Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428430284, 9783428030286

145 61 67MB

German Pages 603 Year 1973

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428430284, 9783428030286

Citation preview

FESTSCHRIFT FüR ULRICH SCHEUNER

Festschrift für

ULRICH SCHEUNER zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Horst Ehmke . Joseph H. Kaiser· Wilhelm A. Kewenig Karl Matthias Meessen . Wolfgang Rüfner

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der übersetzung, vorbehalten. © 1973 Duncker & Humblot, BerUn 41 Gedruckt 1973 bei Albert Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03028 1

Widmung Um Ulrich Scheuner zu seinem 70. Geburtstag Verehrung, Freundschaft und Dank auszudrücken, hat sich in dieser Festschrift ein Kreis von Autoren versammelt, dem angehören zu wollen auch noch mancher andere die Herausgeber hat wissen lassen, dem aber ein solches Unternehmen Grenzen setzt, die in der Sache liegen.

Ulrich Scheuner repräsentiert die in den ersten bei den Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland maßgebenden Auffassungen von Staat und Gesellschaft, er hat Maßstäbe gesetzt: auf seinem Lehrstuhl und im Austausch mit den Trägern des politischen und administrativen Willens in Bonn, in einer Reihe großer Verfassungsprozesse vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, und immer wieder in der wissenschaftlichen Durchdringung der im Staat, in der Wirtschaft und in der Kirche, in der Europäischen Gemeinschaft und in der Völkerrechtsgemeinschaft aktuellen Fragen. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer kennt ihn als einen Referenten und Diskussionsredner, dessen immer formvollendete Beiträge mancher Debatte einen beispielhaften Standard gesetzt und sie in vielfach weit ausgreifenden, abwägenden Wendungen abgerundet haben. Seine Situationsanalysen sind ebenso differenziert wie treffend; seine Kenntnis historischer Zusammenhänge, einschließlich der Kunstgeschichte, sind bewundernswert und manchmal verblüffend. Gegenüber allen Formen, in denen sich der Geist einer Zeit ausprägt, ist Ulrich Scheuner offen; Vorliebe und Affinität empfindet er dabei vielleicht gegenüber dem 18. Jahrhundert und der Staatskunst des Barock. Ulrich Scheuner ist ein Meister des juristischen Essays, und so dürfen Herausgeber und Autoren dieser Festschrift hoffen, ihm mit ihren Beiträgen eine Gabe darzubringen, deren literarische Form seinem Schaffen ebenso entspricht wie die Themen sich von der Spannweite seines Wirkens haben inspirieren lassen. Ad multos annos! Horst Ehmke

J oseph H. Kaiser

Karl Matthias Meessen

Wilhelm A. Kewenig

Wolfgang Rüfner

Inhalt Horst Ehmke, Bonn:

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner zum 60. Geburtstag . . . . . . . . . . . . ..

11

Peter Badura, München:

Verfassung und Verfassungsgesetz

19

Richard Baxter, Cambridge/Mass.:

Criteria of the Prohibition of Weapons in International Law . . . . . . . . ..

41

Alexander Freiherr von Campenhausen, München:

Verantwortete Partikularität, Mitgliedschaftsvereinbarung und Leuenberger Konkordie .................................................. 53 Karl Carstens, Bonn:

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971

67

Ernst FTiesenhahn, Bonn:

Einige Anmerkungen zum Verfassungsbegriff und zum Staatsvertragsreferendum der Schweizerischen Eidgenossenschaft .................. 85 Jochen A. Frowein, Bielefeld:

Zum Begriff und zu den Folgen der Nichtigkeit von Verträgen im Völkerrecht ........................................................ 107 Konrad Hesse, Freiburg:

Grenzen der Verfassungswandlung .................................. 123 Alexander HoHerbach, Freiburg:

über Godehart Josef Ebers (1880 - 1958). Zur Rolle katholischer Gelehrter in der neueren publizistischen Wissenschaftsgeschichte ............ 143 Ernst Rudolf Huber, Freiburg:

Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem .......... . ............. 163 Hans Huber, Muri:

Die Gesamtänderung der Verfassung. Ansätze für einen Vergleich zwischen Österreich, der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland 183

Inhalt

8 Hans-Peter Ipsen, Raven:

über Supranationalität ............................................ 211 Hermann Jahrreiss, Köln:

Legum Prudentia ........................................... . ...... 227 Joseph H. Kaiser, Freiburg:

Die Verfassung der öffentlichen Wohlfahrtspflege .................... 241 Wilhelm A. Kewenig, Kiel:

Die Problematik der Bindungswirkung von Entscheidungen des Sicherheitsrates .......................................................... 259 Herbert Krüger, Hamburg:

Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen .......... 285 Hermann Kunst, Bonn:

Martin Luther als politischer Berater seines Landesherrn .. . . . . . . . . .. 307 Gerhard Leibholz, Göttingen:

Grenzen der staatlichen Rechtsaufsicht gegenüber Rundfunk- und Fernsehanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 363 Christoph Link, Wien:

"Jus divinum" im deutschen Staatsden~en der Neuzeit. . . . . . . . . . . . . . .. 377 F.A.~ann,London:

The Doctrine of Jus Cogens in International Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 399 Theodor Maunz, München:

Das Elternrecht als Verfassungsproblem ............................ 419 Karl ~atthias ~eessen, Bonn:

Beraterverträge und freies Mandat .................................. 431 Paul ~ikat, Düsseldorf:

Zur Fürbitte der Christen für Kaiser und Reich im Gebet des

1. Clemensbriefes .................................................. 455 Hermann ~osler, Heidelberg:

Gleichheit der Eltern beim Erwerb der Staatsangehörigkeit der Kinder 473 Walter Rudolf, Mainz:

Der Wandel in den internationalen Beziehungen und das Gesandtschaftsrecht ........................................................ 493

Inhalt

9

Wolfgang Rüfner, Kiel:

Die Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit bei der Bemessung der Enteignungsentschädigung ................................ 511 Erich Ruppel, Hannover:

Die Ordnungen des kirchlichen Lebens und ihre Stellung im kirchlichen Rechtsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 529 Peter Saladin, Bern:

Wachstumsbegrenzung als Staatsaufgabe ............................ 541 Hans Schneider, Heidelberg:

Die Parlamentarischen Staatssekretäre in Preußen 1919 - 1921 ........ 563 Rudolf Smend, Göttingen:

Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und der Richtungsstreit .............................................................. 575 Werner Weber, Göttingen:

Die Bindung theologischer Habilitationen an theologische Fakultäten oder Fachbereiche .................................................. 591

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner 10. Januar 1964, Redoute Sehr verehrter, lieber Herr Scheuner, als Sie nach einer Reihe geschickter Ausweichmanöver zur großen Freude von Herrn Kaiser und mir schließlich unser Vorhaben guthießen, Ihren 60. Geburtstag in diesem kleinen Kreise zu feiern, müssen Sie sich darüber im klaren gewesen sein, daß unser Vorhaben nicht so uneigennützig gedacht ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie wissen also schon, worauf ich unsere verehrten Gäste jetzt erst vorbereiten muß, daß wir hier keine Denkmalsenthüllung zu veranstalten beabsichtigen. Vielmehr wollen wir an diesem Tage, der in Ihnen volle Schaffenskraft mit der Klugheit langjähriger Erfahrung glücklich vereint sieht, eine Zwischenbilanz ziehen, um Ihnen dann in diesem Kreis gewichtiger Zeugen sagen zu können, was wir im neuen Lebensjahrzehnt alles von Ihnen erwarten. Ich weiß nicht, welcher Kreis vor 60 Jahren an Ihrem Geburtstag zur Feier eines so schönen und höchstpersönlichen Weihnachtsgeschenks zusammengekommen ist. Doch gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, daß dieser Kreis in dem Hause Ihrer Eltern, des protestantischen preußischen Regierungspräsidenten und der - bis auf unsere Tage als ungewöhnliche Frau gerühmten - Tochter des Kammergerichtspräsidenten von Staff, fast die gleichen Lebensbereiche zusammengeführt haben dürfte, die wir heute in unserem Kreis vereint sehen: Kirche, Verwaltung, Justiz, Politik und Wirtschaft. Sie sind also geradezu in den Bereich des öffentlichen Lebens hineingeboren worden. Eine Erweiterung wird man dagegen wohl in der starken Vertretung der Wissenschaft in unserem heutigen Kreise zu sehen haben. Das ist der Bereich, den Sie sich in Ihrem Leben selbständig erschlossen haben. Sie haben in München und Münster studiert, sind dort Fakultätsassistent gewesen und haben 1925 bei Josef Lukas promoviert. Dann sind Sie nach Berlin, ins Zentrum des öffentlichen Lebens gegangen und dort als Fakultätsassistent und Referent am Bruns'schen Institut tätig gewesen. Ihre Arbeitskraft muß schon damals groß gewesen sein. Herr Smend pflegt jedenfalls die Arbeitslust seiner Schüler meist durch Berichte über Sie anzustacheln, etwa wie Sie ihm eines Tages einen großen Stoß korrigierter übungsarbeiten zurückgebracht und auf die Frage, warum Sie einen schwarzen Anzug trügen, geantwortet hätten, Sie kämen gerade aus dem

12

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner

- mit Glanz bestandenen - Assessorexamen. Gleichzeitig haben Sie sich gewissermaßen nebenbei in der Berliner Fakultät unter Heinrich Triepel und Rudolf Smend mit einer Arbeit über die Regierung habilitiert. 1933 erhielten Sie einen Ruf auf eine ordentliche Professur in Jena, die Sie bis 1940 wahrnahmen, während Sie gleichzeitig am Thüringischen Oberverwaltungsgericht als Oberverwaltungsgerichtsrat tätig waren. 1940 folgten Sie einem Ruf nach Göttingen, bald darauf einem weiteren nach Straßburg, zogen es dann aber vor, diesen Platz mit dem eines Kriegsgerichtsrats mit Prisenjurisdiktionsaufgaben und schließlich mit dem aktiven Dienst in der Truppe zu vertauschen. Nach dem Kriege haben Sie nach einigen im wesentlichen mit praktischer Rechtsberatertätigkeit für kirchliche Organisationen aber auch für das Finanzministerium angefüllten Jahren einen Ruf nach Bonn angenommen. Und hier sind Sie nun gar nicht mehr wegzudenken. Versucht man die mit diesem äußeren Werdegang verbundene Leistung zu überblicken, so muß man sich zunächst eingestehen, daß dies gar nicht so leicht ist. Es liegen von Ihnen - und ich kann für meine Zusammenstellung keine Vollständigkeit in Anspruch nehmen - weit über 100 wissenschaftliche Veröffentlichungen vor, Lexika-Beiträge und Besprechungen nicht mitgerechnet. Mit diesen dürfte sich die Zahl auf etwa 150 erhöhen. Dabei ist zweierlei auffallend: negativ zunächst - und dazu müssen wir an Ihrem 60. Geburtstag nachher noch ein ernstes Wort sagen -, daß größere zusammenfassende Arbeiten bisher fast völlig fehlen. Positiv dagegen, daß Ihre Arbeiten den gesamten im weitesten Sinne verstandenen Bereich des öffentlichen Rechts umspannen und Ihr Schwergewicht eindeutig auf der Behandlung der grundsätzlichen Fragen und Probleme liegt. Ich glaube keinem unserer Kollegen zu nahe zu treten, wenn ich sage, daß es in unseren Reihen kaum jemanden gibt, der das öffentliche Recht - Völkerrecht, Kirchenrecht und Staats-Kirchenrecht, Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsgeschichte und Staatslehre - in dem Umfang übersieht und beherrscht, wie Sie es tun. Wenn ich mit dem Völkerrecht anfangen darf, so sind hier eine Reihe von Arbeiten hervorzuheben, von Ihrer frühen Untersuchung im Reeueil des Cours über den Einfluß des innerstaatlichen Rechts auf die Bildung des Völkerrechts (1939), über die Untersuchungen der naturrechtlichen Strömungen im heutigen Völkerrecht (1951) bis hin zur Behandlung der Frage der kollektiven Sicherheit (1958) oder der Rechtsetzungsbefugnisse internationaler Gemeinschaften (1960). Dabei scheinen mir zwei Züge für Ihr Denken kennzeichnend zu sein: einmal Ihr besonderes Interesse an sog. Grenzproblemen, diesen fragwürdigen Ergebnissen der modernen Spezialisierung, hier also an Fragen des Verhältnisses vom staatlichen Recht zum sog. supranationalen Recht und zum Völkerrecht. Es sind Fragen, die zugleich die staatliche wie die völkerrechtliche Ordnung als

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner

13

Ganzes in den Blick bringen. Zum anderen ist die enge Verbindung Ihrer juristischen Arbeit mit praktischen, politischen Aufgaben hervorzuheben, wie Sie etwa in Ihren Beiträgen zur Rechtslage Deutschlands (1951/52) und zur Frage der Wiedervereinigung (1956) zum Ausdruck kommt. Von daher hat sich geradezu folgerichtig nicht nur Ihre Mitherausgeberschaft in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und beim Wörterbuch des Völkerrechts, sondern auch Ihre beratende Mitarbeit an außenpolitischen Fragen, u. a. in der deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, ergeben. Im Mittelpunkt Ihrer staats-kirchenrechtlichen Arbeiten steht im Rahmen der entscheidend von Rudolf Smend angeregten und bestimmten Diskussion die Untersuchung des grundsätzlichen Verhältnisses von Staat und Kirche unter dem Bonner Grundgesetz (1957/58; 1959/60), das Sie zugleich in speziellere Probleme, etwa solche der Gerichtsbarkeit im kirchlichen Bereich, verfolgt haben (1953/54; 1957/58). Gleichzeitig haben Sie - so noch vor kurzem in den Besprechungen der Werke von Erik Wolf und Dombois (1963) - die Entwicklung des evangelischen Kirchenrechts kritisch mitverfolgt und sind in Ihren Vorträgen über Recht und Gerechtigkeit und das Naturrecht nach evangelischer Auffassung vom Kirchenrecht her Fragen der allgemeinen Rechtslehre und Rechtsordnung nachgegangen. Die Verbindung Ihrer kirchenrechtlichen Arbeit mit der kirchlichen Praxis hat nicht nur in einer umfangreichen Vortrags- und Beratungstätigkeit Ausdruck, sondern in der Mitgliedschaft in der Synode der Rheinischen Kirche und - im ökumenischen Rahmen - in der Commission of Churches und International Affaires zugleich Anerkennung gefunden. Der Umstand, daß auf der Weltkirchenkonferenz in New Delhi Ihrem Diskussionsbeitrag in der Kommission offenbar als einzigem eine eingehende Würdigung im Plenum zuteil geworden ist, zeigt, daß auch der völkerrechtlich-außenpolitische und der kirchliche Kreis Ihrer Arbeit nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern einander durchdringen und befruchten. Der Schwerpunkt Ihrer verwaltungsrechtlichen Arbeit lag - eng verbunden mit Ihrer richterlichen Tätigkeit am Thüringischen OVG - in den frühen Jahren, aber noch heute ist man verblüfft, neben Arbeiten über grundsätzliche Fragen des Staatsrechts oder der Staatslehre aus Ihrer Feder plötzlich Abhandlungen über den Gemeingebrauch (1958) oder die Staatshaftung vor sich zu haben, deren Detailbeherrschung frappierend ist. Die Verbindung mit dem Kirchenrecht, etwa in Fragen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im kirchlichen Bereich habe ich oben schon erwähnt. Ebenso deutlich ist aber - so in Ihren Diskussionsbeiträgen auf den Staatsrechtslehrertagungen in Hamburg (1955) und in Wien (1958) die Verbindung Ihres verwaltungsrechtlichen Denkens mit Ihrer grundsätzlichen staatsrechtlichen Position. Sie streiten - zusammen mit Herrn

14

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner

Peters, Herrn Ridder, u. a. - für ein wirklichkeitsbezogenes Verwaltungsrecht gegen eine Ansicht, die weder über die Grenzen des Positivismus noch über die der Bundesrepublik hinauszublicken wagt, und in deren prozeßrechtlicher Begeisterung sich die Rolle der Verwaltung langsam auf die einer notwendigen Prozeßpartei zu reduzieren scheint. Damit bin ich nun bei dem Thema, in dem Ihre gesamte wissenschaftliche Arbeit ihren Mittelpunkt hat: Beim Staat und beim Staatsrecht. Es gibt kaum ein wichtiges Problem unseres Staatsrechts, das Sie nicht behandelt haben. Die Zahl Ihrer Veröffentlichungen allein kann aber deren mannigfache Wirkung - insbesondere auch auf die jüngere Generationnicht erklären. Ihr Verdienst in der Förderung zahlreicher wichtiger Einzelprobleme wird nicht verkleinert, wenn man sagt, daß die eigentliche Bedeutung dieser Arbeiten in der Art liegt, wie Sie die Probleme sehen und anfassen. Und ich glaube mich keines Jugendkults schuldig zu machen, wenn ich meine, daß diese Sicht und Methode im Ansatz schon in Ihrer ersten Veröffentlichung angelegt ist. In Ihrer Untersuchung über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems - es handelt sich um Ihre mit 22 Jahren geschriebene Dissertation - steht folgendes: Einleuchtend ist, daß die Untersuchung auf rechtsvergleichende Grundlage zu stellen ist. Der Parlamentarismus kann in der lokalen Sonderform eines Landes unmöglich begriffen werden. Zum anderen ist es nicht zweifelhaft, daß der Gegenstand unserer Betrachtung, die Erscheinungsformen des Parlamentarismus, mit einer rein juristischen Betrachtungsweise nicht zu erfassen ist. Das parlamentarische System juristisch behandeln, hieße Wasser in einem Siebe auffangen wollen. Die politische Betrachtungsweise ist allein imstande, brauchbare Ergebnisse zu liefern (AöR, Bd. 52 [1927], S. 209, 213). Die Arbeit steht zwar im Zusammenhang mit den in der Weimarer Zeit einsetzenden Strömungen zur überwindung des staatsrechtlichen Positivismus, wenn auch die Hauptwerke der Weimarer Staats- und Verfassungstheorie, Rudolf Smends "Verfassung und Verfassungsrecht", Carl Schmitts "Verfassungslehre" und Hermann Hellers "Staatslehre" noch nicht erschienen waren. Mit der Betonung einer zugleich rechtsvergleichenden und politischen Betrachtungsweise bezieht Ihre Arbeit aber einen eigenen Standpunkt, von dem aus Sie mit jugendlicher Entschiedenheit gegenüber der Smend'schen Theorie des Parlamentarismus gewichtige Vorbehalte anmelden und die ideengeschichtliche Theorie Carl Schmitts als im Grunde gänzlich unhistorisch und wirklichkeitsfern verwerfen. In einer die kontinuierliche parlamentarische Praxis gegenüber ideengeschichtlichen Verallgemeinerungen betonenden, historisch-soziologischen Analyse weisen Sie dann die Parteiverhältnisse als den wesentlichen Gestaltungsfaktor der verschiedenen Formen des Parlamentarismus nach. Die gleiche methodische Einstellung kennzeichnet Ihren ein-

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner

15

dringlichen Diskussionsbeitrag zum Enteignungsproblem auf dem deutschen Juristentag 1931, in dem Sie unter anderem den Dezisionismus earl Schmitts ablehnen und auch seinen Rechtsstaats- und Gesetzesbegriff als unhistorische Konstruktion zurückweisen. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik hat diesem hoffnungsvollen Ansatz, die Probleme des demokratischen Rechtsstaates wirklichkeitsbezogen neu zu durchdenken, den Boden entzogen und ihn mit in die Verstrickung unseres politischen Unheils gerissen. Als uns in Not und Elend der Nachkriegszeit die Möglichkeit gegeben wurde, wenigstens in einem Teil unseres ge- und zerschlagenen Staates wieder eine rechtsstaatlich-demokratische Ordnung aufzubauen, haben Sie Ihre staatsrechtliche Arbeit in der überzeugung aufgenommen, daß die deutsche Staatsrechtslehre sich nicht in Resignation oder Ressentiment verkrampfen darf, sondern sich in Selbstbesinnung den neuen Aufgaben stellen muß. In einer großen Reihe gehaltvoller Beiträge zu den Grundfragen des modernen demokratischen Staates, zur bundesstaatlichen Ordnung, zu der Regierung, Parlament und Parteien, zu den Aufgaben der modernen Gesetzgebung und der Verwaltung, zur naturrechtlichen Tradition und den Grundrechten, zum Verhältnis der privatrechtlichen zur öffentlichen Ordnung und zu Wesen und Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit, haben Sie entscheidend dazu beigetragen, uns ein tieferes Verständnis der vielschichtigen Voraussetzungen und Strukturprinzipien einer freiheitlich demokratischen Ordnung zu erschließen. Vergleichende Analyse - ich darf nur an die Arbeit über die Verfassung der führenden Staaten, über die Regierung, die übertragung rechtsetzender Gewalt oder an Ihren großartigen Aufsatz über das repräsentative Prinzip der modernen Demokratie erinnern - verbindet sich mit einer sowohl breit als auch tief fundierten historischen Betrachtungsweise - so insbesondere in der letztgenannten Arbeit und in Ihren Aufsätzen über die Entwicklung des Rechtsstaates - und einer kritischen Vergegenwärtigung abendländischer Rechts- und Staatstradition - ich nenne nur Ihre Arbeiten über das Naturrecht und Ihren Beitrag in der Smend-Festschrift über das Wesen des Staates und den Begriff des Politischen - zu einer umfassenden Sicht unserer staatlichen Ordnung. Damit dient Ihre Arbeit zugleich der überwindung der Verkürzungen und Verzerrungen des Positivismus in seinen normativistischen oder soziologischen Spielarten und der Zurückweisung von Versuchen, die Begriffe von vorgestern gegen die Wirklichkeit von heute auszuspielen. Für diese Arbeit ist Ihnen unsere Wissenschaft - und sind insbesondere wir jüngeren Öffentlichrechtler - großen Dank schuldig. Man würde aber ein unvollständiges, wenn nicht trügerisches Bild zeichnen, wenn man nicht auch mit einem Wort die Fragwürdigkeiten erwähnte, in die sich diese Arbeit hineingestellt sieht und von denen sie

16

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner

sich in gewissem Sinne auch in Frage gestellt sehen muß. Ich meine dabei nicht die Dinge in unserem Fach, denen Sie mit Zweifel oder gar mit Kopfschütteln gegenüberstehen mögen, sondern vielmehr die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit unseres öffentlichen Lebens, die es manchmal erscheinen lassen mag, als ob es den Gegenstand, um den wir uns bemühen, gar nicht mehr gibt. Daß es naiv wäre, nach den Jahren des Mißbrauchs und der Pervertierung der staatlichen Macht und in der Situation der Teilung unseres Landes, ein unproblematisches und kräftiges demokratisches Staatsbewußtsein als selbstverständlich vorauszusetzen, liegt auf der Hand. Nicht von ungefähr haben zwei Ihrer Aufsätze aus dem weiteren Bereich der politischen Wissenschaft "Nationalismus und Staatsbewußtsein" sowie "Bürgerfreiheit und Bürgersinn" zum Gegenstand. Ein englischer Journalist hat von der Bundesrepublik einmal gesagt, sie sei eine Wirtschaft auf der Suche nach einem Staat. Nun, sucht man den Staat wirklich, während man mit der Wohlstandsgesellschaft voll beschäftigt ist? Und wer weiß, ob man sich, wenn man ihn sucht, nicht a la recherche du temps perdu befände? Streiten kann man allerdings darüber, ob als Ursache dieser - wie ich fürchte: zunehmendenpolitischen Anämie das Desinteresse des Bürgers zu diagnostizieren ist, da es sich dabei doch offensichtlich um einen Sekundäreffekt handelt. Vielleicht sollte man die Diagnose in diesem Fall einmal nicht tiefer, sondern höher ansetzen, etwa bei der Art, wie bei uns regiert wird, soweit bei uns regiert wird. Damit nähere ich mich nun allerdings in gefährlicher Weise Themen, die wir, sehr verehrter, lieber Herr Scheuner, auf die lebhafteste Weise kontrovers zu behandeln pflegen. Auf diese Kontroversen will ich hier schon darum nicht eingehen, weil wir ja in mancher Hinsicht auch heimliche Verbündete sind: Ich verstehe sehr gut, daß ein derart wirklichkeitsnaher, die praktischen Probleme nie aus dem Auge verlierender Staatsrechtslehrer wie Sie, in unserer heutigen Situation in dem Maße, wie Sie es tun, auch an praktischen Problemen unseres politischen und rechtlichen Lebens mitzuwirken sucht. Eine andere Frage ist natürlich die Auswahl der Stelle, an der man Hand anlegt. Für die von Ihnen getroffene Wahl gibt es, wie Sie wissen, eine Reihe von Deutungen. Die boshaften Deutungen, also diejenigen Ihrer Kollegen, darf ich hier mit Ihrem Einverständnis übergehen. Es bleiben dann zwei Deutungsmöglichkeiten: Die erste stellt auf Ihre barocke Affinität zur Macht und zum Gestaltungswillen ab. Ich sehe es den erwartungsvollen Augen unserer Gäste an, daß sie trotz der vorgerückten Zeit nun einen Exkurs über "Ulrich Scheuner und den Barock" erwarten. Zu einem solchen sehe ich mich aber außerstande, weil Sie, Herr Scheuner, sich nicht gescheut haben, mehrfach und vor Zeugen, die Ansicht zu vertreten, der Barock gehöre zu jenen kulturellen Feinheiten,

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner

17

die mir - sei es nun auf Grund der östlichen oder aber der sozialdemokratischen Grenzen meines Einfühlungsvermögens - für immer verschlossen bleiben würden. Im übrigen neige ich selbst auch der viel realistischeren zweiten Deutung zu, die Ihre Affinität nicht zur Macht, sondern zu deren derzeitigen Inhabern für entscheidend hält. Sie wissen, daß es mir ein leichtes wäre, die tiefreaktionären Züge Ihrer politischen Haltung zu enthüllen. Ich verzichte darauf allein aus dem Grunde, weil ich mich dabei einer marxistischen Terminologie bedienen müßte, die mich unweigerlich in Konflikt mit Herrn Erler bringen würde, worauf ich keinen Wert lege. Außerdem halte ich Sie auch nach langjähriger leidvoller Erfahrung insoweit für unverbesserlich, aber nur insoweit. In anderen Dingen, und das wollen wir Ihnen heute eigentlich sagen, verlangen wir von Ihnen im neuen Lebensjahrzehnt entscheidende Besserung. In dem lebhaft zu empfindenden Konflikt, in den uns bedrängenden Nöten entweder durch wissenschaftliche Arbeit in Forschung und Lehre, die nur auf mittelbare Weise und auf lange Sicht Frucht tragen kann, oder aber durch politische, in manchem vielleicht dringender erscheinende Arbeit zu wirken, müssen Sie sich jetzt - da selbst Sie bei des zusammen auf die Dauer nicht leisten können - für eines entscheiden. Angesichts der schrecklicherweise schon vorhandenen Beispiele von Kollegen, die von der Politik entflammt, der Wissenschaft untreu geworden sind - ich brauche sie Ihnen in diesem Kreise nicht vor Augen zu führen -, kann die Wahl nur heißen: Wissenschaft. Ferner sollte jetzt endlich Schluß sein mit der übernahme ständig neuer Verpflichtungen zu Vorträgen und ähnlich fragwürdigen Veranstaltungen. Und hier spreche ich mit einer gewissen kalten Rachsucht. Nie werde ich die demütigenden Situationen meiner Bonner Privatdozentenzeit vergessen, in denen Sie mit barocker Beweglichkeit meinem Griff ans klingelnde Telefon zuvorkamen, meinen beschwörenden Blicken schnöde den Rücken zuwandten, und - die linke Hand am Hörer, die rechte auf dem Rücken - sich in der liebenswürdigsten Weise zur übernahme einer weiteren Verpflichtung überreden oder erpressen ließen. Wir sind nicht grausam; die persönliche Sphäre soll unter der strengen Konzentration auf die Wissenschaft nicht leiden. Sie dürfen sich mit Ihren Schülern und Ihren jüngeren Kollegen, insbesondere mit Herrn Kaiser und mir, auch weiterhin bei einigen guten Flaschen Wein zu einem gründlichen Gespräch zusammensetzen; und mich dürfen Sie weiterhin zu Thunfischsalat, Cordon bleu und Erdbeertorte mit Schlagsahne verführen. Sie dürfen auch weiterhin mit Ihrem Doktoranden-Seminar oder Ihren jüngeren Kollegen nach Flandern, Ronchamps, und in alle Welt fahren, und dabei sowohl die geographische wie die kunsthistorische Führung übernehmen. Sie dürfen schließlich auch weiterhin unsere eigenen Reisen in der liebenswürdigen Weise vorbereiten helfen, wie wir das bisher von Ihnen gewohnt sind. 2 FestSchrift für Vlr1ch Scheuner

18

Geburtstagsrede für Ulrich Scheuner

Sie sind für uns auch in diesen außerhalb unseres Faches gelegenen Gebieten stets eine solche Quelle der Anregung und der Belehrung gewesen, daß es unverantwortlich wäre, diese Quelle zum Versiegen zu bringen. Sie dürfen - auch das gebietet der Dank, den wir Ihnen schulden ferner weiterhin unseren wissenschaftlichen Vereinigungen, insbesondere der Staatsrechtslehrervereinigung und der Gesellschaft für Völkerrecht, deren Sitzungen Sie so oft und so souverän geleitet haben, mit Rat und Tat zur Seite stehen. Alles unter der Voraussetzung, daß Sie unsere sonstigen Ermahnungen ohne Umgehungsversuche befolgen. Sie werden dann unendlich viel Zeit haben, Sie wissen wozu. Denn Ihre wiederholten Selbstanklagen über eine Stückwerk gebliebene wissenschaftliche Arbeit kann nur den Laien darüber hinwegtäuschen, daß dieses sog. Stückwerk erstaunlich systematisch angelegt ist. Sie haben in den letzten 10 Jahren den ganzen Umkreis der Probleme des Staatsrechts und der Staatslehre abgeschritten. Ein Vergleich eines idealen Inhaltsverzeichnisses eines aus der Staatslehre entwickelten Staatsrechts mit einer systematischen Zusammenstellung Ihrer Arbeiten zeigt, daß es kaum Leerstellen gibt. Ihr Staatsrecht-Lehrbuch kann in ein- bis anderthalb Jahren erscheinen, es muß erscheinen. Nicht weil Ihr Verleger drängt, das tut er immer und schon seit langem, sondern weil wir dieses Lehrbuch brauchen, dringend brauchen. An Problemen, deren zusammenfassende Behandlung Sie danach in Angriff nehmen sollten, ist kein Mangel. Sie haben wirklich einen reiche Ernte in die Scheuern zu bringen. Dazu wünschen wir Ihnen, sehr verehrter, lieber Herr Scheuner, Glück, Gesundheit und Gottes Segen. Horst Ehmke

Verfassung und Verfassungsgesetz Von Peter Badura 1. Jenseits des staatsrechtlichen Positivismus "Wo der formale Begriff der Verfassung als Gesetz höheren Ranges die Oberhand gewinnt, und die Vorstellung der Verfassung als einer inhaltlich bestimmten unverbrüchlichen Grundlage des Staates verdrängt, wird die Beständigkeit der Verfassungs ordnung mit ihren Sicherungen der Freiheit von einer positivistischen Auflösung bedrohtl" . Der Positivismus, der keineswegs nur ein rechtswissenschaftlicher zu sein braucht, ist eine selbstgewählte Beschränkung des methodischen Blickwinkels auf in bestimmter Weise faßbare Gegebenheiten, eine Einseitigkeit, die theoretisch begründet sein kann, unter Umständen aber auch auf einer parteilichen Vorgefaßtheit des Urteils beruht. Der staatsrechtliche Positivismus verkürzt die Betrachtung der Verfassung zu einer legalistischen Einordnung und Anwendung des Verfassungsgesetzes. Als ein rechtswissenschaftlicher Standpunkt, der sich nach den Grundsätzen einer theoretischen Auseinandersetzung rechtfertigen und kritisieren läßt, ist diese Auffassung seit einem halben Jahrhundert prinzipiell erschüttert worden. Soweit heute an die großen staatsrechtlichen Leistungen des Positivismus erinnert wird, geschieht das nicht, um die scheinbar unpolitische Arbeitsweise des positivistischen Konstruktivismus zu erneuern, sondern um gegenüber ideologischer, "geisteswissenschaftlicher" oder soziologischer Vernachlässigung des normativen Verfassungssinnes zu betonen, daß die den politischen Prozeß disziplinierenden Wirkungen der Verfassung darauf beruhen, daß sie im Verfassungsgesetz positives Recht ist. Der Hauptstoß gegen den Positivismus auf dem Felde der Wissenschaft gelang durch die neue Denkweise der "Verfassungslehre", deren Hervorbringung mit einem Schlag, wenn auch mit kontroversen Ausgangspunkten, earl Schmitt und Rudolf Smend zu verdanken ist. Diese Revolutionierung der Staatsrechtslehre folgte mit Grund der staatlichen Umwälzung, welche die wesentlichen Bedingungen des staatsrechtlichen Po1 UZrich Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, in: Recht - Staat Wirtschaft, Bd. 3, 1951, S. 126/133.

2'

20

Peter Badura

sitivismus beseitigt hatte. Ulrich Scheuner hat beharrlich die Einsicht zur Geltung gebracht, dabei einen Grundgedanken Rudolf Smends fortführend, daß die überwindung des Positivismus sich nicht in der kategorialen Weiterbildung des Staats- und Verwaltungsrechts aufgrund neugewonnener methodischer Orientierung und nach dem Maße des neuen Verfassungszustandes erschöpft, sondern daß damit auch eine Aufgabe der Staatsgestaltung und Gesellschaftspraxis gestellt ist. Diese Aufgabe läßt den Methodenstreit hinter sich und verweist die Staats- und Verfassungstheorie auf den epochalen Entwicklungsgang des Verfassungsstaates. Die Gefahr einer "positivistischen Auflösung" der "Beständigkeit der Verfassungsordnung mit ihren Sicherungen der Freiheit" ist mit der vollkommenen Durchsetzung des demokratischen Prinzips in der Organisation der politischen Willensbildung und der Legitimierung politischer Herrschaft und mit der - damit korrespondierenden - durchgängigen Bestimmung der Staatsaufgaben durch die sozialstaatliche Idee der sozialen Gerechtigkeit nicht gebannt. Dem demokratischen Wohlfahrtsstaat ist die verfassungsstaatliche Auseinandersetzung mit den tieferliegenden Beständen des Positivismus in neuer Gestalt aufgegeben, um die technokratische Entartung des Staates zu verhindern, die in der naturalistischen Vorstellung der Verfügbarkeit des Rechts, in der Instrumentalisierung und Bürokratisierung des Rechts zu Tage tritt. Dies kann jedoch nicht allein auf der Ebene staats- und rechtsphilosophischer Ideen geschehen. Der Materialismus der Politischen Ökonomie belehrt die Staats- und Rechtslehre über die Gruppen- und Interessenabhängigkeit des politischen Prozesses und vor allem darüber, daß das ökonomische Interesse eine Dominante dieses Prozesses ist. Diese Belehrung verliert ihr Recht erst dort, wo sie dogmatisch die fore es propres des Menschen auf die ökonomischen Bedingungen und Wirkungen der Vergesellschaftung beschränkt. Die Menschen haben nicht nur Interessen sondern auch Hoffnungen, und die Aufhebung ihrer Entfremdung wird nicht durch eine Veränderung eines ökonomischen Bauelements der Gesellschaft erwartet werden können. Mit der Grundlinie des Verfassungsstaates unvereinbar ist der über das Ende des kaiserzeitlichen Positivismus fortwirkende und durch manche Züge des demokratischen Wohlfahrtsstaates begünstigte etatistische Rationalismus des Rechtsdenkens. Der als Organ einer instrumentellen und ahistorischen Vernunft wirksame oder vorgestellte Staat als Apparat der Rechtserzeugung kann die verfassungsstaatliche Freiheit nicht sichern und auf die Dauer eine Gesellschaftsordnung des Friedens und der Gerechtigkeit nicht hervorbringen. Der demokratische Staat ist die politische Organisation der Gesellschaft. Seine Deutung als "Betrieb", als ein "zweckrational konstruiertes und beherrschbares Instrument" unterstützt oder fördert die Trennung des Staates von den individuellen und

Verfassung und Verfassungsgesetz

21

gesellschaftlichen Bedürfnissen2 • Eine Anschauung, die sich damit begnügt, den Staat als einen durch die Verfassungsnormen programmierten Apparat zu definieren, überantwortet die politische Entscheidung in anpassender Extrapolation bestehender Tendenzen und vereinseitigender Benutzung systemtheoretischer Erkenntnisse praktisch der autoritären Disposition des Funktionärskorps. Die Verfassung soll nicht nur die Legalität, Effektivität und Planmäßigkeit staatlichen HandeIns sichern, sondern auch die politische Herrschaft mit den sozialen Normen und den Sinnbedingungen des individuellen Daseins verbinden. Die Grundlagen der konkreten politischen Vergesellschaftung gehen ausdrücklich oder als praktische Prämisse in die Verfassung ein und prägen so durch Recht, also nicht nur moralisch oder politisch-programmatisch, die verfassungsstaatliche Ausübung von Herrschaft. Die innenpolitisch ausschlaggebende Form der politischen Herrschaft ist im demokratischen Wohlfahrtsstaat die sozial gestaltende Rechtsetzung. Die verfassungsstaatliche Bindung der Rechtsetzung, die vielfältig durch Limitierung, Anregung, Beauftragung und Bestimmung der politischen Faktoren wirkt, ist in der sowohl legalisierenden als auch legitimierenden Kraft der Verfassung zu sehen. So sehr auch für die legislatorische Rechtserzeugung die Einschätzung Max Webers einen kennzeichnenden Punkt trifft, daß die Legalität zu einem Legitimitätsgrund politischer Herrschaft geworden ist - für die legal nicht fundierbare Verfassung, die das politische Grundgesetz der Gesellschaft ist bleibt die Legitimitätsfrage bestehen, und diese Frage kann nur in einer Zeit relativ konfliktlosen Gesellschaftszustandes in eine weniger beachtete Latenz zurücksinken. "Wo der Gedanke der höheren Grenzen jeder Machtausübung von der Idee der unbegrenzten Herrschaft des Gesetzgebers über das Recht abgelöst wird, wie im Positivismus, kann die Gefahr (sc. für die bürgerliche Freiheit) lange verdeckt bleiben, solange der Gesetzgeber tatsächlich seine Grenzen achtet"3. Das tragende Axiom der Verfassungslehre ist die Einsicht in das Ungenügen der bloßen Positivität des Rechts für die friedenstiftende und gerechte politische Organisation der Gesellschaft, die antipositivistische Front gegen das juristische Vorurteil, daß Wirklichkeit und Erfolg des Verfassungsstaates primär auf rechtlichen Normierungen und Institutionen beruhen. Daraus folgt unmittelbar die Betonung der Andersartigkeit des "politischen" Verfassungsrechts gegenüber dem sonstigen Normenbestand der Rechtsordnung. Während der Dezisionismus als Ausgangs2 Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, in: Festgabe für Rudolf Sm end, 1962, S. 225/251 f.; ders., Staatszielbestimmungen, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 325/342 Anm.65. 3 Scheuner, Die rechtsstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Theologische Existenz heute, n. F. 119, 1964, S. 11/14.

