belange durch den gemeinsamen Geschäftsbetrieb zu fördern.26 Die eingetragene Genossenschaft ist eine juristische Person und nach § 17 GenG Formkaufmann. Rechtliche Grundlage ist das Genossenschaftsgesetz (GenG) vom 20.5.1889.27 Aufgrund der Novelle des Genossenschaftsgesetzes 2006 ergeben sich inzwischen vielfältige neue Gestaltungsalternativen, die den jeweiligen Bedürfnissen des Neugründungsvorhabens individuell angepasst werden können. Gegründet wird die Genossenschaft durch mindestens drei natürliche und/oder juristische Personen, die eine schriftliche Satzung festlegen. Die Genossenschaft kann sich ein Mindestkapital geben, das Gesetz schreibt jedoch kein festes Kapital vor. Jedes Mitglied zeichnet einen oder mehrere Geschäftsanteile, deren Höhe in der Satzung festgelegt ist. Das Gesellschaftsvermögen ist eigenes Vermögen der Genossenschaft als juristische Person und steht den Gläubigern als Haftkapital zur Verfügung. Eine über das Haftkapital hinausgehende Haftung der Mitglieder kann durch entsprechende Aufnahme in die Satzung ausgeschlossen werden. Organe der Genossenschaft sind der Vorstand, der Aufsichtsrat (bei kleineren Genossenschaften fakultativ) und die General- bzw. Vertreterversammlung. Der Vorstand leitet die Genossenschaft in eigener Verantwortung. Soweit ein Aufsichtsrat besteht (fakultativ, bei kleineren Genossenschaften übernimmt diese Aufgabe die Generalversammlung), überwacht dieser die Tätigkeit des Vorstandes. Die Generalversammlung ist oberstes Willensbildungsorgan der Genossenschaft. Sie wählt die Mitglieder des Aufsichtsrats. Ob die Generalversammlung oder der Aufsichtsrat den Vorstand bestellt, ist in der Satzung festzulegen. Jedes Mitglied hat, unabhängig von seiner Kapitalbeteiligung, grundsätzlich nur eine Stimme. Hier kommt das Prinzip: „one man, one vote“ voll zum Tragen. Auch ein Mitglied mit hohem Anteil am Haftkapital hat nur eine Stimme. Dieses Prinzip kommt insbesondere zur Geltung bei der Wahrnehmung des Stimmrechts sowie der Mitbestimmung bei der Wahl der Organe der Genossenschaft. Die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft ist darauf ausgerichtet, dass das Mitglied die genossenschaftlichen Leistungen selbst nutzt und damit von dem jeweiligen Förderzweck der Genossenschaft profitieren kann. 26 § 1 GenG. 27 Kuhnert/Leps, Neue Wohnungsgemeinnützigkeit, 2017.

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Die Genossenschaft ist vom Mitgliederwechsel unabhängig. Das bedeutet, dass der Ein- und Austritt von Mitgliedern möglich ist, ohne dass dies auf die Existenz der Gesellschaft Einfluss hat. Allerdings darf eine Mindestmitgliederzahl von drei Personen nicht unterschritten werden. Wird die Mindestmitgliederzahl unterschritten, kommt es zur Löschung und Liquidation. Die Genossenschaft ist wesentlich dadurch geprägt, dass bei ihr jederzeit weitere Personen die Mitgliedschaft erwerben, weitere Geschäftsanteile zeichnen, aber auch die Mitgliedschaft bzw. einzelne Geschäftsanteile kündigen können. Für den Beitritt bzw. die Beteiligung mit weiteren Geschäftsanteilen ist grundsätzlich die Zustimmung der Genossenschaft (in der Regel vertreten durch den Vorstand) erforderlich. Dadurch wird sichergestellt, dass es die Genossenschaft selbst in der Hand hat, wie der Mitgliederkreis ergänzt wird. 2. Kritik an der Rechtsform der Genossenschaften im Falle des Eintretens einer Unternehmenskrise Die Rodzina GmbH befindet sich in der Krise. Es stellt sich folglich die Frage: Gibt es dort aufgrund der Rechtsform besondere Probleme, die zu beachten sind? Die „Neue Wege GmbH“ hat sich vor Vorstellung ihres Konzeptes auch mit den Herausfor­ derungen und Besonderheiten des Krisenmanagements von genossenschaftlichen Unternehmen beschäftigt, die in der publizierten Untersuchung „Genossenschaft aus Finanzierersicht“28 dargestellt wurden. Nach dieser Untersuchung schätzten die befragten Banken (keine Genossenschaftsbanken) das Sanierungsrisiko bei einer Genossenschaft höher ein als bei fast jeder anderen Gesellschafterkonstellation. Die Kritik richtet sich hier insbesondere an die ehrenamtlichen Gremien der Genossenschaften, die häufig über traditionell gewachsene, aber völlig überdimensionierte Gremien- und Entscheidungsstrukturen verfügen und an die mitgliedschaftliche Kapitalbindung, die aufgrund einer möglichen Kündigungsfrist von oft zwei Jahren gering ist, was zu einem unkalkulierbaren Kapitalabfluss in der Zukunft führen kann. Als kritisch wurde in der Untersuchung auch angemerkt, dass – Kapitalerhöhungen für die Mitglieder wenig attraktiv sind, – es an einer Übertragbarkeit der Mitgliedsrechte fehlt, – Mitglieder nicht am Unternehmenswert partizipieren, – ein Mitglied aufgrund des Kopfstimmrechts seinen Einfluss über die Zeichnung weiterer Geschäftsanteile nicht erhöhen kann.

28 Christian Groschupp/Dr. Wieselhuber & Partner GmbH in München.

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Die „Neue Wege GmbH“ weist trotz dieser nicht zwingend positiven Aspekte in ihrem Sanierungskonzept darauf hin, dass viele dieser als kritisch bezeichneten Punkte für ein Familienunternehmen durchaus auch positiv gesehen werden können und dass durch die rechtlich mögliche Gestaltung der Satzung einige dieser Punkte von Anfang an vermieden werden können. Über die Chancen und Risiken der vorgeschlagenen Neukonzeption wurde auch mit den für die Darstellung der Finanzierung vorgesehenen Banken der Rodzina GmbH (u.a. eine Genossenschaftsbank und eine Sparkasse) gesprochen. Die Banken sehen bei Umsetzung der vorgesehenen Maßnahmen keine größeren Probleme.

