Festschrift für Joachim Lang zum 70. Geburtstag: Gestaltung der Steuerrechtsordnung 9783504380779

Mit diesem Werk ehren namhafte Kollegen und Weggefährten aus Anlass seines 70. Geburtstages Joachim Lang. Im Titel der S

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German Pages 1243 [1233] Year 2010

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Festschrift für Joachim Lang zum 70. Geburtstag: Gestaltung der Steuerrechtsordnung
 9783504380779

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Festschrift für Joachim Lang

FESTSCHRIFT FÜR

JOACHIM LANG ZUM 70. GEBURTSTAG

GESTALTUNG DER STEUERRECHTSORDNUNG herausgegeben von

Klaus Tipke Roman Seer Johanna Hey Joachim Englisch 2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abfrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21 / 9 37 38-01, Fax 02 21 / 9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06217-0 © 2011 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Foto: Dr. Oliver Hartmann Satz: A. Quednau, Haan Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Joachim Lang vollendet am 22. Oktober 2010 sein 70. Lebensjahr. Dies ist den Herausgebern und Autoren dieser Festschrift freudiger Anlass, ihm ein Buch zu überreichen, das die Vielfalt seines wissenschaftlichen Schaffens widerspiegelt und ihn gleichzeitig als Politikratgeber, Lehrer und Mentor würdigt. Im Titel der Schrift „Gestaltung der Steuerrechtsordnung“ kommen zwei prägende Leitlinien des Wirkens von Joachim Lang zum Ausdruck: Das Ringen um die wissenschaftlichen Grundlagen einer Steuergerechtigkeitsordnung verbunden mit unermüdlichem Einsatz in der Steuerreformberatung. Beide Aspekte werden in den Beiträgen dieser Festschrift reflektiert. Dem Einsatz der Autoren ist es zu verdanken, dass Joachim Langs Schaffen in seiner ganzen Breite gewürdigt werden konnte. Die Themen reichen vom Steuerverfassungsrecht und den theoretischen Grundlagen des Steuerrechts über Grundund Reformfragen der einzelnen Steuerarten mit einem Schwerpunkt im Unternehmenssteuerrecht bis hin zum Europäischen und Internationalen Steuerrecht. Um den Umfang der Festschrift nicht ausufern zu lassen, mussten wir den Kreis der Autoren begrenzen. Die Beiträge stammen überwiegend aus der Feder der Kollegen aus den Steuerwissenschaften und der Richterschaft, abgerundet durch einzelne Autoren aus Finanzverwaltung, Beraterschaft und Politik. Sie alle bringen durch ihre Mitwirkung die fachliche und persönliche Wertschätzung des Jubilars zum Ausdruck. Unser besonderer Dank gilt Herrn Dr. Wolfgang Lingemann vom Verlag Dr. Otto Schmidt, der die Schrift in langjähriger Verbundenheit mit Joachim Lang von Verlagsseite aus hervorragend betreut und den Herausgebern die Arbeit beträchtlich erleichtert hat. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter und studentischen Hilfskräfte des Instituts für Steuerrecht der Universität zu Köln haben sorgfältig korrekturgelesen. Frau Dr. Monika Gabel hat die verantwortungsvolle Aufgabe der Erstellung des Stichwortverzeichnisses übernommen. Herr Dr. Rainer Schick und die Kanzlei PNHR Pelka Niemann Hollerbaum Rohde haben durch großzügige finanzielle Unterstützung die Drucklegung ermöglicht. Wir wünschen Joachim Lang weiterhin ungebrochene Schaffenskraft und hoffen auf eine angeregte Diskussion der Beiträge dieser Schrift. Köln, Bochum, Münster im September 2010 Klaus Tipke

Roman Seer

Johanna Hey

Joachim Englisch

V

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Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII

Klaus Tipke / Roman Seer / Johanna Hey / Joachim Englisch Laudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I. Grundlagen der Steuerrechtsordnung 1. Steuertheoretische Grundlagen Klaus Tipke Steuerrecht als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Klaus-Dieter Drüen Über Theorien im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Jörg Manfred Mössner Prinzipien im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Frans Vanistendael Is fiscal justice progressing? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

Johanna Hey Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

2. Steuerverfassungsrecht Joachim Englisch Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Wolfgang Schön „Rückwirkende Klarstellungen“ des Steuergesetzgebers als Verfassungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

Joachim Hennrichs Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung . . . . . . . .

237

Joachim Schulze-Osterloh Das Bundesverfassungsgericht und die Unternehmensbesteuerung . . .

255

Carlos Palao Taboada Leistungsfähigkeitsprinzip, Gleichheitssatz und Eigentumsgarantie . .

263

VII

Inhalt Seite

3. Gemeinwohlorientierung der Besteuerung Peter Fischer Gemeinnützigkeitsrechtliche Förderung der Allgemeinheit in Deutschland und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Monika Jachmann Zivilgesellschaft und Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Rainer Hüttemann Der Steuerstatus der politischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321

II. Steuerpolitik und Steuerreform Franz W. Wagner Warum sind nur manche Steuern reformbedürftig und andere nicht? . .

345

Friedrich Merz Vom Bierdeckel zur Reform – der lange Weg zur Vereinfachung des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

367

Michael Eilfort Steuerrechtsordnung und Gesetzgebung – ein Widerspruch? Zu Politikberatung und Reformarbeit der Kommission „Steuergesetzbuch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

Gerhard Juchum Zum Bohren dicker Bretter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391

Christoph Spengel / Benedikt Zinn Konsequenzen und Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren . . . . . . . . . . . .

399

Ingolf Deubel Durch mehr kommunale Selbstverwaltung aus der Krise – Den Art. 28 GG wirklich mit Leben füllen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

Hermann Otto Solms Die Ersetzung der Gewerbesteuer – (K)eine unüberwindbare Hürde für eine große Steuerreform? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439

III. Besonderes Steuerrecht 1. Einkommensteuerrecht Paul Kirchhof Leistungsfähigkeit und Erwerbseinkommen – Zur Rechtfertigung und gerechtfertigten Anwendung des Einkommensteuergesetzes . . . . . VIII

451

Inhalt Seite

Walter Drenseck Ist Werbungskostenersatz Arbeitslohn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

Heinz-Jürgen Pezzer Die Besteuerung der freien Berufe gem. § 18 EStG – eine der abenteuerlichsten Kletterwände des Einkommensteuerrechts . . . . . . .

491

John K. McNulty The Taxation of Housing in the United States . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

511

Hartmut Söhn Vorsorgeaufwendungen und einkommensteuerrechtliches Existenzminimum – Verfassungsrechtliche und steuersystematische Aspekte des „Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung“ . . . . . .

549

Gregor Kirchhof Nettoprinzip und gemischte Aufwendungen – Zu den drei Ebenen der Verfassungsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

563

Wolfgang Spindler Der BFH verabschiedet sich vom allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

589

Hans-Joachim Kanzler Einige Bemerkungen zum Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

601

2. Unternehmenssteuerrecht Peter Essers Basic Questions with respect to the Taxation of Enterprises . . . . . . . . .

615

Manfred Rose Zur steuerlichen Gleichbehandlung der Gewinne von Unternehmen unabhängig von deren Rechtsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

641

Roman Seer Personenunternehmerbesteuerung – Zur Willkürlichkeit des Einkunftsarten-Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

655

Ursula Ley Zur unsystematischen Behandlung von Einbringungen in und Ausbringungen aus einer gewerblichen Personengesellschaft . . . . . . . .

683

Michael Wendt Realteilung und Ausscheiden gegen Sachwertabfindung – Vorrang des Kontinuitätsprinzips? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

699

Peter Brandis „Besteuerung verdeckter Gewinnausschüttungen bei verbundenen Unternehmen“ – Nachlese zu J. Lang, FR 1984, 629 . . . . . . . . . . . . . . .

719 IX

Inhalt Seite

Reimar Pinkernell Die Bildung von Gewinnrücklagen gem. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG in der Beratungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

735

Jochen Thiel Nach 50 Jahren immer noch aktuell: Die besonderen Ausgleichsposten in der Steuerbilanz des Organträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

755

Christian Dorenkamp Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen – Warum die Feuerwehr auch ohne § 8 Nr. 1 GewStG ausrücken kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

781

Johannes Wolff-Diepenbrock Überpreis und Teilwertabschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

807

3. Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht Jens Peter Meincke ‚Steuerfreie‘ Schenkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

825

Arndt Raupach Begriffsverwirrung bei der erbschaftsteuerlichen Bewertung . . . . . . . . .

843

4. Umsatzsteuerrecht Wolfram Reiß Steuergerechtigkeit und Umsatzbesteuerung im Europäischen Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

861

Stefan Homburg / Carolin Rublack Anmerkungen zum Umsatzsteuergesetzbuch, einem Vorschlag zur Umsatzsteuerreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

893

Werner Widmann Vertrauensschutz im Umsatzsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

913

IV. Rechtsanwendung und Rechtsschutz Heinrich Weber-Grellet Die positive Bedeutung von Nichtanwendungserlassen – Der Nichtanwendungserlass als Element und Teil eines demokratischen Rechtsanwendungsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

927

Andrea Amatucci Universität Federico II – Neapel – Der Beitrag der Economic Analysis of Law zur Methodologie des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

939

X

Inhalt Seite

Michael Balke Effektiver Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Steuergesetze – Zugleich ein Aufruf für den Einsatz des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die grundgesetzwidrige pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG

965

Jürgen Pelka Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht – Zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nach der VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

981

V. Europäisches und Internationales Steuerrecht 1. Europäisches Steuerrecht Michael Lang Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003 María Teresa Soler Roch Tax Avoidance – ECJ Doctrine and Spanish Tax Law: A comparative Analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031 Rita de la Feria / Clemens Fuest Führt die EuGH-Rechtsprechung zu einem Abbau steuerlicher Verzerrungen im Europäischen Binnenmarkt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1043 Norbert Herzig Einsichten und Folgerungen aus dem CCCTB-Projekt der EU . . . . . . . . 1057 Francesco Moschetti Die Steuergerechtigkeitsgrundsätze der italienischen Verfassung als Grundlage der sich entwickelnden Rechtsordnung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079

2. Internationales Steuerrecht Harald Schaumburg Das Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099 Luís Eduardo Schoueri Verrechnungspreise, Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit . . . 1117 Dieter Birk Doppelbesteuerungsabkommen im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 Thomas Rödder Globalisierung und Unternehmenssteuerrecht: Wie ist das ertragsteuerliche Besteuerungssubstrat multinationaler Unternehmen sachgerecht auf die betroffenen Fisci aufzuteilen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147 XI