Peter Badura

22

punkt die verfassungsstaatliche Grenzsituation der Revolution und der Verfassunggebung wählt, sucht die Integrationslehre den das Sinnprinzip des Verfassungsstaates verwirklichenden Lebensprozeß zu erfassen. Beiden Entwürfen für eine Verfassungslehre ist jedoch gemeinsam, daß die Verfassung als das individuelle Gesetz einer einzigen konkreten Wirklichkeit gesehen wird, in der ein Staatsvolk in einer bestimmten geschichtlichen Situation die traditionsbildenden Erfahrungen und die erst zur Gestaltung drängenden Vorstellungen und Forderungen in einem konstitutiven Akt verbindet, festlegt und proklamiert. Die so beschaffene Konkretheit der Verfassung erläutert den geschichtlichen und politischen Charakter des Verfassungsrechts. Sie zeigt aber auch den in einer normativen Verfassungsbetrachtung leicht zu kurz kommenden fundierenden Zusammenhang der Verfassung mit der Staatsform4, ein Zusammenhang, der in Dezisionismus wie Integrationslehre klar bedacht und festgehalten wird. Der Staat, dem die Verfassung eine rechtliche Ordnung gibt, ist allerdings nicht die für juristische Bedürfnisse konstruierte "Rechtsperson" Staat, der sich ein einheitlicher "Staatswillen" zusprechen läßt, sondern der Prozeß der permanenten Begründung und Integration, aus dem das staatliche Wirken und die von Auseinandersetzung und Ausgleichung geprägte Rechtsbildung hervorgehen5 • Der Parlamentarische Rat hat bei der Schaffung des Grundgesetzes an die Tradition des Verfassungsstaates angeknüpft. Die Gewährleistungen der grundrechtlichen Freiheit und die Organisation der Staatsgewalt sind maßgeblich geprägt durch die Grundvorstellungen des Liberalismus, die Erfahrungen und Einsichten aus den Kämpfen des bürgerlichen Konstitutionalismus und der bürgerlichen Aufklärung mit den Ideen, Kräften und Einrichtungen des Absolutismus und der in diesem noch bewahrten älteren Zustände des Feudalismus und des Ständestaates. Durch die Aufnahme dieser Tradition ist es bedingt, daß das Grundgesetz eine starke Fixierung auf die verfassungspolitischen Probleme der Staatsgewalt, ihrer Organisation und ihrer Grenzen, aufweist. Für das dem Liberalismus verpflichtete Verfassungsdenken ist die Verfassung ein "Instrument der Kontrolle des Machtprozesses"6, ein System von Rechtsregeln, durch das die Ausübung von Staatsgewalt wirksam beschränkt wird7 • Die Verfassung institutionalisiert das Mißtrauen gegenüber staatlicher Macht und gegenüber den Personen, die zur Ausübung staatlicher Macht in der Lage sind. "Weniger der Staat selbst, als die Mittel und Methoden seiner Scheuner, Art. Verfassung, Staatslexikon, Bd. 8, 1963, Sp. 117/122 f. Scheuner, Wesen des Staates, a.a.O., S. 234 f.; ders., Politische Koordination in der Demokratie, in: Festschrift für Gerhard Leibholz, 1966, Bd. 2, S. 899 f.; ders., Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 379/380. 8 K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl., 1969. 7 C. J. Friedrich, Der Verfassungs staat der Neuzeit, 1953. 4

5

Verfassung und Verfassungsgesetz

23

Kontrolle werden organisiert8 ". Diese Frontstellung des Verfassungsdenkens kann genetisch aus dem historischen Prozeß der Entstehung und überwindung des souveränen Fürstenstaates erklärt werden. Sie wird aber so lange nicht obsolet und bleibt so lange eine Bedingung rechtsstaatlicher Freiheit, als der Staat mit seinen spezifischen Mitteln der öffentlichen Gewalt fortbesteht, gleichgültig, wie vollendet er einen wirklichen oder prätendierten "Volkswillen" zu vollstrecken vermag. Auf der anderen Seite unterschätzt die liberale Verfassungsidee die Gefahren sozialer, besonders wirtschaftlicher Macht, welche die individuelle Freiheit durch Ausbeutung und Unterdrückung bedrohen. Die liberale Verfassungstradition ist im Grundgesetz nicht im Sinne restaurativer Vergangenheitsbezogenheit übernommen worden, sondern als Korrelat der bei der Verfassunggebung vorgefundenen sozioökonomischen Grundentscheidung, die grundsätzlich privatwirtschaftliche und marktwirtschaftliche Ordnung des Wirtschaftslebens beizubehalten, und aufgrund der überzeugung, daß in den Einrichtungen des Verfassungsstaates durch die geschichtliche Erfahrung erhärtete wirksame Vorkehrungen gegen Willkür und Machtmißbrauch staatlicher Gewalt zu finden seien. Das Grundgesetz hat, wie die Weimarer Reichsverfassung, den liberalen Verfassungsgedanken mit der Staatsform der Demokratie verbunden und beruht dementsprechend auf dem Prinzip, daß jegliche Ausübung öffentlicher Gewalt egalitärer Legitimierung und Kontrolle unterworfen sein muß. Ebenfalls nach dem Vorbild der Weimarer Reichsverfassung hat das Grundgesetz die Verfassungsidee des "sozialen" Staates aufgenommen, die den Vorstellungen der sozialliberalen und sozialdemokratischen Bewegung der Sozialreform entstammt und den Auftrag des Staates zur umfassenden Sozialgestaltung im Sinne der sozialen Gerechtigkeit verfassungsrechtlich verankert. In diesem general klau seI artigen Verfassungsprogramm "klingt eine umfassendere Sicht der Sinngebung gegenwärtiger staatlicher Aktion an"9. Sieht man den Zusammenhang des verfassungsstaatlichen Anspruchs, der demokratischen Ordnung der politischen Willensbildung und des Verfassungsprinzips des sozialen Rechtsstaates, den das Grundgesetz herstellt, erweist sich eine Beurteilung als anfechtbar, wonach das Grundgesetz - wesentlich statisch gedacht - eine bestehende Gesellschaft verfassen und nicht eine künftige Gesellschaft gestalten wolle, und sich dadurch von der DDR-Verfassung unterscheide, die einen entwicklungsbetonten Grundzug habe 10 • Das Grundgesetz stimmt darin mit jeder anderen normativ wirksamen Verfassung überein, daß es eine Anzahl von Grundsätzen und Einrichtungen des politischen Systems und von RichtearL Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 41. Scheuner, Staatszielbestimmungen, a.a.O., S. 341. 10 Roggemann, Die Verfassung der DDR, 1970, S. 67.

B

9

24

Peter Badura

linien und Verfahren des politischen Prozesses als grundlegend festlegt und damit der Disposition der jeweiligen Inhaber der staatlichen Ämter entzieht. Für einen Grundbestand dieser Prinzipien setzt das Grundgesetz einen die Verfassung legitimierenden Konsens der politisch organisierten Gesellschaft voraus und erklärt diesen Grundbestand deshalb für legal unabänderbar (Art. 79 Abs. 3 GG). Von diesen verfassungsstaatlichen Grundbedingungen abgesehen erlauben die vom Grundgesetz vorgesehenen und geordneten Verfahren der Verfassungsänderung und der Gesetzgebung weitgreifende Veränderungen und Gestaltungen des politischen Systems, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Rechtsordnung. Eine verfassungsrechtliche Programmatik für derartige Gesetzgebungsakte ist dem Leitgedanken des sozialen Rechtsstaates, aber auch den direktiv zu verstehenden Grundrechtsnormen zu entnehmen, ist darüber hinaus aber eine Sache der politischen Auseinandersetzung. Der Verfassungsstaat ist sich der Grenzen bewußt, die einer Gestaltung der gesellschaftlichen Grundlagen durch das und aufgrund des Verfassungsgesetzes gesetzt sind. Er muß dennoch nicht dabei stehen bleiben, die Prozeduren des politischen Kampfes, die Organisation der Herrschaftseinrichtungen und die grundrechtlichen Schranken der öffentlichen Gewalt rechtlich zu bestimmen. Das Grundgesetz versieht den politischen Prozeß mit materiellen, wenn auch notwendigerweise auf Richtlinien beschränkten, rechtlichen Direktiven und Programmen. Die auf politische Gestaltung angelegte, die Initiative der Faktoren des politischen Prozesses anregende und eine gesellschaftsbezogene und zukunftsweisende Aufgabe stellende Funktion der Verfassung ist in der Staatsrechtslehre seit längerem in den Vordergrund der Verfassungstheorie getreten11. Doch wird dadurch der Grundgedanke desVerfassungsstaates nicht aufgehoben oder verdrängt, daß die Verfassung die Ausübung von Herrschaft durch Recht begrenzen will und deshalb auch der Herrschaft des demokratisch gebildeten Volkswillens und seiner Repräsentanten und Agenten eine legal nicht übersteigbare Linie zieht. Dieser Grundgedanke ist älter als der liberale Konstitutionalismus 12 • 2. Der demokratische Verfassungsstaat

Die alte Formel, daß im Verfassungsstaat "Gesetze, und nicht Männer" herrschen sollen, läßt das Rätsel der Enstehung und der verbindlichen Kraft jener Gesetze bestehen. Es ist die Erscheinung der Verfügbarkeit 11 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; Scheuner, Staatszielbestimmungen, a.a.O.; K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 6. Auf1., 1973, S. 3 ff. 12 McIlwain, Constitutionalism, 2. Aufl., 1947; Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, 1955.

Verfassung und Verfassungsgesetz

25

und Instrumentalität des positiven Rechts, dieses dem modernen Staat eigentümlichen Mittels der Organisation und Gestaltung der Gesellschaft13 , der sich die politische Idee der Verfassung entgegenstellte und in deren Bannkreis sie jedoch zugleich selbst blieb. Das Verfassungsgesetz und die an das Verfassungsgesetz gebundenen Gesetze haben nach den Grundsätzen der legitimierenden Zurechnung dasselbe Subjekt, das "Volk", die staatlich vergesellschafteten Menschen, die selbst und autonom über die für sie geltende Rechtsordnung entscheiden. Das ist die Grundaporie des Verfassungsstaates. Solange, wie im Mittelalter, das Recht als eine überkommene und der Disposition des Herrschers entzogene Ordnung betrachtet wird, besteht kein Bedürfnis dafür, Gerechtigkeit und Freiheit durch ein besonderes Rechtsinstrument gegen neue Rechtsetzung zu schützen 14 • Im modernen Staat dagegen ist Recht gesetztes Recht, der eingreifende Hebel gesellschaftlicher Veränderung. Es wird - nach dem vereinfachenden Schematismus der Rechtsquellenlehre - durch den Willen des souveränen Fürsten und später, im konstitutionellen System, durch den "Willen" der gesetzgebenden Gewalt hervorgebracht. Die Begründung eines prinzipiellen Unterschieds von Verfassunggebung und Gesetzgebung blieb verständlich, solange die bürgerliche Gesellschaft sich dem durch die Verfassunggebung einzubindenden und zu begrenzenden monarchischen Staat gegenübersah. Für den Monismus der demokratischen Republik kann das nicht mehr gelten. Der vernunftrechtliche Vertragsgedanke gibt dem Prinzip, die staatliche Gewalt durch eine Verfassung zu ordnen und zu beschränken, während der absolutistischen und der konstitutionellen Epoche eine einleuchtende Begründung. In einer naiven und deshalb anschaulichen Form zeigt das "Agreement of the People" der Leveller (1647) die Arbeitsweise dieser Anschauung. Wenn dabei auch zunächst das Bestreben im Vordergrund steht, dem Zeitgeist genügende Maßstäbe zur Bestimmung von Grund und Grenze der Staatsgewalt und der "political obligation" anzugeben, so schließt doch die Lehre vom Gesellschaftsvertrag weiter den Standpunkt ein, daß die einzelnen im Vertragswege über Form und Mandat des Staates entscheiden, die Verfassung also durch einen souveränen Akt der Rechtschöpfung hervorbringen. Dies blieb weniger wichtig und verdeckt, solange die naturrechtliche Grundlage dieses Vorganges ausschlaggebend war. In Rousseaus Beitrag zur Lehre vom Gesellschaftsvertrag dagegen wird in der rechtschöpfenden volonte generale das politischdezisionistische Element deutlich bestimmend. Die Produktivität der 13 Art. Recht, Theorie des Rechts, Rechtsphilosophie, in: Fischer Lexikon Recht, 1971, S. 118 ff.; R. Grawert, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts, Staat 11, 1972, S. 1. 14 ScheuneT, RechtsstaatIiche Ordnung, a.a.O., S. 13.

26

Peter Badura

französischen Revolution in der Herstellung von Verfassungs gesetzen blieb für die Folgezeit das vielmals aufgenommene Vorbild dafür, neue Staaten, Regime oder auch nur Machtlagen mit einem jedenfalls juristisch einwandfreien Verfassungsgesetz zu versehen. Der als Bollwerk gegen die immer schärfer hervortretende Instrumentalität des Rechts entwickelte Gedanke der rechtlichen Bindung der politischen Gewalt durch eine Verfassung verfiel selbst der Instrumentalisierung des Rechts. In abgewandelter und eigentlich paradoxer Form lebt dieser Gedanke in dem Versuch weiter, normative Grenzen der verfassunggebenden Gewalt zu finden. Die werbende Wirkung, die mit einem Verfassungsgesetz erzielt werden kann, aber auch die bedeutenden technischen Vorteile für die Organisation und Funktionsweise der Staatsgewalt können erklären, daß fast alle bestehenden Staaten, ohne Rücksicht auf Staatsform und ideologische Ausrichtung, sich eine Verfassung gegeben haben. Würde das Vorhandensein einer Verfassungsurkunde genügen, um von einem "Verfassungsstaat" zu sprechen, wäre das eine theoretisch und praktisch gleichgültige Bezeichnung. Die mit dem Prädikat Verfassungsstaat verbundene staatstheoretische und politische Wertung erschöpft sich auch nicht darin, daß das in einem Staat geltende Verfassungsgesetz mit den normativen Eigenschaften des Verfassungsrechts ausgestattet ist, nämlich Vorrang vor allen anderen Rechtsnormen besitzt und nur in einem besonderen und erschwerten Verfahren abgeändert werden kann. Schließlich ist die praktische Bedingung, daß das Verfassungsgesetz als verfassungsrechtliche Grundlage des Staatslebens wirkt und nicht nur eine gefällige Fassade ohne die reguläre Realisierungschance positiven Rechts darstellt, eine zwar notwendige aber nicht ausreichende Voraussetzung für einen verfassungsstaatlich zu nennenden politischen Prozeß. Der Verfassungsstaat impliziert bestimmte inhaltliche Anforderungen an das in einem Staat geltende Verfassungsgesetz. Er weist damit sowohl über eine bloß formelle Betrachtung als auch über die Existenz einer "positiven Verfassung" im Sinne der "Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit"15 hinaus. Diese inhaltlichen Anforderungen können allerdings im demokratischen Wohlfahrtsstaat nicht mit den Vorstellungen übereinstimmen, die das liberale Verfassungsdenken mit den Worten des Art. 16 der Erklärung von 1789 verband, in dem es postulierte: "Toute societe dans laquelle la garantie des droits n'est pas assuree, ni la separation des pouvoirs determinee, n' a pas de constitution". Das dort vorausgesetzte Prinzip jedoch, daß es für den Verfassungs staat auf die Materialität der Verfassung ankommt und daß die rechtliche Sicherung individueller Freiheit und die rechtliche Definiertheit der Aus15

earl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 20 ff.

Verfassung und Verfassungsgesetz

27

übung öffentlicher Gewalt in einer gegliederten Organisation der Staatsorgane durch die Verfassung festgelegt sein müssen, ist für den Verfassungsstaat auch jenseits des bürgerlichen Konstitutionalismus konstitutiv. Der Verfassungsstaat ist nur als Rechtsstaat möglich, so wie der - nicht bloß im Sinne der formalen Legalität verstandene - Rechtsstaat eine verfassungsstaatliche Ordnung des politischen Prozesses voraussetzt1 6 • Neben den hier nicht im einzelnen anzuführenden Grundsätzen und Einrichtungen, deren Insgesamt die rechtsstaatliche Bindung der politischen und administrativen Macht ausmacht, ist für die verfassungs- und rechtsstaatliche Formung des politischen Prozesses ausschlaggebend, daß die für die gesetzgebende Rechtsetzung leitende Vorstellung von der sozialen Funktion des Rechts dessen Positivität und Instrumentalität den Prinzipien einer gerechten Gesellschaftsordnung unterwirft. Nicht anders wie die Normen des positiven Rechts ein bedingter und bedingender Bestandteil des Gesellschaftsprozesses sind, beruht jede Verfassung auf bestimmten ideologischen und sozioökonomischen Voraussetzungen, die ihren Inhalt und ihre Verwirklichung bestimmen. Durch das Verfassungsgesetz erfahren diese Voraussetzungen eine gewisse rechtliche Stabilisierung und wird zugleich ein rechtlicher, d. h. sich gewaltlos in die Kontinuität des Legalitätszusammenhanges einfügender Weg ihrer Veränderung im Sinne einer evolutionären Entwicklung bereitgestellt. Wird der Staat als die politische Organisation der Gesellschaft durch Recht aufgefaßt, erweist sich der gesamte Bereich der staatlichen Institutionen und Aktivitäten als sowohl gesellschaftlich bedingt als auch funktional auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse bezogen. Der Staat steht nicht auf einem irgendwie selbständigen, gesellschaftstranszendenten Boden der Gesellschaft gegenüber, wie es die konstitutionelle Verfassungsanschauung postulierte 17 . "Der demokratische Staat der Gegenwart, der kein einheitliches Subjekt der Herrschaft mehr kennt, wird zu einem Stück Selbstorganisation der modernen Industriegesellschaft, deren Konflikte in den Prozeß politischer Einheits- und staatlicher Willensbildung eingehen und hier ausgetragen und befriedet werden müssen"18. Doch dieser funktionale Zusammenhang des Politisch-Staatlichen mit dem Gesellschaftlichen bedeutet nicht die Identität der staatlichen und der gesellschaftlichen Willensbildung oder, anders gesagt, die Aufhebung politisch-staatlicher Herrschaft und die spontane oder oligarchisch von 16 Scheuner, Grundfragen, a.a.O., S. 151; ders., Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 1960, Bd. II, S. 229 ff.; ders., Rechtsstaatliche Ordnung, a.a.O., S. 14, 16. 17 Ehmke, ,Staat' und ,Gesellschaft' als verfassungstheoretisches Problem, in: Festgabe für Rudolf Smend, 1962, S. 23. 18 Hesse, Grundzüge, a.a.O., S. 8.

28

Peter Badura

sozialen Machtgruppen bestimmte Selbstverwaltung der Gesellschaft ohne staatlich gesetztes Recht und ohne rechtlich verfaßten Staat. Im Verfassungsstaat findet die Vergesellschaftung des Menschen nicht nach einem einheitlichen Prinzip statt. Sie hat dort kraft der Verfassung einen differenzierten Charakter, vor allem in der hier allein interessierenden Hinsicht, daß nicht sämtliche sozialen Beziehungen der Individuen dem tatsächlichen oder potentiellen Zugriff der staatlichen Macht zugänglich sind und daß die staatliche Macht eine gewisse Neutralität und Verselbständigung gegenüber den gesellschaftlichen Faktoren und Verhältnissen besitzt. Diese von Kar! Marx19 kritisierte Differenzierung des politischen und des gesellschaftlichen Wesens des Menschen bewirkt die Begrenztheit des Politischen im Verfassungsstaat und die Verhinderung des Zustandes, daß die gesamte politische und gesellschaftliche Macht in einem totalen Herrschaftssystem konzentriert ist; dessen Bezeichnung als staatliche Herrschaft oder gesellschaftliche Selbstverwaltung ist dann nur noch ideologisch, nicht aber praktisch von Bedeutung2o • Die Differenzierung der menschlichen Vergesellschaftung, deren Stabilisierung der Verfassungsstaat anstrebt 21 , hat zwei für die Organisation und Arbeitsweise des politischen Systems wesentliche Folgen: die Ausübung von Herrschaft kann einer kontrollierbaren Verantwortung unterworfen werden und die Existenz und Erhaltung des politischen Systems ist nicht von der notfalls gewaltsam durchgesetzten Anerkennung einer kanonischen und durch die Funktionäre der politischen Macht verbindlich interpretierten politischen Doktrin durch alle Gesellschaftsglieder abhängig. Die Kontrolle der Personen, die Aufgaben und Befugnisse der öffentlichen Gewalt wahrnehmen, setzt voraus, daß ein zweiseitiges Verhältnis besteht, in dem die Kontrollierten einer Verantwortung gegenüber den Kontrollierenden unterliegen, was nur möglich ist, wenn die Kontrollierten auf Grund einer definierten Entscheidungskompetenz tätig werden22 • Wenn die Existenz eines derartigen zweiseitigen Verantwortungs- und Kontrollverhältnisses dadurch dissimuliert wird, daß die Funktionäre der politischen Macht kraft ideologischer Zurechnung als bloße Agenten des "Volkswillens" betrachtet werden, entfällt der Angriffspunkt für eine Zur Judenfrage, Dt.-frz. Jahrbücher, 1844. Siehe dazu auch E.- W. Böcken!öTde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Festgabe für Wolfgang Hefermehl, 1971, S. 11; ders., Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973. 21 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965. 22 ScheuneT, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festgabe für Gebhard Müller, 1970, S. 379; A. H. BiTCh, Representative and Responsible Government, 1964. 19

20

Verfassung und Verfassungsgesetz

29

ernsthafte Kritik und eine wirksame Kontrolle; es bleibt lediglich die Möglichkeit technischer Korrekturen in vorgegebenem Rahmen. Denn bei dieser Formulierung der Legitimation des politischen Systems ist "Volkswille" tatsächlich das, was die vorgeblichen Agenten des "Volkswillens" als solchen definieren, so daß es zu einer Differenz zwischen den Bürgern und den Funktionären des politischen Apparates vermöge der ideologischen Identifikation nicht kommen kann. Das verfassungsstaatliche Prinzip, wonach politische Herrschaft auf einem rechtlich definierten und beschränkten Mandat beruht ("trust"), nach nicht beliebig abänderbaren Rechtsgesetzen auszuüben ist und rechtlich festgelegten Verfahren politischer Verantwortung und Kontrolle unterworfen ist ("government by consent"), entspringt der angelsächsischen Praxis der Rule of law und der parlamentarischen Regierung und den staatstheoretischen Maximen Lockes und Kants und stellt heute ein Grundelement der repräsentativen (parlamentarischen) Demokratie dar23 . Die als Staatsform verwirklichte Demokratie ist nicht Identität von Herrschern und Beherrschten, sondern egalitär kontrollierte und legitimierte Repräsentation. Nur eine repräsentative Ausübung politischer Gewalt ermöglicht eine Herrschaft nach Rechtsgesetzen24 . Repräsentation darf dabei allerdings nicht in dem für das liberale Verfassungs denken wesentlichen qualitativen Sinne verstanden werden, der mit dem egalitären Grundsatz der Demokratie unvereinbar ist, sondern als die Wirkungsweise der den demokratischen Legitimations- und Zurechnungszusammenhang praktisch vermittelnden Einrichtungen und Verfahren der Kontrolle politischer Macht. Eine Schwäche dieser Einrichtungen und Verfahren muß die Gefahr der Oligarchisierung und Bürokratisierung des politischen Systems vergrößern, eine Gefahr, die nicht spezifisch der verfassungsstaatlichen Repräsentation innewohnt, sondern der notwendig arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft im Staat schlechthin. Politisch wie staatsrechtlich ist Angelpunkt und Prüfstein für diesen Mechanismus die parlamentarische und außerparlamentarische Praxis des Parteiensystems25 , in der notwendig der Respekt vor den im demokratischen Verfassungsstaat verkörperten Grundvorstellungen vorausgesetzt sein muß26. Es ist jedoch für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie weder erforderlich noch folgerichtig, wenn Parlamentarismus und Ausübung öffentlicher Gewalt überhaupt zur Funktion 23 Scheuner, Neuere Entwicklung des Rechtsstaats, a.a.O.; ders., Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: Festschrift für Hans Huber, 1961, S. 111; ders., Verantwortung und Kontrolle, a.a.O.; ders., Amt und Demokratie, in: Lanzenstiel (Hrsg.), Amt und Demokratie, 1971, S. 7/23 ff. U Badura, Parlamentarismus und parteienstaatliche Demokratie, in: Festschrift für Karl Michaelis, 1972, S. 9/19. 2S G. Leibholz, Verfassungsstaat - Verfassungsrecht, 1973, S. 68 ff. 21 Scheuner, Grundfragen, a.a.O., S. 143.

Peter Badura

30

eines umfassenden "Parteienstaates" denaturieren, in dem die Formulierung und Praktizierung dessen, was jeweils die dem Gemeinwohl entsprechende, gerechte und vernünftige Entscheidung ist, vom ausschließlichen Anspruch der politischen Parteien erfaßt würde 27 • Vor allem für die politische und administrative Meinungs- und Willens bildung außerhalb des parlamentarischen Entscheidungsverfahrens wird ein derartiger Anspruch auch durch Art. 21 GG nicht gerechtfertigt. Die organisierten Interessen können infolge ihrer partikulären und vergleichsweise stationären Ausrichtung sich nicht auf ein Recht berufen, an der politischen Willens bildung auf gleichem Fuße mit den Parteien zu partizipieren28 • Da der demokratische Verfassungsstaat die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Grundlage des in ihm geordneten politischen Systems bilden, als ein von ihm unterschiedenes Ensemble von Bedürfnissen, Interessen und Meinungen auffaßt, stellt er geordnete Verfahren zur Verfügung, um die gesellschaftliche Vielfalt in politisch-staatliche Entscheidungen transformieren zu können. In dieser Betrachtungsweise ist der Vorgang der politischen Willens bildung nicht so konstruiert, wie wenn in ihm lediglich ein gewissermaßen präexistenter "Volkswille" oder ein präexistentes "Gemeinwohl" konstatiert oder daraus für den Einzelfall eine Entscheidung abgeleitet würde; der "Volkswille" ist eine vereinfachende Hypostasierung des demokratischen Prozesses 29 • Soweit der durch das Verfassungs recht begrenzte Spielraum der politischen und sozialen Auseinandersetzungen reicht, erkennt der demokratische Verfassungsstaat kein vorgegebenes Kriterium der sozialen Richtigkeit an, so daß der politische Prozeß in großem Maße Kompromisse hervorbringt. Die in der Weimarer Zeit vertretene Auffassung, daß als der weltanschauliche Standpunkt, welcher der Demokratie am besten entspräche, der "Relativismus" anzusehen sepo, legt zu einseitig das Gewicht auf das formale Strukturprinzip des demokratischen Verfassungsstaates, rechtlich geregelte Verfahren für die politische Auseinandersetzung und Entscheidung festzulegen. Die Demokratie ist nicht voraussetzungslos und ihre Lebensfähigkeit ist von einer grundsätzlichen Anerkennung der Einrichtungen des demokratischen Verfassungsstaates und der anderen wesentlichen Bestandteile der Verfassungsordnung durch die am politischen Prozeß beteiligten Gruppen abhängig. Im Hinblick auf ein solScheuner, Repräsentatives Prinzip, a.a.O., S. 239 f. Scheuner, Repräsentatives Prinzip, a.a.O., S. 244 f. 29 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Auf!., 1950, S. 397 ff.; E. FraenkeZ, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie, 1964; Scheuner, Grundfragen, a.a.O., S. 128, 129; ders., Verantwortung und Kontrolle, a.a.O., S. 380. 30 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Auf!., 1929, S. 98 ff.; Radbruch, Vorrede zur Rechtsphilosophie. 27

28

Verfassung und Verfassungsgesetz

31

ches Fortbestehen des Verfassungskonsenses ist der demokratische Verfassungsstaat nicht neutral. Anders als die Weimarer Reichverfassung hat das Grundgesetz den unter keinen Umständen zur Disposition des politischen Prozesses stehenden Verfassungskern ausdrücklich umschrieben (Art. 79 Abs. 3 GG) und darüber hinaus durch gewisse Vorkehrungen einer, wie man gesagt hat, "streitbaren Demokratie" (vor allem das Parteiverbot, Art. 21 Abs. 2 GG) einen wirksamen Schutz seiner Funktionsgrundlagen zu erreichen gesucht. Abgesehen von dieser mit dem demokratischen Verfassungsstaat selbst gesetzten Prämisse, daß die Verfassung den politischen Prozeß rechtlich ordnen soll und deswegen nicht für diesen Prozeß beliebig verfügbar sein kann, macht das Grundgesetz nicht eine bestimmte ideologische oder weltanschauliche Orientierung zur Staatsgrundlage. Es verlangt den unter ihm lebenden Bürgern nicht die Annahme oder das aktive Bekenntnis zu einer bestimmten geschichts- oder gesellschaftstheoretischen Doktrin ab, kennt nicht die Vorstellung einer "ideologischen Diversion" und beruht nicht auf der Behauptung bestimmter historischer oder gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten31 . In diesem Sinne einer Differenzierung von politischem Prozeß und Gesellschaftsideologie, der begrenzten Zuständigkeit von Staat und Recht und des Ausschlusses einer mit den Mitteln des politischen Systems verbindlich zu machenden Gesellschaftsmora132 ist das Grundgesetz "weltanschaulich neutral"33. Eine andere Frage ist es, ob nicht die vorrangig am Verfassungsziel der sozialen Gerechtigkeit orientierte Staatspraxis zwangsläufig zu der zumindest temporären Festlegung einer bestimmten politisch-ideologischen Programmatik führt, wenn eine mittel- oder langfristige Planung der Staatsaufgaben34 eingerichtet wird. Die darin liegende verfassungsrechtlich relevante Veränderung muß eine weitergehende Politisierung der Gesellschaft und der vergesellschafteten Freiheit bewirken, muß aber nicht notwendig die verfassungsstaatliche Differenzierung aufheben.

BVerfGE 5, 85/197 f. E.- W. Böckenjörde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 1967, S. 89 ff. 33 Siehe auch K. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, bes. S. 236 ff. 84 K. Lompe, Gesellschaftspolitik und Planung. Probleme politischer Planung in der sozialstaatlichen Demokratie, 1971; E.- W. Böckenjörde, Planung zwischen Regierung und Parlament, Staat 11, 1972, S. 429; R. Wahl, Notwendigkeit und Grenzen langfristiger Aufgabenplanung, Staat 11, 1972, S. 459; Zwischenbericht der Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform vom 21. 9.1972, BTag Drucks. VI/3829, S. 45 ff.; Kewenig, Zur Revision des Grundgesetzes: Planung im Spannungsverhältnis von Regierung und Parlament, DöV73,23. 81

32

32

Peter Badura 3. Die Funktion des Verfassungsrechts

Die raison d'etre der Verfassung geht nicht aus den formellen Eigenschaften des Verfassungsgesetzes, dessen Vorrang und dessen erschwerter Abänderbarkeit, hervor, die diesem eine bestimmte Stellung im Gesamtgefüge der Rechtsordnung zuweisen. Diese formellen Eigenschaften des Verfassungsgesetzes sind Mittel, um die normativen Ziele zu verwirklichen, die von der Verfassung erwartet werden. Die, nicht zweckrational verengt zu denkende, Teleologie der Verfassung ist der eigentliche Gegenstand der Verfassungslehre; die überlegungen über Begriff, Gestalt, Wirkung, Entstehung und Legitimität der Verfassung sind von ihr abhängig. Der historische wie der systematische Befund zeigt die Vielfältigkeit des Verfassungssinns. Diese Vielfalt löst sich nicht notwendig harmonisch in einem einheitlichen Leitgedanken auf. Die einzelnen Sinnprinzipien würden vielmehr, isoliert zu Ende gedacht und für sich als dominierende Verständnismaxime benutzt, in Widerspruch zueinander treten. Die Art und Verbindung der Sinnprinzipien ist jeweils für die konkrete Verfassung zu ermitteln, was die Verfassung wiederum als das individuelle Gesetz einer konkreten Wirklichkeit erweist. Aus der Vielfältigkeit des Verfassungssinns folgt die Angreifbarkeit der Annahme, das Verfassungsgesetz positiviere eine "Wertordnung", aber auch die Begrenztheit einer systematischen Verfassungsinterpretation. Die Argumentation aus der "Einheit der Verfassung" darf die in der Verfassung verkörperte Sinnkombination nicht durch die Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Elemente zerstören. Bereits die konstitutionelle Doktrin versteht die Verfassung nicht schlechthin als ein Instrument der Limitierung der Staatsgewalt und der "Ausgrenzung" "staatsfreier Räume". Die für das liberale Verfassungs denken wesentlichen vernunftrechtlichen Gedanken des Gesellschaftsvertrages und der Kodifikation35 tragen das Bestreben der Neukonstitution des gesellschaftlichen und politischen Körpers deutlich in sich. Die klassischen Verfassungsdokumente der bürgerlichen Aufklärung, wie die Virginia DecIaration of Rights vom 12. Juni 1776 und die DecIaration des droits de l'homme et du citoyen vom 26. August 178936 sind konstituierend und programmatisch. Die Frage nach dem Verfassungssinn hat auch in der sozialistischen Theorie eine aufschlußreiche und übrigens wechselnde Behandlung erfahren. Das von dem nur einen "abgeleiteten" Charakter besitzenden Recht der kapitalistischen Staaten prinzipiell unterschiedene "sozialistische Recht" wird als "mächtiger Hebel" der sozialistischen Gesellschaftsgestaltung in durchgängiger ideo35 30

255.

Scheuner, Art. Verfassung, a.a.O., Sp.1l7. G. Ritter, Ursprung und Wesen der Menschenrechte, HZ 169, 1949, S. 2311

Verfassung und Verfassungsgesetz

33

logischer und politischer Instrumentalisierung in den Dienst der durch die Partei der Arbeiterklasse angeleiteten sozialistischen Staatsmacht gestellt. Die Vorstellung eines die politischen Faktoren diziplinierenden Rechts ist in sozialistischen Kategorien nicht denkbar, und demententsprechend ist die rechtliche Wirkung des Verfassungsgesetzes nur eine Funktion der politischen Bindung und Begrenzung der Staatsmacht durch die Grundsätze des Sozialismus31 • Die Verfassung drückt eine bestimmte Etappe der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft aus und ist zugleich Instrument des weiteren Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft. In der Stalinära wurde abweichend von der heutigen Anschauung die programmatisch-antizipierende Funktion der Verfassung verneint. "Die Verfassung ist die Registrierung und gesetzgeberische Verankerung der bereits erzielten und gesicherten Errungenschaften. Wenn wir diesen grundlegenden Charakter der Verfassung nicht entstellen wollen, dürfen wir sie nicht mit historischen Feststellungen über die Vergangenheit oder mit Deklarationen über die künftigen Errungenschaften der Werktätigen der Sowjetunion füllen. Hierfür gibt es bei uns andere Wege und andere Dokumente 38 ." Nur für die Völker der kapitalistischen Staaten sollte die sowjetische Verfassung die Bedeutung eines "Aktionsprogramms" haben 39 • Unter den verschiedenen Sinnprinzipien der Verfassung steht das Ziel voran, dem politischen Prozeß eine verfassungsstaatliche Ordnung zu geben. Die Verfassung ist der hervorragendste Ausdruck der Rechtskultur einer Gesellschaft. Die in der Verfassung angenommenen politischen Ideen werden durch das Verfassungsgesetz mit rechtlicher Verbindlichkeit für die Einrichtung der Herrschaftsorganisation und die Ausübung der Staatsgewalt ausgestattet. Die rechtlichen Wirkungen der Verfassung sollen die Gewinnung und Ausübung von Herrschaft an feste Verfahren und inhaltliche Grundsätze binden und so der politischen Macht unter Ausschaltung von Willkür und Beliebigkeit Berechenbarkeit geben und Grenzen setzen. Die Verfassung ist aber auch ein Plan, der Aufgaben normiert, ein Versuch der Bestimmung der politischen Zukunft durch Leitgedanken und Richtlinien für den politischen Prozeß und die Wirksamkeit des Staates, der Entwurf einer politischen Form40 , dessen dauernde und erfolgreiche Verwirklichung nur möglich ist als "un 87

38

Scheuner, Verfassung, a.a.O., Sp. 120. Stalin, Bericht "über den Entwurf der Verfassung der Union der SSR" auf

dem außerordentlichen VIII. Sowjetkongreß der UdSSR am 25. November 1936, in: Die Stalinsche Verfassung, Verlag Kultur und Fortschritt Berlin, 1950, S.36. 38 Ebd. S. 49. - Siehe auch A. Wyshinskij,The Law of the Soviet State, 1948, S.87. 40 Scheuner, Grundfragen, a.a.O., S. 134; ders., Art. Verfassung, a.a.O., Sp. 118; D. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97, 1972, S.489/500. 3 Festschrift für Ulrich Scheuner

34

Peter Badura

acte de foi constamment renouvele"41 der Rechtsgemeinschaft insgesamt. Konservierende Gewährleistung der für richtig erkannten Bedingungen gerechter Ordnung und sinnvoller Freiheit verbindet sich in der Verfassung spannungsvoll mit Verheißungen, Antizipationen und Programmen. Die in der Verfassung verkörperten Leitlinien, Begrenzungen und Aufträge werden durch sie, soweit das durch Recht möglich ist, zu der vor den Interessen und Pragmatismen der wechselnden Mehrheiten geschützten Grundlage der offenen Auseinandersetzung der politischen und sozialen Mächte 42 • Besonders in den Grund- und Freiheitsrechten, in denen der Einzelne zuerst einen Schutz seiner materiellen, kulturellen und persönlichen Lebensgrundlagen und seiner staatsbürgerlichen Mitgliedschaft im politischen System finden soll, tritt die für das Gemeinwesen konstituierende Bedeutung des Verfassungsrechts zu Tage 43 • Als Fundamentalnorm der Rechtsgemeinschaft stellt die Verfassung die Einheit der Rechtsordnung her und bestimmt die Erzeugung und Fortentwicklung des Rechts. Systemtheoretisch gesehen, reduziert sie die Entscheidungslast des Gesetzgebers 44 • Durch sie wird aber auch die Legitimität des Gesetzes vermittelt; das Gesetz gewinnt durch seine Verfassungsmäßigkeit die Anerkennung und den Gehorsam der Rechtsunterworfenen. Darüber hinaus hat die Verfassung zunehmend die Funktion dauerhafter und kodifikatorischer Festlegung von Rechtsgrundsätzen und des Grundbestandes einzelner Rechtsgebiete übernommen, die angesichts der "Erosion des Gesetzesbegriffes" dem rasch veränderliche und spezialisierte Regelungen produzierenden Entscheidungsprozeß der regulären Gesetzgebung entgleitet45 • Die für die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz kennzeichnende Entfaltung dieser Funktion der Verfassung ist das Werk der Gerichtspraxis und der staatsrechtlichen Doktrin. Das ungewöhnliche Gewicht, das die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Fragen der Verfassungsauslegung erlangt haben, ist auch dadurch erklärlich. Die sachlichen Regelungen des Verfassungsgesetzes, besonders die Grundrechte, sind auf diese Weise zu Basisnormen komplizierter Regelsysteme für einzelne Rechtsgebiete geworden, die den Wortlaut und das überkommene Verständnis der verM. Hauriou, Pnkis de Droit constitutionnel, 1923, S. 6 ff. Scheuner, Grundfragen, a.a.O., S. 133; ders., Das parlamentarische Regierungssystem in der Bundesrepublik, DÖV 57, 633/635; ders., Art. Verfassung, a.a.O., Sp.124; ders., Amt und Demokratie, a.a.O., S.13. 43 R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, 1933; Scheuner, Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz, in: Festgabe für Erich Kaufmann, 1950, S. 313/323; ders., Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat. Die Grundrechte als Richtlinie und Rahmen der Staatstätigkeit, DÖV 71,505; ders., Staatszielbestimmungen, a.a.O., S. 330 f., 339. 44 Grimm, a.a.O., S. 498. 45 Scheuner, Parlamentarisches Regierungssystem, a.a.O., S. 636; ders., Neuere Entwicklung des Rechtsstaats, a.a.O., S. 260 f.; ders., Das Grundgesetz in der Entwicklung zweier Jahrzehnte, AöR 95, 1970, S. 353/368. 41

42

Verfassung und Verfassungsgesetz

35

fassungsrechtlichen Bestimmungen weit hinter sich gelassen haben. Folgerichtig ist die Methode der Verfassungsauslegung auf der Grundlage einer "materialen" Verfassungslehre als ein Vorgang der Konkretisierung und "Verwirklichung" der Verfassung ausgearbeitet worden 46 • Die so zustandekommende politische Dynamisierung des Verfassungsrechts, welche die schon der älteren Staatsrechtslehre bekannte Erscheinung des "Verfassungswandels" erneut ins Licht kritischer Betrachtung gerückt hat47 , setzt den rechtlich greifbaren Verfassungsinhalt einer gewissen Verflüchtigung aus, die durch kryptopolitische juristische Argumentation verdeckt wird. Dieser Prozeß kann in einer erneuerten staatsrechtlichen Dogmatik theoretisch durchdrungen werden, geht aber dort über die Leistungsfähigkeit der Verfassung hinaus, wo er die politische Verantwortlichkeit des Gesetzgebers - durch die Juridifizierung des verfassungs rechtlich nicht Faßbaren, weil rechtlich Maßstabslosen verwässert und wo er die an sich gegebene Notwendigkeit einer Verfassungsänderung durch interpretatorische Konstruktion überspielt. Wenn auch Rechtssatz und als solcher Bestandteil der Legalordnung, hat eine Verfassung doch analysierbare gesellschaftliche und politische Voraussetzungen und nicht nur rechtsnormative, sondern auch politische Wirkungen. Sie ist ein das Rechtshewußtsein und das politische Leben beeinflussendes Symbol der staatlichen Einheit und Gemeinsamkeit48 • Die Einheit, das politische Verständnis und die Rechtsüberzeugung des Gemeinwesens werden durch die Verfassung, wenn sie sich zu "verwirklichen" vermag49, dokumentiert und stets neu geschaffen. Das etwas forcierte Bestreben nach juridischer Perfektion, das das Grundgesetz sowohl in seiner ursprünglichen Fassung als auch - und vor allem in seinen Änderungen kennzeichnet, kann seiner Volkstümlichkeit und seiner politischen Autorität abträglich sein, während dadurch auf der anderen Seite seine Qualität als Maßstab im Rechtsprozeß gefördert wird. Stärke oder Schwäche einer Verfassung sind nicht Fragen ihrer juristisch greifbaren Wirksamkeit allein, sondern hängen von der Fortdauer des in der Verfassunggebung bezeugten und die Verfassung legitimierenden Konsenses und von den Faktoren der gesellschaftlichen Ambiance ab, in der die Verfassung zu verwirklichen ist. Die verfassungsstaatlichen Garantien können die politische Kraft der parlamentarischen Demokratie, wo sie nicht durch den politischen Prozeß konstituiert wird, 46 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20, 1963, S. 53; Hesse, Grundzüge, a.a.O., S. 17 H., 25 H.; N. Wimmer, Materiales Verfassungsverständnis, 1971; F. MüHer, Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts, in: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, 1972, S. 123. 47 Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: Festgabe für Theodor Maunz, 1971, S. 285; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972, S. 145 H. 48 Scheuner, Art. Verfassung, a.a.O., Sp.119. 49 Hesse, Grundzüge, a.a.O., 8.17 ff.