V. Umsetzung der Neukonzeption (von der GmbH zur eingetragenen Genossenschaft) In Abstimmung mit den an der Finanzierung beteiligten Banken entschied sich die Familie letztlich zur Umsetzung der vorgesehenen gesellschaftsrechtlichen Neukonzeption als eingetragene Genossenschaft. Nachfolgend werden einzelne Schritte des „genossenschaftlichen Weges“ aufgeführt und erläutert. Zunächst einmal gilt es, die Gründung der Genossenschaft, in die die GmbH gewandelt werden soll, vorzubereiten. Das Genossenschaftsgesetz gibt vor, dass zur Gründung mindestens drei Mitglieder vorhanden sein müssen. Da hier vorgesehen ist, neben der Familie, Mitarbeitern und Kunden weitere Mitglieder aufzunehmen, ist es erforderlich, die Gründung einer „großen Genossenschaft“29 vorzubereiten. Im Rahmen der Gründungsversammlung wird sowohl die Satzung der Genossenschaft verabschiedet als auch der zukünftige Aufsichtsrat und Vorstand gewählt. Zu beachten ist, dass zwei Vorstände30 und mindestens drei Aufsichtsratsmitglieder gewählt werden müssen. In Vorbereitung der Gründung ist es erforderlich, dass ein Businessplan über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren erstellt wird, der die Tragfähigkeit der vorgesehenen Maßnahmen zeigt. Darüber hinaus sind Genossenschaften gesetzlich verpflichtet, Mitglied in einem genossenschaftlichen Prüfungsverband zu sein.31 Dieser prüft im Rahmen der ­ ­Gründung, ob die zukünftige Genossenschaft die rechtlichen und formalen Voraussetzungen erfüllt und ob der eingereichte Businessplan den Anforderungen realer 29 Das GenG sieht auch kleine Genossenschaften vor, die nicht mehr als 20 Mitglieder haben dürfen. Sie benötigen u.a. keinen Aufsichtsrat. 30 Hinweis: § 24 GenG: Die Satzung kann eine höhere Personenzahl bestimmen. 31 § 54 GenG.

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wirtschaftlicher Tätigkeit entspricht. Nur mit einem positiven Gründungsgutachten kann über ein Notariat die Eintragung ins Genossenschaftsregister beantragt werden. 1. Zulässigkeit der Umwandlung einer GmbH in eine Genossenschaft? Aus dem Kreise der Familie tauchte im Vorfeld die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, die bisherige GmbH in eine Genossenschaft umzuwandeln. Das Umwandlungsgesetz (UmwG) weist ausdrücklich darauf hin, dass ein Formwechsel einer GmbH in eine Genossenschaft möglich ist (§§ 251 ff. UmwG). Es sind allerdings hierbei einige Sonderregelungen32 zu berücksichtigen. Für den Fall, dass keine Nachschussleistungspflicht33 in die Genossenschaftssatzung aufgenommen34 wird, bedarf es eines ¾-Mehrheitsentscheids (der bei der Gesellschafterversammlung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung abgegebenen Stimmen), wobei gemäß §  252 Abs.  2 Satz 2 UmwG im Gesellschaftsvertrag ab­ weichende  – höhere  – Mehrheiten sowie weitere Anforderungen festgelegt werden können. Zusätzlich zu den nach § 194 UmwG geforderten Mindestangaben hat der Umwandlungsbeschluss auch die Satzung der Genossenschaft35 sowie die Anweisung, dass sich jedes Mitglied mit mindestens einem Geschäftsanteil zu beteiligen hat, zu enthalten. 2. Die Satzung Von besonderer Bedeutung bei der Gründung (direkt oder im Rahmen der Umwandlung) einer Genossenschaft ist die Erstellung und der Inhalt der Satzung. Sie ist wie eine Art „Verfassung/Grundgesetz“ der Genossenschaft, regelt die wichtigsten Aspekte des genossenschaftlichen Miteinanders und ergänzt die Bestimmungen des Genossenschaftsgesetzes.  Der Inhalt der Satzung wird bei der Neugründung einer Genossenschaft durch die Gründungsmitglieder beschlossen und gemäß § 5 GenG schriftlich festgehalten. Soll die Genossenschaftssatzung geändert werden, muss dies durch die Generalversammlung beschlossen werden. Den Mitgliedern der Genossenschaften stehen bei der Gestaltung ihrer Satzung viele auf die jeweiligen Bedürfnisse anzupassenden Freiräume offen. Die Satzung kann weitestgehend autonom gestaltet werden. Einige Inhalte schreibt das Genossenschaftsgesetz allerdings zwingend vor. 32 §§ 251-257 UmwG. 33 Siehe Anmerkungen unter Satzung. 34 § 252 Abs. 2 Satz 1 UmwG. 35 § 253 UmwG.

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So müssen folgende Punkte36 in der Satzung, die lediglich der Schriftform bedarf, aufgenommen werden: – Angaben zur Firma, zum Sitz und zum Gegenstand des Unternehmens – eventuelle Nachschusspflicht in der Insolvenz – Formvorschriften für die Generalversammlung – Form der Bekanntmachung, – Höhe des Geschäftsanteils zur Bildung der gesetzlichen Rücklage etc. Die Satzung ist ihrer Rechtsnatur nach ein Vertrag mit dem Ziel der Errichtung einer Genossenschaft und der Festlegung der Normen für ihre körperliche Verfassung.37 Aus Vereinfachungsgründen stellen die Genossenschaftsverbände  – i.d.R. kostenlos – Interessenten Mustersatzungen, die jeweils den aktuellen Rechtsstand beinhalten, zur Verfügung. Die „Neue Wege GmbH“ hat auf Basis einer solchen Muster­ satzung eine den Vorstellungen der Familie entsprechende Satzung entwickelt. a) Förderauftrag Ein wesentlicher Punkt in der Satzung ist die Festlegung des Förderauftrages. Die Mitgliederförderung ist schließlich das primäre Ziel einer genossenschaftlichen Kooperation. Das Genossenschaftsgesetz spricht von der „Förderung des Erwerbes oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes“. Dieser Förderauftrag ist der gesetzlich festgelegte Zweck der eingetragenen Genossenschaft. Damit verfolgen Genossenschaften nicht vorrangig das Ziel der Gewinnmaximierung. Allerdings müssen auch Genossenschaften, um ihr Förderpotential auf- und auszubauen zu können, Gewinne erzielen. Die Förderung kann ökonomischer und ideeller Natur sein. Die ökonomische Förderung lässt sich wiederum in eine finanzielle und eine leistungsbezogene Förderung unterteilen. Die finanzielle Förderung besteht beispielsweise durch Dividendenzahlungen, günstigere Konditionen oder Rückvergütungen. Die Beratung und Betreuung der Mitglieder sowie andere Zusatzleistungen werden der leistungsbezogenen Förderung zugerechnet. In Abstimmung mit dem zuständigen Genossenschaftsverband wurde bei Rodzina ein Förderauftrag definiert, der sowohl die Interessen der Familie als auch die der Mitarbeiter und Kunden, die Mitglieder in der Genossenschaft werden wollen, berücksichtigt.