Inhalt Seite

Giovanni Moschetti Historischer Ursprung, Bedeutung und Grenzen des „Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung“ als Lösungsansatz in den Fällen der doppelten Ansässigkeit juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1167

Schriftenverzeichnis Joachim Lang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1197 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1209

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XII

Verzeichnis der Autoren Amatucci, Andrea Dr., Universitätsprofessor, Ordinarius für Finanzrecht, Universität Federico II, Neapel Balke, Michael Dr., Richter am 7. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts, Hannover Birk, Dieter Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Steuerrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Bozza-Bodden, Nadya Dr., Richterin am Finanzgericht Köln Brandis, Peter Dr., Richter am Bundesfinanzhof, München Deubel, Ingolf Dr. rer. pol., Honorarprofessor, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Dorenkamp, LL. M. (NYU), Christian Dr., Rechtsanwalt, Steuerberater, Dipl.-Volkswirt, Deutsche Telekom AG, Leiter Steuerpolitik, Steuern USA, Exporte/Zölle, Bonn Drenseck, Walter Dr., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof a. D., Honorarprofessor, RuhrUniversität Bochum, Neubeuern Drüen, Klaus-Dieter Dr., Universitätsprofessor, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Inhaber des Lehrstuhls für Unternehmenssteuerrecht Eilfort, Michael Dr., Honorarprofessor, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft/Frankfurter Institut, Berlin Englisch, Joachim Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Steuerrecht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Essers, Peter Dr., Universitätsprofessor of Tax Law at Tilburg University, the Netherlands, Director of the European Tax College and Chairman of the Finance Committee of the Senate of the Parliament of the Netherlands XIII

Verzeichnis der Autoren

de la Feria, Rita Dr., Senior Research Fellow, Centre for Business Taxation, University of Oxford, United Kingdom Fischer, Peter Dr., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof a. D., Honorarprofessor an der Universität Bielefeld Fuest, Clemens Dr., Universitätsprofessor, Universität Oxford, United Kingdom Gabel, Monika Dr., Rechtsreferendarin, Köln Hennrichs, Joachim Dr., Universitätsprofessor, Universität zu Köln, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bilanz- und Steuerrecht, Institut für Gesellschaftsrecht – Abt. 2: Kapitalgesellschaften, Bilanzrecht Herzig, Norbert Dr., Universitätsprofessor, Universität zu Köln, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Seminar für Allgemeine BWL und Betriebswirtschaftliche Steuerlehre Hey, Johanna Dr., Universitätsprofessorin, Universität zu Köln, Direktorin des Instituts für Steuerrecht Homburg, Stefan Dr., Universitätsprofessor, Institut für Öffentliche Finanzen, Leibniz Universität Hannover, Steuerberater Hüttemann, Rainer Dr., Universitätsprofessor, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Steuerrecht, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Bilanz- und Steuerrecht Jachmann, Monika Dr., Richterin am Bundesfinanzhof, Honorarprofessorin, Ludwig-Maximilians-Universität München Juchum, Gerhard MD i. R., von 1998 bis 2005 Leiter der Steuerabteilung im BMF, Hennef Kanzler, Hans-Joachim Dr., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, LeibnitzUniversität Hannover Kirchhof, LL. M., Gregor Dr., Privatdozent, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Öffentlichtes Recht XIV

Verzeichnis der Autoren

Kirchhof, Paul Dr. Dres. h. c., Universitätsprofessor, Bundesverfassungsrichter a. D., Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Lang, Michael Dr. Dr. h. c., Universitätsprofessor, Vorstand des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht, WU (Wirtschaftsuniversität Wien), Wissenschaftlicher Leiter des LLM-Studiums International Tax Law der WU, Wien Ley, Ursula Dr., Professorin, Fachhochschule Köln, Wirtschaftsprüferin, Steuerberaterin, Partnerin, Ebner Stolz Mönning Bachem, Köln McNulty, John K. Dr., Roger J. Traynor Professor of Law (em.), U.C., Berkeley, School of Law Meincke, Jens Peter Dr., Universitätsprofessor (em.), Universität zu Köln, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bilanz- und Steuerrecht Merz, Friedrich Rechtsanwalt, Partner Mayer Brown LLP, Berlin Mössner, Jörg Manfred Dr., Universitätsprofessor (em.), Universitäten Osnabrück/Paris Panthéon, Steuerberater, PwC Osnabrück Moschetti, Francesco Universitätsprofessor, Universität Padua, Italia, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Francesco Moschetti & Associati, Studio legale tributario, Padova Moschetti, LL. M., Giovanni Rechtsanwalt, Privatdozent, Universität Padua, Italia, Francesco Moschetti & Associati, Studio legale tributario, Padova Palao Taboada, LL. M. (NYU), Carlos Dr., Universitätsprofessor (Catedrático), Universidad Autónoma de Madrid Pelka, Jürgen Dr., Rechtsanwalt, Steuerberater, Seniorpartner der Kanzlei Pelka Niemann Hollerbaum Rohde, Köln Pezzer, Heinz-Jürgen Dr., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, Universität Osnabrück XV