Peter Badura

36

nicht ersetzen50 • Sie können wohl Willkür und Verfassungswidrigkeit hindern, nicht aber die Gerechtigkeit in der Rechtsgemeinschaft umfassend herstellen. Die dem Verfassungsrecht im demokratischen Verfassungsstaat zugemessene Funktion läßt sich mit den regulären Eigenschaften und Wirkungen des positiven Rechts nicht erklären. Der verfassungsstaatliche Anspruch überschreitet die vorgegebenen Möglichkeiten des positiven, d. h. des staatlich gesetzten und garantierten Rechts. Das Verfassungsrecht ist rechtlich nicht garantiert und seine Geltung ist nicht, wie die des Gesetzes, durch die Machtmittel des Staates gesichert51 • Vielmehr sind die Grundentscheidungen der Verfassung zugleich die bestimmenden Elemente der konkreten Staatsform. Die alte und auch in der Zeit des Positivismus nicht verlorengegangene Einsicht in die "politische" Bedingtheit und Bedeutung des Verfassungsrechts kann in der theoretischen Betrachtung forciert werden, mit der Folge, daß die sachlichen Elemente des Verfassungsgesetzes aus der rechtlichen Hülle herausgehoben und zu der vermeintlich eigentlichen Verfassung verselbständigt werden. Ein derartiger verfassungs rechtlicher Realismus verzichtet darauf, die Verfassung als Verfassungsgesetz zu verstehen und verständlich zu machen. Die Aufgabe der Verfassungslehre müßte aber gerade darin bestehen, die Normativität der Verfassung jenseits der Positivität des Verfassungs gesetzes zu begründen, ohne den verfassungsstaatlichen Grundgedanken preiszugeben, daß die Verfassung den politischen Prozeß durch Recht ordnen soll. Die Verfassunggebung ist ein Vorgang der Rechtschöpfung, der frieden- und ordnungsstiftenden Einigung, der eine durch eine einheitliche Rechtsordnung verbundene Rechtsgemeinschaft konstituiert. Dieses Ziel, das zugleich eine Bedingung und eine Grenze der Verfassunggebung darstellt, ist von der staats gestaltenden Grundenh:cheidung nicht trennbar. Auf der anderen Seite wäre es eine positivistische Illusion, in der "verfassunggebenden Gewalt" in Entsprechung zur gesetzgebenden Gewalt eine rechtlich begründete und definierte Funktion der Rechtserzeugung zu sehen. Die geschichtlich kontingente Lehre von der verfassunggebenden Gewalt orientiert sich an dem punktuellen Kodifikationsvorgang bei revolutionärer 52 Verfassunggebung, deren Legitimität sie behandelt, und gibt das Deutungsschema und den Beurteilungsmaßstab für eine Verfassungsentstehung nach den Grundsätzen der Volkssouveränität53 • Wenn diese Doktrin auch gewisse Minimalvoraussetzun50

Scheuner, Probleme der staatlichen Entwicklung in der Bundesrepublik,

DÖV 71, 1/3. 51 52 53

Scheuner, Art. Verfassung, a.a.O., Sp. 118. K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, 2. Auf!., 1969. Scheuner, Verfassungsschutz, a.a.O., S. 313 Anm. 2; ders., Art. Verfas-

sung, a.a.O., Sp. 124.

Verfassung und Verfassungs gesetz

37

gen für eine legitime Verfassunggebung aufstellt, so gibt sie doch keinen Aufschluß über die realen Umstände der Verfassungs entstehung und über die Geltungsbedingungen des Verfassungsgesetzes. Die ideologische Fiktion des verfassunggebenden Willens des Volkes verdeckt das plurale Entstehungsverfahren54 und vor allem die Gruppen und Interessen, die sich in dem Konstituierungsprozeß durchsetzen und die tragenden Faktoren des Verfassungskonsenses sind55 • Die "normative Kraft" einer Verfassung, ihre Fähigkeit, in der Wirklichkeit geschichtlichen Lebens bestimmend und regulierend zu wirken 56 , ist die Basis der Geltung des Verfassungsgesetzes, in dem die Verfassung rechtliche Positivität gewonnen hat. Die Anerkennung der Verfassung als rechtliche Garantie einer gerechten Sozialordnung und als Auftrag und Grenze einer verantwortlichen und kontrollierbaren politischen Herrschaft ist, wenn diese Anerkennung aus einer aktiven und individuell bestimmten Ausübung grundrechtlicher Freiheiten der Staatsbürger hervorgeht, der demokratische Ausdruck dieser normativen Kraft der Verfassung57 • Der verfassungsstaatliche Anspruch, der sich in der Funktion des Verfassungs rechts abbildet, wird in der Staatsrechtslehre unverkürzt nur aufgenommen, wenn das Verfassungsgesetz als staatsgestaltende Verfassung einer Rechtsgemeinschaft verstanden wird. Dieser prinzipielle Gesichtspunkt verpflichtet auch die Staatspraxis und die Bemühung um eine Verfassungsreform, die nicht bei einer technischen Adjustierung stehen bleiben will. Als materiale Ordnung ist die Verfassung nicht beliebigen Inhalten zugänglich und ist sie nicht einfach ein praktisch vorteilhaftes Element von Rechtsordnungen. Konkret, d. h. geschichtlich, sind nicht nur die einzelnen Staatsverfassungen. Auch die politische Idee der Verfassung selbst ist in einen bestimmten geschichtlichen Zusammenhang der Staatsentwicklung eingefügt; Verfassungsgesetze sind nicht ein beliebig transportierbares und disponibles Konstruktionselement von Staatsordnungen. Die Gegenwart steht auch vor der Frage, ob die rechtliche Ordnung des politischen Prozesses durch eine Verfassung ein Bestandteil nur der staatlichen Form der politischen Vergesellschaftung ist. Diese Frage, die sich in der Diskussion um die fortbestehende Gültigkeit der Souveränität als Wesensmerkmal der Staatsgewalt ankündigte, bezieht sich auf die interne Autorität des Staates und auf seine äußere Unabhängigkeit. Bei der Erschütterung der qualitativen Besonderheit des Staates im internen politischen Prozeß handelt es sich nicht so sehr um den wenig wahrK. von Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1968, S. 63 ff. Hauriou, a.a.O., S. 8, 253. 5B Hesse, Grundzüge, a.a.O., S. 18,29 f. 57 Scheuner, Verfassungsschutz, a.a.O., S. 330; ders., Grundfragen, a.a.O., S. 133; ders., Art. Verfassung, a.a.O., Sp. 122; ders., Neuere Entwicklung des Rechtsstaats, a.a.O., S. 262; ders., Amt und Demokratie, a.a.O., S. 27. 54 55

38

Peter Badura

scheinlichen Erfolg fundamentaldemokratischer Gesellschaftsgestaltungen und deren scheinbarer Herrschaftslosigkeit. Drängender ist, ob der Staat die notwendige Verfügung über die technologische Revolution58 zu gewinnen und ob er sich gegenüber der sozialen Macht organisierter Interessen und ideologischer Gruppierungen zu behaupten vermag, denen zunehmend eine wirksame Protektion gelingt und die deswegen eine des integrierende quasifeudale Loyalität mobilisieren können. Die besonderen legitimierenden und integrierenden Wirkungen, die von parlamentarisch kontrollierter politischer Führung und von parlamentarischverfassungsstaatlicher Rechtsetzung erwartet werden, sind von bestimmten politischen und kulturellen Voraussetzungen abhängig, die nur in einer staatlichen politischen Vergesellschaftung gegeben sind. Dieses Prinzip wird weiter auch durch die zu beobachtende Internationalisierung der Lebensgrundlagen in Frage gestellt. Die fortschreitende politische, ökonomische, militärische und selbst - in den supranationalen Gemeinschaften59 - rechtliche Relativierung des Nationalstaates zwingt zu einer Neuorientierung des Verfassungsdenkens, dessen bisheriger Bezugspunkt der Staat gewesen ist. Wenn die Bedingungen einer Gesellschaftsordnung des Friedens und der Gerechtigkeit nicht mehr allein durch den Staat geschaffen werden können 6o , kann auch die nur nationalstaatliche Definition des Verfassungssinns diese Bedingungen als rechtliche Bestimmungsgründe politischer Herrschaft nicht mehr vollständig erfassen. Der bisherige Funktionalismus der europäischen Integration ist wohl eigengearteten rechtsstaatlichen und demokratischen Garantien unterworfen 61 • Der übergang von den funktionalistischen competences d'attribution zu einer föderativen Globalisierung könnte jedoch auf eine genuin verfassungsrechtliche Fundierung der europäischen Integration nicht verzichten. Entgegen manchen europapolitischen Antizipationen kann der Schritt von der funktionalen Integration zu einem föderativen Gebilde, äußerstenfalls einem Europäischen Bundesstaat, nicht durch allmählich wachsende Verflechtung und Verdichtung erfolgen, sondern muß dieser Schritt einen konstitutiven Begründungsakt darstellen62 , einen Vorgang der Verfassunggebung durch eine wie immer zu denkende europäische verfassunggebende Gewalt. Dabei könnte die nationalstaatliche Frage ebensowenig beiseitegelassen werden wie 58 E. Forsthoff, Von der sozialen zur technischen Realisation, Staat 9, 1970, S.145. 59 H. P. Ipsen, Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften, 1969; ders., Verfassungsperspektiven der europäischen Integration, Vortrag am 20. November 1972 in Bremen, Sonderdruck der Dresdner Bank. 60 W. von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965 (Rez. EuR 2, 1967, S.179). 61 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 973 ff. 62 Scheuner, Verfassungsprobleme der Wirtschafts- und Währungsunion, Integration 1971, S. 145/151 f.

Verfassung und Verfassungsgesetz

39

die notwendige politische, ökonomische und kulturelle Basis eines solchen Einungsaktes, zu der z. B. ein europäisches Parteiensystem gehören würde. Verfassungsrechtlich, d. h. vom deutschen Staatsrecht aus gesehen, könnte die Schaffung einer staatlichen oder quasistaatlichen europäischen öffentlichen Gewalt nicht mit Hilfe des Art. 24 Abs. 1 GG erfolgen, sondern nur im Wege einer Verfassungsänderung, wenn man diesen Schritt nicht überhaupt als einen revolutionär die nationalstaatlichen Verfassungsordnungen aufhebenden Vorgang betrachten müßte. Ulrich Scheuner hat das Prinzip der verfassungsstaatlichen Demokratie, in Anknüpfung an eine alte Einsicht des politischen Denkens, durch die "Mäßigung" der Staatsrnacht bestimmt. Im gemäßigten Staat besteht eine der beliebigen Disposition der politischen Faktoren entzogene rechtliche Ordnung, kraft welcher die politische Macht durch ihre institutionelle Gliederung und durch Aufgabenteilung beschränkt und an die persönliche und staatsbürgerliche Freiheit als Grund und Grenze des Staates gebunden ist63 • Die verfassungsstaatlichen Einrichtungen der Mäßigung politischer Macht sind nicht Hindernisse, sondern Voraussetzungen demokratischer Kontrolle; denn die identitäre Fingierung umfassender Partizipation beseitigt mit der rechtlichen Formung zugleich die Beschränkbarkeit des politischen Prozesses64 • Anders als die scheinapriorische Begrenzung der Staats aufgaben durch den liberalen Konstitutionalismus eröffnet der Gedanke der verfassungsstaatlichen Mäßigung der Staatsrnacht einen Weg, die Verfassung als Grundlage und als bestimmende Leitlinie politischer Gestaltung 65 nach der Maxime der sozialen Gerechtigkeit zu begreifen.

63 Scheuner, Grundfragen, a.a.O., S. 129, 132; ders., Parlamentarisches Regierungssystem, a.a.O., S. 635; ders., Neuere Entwicklung des Rechtsstaats, a.a.O., S. 235, 237, 250; ders., Repräsentatives Prinzip, a.a.O., S. 231; ders., Rechtsstaatliche Ordnung, a.a.O., S. 12, 13, 16, 23; ders., Amt und Demokratie, a.a.O., S. 28; ders., Staatszielbestimmungen, a.a.O., S. 336 Anm. 43. 8' Scheuner, Repräsentatives Prinzip, aa.O., S. 237, 238; ders., Wesen des Staates, a.a.O., S. 231, 257; ders., Amt und Demokratie, a.a.O., S. 29. 65 Scheuner, Grundfragen, a.a.O., S. 135; ders., Wesen des Staates, a.a.O., S. 253, 260; ders., Staatszielbestimmungen, a.a.O.

Criteria of the Prohibition of Weapons in International Law By R. R. Baxter* The existing prOVlSlOns of treaties with respect to the prohibition of the use of certain weapons under internationallaw are either generic rules identifying the characteristics of weapons according to their employment or impact or specific rules outlawing the use of defined weapons. The sour ce of the generic rules is the Regulations annexed to Convention No. IV of The Hague of 1907 respecting the Laws and Customs of War on Land'. The more important of the two is the stipulation that "it is especia11y prohibited ... (e) To employ arms, projectiles, or material calculated to cause unnecessary suffering"2. The other prohibition has application both to weapons and mo des of combat: It is likewise forbidden "To kill or wo und treacherously individuals belonging to the hostile nation or army"3. The Hague Regulations, in which these prohibitions and other constraints on the use of particular weapons are found, were determined by the Nuremberg Tribunal to have passed into customary international law4 , and these rules are accordingly binding on a11 nations, whether or not parties to Convention No. IV. Over-arching these stipulations and on a higher level of abstraction is the famous Martens clause of the Preamble: Until a more complete code of the laws of war has been issued, the High Contracting Parties deern it expedient to declare that, in cases not included in the Regulations adopted by them, the inhabitants and the belligerents remain under the protection and rule of the principles of the law of nations, as they

* Professor of Law, Harvard University; Member of the Permanent Court of Arbitration; Editor-in-Chief, American Journal of International Law. , Signed at The Hague, Oct. 18, 1907, Martens, Nouveau Recueil General de Traites, 3d series, vol. 3 (1910), p. 461; British and Foreign State Papers, vol. 100 (1906 - 07), p. 338; Bevans, Treaties and Other International Agreements of the United States of America 1776 - 1949, vol. 1 (1968), p. 631. The authentie language of the Hague Conventions is French; the translations used here are those in Bevans. 2 Art. 23 (e). 3 Art. 23 (b). , Office of United States Chief of Counsel for Prosecution ofAxis Criminality, Nazi Conspiracy and Aggression: Opinion and Judgment (1947), p. 83.

42

R. R. Baxter

result from the usages established among civilized peoples, from the laws of humanity, and the dietates of the publie eonseienee. Only one provision of the Hague Regulations deals with the use of a specific type of weapon. It is forbidden "To employ poison or poisoned weapons"s. The precise ambit of this rule is unelear.1t has been variously suggested that it applies to gas warfare, biological warfare, the use of herbicides, and the employment of nuelear weapons. Other instruments drawn up at The Hague in 1899 and 1907 contain scattered references to inherently illegal weapons. In the Deelaration concerning Expanding Bullets of 1899 6 , commonly referred to as dumdum bullets, the parties - who were not numerous - agreed "to abstain from the use of bullets which expand or flatten easily in the human body, such as bullets with a hard envelope which does not entirely cover the core or is pierced with incisions". Convention No. XIV of The Hague 7 , which is now only a curious antiquity, prohibited "for aperiod extending to the elose of the Third Pe ace Conference" (which was never held) "the discharge of projectiles and explosives from balloons or by other new methods of similar nature". Naval contact mines were regulated by Convention No. VIII of 19078 • The laying of unanchored and anchored automatie contact mines was prohibited if they were not so constructed as to become harmless under stipulated circumstances, and the conditions under which the weapons could and could not be used were likewise defined. The parent of many of these provisions was the Deelaration of St. Petersburg of 1868 9 , in which the Parties, inter se and subject to a si omnes provision, engaged "mutually to renounce ... the employment by their military or naval troops of any projectile of a weight below 400 grammes, which is either explosive or charged with fulminating or inflammable substances". There is no firm evidence that this conventional obligation has passed into customary internationallaw.

Art. 23 (a). Signed at The Hague, July 29, 1899, Martens. Nouveau Reeueil General de Traites, 2d series, vol. 26 (1902), p. 1002; British and Foreign State Papers, vol. 91 (1898 - 99), p.l017. 7 Signed at The Hague, Oet. 18, 1907, Martens, Nouveau Reeueil General de Traites, 3d series, vol. 3 (1910), p. 745; British and Foreign State Papers, vol. 100 (1906 - 07), p. 455; Bevans, Treaties and Other International Agreements of the United States of Ameriea 1776 - 1949, vol. 1 (1968), p. 739. 8 Signed at The Hague, Oet. 18, 1907, Martens, Nouveau Reeueil General de Traites, 3d series, vol. 3 (1910), p. 580; British and Foreign State Papers, vol. 100 (1906 - 07), p. 389; Bevans, Treaties and Other International Agreements of the United States of Ameriea 1776 - 1949, vol. 1 (1968), p. 669. B Signed Nov. 7/Dee. 11, 1868, Martens, Nouveau Reeueil General de Traites, vol. 18 (1873), p. 474; British and Foreign State Papers, vol. 58 (1867 - 68), p. 16. 5

8

Criteria for the Prohibition of Weapons in International Law

43

The one remaining treaty of which ac count must be taken is the Geneva Protocol of 1925 for the Prohibition of the Use in War of Asphyxiating, Poisonous or Other Gases, and of Bacteriological Methods of Warfare 10. The Protocol recites that "the use in war of asphyxiating, poisonous or other gases, and of all analogous liquids, materials or devices, has been justly condemned by the general opinion of the civilised world". The Parties then proceeded to declare that "so far as they are not already Parties to Treaties prohibiting such use, [they] accept this prohibition, agree to extend this prohibition to the use of bacteriological methods of warf are and agree to be bound as between themselves" according to the terms of the Protocol. The prevailing view, as reflected in aresolution of the General Assembly of December 16, 1969 11 , gives an expansive reading to the Protocol as extending to the use of toxins, tear gases, and herbicides. Although the resolution of the General Assembly of 1969 speaks of the use of the weapons proscribed by the Protocol "as contrary to the generally recognized rules of internationallaw" - thereby implying that the Protocol has become declaratory of customary international law - there are several considerations pointing in the opposite direction. The first is that the second part of the resolution itself goes on to invite non-Parties to ratify or to accede to the Protocol. The second is that many states have made reservations to the Protocol, notably by way of undertaking to refrain only from the first use of the weapons proscribed by the instrument!!. So stands the positive law at the moment. However, in several international organizations proposals have recently been made for wider controls over, or prohibitions of weapons which cause unnecessary suffering, act indiscriminately, or kill treacherously. The International Committee of the Red Cross has organized two Conferences of Government Experts on the Reaffirmation and Development of International Humanitarian Law Applicable in Armed Conflicts in 1971 and 1972, in preparation for a diplomatic conference on the law of war which is to be convened by the Swiss Government in 1974. In the Draft Protocol on international armed conflicts presented to the second of these Conferences of Government Experts, the I.C.R.C. incorporated a prohibition on the use of "weapons, projectiles or substances calculated to cause unnecessary suffering, or particularly cruel methods and means"13. The 10 Signed at Geneva, June 17, 1925, League of Nations Treaty Series, vol. 94 (1929), p. 65. 11 Resolution 2603 A (XXIV), Dec. 16, 1969, General Assembly Official Records, 24th sess., Supp. No. 30, p. 16, U.N. Doc. A17630 (1970). 12 A representative group appears in League of Nations Treaty Series, vol. 94 (1929), p. 66, n. 1. 13 Art. 30, para. 2, in I.C.R.C., Conference of Government Experts on the Reaffirmation and Development of International Humanitarian Law Ap-

44

R. R. Baxter

draft did not refer expressly to aerial bombardment as a technique of warfare, but the text did prohibit indiscriminate "attacks" against civilian and military objectives 14 and incorporated a principle of proportionality whereby belligerents would be required to refrain from attacks "when the probable losses and destruction are disproportionate to the concrete military advantage sought by them"15. These prohibitions, which are set in the context of protection of the civilian population, are a revival of proposals which the LC.R.C. had incorporated in its "Draft Rules for the Limitation of the Dangers Incurred by the Civilian Population in Time of War", which it had completed in 1956 16 . These Rules, which the LC.R.C. had hoped might be the basis for a new convention, failed to evoke any substantial measure of support amongst the governments to which they were transmitted. At the Second Conference of Government Experts, the Experts of Sweden and eighteen other countries proposed that the LC.R.C. should conduct wider studies of "the question of express prohibitions or limitations of use of such conventional weapons as may cause unnecessary suffering or be indiscriminate in their effect"17. To this end, the LC.R.C. has convened several smaller meetings of government experts concerned with the subject of weapons. At the 1972 session of the General Assembly, the Swedish Government, which manifested a certain restlessness about the progress being made on the weapons issue in the LC.R.C., took the initiative in rallying support for aresolution which expressed concern that agreement had not been reached by the Government Experts on, among other things, the prohibition of weapons and means of warfare which indiscriminately affect civilians and combatants or which cause unnecessary suffering. The resolution l8 , which was adopted by a large majority, requested the Secretary-General to present to the next session of the General Assembly "a survey of the existing rules of internationallaw concerning the prohibition or restriction of use of specific weapons". The General Assembly also had before it areport on napalm and other incendiary weapons 19 which it had requested in 1971 out of concern about the plicable in Armed Conflicts, Second Session, 3 May - 3 June 1972: Report on the Work of the Conference, vol. 2 (1972), p. 5. 14 Art. 45, para. 3, id., p. 7. 15 Art. 50, para. 1, id., p. 8. 18 Revue Internationale de la Croix-Rouge, vol. 38 (1956), p. 487. 17 Doc. CE!SPF!2, I.C.R.C., Report cited supra note 13, at p. 115. 18 Resolution 3032 (XXVII), Jan. 23, 1973, U.N. Doc. A!RES!3032 (XXVII) (1973), adopted by a vote of 103 in favor, none opposed, and 25 abstaining. 19 Napalm and other incendiary weapons and all aspects of their possible use: Report of the Secretary-General under General Assembly resolution 2852 (XXVI), paragraph 5, U.N. Doc. A!8803 (1972).

Criteria for the Prohibition of Weapons in International Law

45

casualties caused by this weapon and the terrible bums sustained by those who survived. It responded to this report by adopting a resolution20 deploring the use of napalm and other incendiary weapons in a11 armed conflicts. These initiatives will, in a11 likelihood, lead to the drafting of treaties to prohibit or to place restrictions on certain forms of weapons. It is not the purpose of this study to predict what form these treaties may take or even to suggest what provisions might be appropriate for inclusion in the instruments. But it is of some importance at this juncture to consider the criteria by which it might be determined, on the basis of some principles of general application, whether a specific weapon should be prohibited. As indicated above, the only clear generic prohibition is that of weapons causing unnecessary suffering. It has been suggested that two further such general criteria might be the major premises in a sy110gism that might point to particular weapons as being unlawful 21 • The prohibition of treacherous killing in the Hague Regulations 22 might be considered to have application to weapons, such as booby traps or delayed action weapons. And the proposition that weapons which kill indiscriminately (that is to say, as between civilians and combatants) should be condemned has achieved much currency in the last two decades, aperiod measured from the first initiatives of the LC.R.C. after the Geneva Conference of 1949. The prohibitions which might be drafted could either be directed to specific weapons, identified by a description of the weapon itself (such as napalm or the dumdum bu11et), or be drafted in terms of a prohibition on a weapon according to its effects (such as a disproportionately high casualty rate or great suffering for the survivors). Identification of specific weapons has the advantage of imparting certainty to the prohibition. Verification and proof are simplified. On the other hand, the question of the effects of weapons must be analyzed as a necessary step toward the outlawry of a particular weapon, and a prohibition according to effects may therefore be perceived as a more rational and adaptable way of meeting the problem. However, definition in terms of effects ca11s for factual information, measurement, and weighing in the application of the law, which may be difficult or impossible of accomplishment in time of war. Closely related to the foregoing question - and perhaps only a reformulation of it - is whether the illegality of a particular weapon 20 Resolution 2932 (XXVII), U.N. Doc. A!RES!2932 (XXVII) (1973), adopted by a vote of 99 in favor, none opposed, and 15 abstaining. 21 H. Blix, Which conventional weapons are or should be prohibited for use? Existing principles and rules, ms., Feb. 22, 1973. 22 Art. 23 (b).

R. R. Baxter

46

is to be an illegality per se or an illegality determined by the way in which the weapon is employed. The first way of looking at the matter again has the virtue of simplicity. But the fact that any weapon may be used indiscriminately militates against the whole notion of illegality per se. A rifle can be used indiscriminately against civilian and soldier. A knife can be used to cause unnecessary suffering. But then if an attempt is made to escape that difficulty, one may be led back into the uncertainties and the problems of proof attendant upon an appraisal of effects. These criteria must operate in a context in which the application and interpretation of the law is delegated to states which have resorted to violence against each other. Whatever the form of the legal rule, the belligerents will naturally desire to act as near to the line as possible, up to the very limit of the legally permissible. And that line may itself be the subject of dispute between the parties. What range of destruction makes a weapon indiscriminate? Is a particular form of bullet an expanding bullet proscribed by the Hague Declaration of 1899? Problems of inspection, verification, supervision, and enforcement under such circumstances become horrendously difficult. Any new provisions of law must therefore be simple and susceptible of ready application under conditions in which legal constraints have otherwise broken down. We turn to the first of the three general criteria - the causing of unnecessary suffering. The way in which the principle is cast implies that there is both "unnecessary" and "necessary" suffering, with the latter of which the law does not concern itself. What then is "unnecessary" suffering? It has been suggested that weapons which are unlawful on this account are those which make death inevitable or which cause injuries which are excessively painful or excessively severe23 • It is clear that individually served weapons, artillery, rockets, and aerial bombardment directed against troops will render the death of a certain number of them inevitable. If the qualification is introduced that inevitability really refers to too high a degree of mortalities either amongst the casualties or amongst all those troops that are the target of the weapon, the concept of proportionality becomes germane. But proportionality to what? The standard could be one of proportionality to the military advantage to be gained, but this calls for comparing two things for which there is no standard of comparison. Is one, for example, compelled to think in terms of a certain number of casualties as justified in the gaining of a specified number of yards? Such precise relationships are so far removed from reality as to be unthinkable. If, on the other hand, one adopts a more impressionistic approach to the question of what causes unnecessary suffering, the humanitarian 23

H. Blix, op. cit., supra note 21.

Criteria for the Prohibition of Weapons in International Law

47

considerations are difficult to balance against the military ones. Napalm undoubtedly causes a high rate of mortalities; and, as the report of the group of experts convened by the V.N. Secretary-General be ars eloquent witness 24, the wounds of the survivors are physieally and psychieally disabling in a way that lays a eurse upon the lives of those who survive. But militaryexperts defend its use on the ground that it is highly effective against strongly entrenched troops that cannot be dislodged by the use of artillery or rockets and against tanks and other armored vehicles. The high velo city projectile from the M-16 or the projectile which rips the flesh is, in the view of the soldier, not used because it eauses suffering but because it stops the enemy soldier who is hit. It enhances the prob ability of putting the enemy soldier out of action, relative to more eonventional projectiles. The assessment of a partieular weapon must therefore involve an impressionistic weighing of military utility against the inevitability of death or of severe and painful injury. If a higher probability of death or a painful dis ability is the eriterion, then the more effective the weapon in military terms, the greater the likelihood of its being unlawful. Nuclear weapons, whether tactieal or strategie, would seem to fall under proscription, as would even the use of aerial bombardment and artillery against troops. If the prob ability of death or painful injury is governing, then it logieally follows that no distinction should be made in the use of the weapon against military personnel and civilians (it being understood, of course, that other provisions of law prohibit or restriet attacks on civilians). But the difficulty one faces in this logical conclusion is that, speaking in general terms, the popular prejudice against weapons which eause "unnecessary suffering" is less strong when the weapon is used against military personnel than it is when the weapon is direeted against civilians or used in such a way that eivilians as weIl as military personnel might be affeeted. If there were not to be a eomplete prohibition of the use of napalm, there might still be a basis for restricting its use when civilians might, either inadvertently or by design, be hit by it. A further distinetion might be made between the use of such weapons as napalm against military objeets and civilian objects, or different restrictions might be imposed on the use of the weapon against fortifications or entrenched troops on the one hand and troops in the open on the other.

The variety of cireumstances under which weapons may be used underlines the eomplexity of the problem, especially if an attempt is made to aecount for all methods of use of a weapon. A prohibition on incendiary projectiles could, if literally applied, prohibit the use of tracer ammunition in which incendiary rounds are mixed in with others in the 24

Report cited supra note 19.

48

R.R.Baxter

belt25 • Incendiary shells are particularly effective as defense against aircraft. A shell which breaks into many small pellets may be an effective way of driving personnel away from anti-aircraft and radar installations and of destroying soft targets, such as radar equipment. When the same weapon is used against civilian personnel or under circumstances in which civilians will be affected, quite a different complexion is put on the matter. And such peculiarities as the fact that a projectile from an M-16, which in its tumbling motion creates a larger wound, tumbles in only part of its range must be taken into account. Proposals for prohibitions on weapons that kill indiscriminately are usually directed in these days to aerial bombardment. However, it must not be forgotten that chemical and bacteriological warfare fall under the prohibition of the Geneva Protocol not only because they cause unnecessary suffering, but also because they can be highly unpredictable in their effects, affecting the forces using them and civilians as weIl as enemy personnel. That unpredictability both called for and facilitated the interdiction of the treaty. Rules relating to aerial bombardment are normally directed to the maintenance of the distinctions between civilian and military personnel and between civilian objectives and military objectives. This matter is inextricably intertwined with the questions of what are premissible targets for aerial bombardment and the extent to which civilians may be bombed in an attempt to destroy what is conceded to be a military objective. This latter question presents itself in the form of target-area or pattern bombardment, when a pattern of bombs must be laid down. Civilians, their habitations, and facilities for their survival, whether in the city or in the jungle, may be, according to men of arms, the necessary and intended victims of aerial bombardment when a military objective must be destroyed. If bombardment or artillery fire were prohibited under circumstances in which civilians would be injured or killed, military objectives would und er many circumstances be rendered immune by the proximity of civilian persons and their facilities. It is not sufficient to call for the separation of civilians and military objectives26 , because in an increasingly crowded world, civilians and military objectives are often intermixed. If a compromise is sought in a standard of proportionality - that civilian casualties and damage to their property cannot be out of proportion to the military advantage to be gained - the problem mentioned earlier27 of comparing the incomparable once more arises. One rebels 25 See in this respect United States Department of the Army, Field Manual 27 - 10, The Law of Land Warfare (1956), para. 36. 28 I.C.R.C., Draft additional Protocol to the four Geneva Conventions of August 12, 1949, art. 48, para. 2 (a), art. 51, in Report cited supra note 13, at pp. 7 and8.

Criteria for the Prohibition of Weapons in International Law

49

at the thought that hundreds of thousands of civilians should be killed in order to destroy one enemy soldier who may be in their midst. But under more reasonable circumstances, how can a proper ratio be established between loss of civilian life and the destruction of railway carriages? If the requirement is established of a high degree of accuracy in weapons so that civilians will not be incidentally but substantially affected, then account must be taken of the possible costs. These costs would presumably have to be weighed in the balance. Amongst these costs are the following, which are put in the form of questions in order to emphasize their indeterminate character: 1. Would an armed force be required to use a weapon the area of destruction caused by which would not exceed the size of the military objective? Would account have to be taken of the probable accuracy of the weapon? It has been pointed out in this latter connexion that naval cruise missiles which ho me in on the heat radiated by ships engines could be attracted by the engines of neutral merchant ships as readily as by the engines of enemy warships, thus creating new hazards to neutral shipping on the high seas 28 • Would the use of such weapons be excluded?

2. Would an armed force be precluded from using a cheaper but less accurate weapon if a more expensive and more accurate weapon were available? Would the standard be that of the most sophisticated and most expensive weapons available globally, which would give the advantage to the technologically most advanced states, or the most accurate weapons available to the individual state, which might inhibit the development of more accurate weapons by that state? 3. Would it be required that astate assumes a high degree of risk to its own personnel and to its own weapons system in order to avoid jeopardizing the lives of a disproportionate number of civilians (on the assumption that a standard of proportionality could be worked out)? Thus far the problem of aerial bombardment has been seen in the context of so called conventional bombardment. Questions to which at least a theoretical answer is possible in connexion with conventional bombardment, seem unanswerable if they are asked about nuclear warfare. The protection of civilians from nuclear bombardment presents the greatest paradox of all - that civilian populations are held hostage against the use of nuclear weapons. For it is the possibility that civilian populations could be wiped out by a secure second strike which conSee p. 46 supra. D. P. O'Connell, The Legality of Naval Cruise Missiles, in: American Journal of International Law, vol. 66 (1972), p. 785 • 27

28

• Festschrift für Ulrich Scheuner

R. R.Baxter

50

stitutes, in the present balance of power, the best guarantee that nuclear weapons will not be used. If an attempt is made to prohibit some or aH use of nuclear weapons, either by express reference or by prohibition of weapons having specified effects or by regarding them as weapons which are indiscriminate or cause unnecessary suffering, then the idea must be accepted that the route to control of these weapons lies through treaty prohibitions on use rather than through the process of arms control. That view would be a dramatic departure from the present process of seeking a solution to the nuclear problem through agreements about arms control and disarmament. The third possible criterion for the prohibition of weapons is that a device or its use is "perfidious" or "treacherous" in character. The terms suggest stealth or dissimulation. The prohibition has in the past been seen largely in terms of the conduct of individuals rather than of the use of weapons. It is a perfidous act, for example, if an individual has first purported to surrender, as through the use of a white flag, and, then having used this device to throw his adversary off guard, opens fire. But the element of stealth is present in the use of poisons. Indeed, in the past, subtle distinctions were made between the poisoning of weHs without a warning sign and the contamination of weHs with a warning sign29 , the element of deception apparently being the distinguishing characteristic. It may be that land mines and booby traps as weH as naval mines might faH under an interdiction cast in these terms. So also might delayed action bombs dropped by aircraft, if these were intended to explode after civilians had returned to the places where the bombs had been dropped. It is, of course, possible to see the use of a number of these weapons in humane terms. For example, if delayed action weapons are employed and notification is given of their presence, then they interdict areas to the enemy without loss of life. This may weH be more humane than interdicting the area through bombardment which may occasion a great number of casualties. Again the illegality of the weapon may be predicated upon the stealth of its use. A distinction mayaIso be drawn between the use of such weapons against military personnel and against civilian personnel. Presumably, being taken by surprise may be one of the hazards of the game for the military. But in that event the weapon would have to be characterized as illegal according to the mode of its use rather than illegal per se. This consideration may not apply to poison and poisoned weapons, which have been treated as sui generis. New prohibitions of weapons and their use would have to be drafted with an eye to several other problems of definition of a general nature. 28

J.

W. Gamer, International Law and the World War, vol. I (1920), p. 291.

Criteria for the Prohibition of Weapons in International Law

51

The more specific the prohibition, the greater the possibility of lawful circumvention of the rule. If napalm is prohibited, then military research establishments will be nd their efforts to the invention of an incendiary weapon which will burn at high temperatures, will use up large quantities of oxygen, and which will be suitable for use against fortifications and armor. Out of this process may come yet more horrible weapons. If prohibitions are cast in more general terms or apply to uses of weapons, then the am bit of the prohibitions will become a matter of dispute, and the law will prove difficult to apply. The legality of reprisals through the use of weapons against the unlawful use of weapons will also have to be resolved, since the present prohibitions of reprisals in the Geneva Conventions of 1949 do not extend to the use of weapons in combat or to the use of weapons against other than the technically defined category of "protected persons"30. If reprisals are permitted, legal restraints may be overturned, as each belligerent maintains that it is resorting to the otherwise unlawful use of weapons against an alleged prior unlawful use by its adversary31. And yet on the other hand, a belligerent will hardly stand idle in the face of the use of weapons could not be set up without establishing standards of decisive for the outcome of the conflict. Finally, individuals will presumably be held accountable for the unlawful use of weapons, for it seems inevitable that such violations of the law of war should be regarded as war crimes. Rules relating to the use of weapons could not be set up without establishing standards of personal responsibility. The requisite mental element - the intent or knowledge of the accused - would have to be defined, and intentional unlawful use of weapons distinguished from negligent handling of those weapons. This last would have to be defined in such a way as to exclude cases of mere inadvertence or accident, to which criminal responsibility would presumably not attach. Rules that are addressed to individuals are not necessarily formulated in the same terms as rules imposing obligations on states. The answers to many of the questions that have been raised in the course of this short survey may be supplied in the course of the negotiations that are to come. The process of arriving at rational, consistent, 80 As in the Geneva Convention relative to the Protection of Civilian Persons in Time of War, signed Aug. 12, 1949, art. 33, United Nations Treaty Series, vol. 75 (1950), p. 287. 31 The most instructive example is the wiping out of restraints on the use of submarines against merchant shipping through reprisals taken in both the First and Second World Wars. See R. W. TuckeT, The Law of War and Neutrality at Sea, United States Naval War College, International Law Studies, vol. 50 (1955), pp. 57 - 58, 64 - 65, 297 - 298 .

••

52

R.R. Baxter

and workable prohibitions of weapons or restrictions on their use calls for a searching examination of the competing demands of humanitarianism and of the effective conduct of military operations as weIl as a rigorous analysis of precisely what is at stake in each individual case.

Verantwortete Partikularität Mitgliedschaftsvereinbarung und Leuenberger Konkordie Von Axel Frhr. v. Campenhausen Die Partikularität der Kirchen in räumlicher Hinsicht ist ein Problem. Sie muß theologisch verantwortet sein. Dietrich Pirson hat mit seinem grundlegenden Werke 1 dazu Hilfreiches gesagt. Im positiven Kirchenrecht bringt die Partikularität besondere Verlegenheiten im kirchlichen Mitgliedschaftsrecht mit sich. Theoretische Ausweglosigkeiten werden herkömmlich von der vernünftigen Praxis gemeistert. Es scheint, als seien die europäischen Kirchen, soweit sie aus der Reformation hervorgegangen sind, im Begriff, in dieser Hinsicht einen bedeutsamen Schritt zu tun, der manche Ungereimtheiten wirklich aus dem Wege räumen wird. In gewissem Sinne wiederholen sie dabei eine Entwicklung, welche die deutschen Kirchen ihrerseits schon durchgemacht haben. I.

Das kirchliche Mitgliedschaftsrecht ist herkömmlich auf Taufe, Bekenntniszugehörigkeit und Wohnsitz im Bereich des kirchlichen Verbandes (Landeskirche, Diözese) gegründet. Das Parochialrecht, das durch die staatliche Rechtsordnung anerkannt ist (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 III, V WRV) bedeutet für das Kirchenglied, daß es beim Umzug innerhalb Deutschlands oder beim Zuzug aus dem Auslande dem kirchlichen Verband des neuen Wohnsitzes nicht eigenst beizutreten braucht, diesem vielmehr automatisch, auch mit Wirkung für den weltlichen Bereich zugehört. Gerade diese Wirkung, welche in der Heranziehung zur Kirchensteuer auch für das inaktive Kirchenmitglied spürbar wird, hat wiederholt Anlaß zu Rechtsstreitigkeiten gegeben, wobei allerdings regelmäßig konfessionelle Argumente Verwendung fanden. Das ist allerdings nur auf evangelischer Seite so. Für Katholiken, die innerhalb Deutschlands umziehen oder aus dem Ausland kommen, ergeben sich keine rechtlichen Probleme, weil die verschiedenen Diözesen 1 Universalität und Partikularität der Kirche. Die Rechtsproblematik zwischenkirchlicher Beziehungen, Jus Ecc1esiasticum Bd. 1 (1965).