36 §§ 6 und 7 des GenG. 37 Holthaus/Lenhoff in Lang/Weidmüller, GenG, § 5 Rz. 1 mit Verweis auf: BGHZ 13, 11; 21, 372; Müller, GenG, § 5 Rz. 1 m.w.N.

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b) Mitgliederstruktur Bei der Firma Rodzina spielt die Familie eine besondere Rolle. Um allen interessierten Mitgliedern (Familie, Mitarbeiter/Kunden/Dritte) die Möglichkeit einräumen zu können, ihren Beitrag zur Erreichung des Förderzwecks zu leisten, unterscheidet die Genossenschaft zwischen „ordentlichen Mitgliedern“ und „investierenden Mitgliedern“. Wer als Mitglied an der Erfüllung des genossenschaftlichen Förderauftrages interessiert ist und die in der Satzung festgelegten Voraussetzungen erfüllt, kann als ordentliches Mitglied in die Genossenschaft aufgenommen werden. Alle anderen können auf ihren Antrag hin als investierendes Mitglied aufgenommen werden. Jedes Mitglied, d.h. sowohl die ordentlichen als auch die investierenden Mitglieder, hat bei Beendigung der Mitgliedschaft nur einen Anspruch auf Auszahlung des Auseinandersetzungsguthabens. Auf die Rücklagen oder das sonstige Vermögen der Genossenschaft haben weder ordentliche Mitglieder noch investierende Mitglieder einen Anspruch. Bei der Planung der Mitgliederstruktur sieht das Konzept folgendes vor: – Die Familie ist nicht mehr der einzige Entscheider. Sie hat aber noch einen erheblichen Einfluss. – Das Unternehmen verfügt über gute und engagierte Mitarbeiter. Deren Verbleib und weiteres Engagement im Unternehmen ist – wie auch schon die Aufnahme im Leitbild zeigt – von besonderer Bedeutung. Daher soll ihnen die Möglichkeit eingeräumt werden, an den Ergebnissen des Unternehmens zu partizipieren. – Obwohl das Sanierungskonzept auch eine Verbreiterung des Angebots und der Kundenstruktur vorsah, ist derzeit nach wie vor die Automobilbranche der Anker des Unternehmens. Daher sieht das Konzept vor, dass Kunden sich an der Genossenschaft beteiligen. – Die begonnene Entwicklung von Komponenten für das e-Automobil soll vielen „Anlegern“ die Möglichkeit bieten, sich an einem Beitrag zur Energiewende zu beteiligen. Es ist daher vorgesehen, hierüber weitere Mitglieder zu einer Beteiligung an der neuen Genossenschaft zu bewegen. Zur Abdeckung all dieser Vorgaben ist es erforderlich, auf Basis der gesetzlichen Möglichkeiten in der Satzung zu verankern, dass die neue Genossenschaft sowohl ordentliche als auch investierende Mitglieder aufnehmen kann. aa)  Ordentliche Mitglieder Ordentliche Mitglieder sind die, die die Leistung der Genossenschaft in Anspruch nehmen. Aufnahmefähig ist nur, wer die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Einrichtungen der Genossenschaft erfüllt oder dessen Mitgliedschaft im Interesse der 553

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Genossenschaft liegt. Nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Aufsichtsrats ist aufnahmefähig auch, wer bereits Mitglied einer anderen Vereinigung ist, die im Wesentlichen gleichartige Geschäfte betreibt, oder wer derartige Geschäfte selbst betreibt oder betreiben lässt. Die Mitgliedschaft wird erworben durch eine von dem Beitretenden zu unterzeichnende unbedingte Erklärung des Beitritts, die den Anforderungen des Genossenschaftsgesetzes entsprechen muss und die explizite Zulassung durch den Vorstand. Die ordentlichen Mitglieder sind in der Generalversammlung stimmberechtigt. bb)  Investierende Mitglieder Seit der Novellierung des Genossenschaftsgesetzes im Jahr 2006 können Genossenschaften in ihrer Satzung auch regeln, dass neben den „ordentlichen Mitgliedern“ sogenannte „investierende Mitglieder“ aufgenommen werden. Diese Regelung gilt für Mitglieder, die für die Nutzung oder die Produktion oder die Erbringung der Dienste der Genossenschaft nicht in Frage kommen. Im Unterschied zu direkt förderfähigen („ordentlichen“) Mitgliedern nutzen investierende Mitglieder die Leistung der Genossenschaft also nicht unmittelbar. Diese „neue“ Regelung soll der Genossenschaft den Zugang und die Aufbringung zusätzlichen Eigenkapitals als wesentlichem Finanzierungsinstrument erleichtern. Wenn die Satzung dies vorsieht,38 kann mit Zustimmung des Vorstandes oder des Aufsichtsrates bestimmt werden, dass Personen, die für die Förderung nicht infrage kommen oder nicht „normale Mitglieder“ sein wollen, als investierende Mitglieder39 zugelassen werden können. Investierende Mitglieder sind i.W. lediglich an einer Kapitalanlage interessiert. Auch wenn die Grundstruktur der Genossenschaft ist, dass alle Mitglieder unabhängig von der Höhe ihrer Beteiligung das gleiche Stimmrecht haben, kann die Satzung bezogen auf „investierende Mitglieder“ etwas anderes regeln. So kann sie z.B. regeln, dass „investierende Mitglieder“ kein Stimmrecht haben. Sollen die „investierenden Mitglieder“ allerdings – was durchaus sinnvoll und möglich ist – ein Stimmrecht erhalten, muss die Satzung regeln, dass – sie die anderen Mitglieder in keinem Fall überstimmen dürfen, – Beschlüsse der Generalversammlung, für die nach Gesetz oder Satzung eine Mehrheit von mindestens drei Vierteln der abgegebenen Stimmen vorgesehen ist, durch 38 § 8 Abs. 2 GenG. 39 Vorbild der Erweiterung der Genossenschaft auf „investierende Mitglieder“ ist der für die Europäische Genossenschaft geltende Art. 14 VO 1435/2003, der eine entsprechende Regelung vorsieht. Die Zuordnung eines Mitglieds als „investierendes“ oder „normales“ Mitglied erfolgt durch Erklärung im Rahmen der Aufnahme.