Verzeichnis der Autoren

Pinkernell, LL. M. (NYU), Reimar Dr., Rechtsanwalt, Steuerberater, Flick Gocke Schaumburg, Bonn Raupach, Arndt Dr., Honorarprofessor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Of-Counsel Sozietät McDermott Will & Emery Rechtsanwälte Steuerberater LLP Reiß, Wolfram Dr., Universitätsprofessor, ehemals Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Rödder, Thomas Dr., Honorarprofessor, Universität zu Köln, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Partner, Flick Gocke Schaumburg, Bonn Rose, Manfred Dr., Universitätsprofessor, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Rublack, Carolin Dipl.-Ökonomin, Institut für Öffentliche Finanzen, Leibniz Universität Hannover Schaumburg, Harald Dr., Honorarprofessor an der Universität zu Köln, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner, Flick Gocke Schaumburg, Bonn Schön, Wolfgang Dr. Dr. h. c., Honorarprofessor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Direktor Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, München Schoueri, Luís Eduardo Dr., Universitätsprofessor, Universität São Paulo (USP) – Brasilien, Rechtsanwalt, Partner in Lacaz Martins, Halembeck, Pereira Neto, Gurevich & Schoueri, São Paulo Schulze-Osterloh Dr., Universitätsprofessor (em.), Freie Universität Berlin Seer, Roman Dr., Universitätsprofessor, Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Steuerrecht, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. Söhn, Hartmut Dr., Universitätsprofessor (em.), Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht, Universität Passau XVI

Verzeichnis der Autoren

Soler Roch, María Teresa Dr., Universitätsprofessorin (Catedrática), Universidad de Alicante, España Solms, Hermann Otto Dr., Vizepräsident des Deutschen Bundestags, Berlin Spengel, Christoph Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftliche Steuerlehre II an der Universität Mannheim und Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) GmbH, Mannheim Spindler, Wolfgang Dr. h. c., Präsident des Bundesfinanzhofs, München Thiel, Jochen Dr., Honorarprofessor an der Universität zu Köln, Rechtsanwalt, Ministerialdirigent a. D., Kaarst Tipke, Klaus Dr., Universitätsprofessor (em.), Köln Vanistendael, Frans Dr., Universitätsprofessor (em.), Katholieke Universiteit Leuven, Belgien, Academic Chairman International Bureau of Fiscal Documentation, Amsterdam Wagner, Franz W. Dr. Dr. h. c., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universität Tübingen, Honorarprofessor an der Universität Wien Weber-Grellet, Heinrich Dr. habil., Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, außerplanmäßiger Professor, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Wendt, Michael Richter am Bundesfinanzhof, München Widmann, Werner Ministerialdirigent, Leiter der Abteilung Steuerrecht und Steuerverwaltung im Ministerium der Finanzen des Landes Rheinland-Pfalz, Mainz Wolff-Diepenbrock, Johannes Dr., Richter am Bundesfinanzhof i. R., München Zinn, Benedikt Dipl.-Kaufmann, Wiss. Mitarbeiter, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) GmbH, Mannheim XVII

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Laudatio I. Joachim Lang – Anfänge in Süddeutschland Joachim Lang wurde am 22.10.1940 als Sohn eines Arztes und einer Schauspielerin in München geboren. Nach einer unbeschwerten Kindheit am Bodensee und Internatszeit in der Schule Schloss Salem studierte er nach einem kurzen Ausflug in die Berliner Theaterwelt der berühmten Max RheinhardtSchule ab dem Wintersemester 1960/61 Rechtswissenschaften an der LudwigMaximilians-Universität in München. Beeindruckt von den Arbeiten von Karl Larenz und dessen Schüler Claus-Wilhelm Canaris begann Joachim Lang sich noch während des 1968 abgeschlossenen Referendardienstes für das Steuerrecht als eine besonders systematisierungsbedürftige Materie zu interessieren. Canaris hatte ihn auf dieses bisher wissenschaftlich unterentwickelte Rechtsgebiet aufmerksam gemacht. An die Laufbahn des Hochschullehrers dachte Joachim Lang zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Vielmehr sah er sich als Wirtschaftsjurist in der gestaltenden Steuerberatung. Deshalb trat er 1968 zunächst der Rechtsabteilung eines süddeutschen Maschinenbaukonzerns bei, wechselte aber 1970 in die nordrhein-westfälische Finanzverwaltung und zwei Jahre später in das Bundesministerium der Finanzen in Bonn.

II. Hinwendung zur Wissenschaft Die konsequente Hinwendung zum Steuerrecht stand maßgeblich unter dem Eindruck der Begegnung mit Klaus Tipke, der kurz zuvor als Direktor des Kölner Instituts für Steuerrecht berufen worden war und Joachim Lang im Herbst 1968 als Doktorand mit dem Thema „Systematisierung der Steuervergünstigungen“ betraute. Das Thema bot Lang die Gelegenheit, Larenz’sche Methodenlehre mit dem Systemdenken Klaus Tipkes1 zu verbinden. Die 1973 abgeschlossene Doktorschrift2 macht Fiskal- und Sozialzwecknormen auf den einzelnen Ebenen des Steuertatbestandes unterscheidbar und schafft damit die dogmatische Grundlage für den Abbau ungerechtfertigter Steuerprivilegien3. Es folgte im Wintersemester 1980/81 die Habilitation mit dem Titel „Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer“4, die Joachim Lang als Wissenschaftlicher Assistent Klaus Tipkes am Institut für Steuerrecht in Köln verfasste. Die Schrift leistet einen fundamentalen Beitrag zur wissenschaftlichen Durchdringung des Einkommensteuerrechts. Auch nach 30 Jahren haben die Er-

__________ 1 Vgl. grundlegend K. Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, 2. 2 J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen. Ein Beitrag zur Lehre vom Steuertatbestand, Berlin 1974. 3 Fn. 2, S. 23, 141 ff. 4 J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer. Rechtssystematische Grundlagen steuerlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht, Köln 1988.