54

Axel Frhr. v. Campenhausen

Teile der mundial organisierten römischen Kirche sind. Die Identität der den Zuziehenden aufnehmenden Teilkirche (Diözese) mit seiner bisherigen heimatlichen Teilkirche steht außer Zweifel. Es besteht insofern nicht die Gefahr, daß der Staat mit der Anerkennung der parochialrechtlichen Erfassungsautomatik scinen Arm dazu leiht, daß eine Religionsgemeinschaft sich einen Staatsbürger "einseitig ohne Rücksicht auf seinen Willen" eingliedert2 • Anderes gilt für die evangelischen Kirchen insofern, als sie rechtlich selbständige Kirchen bilden, die infolge der historischen Entwicklung trotz des gemeinsamen Ausganges in der Reformation verschiedene Bekenntnisgrundlagen haben. Beim Umzug innerhalb Deutschlands oder in Europa traf der Protestant früher also auf eine andere Kirche mit möglicherweise einer - im Vergleich zur Heimatkirche - nicht identischen Bekenntnisgrundlage. Praktisch arrangierte sich der Um- oder Zuziehende. Rechtlich kam es jedoch immer wieder zu Schwierigkeiten, für welche, meist konfessionell verkleidet, die Kirchensteuerpflicht den Anlaß bot. Die hier auftretenden Fragen stellten sich im innerdeutsche Kirchengrenzen überschreitenden Wohnsitzwechsel und im Verhältnis zum Ausland. Die im staatskirchenrechtlichen Bereich häufigen Probleme hatten ihre Ursache insbesondere in zwei Umständen, ohne deren Kenntnis das evangelische Mitgliedschaftsrecht unverständlich ist. Erstens entbehrte die fundamentale Frage der Kirchenzugehörigkeit bis an die Schwelle unseres Jahrhunderts überhaupt einer erschöpfenden rechtlichen Regelung. Zweitens wurde die Rechtslage des evangelischen Kirchenwesens durch den beherrschenden Einfluß des Staatskirchenrechts zusätzlich kompliziert. In der alten Kirche genügte für die Frage nach der Kirchenzugehörigkeit der Hinweis auf die Taufe. Selbst dieses Tatbestandsmerkmal bedurfte keiner ausdrücklichen Regelung, weil die Kirche und die Menschheit in Europa weithin identisch waren3 • Im Abendland wurde das mit der Reformation anders 4 • Die Einheit der Kirche wich der Kirchenzweiheit, später einer Vielheit von Kirchen. Die Taufe reichte damit als mitgliedschaftsvermittelnder Faktor nicht mehr aus 5 • Die daraus resultierende Nötigung, weitere Kriterien für die Zugehörigkeit zur jeweiligen Kirche zu entwickeln, wurde jedoch zunächst nicht empfunden. Das theologische Interesse Luthers und der lutherischen Reformation kon2 BVerfGE 19, 206 (217); 30,415 (423). a Ausnahmen waren nur auf Grund eines privilegierenden Rechtstitels denkbar, so bei den Juden. H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1 (2. Aufl. 1962) S. 305 f., 396. 4 Zum folgenden auch D. Pirson, Universalität, S. 50 ff., 106 ff., 152 ff. 5 D. Pirson, Die Mitgliedschaft in den deutschen evangelischen Landeskirchen als Rechtsverhältnis, ZevKR 13 (1967/68) S. 348.

Verantwortete Partikularität

55

zentrierte sich auf die durch Wort und Sakrament vermittelte geistliche Zugehörigkeit zur Kirche. "Die Frage nach dem Kreis und nach den persönlichen Eigenschaften der Mitglieder der empirischen Kirche" trat demgegenüber zurück8 • Dazu kam die tatsächliche konfessionelle Geschlossenheit der Territorien. Da die Kirchenzugehörigkeit bis ins 19. Jahrhundert der selbstverständliche Normalfall blieb, bestand zunächst keine praktische Notwendigkeit, ein Mitgliedschaftsrecht auszubilden; es genügte, die Folgen der seltenen Nicht-Mitgliedschaft zu normieren. Erst als die Kirchen sich im 19. Jahrhundert vom Staat lösten und eigene Rechtspersönlichkeit gewannen, änderte sich die Lage grundsätzlich. Auch dann wurden die die Kirchenmitgliedschaft begründenden Tatbestandsmerkmale oft mehr vorausgesetzt als geregelt. Hieraus erklären sich manche Besonderheiten früherer Gesetze und die Lückenhaftigkeit der N ormierung7 • Die Rechtslage ist über die Lückenhaftigkeit der Normierung hinaus zweitens dadurch noch zusätzlich kompliziert worden, daß die evangelischen Kirchen ihren Verantwortungsbereich nicht nur territorial abgegrenzt haben, sondern daß das Recht der Reichsstände, den territorialen Bekenntnisstand zu bestimmen (ius reformandi) auch noch zu konfessionellen Differenzierungen geführt hat. Während der Katholik in jeder Diözese unzweifelhaft dieselbe Römische Kirche vorfand, traf der Protestant auf rechtlich weithin selbständige Kirchen, deren Bekenntnisstand lutherisch, reformiert, später auch uniert war, so daß bis vor kurzem die Frage aufgeworfen werden konnte, ob es überhaupt "ein evangelisches Bekenntnis" gebe und ob nicht jeder Umzug in eine andere Landeskirche als eine "Möbelwagenkonversion" zu qualifizieren sei8 • Diese Frage stellen, kann m. E. nur heißen, sie zu verneinen. Immerhin zeigt der berühmte Kardorff-Prozeß9, daß das Bündnis konfessions8 K. Eger, Das Wesen der deutsch-evangelischen Volkskirche der Gegenwart (1906) S. 23; W. Maurer, Zur theologischen Problematik des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts, ZevKR 4 (1955) S. 337 ff. T R. Smend. Zum Problem des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts, ZevKR 6 (1957/58) S. 113 ff.: A. v. Campen hausen, Mitgliedschaft in der Volkskirche, PastoraltheologIe 55 (1966) S. 8 ff.; D. Pirson, Mitgliedschaft, S. 340 ff. Alle m.w.N. 8 An dieser Debatte beteiligten sich zeItweilig besonders lutherische Kirchenmänner, welche in den Anfangsjahren der VELKD das Landeskirchenturn zugunsten konkurrierender evangelischer Konfessionskirchen auflösen wollten, aber auch der dafür nicht zuständige VGH Baden-Württemberg, dazu im Folgenden F. Hübner, Um das Territorialprinzip, ELKZ 1953, 2]3; H. Brunotte, Personalitätsprinzip und landeskirchliches Territorialprinzip, ZevKR 7 (1959/ 60) S. 348 ff.; kritisch dazu R. Weeber. Personalitätsprinzip und landeskirchliches Territorialprinzip, ZevKR 7 (1959/69) S. 375 ff.; A. v. Campenhausen, Mitgliedschaft, S. 21 f. • "Kardorff"-Urteil vom 31. 3. 1959, ESVGH 9, 194 = ZevKR 8 (1961/62) S. 404. Richtig im Ergebnis: OVG Lüneburg, Urteil vom 3. 2. 1953, ZevKR 3 (1954)

56

Axel Frhr. v. Campenhausen

engagierter Theologen und zahlungsunwilliger Umziehender in Einzelfällen die wenig explizite Rechtslage in Frage stellen konnte: Ein nach Baden verschlagener Mecklenburgischer Flüchtling focht in diesem Prozeß seine Heranziehung zur Kirchensteuer an, weil er der evangelischen Landeskirche in Baden nicht beigetreten und diese mit seiner heimatlichen Landeskirche in Mecklenburg nicht identisch sei. Der Verwaltungs gerichtshof übernahm diesen Standpunkt. Seine Entscheidung ist in zweifacher Hinsicht problematisch: Das Gericht erkannte zwar, daß allein die Kirchen über ihr Bekenntnis und ihren territorialen Wirkungskreis bestimmen 10 • Gleichwohl griff das Gericht in die verfassungsrechtlich garantierte Autonomie ein und stellte theologische Erörterungen darüber an, ob es überhaupt ein evangelisches Bekenntnis gebe. Diese Frage wurde verneint und das Bekenntnis der Unionskirche Badens als eigene Konfession interpretiert. Die Ausführungen des Gerichtshofes zur Bekenntnisfrage waren nicht nur rechtlich unzulässig, sie waren auch unzutreffend. Denn das Gericht ging l1 von den isolierten landeskirchlichen Bestimmungen aus, ohne zu berücksichtigen, daß es sich um Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland handelte, die auch schon vor der Konstituierung der Evangelischen Kirche in Deutschland nicht beziehungslos nebeneinander bestanden hatten. Das Gericht verkannte schließlich, daß allein die Kirchen und nicht deren individuelle Glieder über die Frage der übereinstimmung oder NichtS. 220 = KirchE 2, 12; VG Karlsruhe, Urteil vom 14.7.1961, ZevKR 8 (1961/62) S. 412, das für den Begriff des "Bekenntnisses" die ausschließliche Maßgeblichkeit des Kirchenrechts erkennt. Dazu R. Smend, Zur Heranziehung eines Lutheraners zur Kirchensteuer in der Badischen Landeskirche, in: ders., Kirchenrechtliche Gutachten in den Jahren 1946 - 1969. Erstattet vom Kirchenrechtlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen. Jus Ecclesiasticum Bd. 14 (1972) S. 47 ff.; H. Engelhardt, Die Kirchensteuer in der Bundesrepublik Deutschland (1968) S. 66; G. Wendt, Gesamtkirchliche Verankerung des Mitgliedschaftsrechts in den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: Festschrift für E. Ruppel (1968) S. 129 ff.; ders., Bemerkungen zur gliedkirchlichen Vereinbarung über das Mitgliedschaftsrecht in der EKD, ZevKR 16 (1971) S. 23 ff.; A. v. Campenhausen, Kircheneintritt - Kirchenaustritt - Kirchensteuer nach staatlichem und kirchlichem Recht, DÖV 1970, 801 (807 f.); ders., Staatskirchenrecht. Ein Leitfaden durch die Rechtsbeziehungen zwischen Staat und den Religionsgemeinschaften (1973) S. 125 ff.; C. Link, Kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Fragen des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts, ÖAKR 22 (1971) S. 311 ff. 10 "Nur die Religionsgesellschaft kann selbst bestimmen, welches ihr Be., kenntnis ist. Der Staat kann diese Bestimmung nur als Tatsache hinnehmen, er kann nicht befehlen, welches das Bekenntnis einer Religionsgesellschaft zu sein habe. Das wäre mit dem Wesen einer Religionsgesellschaft als einer auf ihrem Bekenntnis beruhenden Gemeinschaft der Bekenner nicht verträglich und würde gegen das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit. .. verstoßen." ... "Wenn die Kirchen sich territoriale Grenzen setzen, so bestimmen sie, was ihnen unbenommen ist, ihren räumlichen Wirkungskre;s und setzen sich selbst Schranken, die ihnen rechtlich nicht gesetzt sind" (VGH, a.a.O.). 11 Der VGH stützte sich auf nichttheologische Literatur der zwanziger Jahre.

Verantwortete Partikularität

57

übereinstimmung der Bekenntnisstände befinden l2 • Stattdessen stellte es auf die persönliche Meinung des die Kirchensteuer verweigernden Klägers ab, was in den praktischen Folgen zur Etablierung der Religionsfreiheit als einem auch innerkirchlich wirksamen Grundrecht führt1 3 ,14.

11. Ähnliche kirchenrechtliche Probleme stellen sich auf internationaler Ebene. Die in Deutschland mit wenigen Einschränkungen selbstverständliche Aufnahme des Zuziehenden ist herkömmlich nicht nur für umziehende Deutsche, sondern auch für zuziehende Ausländer die Regel, obgleich die ausländischen Kirchen eine unvergleichlich stärker nuancierte Palette konfessioneller Besonderheiten aufweisen als die deutschen Kirchen. Die Praxis behandelte Ausländer wie Deutsche und ließ die Konfessionsangabe ausreichen, um die automatische Erfassung und Heranziehung auch zur Kirchensteuer zu begründen. Als "evangelisch" und also als Bekenntnisgenossen erkannte das Preußische Oberverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung jeden Zuziehenden an, der aus einer Kirche kam, die mit "Schriftprinzip" und "Heilsprinzip" die Grundsätze der deutschen Reformation teilten l5 • Dementsprechend wurden Anglikaner l6 , Baptisten l7 , Adventisten l8 , Mennoniten l9 , Mitglieder H. EngelhaTdt, Kirchensteuer, S. 67. Richtig erkannte der VGH, daß es den Religionsgemeinschaften freisteht, untereinander Mitgliedschaftsvereinbarungen abzuschließen. Unzutreffend verneinte er im gleichen Atemzug deren Verbindlichkeit gegenüber den Kirchengliedern unter Hinweis auf deren Bekenntnisfreiheit (ZevKR 8 [1961/62] S. 412). Zustimmend J. Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland. Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Bd. 1 (1971) S. 207; a. A. dagegen G. Wendt, Bemerkungen, S. 31. Vgl. zu dieser Frage R. Smend, Glaubensfreiheit als innerkirchliches Grundrecht, ZevKR 3 (1954) S. 113 ff.; D. PiTson, Mitgliedschaft, S. 352 ff.; vgl. ferner deTs., Grundrechte in der Kirche, ZevKR 17 (1972) S. 358 ff.; H. WebeT, Die Grundrechtsbindung der Kirchen, ZevKR 17 (1972) S. 386 ff. (402); W. Rü!neT, Die Geltung von Grundrechten im kirchlichen Bereich, Essener Gespräche 7 (1972) S. 9 ff. 14 Tatsächlich berücksichtigt das evangelische Kirchenrecht die individuelle Gewissensüberzeugung des Umziehenden im Institut des votum negativum, aber nicht weil staatliche Grundrechte dies verlangen könnten. 15 Dabei war ein Gegenseitigkeitsverhältnis aller evangelischen Landeskirchen als selbstverständliches "gemeinsames evangelisches Kirchengewohnheitsrecht" vorausgesetzt, R. Oeschey, Der Erwerb der Kirchenmitgliedschaft nach dem Staatskirchenrecht des Deutschen Reiches, AöR 55 (1929) S. 77, gegen P. Schoen, Kirchenmitgliedschaft und Kirchengemeindegliedschaft nach den neuen evangelischen Kirchenverfassungen, VerwArch 30 (1925) S. 113 ff., (122 ff.). 18 PrOVG 54, 208; 64,403. H. EngelhaTdt, Kirchensteuer, S. 66, weist darauf hin, daß die Anglikaner auch als Altkatholiken betrachtet werden können, weil zwischen der anglikanischen Kirchengemeinschaft und der Altkatholischen Kirche seit 1932 volle sakramentale Gemeinschaft besteht. 12 13

58

Axel Frhr. v. Campenhausen

katholisch-apostolischer Gemeinden (Irvingianer)20 und andere21 als Kirchenmitglieder behandelt. Diese Praxis der automatischen Aufnahme zuziehender Ausländer in deutE:che Landeskirchen ist fragwürdig geworden. Nicht nur hat dieses Problem infolge der heute unvergleichbar größeren Fluktuation andere Dimensionen angenommen als früher. Vor allem wird heute schärfer erkannt, daß die Rechtfertigung der automatischen Mitgliedschaft zuziehender ausländischer Bekenntnisverwandter in der Beziehung der Kirchen untereinander liegt. Die übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Kirchen in ihren wesentlichen Merkmalen kann nicht der steuererhebenden, den Zuziehenden aufnehmenden Kirche allein überlassen werden. "Sie würde damit einseitig in die Kompetenz einer anderen Kirche eingreifen, die für ihre Mitglieder allein zuständig ist, zu bestimmen, ob sie sich in der steuererhebenden Kirche wiedererkennt. Mitgliedschaftsbegründende BekenntnisverwandtE:chaft setzt deshalb voraus, daß die beiden Kirchen darüber einig sind, daß sie in den wesentlichen Punkten des Glaubens und der kirchlichen Praxis übereinstimmen22 ." Die Kriterien für die übereinstimmung und den Grad derselben zu bestimmen, ist Ausfluß des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen!3. Mag die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts auch den gesunden Menschenverstand für sich haben, so ist diese einseitige Beurteilung der berührten theologischen Fragen ohne ausdrückliche zwischenkirchliche Vereinbarung dazu durch staatliche Gerichte heute nicht unproblematiE:ch. Heute wäre sie im übrigen durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 IU WRV ausgeschlossen. Tatsächlich bestehen inzwischen vereinzelt solche Abmachungen zwischen einzelnen deutschen Landeskirchen und ausländischen Kirchen 24 . Eine generelle Regelung steht aber noch aus. PrOVG 64, 415; 67, 284. PrOVG 79, 98. I' PrOVG 69, 277. 20 PrOVG 79, 98. 21 Weitere Nachweise bei H. Marre - P. Hoffacker, Das Kirchensteuerrecht im Lande Nordrhein-Westfalen (1969) S.148. 22 H. Engelhardt, Kirchensteuer, S. 67. 23 G. Wendt, Bemerkungen, S. 31. 24 Vgl. Vereinbarung der Vereinigten Protestantisch-Evangelisch-Christlichen Kirche der Pfalz mit dem International Congregational Council über den Abschluß einer Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft vom 1. März 1956. Text und Verhandlungen in: Verhandlungen der Landessynode der genannten Kirche vom 15. - 21. 4. 1956, S. 54, 267, 270 ff., 311, 469 f. Diese und entsprechende Abmachungen sind in den amtlichen Gesetzblättern nicht veröffentlicht. Keine Nachweise deshalb auch bei V. Kaiser, Zwischen kirchliche Verträge. Juristischanalytische Untersuchung der nach 1945 vornehmlich von deutschen evangelischen Landeskirchen mit anderen kirchlichen Gemeinschaften abgeschlossenen 17

18

Verantwortete Partikularität

59

m. Die oben skizzierten Schwierigkeiten, die daraus resultieren, daß die moderne Zeit sich mit überkommenen, rechtstechnisch nicht perfektionierten Ordnungen nicht mehr abfindet, sind auf deutscher Ebene mit der Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft schlagartig behoben. Auf europäischer Ebene ist die Leuenberger Konkordie im Begriff, in vergleichbarer Weise überkommene Praxis nachträglich und für die Zukunft auf eine theologisch und rechtlich einwandfreie Grundlage zu stellen. IV.

Die Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft ist ein Beispiel zwü::chenkirchlicher Rechtsetzung25 • Sie kam unter Beteiligung aller Gliedkirchen der (Rumpf-) EKD und der Gesamtkirche (EKD) zustande. Auf Grund einer in der Vereinbarung (Abschnitt VI) enthaltenen Ermächtigung wurde sie vom Rat der EKD veröffentlicht und mit Wirkung voml. Februar 1970 in Kraft gesetzt26 • Die Vereinbarung bringt wenig, was nicht schon Praxis, meist sogar Recht war. Gleichwohl kann ihre Bedeutung schwer überschätzt werden. Denn sie geht von der evangelischen Christenheit als einer rechtlichen Einheit aus. Schon früher haben die Kirchen sich gerade im Mitgliedsrecht nicht als isolierte Gebilde verhalten 27 • Aber das Ausmaß der aus der Verbindung abzuleitenden Rechtspflichten konnte bestritten werden und wurde es bisweilen auch. Mochte die frühere Rechtslage, welche auf unabhängigen, korrespondierenden Bestimmungen der einzelnen Gliedkirchen beruhte, zu Fehlschlüssen verleiten, so schiebt die Positivierung der überkommenen Rechtslage durch die Mitgliedschaftsvereinbarung heute einen Riegel vor entsprechende Mißverständnisse. Die Rechtsprechung trifft heute insofern auf eine ihr leichter zu überblickende kirchenrechtliche Situation28 • Verträge (Diss. jur. Freiburg 1972) S. 85 f.; A. Krämer, Gegenwärtige Abendmalsordnung in der Evangelischen Kirche in Deutschland, Jus Ecclesiasticum Bd. 16 (1973). 25 Dazu J. Frank. Möglichkeiten und Formen gesamtkirchlicher Rechtsetzung, ZevKR 15 (1970) S. 113 ff. (133 ff.; 139). 28 ABI. EKD 1970, S. 2. Z7 Dazu R. Smend, Grundsätzliche Rechtsbeziehungen der Landeskirchen untereinander, in: Festschrift für Johannes Heckel (1959) S. 184 ff. (190 f.). 28 Neuere Rechtsprechung liegt noch nicht vor. Scheinbar hatte der VGH Baden-Württemberg (0. Anm. 9) Unterstützung erfahren durch das Kirchenbausteuerurteil BVerfGE 19, 207 (217), wenn dieses in wörtlicher Anlehnung an die Entscheidung des VGH und die dort herangezogene Literatur der zwanziger Jahre (ZevKR 8 [1961/62] S. 411) ausführt, die Landeskirchen hätten trotz ihres Namens nicht mehr den Charakter von Gebietskörperschaften "mit der Macht,

60

Axel Frhr. v. Campenhausen

"Innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland wird nach herkömmlichem evangelischem Kirchenrecht die Kirchenmi tgliedschaft durch Taufe, durch evangelischen Bekenntnisstand (Zugehörigkeit zu einem in der Evangelischen Kirche in Deutschland geltenden Bekenntnis) und durch Wohnsitz in einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland begründet. Der Evangelische Bekenntnisstand ergibt sich in der Regel aus der Taufe in einer Gemeinde evangelischen Bekenntnisses, bei Taufen außerhalb der evangelischen Kirche aus der Erziehung in einem evangelischen Bekenntnis nach dem Willen der Erziehungsberechtigten oder aus der Aufnahme in die evangelische Kirche 29 ." Hinter dieser klaren und, wie die Vereinbarung zutreffend feststellt, auf "geltenden Grundsätzen" beruhenden herkömmlichen Rechtslage verbergen sich die oben skizzierten Probleme und kirchenrechtliche Regelungsschwächen, welche erst jetzt als geklärt gelten dürfen. Die früher beim Umzug aus einer Landeskirche in die andere auftretenden rechtlichen Schwierigkeiten sind durch die Mitgliedschaftsvereinbarung ausgeräumt: "Innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland setzt sich bei einem Wohnsitzwechsel in den Bereich einer anderen Gliedkirche die Kirchenmitgliedschaft in der Gliedkirche des neuen Wohnsitzes fort 30 ." Sie geht damit von der in der Evangelischen Kirche in Deutschland von Anfang an praktizierten, auch theologisch ständig vertieften Gemeinschaft aus 31 • Es ist nunmehr klargestellt, daß jemanden, der in ihr Gebiet eintritt, einseitig ohne Rücksicht auf seinen Willen einzugliedern". Diese Ausführung machte das Gericht jedoch im Blick auf solche Personen, die einer deutschen evangelischen Kirche nicht angehören. Auf umziehende Protestanten trifft sie nicht zu. Im übrigen kann das obiter dictum des BVerfG auch nur auf verliehene staatliche Rechte bezogen werden, nicht auf das innerkirchliche Recht. Im vorliegenden Zusammenhang galt schon damals der kirchenrechtliche Satz, daß die Verbindung der deutschen Kirchen sich in einer durch die Wohnsitznahme aktualisierten Mitgliedschaft in bekenntnisverwandten Gliedkirchen auswirkt, U. Scheuner, Auseinandersetzungen und Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht, DÖV 1966, 145 ff. (149). Eine schwache Bestätigung des hier vertretenen Standpunkts bringt BVerfGE 30, 415 (425), allerdings ohne jeden Zweifel über die künftige Rechtsprechung zu beseitigen. In diesem Falle erfolgte der Umzug von einer lutherischen Landeskirche in eine andere lutherische Landeskirche, so daß das BVerfG von der Bekenntnisidentität ausgehen mußte. Das Gericht nahm angesichts des zum Zeitpunkt der Entscheidung schon Jahre alten Rechtsstreits auf die damals noch neue Mitgliedschaftsvereinbarung nicht Bezug. 29 I. 1, 2 Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 27./28. 11.1969 (ABI. EKD 1970, S. 2 f.). Die Vereinbarung ist seit dem 1. 2. 1970 in Kraft. Diese Bestimmungen sind auch in Art. 5 EGO IV EKD aufgenommen worden. 30 II!. der Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft, Art. 5 II! EGO IV EKD. 31 R. Oeschey, Der Erwerb der Kirchenmitgliedschaft, S. 77, sprach in diesem Zusammenhang von "gemeinem evangelischem Kirchengewohnheitsrecht" ; G. Wendt, Bemerkungen, S. 28.

Verantwortete Partikularität

61

das Recht der Kirchenmitgliedschaft nicht eine Angelegenheit der einzelnen Landeskirchen ist, die dieses ohne Rücksicht auf andere Kirchen regeln können. Vielmehr ist der rechtliche Bezug auf die "bestehende Gemeinschaft der deutschen evangelischen Christenheit" deutlich. "Die sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten gelten im gesamten Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschlanda2 ." Das zeigt sich nicht nur darin, daß die Gliedkirchen jeden zuziehenden Protestanten als Kirchenmitglied aufnehmen und ihm den kirchlichen Dienst einschließlich der Zulassung zum BI. Abendmahl nach Maßgabe der jeweiligen landeskirchlichen Ordnung anbieten 33 • Auch die Rechte der Mitwirkung in gesamtprotestantischen Einrichtungen wie z. B. am Deutschen Evangelischen Kirchentag haben hiermit eine Positivierung erfahren, wenn eine unmittelbare Mitgliedschaft des einzelnen Christen in der Evangelischen Kirche in Deutschland auch nicht in Aussicht genommen ist34 • Für die staatskirchenrechtliche Praxis ist die jetzt bestehende Klärung hilfreich, wonach beim Umzug nicht Untergang und Neubegründung des Mitgliedschaftsrechts eintreten, sondern daß die gleiche Kirchenmitgliedschaft in der gegliederten Gemeinschaft der deutschen evangelischen Christenheit fortbesteht und sich in der Landeskirche des jeweiligen Wohnsitzes konkretisiert35 • "Im Begriff der fortgesetzten Mitglied32 H. 1, 2 der Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft. So auch Art. 4, 5 H EGO IV EKD und neuere Kirchenverfassungen. 33 Siehe Anm. 32; dazu jetzt A. Krämer, Gegenwärtige Abendmahlsordnung in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Jus Ecclesiasticum Bd. 16 (1973). 34 Vgl. indessen Art. 7 Abs. 2 Verfassung der Ev.-Iuth. Landeskirche in Braunschweig vom 6.2.1970: "Jedes Kirchenmitglied gehört auch der in der Evangelischen Kirche in Deutschland bestehenden Gemeinschaft der evangelischen Christenheit an (Art. 1 Abs. 1 der Grundordnung der EKD). Die sich daraus für das Kirchenmitglied ergebenden Rechte und Pflichten gelten im gesamten Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland." 35 Das war früher nicht grundsätzlich anders. Die herkömmliche gebietsmäßige Selbstbeschränkung der evangelischen Kirchen ist nur deshalb theologisch möglich, weil diese davon ausgehen, daß andernorts eine andere Kirche wirkt, die als Kirche Anerkennung verdient und der man dorthin verziehende Kirchenglieder anvertrauen kann. Daß die abgebende Kirche ihr fortziehendes Kirchenmitglied im Bereich der Nachbarkirche nicht versorgte und diese den Ankömmling automatisch übernahm, bedeutete innerhalb des deutschen Reiches keine Gefälligkeit, sondern war eine Rechtspflicht. H. Brunotte, Die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (1954) S. 149; R. Smend, Grundsätzliche Rechtsbeziehungen, S. 184 ff. Jede Landeskirche erkannte die andere in deren Bereich als den allein zuständigen Kirchenkörper an. § 6 II Kirchengesetz über die Gliedschaft in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern vom 10. 11. 1965 (KABl. S. 179), wonach Kirchenglieder, die aus dem Gebiet der Evang.-Luth. Kirche in Bayern in eine Gemeinde mit einem anderen evangelischen Bekenntnisstand verziehen, im seelsorgerlichen Verband ihrer bisherigen Kirchengemeinde bleiben können, bildet keine Ausnahme. Die Bestimmung ist historisch zu erklären aus der früheren Verbindung Bayerns mit der Pfalz. Außerhalb von Bayern setzt sich die Kirchenmitgliedschaft in der Bayerischen Landeskirche rechtlich nicht in dem Sinne fort, daß dadurch die Mitgliedschaft in der Kirche des neuen Wohnsitzes beeinträchtigt würde.

62

Axel Frhr. v. Campenhausen

schaft in Gliedkirchen sind Fortbestand der gesamtkirchlichen Basis der Mitgliedschaft und ,Wechsel' gliedkirchlicher Zugehörigkeit verbunden30 ." Auch die aus der konfessionellen Gliederung sich früher bei Umzügen ergebenden Fragen haben im neuen Kirchenrecht dadurch eine klare Antwort gefunden, daß dieses von den in der Evangelischen Kirche in Deutschland zusammengeschlossenen Gliedkirchen als einer konfessionell gegliederten Einheit ausgeht. Damit ist die Vermutung ausgesprochen, daß der jeweilige objektive Bekenntnisstand aller deutschen Gliedkirchen dem subjektiven Bekenntnisstand des umziehenden Protestanten entspricht - unbeschadet liturgischer Unterschiede und unterschiedlicher konfessioneller Tradition. Die Vermutung ausreichender Konkordanz kann jedoch aus besonderen Umständen des Einzelfalls durch Ausübung des votum negativum widerlegt werden. Dies ist das rechtstechnische Mittel, mit dem das Territorialprinzip schon längere Zeit aufgelockert worden ist: "Zuziehende Protestanten haben das Recht, innerhalb eines Jahres zu erklären, daß sie einer anderen im Gebiet der Gliedkirchen bestehenden evangelischen Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören. Die Erklärung hat die Wirkung, daß die Mitgliedschaft vom Zeitpunkt des Zuzugs an nicht fortgesetzt wird37 ." Da die Mitgliedschaft in der Landeskirche des früheren Wohnsitzes beim Umzug erlischt, eine landeskirchliche Mitgliedschaft an der Landeskirche des neuen Wohnsitzes aber nicht entsteht, hat das votum negativum die Wirkung eines innerkirchlich geregelten Kirchenaustritts 38• Es ist allerdings durch das Erfordernis der Option für eine andere im Gebiet der Landeskirche des neuen Wohnsitzes bestehende evangelische Kirche eingeschränkt. Mit dem votum negativum ist der Kirchenübertritt ohne vorausgehenden Kirchenaustritt nach staatlichem Recht eröffnet. Damit ist sichergestellt, Allerdings beruhte die die Gesamtheit der evangelischen Kirchen umfassende Mitgliedschaftsordnung früher im Gegensatz zur heute geltenden Ordnung nicht auf einheitlicher Rechtsgrundlage, sondern auf korrespondierenden, sachlich aufeinander bezogenen Einzelregelungen. Diese ließen indessen in der Gesamtheit der rechtlich selbständigen Landeskirchen eine "arbeitsteilige Gemeinschaft" erkennen. R. Smend, Glaubensfreiheit, S. 125; G. Wendt, Bemerkungen, S. 25. Die automatische kirchliche Vereinnahmung des Zuziehenden am neuen Wohnsitz konnte früher jedoch wegen der konfessionellen Differenzierungen problematisch erscheinen, wenn solche Fälle auch in der Regel nicht vorkamen. Dazu der VGH Baden-Württemberg in dem "KardoffUrteil" vom 31. 3.1959, dazu oben S. 55 ff. 38 G. Wendt, Bemerkungen, S. 32, 33. 37 III. 2 der Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft, Art. 5 III EGO IV EKD. Das votum negativum war schon herkömmlich in den Verfassungen der Landeskirchen vorgesehen, die dem zuziehenden Protestanten nicht landeskirchliche Gemeinden verschiedener konfessioneller Tradition anbieten konnten. 38 G. Wendt, Bemerkungen, S. 33 f. Dazu auch H. Engelhardt, Der Austritt aus der Kirche (1972) S. 90 f.

Verantwortete Partikularität

68

daß das umziehende Kirchenglied nicht in seiner subjektiven Bekenntnishaltung vergewaltigt wird.

v. Eine ähnliche Klärung der Rechtslage zeichnet sich in der Leuenberger Konkordie auf europäischer Ebene nunmehr ab. Eine Konkordie ist bekanntlich der Versuch einer gemeinsamen bekenntnismäßigen Aussage getrennter Kirchen, "in denen die historischen kirchentrennenden Unterschiede angesichts veränderter Frag2stellungen und neuer biblisch-exegetischer Einsichten überprüft, geklärt und behoben werden"39. Sie steht zwischen dem partiellen Konsens, der die Kirchentrennung bestehen bleiben läßt, wie in Deutschland z. B. die Barmer Theologische Erklärung, und dem umfassenden Unionsbekenntnis, das zur Kircheneinheit führt. Eine Konkordie räumt demgegenüber kirchentrennende Hindernisse fort und ermöglicht gottesdienstliche Gemeinschaft, läßt die sonstigen gewachsenen Unterschiede in der Bekenntnisbestimmtheit der Kirchen jedoch bestehen40 • Eine solche Konkordie liegt den europäischen Kirchen zur Zeit zur Zustimmung vor. Nach Vorbesprechungen in Schauenburg/Schweiz (1967) haben die europäischen Kirchen in Gesprächen in Leuenberg/Schweiz (1969170) die Arbeit an einer Konkordie empfohlen. Ein Entwurf wurde im September 1971 erstellt. Bis zu einer zweiten Vorversammlung im März 1973 hatten bereits 63 Kirchen ihre Stellungnahme abgegeben. Diese zeigten eine nahezu vollständige Einmütigkeit über das Ziel und den Weg, der einzuschlagen sei. Ein behutsam revidierter Text wurde von der zweiten Vorversammlung förmlich festgestellt und die beteiligten Kirchen gebeten, ihre Zustimmung bis zum 30. September 1974 in genau festgelegter Formulierung zu erklären. Die Kirchengemeinschaft soll am 1. Oktober 1974 wirksam werden. Diese Leuenberger Konkordie zerfällt in vier Abschnitte. Der erste skizziert den gemeinsamen Ausgangspunkt der beteiligten Kirchen in der Reformation, das Scheitern kirchlicher Einheit in der Zeit der Väter und die grundlegende Änderung der heutigen kirchlichen Lage, welche dadurch charakterisiert ist, daß die Meinungsfronten sich nicht mehr 39 E. Schlink, Was heißt es heute, bekenntnisbestimmte Kirche zu sein?, Nachrichten der Evang.-Luth. Kirche in Bayern 27 (1972) S. 181 ff. (182); grundlegend zu Wesen und Funktion einer Konkordie und für die Leuenberger Konkordie P. Brunner, Konkordie - Bekenntnis - Kirchengemeinschaft, ZevKR 18 (1973) S. 109 ff. Dokumentation ferner bei o. Lingner in dem Einführungsaufsatz zu H. W. Heßler (Hrsg.), EKD-Struktur und Verfassungsreform, epd-Dokumentation Bd. 6 (1972). Lit. eben da Nr.128 - 154 a. 40 E. Schlink, Was heißt es heute, bekenntnisbestimmte Kirche zu sein?, a.a.O.

64

Axel Frhr. v. Campenhausen

konfessionell erklären lassen, sondern quer durch die Konfessionen hindurch gehen. Zugleich haben die Kirchen "gelernt, das grundlegende Zeugnis der reformatorischen Bekenntnisse von ihren geschichtlich bedingten Denkformen zu unterscheiden". Im zweiten Abschnitt ist "das gemeinsame Verständnis des Evangeliums" (Rechtfertigung, Verkündigung, Taufe, Abendmahl) beschrieben. Daraus wird die Folgerung gezogen (lU), daß die von den Vätern vollzogenen Verwerfungen die Lehre des heutigen Partners nicht mehr treffen und also ebenso wie die Unterschiede des kirchlichen Lebens "kein Hindernis für unsere Kirchengemeinschaft" seien. "Mit der Kirchengemeinschaft zwischen den bekenntnisverschiedenen Kirchen wird die im 16. Jahrhundert entstandene und bis heute andauernde Trennung aufgehoben, Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewährt und eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt erstrebt" (IV). Dementsprechend erklären die Kirchen unerachtet der fortdauernden Bindung an die respektiven Bekenntnisse und Traditionen 1., daß sie "im Verständnis des Evangeliums" übereinstimmen, 2. die historischen Lehrverurteilungen den gegenwärtigen Stand der Lehre nicht mehr betreffen und vorhandene Unterschiede in Lehre, Ordnung und Lebensform keine kirchentrennende Bedeutung mehr haben, 3. die Kirchen erkennen sich gegenseitig als Kirche Jesu Christi an, "indem sie sich Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft gewähren. Diese schließt die gegenseitige Anerkennung der Ordination und die Ermöglichung der Interzelebration ein". Von den "organisatorischen Folgerungen" ist für unseren Zusammenhang bedeutsam, daß durch die Erklärung der Kirchengemeinschaft "kirchenrechtliche Regelungen von Einzelfragen ... nicht vorweggenommen" sind. Die Auswirkungen der Leuenberger Konkordie auf das kirchliche Mitgliedschaftsrecht beim Umzug aus der einen in eine andere Kirche, werden, wie schon gesagt, vor allem klärender Natur sein. So wie die Mitgliedschaftsvereinbarung innerhalb Deutschlands selbstverständliche Praxis und implizites Kirchenrecht positiviert hat, die früher theologisch noch nicht anerkannt werden konnten, so legitimiert die Leuenberger Konkordie theologisch, was etwa das Preußische Oberverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung von der Basis einer im strengen Sinne des Wortes "landeskirchlichen" Praxis und eines konfessionell gemäßigten gesunden Menschenverstandes aus auch schon judiziert hat. Eine gen aue re Prüfung, zwischen welchen Kirchen ein solches Einvernehmen ausdrücklich besteht (welches eine solche staatliche Rechtsprechung voraussetzen muß), stieß bisher auf Schwierigkeiten, eben weil es nur vereinzelte und zufällige förmliche Absprachen gab. Nunmehr ist diese für den umziehenden Christen auch früher naheliegende Praxis amtlich und wechselseitig ausdrücklich anerkannt.

Verantwortete Partikularität

65

Für Deutschland bringt die Leuenberger Konkordie aber auch deshalb keine einschneidenden Veränderungen, weil hier ein ähnlicher Weg (mühsam genug) gegangen wurde. Seit dem Kriege sind die in der Evangelischen Kirche in Deutschland zusammengeschlossenen Kirchen sogar zu einer über den Gesetzesparagraphen erheblich hinausgehenden lebendigen und gegliederten Einheit zusammengewachsen. Die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland geht viel weiter als die der europäischen Kirchen, auch ist hier Homogenität für den außenstehenden Betrachter fast vollkommen41 • Beide Kirchengruppen haben aber den gleichen Weg gewählt, nämlich den der Einheit in der Vielheit. Die rechtliche Selbständigkeit, vor allem aber Besonderheiten der kirchlichen Lehre, des Kirchenrechts und des kirchlichen Lebens bleiben erhalten. Vereinbarungen zwischen deutschen und ausländischen Kirchen über die Kirchenmitgliedschaft zuziehender Protestanten sind kaum mehr notwendig; das wird jedenfalls gegenüber solchen Kirchen gelten, die die Leuenberger Konkordie unterzeichnet haben. Abschnitt IV g der Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft, der solche Abmachungen vorsieht, wird dann nur noch gegenüber anderen Kirchen Bedeutung entfalten. In jedem Fall, d. h. auch bei römischen Katholiken, besteht staatskirchenrechtlich gegenüber Ausländern, die die kirchensteuerlichen Konsequenzen der Konfessionsangabe auf Meldepapieren nicht kennen, eine besondere Aufklärungspfiicht. Anders als bei Inländern wird man entsprechende Konfessionsangaben wohl nur als widerlegbare Vermutung der Kirchenmitgliedschaft anerkennen können, für deren Widerlegung es keines förmlichen Kirchenaustritts bedarf. Soweit bekannt, hat die Praxis keine besonderen Streitfälle hervorgerufen. Zusammenfassend wird man sagen dürfen, daß Mitgliedschaftsvereinbarung und Leuenberger Konkordie wesentliche praktische Rechtsprobleme beseitigen werden. Nicht zuletzt bedeuten sie einen Legitimationszuwachs der territorialen Partikularität der reformatorischen Kirchen. Die Vielzahl rechtlich unkoordiniert nebeneinander lebender Kirchen bedeutet nicht nur für die Christen eine Anfechtung. Sie muß dem Außenstehenden als Symptom dafür erscheinen, daß die Kirchen nicht willens oder nicht in der Lage sind, die theologischen und die praktischen Probleme ihres Nebeneinanders zu regeln. Insofern dürfte der hier hervorgehobene partikulare Aspekt des großen Komplexes der Leuenberger Konkordie geeignet sein, das Bild der Kirchen in der Welt zu verbessern.

(l Vgl. L. Vischer, Wachsende Gemeinschaft, ungelöste Spannungen. Vortrag vor der EKD-Synode. Bericht über die 3. Tagung der 4. Synode, Berlin 1971 (1972) S. 73 ff.

5 Festschrift für Ulrlch Scheuner

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971 Von Karl Carstens Die Schwierigkeiten einer Darstellung der Berlin-Regelung von 1971 beginnen bereits mit der Terminologie. Unter Berlin versteht der allgemeine Sprachgebrauch zunächst einmal die ganze Stadt Berlin, dann aber auch entweder den westlichen! oder nur den östlichen Teil2 • Vielfach wird in Reden und Schriften der Name Berlin mit der Absicht verwendet, die Frage, was genau gemeint ist, offen zu lassen. Soweit ich in diesem Beitrag andere Autoren zitiere, übernehme ich deren Ausdrucksweise, ohne jeweils den Versuch zu machen, mich im einzelnen mit den Motiven für die von ihnen vorgezogene Terminologie auseinanderzusetzen. Im folgenden nenne ich die drei westlichen Sektoren entweder Westberlin oder Berlin (WesW oder Land Berlin4 , den östlichen Sektor bezeichne ich als Ostberlin, für die ganze Stadt verwende ich den Ausdruck "ganz Berlin". 1. Selten hat ein internationales Ereignis eine so vielseitige Zustimmung gefunden wie der Abschluß des Vier-Mächte-Abkommens (VA) am 3. September 1971 in dem früher vom Alliierten Kontrollrat benutzten Gebäude im amerikanischen Sektor Berlins. Der damalige amerikanische Botschafter in Bonn, Kenneth Rush, nannte es ein historisches Ereignis, das allen Berlinern zugute kommen werde, es könne dazu beitragen, die Spannung in Europa zu mildern5 • Der französische Botschafter, Jean Sauvagnargues, gab der Erwartung Ausdruck, daß Berlin künftig ein Symbol der Entspannung darstellen werde 6 , und sein Landsmann, der 1 So die drei Westmächte in zahlreichen Schreiben an den "Regierenden Bürgermeister von Berlin" . 2 So der Sprachgebrauch der Sowjetunion und der DDR. 3 Diese Bezeichnung findet sich im Transitabkommen zwischen der Bundesrezublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 17. Dezember 1971, abgedruckt in: Die Berlin-Regelung. Das Viermächte-Abkommen über Berlin und die ergänzenden Vereinbarungen, hrsg. vom Presse- und Informations amt der Bundesregierung 1971 (im folgenden abgekürzt: BR), S.