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„investierende Mitglieder“ nicht verhindert werden können (diese Sperrklausel erfasst u.a. die Änderung der Satzung gemäß § 16 GenG sowie die Feststellung des Jahresabschlusses durch die Generalversammlung gemäß § 8 Abs. 2 GenG), – die Anzahl der „investierenden Mitglieder“ im Aufsichtsrat ein Viertel der Aufsichtsratsmitglieder nicht übersteigen darf. Die Sonderstellung der „investierenden Mitglieder“ wird auch dadurch dokumentiert, dass es möglich ist, in der Satzung – für sie differenzierte (längere) Kündigungsfristen sowie – eine Mindestverzinsung ihrer Geschäftsanteile oder abweichende Dividendenregelungen festzulegen. Bei Rodzina soll – damit von vornherein Klarheit herrscht – in die Satzung aufgenommen werden, mit welcher Verzinsung die „investierenden Mitglieder“ rechnen können. Dort heißt es u.a.: Die Geschäftsguthaben der investierenden Mitglieder werden mit mindestens 2,5 % p.a. verzinst. Fällt die Zinszahlung ganz oder teilweise wegen eines unzureichenden Jahresüberschusses aus, so ist der Zinssatz in den Folgejahren entsprechend zu erhöhen bis der Differenzbetrag ausgeglichen ist. § 21 a GenG ist zu beachten.

cc)  Die Familie Bei der vorgesehenen Umwandlung hat die Familie einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Sie gibt zumindest einen Teil ihrer unternehmerischen Rechte und Verantwortung an Dritte ab. Das hier vorgesehene Konzept sieht allerdings vor, dass die Familie nach wie vor ein wesentlicher Träger des Unternehmens ist. Zum einen verbleibt – wie von den finanzierenden Banken gefordert –das bisherige Eigenkapital in der Firma. Zum anderen werden die Mitglieder der Familie ordentliche Mitglieder der Genossenschaft. Sie können also in der Mitgliederversammlung zu allen Punkten ihr Stimmrecht ausüben. Weiter ist vorgesehen, dass der bisherige Geschäftsführer zunächst weiter als Vorstand der Genossenschaft tätig ist und die Schwestern Mitglieder des Aufsichtsrates werden. Da die Anzahl der Mitglieder bei Gründung gering war, gab es keine Schwierigkeiten, die Satzung zu verabschieden und die Wahlen entsprechend umzusetzen.

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dd)  Mitarbeiterbeteiligung bei genossenschaftlichen Unternehmen Neben der veränderten Rolle der Familie war ein wesentlicher Punkt des Konzeptes der „Neue Welt GmbH“, dass den Mitarbeitern die Möglichkeit gegeben wird, sich an der Firma zu beteiligen.40 Das Konzept wurde als Angebot allen Beschäftigten vorgelegt. Jeder Beschäftigte konnte gegen Zahlung eines Beitrags Mitglied der Genossenschaft werden. Die Mitgliedschaft war allerdings nicht an das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses gekoppelt, d.h. sie endet auch bei Ausscheiden aus der Firma nicht. Zunächst wurde über die Art und Weise der Beteiligung der Mitarbeiter verhandelt. Grundsätzlich kann die Mitarbeiterbeteiligung bei einer eingetragenen Genossenschaft direkt oder indirekt erfolgen. Bei einer direkten Beteiligung beteiligen sich die Zeichner direkt am Unternehmen. Bei einer eingetragenen Genossenschaft würden die Arbeitnehmer daher klassisches Mitglied. Die Mitarbeiter würden eine echte Eigentümerstellung innehaben. In diesem Fall müssen die Beschäftigten jedoch tatsächlich gleichzeitig auch als zu Fördernde in Betracht kommen. Dies wird häufig nicht der Fall sein. In solchen Fällen, wo also die Beschäftigten nicht die ordentliche Mitgliedschaft erwerben können (fehlender Förderzweck), bietet sich lediglich die Möglichkeit der direkten Beteiligung als „investierendes Mitglied“ an. Wollen oder sollen sich die Mitglieder „nur“ indirekt beteiligen, erfolgt in der Regel die Gründung einer eigenen Genossenschaft durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder Einzelne von ihnen. Diese neue Genossenschaft beteiligt sich dann für die Mitarbeiter an der Muttergesellschaft. In allen Fällen der genossenschaftlichen Mitarbeiterbeteiligung kann der Erwerb und die Beendigung der Mitgliedschaft von einem bestehenden wirksamen Arbeitsverhältnis zwischen dem Mitarbeiter und der Muttergenossenschaft abhängig gemacht werden, er muss es aber nicht (zu regeln in den Ausschlussgründen der Satzung). Ferner können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über das 5. VermBG i.V.m.§ 3 Nr. 39 EStG entsprechend gefördert werden. Aufgrund der mit dem zuständigen Genossenschaftsverband abgestimmten Definition des Förderauftrages in der Satzung könnten die Mitglieder sich bei Rodzina direkt und zwar als ordentliche Mitglieder beteiligen. Allerdings sieht das Konzept vor, dass die Mitarbeiter sich als „investierende Mitglieder“ beteiligen. Im Nachgang ist festzustellen, dass mehr als 50% der Mitglieder von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. 40 Simmler, Genossenschaftliche Ausprägung einer Mitarbeiterbeteiligung  – eine Chance auch in Unternehmenskrise und Insolvenz?, Öffentliches Fachforum 20.6.2017: Mitarbeiterkapitalbeteiligung in Unternehmen  – auf dem Weg zu einer Gesellschaft von Teilhabern?.

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Insgesamt führte die Mitarbeiterbeteiligung zu einer Steigerung der Identifikation mit dem Unternehmen, einer Stärkung der Mitarbeiterbindung sowie zu einem Beitrag zur Vermögensbildung der Beschäftigten und stellte damit ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Unternehmen dar. Die teilweise geäußerte Befürchtung, dass die vorgesehene Beteiligung der Mitarbeiter zu einer Verzögerung bei Entscheidungen im Unternehmen führen könnte, trat nicht ein. Schließlich gibt es klare Strukturen, bei denen der Vorstand die Geschäfte führt und der Aufsichtsrat die Tätigkeit des Vorstandes überwacht. Die Mitarbeiter als Mitglieder üben ihre Rechte – wie es die Satzung vorsieht – in der Generalversammlung aus. c) Erwerb der Mitgliedschaft Die Genossenschaft kann entscheiden, wen sie als Mitglied in die Genossenschaft aufnimmt und wen nicht. Die Rodzina-Satzung sieht hierzu folgendes vor: – Die Mitgliedschaft können natürliche Personen, Personengesellschaften sowie juristische Personen des privaten oder öffentlichen Recht erwerben. – Die Mitgliedschaft wird erworben durch eine von dem Beitretenden zu unterzeichnende unbedingte Erklärung des Beitritts, die den Anforderungen des Genossenschaftsgesetzes entsprechen muss und – bei ordentlichen Mitgliedern – durch Zulassung durch den Vorstand. Bei „investierenden Mitgliedern“ bedarf es der Entscheidung des Aufsichtsrates. Die Satzung sieht auch vor, welche Voraussetzungen ein ordentliches Mitglied erfüllen muss. So heißt es: Voraussetzung für die Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Genossenschaft ist, dass der Antragsteller im Bereich der Automobilbranche beruflich, mit seinem Unternehmensgegenstand oder mit seiner öffentlichen Aufgabe tätig ist oder der Antragsteller gegenüber dem Vorstand der Genossenschaft auf dessen Verlangen hinreichend darlegt, dass er in dem genannten Bereich über hinreichende Erfahrungen und Fachkenntnisse verfügt. Über die Zulassung als ordentliches Mitglied entscheidet der Vorstand. Davor prüft er nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen, ob der Antragssteller die satzungsmäßigen Voraussetzungen erfüllt. Der Vorstand kann die Zulassung von ordentlichen Mitgliedern ohne Nennung von Gründen ablehnen oder auf die Zulassung als investierendes Mitglied beschränken, falls dies hilfsweise beantragt wurde Wer für die Nutzung oder Produktion der Güter und die Nutzung oder Erbringung der Dienste der Genossenschaft nicht oder nicht mehr in Frage kommt, kann auf seinen Antrag vom Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats als investierendes Mitglied zugelassen werden. Auch die Übernahme weiterer Geschäftsanteile durch investierende Mitglieder bedarf der Zu-