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Klaus Tipke / Roman Seer / Johanna Hey / Joachim Englisch

kenntnisse nichts an Aktualität verloren, was angesichts der Dynamik des Einkommensteuerrechts besonders bemerkenswert ist. Wer sich wissenschaftlich mit dem Einkommensteuerrecht befasst, kommt an Langs Habilitationsschrift auch heute nicht vorbei.

III. 1982–1988 – Frühe Interdisziplinarität in Darmstadt Kaum habilitiert erhält er zum Sommersemester 1982 einen Ruf an die Technische Universität Darmstadt auf den Lehrstuhl für Steuerrecht, den er sechs Jahre lang innehat. Joachim Lang beschreibt diese Zeit als eine besonders glückliche. Die angehenden Wirtschaftsingenieure weisen aufgrund des strengen Numerus Clausus beste Studienvoraussetzungen auf und sind hochmotiviert. Schüler und Lehrer inspirieren sich wechselseitig.

IV. 1988–2006 – Institut für Steuerrecht, Universität zu Köln 1988 wird Joachim Lang als Direktor des Instituts für Steuerrecht an die Universität zu Köln berufen, wo er die Nachfolge seines akademischen Lehrers Klaus Tipke antritt. Zeitgleich legt Klaus Tipke das von ihm begründete Lehrbuch zum Steuerrecht in seine Hände, das 1989 in 12. Auflage erstmals als Tipke/Lang in Gesamtverantwortung von Joachim Lang erscheint. Im selben Jahr übernimmt Joachim Lang schließlich auch die geschäftsführende Herausgabe der interdisziplinären Zeitschrift „Steuer und Wirtschaft“. Nach knapp 20 Jahren intensiver Lehr- und Forschungstätigkeit in Köln wird Joachim Lang mit Ablauf des Sommersemesters 2006 emeritiert, ein kleiner Abschied, da er weiterhin Hauptautor im Tipke/Lang bleibt und weiterhin mit der Herausgabe von Steuer und Wirtschaft der steuerwissenschaftlichen Debatte wichtige Impulse gibt. Auch von der Ausbildung, die ihm stets besonders am Herzen lag5, mag Lang nicht vollständig Abschied nehmen. Er betreut weiterhin Dissertationen und nimmt sich ausländischer Magisterstudenten an, die er als Botschafter der deutschen Steuerrechtswissenschaft zu gewinnen hofft. Denn der angebliche6 Überfluss deutschsprachiger Steuerrechtsliteratur – 60–70 % der Weltsteuerrechtsliteratur soll aus dem deutschsprachigen Raum stammen – repräsentiert nach Langs Auffassung gleichzeitig eine besonders ausgeprägte Steuerrechtskultur.

__________ 5 J. Lang, Das Steuerrecht als Fach der steuerrechtswissenschaftlichen Ausbildung, StuW 1976, 76; J. Lang, Steuerjuristische Ausbildung in den USA, in den Niederlanden und in Belgien, FR 1977, 87; s. auch die von J. Lang wesentlich initiierten und formulierten „Sieben Thesen der DStJG zur steuerrechtlichen Ausbildung der Juristen“, NJW 1998, 2337 f. 6 Siehe die berechtigten Zweifel von Franz W. Wagner, Steuerforschung: Welche Probleme finden Ökonomen interessant, und welche sind relevant?, StuW 2008, 97.

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V. Der Wissenschaftler Joachim Lang ist ein Ausnahmewissenschaftler mit allerhöchsten Verdiensten um die deutsche Steuerrechtswissenschaft. Sein steuerwissenschaftliches Schaffen lässt keinen Bereich aus. Sein Oeuvre umfasst 15 Monographien und rund 170 Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken, einige davon übersetzt ins Spanische, Italienische, Japanische und Portugiesische. Dabei handelt es sich durchweg um umfangreiche Grundlagenbeiträge. Lang hält sich nicht mit kleinteiligen Kurzstatements auf, sondern zieht die gründliche dogmatische Fundierung vor. Dies erklärt den bleibenden Wert seiner Publikationen. Von der thematischen Breite seines Schaffens zeugen die Beiträge in dieser Festschrift. Sie sind ein Beleg, auf welch unterschiedlichen Feldern Joachim Lang als Ideengeber wirkt. 1. Quintessenz steuerrechtlicher Erkenntnis: Das Lehrbuch Schwerpunkt seines wissenschaftlich-literarischen Schaffens ist nach wie vor das 1989 von Klaus Tipke übernommene Lehrbuch Tipke/Lang. Jede neue Auflage nimmt Lang zum Anlass, das Werk in monatelanger hochkonzentrierter Arbeit nicht nur zu aktualisieren, sondern zu optimieren. Joachim Lang ist es zu verdanken, dass sich das von Klaus Tipke 1973 als „Grundriss“ begonnene Lehrbuch zu einem Standardwerk, einem „Klassiker“ entwickelt hat, das keineswegs nur Studierenden, sondern auch Praktikern einen systematischen Weg durch das gesamte Steuerrecht weist. Der aktuelle Rechtsstand wird dogmatisch präzise aufgearbeitet, kaum ein Problem, das sich nicht über den Tipke/ Lang erschließt. Hierzu wertet Lang für jede Auflage hunderte von Quellen aus Rechtsprechung, Verwaltung und Schrifttum aus. Dabei ist die Bewältigung der immensen Stofffülle einerseits, die Wahrung der Einbändigkeit des Werks andererseits, eine Herausforderung, die von Auflage zu Auflage schwieriger wird. Joachim Lang nimmt sich ihr als Meister der eleganten Verschlankung immer wieder von neuem an. So gelingt ihm z. B. auf den kaum mehr als 30 Seiten des § 8, überschrieben mit „Einführung in das besondere Steuerschuldrecht“, eine beeindruckend konzise Situationsbeschreibung des gesamten deutschen Steuersystems, verbunden mit weitreichenden Reformüberlegungen zu einzelnen Steuern. In den Grundlagenkapiteln des Lehrbuchs entfaltet Lang das Steuerrecht als System einer formalen und materiellen Gerechtigkeitsordnung. Hier kondensiert er die in zahlreichen ausführlichen Grundlagenbeiträgen erarbeiteten Forschungsergebnisse und macht sie damit leicht zugänglich. Dies ist eine Erklärung für die dogmatische Dichte des Tipke/Lang. Hier stellt er dem Gleichheitssatz als Magna Charta des Steuerrechts7 ein Gebot freiheitsschonender