13 ff.

, Entsprechend Art. 1 der Berliner Verfassung von 1. September 1950, Verordnungsblatt für Groß-Berlin 1950 I, S. 433. S Vgl. Kenneth Rush, The Berlin Agreement: An Assessment, in: The Atlantic Community Quarterly, Vol. 10 (1972), S. 52 ff. G BR, S.189. 5*

68

Karl Carstens

Politologe und Diplomat Jacques Vernant, kam in einer Analyse des Abkommens zu dem Ergebnis, daß es für den Westen "sehr positiv" ausgefallen sei7. Während sich offizielle britische Stellen eher zurückhaltend äußerten, sah die Times in dem Abkommen einen Beweis dafür, daß die Sowjets an der Stabilisierung der Lage in Europa und an der Verminderung der Gefahr von Konflikten echt interessiert seien8 • In der Bundesrepublik Deutschland zeichneten sich die offiziellen Erklärungen zunächst durch eine gewisse Zurückhaltung aus. Die Bundesregierung bezeichnete das Abkommen als tragfähige Grundlage einer befriedigenden Berlin-Regelung, die zwar die Berlin-Frage insgesamt nicht lösen könne, jedoch eine krisenfreie Entwicklung in und um Berlin herbeiführe 9 • Ein Teil der westdeutschen Presse setzte demgegenüber wesentlich positivere Akzente. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete das Abkommen als "status quo plus"10. "Zum ersten Mal lernen die Berliner Sicherheit kennen", hieß es in der Frankfurter Rundschaull , und Martin Kriele schrieb in der Wochenzeitung Die Zeit, der Rechtsstatus Berlins sei "noch sicherer geworden", das Abkommen stabilisiere die amerikanische Präsenz nicht nur in Berlin, sondern in Europa12. Sehr positive Äußerungen kamen von der sowjetischen Seite. Viktor Boldyrew bezeichnete das "Vierseitige Abkommen über Westberlin" (meine Hervorhebung) als einen Schritt zu Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 13. Es sei eines der wichtigsten Ereignisse nach dem 2. Weltkrieg, es beseitige die bisherigen Spannungen um Westberlin und schaffe die Voraussetzungen für eine Normalisierung der Lage in (meine Hervorhebung) und wegen dieser Stadt. Und schließlich: "Die Vereinbarung über Westberlin ist ein weiterer überzeugender Beweis, ein anschauliches Beispiel für die praktische Verwirklichung der konsequenten und prinzipiellen Linie der UdSSR, der DDR und der anderen sozialistischen Staaten für Entspannung und Gewährleistung eines dauerhaften Friedens auf dem europäischen Kontinentl'." Kritische Stimmen kamen vor allem von der CDU/CSU. Zwar wurden sie von Boldyrew als Äußerungen rechter Extremisten, notorischer Revanchisten und Verfechter des kalten Krieges apostrophiert, die West7 Vgl. Jacques Vernant, L'Accord des Quatre sur Berlin, Revue de defense nationale 1971, S.1677. 8 The Times vom 24. August 1971, S. 11. 9 BR, S.196. 10 Süddeutsche Zeitung vom 11. September 1971, S. 11. 11 Frankfurter Rundschau vom 3. Juni 1972, S. 6. 12 Die Zeit vom 18. Februar 1972, S. 52. 13 Vgl. Viktor Boldyrew, Das Vierseitige Abkommen über Westberlin ein Schritt zu Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in: Deutsche Außenpolitik 1972, S. 872 ff. 14 Vgl. a.a.O., S. 894.

Zur Interpretation der Be-rHn-Regelung von 1971

69

berlin nur zu gern weiterhin zur Aufrechterhaltung der Spannung mißbraucht hätten l5 , doch waren in Wirklichkeit auch die Äußerungen der Opposition ohne Zweifel sehr maßvoll. Die CDU/CSU bemängelte vor allem, daß die Berlin-Regelung das unausgewogene Verhältnis von Leistungen und Gegenleistungen im Moskauer Vertrag nicht ausgleiche, sie bringe nicht die uneingeschränkte Anerkennung der bisher im freien Berlin bestehenden Realitäten durch die Sowjetunion. Der Status Berlins werde nicht klarer, die Präsenz des Bundes geringer und die der Sowjetunion größer l6 • KarL Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, der verschiedene Teile des VA und ebenso des innerdeutschen Abkommens vom 17. Dezember 1971 zur Ausfüllung des VA kritisierte, hob jedoch zustimmend hervor, daß die Rechte der Westmächte in Berlin durch das Abkommen bestätigt worden seien. Dies bedeute größere Sicherheit für Berlin. Auch sei zu begrüßen, daß die Sowjetunion zu einer Selbstbindung hinsichtlich der Sicherheit des Berlinverkehrs veranlaßt worden sei und daß die Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland bestätigt worden seien l7 • Im Zwiespalt zwischen Erleichterung und Sorge über das VA und die zu seiner Ausfüllung getroffenen Vereinbarungen des Senats von Berlin mit der Regierung der DDR vom 20. Dezember 1971 zeigte sich der Berliner Regierende Bürgermeister KLaus Schütz in seiner Rede vor dem Abgeordnetenhaus l8 • Die Vereinbarungen, so sagte er, seien "gemessen an dem, was vorher, was in den vergangenen Jahren war, ... mehr als befriedigend"19. Aber, so führte er am Ende seiner Rede aus: "Nicht jeder Teil ist Glanz - aber die Lage, wie sie wirklich ist, muß - noch immer weitgehend glanzlos, wie sie nun einmal ist - gesehen werden 20 ." 2. Die auffallende Tatsache, daß Ost und West in gleicher Weise behaupten, Verhandlungserfolge erzielt zu haben, beruht einmal auf einer gewissen Ausgewogenheit der Konzessionen beider Seiten, wobei jede Seite - wie das üblich ist - mehr die Konzessionen der anderen als ihre eigenen unterstreicht. Aber man sollte nicht verkennen, daß die allgemeine Befriedigung auch darin ihre Ursache hat, daß wichtige Bestimmungen des Abkommens unklar oder zweideutig formuliert sind mit der Folge, daß jede Seite die ihr günstige Interpretation wählt, und daß der Dissens dadurch offenkundig wird. 15 Vgl. a.a.O., S. 892 f. 18 Vgl. CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages, Pressemitteilung vom 3. September 1971. 17 Vgl. Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Befriedigende Regelung für Berlin?, in: Zeitschrift für Politik 1972, S. 20 ff. 18 BR, S.106 ff. 11 BR, S. 108 ff. 20 BR, S. 118.

70

Karl Carstens

Die Unklarheiten beginnen schon in der Präambel. Dort werden die Rechte der Vier Mächte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit bestätigt und damit anscheinend auch die Rechte der drei Westmächte, worin diese begreiflicherweise einen Verhandlungs erfolg erblicken; doch der übernächste Absatz der Präambel ("unbeschadet ihrer Rechtspositionen") schränkt die übereinstimmung wieder ein und macht deutlich, daß die Beteiligten verschiedene Rechtspositionen einnahmen. Eine Quelle von Auslegungsschwierigkeiten bildet der erste Hauptteil des Abkommens (I). Er bezieht sich nach westlicher Auffassung auf "ganz Berlin", also auf alle vier Sektoren, die drei westlichen und den östlichen Sektor der Stadt. Allerdings wird das an keiner Stelle ausdrücklich gesagt. Vielmehr ist nur von "dem betreffenden Gebiet" die Rede. Die Ursache dieser merkwürdigen Umschreibung dürfte wohl darin liegen, daß sich die Vier Mächte auf keine Bezeichnung des Gebietes einigen konnten, auf das sich nach ihrem übereinstimmenden Willen der Teil I des VA beziehen sollte. Ähnliche, eher terminologische denn sachliche Schwierigkeiten haben z. B. dazu geführt, daß in dem Ausführungsabkommen zum VA, das zwischen der DDR und Westberlin am 20. Dezember 1971 geschlossen wurde, die Westberliner Seite nicht mit ihrem offiziellen Namen "Senat von Berlin", sondern - wie im VA - nur mit der Bezeichnung "Senat" erscheint. Warum sich der Berliner Senat mit dieser Lösung abgefunden hat, ist nicht bekannt. Der Berliner Unterhändler, Senatsdirektor Ulrich Müller, brachte den Ärger darüber jedenfalls in seiner Erklärung anläßlich der Paraphierung der Vereinbarung zum Ausdruck. Er gebrauchte in den elf Sätzen, die er sprach, viermal die Worte "Senat von Berlin"21. Immerhin stützt dieser Vorgang die These, daß im ersten Abschnitt des VA nur terminologische Schwierigkeiten zu der schließlich gewählten Formulierung geführt haben, daß man also ganz Berlin gemeint hat, aber sich nicht auf eine einheitliche Bezeichnung einigen konnte. Aber es gibt sowjetische Äußerungen, die das ganze VA und daher auch seinen ersten Teil, eindeutig nur auf die westlichen Sektoren Berlins beziehen wollen22 , und unglücklicherweise spricht infolge einer Unachtsamkeit der amerikanischen Delegation das Schlußkommunique des Moskau-Besuchs von Präsident Nixon vom 29. Mai 1972 gleichfalls von "the Sept. 3rd 1971 Quadripartite agreement relating to the western sectors of Berlin"23.

21

BR, S. 94 f.

Viktor Boldyrew, a.a.O. (Anm. 13), ferner V. Wysozki, Zur Geschichte der Verhandlungen über Westberlin, in: Dokumentation der Zeit 1971, Heft 21, S.13. 23 New York Times vom 30. Mai 1972, S. 18. 22

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971

71

Demgegenüber hat - wie mir scheint - Kenneth Rush überzeugend dargelegt, daß sich Teil I des VA sinnvollerweise nur auf ganz Berlin beziehen kann24 • Dafür spricht die Wahl einer von Teil II (- der sich eindeutig nur auf die westlichen Sektoren der Stadt bezieht -) abweichenden Terminologie, vor allem aber der Inhalt von Teil 1. Der darin vereinbarte Verzicht aller vier Mächte auf die Anwendung oder Androhung von Gewalt "in diesem Gebiet" unter Hinweis auf die Charta der Vereinten Nationen legt jeder Macht eine gleichartige Verpflichtung gegenüber jeder anderen Macht auf: den Westmächten gegenüber der Sowjetunion, dieser gegenüber den Westmächten. Da die Westmächte gegenüber der Sowjetunion nicht in Westberlin, sondern nur in Ostberlin Gewalt anwenden könnten, muß also Ostberlin in die Verpflichtung zum Gewaltverzicht einbezogen sein, muß die Formulierung "dieses Gebiet" mithin auch Ostberlin erfassen. Dann aber erstreckt sich eindeutig auch die in Teil I Ziffer 4 enthaltene Verpflichtung, die Lage "in diesem Gebiet" nicht einseitig zu verändern25 , ebenfalls auf ganz Berlin. Das bedeutet, daß weder die Sowjetunion die Lage in Ostberlin, noch die Westmächte die Lage in Westberlin einseitig verändern dürfen. In erster Linie dürfte sich die Bestimmung auf die noch vorhandenen Beschränkungen gegenüber einer vollen Eingliederung der beiden Teile der Stadt in die DDR einerseits und in die Bundesrepublik andererseits beziehen. Zwar sind diese Beschränkungen in Ostberlin nur noch verhältnismäßig geringfügig. Immerhin werden die Ostberliner Mitglieder der Volkskammer nach wie vor nicht direkt gewählt, sondern von der Stadtverordneten-Versammlung von Ostberlin entsandt; ebenso treten die von der Volkskammer beschlossenen Gesetze und die Verordnungen der DDR in Ostberlin nicht unmittelbar, sondern durch besondere übernahmeakte der Stadtverordneten-Versammlung und des Magistrats von Ostberlin in Kraft26 • An diesem Zustand darf nach Teil I der VA nichts geändert werden. Entsprechende Beschränkungen gelten für Westberlin. Sie sind im Teil II des VA genauer definiert. 3. Der zweite Teil des VA ist merkwürdig konstruiert. Die vereinbarten Regelungen gliedern sich in sechs Stufen. Das VA selbst enthält in vier Abschnitten Bestimmungen über den Transitverkehr zwischen Westberlin und der Bundesrepublik Deutschland (II A), über die Bindungen zwischen Westberlin und der Bundesrepublik Deutschland (II B), a.a.O. (Anm. 5), S. 54 f. So eindeutig der englische Text " ... shall not be changed unilaterally", BR,S.330. 28 Näheres bei Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Frankfurt/M. 1972, S. 127 ff.; s. auch Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 127 vom 3. September 1971, S. 1377, 1390. 24

25

72

Karl Carstens

über den Besuchsverkehr zwischen Westberlin und Ostberlin sowie der übrigen DDR und über die Enklaven (II C) und über die Außenbeziehungen Westberlins (II D). Zu allen vier Themen werden allgemeine Grundsätze aufgestellt, wobei teils die Form einseitiger Erklärungen, teils die Form einer gemeinsamen Erklärung (II D) gewählt wird (erste Stufe). In vier Anlagen zum VA werden diese Grundsätze genauer ausgeführt (zweite Stufe). Zu II C und Anlage II gibt es einen Notenwechsel, zu II D und Anlage IV sind zwei Verhandlungsprotokolle vereinbart (dritte Stufe). Zu II Bund C sowie zu den Anlagen II, III und IV haben die drei Westmächte Briefe an den Bundeskanzler und an den Regierenden Bürgermeister von Berlin gerichtet (vierte Stufe). Zu II A und II C sind insgesamt vier Vereinbarungen zwischen den deutschen Behörden, d. h. zwischen Bundesbehörden und Behörden der DDR sowie zwischen dem Senat von Berlin und Behörden der DDR geschlossen worden (fünfte Stufe). Mit dem Vier-Mächte-Schlußprotokoll vom 3. Juni 1972 wurde schließlich das gesamte VA gleichzeitig mit dem Inkrafttreten der innerdeutschen Vereinbarungen in Kraft gesetzt. Zugleich wurden Konsultationen für den Fall vereinbart, daß bei der Anwendung der getroffenen Vereinbarungen Schwierigkeiten auftreten sollten. Dieses Schluß protokoll bildet für die in Teil II des VA getroffenen Regelungen demnach die sechste und letzte Stufe. 4. Von den vier Abschnitten des Teiles II des VA ergeben die Abschnitte II A (Transitverkehr) und II C (Besuchsverkehr und Enklaven) zusammen mit den dazu in den weiteren Stufen getroffenen Regelungen ein verhältnismäßig deutliches Bild. Die Bestimmungen sind detailliert und weitgehend klar formuliert. Sie stellen den positiv zu bewertenden Teil des VA dar. Das gleiche kann man von den Abschnitten II B (Bindungen Westberlins an die Bundesrepublik) und II D (Außenbeziehungen Westberlins) nicht sagen. Schon ein Vergleich dieser Abschnitte mit Teil I des VA wirft einige Fragen auf. Nach Teil I soll die Lage in Westberlin (ebenso wie in Ostberlin) nicht einseitig verändert werden, aber nach Teil II B sollen die Bindungen zwischen Westberlin und der Bundesrepublik nicht nur aufrechterhalten, sondern "entwickelt werden". Im Hinblick auf die Schranken des Teiles I kann es sich bei dieser Entwicklung der Beziehungen wohl nur um eine Entwicklung handeln, die keine Veränderung der grundlegenden, den Status Westberlins regelnden Prinzipien zur Folge hat. Worum es in erster Linie geht, wird in Teil II B ausdrücklich gesagt: Die drei Westmächte werden berücksichtigen, daß diese Sektoren so wie bisher kein Bestandteil (konstitutiver Teil) der Bundesrepublik Deutschland sind und auch weiterhin von ihr nicht regiert werden.

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971

73

Hier taucht eine weitere Schwierigkeit auf. Der englische Text spricht von "constituent part", der französische von "element constitutif" und der sowjetische von "sostawnaja tschast". In der deutschen übersetzung, die in der DDR veröffentlicht wurde, wird das Wort "Bestandteil" verwendet. In der in der Bundesrepublik hergestellten übersetzung heißt es "Bestandteil (konstitutiver Teil)". Maßgebend sind der englische, französische und russische Text, wobei dem englischen Text, da er den Beratungen zugrunde lag, für die Auslegung ein gewisser Vorrang zukommt27 . "Constituent" kann im Englischen eine dreifache Bedeutung haben. Es kann entweder heißen: "Teil - insbesondere bestimmender Teil- eines Ganzen" oder "ermächtigt zu \vählen oder zu bestimmen" oder "ermächtigt, eine Verfassung zu erlassen"28; "constitutif" weist im Französischen auf einen notwendigen Bestandteil hin, auf etwas, was zum Wesen einer Sache gehört und sie kennzeichnet 29 • Der russische Text enthält nur die Worte Bestand-Teil ohne qualifizierenden Zusatz. Zwei der Texte, und insbesondere der englische Text, schließen die Auslegung nicht aus, daß Berlin ein Teil der Bundesrepublik ist und bleiben darf. Nur darf es kein "bestimmender", ihren "Wesensgehalt" ausmachender Teil sein. Der englische Text weist in die Richtung des alliierten Vorbehalts vom 12. Mai 1949, wonach die Berliner Vertreter im Bundestag und Bundesrat kein Stimmrecht haben dürfen. Alle drei Texte stimmen darin überein, daß der bisherige Zustand beibehalten bleiben soll. 5. Was bedeuten diese Feststellungen im Hinblick auf die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts30 , der sich die anderen obersten Bundesorgane angeschlossen haben und wonach Berlin ein Land der Bundesrepublik Deutschland ist? Es ist zutreffend darauf hingewiesen worden, daß die Auffassung der obersten Organe der Bundesrepublik in dieser Frage geschwankt hat. Aus der Anfangszeit gibt es in der Tat Äußerungen, die darauf schließen So Regierungssprecher Conrad Ahlers am 5. September 1971, zitiert bei Die fußangeln im Berlin-Abkommen, Rheinischer Merkur vom 8. Oktober 1971. 28 The American Heritage Dictionary of the English Language, New York 1970, S. 285; Muret-Sanders, Enzyklopädisches englisch-deutsches und deutschenglisches Wörterbuch, 18. Aufl., Berlin 1910, Teil I, Band 1, S. 195; Langenscheidts Enzyklopädisches Wörterbuch der englischen und deutschen Sprache, Berlin 1962, Teil I, Band 1, S. 295. H Grand Larousse encyclopedique, Bd. 3, Paris 1960, S. 428. 30 Beschluß vom 21. Mai 1957, BVerfGE 7, S. 1 ff.; Urteil vom 31. 7.1973 zur Verfassungsmäßigkeit des Grundvertrages B V 8. 27

Jens Hacker,

74

Karl Carstens

lassen, daß Berlin nicht als Teil oder als Land der Bundesrepublik angesehen wurde. So heißt es in Art. 26 des Wahlgesetzes zum ersten Bundestag vom 15. Juni 1949: "Groß-Berlin hat das Recht, bis zum Eintritt des Landes Berlin in die Bundesrepublik Deutschland acht Abgeordnete mit beratender Funktion in den Bundestag zu entsenden31 ". Bis in die 50er Jahre hinein herrschte allgemein noch eine gewisse Unsicherheit über den rechtlichen Status der einzelnen Teile des ehemaligen Deutschen Reiches. Auch der Osten nahm damals selbst Ostberlin nicht als Teil der DDR in Anspruch 32 • Im Laufe der Zeit verfestigten sich die Bindungen bei der Stadtteile zur Bundesrepublik einerseits und zur DDR andererseits. Vor allem das 3. überleitungsgesetz vom 4. Januar 1952 33 und der Deutschlandvertrag von 1952/54 führten zu einer sehr engen Verklammerung zwischen Westberlin und der Bundesrepublik. So war es begreiflich, daß die These von der Eigenschaft Berlins als eines Landes der Bundesrepublik bei voller Wahrung der Alliierten Rechte immer mehr an Boden gewann und schließlich in dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 21. Mai 195734 seinen für die Bundesrepublik verbindlichen Niederschlag fand. Die Haltung der drei Westmächte zu dieser Frage war ebenfalls nicht immer eindeutig. Zwar gaben sie in Berlin mehrfach klar zu verstehen, daß sie die Stadt nicht als Land der Bundesrepublik betrachteten. So stellten sie Art. 1 Abs. 2 der Berliner Verfassung von 1950 ("Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland") durch BK/O (50) 75 vom 29. August 1950 zurück35 • Aber in ihren Verlautbarungen gegenüber den Bundesorganen waren sie weit weniger explizit. In ihrem Brief an den Parlamentarischen Rat vom 2. März 1949 kündigten sie an, daß der Art. 22 des Entwurfs des Grundgesetzes, der sich auf Berlin bezog (jetziger Art. 23 GG) suspendiert werden müsse 36 • In einem weiteren Schreiben vom 22. April 1949 erklärten sie, sie könnten gegenwärtig nicht zustimmen, daß Berlin als Land in die ursprüngliche Organisation der deutschen Bundesrepublik einbezogen werde 37 • In ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 sprachen sie nur 31 Dokumente zur Berlin-Frage 1944 - 1966, hrsg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., Bonn, 3. Aufl., München 1967, Nr. 100, S. 133. 3! Alois Riklin, Das Berlinproblem, Köln 1964, S. 159 f. 33 Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 145, S. 186 ff. 34 BVerfGE 7, S. 1 ff. 35 Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 121 B, S. 154. 38 Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 84, S. 112. 37 Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 85, S. 113.

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971

75

noch davon, daß Berlin nicht vom Bund regiert werden dürfe und daß die Berliner Vertreter im Bundestag und im Bundesrat kein Stimmrecht haben sollten38 • Daß Berlin kein Land der Bundesrepublik werden dürfe, sagten sie damals nicht mehr. Hatten sie in ihrem Brief vom 26. Mai 1952 ! 23. Oktober 1954 39 lediglich ihren Vorbehalt vom 12. Mai 1949 noch einmal wiederholt, so erklärten sie demgegenüber in einem Aide-Memoire vom 18. April 1967, Berlin sei nicht als Land der Bundesrepublik zu betrachten und dürfe von ihr nicht regiert werden40 . Andererseits erhoben sie keine Einwendungen dagegen, daß in zahlreichen Bundesgesetzen die Geltung des jeweiligen Gesetzes im "Land Berlin" festgelegt wurde und daß die Gesetze mit dieser Berlin-Klausel nach dem im 3. überleitungsgesetz geregelten Verfahren in Berlin in Kraft gesetzt wurden. Auch in der Frage, ob das Grundgesetz in Berlin gilt, verhielten sich die westlichen Alliierten zweideutig. Gewisse Bestimmungen des 3. überleitungs ge se tz es hoben sie kraft ihrer damals noch bestehenden Hoheitsgewalt auf. Zur Begründung führten sie an, diese Bestimmungen ließen stillschweigend erkennen, daß Berlin in den Geltungsbereich des Grundgesetzes aufgenommen worden sei41 . Diese Bestimmungen seien "mit dem Status Berlins außerhalb des Bundes ... gänzlich unvereinbar"42. In ihrer Anordnung vom 29. August 1950 43 zur Berliner Verfassung hatten sie demgegenüber zwar Art. 1 Abs. 2 ("Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland") und Art. 1 Abs. 3 ("Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sind für Berlin bindend") zurückgestellt. Aber zu Art. 87 der Verfassung hatten sie erklärt: "Die Bestimmungen dieses Artikels betreffend das Grundgesetz finden nur in dem Maße Anwendung, als es zwecks Vorbeugung eines Konflikts zwischen diesem Gesetz und der Berliner Verfassung erforderlich ist44 ." Daraus kann nur geschlossen werden, daß die Westmächte unterstellten, daß zumindest Teile des Grundgesetzes auch in Berlin Geltung erlangt hatten. Denn wie anders sollte es zu einem Konflikt zwischen "diesem Gesetz und der Berliner Verfassung" kommen können? Aus dem VA läßt sich entnehmen, daß die drei Westmächte den bis zum September 1971 erreichten Rechtszustand im Verhältnis zwischen Berlin und der Bundesrepublik nicht ändern wollten. "Wie bisher" Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 94, S. 124 f. Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 177, S. 221 f. 40 Nachweis bei Johanes R. Gascard, Die Berlin-Regelung, DeutschlandArchiv 1972, S. 1162. 41 Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 146, S. 192 f. 42 Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 147, S. 193. 43 Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 121 B, S. 154. U ebd. 38

sv

76

Karl Carstens

heißt es ausdrücklich in Teil II B. Ganz klar geben die drei Westmächte zu verstehen, daß Teile des Grundgesetzes nach ihrer Auffassung in Berlin gelten. "Die Bestimmungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und der in den Westsektoren Berlins in Kraft befindlichen Verfassung, die zu dem Vorstehenden im Widerspruch stehen, sind suspendiert worden und auch weiterhin nicht in Kraft", heißt es in Anl. TI zum VA. Deutlicher kann nicht gesagt werden, daß andere Bestimmungen des Grundgesetzes ebenso wie der Berliner Verfassung in Westberlin in Kraft sind. Danach ergeben sich keine zwingenden Gründe für die Organe der Bundesrepublik Deutschland, ihre bisherige Rechtsauffassung aufzugeben, wonach Westberlin mit den besonderen Beschränkungen, die sich aus den verschiedenen Willensäußerungen der drei Westmächte ergeben, als Land der Bundesrepublik anzusehen ist. Die allseits unbestrittene Tatsache, daß Teile des Grundgesetzes in Westberlin gelten, kann aus der Sicht des bundesdeutschen Verfassungsrechts kaum anders begründet werden. Diese Rechtsauffassung findet auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 zum Grundvertrag eine klare Stütze. Noch weniger Bedenken dürften dagegen bestehen, daß Westberlin sich auch künftig ebenso wie bisher Land Berlin nennt und daß es von anderen, insbesondere von den Bundesorganen, so genannt wird. Denn Art. 1 Abs. 1 der Berliner Verfassung von 1950, in der die Landeseigenschaft Berlins festgelegt wird ("Berlin ist ein deutsches Land und zugleich eine Stadt"), ist von den Westmächten niemals beanstandet worden. Im Gegenteil, die Westmächte haben in ihren eigenen Erklärungen gelegentlich selbst die Terminologie "Land Berlin" übernommen45 • 6. Danach könnte es scheinen, als ob das VA nichts weiter als eine Bestätigung der bisherigen statusrechtlichen Verhältnisse Westberlins darstellen würde. Dem ist jedoch nicht so. In einer Beziehung ist eine wichtige Veränderung vor sich gegangen. Die Westmächte sind der Sowjetunion gegenüber die neue Verpflichtung eingegangen, nicht zuzulassen, daß Westberlin ein "constituent part" der Bundesrepublik wird oder von ihr regiert wird. Eine einseitige Aufhebung der Beschränkungen des Stimmrechts der Berliner Abgeordneten im Bundestag dürfte damit nicht vereinbar sein, ebensowenig wie die unmittelbare übernahme von Bundesgesetzen in Berlin, d. h. ohne Einschaltung der Alliierten und des Abgeordnetenhauses von Berlin. Hierin liegt ein bedeutendes Zugeständnis seitens der Westmächte 46 • Zwar verpflichtet sich auch die Sowjetunion gegenüber den Westmächten, die Lage in Ostberlin nicht 45 48

Vgl. etwa Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 146, S. 192 f. Siehe dazu Jens HackeT, a.a.O. (Anm. 27).

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971

77

einseitig zu verändern (Teil I des VA), aber einmal wird diese Bestimmung von der Sowjetunion anders ausgelegt als von den Westmächten (oben Ziffer 2), und außerdem ist die Integration Ostberlins in die DDR erheblich weiter fortgeschritten als die Integration Westberlins in die Bundesrepublik. Dieser asymmetrische Zustand hat durch das VA keine ausgleichende Korrektur, sondern eher eine Verfestigung erfahren, wie sie zuvor nicht gegeben war. Bisher hätten die drei Westmächte nachziehen können. Sie hätten von Rechts wegen Westberlin den gleichen Status im Verhältnis zur Bundesrepublik geben können, den die Sowjetunion, wenn auch unter Verletzung früherer Viermächte-Vereinbarungen, Ostberlin im Verhältnis zur DDR gewährt hatte. Diesen Sachverhalt übersieht Eberhard Menzel, wenn er meint, der Viermächtestatus Berlins habe die Westmächte schon bisher gehindert, Westberlin weiter in die Bundesrepublik einzugliedern47 • 7. Einige weitere Veränderungen in den Beziehungen Westberlins zur Bundesrepublik sind durch die in Anl. II zum VA getroffene Regelung eingetreten. Danach dürfen Bundespräsident, Bundesregierung, Bundesversammlung, Bundesrat, Bundestag, ihre Ausschüsse und ihre Fraktionen sowie sonstige staatliche Organe der Bundesrepublik in Westberlin künftig keine amtlichen Handlungen vornehmen, die im Widerspruch zu den beiden Grundsätzen "Westberlin ist kein konstitutiver Teil der Bundesrepublik" und "Westberlin wird von der Bundesrepublik nicht regiert" stehen. Das, so könnte man meinen, bedeutet ebenfalls nichts Neues, denn auch bisher nahmen die Staatsorgane der Bundesrepublik auf die besondere Rechtslage Berlins Rücksicht, wenn sie hoheitliche Akte in Berlin erließen. Neu ist indessen auch hier, daß nunmehr eine Verpflichtung der Westmächte gegenüber der Sowjetunion besteht, solche Akte in Westberlin nicht zuzulassen. Außerdem ist die in Anl. II des VA enthaltene Einschränkung der Bundespräsenz in Berlin durch einen Brief der drei westlichen Botschafter an den Bundeskanzler, dessen Inhalt dem sowjetischen Botschafter notifiziert wurde, genauer bestimmt worden. Darin wird gesagt, daß Bundesversammlung, Bundesrat und Bundestag in Berlin überhaupt nicht mehr tagen werden. Diese Mitteilung schießt also über den Inhalt der Anlage II zum VA eindeutig hinaus. Aber die drei Botschafter sagen ausdrücklich, ihre Mitteilung gebe das wieder, was "unsere Regierungen unter dem Text des Viermächteabkommens verstehen". Und da sie ihre Mitteilung gleichzeitig dem sowjetischen Botschafter notifiziert haben, werden sie diese ihre Interpretation auch ihm gegenüber gelten lassen müssen, obwohl sie in dem mit ihm vereinbarten Text keine Stütze findet; eine seltsame 47 Vgl. Eberhard MenzeZ, Die These von der "verfassungswidrigen Mitwirkung der Bundesregierung" am Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom 3.9. 1971, in: NJW 1972, S. 2249 U.

78

Karl Carstens

Vertragskonstruktion, die ohne genauere Kenntnis der Verhandlungen nicht in überzeugender Weise erklärt werden kann. Im Ergebnis führt die getroffene Regelung zu einer Veränderung des bisherigen Zustandes zum Nachteil der Bundesrepublik, eine Veränderung, die gleichzeitig gegenüber der Sowjetunion festgeschrieben worden ist. Es ist leider zu befürchten, daß dieser Teil des VA in Zukunft zu Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Mächten führen wird. Der Fall des Vorsitzenden der Sozialistischen Einheitspartei WestBerlin (SEW), Gerhard Danelius, liefert dazu einen Vorgeschmack48 • Ihm wurde zu seinem 60. Geburtstag ein sowjetischer Orden und ein Orden der DDR verliehen. Nach dem Gesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen vom 26. Juni 1957 (BGBL I S. 844) bedurfte er zur Annahme der Orden der Genehmigung des Bundespräsidenten. Er weigerte sich aber, diese Genehmigung zu beantragen mit der Begründung, der Bundespräsident dürfe in Westberlin keine Hoheitsakte vornehmen. Danelius ist sicher im Unrecht. Denn das Gesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen ist in Berlin in dem von den Alliierten gebilligten Verfahren ordnungsgemäß in Kraft gesetzt worden. Aber während bisher nur westliche Stellen über einen derartigen Sachverhalt zu befinden hatten, besitzt jetzt die Sowjetunion eine Handhabe, sich unter Berufung auf das VA einzuschalten. Sie wird es vermutlich im Fall Danelius nicht tun. Aber es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, daß sie es bei anderen Gelegenheiten tun könnte. 8. Eine weitere im VA geregelte Frage, die offenbar Anlaß zu Auslegungsschwierigkeiten gibt, betrifft die Vertretung Westberlins im Ausland49 • Nach Anlage IV A behalten die drei Westmächte insoweit ihre bisherigen Rechte und Verantwortlichkeiten bei. Sie erklären sich jedoch damit einverstanden, daß die Bundesrepublik in folgenden Bereichen für Westberlin tätig werden kann: -

Konsularische Betreuung der Westberliner, Erstreckung völkerrechtlicher Vereinbarungen, die die Bundesrepublik schließt, auf Westberlin, Vertretung der Interessen Westberlins in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen, Beteiligung von Westberlinern am internationalen Austausch der Bundesrepublik, Beteiligung der Bundesrepublik an den Einladungen zu internationalen Veranstaltungen in Westberlin.

-

Die Welt vom 5. April 1972, S. 6. Vgl. Dettmar Cramer, Die Ostpolitik in einer kritischen Phase, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. März 1973, S. 2. 48

48

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971

79

Von diesen Bereichen erscheint der zweite (Erstreckung völkerrechtlicher Vereinbarungen) als der bei weitem wichtigste. Die Bundesrepublik Deutschland wird nach dem VA völkerrechtliche Vereinbarungen unter folgenden Voraussetzungen auf Westberlin erstrecken. a) Angelegenheiten der Sicherheit und des Status dürfen nicht berührt werden, b) die Erstreckung muß jeweils ausdrücklich erwähnt werden, c) die früher festgelegten Verfahren müssen beachtet werden. Die Sowjetunion erklärt, daß sie, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, keine Einwände gegen die Erstreckung haben wird (Anl. IV B). Auslegungsbedürftig ist hier zunächst die Formel "Angelegenheiten der Sicherheit und des Status". Nach der bisherigen Staatspraxis wurde Berlin in solche Verträge der Bundesrepublik Deutschland nicht einbezogen, die Angelegenheiten der Verteidigung betrafen, vor allem nicht in Bündnisverträge. Weder der Nordatlantikvertrag noch der Brüsseler Vertrag, denen die Bundesrepublik 1955 beitrat, wurden auf Berlin erstreckt. Auch die Gewaltverzichtsverträge, die die Bundesregierung Brandtl Scheel 1970 mit der Sowjetunion und mit Polen schloß, enthalten keine Berlin-Klausel. Andererseits wurde, allerdings noch unter der Regierung Erhard, eine Rüstungskontrollvereinbarung, nämlich der Vertrag vom 5. August 1963 über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser, auf Berlin erstreckt. Die deutsche Beitrittserklärung enthielt eine Berlinklausel, wonach sich der Beitritt auf das Land Berlin erstreckte, unter der (selbstverständlichen) Voraussetzung, daß das Land Berlin die Erstreckung des Vertrages feststellte, aber mit dem weiteren Vorbehalt, daß "die Rechte und Verantwortlichkeiten der alliierten Behörden und die Befugnisse, die ihnen auf den Gebieten der Abrüstung und der Entmilitarisierung zustehen", berücksichtigt wurden 50 • Die sowjetische Regierung wies als Depositarmacht die deutsche Beitrittserklärung zum Test-Stop-Vertrag im Hinblick auf die Berlinklausel zurück. Da jedoch die beiden anderen Depositarmächte (USA und Großbritannien) die Beitrittserklärung mit Berlinklausel annahmen, wurde der Beitritt der Bundesrepublik und seine Erstreckung auf das Land Berlin wirksam. Nach dem Inkrafttreten des VA dürften Rüstungskontrollvereinbarungen nach dem Muster des Test-Stop-Vertrages Grenzfälle darstellen, in denen es zweifelhaft ist, ob eine Erstrekkung auf Berlin im Hinblick auf den Sicherheitsvorbehalt des VA mög50

Gesetz vom 29. Juli 1964, BGBl. 11, S. 906.

80

Karl Carstens

lich ist. In Fällen dagegen, in denen ein völkerrechtlicher Vertrag sowohl Sicherheitsbestimmungen wie Bestimmungen aus anderen Bereichen enthält, sollte eine Erstreckung auf das Land Berlin immer möglich sein, eventuell unter Aufnahme eines besonderen Vorbehalts im Hinblick auf die Sicherheitsbestimmungen. Auch dafür liefert die Staatspraxis Beispiele. Aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des VA ist der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Satzung der Internationalen Atomenergie-Behörde zu nennen. Der Beitritt wurde ohne Einschränkung auf das Land Berlin erstreckt5t, obwohl die Satzung auch Sicherheitsbestimmungen enthält. So gehört es zu den Aufgaben der Behörde, Sicherheitsmaßregeln zu beschließen, um zu verhindern, daß das von ihr zur Verfügung gestellte Material für militärische Zwecke benutzt wird (Art. III, Ziffer 5 der Satzung). Nach dem Gesetzentwurf zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen soll dieses Gesetz auf das Land Berlin mit der Maßgabe erstreckt werden, daß "die Rechte und Verantwortlichkeiten der alliierten Behörden, einschließlich derjenigen, die Angelegenheiten der Sicherheit und des Status betreffen, unberührt bleiben"52. Diese Präzedenzfälle dürften den Rahmen für die Anwendung des Sicherheitsvorbehalts gemäß Anlage IV zum VA darstellen. Man wird davon ausgehen dürfen, daß die drei Westmächte nicht hinter die bisherige Praxis zurückgehen wollten, da sie ausdrücklich erklärten, daß die" bestehenden Bindungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Westsektoren Berlins aufrecht erhalten und entwickelt werden" sollen. Diese Erklärung findet sich im VA selbst (II B), sie bildet das Gegenstück zu den sowjetischen Erklärungen, so daß die Sowjetunion sie im vollen Umfang auch gegen sich gelten lassen muß. 9. Schwierigkeiten bereitet auch die Auslegung derjenigen Bestimmungen des VA, die die Erstreckung von völkerrechtlichen Vereinbarungen der Bundesrepublik auf Berlin in Angelegenheiten des Status ausschließt. Auch hier wird man zur Auslegung auf die bisherige Staatspraxis zurückgreifen können. Berlin wurde in die Europäischen Gemeinschaftsverträge einbezogen53 . Die europäischen Organe üben unmittelbare Hoheitsgewalt in Berlin aus. Die drei Westmächte haben diese Veränderung des Status Westberlins unter Wahrung ihrer obersten GeGesetz vom 27. September 1957, BGBl. 11, S. 1357, Art. 2. Vgl. Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/154, S. 4. 13 Für EWG und Euratom enthält das Gesetz vom 27. Juli 1957 (BGBL 11, 753) in Art. 4 die übliche Berlin-Klausel ohne materiellen Vorbehalt. Die Erstreckung des EGKS-Vertrages auf Berlin wurde später nachgeholt. Vgl. dazu Jochen Jahn, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Berlin, Europarecht 1972, S. 231 U. 11

12

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971

81

walt ausdrücklich genehmigt54 • Im Interesse der Lebensfähigkeit der Stadt erscheint es besonders wichtig, daß Berlin auch in künftige Verträge über die Fortentwicklung der europäischen Integration einbezogen wird, soweit es sich nicht um Verträge mit sicherheitspolitischem Inhalt handelt. Dies dürfte sicher auch der Auffassung der Westmächte entsprechen. Als Statusangelegenheit im Sinne der Anlage IV zum VA dürften daher in erster Linie solche Verträge anzusehen sein, die den Vierrnächtestatus von ganz Berlin, die Rechte der drei Westmächte in Westberlin und das Grundverhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Berlin unmittelbar zum Gegenstand haben. In diesem Bereich hatte die Bundesrepublik auch bisher keine Befugnisse zur Vertretung Berlins. 10. Wichtig ist der in Anlage IV enthaltene Hinweis, daß die Erstrekkung in "übereinstimmung mit den festgelegten Verfahren" erfolgen müsse. Damit wird eine zwischen dem Senat von Berlin, der Bundesregierung und den drei Westmächten in den Jahren 1952 und 1954 getroffene Regelung auch von seiten der Sowjetunion bestätigt. Die damalige Regelung beruht auf einer Vereinbarung zwischen dem Senat von Berlin und der Bundesregierung vom 19. Dezember 1952, worin sich die Bundesregierung verpflichtet hat, die von ihr geschlossenen internationalen Vereinbarungen in einem von den Westmächten festgelegten Verfahren und unter Beachtung der von den Westmächten gesetzten materiellen Schranken auf Berlin zu erstrecken55 • Die Westmächte, die diese Vereinbarung zwischen dem Senat von Berlin und der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Erklärung vom 21. Mai 1952 vorgezeichnet hatten, haben durch diese Erklärung gleichzeitig bereits ihr Einverständnis dazu bekundet, daß die Bundesrepublik (West-)Berlin beim Abschluß internationaler Abkommen grundsätzlich vertritt5o • Sie stimmten der genannten Vereinbarung mit der Maßgabe zu, daß sie die Erstreckung "soweit wie möglich" gestatteten. Sie umschrieben also den Sachbereich, der von der Erstreckungsvereinbarung erfaßt werden sollte, nicht genauer. In verfahrensmäßiger Hinsicht verlangten sie, daß der Name Berlin in den Betracht kommenden Vereinbarungen ausdrücklich genannt werden müsse. Sollte dies nicht möglich sein, so müsse entweder in der Beitrittsurkunde oder in einer gesonderten Erklärung ausdrücklich gesagt werden, daß die Bestimmungen der Vereinbarung in Berlin angewendet " BK/L (57) 44 vom 18. November 1957, Dokumente zur Berlin-Frage Nr.