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Udo Wittler lassung durch den Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats. Investierende Mitglieder sind in der Mitgliederliste als solche zu kennzeichnen.

Bei der Rodzina eG wurden neben den Familienmitgliedern zwei leitende Mitarbeiter und zwei Vertreter von Großkunden ordentliche Mitglieder der Genossenschaft. Diese bestimmten, dass neben den beiden Schwestern ein leitender Mitarbeiter und ein Vertreter der Großkunden in den Aufsichtsrat gewählt wurden. Der Aufsichtsrat ernannte neben dem bisherigen Geschäftsführer den zweiten leitenden Mitarbeiter zum Vorstand der Genossenschaft. Die „investierenden Mitglieder“, die zunächst nur aus Mitarbeitern bestanden (inzwischen sind nahezu alle Kunden hinzugekommen) wählten aus ihrer Mitte ein Aufsichtsratsmitglied. Damit bestand der Aufsichtsrat aus insgesamt fünf Personen. d) Eigenkapital Neben den strukturellen Veränderungen war eine Vorgabe der finanzierenden Banken auch eine Stärkung des Eigenkapitals. Hierzu ist anzumerken, dass das Eigenkapital einer Genossenschaft aus dem Geschäftsguthaben der Mitglieder und den Rücklagen besteht.41 Das Geschäftsguthaben42 besteht aus der Summe der auf den Geschäftsanteil geleisteten Einzahlungen zuzüglich zugeschriebener Gewinne und reduziert um abgeschriebene Verluste. Das Geschäftsguthaben ist also der Betrag, mit dem das Mitglied in einem bestimmten Zeitpunkt an der Genossenschaft beteiligt ist. Je nach wirtschaftlicher Lage der Genossenschaft kann das Geschäftsguthaben also höher oder niedriger sein als die Summe der eingezahlten Geschäftsanteile. Ein Geschäftsanteil ist lediglich eine in der Satzung festgelegte, abstrakte Beteiligungsgröße, die den Höchstbetrag einer Einlage bezeichnet43 – und zwar unabhängig von der Möglichkeit, mehrere Geschäftsanteile zu übernehmen. Die Satzung legt den Betrag des Geschäftsanteils in Euro fest. Die im Sanierungskonzept vorgesehene Stärkung des Eigenkapitals verlangt, dass die Familie (im Rahmen der Umwandlung), Mitarbeiter, Kunden und interessierte Dritte Mitglieder der Genossenschaft werden und ihre gezeichneten Geschäftsanteile „bezahlen“. Ein Geschäftsanteil ist, wenn die Satzung dies vorsieht, sofort voll einzuzahlen. Die Satzung kann allerdings auch regeln, dass der Geschäftsanteil in Raten gezahlt wird:

41 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, § 7 Rz. 5. 42 § 19 Abs. 1 Satz 2 GenG. 43 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, § 7 Rz. 2.

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Viele Genossenschaften haben in ihren Satzungen geregelt, dass lediglich 1/10 des Geschäftsanteils sofort zu zahlen ist. Über die Differenz von 9/10 zum gesamten Geschäftsanteil muss die Satzung keine Regel enthalten.44 In der Regel werden bei Genossenschaften, häufig sind es Kreditgenossenschaften, die 9/10 durch zukünftige Dividenden aufgefüllt. Der Vorteil dieser Regelung liegt darin, dass die Genossenschaft zwar den Geschäftsanteil als Eigenkapital hat, allerdings, wenn die Satzung keine andere Regelung trifft, nur auf das Geschäftsguthaben Ausschüttungen vorgenommen werden müssen. Neben dieser sich aus dem Gesetz ergebenden Regelung kann der Vorstand, wenn die Satzung es vorsieht, Ratenzahlungen auf den Geschäftsanteil bis zum Erreichen des Zeichnungsbetrages zulassen. Hierzu hat der BGH entschieden: Gestattet eine Genossenschaft dem beitretenden Genossen, die geschuldete Pflichteinlage in Raten zu leisten, verstößt die Ratenzahlungsvereinbarung nicht gegen § 22 Abs. 4 Satz 2 GenG. Sie ist keine verbotene Kreditgewährung. Eine Ratenzahlungsvereinbarung ist wegen Verstoßes gegen § 7 Nr. 1 GenG unwirksam, wenn in der Satzung der Genossenschaft keine Regelung enthalten ist, nach der die Einzahlung der Pflichteinlage in Raten erfolgen darf. Wird über das Vermögen der Genossenschaft das Insolvenzverfahren eröffnet, fallen fällige, rückständige Pflichteinzahlungen der Genossen in die Insolvenzmasse und können vom Insolvenzverwalter eingefordert werden.45

Um nicht von einem Mitglied und dessen Verbleib in der Genossenschaft abhängig zu werden, kann die Satzung bestimmen, dass sich ein Mitglied zwar mit mehr als einem Geschäftsanteil beteiligen darf, sie kann aber auch eine Höchstzahl festsetzen. Der Normalfall ist, dass die gezeichneten Geschäftsanteile in bar zu „bezahlen“ sind. Das Genossenschaftsgesetz46 lässt allerdings zu, wenn dies in die Satzung aufgenommen ist, dass die Einzahlung auf den Geschäftsanteil auch durch eine Sacheinlage erfolgen kann. Hinsichtlich der Generierung des Eigenkapitals ist die Genossenschaft anders als andere Rechtsformen absolut offen, d.h. neue Mitglieder können zu jedem Zeitpunkt in die Genossenschaft eintreten und bestehende Mitglieder jederzeit die Anzahl ihrer Geschäftsanteile – im Rahmen der durch die Satzung geregelten Größenordnung – erhöhen. Es ist kein Beschluss zur Erhöhung des Eigenkapitals erforderlich. Anders ausgedrückt: Bei Genossenschaften gibt es keine Kapitalerhöhung mit einem Beschluss, dem sich alle Mitglieder zu unterwerfen haben. Es besteht allerdings die Möglichkeit, im Rahmen einer Satzungsänderung den Wert des Geschäftsguthabens zu erhöhen. Hierzu ist dann die Zustimmung der Generalversammlung erforderlich. Dies würde eine indirekte Kapitalerhöhung darstellen. 44 Holthaus/Lehnhoff in Lang/Weidmüller, GenG, § 7 Rz. 9. 45 BGH v. 16.3.2009 – II ZR 138/08.  46 § 7a GenG.