__________ 7 Hierzu J. Lang, Die gleichheitsrechtliche Verwirklichung der Steuerrechtsordnung, StuW 2006, 22.

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Besteuerung an die Seite8. Hier nimmt er eine differenzierende Haltung zur steuerverschärfenden Analogie ein, indem er für eine Ausfüllung von Gesetzeslücken durch Argumente der juristischen Logik plädiert9, wehrt er sich gegen „antijudizielle“ Nichtanwendungserlasse und Nichtanwendungsgesetze10, entwickelt ein Dispositionsschutzgebot als Schutz vor rückwirkenden Steuergesetzesänderungen11, erläutert, dass sich Steuervereinfachung und Steuergerechtigkeit wechselseitig bedingen12. In der Bearbeitung des Einkommensteuerrechts, mit rund 200 Seiten nach wie vor der prominenteste Teil im Lehrbuch, werden Grundsatzfragen ebenso wie Praxisprobleme in hoher Verdichtung abgehandelt. Auch hier bilden neben der Habilitationsschrift zahlreiche Einzelabhandlungen zu Grundsatzfragen z. B. der Einkünfteerzielungsabsicht13, Einkünftezurechnung14, des Einkunftsartenrechts15, der Gewinnrealisierung16 das Fundament und befruchten das Lehrbuch. Wünschenswert wäre es, würde auch der Gesetzgeber das Lehrbuch gelegentlich zur Hand nehmen. Denn Lang lässt es nicht mit der Normkritik bewenden, sondern entwickelt Reformperspektiven sowohl zu Einzelproblemen als auch zum Gesamtsystem. Insbesondere der desolate Zustand der Einkommensteuer beunruhigt Lang17 und lässt ihn über alternative Besteuerungsformen nachdenken. Seit Langs wegweisender Habilitationsschrift zur Bemessungs-

__________ 8 J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 214 ff.; aber durchaus differenziert vgl. J. Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, 1; Vom Verbot der Erdrosselungssteuer zum Halbteilungsgrundsatz, in FS für K. Vogel, Heidelberg 2000, 173. 9 J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 5 Rz. 53 ff.; Die Ausfüllung von Lücken in Steuergesetzen, in FS für E. Höhn, Bern 1995, 159. 10 J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 5 Rz. 27–30; Reaktion der Finanzverwaltung auf missliebige Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, Deutsche Richterzeitung 1992, 365 und StuW 1992, 14. 11 J. Lang, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetze, WPg. 1998, 163; differenzierend J. Lang, Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Steuerabzugsverbote für Geldstrafen und Geldbußen. Ein Beitrag zur Anwendung des Gleichheitssatzes und der Rückwirkungsverbote nach Art. 20 Abs. 3, 103 Abs. 2 GG auf Vorschriften, die das Leistungsfähigkeitsprinzip durchbrechen, StuW 1985, 10. 12 J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 131; Mehr Gerechtigkeit durch Steuervereinfachung, in Konrad Adenauer Stiftung (Hrsg.), Arbeitsheft Nr. 11 (1986), 9; Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung, in FS für D. Meyding, Heidelberg 1994, 33; Vom Steuerchaos zu einem Steuersystem rechtlicher und wirtschaftlicher Vernunft, in Baron/Handschuch (Hrsg.), Wege aus dem Steuerchaos, Stuttgart 1996, 117; Zur Rechtsreform des Steuerrechts, in FS für M. Kriele, München 1997, 965. 13 J. Lang, Liebhaberei im Einkommensteuerrecht. Grundsätzliches zur Abgrenzung einkommensteuerbarer Einkünfte, StuW 1981, 223. 14 Lang/Seer, Die persönliche Zurechnung von Einkünften bei Treuhandverhältnissen, FR 1992, 637. 15 J. Lang, Das neue Lohnsteuerrecht, StuW 1975, 113; Die Einkünfte des Arbeitnehmers. Steuerrechtsdogmatische Grundlegung, DStJG Bd. 9 (1986), 15; Sachbezüge im Lohnsteuerrecht, in FS für K. Offerhaus, Köln 1999, 433. 16 J. Lang, Gewinnrealisierung bei Personengesellschaften, StuW 1978, 215. 17 J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 109; § 9 Rz. 4.