142D. 55 58

Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 140 A und B. Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 138, S. 175.

6 Festschrift für Ulrich Scheuner

82

Karl Carstens

werden würden. Bei Handelsabkommen sollte die Erklärung genügen, daß das Anwendungsgebiet des Abkommens das Währungsgebiet der DM-West sei. Die drei Westmächte behielten sich vor, jeweils binnen 21 Tagen, nachdem ihnen Mitteilung davon gemacht worden war, gegen die Erstreckung einer Vereinbarung auf Berlin Einspruch zu erheben. Mit dieser Maßgabe gestatteten sie durch ein Schreiben vom 26. Mai 1952/23. Oktober 1954 der Bundesrepublik, die Vertretung Berlins und der Berliner Bevölkerung nach außen sicherzustellen57 • Danach ist festzuhalten: Seit 1952/54 hat die Bundesrepublik nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, Westberlin nach außen zu vertreten. Sehr zu begrüßen ist, daß das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 31. Juli 1973 zum Grundvertrag eine Pflicht der Bundesrepublik zur Einbeziehung Berlins in Verträge mit anderen Staaten im Rahmen der von den Alliierten gesetzten Grenzen auch unmittelbar aus dem Grundgesetz herleitet58 • Es erscheint notwendig, dies hervorzuheben, da der Sachverhalt durch Erklärungen der Bundesregierung gelegentlich verdunkelt worden ist. So schrieb der damalige Staatssekretär Egon BahT im März 1971: "Ein rechtliches Berlin-Junktim konnte die BRD deshalb nicht mit der Sowjetunion vereinbaren, weil die BRD für Berlin keine förmliche Rechtszuständigkeit besitzt59 ." Diese Begründung ist falsch. In dem 1952/54 festgelegten Umfang hatte und hat die Bundesrepublik eine förmliche Zuständigkeit bezüglich der internationalen Vertretung Berlins. In der Anlage IV B des VA hat sich die Sowjetunion damit einverstanden erklärt. Schwierigkeiten könnten danach bei loyaler Vertragsanwendung durch die Sowjetunion allenfalls in terminologischer Hinsicht entstehen. Im VA wird Westberlin stets als "die westlichen Sektoren Berlins" bezeichnet. In ihren Entscheidungen von 1952/54 über das Vertretungsrecht der Bundesrepublik sprechen die drei Westmächte von "Berlin". Die Bundesrepublik bezeichnet Westberlin in internationalen Erstreckungserklärungen in der Regel als "Land Berlin". Das letztere ist Staatspraxis seit 1952/54. Daher dürfte auch diese Bezeichnung zu den festgelegten Verfahren im Sinne des VA gehören, zumal sie nach Art. 1 Abs. 1 der Berliner Verfassung unabhängig davon ist, ob Berlin als Land der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist. Berlin ist in jedem Fall, wie es in der Berliner Verfassung von 1950 heißt, "ein deutsches Land". Trotzdem hat die Bundesregierung bei der Unterzeichnung zweier deutsch-sowjetischer Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit und Dokumente zur Berlin-Frage Nr. 177, S. 221 f. Ziffer B V 8 des Urteils. Hier ist speziell von Verträgen der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR die Rede. Der Rechtsgedanke ist aber sinngemäß auf alle Verträge der Bundesrepublik auszudehnen. 59 Die Welt vom 12. März 1971, S. 9. 67

68

Zur Interpretation der Berlin-Regelung von 1971

83

über wirtschaftliche, industrielle und technische Zusammenarbeit anläßlich des Breshnew-Besuches in Bonn im Mai 1973 60 nicht durchsetzen können, daß die sowjetische Seite eine Erstreckungsklausel akzeptierte, in der Westberlin als "Land Berlin" bezeichnet wurde. Die Erstreckungsklausel in den beiden Abkommen lautet vielmehr: "Entsprechend dem Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 wird dieses Abkommen in übereinstimmung mit den festgelegten Verfahren auf Berlin (West) ausgedehnt". Da die Sowjetunion ungeachtet der von ihr im VA übernommenen Verpflichtung, die Erstreckung der Abkommen auf Westberlin zunächst überhaupt abgelehnt hatte, ist die schließlich durchgesetzte Erstreckungsklausel als Verhandlungserfolg zu werten. Aber während die Sowjetunion letzten Endes nur das konzedierte, was sie schon 1971 konzediert hatte, machte die Bundesrepublik dafür noch einmal eine Konzession: Sie stimmte einer Formel zu, die die Eigenschaft Westberlins als eines deutschen Landes nicht mehr zum Ausdruck bringt.

60 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 22. März 1973, S. 565 ff.

6'

Einige Anmerkungen zum Verfassungsbegriff und zum Staatsvertragsreferendum der Schweizerischen Eidgenossenschaft* Von Ernst Friesenhahn

I. Dem ausländischen Beobachter der politischen Szene der Schweiz fällt die große Zahl der Fälle auf, in denen Volk und Stände (Kantone) aufgerufen werden, über eine Revision der Bundesverfassung zu entscheiden. In der so abstimmungsfreudigen Schweiz 1 gibt es auf Bundesebene zwar ein fakultatives Referendum gegen Gesetze und ein obligatorisches Referendum bei Verfassungsrevisionen, aber die Volksinitiative ist auf Verfassungsrevisionen beschränkt; es gibt kein Volksbegehren auf Erlaß eines Gesetzes. Alle das "Volk" bewegenden "Affären", Tendenzen, eine bestimmte Regierungspolitik zu erzwingen oder zu durchkreuzen, oder auch neu auftauchende Probleme der Gestaltung der Rechtsordnung schlagen sich daher in Verfassungsinitiativen nieder2 • So ist der etwas heterogene Charakter des Textes der Bundesverfassung zu erklären. Durch viele Einschiebsel hat die Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 3 , • Auf dem begrenzten Raum kann nur eine Skizze versucht werden, die nicht auf die kontroversen Meinungen näher eingehen kann und auch darauf verzichten muß, die einschlägige Literatur nachzuweisen; einzelne Hinweise dürften den weiteren Zugang eröffnen. - Der Beitrag wird dem Jubilar dargebracht als einem Staatsrechtslehrer, der in einem ungewöhnlichen Ausmaß auch über Kenntnisse des ausländischen öffentlichen Rechts verfügt und der rechtsvergleichenden Methode in seinem wissenschaftlichen Werk breiten Raum gewährt. 1 Die Stimmbeteiligung ist allerdings manchmal erstaunlich gering. Sie ist im Vergleich zu früher gesunken, was selbst für diese, hinsichtlich des staatsbürgerlichen Bewußtseins vielfach als vorbildlich angesehene direkte Demokratie auf eine politische Teilnahmslosigkeit des Volkes in der Gegenwart schließen läßt. An der Abstimmung über die Einfügung von Kompetenzartikeln für den Bund über Bildung und Forschung am 4. März 1973 beteiligten sich nur 26,5 % der Stimmberechtigten. Der Bildungsartikel wurde trotz Annahme durch das Volk (507414: 454 428) durch das Ständernehr (93,'2: 103/2) verworfen; der Forschungsartikel fand die Zustimmung von Volk (617628: 339 857) und Ständen (17 4/2 : 2 2/2). 2 Andererseits bestimmt die Furcht vor dem auch demagogisch einsetzbaren - fakultativen Referendum weitgehend die Gesetzgebungsarbeit. 3 Im folgenden bezeichnen Artikel ohne Zusatz solche der Bundesverfassung.

86

Ernst Friesenhahn

die ihre Artikel von 1 bis 123 zählt, in Wahrheit 169 Artikel 4 • Im Anhang der von der Bundeskanzlei besorgten amtlichen Textausgabe der Verfassung, Ausgabe 1972, sind für die Zeit vom 18. Mai 1879 bis 6. Juni 1971 74 Änderungen der Verfassung vermerkt; 66 Anträge auf Verfassungsrevisionen sind verworfen worden; seither kamen weitere 5 Revisionen und 6 Verwerfungen hinzu. Eine Aufstellung der Bundeskanzlei über "Voraussichtliche Abstimmungsvorlagen 1973 - 1975" weist für diesen Zeitraum 24 Abstimmungen über Verfassungsrevisionen aus, darunter 10 über Volksinitiativen. Mindestziel der Gesamtrevision, die sich im Stadium der Vorberatungen befindetS , könnte also schon eine "Verfassungskosmetik" sein, die den Text der Verfassungsurkunde bereinigen und systematischer ordnen würde. Ohne Einführung einer Gesetzesinitiative würde allerdings wohl bald wieder die textliche Unordnung aufleben.

11. 1. Die Bundesverfassung kennt "Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse" und fordert für beide die Zustimmung beider Räte 6 (Art. 89 Abs. 1). Art. 89 Abs. 2 eröffnet das Referendum gegen Bundesgesetze und "allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse"; sie sind dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 30000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird7 • Es muß demnach auch "einfache Bundesbeschlüsse" geben, gegen die das Referendum nicht ergriffen werden kann. 2. Es gibt also dreierlei Formen von Erlassen der Bundesversammlung, ohne daß die Verfassung generell und klar regeln würde, welche Form jeweils einzuhalten ist. Ohne Ermächtigung in der Verfassung und daher ohne verbindliche Kraft trifft das Bundesgesetz über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung 4 Soeben sind allerdings in der Abstimmung vom 20. März 1973 mit der knappen Mehrheit von 791076: 648 924 (145/2: 5 1/2) die beiden konfessionellen Ausnahmeartikel 51 (Jesuiten-Verbot) und 52 (Kloster-Verbot) gestrichen worden. 5 s. dazu die Abhandlung von Hans Huber in dieser Festschrift. 6 Der Nationalrat wird aus "Abgeordneten des schweizerischen Volkes" gebildet (Art. 72 Abs. 1), der Ständerat ist das nach dem Senatsprinzip strukturierte föderalistische Bundesorgan, das aus "Abgeordneten der Kantone" besteht (Art. 80). Beide zusammen bilden die Bundesversammlung. 7 Im Hinblick auf die Einführung des Frauenstimmrechts (7. Februar 1971) wird derzeit eine Erhöhung der Unterschrift-Zahlen für das Gesetzesreferendum und die Verfassungsinitiative erwogen. - Zu den Volksabstimmungen grundsätzlich mit weiteren Literaturnachweisen: Max Imboden, Die Volksbefragung in der Schweiz, in: Faktoren der politischen Entscheidung, Festgabe für Ernst Fraenkel, Berlin 1963, S. 385 ff.; Hans Huber, Das Gesetzesreferendum, Tübingen 1969 (sehr skeptisch!).

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

87

und das Inkrafttreten ihrer Erlasse (Geschäftsverkehrsgesetz) vom 23. März 1962 in Art. 4 bis 8 folgende Unterscheidung: a) Unbefristete Erlasse, die rechtsetzende Normen enthalten, sind in die Form des Bundesgesetzes zu kleiden. b) Befristete Erlasse, die rechtsetzende Normen enthalten, ergehen als allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse. Diese Form ist aber auch für rechtsetzende unbefristete Erlasse zu wählen, wenn sie sich auf eine besondere Ermächtigung stützen, die das Referendum ausschließt. Dabei bestimmt Art. 89 Abs. 2 der Verfassung gerade, daß gegen allgemeinverbindliche Beschlüsse das Referendum gegeben ist. Eine solche "besondere Ermächtigung" kann in der Bundesverfassung selbst, in einem Bundesgesetz oder in einem allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß enthalten sein; selbst - ihrerseits allerdings referendumsfähige - Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse können also Ausnahmen von der generellen Verfassungsklausel über das fakultative Referendum statuieren. Zu a) und b): Als rechtsetzend gelten dabei "alle generellen und abstrakten Normen, welche natürlichen oder juristischen Personen Pflichten auferlegen oder Rechte einräumen oder die Organisation, die Zuständigkeit oder die Aufgaben der Behörden oder das Verfahren regeln". c) Die Form des einfachen Bundesbeschlusses endlich wird eingehalten, wenn keine andere Rechtsform vorgeschrieben ist. Das gilt z. B. für den Beschluß über die Genehmigung des Haushaltsplanes (Art. 85 Nr. 10)8 oder für den Beschluß, durch den Staatsverträge genehmigt werden (Art. 85 Nr. 5)9. Wesentlich ist, daß gegen einfache Bundesbeschlüsse das Referendum nicht ergriffen werden kann, und daß nach Art. 113 Abs. 3 für das Bundesgericht "die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemeinverbindlichen Beschlüsse ... maßgebend" sind, also nicht die einfachen Bundesbeschlüsse. 3. Bevor ein Gesetz oder ein allgemeinverbindlicher Bundesbeschluß in Kraft gesetzt werden kann, muß normalerweise die Frist von 90 Tagen, innerhalb welcher das Referendum verlangt werden kann, und gegebenenfalls das Ergebnis der Volksabstimmung abgewartet werden. Nach Art. 89 bls Abs. 1 können aber durch die Mehrheit aller Mitglieder in 8 Obwohl man nach der oben angeführten Definition des Rechtssatzes in Art. 5 Abs. 2 Geschäftsverkehrsgesetz sehr wohl Zweifel haben könnte, ob er nicht darunter fällt. 9 Obwohl mittelbar dadurch sicher Rechtssätze in die Schweizer Rechtsordnung gelangen können; immerhin kann man das Ja oder Nein zu dem mit einem fremden Staat ausgehandelten Vertrag von dem eigenständigen Rechtsetzungsverfahren unterscheiden und ergibt die unten zu VI. erläuterte Sonderbestimmung über das Referendum gegen Staatsverträge, daß diese nicht unter Art. 89 Abs. 2 fallen.

Ernst Friesenhahn

88

jedem der beiden Räte befristete allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse (nur solche!), deren Inkrafttreten keinen Aufschub verträgt, sofort in Kraft gesetzt werden (dringliche Bundesbeschlüsse). In diesem Fall nimmt das fakultative Referendum des Art. 89 Abs. 2 nach Art. 89 bis Abs. 2 eine andere Funktion an: wird gegen einen solchen Beschluß die Volksabstimmung verlangt, so tritt er nach einem Jahr außer Kraft, wenn er nicht innerhalb dieser Frist vom Volk gutgeheißen wurde, und er kann nicht erneuert werden. 4. So kompliziert die Unterscheidung ist, für die Staatspraxis ist entscheidend, als was die Bundesversammlung ihre Erlasse deklariert. Nach Art. 2 des Bundesgesetzes betr. Volksabstimmung über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse vom 17. Juni 1874 steht der Entscheid, daß ein Bundesbeschluß entweder als nicht allgemeinverbindlich oder als dringlich zu behandeln sei, der Bundesversammlung zu, und er muß depl Beschluß jeweils ausdrücklich beigefügt werden; und nach Art. 7 Abs. 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes wird den allgemeinverbindlichen Beschlüssen, die kraft besonderer Bestimmung unter Ausschluß des Referendums beschlossen werden, anstelle der Referendumsklausel ein Vermerk beigefügt, auf Grund welcher Bestimmung das Referendum nicht verlangt werden kann. Angesichts des Ausschlusses des richterlichen Prüfungsrechtes und des Fehlens einer Verfassungsgerichtsbarkeit eine erstaunliche Macht des Parlaments, auch wenn man berücksichtigt, daß nach Art. 71 "unter Vorbehalt der Rechte des Volkes und der Kantone (Art. 89 und 123) ... die oberste Gewalt des Bundes durch die Bundesversammlung ausgeübt" wird, denn es geht ja immerhin um die Rechte des Volkes! 5. Das Parlament, Parlamentsminderheiten oder qualifizierte Mehrheiten, oder die Regierung (Bundesrat) haben nach dem Wortlaut der Verfassung nicht die Möglichkeit, eine Volksabstimmung über Gesetze, allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse oder Staatsverträge herbeizuführen. 6. Obligatorisch ist der Volksentscheid nur für die Verfassungsänderungen; dann nimmt er zudem die Besonderheit an, daß "Volk und Stände" die Revision annehmen müssen. Die "Partialrevision"lo kann nach Art. 121 Abs. 1 "sowohl auf dem Wege der Volks anregung (Volksinitiative) als der Bundesgesetzgebung vorgenommen werden". Dabei ist in beiden Fällen nur der Anstoß gemeint. a) Bei dem "Weg der Bundesgesetzgebung" geht die Vorlage i. d. R. vom Bundesrat aus; eine Initiative aus der Mitte des Parlamentes, die an sich jedem Abgeordneten zusteht, und für deren Behandlung Art. 21 bis ff. 10

Die Totalrevision kann hier beiseitebleiben.

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

89

des Geschäftsverkehrsgesetzes maßgebend sind, ist selten; normalerweise begnügen sich die Räte damit, das "Postulat" eines Abgeordneten anzunehmen, was den Bundesrat verpflichtet, sich an die Arbeit zu machen und in einer Botschaft an die Räte entweder darzulegen, warum er eine Revision der Bundesverfassung nicht für angebracht hält oder einen Text vorzulegen, über den zunächst die übereinstimmung bei der Räte herbeigeführt werden mußll. b) Die Verfassungsinitiative (Volksanregung, Volksbegehren) kann auf Erlaß, Aufhebung oder Abänderung bestimmter Artikel der Bundesverfassung gerichtet sein und bedarf nicht notwendig eines ausgearbeiteten Entwurfes, sondern kann auch in die Form einer allgemeinen Anregung gekleidet werden. Das Verlangen muß von 50000 stimmberechtigten Schweizerbürgern gestellt werden 12 • c) Zur Annahme einer Verfassungs änderung bedarf es nach Art. 123 (nur) der (einfachen) Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger und der (einfachen) Mehrheit der Kantone; dabei gilt das Ergebnis der Volksabstimmung in jedem Kanton als Stimme des Standes. 11 Der Weg zu einer Verfassungsrevision ist in der Schweiz sehr langwierig, weil zu den Verfahrensvorschriften der Verfassung noch die Praxis der Vernehmlassungsverfahren (Anhörung von Kantonen, politischen Parteien, Verbänden; in der Verfassung nur für bestimmte Fälle der Ausführungsgesetzg€bung vorgeschrieben in Art. 27 ter Abs. 2, 32 Abs. 3 und 34ter Abs. 4) und der Expertenkommissionen tritt. Ein signifikantes Beispiel ist die dringend notwendige Schaffung eines Radio- und Fernsehartikels der Bundesverfassung. Derzeit sendet die (privatrechtliche) Schweizerische Rundfunk- und Fernsehgesellschaft auf Grund einer vom Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (I) auf der zweifelhaften Grundlage der Bundeskompetenz für das "Post- und Telegraphenwesen" (Art. 36) erteilten Konzession, deren "Bedingungen" das ganze Statut für Radio und Fernsehen enthalten -, also wie in den deutschen Anfängen der 20er Jahre. Auf Grund eines auf Ersuchen des Bundesrates erstatteten Gutachten von Prof. Hans Huber mit Textvorschlägen gab der Bundesrat 1968 einen eigenen Vorentwurf in das Vernehmlassungsverfahren. Seine Ergebnisse wurden einer vom Bundesrat berufenen fünfköpfigen Expertenkommission vorgelegt, in deren Bericht 1971 nicht nur eine Fassung (Prof. Gygi), sondern in Sondervoten zwei weitere Fassungen (Prof. Aubert und Prof. Favre) enthalten sind. Hans Huber nahm in einem zweiten Gutachten dazu Stellung und formulierte einen neuen Vorschlag. Im Januar 1973 hat der Bundesrat dann über einen neuen eigenen Vorschlag ein zweites Vernehmlassungsverfahren eröffnet. Man kann gespannt sein, ob bis zum ursprünglich vorgesehenen Ablauf der Konzession (31. 10. 1974) die verfassungsrechtliche Grundlage für eine gesetzliche Neuordnung des Rundfunk- und Fernsehwesens gesc..haffen sein wird. 12 Die Bundesversammlung hat nach Art. 26 und 27 Geschäftsverkehrsgesetz zwei oder drei Jahre Zeit, zu dem Begehren Stellung zu nehmen, je nachdem ob es in der Form einer allgemeinen Anregung oder eines ausgearbeiteten Entwurfes gestellt worden ist. Im übrigen soll hier das Verfahren der Verfassungsrevision nicht nachgezeichnet werden. Es ist geregelt in Art. 118 - 123 der Bundesverfassung, Art. 21bis - 30 des Geschäftsverkehrsgesetzes und dem Bundesgesetz über das Verfahren bei Volksbegehren auf Revision der Bundesverfassung (Initiativengesetz) vom 23. 3. 1962.

90

Ernst Friesenhahn

7. Angesichts der Struktur der Schweizer Bundesverfassung wird man Gesetze und referendumsfähige allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse auch dann als vom Volk gebilligt ansehen müssen, wenn das Referendum nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von 90 Tagen ergriffen wird13 • Dieses Argument wird denn auch gegen die Einführung einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle ins Feld geführt. Der Unterschied zwischen Gesetzgebungsverfahren und Verfassungsrevisionsverfahren würde dann im Grunde genommen nur darin bestehen, daß bei der Verfassungsrevision auch die Mehrheit der Kantone zustimmen muß. Man wird also die Schweizer Verfassung nur mit einem gewissen Vorbehalt zu den starren Verfassungen rechnen können 14 • IH.

1. Formelles Schweizerisches Verfassungsrecht erscheint nicht nur in der Artikelfolge des Textes der eigentlichen Bundesverfassung, sondern auch in Zusatz- oder Ergänzungsartikeln, die ohne Numerierung im Verfahren der Teilrevision der Verfassung - also nach Art. 121 ff. mit obligatorischem Volksentscheid von Volk und Ständen - angenommen werden. Sie werden in der zu I. erwähnten amtlichen Textausgabe als "Anhang" abgedruckt. Offenbar werden sie deshalb nicht in den Text der Verfassung selbst aufgenommen, weil sie befristet sind 15 • Derzeit steht kein solcher Artikel mehr in Kraft1 6 • Sie dürften materielles Verfassungsrecht enthalten und teilweise eine befristete Verfassungsdurchbrechung darstellen. 2. Zum Text der Bundesverfassung gehören noch die nicht in die Abschnittszählung aufgenommenen und mit eigener Artikelfolge versehenen "übergangsbestimmungen". Während üblicherweise übergangsbestimmungen nur den bisherigen Rechtszustand in den neuen überleiten und ihre Wirkung darin erschöpfen, gehören die übergangsBestritten (z. B. von Burckhardt, Kommentar, 3. Aufl., S. 712). Anders: Jean-Frant;ois Aubert, Traite de droit constitutionnel suisse, 1967, Bd. I, Nr. 256 ff. 15 Eine übersicht findet sich bei Aubert, Nr. 255. - In der oben zu I. erwähnten Zusammenstellung der Verfassungsrevisionen in der amtlichen Textausgabe 1972 S. 55 ff. sind es die Nrn. 18, 22, 40, 42, 47, 49, 50, 52, 53, 55, 61, 67. Es handelte sich um die Erhebung einer Kriegssteuer, Kredite zum Ausbau der Landesverteidigung und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Finanzordnung, Preiskontrolle und Brotgetreideversorgung. Der dort unter Nr. 25 vermerkte Beitritt zum Völkerbund wird unten VII. einer gesonderten Betrachtung unterzogen. 18 Diese etwas merkwürdige Form von "Verfassungsgesetzen" ist also wohl zu unterscheiden von den Amendments der Verfassung der USA, von den Lois organiques der Französischen Verfassung, wie auch den Verfassungsgesetzen nach Art. 44 der Österreichischen Verfassung. 13

14

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

91

bestimmungen der Schweizerischen Bundesverfassung auch zu den dauernd revisionsgeneigten Verfassungsbestimmungen, und es werden sogar neue Artikel (9 - 11) angefügt 17 • Der Grund dürfte darin zu suchen sein, daß dort wesentliche Elemente des bundes staatlichen Finanzausgleichs geregelt sind, der in der Schweiz noch keine endgültige Gestalt angenommen hat. Es scheint, daß im Bereich der Finanzordnung temporäres Verfassungsrecht nach vorstehendem Modell Nr. 1 bei Bewährung in die übergangsbestimmungen aufgenommen wird (Art. 8), aber andererseits erscheint auch temporäres Verfassungsrecht wie die Ermächtigung des Bundes zu einer einmaligen Steueramnestie in den übergangsbestimmungen (Art. 9). 3. Es gibt aber noch eine dritte Form verfassungskräftiger Rechtssätze. Aus einer Stelle der Verfassung, an der man eine derartige Regelung nicht suchen würde, und aus einem Text, der expressis verbis nicht sagt, was sich dahinter verbirgt, ergibt sich, daß in der Schweiz - entgegen etwa Art. 79 Abs. 1 GG - Verfassungsdurchbrechungen zulässig sind. Sie erfolgen im Wege befristeter dringlicher allgemeinverbindlicher Bundesbeschlüsse und sind an keine Voraussetzungen gebunden. Art. 89 bis Abs. 3 lautet: "Die sofort in Kraft gesetzten Bundesbeschlüssel8 , welche sich nicht auf die Verfassung stützen, müssen innert Jahresfrist nach ihrer Annahme durch die Bundesversammlung von Volk und Ständen genehmigt werden; andernfalls treten sie nach Ablauf dieses Jahres außer Kraft und können nicht erneuert werden." a) Das erstaunliche Ergebnis ist also, daß verfassungs durchbrechende Bestimmungen, die vom Nationalrat und Ständerat mit einfacher Mehrheit (allerdings aller Mitglieder) beschlossen worden sind, ohne weiteres gelten, wenn sie auf ein Jahr befristet sind. Ist die Frist weiter erstreckt, so haben sie ohne weiteres ein Jahr Gültigkeit; werden sie innerhalb dieser Frist von Volk und Ständen gebilligt, so gelten sie für die im Beschluß bestimmte Zeit, für die die Verfassung keine Grenze zieht19 • 17 In der in Anm. 15 erwähnten übersicht sind es die Nm. 56, 65, 69, 74 und neuestens die Einfügung des Art. 11 durch Volksentscheid vom 3. 12. 1972. 18 Vgl. oben II 3. 19 Bei den nach Art. 89 bis Abs. 1 notwendig zu befristenden dringlichen allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen ist also zu unterscheiden: a) sind sie bis zu einem Jahr befristet, so gelten sie ohne weiteres, gleichgültig, ob sie verfassungskonform oder verfassungsdurchbrechend sind; b) sind sie über ein Jahr hinaus befristet, verfassungskonform, und wird kein Referendum beantragt, so gelten sie für die bestimmte Zeit; c) sind sie über ein Jahr hinaus befristet, verfassungskonform und wird das Referendum beantragt, so treten sie nach einem Jahr außer Kraft, wenn sie nicht vorher vom Volk gutgeheißen wurden; d) sind sie über ein Jahr hinaus befristet und verfassungsdurchbrechend, so müssen sie dem obligatorischen Entscheid von Volk und Ständen unterstellt werden und sie treten außer Kraft, wenn sie nicht innerhalb Jahresfrist bestätigt werden.

92

Ernst Friesenhahn

b) Art. 89 bis wurde 1949 auf Grund einer Volksinitiative - entgegen den Empfehlungen von Bundesrat und Bundesversammlung - angenommen, die sich "Initiative auf Rückkehr zur direkten Demokratie" nannte. Dieser Entscheid von Volk und Ständen bedeutete eine scharfe Reaktion gegen das umstrittene Vollmachtenregime während der Kriegszeit20 • Wenn man es im Hinblick auf diesen Entstehungsvorgang als eine besondere Form des Notrechts betrachten will, so wäre doch zu bemerken, daß die Frage, unter welchen Voraussetzungen Beschlüsse ge faßt werden dürfen, die von der Verfassung abweichen, mit keinem Wort in der Verfassung geregelt ist, und daß die Dringlicherklärung nur von der Ermessensentscheidung der Bundesversammlung abhängt, ob das Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt. c) Da es sich um ein obligatorisches Referendum handelt und Volk und Stände genehmigen müssen, wird man dieses Referendum wohl als Verfassungsreferendum analog Art. 123 ansprechen können, was auch logisch der Sachlage entsprechen würde, indem für die zeitlich befristete Durchbrechung der Verfassung dieselbe Form gefordert würde wie für die Verfassungsrevision. Daraus, daß dieses besondere Verfahren nur für dringliche allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse vorgesehen ist, wird man schließen dürfen, daß die Verfassungsdurchbrechung im Wege des Gesetzes und des nicht für dringlich erklärten allgemeinverbindlichen Beschlusses nicht zulässig ist, - ein Ergebnis, daß allerdings durch den Ausschluß des richterlichen Prüfungsrechts (Art. 113 Abs. 3) relativiert wird. Die von Volk und Ständen gebilligten dringlichen Bundesbeschlüsse haben die Kraft von Verfassungsbestimmungen21 •

IV. 1. Ulrich Scheuner hat sich des öfteren mit dem Wesen der Verfassung auseinandergesetzt und dazu u. a. ausgeführt: "Im modernen demokratischen Staat stellt die Verfassung die Grundlage der gesamten Staatsund Rechtsordnung dar. Sie umschreibt die inhaltlichen Ziele, die politi20 Dazu etwa Z. Giacometti, Das Vollmachtenregime der Eidgenossenschaft, Zürich 1945. 21 Das letzte Beispiel einer Verfassungsdurchbrechung nach Art. 89bls Abs. 3 bietet die Abstimmung vom 4. Juni 1972 über die Beschlüsse zur Stabilisierung des Baumarktes und zum Schutze der Währung. - Der Unterschied zwischen dem temporären Verfassungszusatz nach Nr. 1 und dieser Verfassungsdurchbrechung nach Nr. 3 - beide erfordern den obligatorischen Entscheid von Volk und Ständen - besteht darin, daß der Beschluß nach Art. 89bis Abs. 3 sofort in Kraft tritt und durch das Referendum auflösend bedingt ist, während der Verfassungszusatz erst nach Ablauf des Revisionsverfahrens in Kraft treten kann. Je nach der Dringlichkeit wird sich also die Bundesversammlung für die eine oder die andere Form entscheiden, wenn sie vorübergehende Abweichungen von der Verfassung für erforderlich hält.

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

93

schen und historischen Werte, in deren Zeichen sich das Volk einigt und zusammenfindet ... Das Wesen der modernen Verfassung wird ... nicht durch ihre Form, die Verfassungsurkunde und deren erhöhtEm rechtlichen Rang bestimmt, sondern durch ihren Inhalt und ihre Aufgabe. Die Verfassung umschließt die Fundamentalprinzipien des Staates und verleiht ihnen beständige Geltung." Wenn hier die Form der Verfassung etwas relativiert wird, so geschieht das gerade, um ihre Unverbrüchlichkeit noch stärker herauszustellen: "Wo der formale Begriff der Verfassung als Gesetz höheren Ranges die Oberhand gewinnt und die Vorstellung der Verfassung als einer inhaltlich bestimmten unverbrüchlichen Grundlage des Staates verdrängt, wird die Beständigkeit der Verfassungs ordnung mit ihren Sicherungen der Freiheit von einer positivistischen Auflösung bedroht. Diesen Weg ist die Weimarer Verfassung gegangen, die keine sachlichen Schranken der Verfassungsänderung kannte 22 ." In der Schweiz ist die Einstellung zu dieser Problematik etwas zwiespältig. Im Gegensatz zu einem Teil der Staatslehre23 halten Regierung und Parlament an der radikaldemokratischen These fest: "Denn es steht außer Zweifel, daß in der Eidgenossenschaft nur dem Volk und den Ständen die Befugnis zustehen kann, darüber zu entscheiden, was in die Verfassung aufgenommen werden kann und was nicht." Dieser Satz aus dem Bericht des Bundesrates über die Rheinauinitiative 24 wird in einer Stellungnahme des Justiz- und Polizeidepartementes vom 6. 2. 195925 wiederholt, die die überschrift trägt "Keine materiellen Schranken der Verfassungsrevision". Es ging in diesem Falle wie im Fall des Volksbegehrens zum Schutze der Stromlandschaft Rheinfall-Rheinau um die "Möglichkeit einer Verfassungsrevision, die Verpflichtungen der Schweiz aus Völkervertragsrecht zuwiderläuft". Im Fall der Rheinauinitiative war aber zugleich die Frage akut, ob eine konkrete Verwaltungsmaßnahme - Widerruf einer Konzession zur Ausbeutung der Wasserkräfte - in die Verfassung hineingeschrieben werden könnte. Die Bundesversammlung stimmte der Auffassung des Bundesrates zu, daß sie nicht eine Initiative aus inhaltlichen Gründen für ungültig erklären könnte. Diese wurde daher in vollem Umfang zur Volksabstimmung gebracht, allerdings - gemäß dem Antrag des Bundesrates - abgelehnt. 22 Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, in: Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. III, 1951, S. 126 (132,133). 28 Die Frage nach dem Wesen der Verfassung ist gerade auch durch die Diskussion über die Gesamtrevision der Verfassung stark belebt worden und hat etwa die Zusammenkunft der Schweizer Staatsrechtslehrer im Oktober 1972 beschäftigt. 2( Bundesblatt 1954 Bd. 1 S. 737 ff. !Ii Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden Heft 29 (1959 - 1960) Nr. 22 S.57 fL

94

Ernst Friesenhahn

Etwas eng erscheint mir der Inhalt der Verfassung in einer Stellungnahme des Justiz- und Polizeidepartementes vom 28.6. 1960 26 umschrieben: "In die Bundesverfassung gehören keine programmatischen Erklärungen. Als Staats grundgesetz soll sie vielmehr die Kompetenzausscheidung zwischen dem Bunde und den Kantonen klarstellen, die Behördenorganisation des Bundes umschreiben und die Grundrechte der Bürger garantieren." Immerhin erklärt sich aus dieser Grundhaltung, daß man vergeblich nach der Proklamation der immerwährenden Neutralität der Schweiz als Verfassungsgrundsatz sucht, ihre Wahrung sich hingegen unter den Kompetenzbestimmungen für die Bundesversammlung (Art. 85 Nr. 6) und den Bundesrat (Art. 102 Nr. 9) findet. 2. Die Wirkung, "unverbrüchliche Grundlage des Staates" zu sein, kann die Verfassung voll nur entfalten, wenn eine Instanz da ist, die die Einhaltung der Verfassung kontrolliert27 • Gegenüber Gesetzen und allgemeinverbindlichen Beschlüssen gibt es aber auf Bundesebene weder eine politische noch eine gerichtliche Kontrolle. Die parlamentarischen Akte werden von den Präsidenten der Räte ausgefertigt (Art. 66 Abs. 2 Geschäftsverkehrsgesetz). Dem Bundesrat kommt zwar der Vollzug der Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse zu (Art. 102 Nr. 5)28, ihm steht aber kein Prüfungsrecht zu. Seine Aufgabe, "für die Beobachtung der Verfassung zu wachen" (Art. 102 Nr. 2) muß vor dem "Souverän" Volk und seinen Repräsentanten, den Räten, Halt machen. Und nach Art. 113 Abs. 3 sind die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemeinverbindlichen Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge für das Bundesgericht - und damit natürlich 29 auch für alle anderen Gerichte - maßgebend. Ein verfassungsgerichtliches Normenkontrollverfahren gibt es nicht; seine Einführung wird im Rahmen der Gesamtrevision der Bundesverfassung diskutiert; aus dem Charakter der Referendumsdemokratie erwachsen aber Schwierigkeiten, solche Pläne zu realisieren. Praktisch ergibt sich damit, daß die Schweizer Bundesverfassung keinen höheren Rang besitzt als die einfachen Bundesgesetze und die allgemein verbindlichen Bundesbeschlüsse. Aubert in seinem führenden Lehrbuch 30 zieht sich so aus der Affäre, daß er von einem verfassungswidrigen Gesetz erklärt, es sei "Theoriquement ... nulle, puisqu'etant inVerwaltungsentscheide der Bundesbehörden Heft 29 Nr. 21 S. 57. Vgl. den Satz von Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 147: "Sage mir Deine Einstellung zur Verfassungsgerichtsbarkeit, und ich sage Dir, was für einen Verfassungsbegriff Du hast." 28 Das schlägt sich in dem im Gesetzblatt mit veröffentlichten "Beschluß" nieder: "Vollzug des vorstehenden Bundesgesetzes (bzw. Bundesbeschlusses)". 29 In Art. 114bis Abs. 3 wird dieser Grundsatz allerdings ausdrücklich für das eidgenössische Verwaltungsgericht wiederholt. 30 a.a.O. Nr. 264. 26

27

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

95

a la Constitution, elle devait la respecter ... En conclusion, nous devons reconnaitre que la superiorite de la Constitution sur la loi, qui decoule de l'idee meme de la Constitution formelle, n'est pas toujours munie d'une sanction". fE~rieure

Um das Problem herauszuarbeiten, werden die Dinge hier scharf zugespitzt. In der Staatspraxis wird selbstverständlich sowohl vom Bundesrat 31 wie von den Räten jeweils ernsthaft die Frage geprüft, ob ein Vorschlag mit der Verfassung im Einklang steht oder nicht. Worauf es hier ankam, war zu zeigen, daß die Entscheidung des Parlamentes bzw. des Volkes unbedingte Gültigkeit hat. Sicher sind Formvorschriften und Kontrollmechanismen keine unfehlbaren Sicherungen für den Bestand einer Verfassung, aber sie können in Zeiten der Gefahr eine hemmende Wirkung haben und vielleicht doch auch dazu mithelfen, das politische Gewissen des Volkes, auf das letzten Endes alles ankommt, wach zu halten.

V. Wie werden nun Staatsverträge in dieses System der Schweizer Rechtsetzung eingeordnet?32. 1. Nach Art. 85 Nr. 5 fallen "Bündnisse und Verträge mit dem Auslande" "in den Geschäftskreis beider Räte". Die Formulierung ist ungenau, da die Führung der auswärtigen Politik (Vertragsverhandlungen, Abschluß der Staatsverträge) Aufgabe des Bundesrates ist (Art. 102 Nr. 8). Aber Staatsverträge bedürfen grundsätzlich der Genehmigung beider Räte; sie erfolgt in der Form des einfachen Bundesbeschlusses33 • Von dem Erfordernis der parlamentarischen Genehmigung macht die Staatspraxis unter Billigung des Bundesgerichts 34 eine Reihe von Ausnahmen35 :

1. Verträge, die der Eidgenossenschaft nur Rechte einbringen, ihr jedoch keine Verpflichtungen auferlegen. 2. Verträge, zu deren Abschluß der Bundesrat auf Grund einer Ermächtigung der Bundesversammlung ausdrücklich befugt ist (m. E. keine Ausnahme, sondern vorweggenommene Genehmigung). 31 Er muß nach Art. 43 Geschäftsverkehrsgesetz in den Botschaften zu Gesetzes- und Beschlußentwürfen in einem besonderen Abschnitt zur Frage der Verfassungsmäßigkeit Stellung nehmen. 32 Zum Grundsätzlichen vgl. die rechtsvergleichende Studie von Lucius Wildhaber, Treaty Making Power and Constitution, Basel 1971. 33 Durch ihn wird entweder der Vertrag genehmigt und der Bundesrat ermächtigt, ihn zu ratifizieren, oder der Bundesrat wird zum Abschluß des Vertrages ermächtigt. 34 Vgl. z. B. BGE 81 I 159. 36 Vgl. die Stellungnahmen des Politischen Departements vom 4.8.1955 und vom 26. 1. 1961 (Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden Heft 25 Nr. 18 S. 48 und Heft 30 Nr. 13 S. 34).