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Dieser im Wesentlichen auf „Freiwilligkeit“ beruhende Weg der Erhöhung des Eigenkapitals und die nicht auszuschließende Möglichkeit eines Mitglieds ohne Beschluss der Gesellschaft aus der Genossenschaft austreten zu können, war in der Vergangenheit aus Sicht von Finanzierenden durchaus ein wesentlicher Schwachpunkt bei Genossenschaften. Schließlich haben Mitglieder mit Austritt einen Anspruch auf Auszahlung ihres Genossenschaftsguthabens, was zu einer Reduktion des Eigenkapitals führt. Nach der Änderung des Genossenschaftsgesetzes ist es nun möglich, in die Satzung Regelungen aufzunehmen, die zumindest Teile diese „Schwachpunktes“ korrigieren. e) Beendigung der Mitgliedschaft Bei diesem Punkt treten bei vielen Mitgliedern einer Genossenschaft erhebliche Irritationen auf. Sie vergleichen ihre Beteiligung mit Beteiligungen bei Gesellschaften anderer Rechtsformen und wundern sich, dass sie ihre Anteile nicht (z.B. über die Börse) verkaufen können. Hierzu ist klarzustellen, dass es – obwohl es diesen Verkauf nicht gibt – die Möglichkeit gibt, sich als Mitglied von seiner „Beteiligung“ an der Genossenschaft zu trennen. Das Recht, die Genossenschaft ohne Zustimmung der Gremien jederzeit zu verlassen, haben die Mitglieder auch nach der letzten Anpassung des Genossenschaftsgesetzes. Aufgrund mit der letzten Gesetzesnovelle verknüpfter Änderungen können jetzt aber „Schutzmaßnahmen“ gegen die Folgen ungeplanter Abgänge (Verlust von Eigenkapital) zum Schutze der Genossenschaft in die Satzung aufgenommen werden. Bei der ersten, am häufigsten gewählten Möglichkeit, die Genossenschaft zu verlassen, handelt es sich um die Übertragung der Geschäftsanteile auf einen anderen. Dies kommt dem Verkauf von Gesellschaftsanteilen bei anderen Rechtsformen nahe, ist allerdings ein Vorgang, in den die Genossenschaft nur indirekt eingebunden ist. Einer besonderen „Schutzmaßnahme“ für die Genossenschaft bedarf es in diesem Fall nicht, da sich hierdurch das Eigenkapital nicht verändert. In die Rodzina-Satzung wurde hierzu aufgenommen: Ein Mitglied kann jederzeit, auch im Laufe des Geschäftsjahres, sein Geschäftsguthaben durch schriftlichen Vertrag einem anderen übertragen und hierdurch aus der Genossenschaft ohne Auseinandersetzung ausscheiden, sofern der Erwerber an seiner Stelle Mitglied ist oder wird. Die Übertragung des Geschäftsguthabens oder eines Teils davon, bedarf der Zustimmung des Vorstands.

Die zweite Möglichkeit, die Genossenschaft zu verlassen, ist die Kündigung des Geschäftsanteils. Als „Schutzmaßnahme“ wurde in die Satzung von Rodzina entsprechend der gesetzlichen Möglichkeiten aufgenommen, dass jedes Mitglied seine Mitgliedschaft zum Ende eines Geschäftsjahres unter Einhaltung einer Frist von fünf Jahren schriftlich kündigen kann. Hierdurch erhält die Genossenschaft ausreichend Zeit, sich auf einen eventuellen Abzug des Eigenkapitals einzurichten. 560

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Eine weitere „Schutzmaßnahme“ stellt die Aufnahme eines immer zu gewährleistenden Mindestkapitals in die Satzung dar. So sieht die Rodzina-Satzung vor, dass das Eigenkapital der Genossenschaft durch Rückzahlungen von Auseinandersetzungsguthaben an ausgeschiedene Mitglieder 97% des Gesamtbetrags der Geschäftsguthaben zum Ende des vorangegangenen Geschäftsjahres nicht unterschreiten darf. f) Auseinandersetzung nach dem Ausscheiden Wie schon erwähnt, findet nach der Kündigung der Mitgliedschaft die sogenannte Auseinandersetzung zwischen der Genossenschaft und dem ausgeschiedenen Mitglied statt. Die Auseinandersetzung erfolgt unter Zugrundelegung der Bilanz des Jahres, zu dessen Ende die Kündigung des Geschäftsanteils wirksam wird. § 73 GenG regelt die Auseinandersetzung mit der Maßgabe, dass das Mitglied – anders als bei anderen Rechtsformen – maximal sein eingezahltes Geschäftsguthaben zurückerhält und keinen Anspruch auf das sonstige Vermögen der Genossenschaft oder auf deren Rücklagen hat. Etwaige Verluste der Genossenschaft werden anteilig vom Auseinandersetzungsguthaben in Abzug gebracht. In der Rodzina-Satzung ist die Auseinandersetzung nach dem Ausscheiden des Mitglieds wie folgt geregelt: Für die Auseinandersetzung zwischen dem ausgeschiedenen Mitglied und der Genossenschaft ist der festgestellte Jahresabschluss maßgebend; Verluste und Verlustvorträge sind nach dem Verhältnis der übernommenen oder der satzungsgemäß zu übernehmenden Geschäftsanteile zu berücksichtigen. Bei Übertragung des Geschäftsguthabens findet keine Auseinandersetzung statt, ebenso nicht im Fall der Fortsetzung der Mitgliedschaft im Erbfall.

Auch an dieser Stelle wird von einigen ausscheidenden Mitgliedern ein Vergleich mit anderen Rechtsformen herangezogen. Man muss allerdings klar sagen, dass eine Genossenschaft einen anderen Charakter hat, als z.B. eine Aktiengesellschaft. Schließlich ist gemäß § 1 GenG der Zweck der Genossenschaft darauf gerichtet, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale und kulturelle Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern. Dieser Förderauftrag kann nur erfüllt werden, wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Genossenschaft durch Austritte ihrer Mitglieder nicht geschmälert wird. Aus diesem Grund bekommt das Mitglied im Fall des Ausscheidens maximal sein eingezahltes Kapital zurück. Diese Vorgehensweise ist nicht überraschend und jedem Mitglied bei Eintritt in die Genossenschaft nach Lesen der Satzung bekannt.