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grundlage der Einkommensteuer hat sich die Gesetzgebung nicht zum Besseren gewendet. Zunehmende Sorge bereitet ihm vor allem die schleichende Erodierung des objektiven Nettoprinzips18. Dem europäischen und globalen Steuerwettbewerb mit seiner Forderung nach Verbreiterung der Bemessungsgrundlage dürfe die Systematik der Einkommensteuer nicht geopfert werden. Lang warnt vor der Kurzsichtigkeit niedriger Steuersätze um den Preis verzerrender Regelungen in der Bemessungsgrundlage. 2. Umfassendes Eintreten für Steuergerechtigkeit Ein weiteres Anliegen ist Lang die Verwirklichung von Familiensteuergerechtigkeit in der Einkommensteuer19. Prononciert tritt er bereits in der Habilitationsschrift für eine realitätsgerechte Abbildung familienbedingt geminderter Leistungsfähigkeit ein20 und initiiert damit die Tendenzwende in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts21. So zurückhaltend sich die Rechtsprechung des BVerfG auf anderen Feldern des Steuerrechts oft ausnimmt, auf die verfassungsrechtliche Garantie der Steuerfreiheit des (Familien)Existenzminimums ist mittlerweile Verlass. Hierzu hat Langs fortwährendes Werben für eine konsequente Verwirklichung des subjektiven Nettoprinzips nachhal-

__________ 18 J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 8 Rz. 91, 94; ferner insb. Lang/ Englisch, Zur Verfassungswidrigkeit der neuen Mindestbesteuerung, StuW 2005, 3; J. Lang, Der Stellenwert des objektiven Nettoprinzips im deutschen Einkommensteuerrecht, StuW 2007, 3. 19 J. Lang, Die Besteuerung der Haushalte. Rechtssystematische Überlegungen zu der Schrift von Hans-Jörg Kundert über das Baseler Teilsplittingverfahren, StuW 1978, 316; Zur Reform der Familienbesteuerung, StuW 1984, 127; Verfassungsrechtliche Gewährleistung des Familienexistenzminimums im Steuer- und Kindergeldrecht, Zu den Beschlüssen des BVerfG vom 29.5.1990 und 12.6.1990, StuW 1990, 331; Familienexistenzminimum und Steuerrecht, Recht der Jugend und des Bildungswesens, Sonderheft 4/1991, 395; Familienpolitik durch das BVerfG?, Die Situation der Familie zwischen Grundgesetz und Wirklichkeit, in Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Politik und Familie, Vor einer familienpolitischen Strukturreform des Sozialstaats?, Bad Boll 1992, 17; Reform der Familienbesteuerung, in FS für F. Klein, Köln 1994, 437; Die Bedeutung des Steuerrechts für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie, Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, München 1994, S. O 61; Family Taxation in Germany, Chapter 4, in M. T. Soler Roch (Hrsg.), Family Taxation in Europe, The Hague/London/Boston 1999, 55; Vermeidung von Schlechterstellungen der Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Einkommensteuerrecht, ifo-Studien zur Finanzpolitik, Heft 69, München 1999 (ergänzendes Rechtsgutachten zu R. Parsche und M. Steinherr); Familiensteuergerechtigkeit, in Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, Köln/München 2007, 553; Familiensteuergerechtigkeit, DB 2010, Beilage Standpunkte zu Heft 5, 9 f. 20 J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., Köln 1988, 191 ff., 620 ff. 21 Die zentrale Entscheidung BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, 1 BvR 1335/78, 1 BvR 1104/79, 1 BvR 363/80, BVerfGE 61, 319 (346, 355) zum Ehegattensplitting wurde maßgeblich auf Langs – damals noch unveröffentlichte – Habilitationsschrift gestützt, vgl. dazu J. Lang, Familienbesteuerung, Zur Tendenzwende der Verfassungsrechtsprechung durch das Urteil des BVerfG vom 3.11.1982 und zur Reform der Familienbesteuerung, StuW 1983, 103.

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tig beigetragen. Dabei ist Lang erfrischend unideologisch. Sein Anliegen ist nicht, vermeintlich konservative Werte in das Steuerrecht zu transportieren, sondern die Abbildung der ökonomischen Lebenswirklichkeit von Familien. Ob verheiratet oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Es geht ihm nicht darum, das Institut der Ehe mit den Mitteln des Steuerrechts zu schützen oder attraktiv zu machen, sondern das Ehegattensplitting ist für ihn schlichte Konsequenz der zwischen Ehegatten bestehenden Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft, typisierende Abbildung der zivilrechtlichen Unterhaltspflichten22. Soweit andere Formen des Zusammenlebens mit ähnlichen Unterhaltspflichten ausgestattet werden, muss auch ihnen das Splitting gewährt werden23. Dabei scheut er die Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen nicht, sondern nutzt die Zeitschrift Steuer und Wirtschaft für eine lebhafte Debatte, indem er die auf dem Gebiet der Familienbesteuerung traditionell uneinigen Juristen und Ökonomen zum Austausch von Argumenten auffordert24. Sein Plädoyer für ein Familienrealsplitting – obwohl 1994 mit großer Mehrheit vom 60. Deutschen Juristentag übernommen25 – ist bisher politisch leider nicht umgesetzt worden. Aus der Mitgliedschaft in der 1987 eingesetzten Sachverständigenkommission zur Neuordnung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts26 folgt ein besonderes Interesse für das Gemeinnützigkeitsrecht27. Einerseits geißelt Lang die verfehlte Förderung sog. Freizeitvereine28. Er macht deutlich, dass für das Gemeinnützigkeitsrecht kein anderer Maßstab gilt als für andere Steuervergünstigungen. Andererseits tritt er für ein praxistaugliches Gemeinnützigkeitsrecht ein, das der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen keine unnötigen administrativen Hürden in den Weg stellt und ihnen in Maßen eine wirtschaftliche