96

Ernst Friesenhahn

3. Verträge über die Ausführung von Verträgen, die sich jedoch strikte im

Rahmen des grundlegenden Vertrages halten müssen und den Charakter von Vollziehungsabkommen aufweisen. 4. Provisorische und zeitlich dringliche Abkommen (erheblicher Ermessensspielraum des Bundesrates!). 5. (mit einigen Zweifeln) Verträge über Materien, zu deren innerstaatlicher Regelung der Bundesrat allein kompetent ist, m. a. W., in denen er über ein selbständiges oder unselbständiges Verordnungsrecht verfügt. 2. Ohne die Frage nach dem innerstaatlichen Geltungsgrund der völkerrechtlichen Verträge theoretisch zu vertiefen, geht das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß ein Staatsvertrag "zusammen mit der völkerrechtlichen auch landesrechtliche Wirkung" erlangt. "Einer Umsetzung von Verträgen in ein besonderes Bundesgesetz bedarf es nicht36 " . Ein Abkommen, das für die Schweiz völkerrechtlich in Kraft trat, wirkt "seither in der Schweiz wie ein Bundesgesetz"37. Aubert38 stellt nur schlicht fest: "Les traites ont la force des lois". Im Kommentar zur Bundesverfassung von Burckhardt39 findet sich wenigstens ein Ansatz der Begründung. Praktisch gilt also in der Schweiz die Vollzugslehre 40 ; nur gelegentlich ist das Bundesgericht einmal in die Transformationslehre abgeirrt41 • Aus der Verfassung ließe sich ein Ansatzpunkt aus Art. 113 Abs. 3 gewinnen, der für die Bindung des Bundesgerichts auf die Staatsverträge als solche abhebt. 3. Was die Frage der Publikation von Staatsverträgen angeht, die Burckhardt 42 mit Recht als wesentlich erachtet, so verweist eine Stellungnahme des Politischen Departementes vom 29.11. 1957 43 darauf, daß diese Frage im Bundesstaatsrecht nur im Bundesgesetz vom 12. März 1948 über die Rechtskraft der bereinigten Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen für die Jahre 1848 -1947 und über die neue Reihe der Sammlung geordnet sei 44 • Gemäß Art. 4 lit. e dieses Rechtskraftgesetzes sind in der neuen Gesetzessammlung die Staatsverträge, gegeBGE 94 I 670, 672 unter Hinweis auf BGE 88 I 90/1. BGE 96 II 7 unter Hinweis auf BGE 88 I 93 und 94 I 672. 88 a.a.O. Nr. 1326. 89 3. Auf!., 1931, S. 674. 40 Im Sinne des Berichts von Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, Berichte der Deutschen Ges. f. Völkerrecht, Heft 6, 38 37

1964.

BGE 49 I 188 (191). a.a.O. S. 674. 43 Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden Heft 27 Nr. 1 S. 9. " Die in Art. 67 des seither ergangenen Geschäftsverkehrsgesetzes enthaltene Vorschrift über die Bekanntmachung der Erlasse muß wohl auch auf die Staatsverträge genehmigenden einfachen Bundesbeschlüsse bezogen werden; aber auch ihr gegenüber dürften die im Text vermerkten Ausnahmen Geltung behalten. 41

42

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

97

benenfalls mit dem Genehmigungsbeschluß der Bundesversammlung, zu veröffentlichen. Interessanterweise sieht Art. 5 vor, daß die gemäß Entscheid der Bundesversammlung oder (!) des Bundesrates im höheren Landesinteresse geheim zu haltenden Erlasse nicht in die Gesetzessammlung aufzunehmen sind. "Vertrauliche Abkommen" werden also nicht publiziert. Darüber hinaus hält das Departement eine Ausnahme für solche Staatsverträge gerechtfertigt, "deren Adressaten nur die Behörden, nicht aber die Bürger sind"45. 4. Was den innerstaatlichen Rang des Vertragsrechtes angeht, so ergibt sich aus der Wirkung "wie ein Bundesgesetz" ohne weiteres der Vorrang vor dem kantonalen Recht. Den Normen der Bundesgesetze stehen die Normen der Staatsverträge gleich; die Frage, ob späteres Landesrecht dem früheren Staatsvertragsrecht vorgehe, ist in der jüngsten Entscheidung des Bundesgerichts46 - unter Hinweis auf kontroverse ältere Entscheidungen und literarische Äußerungen - offen geblieben, weil das Gericht unter Anwendung des Satzes: "Im Zweifel muß innerstaatliches Recht völkerrechtskonform ausgelegt werden" zu dem Resultat kommen konnte, daß das spätere (sehr generelle) Gesetz die spezielle Regelung eines älteren Staatsvertrages nicht tangieren wollte.

über die verfassungsrechtlichen Schranken der Staatsvertragskompetenz des Bundes verhält sich eine sehr ausführliche, auch auf die Lehre eingehende Stellungnahme des Politischen Departementes vom 15. 8. 1957 47 • Sie kommt zu dem überraschenden Ergebnis, "daß die Bundesverfassung mit Bezug auf den Abschluß von Staatsverträgen grundsätzlich keine materiellen Schranken kennt" unter dem Vorbehalt der Ausnahme, daß "auf dem Wege des Staatsvertrages nicht fundamentale Normen der Bundesverfassung abgeändert oder aufgehoben werden,1 können. "Wo die Verfassung lediglich interne Probleme regeln will und das Verhältnis nach außen offen läßt" - und das scheint nach dieser Auffassung fast die Regel zu sein 48 - , "ist die Bahn frei für eine staatsver45 Zur Begründung wird darauf verwiesen, daß Art. 5 lit. d des Gesetzes Bundesratsbeschlüsse, Verordnungen und Verfügungen, die bloße Verwaltungsakte in Einzelfällen oder interne Dienstverfügungen darstellen, von der Publikationspflicht ausdrücklich ausschließt. Man könnte füglich bezweifeln, ob die hier gezogene Parallele der verschiedenen Bedeutung von internen Regelungen und Staatsverträgen gerecht wird. Ein gewisser Widerspruch dürfte auch zu Art. 5 Abs. 2 Geschäftsverkehrsgesetz bestehen, wo "generelle und abstrakte Normen, welche ... die Zuständigkeit oder die Aufgaben der Behörden oder das Verfahren regeln", zu den "rechtsetzenden Normen" gerechnet werden. 46 BGE 94 I 670 (678). 47 Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden Heft 29 Nr. 3 S. 15. Zu diesem Problemkreis: Kurt Hauri, Die Verfassungsmäßigkeit der Staatsverträge, Bern 1962. 48 Man könnte zweifeln, ob Art. 29 Abs. 1 Satz 2 ein Argument für oder gegen diese These abgibt; er bestimmt, daß die Grundsätze, die Satz 1 für die ZollEingangsgebühren aufstellt, "wenn nicht zwingende Gründe entgegenstehen,

7 Festschrift für Ulrich Scheuner

98

Ernst Friesenhahn

tragliche Normierung, desgleichen dann, wenn es sich nicht um schwerwiegende und umstürzende Eingriffe in die innere Struktur handelt". Abgesehen von der vorstehend wiedergegebenen materiellen These ist aber weiter noch formell zu beachten, daß nach Art. 113 Abs. 3 die von der Bundesversammlung genehmigten 49 Staatsverträge für das Bundesgericht maßgebend sind, d. h. von ihm angewandt werden müssen, auch wenn sie mit der Verfassung in Widerspruch stehen, obwohl keine Genehmigung von Volk und Ständen gegeben ist50 •

VI. Seit der Verfassungs revision vom 30. Januar 1921 unterstehen gewisse Staatsverträge dem fakultativen Referendum5 !. Der damals eingefügte Art. 89 Abs. 4 lautet: "Staatsverträge mit dem Auslande, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen sind, sind ebenfalls dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird." 1. Der Wortlaut führt zu der m. E. auch sinnvollen Interpretation, daß Gegenstand des Referendums der Staatsvertrag selbst und nicht der Genehmigungsbeschluß ist und daß dieser Genehmigungsbeschluß kein allgemeinverbindlicher Bundesbeschluß sein kann, weil sonst ja bereits nach Art. 89 Abs. 2 das Referendum eröffnet wäre. Burckhardt 52 und auch bei Abschließung von Handelsverträgen mit dem Auslande zu befolgen" sind. '9 Auch gegenüber nur vom Bundesrat abgeschlossenen Staatsverträgen nimmt das Bundesgericht nur eine beschränkte Prüfungskompetenz in Anspruch: BGE 81 I 169 f. 60 Die Frage ist insbesondere akut geworden bei Gerichtsstandbestimmungen in Staatsverträgen im Widerspruch zu Art. 59 BVerf., z. B. BGE 57 I 19 (22); vgl. auch BBL 1964 II S. 405 ff. 51 Dazu in tiefschürfender staatstheoretischer Argumentation ablehnend: Hans Huber, Plebiszitäre Demokratie und Staatsverträge. Zum schweizerischen Staatsvertragsreferendum, in: Faktoren der politischen Entscheidung, Festgabe für Ernst Fraenkel, Berlin 1963, S. 368 ff. - Die Volksinitiative war 1913 durch den Gotthardvertrag mit Deutschland und Italien (vgl. dazu "Gotthardbahn" in WbVölkR. Bd. I S. 700) ausgelöst und erst 1921 zur Entscheidung gebracht worden. Der zunächst dagegen eingestellte Bundesrat scheint zur Kehrtwendung wesentlich durch die Diskussion über den gleich zu behandelnden Beitritt der Schweiz zum Völkerbund bewogen worden zu sein (vgl. Bundespräsident Motta im Nationalrat am 27.2.1920; Protokolle S. 252 links). Aus der bei Burckhardt (a.a.O. S. 702) wiedergegebenen Entstehungsgeschichte der Totalrevision 1874 ergibt sich, daß damals bewußt sowohl das Referendum gegen Staatsverträge als auch die Möglichkeit abgelehnt wurde, daß die Bundesversammlung von sich aus an das Volk solle appellieren können. Es wurde insbesondere auch betont, daß die Bundesversammlung sich nicht ihrer Verantwortung durch Abschiebung der Entscheidung auf das Volk solle entziehen können (vgl. damit aber unten Abschnitt VII). 62

S.713.

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

99

Aubert53 sind aber der Meinung, der Genehmigungsbeschluß sei Gegenstand des Referendums, und daraus leitet Aubert für das oben in Abschnitt I 2.3 auseinandergehäkelte Formenspiel den Rückschluß ab, daß im Falle referendumsfähiger Staatsverträge der Genehmigungsbeschluß nun doch die Form des allgemeinverbindlichen Beschlusses annimmt, weil nach Art. 6 Abs. 2 Geschäftsverkehrsgesetz "Erlasse, gegen die kraft einer Verfassungsbestimmung das Referendum verlangt werden kann und für die nicht die Form des Bundesgesetzes vorgesehen ist", in diese Form zu kleiden sind54 . In der Staatspraxis wird dem Wortlaut nach der Genehmigungsbeschluß der Bundesversammlung dem Referendum unterworfen, obwohl es doch eigentlich sinnvoller wäre, das Volk nicht über die Bestätigung oder Nichtbestätigung dieses Beschlusses entscheiden zu lassen, sondern davon auszugehen, daß bei Ergreifung des Referendums die Entscheidung über Annahme oder Verwerfung des Staatsvertrages an das Volk übergeht und der Beschluß der Bundesversammlung keine materielle Bedeutung mehr hat, sondern nur die Frist für das Referendum in Gang setzt55 . Im übrigen wird sowohl für die Genehmigung durch die Bundesversammlung wie für die Annahme durch das Volk angenommen, daß dadurch der Bundesrat zur Ratifikation des Vertrages nur ermächtigt aber nicht verpflichtet wird 56 . 2. Um dem Referendum zu entgehen, bemüht sich der Bundesrat bei Staatsvertragsverhandlungen die Vertrags dauer auf höchstens 15 Jahre zu begrenzen oder eine Kündigungsklausel einzufügen; ein Vertrag unbegrenzter Dauer, der aber vor Ablauf von 15 Jahren gekündigt werden kann, gilt nicht als "unbefristet"! Eine Mitwirkung der Räte bei der Kündigung der Staatsverträge ist nicht vorgesehen. In den "Theses du Departement politique federal du 19 mai 1949 concernant la soumission des traites internationaux au referendum facultatif"57 wird eine stillschweigende Kündigungsklausel in den Statuten der internationalen Organisationen unterstellt, die auf dem Majoritätsprinzip beruhen. Andererseits werden Verträge als referendums fähig bezeichnet, die dauernde Rechte schaffen oder übertragen, selbst wenn sie sich mit ihrer Ausfüh53

Nr.1143.

Falls es zu einer Totalrevision der Verfassung kommt, kann man gespannt sein, ob es gelingt, das Formendschungel des Schweizer Verfassungsrechts zu durchforsten und klarer und einfacher zu gestalten! 65 Die von Aubert zu Nr. 615 gebrauchte Formel: "approuve par l'Assemblee generale, confirme par le corps electoral, ratifte par le Conseil d'Etat" ist mehr rhetorisch als juristisch präzis. 56 Vom Staatsvertragsreferendum ist bisher zweimal Gebrauch gemacht worden. Im Genfer Zonen streit (vgl. Genfer Zonenfrage im WbVölkR. Bd. I S. 655, 656) scheiterte 1923 ein Vertrag mit Frankreich; 1957 wurde ein Vertrag mit Italien über den Grenzfluß Spöl angenommen. 57 Abgedruckt mit eingehender Begründung und umfassenden Nachweisen der Literatur im Schweizer Jahrbuch für internat. Recht Bd. VII, 1950, S. 192 bis 212. 54

i"

100

Ernst Friesenhahn

rung en:chöpfen, also vor allem Grenzänderungsverträge 58 , oder kündbare Verträge, die mittelbar zu endgültigen Entscheidungen führen können, wie z. B. der Beitritt zum Statut des Internationalen Gerichtshofs. 3. Darüber, daß Art. 89 Abs. 4 schlecht gefaßt ist und die Dauer der Verträge eigentlich kein Kriterium für ihre Unterstellung unter das fakultative Referendum sein kann, ist man sich in der Schweiz einig. Unabhängig davon, ob es zu einer Totalrevision kommt, ist hier sicher in naher Zukunft mit einer Partialrevision zu rechnen 59 •

4. Die Bundesversammlung fügt ihren Genehmigungsbeschlüssen jeweils die Klausel bei, daß der Beschluß dem Staatsvertragsreferendum unterstehe oder nicht unterstehe. Die letzte Formel dürfte wohl nur deklaratorische Bedeutung haben. Da Art. 113 Abs. 3 hier nicht eingreift, wäre es wohl theoretisch möglich, daß auf staatsrechtliche Beschwerde eines Bürgers oder auf Antrag eines Kantons das Bundesgericht darüber zu entscheiden hätte, ob das verfassungsmäßige Recht zur Ergreifung des Referendums dadurch verletzt wäre. VII. Auf dem skizzierten Hintergrund soll nun die Volksabstimmung vom 3. Dezember 1972 über die Freihandelsabkommen der Schweiz mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl60 betrachtet werden, durch die diese überlegungen ausgelöst wurden. 1. In diesem Komplex faßten die Räte am 3. Oktober 1972 vier Beschlüsse. In drei Beschlüssen (Abkommen mit den Europäischen Gemeinschaften, Ausdehnung der Geltung auf Liechtenstein, Zusatz abkommen betr. Erzeugnisse der Uhrenindustrie) wurden die Verträge genehmigt und der Bundesrat ermächtigt, sie zu ratifizieren; in einem Beschluß wurde der Bundesrat ermächtigt, dem Rücktritt Dänemarks und Nor-

Für Gebietszessionen fordert Aubert Nr. 560 das Verfassungsreferendum. Bundesrat Furgler bemerkte im Ständerat am 12. März 1972 zu einem diesbezüglichen Postulat, daß das Staatsvertragsreferendum bereits von einer Expertenkommission überprüft würde. - Aus der neueren Literatur verweise ich auf die Aufsätze von Lucius Wildhaber, "Vorschläge zur Verfassungsrevision betreffend den Abschluß internationaler Verträge", in: Schweizerische Juristen-Zeitung 1969 S. 117 ff. und "Neuordnung des Staatsvertragsreferendums", in: Baseler Juristische Mitteilungen, 1971, S. 155 ff.; weiter: Kurt Reichlin und Rudolf Rohr, Notwendiger Ausbau des Staatsvertragsreferendums, Zeitfragen der schweiz. Wirtschaft und Politik, hrsg. vom Redressement National, Nr. 84 vom 24. 5. 1965. 60 Vgl. dazu die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung im Bundesblatt 1972 Bd. 2 Nr. 41, S. 653 ff. 58 69

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

101

wegens aus der EFTA zuzustimmen61 • Drei Beschlüsse enthielten den Vermerk: "Dieser Beschluß untersteht nicht dem Staatsvertragsreferendum", während der Beschluß über den Hauptvertrag einen Art. 2 enthielt: "Dieser Beschluß untersteht der Abstimmung des Volkes und der Stände." Das Außergewöhnliche an Art. 2 des Genehmigungsbeschlusses zum Abkommen mit den Europäischen Gemeinschaften besteht darin, daß ohne eine verfassungsrechtliche Grundlage nicht nur von den Räten selbst eine Abstimmung über einen Staatsvertrag angeordnet wurde, sondern sogar - abweichend vom normalen Staatsvertragsreferendum und analog den Verfassungsrevisionen und den Verfassungsdurchbrechungen durch dringliche allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse die Zustimmung von Volk und Ständen gefordert wurde 62 • Es handelte sich nach meinem Dafürhalten um einen Präzedenzfall ohne Beispiel in der Geschichte der Schweizer Bundesverfassung. Das Verfahren war nicht nur in den Räten umstritten63 , sondern auch einige Schweizer Staatsrechtslehrer haben verfassungsrechtliche Bedenken dagegen erhoben64 • 2. Zur Rechtfertigung des von ihm vorgeschlagenen Verfahrens führt der Bundesrat in seiner Botschaft (S. 737 ff.) aus, daß eine Unterstellung unter das fakultative Referendum nicht in Frage komme, da der Vertrag jederzeit mit einer Frist von zwölf Monaten gekündigt werden könnte. Ein "Verfassungsreferendum" hält der Bundesrat grundsätzlich für geboten - ohne daß die Verfassung etwas darüber sagt, immerhin aber insoweit wohl ihrer Struktur entsprechend -, wenn "ein Staatsvertrag unabhängig von seiner Dauer und Kündbarkeit tiefgreifende Änderungen der Staatsstruktur mit sich bringt oder einen grundsätzlichen Wandel der schweizerischen Außenpolitik zur Folge hat". Obwohl weiter dargelegt wird, daß die Abkommen "keine Eingriffe in unsere verfassungsrechtliche Ordnung bewirken", auch keine Änderung der schweizerischen Außenpolitik mit sich bringen, das Verfassungsreferendum "sich somit ... rechtlich als nicht notwendig" erweist, spricht sich der Bundesrat doch "für die ausnahmsweise Unterstellung des Genehmi61 Großbritannien hatte fristgemäß gekündigt; die eventuell zu erwartenden Kündigungen von Norwegen und Dänemark (Ergebnis der Volksabstimmungen!) wären nur unter Verkürzung der Kündigungsfrist des EFTA-Vertrages rechtzeitig möglich gewesen. 62 Die Verträge wurden mit der großen Mehrheit von 1 344994 gegen 509465 Stimmen und von allen Kantonen angenommen. 63 Nach den Berichten in der Neuen Zürcher Zeitung vom September 1972 beschloß zunächst der Nationalrat mit 127 zu 32 Stimmen den Volksentscheid, während sich der Ständerat mit 19 zu 18 Stimmen dagegen aussprach. Nachdem der Nationalrat erneut mit 108: 38 Stimmen an seinem früheren Beschluß festgehalten hatte, gab der Ständerat mit 21 zu 14 Stimmen nach. 64 Vgl. z. B. Hans Huber in der NZZ vom 13. 9. 1972.

102

Ernst Friesenhahn

gungsbeschlusses unter das Referendum von Volk und Ständen" aus, weil "das Abkommenswerk in seinem Gehalt derart bedeutsam ist und einen Teil der öffentlichen Meinung in so starkem Maße beschäftigt, daß ohne Beschreiten dieses zugegebenermaßen ungewohnten Weges die Diskrepanz zu den sonst üblichen Mitwirkungsrechten des Volkes bei der Bildung des Landesrechts als zu groß erscheinen müßte". Demgegenüber könnte eingewandt werden, daß die "üblichen Mitwirkungsrechte des Volkes" in der Verfassung erschöpfend aufgezählt sind, und daß, wo sie - zugegebenermaßen - nicht eingreifen, die Verfassung die Entscheidung und damit die Verantwortung den von ihr für zuständig erklärten Organen zuweist. Wird eine unerträgliche Diskrepanz zwischen der verfassungsrechtlichen Regelung und dem politischen Wunsch nach stärkerer Beteiligung von Volk und Ständen empfunden, dann müßte das eigentlich zum Anlaß genommen werden, die Verfassung entsprechend zu ändern; statt dessen wurde hier bewußt ein Verfahren extra, und wie mir scheint, contra constitutionem durchgeführt65 • Der Bundesrat schlug "die Form eines besonderen Bundesbeschlusses und nicht eines Verfassungsartikels vor, da der Genehmigungsbeschluß nur im Zusammenhang mit den Abkommenstexten einen Sinn ergibt und das ganze Vertragswerk nicht in die Verfassungsurkunde aufgenommen werden kann. Diese Form eines besonderen Bundesbeschlusses, der dem Referendum von Volk und Ständen unterworfen wird, wurde bereits für die Genehmigung des Beitritts zum Völkerbund und auch in mehreren anderen Fällen gewählt." 3. Die "mehreren anderen Fälle" können nur die oben zu IH. erwähnten Fälle des Art. 89 bis Abs. 3 gewesen sein; sie geben also für diesen Fall nichts her. Auch der Fall des Beitritts zum Völkerbund lag aus den verschiedensten Gründen doch sehr anders: a) 1920 gab es noch keine Verfassungs bestimmung über das Referendum bei Staatsverträgen; dieses wurde erst 1921 eingeführt und dabei positivrechtlich als fakultatives Referendum gestaltet und gen au eingegrenzt (s. oben zu VL). b) Der Bundesrat hatte zwar in seiner berühmten Botschaft betreffend die Frage des Beitritts der Schweiz zum Völkerbund66 erklärt, daß der Völkerbund keine Änderung der Bundesverfassung bringe, aber er konnte auf die durch den Beitritt eintretenden tiefgreifenden Änderungen der auswärtigen Beziehungen - übergang zur differentiellen Neutralität - hinweisen. 55 Der im Grunde genommen politisch stärker bindende Beitritt zur EFTA war seinerzeit nicht einmal dem fakultativen, geschweige denn einem obligatorischen Referendum unterstellt worden! S8 BBl. 1919 Bd. IV S. 541, 629.

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

103

c) Der Bundesrat hatte zudem die Einfügung des Beschlusses über den Eintritt der Schweiz in den Völkerbund als besonderen IV. Abschnitt mit dem einzigen Artikel 124 in die Bundesverfassung vorgeschlagen, was ohne weiteres das obligatorische Verfassungsreferendum zur Folge gehabt hätte. d) Die Kommission des Nationalrats beantragte dann einstimmig, "von einer Verfassungsrevision abzusehen und sich mit einem Bundesbeschluß zu begnügen". In der Begründung67 spielte auch das oben (bei Anm. 26 und bei Anm. 48) erwähnte Schweizer Verfassungsverständnis eine Rolle. Der Berichterstatter führte aber nun weiter aus: "Wenn wir die Verfassungsrevision auch nicht als notwendig erachten, sind wir doch der Meinung, daß dieser Vertrag bei der großen Tragweite, welcli.e er besitzt, nicht bloß der Abstimmung des Volkes, sondern auch der Abstimmung der Stände zu unterbeiten sei. Wir gehen da über das bisherige Verfassungsrecht hinaus, wonach nur Verfassungsbestimmungen dem Volke und den Ständen zur Abstimmung unterbreitet werden ... Diese exzeptionelle Behandlung des vorliegenden Beschlusses braucht nicht weiter begründet zu werden ..... Bundespräsident Motta stimmte diesem "systeme ... un peu plus complique" zu, hob aber noch deutlicher die "Anomalie" hervor: " ... nous introduisons des notions nouvelles dans notre droit public ... Nous consacrons maintenant une troisii!me et nouvelle notion de l'arrete federal que les Chambres soumettent d'elles - memes et d'office au vote du peuple et des cantons. Je n'insiste pas sur cette anomalie. Les circonstances speciales et la gravite particuliere de l'arrete que nous discutons peuvent justifier cette innovation." e) Obwohl also ausdrücklich die Behandlung des "Beitritts der Schweiz zum Völkerbund" (so lautete interessanterweise und auf den Kern der Sache zielend der Betreff des Beschlusses!) als Verfassungszusatz abgelehnt worden war, wurde der Beschluß faktisch doch als Verfassungszusatz behandelt und im Anhang zur amtlichen Textausgabe der Bundesverfassung abgedruckt68 • Das war umso mehr gerechtfertigt, als der Beschluß neben dem Beitritt zum Völkerbundsvertrag noch weitere Be87

Vgl. den Berichterstatter im Protokoll der Sitzung des Nationalrates vom

19. 11. 1919, S. 945 f. und Bundespräsident Motta a.a.O. S. 946 f.

68 Vgl. unter den "Änderungen der Bundesverfassung" Nr. 25 und dazu die Fußnote 3 S. 58 der Ausgabe 1972: "Diese Bestimmung ist infolge Auflösung des Völkerbundes gegenstandslos geworden und wird daher nicht mehr als Anhang zur Bundesverfassung abgedruckt, wie dies in früheren Ausgaben geschah." - Das Politische Departement bezeichnet den Beschluß über den Beitritt zum Völkerbund als "Verfassungszusatz" (Verwaltungsentscheide Heft 29, S. 25 am Ende); vgl. auch seine Ausführungen in den "Theses" (Anm. 57) zu 6. Aubert bezeichnet jene Abstimmung als "arrete constitutionnel", und er nimmt an, daß ein solcher nicht nur ermächtigenden sondern imperativen Charakter hinsichtlich der Ratifikation des Vertrages durch den Bundesrat habe (Nr. 1146, 1323).

104

Ernst Friesenhahn

stimmungen enthielt, die man mit Fug als materielles Verfassungsrecht bezeichnen kann: "Für die Ratifikation der Abänderungen des Völkerbundsvertrages sowie für die Genehmigung von mit dem Völkerbund zusammenhängenden übereinkünften jeder Art kommen die von der Bundesverfassung für den Erlass von Bundesgesetzen aufgestellten Bestimmungen zur Anwendung 69 • Beschlüsse über Kündigung des Völkerbundsvertrages oder über Rücktritt von diesem sind dem Volk und den Ständen zur Abstimmung vorzulegen. Art. 121 der Bundesverfassung betreffend die Volks anregung (Initiative) ist auch für die Kündigung des Völkerbundsvertrages und den Rücktritt von diesem anwendbar." 4. Weder der Vergleich mit den dringlichen verfassungsdurchbrechenden allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen noch der mit dem Beschluß über den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund, der von ungleich größerer politischer Bedeutung war und zudem materiellen verfassungsrechtlichen Gehalt hatte, zieht also im Fall des "Verfassungsreferendums" über den Freihandelsvertrag mit der EWG. Es wäre auch erstaunlich, wenn dieser Beschluß in Zukunft im Anhang zur amtlichen Textausgabe abgedruckt würde, da er in sich keinen Gehalt hat7°. Die Rechtfertigung des Verfahrens mit der Begründung, die Verfassung habe nur formalen Charakter, es gäbe für die Volksinitiative keine inhaltlichen Grenzen (Rheinauinitiative!), also hätte durch Volksinitiative auch eine "Verfassungsrevision" des Inhalts gefordert werden können, den Vertrag mit der EWG der Abstimmung von Volk und Ständen zu unterstellen, und die Bundesversammlung habe nun eine solche Initiative vorweggenommen, so daß die Abstimmung uno actu die fingierte Verfassungsinitiative auf ad-hoc-Verfassungs-"Revision" gut geheißen und zugleich den auf dieser Grundlage vorgelegten Vertrag angenommen habe, erscheint mir arg sophistisch. Dasselbe würde für das Argument gelten, Art. 2 des Beschlusses der Bundesversammlung (Unterstellung unter das obligatorische Referendum) könne isoliert betrachtet und als ein allgemeinverbindlicher Bundesbeschluß angesehen werden, "welcher sich nicht auf die Verfassung stützt" (oben zu IH.), da es dann immer noch an der "Dringlichkeit" fehlen würde, um Art. 89 bls Abs. 3 anwenden zu können. Es droht hier die Auflösung aller verfassungsrechtlichen Formvorschriften, worauf Hans Huber a.a.O. sehr eindringlich hingewiesen hat. 5. Angesichts der Bedeutung des Präzedenzfalles im Verfassungsrecht und eines effektiv vollzogenen Verfassungsreferendums wird man fragen Das bedeutete Eröffnung des fakultativen Referendums in jedem Fall! In dem Beschluß über die Erwahrung des Ergebnisses der Volksabstimmung vom 3. Dezember 1972 vom 25. 1. 1973 (BBl. 1973 I S. 81) stellt der Bundesrat seine Zuständigkeit für diesen Beschluß mit den Worten fest: "in Anbetracht, daß der genannte Beschluß keine Änderung der Bundesverfassung darstellt". 69 70

Verfassungsbegriff und Staatsvertragsreferendum in der Schweiz

105

können, ob ein Verfassungswandel in dem Sinn eingetreten ist, daß die Bundesversammlung naCh politischem Gutdünken Staatsverträge wegen ihrer Bedeutung je nachdem dem Volk oder gar dem Volk und den Ständen zur Annahme oder Verwerfung vorlegen kann 71 • Auf die vielen derzeit diskutierten Vorschläge zur Neugestaltung des Staatsvertragsreferendums soll hier nicht eingegangen werden, da das Anliegen nur war, auf die Schweizer Problematik, die sich in der Abstimmung über den Freihandelsvertrag mit der EWG kristallisierte, als einen Beitrag zu einer vergleichenden Verfassungslehre hinzuweisen. 6. Nach dem Abschluß der Abhandlung wird bekannt, daß der Bundesrat am 21. Mai 1973 den Vorschlag einer Revision des Art. 89 der Bundesverfassung über das Staatsvertragsreferendum in das Vernehmlassungsverfahren gegeben hat. Die beiden Räte hatten am 12. März 1970 beschlossen, daß der Bundesrat Bericht und Antrag über eine Neufassung von Art. 89 Abs. 4 unterbreiten solle "mit dem Ziel, Volk und Stände die angemessene Einflußnahme auf wesentliche außenpolitische Entscheide zu ermöglichen". Nach dem gemeinsam mit einer Expertenkommission ausgearbeiteten Vorschlag sollen Art. 89 Abs. 3 und 4 wie folgt gefaßt werden: (3) Der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Organisationen ist Volk und Ständen zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen. (4) Völkerrechtliche Verträge mit dem Ausland von wesentlicher Tragweite können durch Beschluß der Mehrheit aller Mitglieder in jedem der beiden Räte dem Volk zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden. Trifft die Bundesversammlung einen solchen Beschluß, so findet eine Abstimmung statt, wenn es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird. Nach diesem Vorschlag würden die, wie man wohl sagen kann, "verfassungswichtigen" Verträge des Abs. 3 dem obligatorischen Verfassungsreferendum unterworfen, während es im übrigen nach der Begründung des Bundesrates dem politischen Ermessen der Bundesversammlung anheim gestellt würde, "in jedem Einzelfall die Tragweite eines Vertrages sorgfältig abzuwägen, die wenigen wirklich wichtigen Verträge dem fakultativen Referendum zu unterstellen und dennoch durch eine behutsam zurückhaltende Praxis dafür zu sorgen, daß die außenpolitische Glaubwürdigkeit und Beweglichkeit der Eidgenossenschaft nicht übermaßen gefährdet würde. Dies geschieht im Vertrauen darauf, daß die Eidgenössischen Räte von der ihnen zugestandenen Kompetenz verantwortungsbewußt Gebrauch machen werden". 71

Als Beleg für die "Gefährlichkeit" des Staatsvertragsreferendums weist

Hans Huber a.a.O. darauf hin, daß seinerzeit der Beitritt zum Völkerbund an

einer halben Standesstimme hing!

106

Ernst Friesenhahn

Daneben aber wurde am 20. März 1973 eine Verfassungsinitative der "Nationalen Aktion gegen die überfremdung von Volk und Heimat" eingereicht, nach der nicht nur sämtliche Staatsverträge dem fakultativen Referendum unterstellt werden, sondern auch bereits in Kraft stehende Staatsverträge nachträglich noch dem fakultativen Referendum zugeführt werden sollen. Daß eine solche Regelung die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit der Schweiz aufs Schwerste gefährden würde, liegt auf der Hand. Volk und Stände werden sich 1974 zwischen dem endgültigen Vorschlag von Bundesrat und Bundesversammlung und dieser Verfassungsinitiative entscheiden müssen. Es kann wohl erwartet werden, daß der gesunde politische Sinn der Schweizer die Initiative verwerfen wird.

Zum Begriff und zu den Folgen der Nichtigkeit von Verträgen im Völkerrecht Von Jochen A. Frowein 1. Zum Begriff der Nichtigkeit

"Nichtigkeit" ist eine in allen entwickelten Rechtsordnungen bekannte Fehlerfolge, die Rechtsgeschäften oder Hoheitsakten anhaften kann 1 • Es handelt sich dabei um einen Rechtsbegriff, dessen Voraussetzungen und Folgen sich nicht von selbst verstehen, sondern der Rechtsordnung zu entnehmen sind 2 • Die Nichtigkeit ist abzugrenzen von der Nichtexistenz, deren Wesen darin besteht, daß nicht einmal der Schein eines Rechtsgeschäftes oder Hoheitsaktes erzeugt worden ist3 • Bei der Nichtigkeit liegen dagegen gewisse Voraussetzungen des Aktes vor. Gleichbedeutend werden häufig "Unwirksamkeit" oder "Ungültigkeit" gebraucht, die freilich nicht dieselbe Schärfe aufweisen4 • Dasselbe gilt im Englischen von "invalidity" und im Französischen von "invalidite". Auch hier kommt wohl die stärkere juristische Präzision den der Nichtigkeit entsprechenden Termini "nullity" - "nullite" zu 5• Im Völkerrecht ist die "Nichtigkeit" seit langem zuhause. Während die frühe Literatur nur von Gültigkeit und Ungültigkeit spricht6 , findet sich der Ausdruck "nichtig" jedenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahr·1 Vgl. dazu die Nachweise bei Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., 2. Halbband, 1960, S. 1209 mit Anm. 2. 2 Vgl. etwa W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, Das Rechtsgeschäft, 1965, S. 547 f. gegen die Ansicht, das nichtige Rechtsgeschäft sei rechtlich überhaupt nicht vorhanden. 3 Das französische VerwaItungsrecht unterscheidet den "acte absolument inexistant" und den "acte quasi inexistant", wobei die letzteren als nichtig in dem hier fraglichen Sinne zu bezeichnen sind, G. Vedel, Droit Administratif, 4. Aufl., 1968, S. 499. 4 In der deutschen Terminologie ist die "Nichtigkeit" im gemeinrechtlichen Sprachgebrauch eingeführt worden; Enneccerus-Nipperdey, a.a.O. (Anm. 1), S.1209. 5 Vgl. etwa L. Cavar€, Le Droit International Public Positif, 3. Aufl., Bd. 2, 1969, S. 130 f., für das französische Recht im Vergleich zum Völkerrecht. S G. F. von Martens, Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet, 1796, S. 52 ff.; A.-G. Heffter, Le Droit International Public de l'Europe, neue Auflage von Bergson, 1866, S. 168 ff.

108

Jochen A. Frowein

hunderts 7 • Die neue re Literatur verwendet ihn allgemein, stellt dabei meist heraus, daß die Nichtigkeit im Völkerrecht selten sei und nur in wenigen Fällen Einigkeit über die Nichtigkeit eines Völkerrechtsaktes, vor allem eines Vertrages, hergestellt worden sei8 • Dagegen sind Fälle, in denen Nichtigkeit von einer Seite geltend gemacht worden ist, keineswegs seltenD. Nach Art. 69 der Wiener Vertragsrechts konvention ist ein Vertrag, dessen Ungültigkeit nach den Bestimmungen der Konvention festgestellt worden ist, nichtig. Im nächsten Satz wird der nichtige Vertrag definiert: "The provisions of a void treaty have no legal force" - "Les dispositions d'un traite nul n'ont pas de force juridique". Abs. 2 versucht so dann eine Lösung der Fälle, in denen später als nichtig festgestellte Verträge vollzogen worden sind. Darauf wird zurückzukommen sein 10 • Der vorliegende Beitrag befaßt sich nicht mit den Gründen für eine Nichtigkeit völkerrechtlicher Verträge. Sie haben bisher im Vordergrund der Diskussion gestanden. Für die völkerrechtlichen Verträge hat die Wiener Konvention zwar keine völlige Klarheit gebracht, aber doch eine wichtige Basis für die Argumentation geschaffen. Demgegenüber scheint das Problem der Folgen der Nichtigkeit weit weniger Beachtung gefunden zu haben. Für sie ist aber Art. 69 der Vertragsrechtskonvention alles andere als eindeutig. Daß die Folgen der Nichtigkeit keineswegs als selbstverständlich unterstellt werden dürfen, muß gerade der Vergleich mit dem nationalen Recht lehren ll . Ehe eine Analyse des Art. 69 der Wiener Vertragsrechtskonvention vorgenommen wird, sollen die wenigen bekannten, bisher aber kaum 7 Bernard, Four Lectures on Subjects Connected with Diplomacy, 1868, S. 184; zitiert nach Moore, A Digest of International Law, Bd. 5, 1906, S. 184. 8 Allgemein zur Nichtigkeit im Völkerrecht: P. Guggenheim, La validite et la nullite des actes juridiques internationaux, RC 74 (1949 I), S. 191 ff.; H. W. Baade, Nullity and Avoidance in Public International Law: A Preliminary Survey and a Theoretical Orientation, Indiana Law Journal 39 (1964), S. 497 bis 559; R. Y. Jennings, Nullity and Effectiveness in International Law, C.1.lmbridge Essays in International Law in Honour of Lord McNair, 1965, S. 64 ff.; P. Cahier, Les Caracteristiques de la nullite en droit international et tout particulierement dans la Convention de Vienne de 1969 sur le droit des traites, R.G.D.I.P. 76 (1972), S. 645 ff.; T. O. Elias, Problems concerning the validity of Treaties, RC 134 (1971 III), S. 333 ff. - Unergiebig für die Folgen der Nichtigkeit E. Vitta, La validite des traites internationaux, Bibliotheca Visseriana XIV, 1940 und G. Wenner, Willensmängel im Völkerrecht, 1940, S. 411 ff. v Vgl. etwa die Angaben bei Ch. Rousseau, Droit International Public, Bd. 1, 1970, S. 148. Dort wird allerdings fälschlich berichtet, auch Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland hätten schon 1970 das Münchener Abkommen vom 29.9. 1938 über die Abtretung des Sudetenlandes für "nul et non avenu" erklärt. Daß derartige Erklärungen von der Tschechoslokawei, Frankreich und Italien abgegeben worden sind, ist bekannt. Zu dem vor dem Abschluß stehenden Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der CSSR vgl. S.115. 10 Vgl. unten S.118 ff. 11 Vgl. auch Jennings, a.a.O. (Anm. 8), S. 77.

Nichtigkeit von Verträgen im Völkerrecht

109

gewürdigten Fälle, in denen die Staatenpraxis die Nichtigkeit völkerrechtlicher Verträge festgestellt hat, untersucht werden. 2. Die Staatenpraxis zur Nichtigkeit von Verträgen

a) Der erste festgestellte, freilich auch recht harmlose Fall einer Einigung über die Nichtigkeit von Teilen eines Vertrages findet sich in Art. 19 eines Abkommens vom 19. 4. 1839 zwischen den Niederlanden und Belgien 12 • Danach werden bestimmte Regelungen eines österreichischrussischen Vertrages vom 3. 5. 1815 für nichtig erachtet, durch die Formulierung aber deutlich gemacht, daß das vom Zeitpunkt der Vereinbarung an gilt. Dadurch tritt kein Problem der Folgen für die Vergangheit auf. In Wahrheit haben die Parteien vielmehr das teilweise Außerkrafttreten des Vertrages für ihr Gebiet vereinbart. b) Sehr viel bedeutsamere Präzedenzfälle für die Nichtigerklärung vertragsähnlicher Rechtsakte finden sich in den Friedensverträgen mit Ungarn und Rumänien nach dem zweiten Weltkrieg. Dort werden die Wiener Schiedssprüche vom 2. 11. 1938 und 30. 8. 1940, durch die die Grenzen zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn sowie zwischen Ungarn und Rumänien verändert worden waren, für null und nichtig erklärt 13 • Die Schiedssprüche hatten ihre Grundlage in vertraglichen Einigungen der betroffenen Staaten, die freilich unter dem Druck der damaligen Verhältnisse gehandelt hatten 14 • Die Nichtigerklärung bezieht sich insofern auf die vertragliche Einigung über Durchführung und Annahme der Schiedssprüche. Hier interessieren nicht die Gründe für die Nichtigerklärung, die in der Beeinträchtigung der freien Entscheidung der betroffenen Staaten zu suchen sind, sondern die praktische Behandlung und die Folgen der hergestellten Einigung über die Nichtigkeit. Bereits in den Waffenstillstandsabkommen mit Rumänien vom 12. 9. 1944 und mit Ungarn vom 20. 1. 1945 waren Bestimmungen über die 12 Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 36; Art. 19 Abs. 2 S. 2 lautet: "Les droits d'aubaine et de detraction etant abolis des a present entre la Belgique, la Hollande et le grand-duche de Luxembourg, il est entendu que, parmi les dispositions ci-dessus mentionnees, celles qui se rapporteraient au droit d'aubaine et de detraction seront cennsees nulles et sans effet dans les trois pays." - Daß völkerrechtliche Verträge die Nichtigkeit von Verträgen des innerstaatlichen Rechts vorsehen, ist durchaus möglich. So schon Art. 65 der Generalakte der Brusseler Antisklavereikonferenz vom 2.7.1890 (RGBL 1892, S. 605; Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, S. 226, 240): "Jeder Verkaufsvertrag oder jede Vereinbarung, deren Gegenstand die in den Artikeln 63 und 64 bezeichneten Sklaven infolge irgendwelcher Umstände gewesen sein sollten, ist für null und nichtig zu erachten." Art. 85 EWG-Vertrag ist heute ein wichtiges Beispiel. 13 UNTS 41,135, Art. 1, Abs. 2; UNTS 42, 3, Art. 2. 14 Wortlaut in Übersetzungen bei Whiteman, Digest of International Law, Bd. 3, 1964, S. 138 f. und S.145 f.