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3. Die Aufsicht und deren Qualität Jede Genossenschaft muss nach § 9 Abs. 1 Satz 1 GenG einen Aufsichtsrat haben. Bei Genossenschaften mit nicht mehr als 20 Mitgliedern kann gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 GenG durch Bestimmung in der Satzung auf einen Aufsichtsrat verzichtet werden. In diesem Fall nimmt die Generalversammlung die Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats wahr, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Da man bei der Rodzina eG von einer zukünftigen Mitgliederzahl von über 20 ausgegangen ist, wurde in der Satzung festgelegt, dass die Zusammenkunft aller Mitglieder (Generalversammlung) einen Aufsichtsrat wählt, der aus insgesamt fünf Mitgliedern besteht. Hiervon werden vier Mitglieder in der Generalversammlung von allen anwesenden stimmberechtigten (ordentlichen) Mitgliedern gewählt. Die „investierenden Mitglieder“ haben bei dieser Wahl kein Stimmrecht. Sofern der Genossenschaft ein oder, wie bei der Rodzina eG, mehrere „investierende Mitglieder“ angehören, wird laut deren Rodzina-Satzung zusätzlich ein weiteres Aufsichtsratsmitglied in der Generalversammlung gewählt und zwar ausschließlich von den anwesenden stimmberechtigten „investierenden Mitgliedern“. Hinweis: Zwar verlangt das Genossenschaftsgesetz lediglich drei Aufsichtsratsmitglieder. Die hier vorgesehene Anzahl von fünf Aufsichtsratsmitgliedern hat sich allerdings in der Praxis als zweckdienlich erwiesen. Größere Aufsichtsräte, die insbesondere im Nachgang nach Verschmelzungen zumindest übergangsweise entstehen, kommen bei Genossenschaften durchaus häufig vor. Obwohl die Größe nicht unbedingt als Indiz für Ineffektivität angesehen werden kann, wird gleichwohl in vielen Fällen versucht, die Zahl zu reduzieren und die Arbeit des Aufsichtsrates durch den Einsatz von Ausschüssen effektiver zu gestalten. Oft wird den Aufsichtsräten von Genossenschaften eine mangelnde Qualifikation vorgeworfen, ohne dass dieser Vorwurf näher begründet wird. Richtig ist sicherlich, dass sich in vielen Genossenschaften keine „professionellen“ Aufsichtsräte finden lassen, sondern engagierte und i.d.R. facherfahrene Mitglieder, die einen besonderen Bezug zur Genossenschaft, zur Branche oder zur Region haben. Ohne hier näher auf die vielen Fehler bei z.B. hochgelobten Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften eingehen zu wollen, sind viele Genossenschaften dazu übergegangen, Anforderungsprofile für Aufsichtsräte zu definieren und durch die Mitgliederversammlung genehmigen zu lassen. Diese Anforderungsprofile haben das Ziel, den Aufsichtsrat so zu besetzen, dass eine qualifizierte Kontrolle und Beratung des Vorstandes der Genossenschaft sichergestellt ist.

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4. Beschaffung von Finanzierungsmitteln Wie oben bereits erwähnt, sieht das Sanierungskonzept der Rodzina GmbH vor, dass von den finanzierenden Banken weitere Kreditmittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Das wirft die Frage auf, wie sich Genossenschaften Finanzierungmittel beschaffen können und ob es hier rechtsformbedingte Einschränkungen gibt. Wie ebenfalls oben erwähnt, haben die angesprochenen Banken nach Vorlage des Sanierungskonzeptes ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Gewährung neuer Kredite erklärt. Eine Restriktion hinsichtlich der vorgesehenen Rechtsform hat es hier nicht gegeben. Es wurde lediglich die Umsetzung des Konzeptes einschließlich der Rechtsformänderung zur Auflage gemacht. Auch die derzeit in der Konsultation befindlichen Vorgaben der MaRisk47 verlangen von den Kreditinstituten keine Einschränkung bei Krediten an Genossenschaften. Es ist somit klar, dass Genossenschaften, wie jede andere Rechtsform auch, bei entsprechender Bonität durch die Aufnahme von Krediten oder durch die Begebung einer Unternehmensanleihe die für ihren Geschäftsbetrieb notwendigen Finanzierungsmittel darstellen können. Wie bereits angesprochen, ist einer Genossenschaft ein anderer Weg, an Finanzierungsmittel zu kommen, weitestgehend versperrt. In vielen Fällen wird im Rahmen der Sanierungsbegleitung von den beteiligten Banken (zwecks Dokumentation des Sanierungswillens der Gesellschafter) eine Kapitalerhöhung verlangt. Das ist bei einer Genossenschaft – anders als bei anderen Rechtsformen – nicht möglich. Zwar kann eine Genossenschaft ihr Eigenkapital dadurch erhöhen, dass die Mitglieder in ihrer Generalversammlung eine Erhöhung des Geschäftsanteils beschließen. Ein entsprechender Beschluss zur Satzungsänderung würde die Mitglieder verpflichten, den Differenzbetrag zu leisten, was quasi einer Kapitalerhöhung gleichkäme. Dieses Mittel versagt allerdings, wenn die Mitglieder nicht willens oder in der Lage sind, sich auf eine solche Erhöhung einzulassen. Ohne besonderen Beschluss bleibt der Genossenschaft dann nur die Möglichkeit, durch Einwerben neuer Mitglieder und deren Einzahlungen auf ihre Geschäftsanteile zusätzliches Kapital zu generieren. Bei der aus der Rodzina GmbH hervorgegangenen eG war im Rahmen der Umsetzung des Sanierungskonzeptes keine satzungsmäßige Erhöhung des Geschäftsanteils erforderlich. Die Familie (im Rahmen der Umwandlung), die Mitarbeiter und angesprochenen Kunden sind nach Eintragung in das Genossenschaftsregister Mitglieder mit entsprechenden Geschäftsanteilen zu dem in der Satzung aufgeführten Wert ge47 Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht.

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worden. Das so „eingesammelte Eigenkapital“ übertraf die Annahmen in der Planung bei weitem. Aus dem Kreise einiger Kunden von Rodzina kam die Frage auf, ob nicht ihre Forderungen (aus Geschäften mit der Genossenschaft/begebenen Anleihen, usw.) gegen die Genossenschaft in Eigenkapital umgewandelt werden könnten. Diese Art der Eigenkapitalbeschaffung ist bei Genossenschaften allein vom System her schon nicht möglich (also kein Debt-to-Equity Swap). Dadurch geht zwar vermeintlich ein Potential an zukünftigen Gesellschaftern verloren. Entscheidend ist aber, dass – bei dem unterstellten ersthaften Willen des Gläubigers am Erwerb einer Mitgliedschaft – die Genossenschaft mit dieser Mittelbeschaffung und ihren Ausprägungen durchaus eine vergleichbare Möglichkeit hat. Wie bereits bei der Satzung der neuen Rodzina eG angesprochen, besteht die Möglichkeit, neuen Mitgliedern das Recht einzuräumen, ihren Geschäftsanteil nicht in  Bar einzahlen zu müssen, sondern den Anteil, wenn die Satzung es wie bei der Rodzina eG vorsieht, durch Sacheinlage zu erbringen.