110

J oehen A. Frowein

Schiedssprüche enthalten. Im Waffenstillstandsabkommen mit Rumänien war in § 19 festgelegt worden, daß die alliierten Regierungen den Schiedsspruch bezüglich Transsylvaniens als null und nichtig betrachten und einig darüber seien, daß Transsylvanien unter dem Vorbehalt der Bestätigung bei Friedensabschluß an Rumänien zurückgegeben werden solle (should be returned)15. Im Waffenstillstand mit Ungarn heißt es in § 19: "The Vienna Arbitration Award of November 2, 1938 and the Vienna Award of August 30, 1940 are hereby declared to be null and void I6 ." § 2 verpflichtet Ungarn, alle gesetzgeberischen und Verwaltungsmaßnahmen bezüglich der Eingliederung des Territoriums aufzuheben (to repeal). In den Friedensverträgen wurden die Fragen dann endgültig geregelt. Art. 2 des rumänischen Friedensvertrages lautet: "The decisions of the Vienna Award of August 30, 1940, are declared null and void. The frontier between Roumania and Hungary as it existed on January 1, 1938, is hereby restored I7 ." Wörtlich übereinstimmend ist Art. 1 Abs. 2 des ungarischen Friedensvertrages gefaßt l8 • Art. 1 Abs. 4 legt mit denselben Formulierungen die Nichtigkeit des Schiedsspruches vom 2. 11. 1938 fest. Auch hier heißt es, daß die alte Grenze hierdurch wiederhergestellt wird ("is hereby restored - est retablie par la presente disposition"). Vergleicht man die Formulierungen der Waffenstillstandsabkommen und der Friedensverträge, so wird deutlich, daß zwischen der Nichtigerklärung des völkerrechtlichen Titels, auf dem die Grenzveränderungen beruhten, und der Wirkung auf die territoriale Situation ein Unterschied gemacht wird. Während die Nichtigerklärung der Schiedssprüche auf Grund der ihnen anhaftenden Mängel den völkerrechtlichen Titel für den Souveränitätswechsel an sich rückwirkend beseitigt, wird die Wiederherstellung der alten Grenze ausdrücklich ex nunc ("hereby" - "par la presente disposition") festgelegt. Man geht also davon aus, daß die Nichtigerklärung keine unmittelbare Wirkung für die Zugehörigkeit der fraglichen Gebiete in der Zeit bis zu dem Abschluß der Friedensverträge hatte. Diese Interpretation wird durch die in Art. 25 des ungarischen Friedensvertrages enthaltene Regelung bestätigt1 9 • Danach wird die Nichtigerklärung des Wiener Schiedsspruches vom 2. 11. 1938 auf bestimmte, dort im einzelnen genannte Rechtsakte erstreckt. Die Formulierung "The annulment ... shall entail the annulment of the agreements ... ", "L'annu15 Waffenstillstand mit Rumänien, U.S. EAS 490; 59 Stat. 1712; § 19 abgedruckt bei Whiteman, Digest of International Law, Bd. 3, 1964, S. 141. 16 Waffenstillstand mit Ungarn UNTS 140,397,408,414; insoweit abgedruckt bei Whiteman, a.a.O., S. 148. 17 UNTS 42, 3, 36. 18 UNTS 41, 135, 170. 19 a.a.O., S. 188 f.

Nichtigkeit von Verträgen im Völkerrecht

111

lation ... entrainera de plein droit l'annulation des accords ... " zeigt, daß dieser Bestimmung konstitutive Wirkung beigemessen wurde und es sich nicht um eine selbstverständliche Folge handelt. Das ergibt auch die dort ausgesprochene Unanwendbarkeit der Nichtigerklärung auf die Beziehungen zwischen natürlichen Personen: "This annulment shall not apply in any way to relations between physical persons." - "Cette annulation ne s'appliquera en aucune fa!;on aux relations entre personnes physiques." Die Nichtigkeit hat damit vor allem für die auf Grund der Territorrialveränderung vorgenommenen übertragungen öffentlichen Vermögens Bedeutung. Die der Rechtssicherheit wegen ausdrücklich betonte und sehr bedeutsame Aufrechterhaltung aller Rechtsbeziehungen zwischen natürlichen Personen erscheint beispielhaft. Art. 25 sieht in seinem letzten Satz vor, daß die Einzelheiten der Wirkungen der Nichtigerklärung in zweiseitigen Abkommen zwischen Ungarn und der Tschechoslowakei geklärt werden sollen. Diese Abkommen sind offenbar nicht beim Generalsekretär der Vereinten Nationen registriert worden. Die Tatsache, daß die Einzelheiten für regelungsbedürftig gehalten wurden, zeigt aber auch, daß insoweit von einer automatischen Wirkung der Nichtigerklärung nicht ausgegangen wurde. Eine dem Art. 25 entsprechende Vorschrift fehlt für den Schiedsspruch vom 30. 8. 1940 gegenüber Ungarn und Rumänien. Offenbar liegt der Grund dafür darin, daß bei Rumänien nicht dieselbe Notwendigkeit empfunden wurde, bestimmte Folgen des Schiedsspruches zu tilgen, weil das Land, wie die Präambel zum rumänischen Friedensvertrag ausführt, seinen Teil der Verantwortung für den Krieg trägt. Das zeigt aber ebenfalls, daß die Nichtigerklärung des Schiedsspruches vom 30. 8. 1940 für die während der Zwischenzeit gesetzten Rechtsakte keine automatische Wirkung entfaltet. Weitere Bestimmungen des ungarischen Friedensvertrages machen deutlich, daß die Rechtswirkungen der Ausübung ungarischer Staatsgewalt in den fraglichen Territorien nicht mit der Nichtigerklärung wegfallen. Art. 26 Abs. 3 und 5 schließt die nach den Schiedssprüchen zu Ungarn gekommenen Gebiete ausdrücklich ein, soweit es um Restitutionsmaßnahmen zugunsten von in Ungarn Verfolgten geht 20 • Die Formulierungen sind dabei unterschiedlich. Während für die von der Tschechoslowakei abgetrennten Gebiete von "Czechoslovak territory annexed by Hungary" (Art. 26 Abs. 3 Unterabsatz 2) die Rede ist, lautet der entsprechende Passus für Rumänien: "when this territory was subject to Hungarian authority" - "pendant la periode ou ce territoire etait soumis a la domination hongroise" (Art. 26 Abs. 5). In diesen Absätzen wird übereinstimmend von der Ausübung ungarischer Hoheitsgewalt in dem 20

a.a.O., S. 190 - 192.

112

Jochen A. Frowein

fraglichen Territorium ausgegangen, wobei die Formulierung gegenüber Rumänien im Hinblick auf seine Stellung im Kriege noch eindeutiger auf die Wirksamkeit der Ausübung dieser Hoheitsgewalt hinweist. Dem entspricht die Behandlung der Frage im internen Recht Rumäniens, das die in der Zwischenphase vorgenommenen Rechtsakte und erworbenen Rechte unberührt läßt, soweit sie nicht der rumänischen Ordnung widersprechen21 • Insgesamt erweist die Nichtigerklärung der Wiener Schiedssprüche, daß bei Verträgen, die die Grundlage von Territorialveränderungen sind, eine Nichtigerklärung nicht automatisch die rückwirkende Aufhebung aller auf der Grundlage der Territorialveränderungen vorgenommenen Rechtsakte zur Folge hat. Vielmehr zeigt gerade das Beispiel des zweiten Schiedsspruches gegenüber Rumänien, daß die Nichtigerklärung ohne besondere Vereinbarungen keine Folgen für die Vergangenheit hat. Außerdem erscheint es wichtig, daß dort, wo eine gewisse Rückwirkung angeordnet wurde, wie für den ersten Schiedsspruch, diese klar begrenzt worden ist. Fragt man, welches die Bewertung der Zwischenphase nach Absicht der Parteien der Friedensverträge ist, so wird man sie als die einer faktischen Eingliederung der Gebiete in das ungarische Territorium ansehen können, die Rechtswirkungen entfaltet. c) Ein weiteres Beispiel für die Nichtigerklärung eines Grenzänderungsvertrages findet sich in dem Abkommen zwischen Frankreich und Siam (Thailand) vom 17. 11. 1946 und dem dazugehörigen Briefwechsel22 • Art. 1 lautet: "La convention de Tokyo du 9 mai 1941, precedemment repudiee par le Gouvernement fran!;ais, est annulee, et le statu quo anterieur a cette convention est retabli. En consequence, les territoires indochinais objets de cette convention seront transferes aux autorites fran!;aises dans les conditions indiquees au protocole conclu a cet effet." Durch einen Briefwechsel von demselben Tage ist festgelegt, daß die 21 Entscheidend ist hierfür das Gesetz Nr. 260 vom 4.4. 1945 (mit deutscher übersetzung in Jahrbuch für internationales Recht 9 (1959/60), S. 251 - 263). Gemäß Art. 1 dehnt sich die rumänische Gesetzgebung auf die Gebiete aus, offenbar mit Inkrafttreten des Gesetzes. Gemäß Art. 2 bleiben Rechtshandlungen und erworbene Rechte, die in übereinstimmung mit den von der Besatzungsmacht in Kraft gesetzten Gesetzen vorgenommen und begründet worden sind, unberührt, soweit sie nicht der rumänischen öffentlichen Ordnung widersprechen. Nur Rechtshandlungen und erworbene Rechte auf Grund diskriminierender Vorschriften sind gemäß Art. 3 ohne jede rechtliche Wirkung. Es erscheint nach diesen Bestimmungen eindeutig, daß nur bestimmte, besonders anrüchige Gesetzgebungsakte als von Anfang an nichtig qualifiziert wurden, im übrigen aber von der Geltung des ungarischen Rechts in der Zwischenphase ausgegangen wird (vgl. auch G. Geilke, Rechtsprobleme Nordsiebenbürgens im Lichte des rumänischen Gesetzes Nr. 260 vom 4. April 1945, JIR 9 (1959/60), S. 240, 245; und Baade, a.a.O. (Anm. 8), S. 510). 22 UNTS 344, 59; Journal Officiel de la Republique Fran~aise vom 15.3.1947, S. 2418 f. Hinweis ohne Fundstelle bei Cavare, a.a.O., Anm. 5, S. 87.

Nichtigkeit von Verträgen im Völkerrecht

113

Bewohner der Gebiete, die auf Grund des für nichtig erklärten Vertrages die thailändische Staatsangehörigkeit erworben haben, ihre alte Staatsangehörigkeit zurückerhalten ("seront reintegres de plein droit dans leur nationalite anterieure des que le transfert des territoires susmentionnes aura ete effeetue"). Die Formulierungen dieses Abkommens zeigen ziemlich eindeutig, daß der Vertrag, der die Grundlage der Territorialveränderung bildete, für nichtig erklärt wird, die Folgen, nämlich der übergang des Territoriums während der Zwischenzeit einschließlich des Staatsangehörigkeitswechsels der Bewohner, jedoch nicht in Frage gestellt werden 23 • Damit tritt eine Beschränkung der Wirkungen der Nichtigkeit auf die Zukunft ein (ex nune). Das wird durch den Gebrauch des Terminus "annulee" sicher unterstrichen. Freilich sollte der Vergleich zwischen der Nichtigerklärung der Wiener Schiedssprüche und diesem Vertrag - einmal "declarees nulles et non avenues", zum anderen "annulee" - zur Vorsicht vor einer überbewertung dieser Formulierungen mahnen, da in bei den Fällen durch die Regelungen eine Berücksichtigung der zwischenzeitlich eingetretenen Wirkungen möglich bleibt. Vergleicht man die Qualifizierung der Zwischenphase in den beiden Fällen, so scheint der französisch-thailändische Vertrag an der Zugehörigkeit des Territoriums in dieser Zeit nichts ändern zu wollen. Er beseitigt vielmehr nur den Titel für die übertragung des Territoriums mit der Konsequenz, daß eine Rückübertragung erfolgen muß. Das geht über die Konstruktion einer faktischen Eingliederung wie nach den Friedensverträgen noch hinaus. d) Eine auf ganz anderem Gebiet liegende Nichtigerklärung eines Vertrages findet sich ebenfalls im ungarischen Friedensvertrag und entsprechend im italienischen Friedensvertrag und im österreichischen Staatsvertrag. Nach Art. 26 Abs. 10 des ungarischen Friedensvertrages erkennt die ungarische Regierung an, daß der Vertrag von Brioni vom 10. 8. 1942 null und nichtig ist ("is null and void" - "est nul et non avenu"). Gleichlautend ist die Bestimmung in Anhang XIV Abs. 15 des italienischen Friedensvertrages24 und Art. 25 Abs. 10 des österreichischen Staatsvertrages 25 • Der hier für nichtig erklärte Vertrag von Brioni, der während der deutsch-italienischen Herrschaft über den Balkan abgeschlossen worden war, regelte das Schicksal der Obligationen der DonauSave-Adria Eisenbahn-Gesellschaft, die schon in den Vorort-Friedensverträgen mit den Nachfolgern Österreich-Ungarns Verhandlungs gegen23 Dafür, daß die "reintegration" im französischen Staatsangehörigkeitsrecht keine Rückwirkung hat, H. Batiffol, Droit international prive, 1970, S. 137. 24 UNTS 41,196; 49, 3, 118. 25 UNTS 217, 295: "Die österreichische Regierung anerkennt, daß das Abkommen von Brioni vom 10. 8.1942 null und nichtig ist."

8 Festschrift für Ulrich Scheuner

114

Jochen A. Frowein

stand gewesen war 26 • Für die Folgen der Nichtigkeit des Vertrages ist die durch ein übereinkommen vom 8. 12. 1962 getroffene Regelung zur Ausführung der obengenannten Nichtigkeitserklärungen wichtig27 • In diesem übereinkommen, dessen Parteien Österreich, Ungarn, Italien, Jugoslawien und die Donau-Save-Adria Eisenbahn-Gesellschaft sind, findet sich in Art. 2 Abs. 3 eine Bezugnahme auf die Nichtigerklärung. Es heißt dort, die von Deutschland auf Grund des Abkommens von Brioni übergebenen und die von Italien abgetretenen Obligationen, die für nichtig erklärt seien ("etant annulees"), würden nicht bedient28 . Außerdem enthält das zu dem übereinkommen gehörende " Protokoll, betreffend das Angebot Österreichs zur Regelung seiner Schuld"29 in Abs. I Nr. 3 eine Bezugnahme auf das Abkommen von Brioni. Der Absatz lautet wörtlich: "Le Gouvernement autrichien confirme qu'il renonce a tous droits sur les ... obligations remis es par l'Allemangne, a la suite de l'Accord de Brioni. Cette renonciation est liee a celle de l'ltalie sur les ... obligations acquises par le Tresor italien sous le regime de Brioni." Diese Regelung zeigt, daß die Wirkung der Nichtigerklärung hier auf gemäß dem Vertrag von Brioni vorgenommene Rechtsakte bezogen wurde. Gleichzeitig deutet insbesondere die letzte Bestimmung daraufhin, daß bei der Einigung über die Wirkung ein gewisses Ermessen der Parteien bestand, da sonst die in der Bestätigung des österreichischen Verzichtes liegende Koppelung mit dem italienischen nicht möglich gewesen wäre. e) Als ein weiteres Beispiel für die Nichtigerklärung völkerrechtlicher Verträge und die Regelung der Folgen sei Art. 31 des italienischen Friedensvertrages erwähnt30 • Danach erkennt Italien die Nichtigkeit aller Verträge und "arrangements" zwischen ihm und den von Italien in Albanien eingesetzten Behörden zwischen dem 7. 4. 1939 und dem 3. 9. 1943 an. Diese auf den Puppencharakter des Regimes zurückgehende Regelung findet in Art. 30 eine bedeutsame Einschränkung, soweit italienische Staatsangehörige betroffen sind. Danach erkennt Italien die Annulierung oder Veränderung von Konzessionen oder Rechten an, soweit sie ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrages erfolgt. Diese der Rechtssicherheit dienende Einschränkung muß wohl 28 Vertrag in RGBl. 1943 II, S. 206; vgl. zu der Geschichte dieser Bahn W. Haustein, Das internationale öffentliche Eisenbahnrecht, 1953, S. 224 ff. 27 UNTS 510, 235; Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich vom 29.7. 1964, S. 1129 ff.

28 Die österreichische Übersetzung lautet einfach "welche nichtig sind". Authentisch ist aber allein der französische Text, wie die Schlußformel besagt. 29 UNTS 510, 256; Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich vom 29.7.

1964, S. 1144 ff. 30 UNTS 49, 3, 20.

Nichtigkeit von Verträgen im Völkerrecht

115

auch auf Konzessionen und Rechte bezogen werden, die auf der Grundlage von Verträgen, die nach Art. 31 nichtig sind, erworben wurden. Das zeigt wiederum, daß die Nichtigkeit eines Vertrages nicht automatisch zur Nichtigkeit der auf seiner Grundlage gesetzten Rechtsakte führt. Vielmehr konnten diese Rechtsakte in diesem Fall theoretisch sogar für die Zukunft aufrechterhalten werden, wenn Albanien die Nichtigerklärung unterlassen hätte 31 • f) Nach langen Diskussionen und Verhandlungen liegt nunmehr der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSSR vor, in dem das Problem des Münchener Abkommens geregelt wird 31a • Gemäß der Präambel erkennen die Parteien an, daß das Münchener Abkommen der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Regime unter Androhung von Gewalt aufgezwungen wurde. In Artikel I heißt es dann, die Parteien betrachteten das Münchener Abkommen im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig. Dabei fällt auf, daß der Nichtigkeitserklärung eine doppelte Beschränkung beigegeben ist. Einmal gilt sie nur für die gegenseitigen Beziehungen der Parteien, zum anderen wird sie an die konkreten Regelungen des Vertrages gebunden (nach Maßgabe). Damit wird jede Argumentation aus einem abstrakten Nichtigkeitsbegriff ausgeschlossen. Artikel 11 hält die Rechtswirkungen des während der Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich angewendeten Rechts für natürliche und juristü:che Personen aufrecht, soweit es nicht um Maßnahmen geht, die beide Parteien wegen ihrer Unvereinbarkeit mit den fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit als nichtig betrachten. Hier bedarf es also einer übereinstimmenden Entscheidung der Parteien. Außerdem wird geklärt, daß der Vertrag auf der Grundlage der Eingliederung entstandene Staatsangehörigkeitsverhältnisse unberührt läßt und keine Rechtsgrundlage für irgendwelche materiellen Ersatzansprüche darstellt. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der CSSR reiht sich in die Beispiele ein und bestätigt das Prinzip einer klaren Trennung zwischen der Nichtigkeit des Vertrages und der auf seiner Grundlage gesetzten Rechtsakte. 3. Bewertung der Staatspraxis zur Nichtigerklärung von Verträgen Mustert man die freilich spärliche Praxis, so drängt sich der Schluß auf, daß Verallgemeinerungen über die Wirkung der Nichtigkeit völkerrechtlicher Verträge problematisch sind. Auch wenn Verträge für nichtig 31

Es erscheint allerdings undenkbar, daß das geschehen ist. Zu Art. 31

Guggenheim, a.a.O. (Anm. 8), S. 248 f. 31a



Bulletin der Bundesregierung vom 21. 6.1973, Nr. 76, S. 757.

Jochen A. Frowein

116

erklärt werden, so heißt das nicht, daß auf ihrer Grundlage gesetzte Rechtsakte hinfällig werden 32 • Das ist in Art. 69 Abs. 2 b der Wiener Vertragsrechts konvention, auf den noch zurückzukommen ist, durchaus in übereinstimmung mit der bisherigen Praxis festgelegt worden. Man wird im Gegenteil eher eine Vermutung für deren Aufrechterhaltung der Praxis entnehmen können. Insbesondere bei Grenzänderungsverträgen erscheint die Aufrechterhaltung der in Ausübung der faktisch durchgesetzten Gebietshoheit gesetzten Akte auch dann naheliegend, wenn der Vertrag später für nichtig erklärt wird 33 • Diese Tendenz findet ihre Rechtfertigung nicht nur in dem allgemeinen Gebot der Rechtssicherheit und Berücksichtigung der Effektivität im Völkerrecht34 • Vielmehr ist hier, wo eine Vielzahl von Menschen, seien sie Angehörige der Vertragsparteien oder dritter Staaten, die faktisch ausgeübte Gebietshoheit beachten mußten, in besonderem Maße Rücksichtnahme auf diese Individuen im Völkerrecht geboten 35 • Das kommt in den erörterten Vertrags regelungen auch deutlich zum Ausdruck. Diese Auffassung entspricht der stärkeren Berücksichtigung des einzelnen Menschen im Völkerrecht, wie sie der Adressat dieser Zeilen so einprägsam hervorgehoben hat36 • Sie kann sich neuerdings auch auf den Internationalen Gerichtshof stützen, der in dem Namibia-Gutachten eine entsprechende Rechtsfrage zu beurteilen hatte, nachdem er den Widerruf des Mandates über Südwest-Afrika für wirksam gehalten hatte. Der Gerichtshof stellte nicht nur die "illegality", sondern auch die "invalidity" der fortdauernden Anwesenheit der südafrikanischen Verwaltung in dem betreffenden Gebiet fest 37 • Er leitete aus dem wirksamen Widerruf des Mandates eine Pflicht zur Nichtanerkennung für die Mitgliedstaaten ab 38 • Die Ungültigkeit von Rechtsakten und die Pflicht zur Nichtanerkennung schränkte er aber auf Grund einer Erwägung zugunsten der Bevölkerung wesentlich ein: "125. In general, the nonrecognition of South-Africa's administration of the Territory should not result in depriving the people of Namibia of any advantages derived from international co-operation. In particular, while official acts performed by the Government of South-Africa on behalf of or concerning Namibia after the termination of the Mandate are illegal and invalid, this invalidity cannot be extended to those acts, such as, for instance, 32

Ebenso Jennings, a.a.O. (Anm. 8), S. 77; Guggenheim, a.a.O. (Anm. 8),

S. 262 f.

Jennings, a.a.O., S. 77 f.; Guggenheim, a.a.O., S. 258 ff. Jennings, a.a.O., S. 73. 35 Jennings, a.a.O., S. 77. 36 U. Scheuner, 50 Jahre Völkerrecht, Jahrbuch für internationales Recht 12 (1965), S. 11, 14 ff. 37 LC.J. Reports 1971, S. 54, Nr. 118. 38 a.a.O., S. 54, Nr. 119. 33 34

Nichtigkeit von Verträgen im Völkerrecht

117

the registration of births, deaths and marriages, the effects of which can be ignored only to the detriment ofthe inhabitants ofthe Territory 39." Zu beachten ist hier vor allem, daß die zunächst spärlich klingende Aufzählung nur Beispielscharakter hat und das zu ihrer Begründung dienende allgemeine Prinzip, soll es nicht durchlöchert werden, die Aufrechterhaltung privater Rechtspositionen in größerem Umfang verlangt40 • Auf der Grundlage dieses Ergebnisses bedarf die Wiener Vertragsrechtskonvention der Interpretation hinsichtlich ihrer Regelungen der Folgen nichtiger Verträge. 4. Die Folgen der Nichtigkeit von Verträgen nach der Wiener Vertragsrechtskonvention Art. 69 der Vertragsrechtskonvention, der sich mit den Folgen der Nichtigkeit oder Ungültigkeit befaßt, war Gegenstand verschiedener Änderungen41 • Wichtigstes Ergebnis der Änderungen ist die Klarstellung, daß sich die Aussage nur auf Verträge bezieht, deren Ungültigkeit nach der Vertragrechtskonvention festgestellt ist, für die also das Verfahren der Art. 65 ff. zu diesem Ergebnis geführt hat42 • Die Konvention unterscheidet bei den einzelnen Fehlern zwischen solchen, die ein Staat geltend machen kann und die dann seine Willenserklärung ungültig machen, und solchen, die immer zur Nichtigkeit des Vertrages führen 43 , aber gleichfalls im Verfahren nach Art. 65 ff. festa.a.O., S. 56, Nr. 125. Zu der aus der Rechtsprechung vieler Staaten bekannten Praxis der Ignorierung von Staatsakten nichtanerkannter Staaten oder Regierungen und ihrer Grenzen aus dem Gesichtspunkt des Schutzes der Bevölkerung, J. A. Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1968, S. 188 ff. 41 Für die letzte Phase UN Conference on the Law of Treaties, Official Records, Documents of the Conference, A/CONF. 39/11/Add. 2, S. 195 f. 42 S. Verosta, Die Vertragsrechtskonferenz der Vereinten Nationen 1968/69 und die Wiener Konvention über das Recht der Verträge, ZaöRV 29 (1969), S. 654, 690; C.-A. Fleischhauer, Die Wiener Vertragsrechtskonferenz, Jahrbuch für internationales Recht 15 (1971), S. 202, 229 - 31; R. D. Kearney and R. E. Dalton, The Treaty on Treaties, AJIL 64 (1970), S. 495, 555. Allerdings verhinderte Ghana durch einen mit 48 gegen 31 bei 8 Enthaltungen angenommenen Antrag, daß ein ausdrücklicher Verweis auf den jetzigen Art. 65 erfolgte, Documents (wie Anm. 41), S. 196. Für die Auffassung der USA vgl. jetzt Message from the President, Senate Executive L (92nd Congress, 1 st Session) of November 22, 1971, International Legal Materials XI (1972), S. 234, 236 f. 43 Vgl. Art. 46, 47, 48, 49, 50 einerseits, und 51, 52, 53 andererseits. Vgl. dazu auch IGH vom 2. 2. 1973 Fisheries Jurisdiction Ca se (Federal Republic of Germany v. Iceland) Jurisdiction of the Court, Nr. 24: "There can be littIe doubt, as is implied in the Charter of the United Nations and recognized in Article 52 of the Vienna Convention on the Law of Treaties, that under contemporary international law an agreement concluded under the threat or use of force is void." 39 40

118

Jochen A. Frowein

gestellt werden müssen. Das entspricht der Unterscheidung von Vernichtbarkeit und Nichtigkeit im Privatrecht. Art. 69 zeigt aber, daß in beiden Fällen die Feststellung der Ungültigkeit der Erklärung oder des Nichtigkeitsgrundes die Nichtigkeit des Vertrages von Anfang an zur Folge hat44 • Das wird mit den Sätzen ausgedrückt: "A treaty the invalidity of which is established under the present Convention is void. The provisions of a void treaty have no legal force." Die Abs. 2 und 3 behandeln die Folgen der Nichtigkeit, falls der Vertrag vollzogen worden ist. Ihnen muß besondere Aufmerksamkeit gelten. Abs. 2 a legt das Grundprinzip fest, wonach im Fall der Nichtigkeit jede Partei von der anderen in ihren gegenseitigen Beziehungen, soweit es mi)glich ist, die Wiederherstellung des status quo verlangen kann45 • Es war nicht unumstritten, insbesondere die USA hatten sich dagegen ausgesprochen46 • Ihr Antrag auf Streichung wurde jedoch mit geringer Mehrheit abgelehnt47 • Die Verpflichtung zur Wiederherstellung des status quo ist durch zwei in ihrer Bedeutung nicht klare Einschränkungen qualifiziert. Einmal besteht die Pflicht "in their mutual relations", zum anderen "as far as possible". Die Betonung der gegenseitigen Beziehungen in diesem Fall wird man als Rücksichtnahme auf dritte Beteiligte zu verstehen haben. Vor allem Drittstaaten dürfen durch die Wiederherstellung des status quo nicht beeinträchtigt werden. Es erscheint aber auch möglich und sehr wünschenswert, daß man die betonte Rücksichtnahme auf Individuen und deren Rechtsverhältnisse bereits hier verankert sieht. Ganz besonders muß das gelten, wenn die Einschränkung "soweit wie möglich" interpretiert wird48 • Gerade hier sollte die Notwendigkeit einer Beachtung des Prinzips der Rechtssicherheit unterstrichen werden. U Das zeigt schon der Kommentar der International Law Commission zu ihrpm Art. fl5, Yearbook der ILC 1966 rr S. 264 f. Fleischhauer, a.a.O. (Anm. 42), S. 231; F. Capotorti, L'extinction et la suspension des traites, RC 1971 Irr, S. 415, 457 f. Interessant ist, daß Sir Humphrey Waldock als Berichterstatter zunächst von einer anderen Vorstellung ausging, wie er in der Sitzung vom 6.5. 1966 darlegte. Er meinte, in der Kommission habe sich der kontinentale Grundsatz durchgesetzt, daß die Ausübung des Anfechtungsrechts zur Nichtigkeit ex tunc führe. Yearbook of the International Law Commission 1966 I Part H, S. 14 f. Nr. 48. Zu den Nichtigkeitsbestimmungen der Konvention P. Cahier, a.a.O. (Anm. 8), und R. P. Dhokalia, Nullity or Invalidity of Treaties, Indian Journal of International Law 9 (1969), S. 177 ff., der allerdings die letzten Änderungen auf der Konferenz noch nicht berücksichtigen konnte. 4S Abs. 2 a überläßt es den Parteien, die Wiederherstellung des status quo zu fordern, legt also keine Automatik fest. Anderes gilt gemäß Art. 71 nur bei Verstößen gegen zwingendes Völkerrecht. 46 A/CONF. 39/C. I1L. 360. Dazu Kearney und Dalton, a.a.O. (Anm. 42), S. 556 und Elias, a.a.O. (Anm. 8), S. 405 f. 47 39 gegen 28 Stimmen bei 20 Enthaltungen, Documents (Anm. 41), S. 196. 48 Daß die Einschränkung "as far as possible" in der International Law Commission gerade als Bezugnahme auf unter dem Vertrag erworbene Rechte verstanden wurde, zeigte die Diskussion deutlich. Yearbook of the International Law Comrnission 1963 I, S. 229 - 232.

Nichtigkeit von Verträgen im Völkerrecht

119

Was sie im einzelnen bedeutet, kann nur im konkreten Fall dargetan werden. Dafür können die oben analysierten Beispielsfälle wichtige Anhaltspunkte liefern49 • Art. 69 Abs. 2 b bringt dann die KlarsteIlung, daß im guten Glauben auf der Grundlage des Vertrages gesetzte Rechtsakte nicht allein durch die Feststellung der Ungültigkeit rechtswidrig werden. Das Verhältnis dieser Aussage zu der in Abs. 2 a ist alles andere als klar. Es spricht aber einiges dafür, daß Abs. 2 b für solche Akte gedacht ist, die mit ihrer Vornahme abgeschlossen sind und für die eine Rückgängigmachung nach Abs. 2 a nicht in Frage kommt, sondern allein Ersatzansprüche möglich wären50 • Sie werden damit ausgeschlossen. Offen bleibt, wann guter Glaube in diesem Sinne vorliegt und wie das Verhältnis zu Abs. 3 zu bestimmen ist. Gerade aus der Sonderregelung des Abs. 3 zu Ungunsten des rechtswidrig handelnden Staates sollte aber entnommen werden, daß der gute Glaube in Abs. 2 b sich nur auf die Gültigkeit des Vertrages, nicht auf die Kenntnis der Mängel, bezieht. Auch bei Kenntnis der Mängel, die bei allen oben analysierten Verträgen vorlag, sollte guter Glauben dann angenommen werden, wenn der den Akt vornehmende Staat unter den gegebenen Umständen von der Gültigkeit des Vertrages ausgehen konnte. Wohl die schwierigste Frage der Interpretation in diesem Zusammenhang wirft Abs. 3 des Art. 69 auf. Danach sollen die Einschränkungen der Nichtigkeitswirkung in Abs. 2 nicht für die Partei gelten, der Arglist, Korruption oder Zwang als Nichtigkeitsgrund zuzurechnen ist. Der Absatz ist in seiner gegenwärtigen Fassung weder in der International Law Commission noch im 6. Komitee der Generalversammlung eingehender diskutiert worden 51 • Seine Problematik wurde erst auf der Konferenz erkannt, was dazu führte, daß die Vereinigten Staaten und die Schweiz die ersatzlose Streichung beantragten52 • Beide Anträge wurden mit 46 gegen 24 Stimmen bei 17 Enthaltungen im Committee of the Whole abgelehnt53 • Eine Interpretation des Abs. 3 muß bei dem Ausschluß eines Anspruches auf Wiederherstellung des status quo für die Partei, der das fragliche Verhalten zuzurechnen ist, einsetzen. Das Prinzip erscheint an sich einleuchtend, daß der etwa arglistig handelnde Staat sich später nicht Vgl. oben S. 109 ff. Das zeigt der Kommentar der International Law Commission deutlich, Yearbook of the ILC, 1966 II, S. 264 f. 51 Sehr typisch ist der Kommentar der International Law Commission, wonach Abs. 3 "for obvious reasons" die vorwerfbar handelnde Partei von den Vergünstigungen ausschließe. Yearbook of the ILC 1966 II, S. 265. 52 A/CONF. 39/C. lIL. 358 und A/CONF. 39/C. lIL. 360; dazu auch Kearney und Dalton, a.a.O. (Anm. 42), S. 556. 53 Documents (wie Anm. 41), S. 196. 49

so

120

Jochen A. Frowein

unter Berufung darauf über die Folgen hinwegsetzen kann. Vielmehr soll es Sache der getäuschten Partei sein, zu entscheiden, ob der status quo wiederherzustellen ist. Unklar ist aber, ob der Ausschluß auch dann gilt, wenn die getäuschte Partei ihrerseits von der Möglichkeit Gebrauch macht. Wäre das der Fall, so könnte die getäuschte Partei etwa das ihr auf Grund des Vertrages übertragene Territorium behalten, während sie das von ihr abgetretene zurückverlangen könnte. Das wäre ein nicht zu rechtfertigender Verstoß gegen das Prinzip der Gegenseitigkeit im Völkerrecht. Es spricht auch nichts dafür, daß eine solche Lösung wirklich angestrebt wurde. Vielmehr wird der Zweck des Schutzes der getäuschten Partei damit erreicht, daß es ihr freisteht, ob sie die Wiederherstellung des status quo verlangen will oder nicht. Eine weitere Unklarheit folgt aus der Nichtanwendbarkeit des Art. 69 Abs. 2 b in den fraglichen Fällen. Da dieser Absatz negativ ge faßt ist, muß seine Nichtanwendung konsequenterweise dazu führen, daß alle auf der Grundlage des Vertrages gesetzten Akte mit der Nichtigerklärung rechtswidrig werden. Es ist allerdings damit nicht gesagt, daß sie auch ungültig werden, aber es ist vorstellbar, daß dieser Schluß nicht selten gezogen wird. Es fragt sich, ob eine wesentliche Einschränkung des Ausschlusses von Art. 69 Abs. 2 b gegenüber der arglistig oder entsprechend handelnden Partei nicht aus der Formulierung "with respect to the party ... xai &.Al]{}E'L 1tQOIJx\Jvw (im Gegensatz zum Kaiser); andererseits: EUlw; (se. EYoo) on ö ßaIJLAEU~ U1t' Ulhoii yeyovEv. Die Frage, ob auch eine anti-

464

PaulMikat

13, 166 vertreten wird, steht in einer breiten Tradition: Für die Mächtigen der Erde zu beten, hielt nicht erst das Christentum für richtig. Diese Auffassung war in Assyrien, Babylonien, Ägypten und Rom selbstverständlich67 • Nur im Judentum wurde dieser Brauch dann schwierig, wenn er nicht der bereits aus der Königszeit überkommenen Sitte, für den von Jahwe gesetzten Herrscher zu beten, entsprach68 • Auf diesem Hintergrund erhebt sich die Frage: Bedeutet das Gebet des 1. Clemensbriefes für die Obrigkeit - und zwar die nichtchristliche -, daß ihrer Macht und ihrer möglichen Willkür keine Grenzen gesetzt sind?69. Diese Frage stellt sich nicht nur für den 1. Clemensbrief, sondern auch für die genannte Stelle des Römerbriefes. "Man hat natürlich oft gefragt, wo denn für Paulus nun die Grenze für den Gehorsam gegenüber den politischen Mächten liegt." Zwar nimmt Paulus dazu nicht Stellung, "aber es ist trotzdem klar, daß es auch für den Apostel eine Grenze des Gehorsams gibt" 70. W. Schneemelcher kommt schließlich zu folgendem Ergebnis der Interpretation: "Der Christ hat in dieser, von Gott ihm zugewiesenen Welt, seine Freiheit zu bewahren, und zwar im Dienst. Es ist keine Frage, daß damit auch unterschiedlichen Entscheidungen im konkreten Einzelfall Raum gegeben ist71 ." Doch viel deutlicher als im Römerbrief kommt im 1. Clemensbrief eine Einschränkung der obrigkeitlichen Herrschaft zum Ausdruck. Auch der Machthaber untersteht GotF2 und ist zur Gerechtigkeit verpflichtet. christliche Obrigkeit von Gott stammen könne, wirft ausdrücklich z. B.

Origenes, Römerbriefkommentar 9, 26 (zitiert nach H. Rahner, Kirche und

Staat, S. 58) auf: "Et illa potestas quae servos dei persequitur, fidem impugnat, religionem subvertit, a Deo est?" Diese Frage stellte Paulus noch nicht, vgl. Schmidt, Der Brief des Paulus an die Römer, S. 219. 66 Oil yaQ Eonv e;otlola EL fLTt uno 'frEoii. Zu e;otlola vgl. W. Foerster, Art. e;otlola, in G. Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. II, S. 559 - 571; Schmidt, Der Brief des Paulus an die Römer, S. 220: "Das Wort ,Obrigkeit' ... scheint am besten wiederzugeben, was Paulus hier meint." 67 Vgl. Biehl, Das liturgische Gebet für Kaiser und Reich, S. 21 - 25 (s. Anm.28). 68 Zum täglichen Tempelopfer für die heidnische Obrigkeit vgl. z. B. Schürer, Geschichte II, S. 360 ff.: Die Kosten bestritt der römische Fiskus; das Aufhören dieser Opfer hing mit dem großen Aufstand zusammen, der zum Untergang des Tempels führen sollte. 69 Die Interpretation Eggenbergers, Ethik, S. 23, ließe beinahe diese Annahme zu. 70 W. Schneemelcher, Kirche und Staat im Neuen Testament, in: Kirche und Staat (Festschrift für H. Kunst), Berlin 1967, S. 15. 71 Schneemelcher, Kirche und Staat, S. 16. 72 Dazu vgl. z. B. Ziegler, Studien, S. 40 f.; seine übersetzung von unQoO)\6TCW~ (1 Clem 61,1) mit "ohne Anstoß" könnte mißverstanden werden,

Zur Fürbitte der Christen im Gebet des 1. Clemensbriefes

465

Es ist nicht nötig, den Gegensatz zwischen historisierender und formgeschichtlicher Interpretation des 1. Clemensbriefes zu stark zu betonen73 : Historische Ereignisse - etwa die Apostelmartyrien wurden in "konventionelle paränetische Motive hellenistischer Herkunft"74 gekleidet. Impliziert diese Feststellung auch für die Apostelmartyrien sowohl die Erforschung der historischen Vorgänge als auch die Analyse der literarischen Form, so gilt für das Gebet, das die Krönung des Briefes darstellt, noch mehr diese doppelte Verpflichtung, beide Fragen zu stellen: einmal diejenige nach den historischen Ereignissen, nämlich der Umwelt, dem "Sitz im Leben", zum anderen Mal diejenige nach der literarischen Form. über die geistige Umwelt, die Staatsloyalität der römischen Gemeinde, wurde bereits gesprochen. Auf die literarische Form des Briefes scheint die der synagogalen Homilie, die ihrerseits wohl häufig von der kynisch-stoischen Diatribe beeinflußt gewesen ist, nicht ohne Einwirkung gewesen zu sein. In diesem Zusammenhang ist der intensive Gebrauch alttestamentlicher Vorstellungen im 1. Clemensbrief zu erwähnen. Die LXX ist seine Hauptquelle 75 ; mehrfach wurden die alttestamentlichen Zitate und Anspielungen gezählt und dabei jeweils "eine ungeheure Zahl"76 im Verhältnis zum Gesamtumfang des Buches ermittelt. Diese alttestamentlich-jüdische Haltung des Verfassers des 1. Clemensbriefes ist auch für das Verständnis seiner Staatsloyalität von großer Bedeutung. In einem großen Teil der zu seiner Zeit populären alttestamentlichen Literatur trat nachdrücklich ein Optimismus gegenüber dem Staat hervor, der in einigen alttestamentlichen Schriften theokratisch verstanden wurde. Staatskritische Äußerungen im Alten Testament sind selten oder wurden vielleicht auch die übersetzung "untadelig" (Fischer, Apost. Väter, S. 103). Ziegler, Studien, S. 40 f., wirft die Frage auf, ob sich ftl]ötv evavnouftEVOUS; . itEÄfIfta'r[