VI. Fazit Wie anhand des Beispiels der ursprünglichen Rodzina GmbH dokumentiert, ersetzt der „genossenschaftliche Weg“ die üblichen Maßnahmen zur Krisenbeseitigung nicht. Er ergänzt aber die bestehenden Möglichkeiten und eignet sich besonders für Familienunternehmen. So wie es für keine Unternehmensform, also auch nicht für Familienunternehmen, ein allgemeingültiges Patentrezept für die erfolgreiche Unternehmensführung gibt, gibt es dies ebenso wenig für die Beseitigung einer Krise. Schließlich können Krisen unterschiedlichen Ursprungs und unterschiedlicher Dauer sein und mit unterschiedlichem Gefährdungspotenzial einhergehen. Daher wird eine allgemeine Unternehmenskrise48 auch als ein Zustand bezeichnet, der die Existenz und Überlebensfähigkeit eines Unternehmens in Frage stellt und sich durch ungeplante und ungewollte, endogen und exogen bedingte Prozesse von begrenzter Dauer und Beeinflussbarkeit sowie durch einen ambivalenten Ausgang auszeichnet. Bezogen auf Familienunternehmen sind Krisen unternehmensbedrohend und unternehmensverändernd und gefährden Eigentum und Einfluss der Unternehmerfamilie.49

48 Rüsen, Krisen und Krisenmanagement in Familienunternehmen, 2017, unter Berufung auf Maus, Krystek & Müller. 49 Rüsen, Krisen und Krisenmanagement in Familienunternehmen, 2017. 

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Familienunternehmen in der Krise

Natürlich gibt es typische Abläufe und Prozesse einer Krise und einen „Baukasten“ an möglichen Maßnahmen für eine erfolgreiche Sanierung. Hier setzt der „genossenschaftliche Weg“ an und weitet den möglichen Maßnahmenkatalog aus. Im Familienunternehmen Rodzina kamen mehrere Auslöser einer zu behebenden Unternehmenskrise zusammen: – wirtschaftliche Probleme durch Abhängigkeit von einer in Schwierigkeiten geratenen Branche – kostenintensive Probleme durch in der Vergangenheit nicht angepasste Strukturen und Abläufe im Unternehmen – Probleme der Entscheidungsfindung innerhalb der Familie – unzufriedene Mitarbeiter – ungeklärte Zukunft des Unternehmens und – ungeklärte bzw. fehlende Nachfolgeregelung. Das Positive war hier, dass die eingeschaltete Beratungsgesellschaft ein Konzept entwickelte, das nicht nur Maßnahmen zur Behebung der wirtschaftlichen Probleme enthielt, sondern auch die Probleme und Vorstellungen der Familie und der Mitarbeiterschaft berücksichtigte. So wurde als Alternative im Fall Rodzina eine Übernahme durch die Kinder oder der Verkauf an einen externen Investor auf Wunsch der Familie ausgeschlossen und die durchaus interessante, bislang aber wenig bekannte Option der Umwandlung der GmbH in eine eingetragene Genossenschaft (eG) vorgeschlagen. Insbesondere der Familie war es wichtig, dass sich durch die im Konzept vorgesehenen Möglichkeiten die Chance bot, das in der Region verwurzelte Unternehmen und die damit verbundenen spezifischen regionalen Angebote und Traditionen weiterzuführen. Dieser Weg war für die Familie umso tragfähiger, als ihr bewusst wurde, dass genossenschaftliche Unternehmen gerade in den ländlichen Räumen zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftskraft, zum Erhalt von Arbeitsplätzen und zur Identifikation der Menschen mit ihrer Region beitragen. Auch konnte bei dem vorgeschlagenen Modell der Übergang in der Unternehmensführung gleitend vom bisherigen Geschäftsführer auf eine neue Führungsmannschaft erfolgen. Als besonderer Vorteil des vorgeschlagenen Modells wurde angesehen, – dass die Familie nach wie vor Einflussmöglichkeit im Unternehmen hat; (Bei der Genossenschaft war aufgrund der gesetzlichen Vorgaben und der in der Satzung festgelegten Möglichkeiten klar definiert, dass der Vorstand die Geschäfte führt, der Aufsichtsrat die Tätigkeit des Vorstandes überwacht und ihm beratend zur Seite steht und die „ordentlichen Mitglieder“ in der Generalversammlung ihre 565

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Rechte, zu denen allerdings nicht die Führung des Unternehmens gehört, ausüben können.) – dass wesentliche Kunden sich am Unternehmen beteiligen können, ohne besonderen Einfluss auszuüben; – dass Mitarbeiter die Möglichkeit erhielten, sich am Unternehmen zu beteiligen; (Hierdurch sah man eine Sicherung des bisher erworbenen Know-how und die Kompetenzen der Beschäftigten für die Zukunft sowie eine zusätzliche Motivation der Mitarbeiter.) – dass, und das war der Familie besonders wichtig, mit der Überführung in eine Genossenschaft strategische und vertrauliche Unternehmenswerte vor fremdem Einfluss geschützt und die bewährte Unternehmenskultur erhalten werden konnten. Der „genossenschaftliche Weg“ gehört sicherlich noch nicht zum Standard-Werkzeug der Berater. Er ist auch nicht für jeden Fall sinnvoll und zielführend. Er eröffnet aber aufgrund der Möglichkeiten, die das Genossenschaftsgesetz bietet, erheblichen Gestaltungsspielraum. Gerade für Familienunternehmen kann die Beschäftigung mit dem „genossenschaftlichen Weg“ interessant sein, da hinsichtlich ihrer Grundausrichtung und Zielsetzung Familienunternehmen und Genossenschaften eine große Schnittmenge habe. Für die Rodzina-GmbH war der „genossenschaftliche Weg“ ein Segen. Die Irrita­ tionen in der Familie wurden behoben, das Problem der Nachfolge in der Geschäftsführung wurde hervorragend gelöst, die Mitglieder (Familie, Mitarbeiter, Kunden, interessierte Dritte) sind nach Umsetzung des Sanierungskonzeptes mit IHREM Unternehmen, das nur noch indirekt als Familienunternehmen angesehen werden kann, zufrieden. Und auch die „Neue Wege GmbH“ ist zufrieden. Der Erfolg bei Rodzina hat sich „herumgesprochen“. Inzwischen hat eine Vielzahl von Familienunternehmen bereits um ihren Rat und ihre Expertise nachgefragt.

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