__________ 22 J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 244. 23 Konsequent folgert Lang, dass bei Einführung entsprechender zivilrechtlicher Unterhaltspflichten auch der Lebenspartnerschaft Gleichgeschlechtlicher ein Splitting eingeräumt werden müsse, vgl. J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 248. 24 J. Lang, Editorial zu StuW 2000, 1 (2) zu der Auseinandersetzung zwischen K. Vogel, Besteuerung von Eheleuten und Verfassungsrecht, StuW 1999, 201 und P. Bareis, Gebietet das Grundgesetz bei der Ehegattenbesteuerung die Missachtung ökonomischer Wirkungen? – Analyse eines Rechtsgutachtens Klaus Vogels, StuW 2000, 81 mit Erwiderung K. Vogel, StuW 2000, 90. 25 Verhandlungen Bd. II/1, 1994, S. O 201. 26 Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Neuordnung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Band 40, Bonn 1988; dazu J. Lang, Neuordnung der Vereinsbesteuerung? Zum Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeitsrechts, StbJb. 1988/89, 215. 27 J. Lang, Zur steuerlichen Förderung gemeinnütziger Körperschaften, DStZ 1988, 18; J. Lang, in WP-Handbuch der Unternehmensbesteuerung, 3. Aufl. 2001, 10. Kapitel: Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht. 28 J. Lang, Gemeinnützigkeitsabhängige Steuervergünstigungen, Ein Grundsatzthema zum Abbau von Steuersubventionen, StuW 1987, 221 (250); J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, bis zur 17. Aufl. 2002, § 20 Rz. 2.

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Betätigung ermöglicht29. Auch die Parteispendenaffäre wird von Lang literarisch aufgearbeitet und mit einem Reformvorschlag beantwortet30. Joachim Lang ist ein moderner Mensch, stets offen für neue Ideen. Lange bevor die Rot/Grüne Bundesregierung 1998 eine „ökologische Steuerreform“ durchführt31, bei der es sich in erster Linie um eine wählerverträglich etikettierte Erhöhung der bestehenden Energiesteuern handelt, macht sich Joachim Lang über intelligente Formen der Ökologisierung des Steuersystems Gedanken32. Auch hier bleibt er nicht bei der Formulierung abstrakter Thesen stehen, sondern entwirft gemeinsam mit Kilian Bizer eine Flächennutzungsteuer als Alternative zur herkömmlichen Grundsteuer33. Sein Weitblick wird auch in der frühen Befassung mit dem Europäischen Steuerrecht deutlich. In dem Grundlagenbeitrag „Besteuerung in Europa zwischen Harmonisierung und Differenzierung“34 stellt er bereits 1997 die bis heute gültige Formel auf, dass aus Diskriminierungsverboten Harmonisierungsgebote folgen. Gleichzeitig legt er dar, dass die Einkommensteuer der natürlichen Person eng mit nationalen Gerechtigkeitsvorstellungen verwoben ist. Harmonisierungsbemühungen sollten sich daher auf das Unternehmenssteuerrecht konzentrieren. In der Tat liegt hier nach wie vor der Schwerpunkt der Arbeit der EU-Kommission. Ein besonderer Dorn sind Lang die – vergeblichen – Bemühungen des Gesetzgebers, ein den Anforderungen des Grundgesetzes genügendes Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht zu normieren. Mittlerweile veranlasst ihn die „verlorene Erbschaftsteuergerechtigkeit“35 dazu, die Abschaffung dieser von ihm als „Fiskalverluststeuer“36 bezeichneten Steuer zu fordern. Lang sieht den Gesetzgeber in einem unauflösbaren Dilemma von Verschonungsregeln fordernder Steuerwettbewerbsfähigkeit einerseits und gleichheitsrechtlichen Anforde-

__________ 29 Lang/Seer, Der Betriebsausgabenabzug im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes gemeinnütziger Körperschaften, FR 1994, 521–535; J. Lang, in WP-Handbuch der Unternehmensbesteuerung, 3. Aufl. 2001, Kapitel T: Gemeinnützigkeitsund Spendenrecht, Rz. 36 ff. 30 J. Lang, Steuermindernde Parteienfinanzierung, StuW 1984, 15. 31 Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform vom 24.3.1999, BGBl. I 1999, 378; Gesetz zur Fortführung der ökologischen Steuerreform vom 16.12.1999, BGBl. I 1999, 2432; Gesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform vom 23.12. 2002, BGBl. I 2002, 4602. 32 J. Lang, Der Einbau umweltpolitischer Belange in das Steuerrecht, in Breuer/ Kloepfer/Marburger/Schröder (Hrsg.), Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, Heidelberg 1992, 55; Ökosteuern aus der Sicht der Rechtswissenschaft, in Institut für Finanzwissenschaft und Steuerrecht, Wien/Bundesministerium für Finanzen, Wien/ IFA Landesgruppe Österreich (Hrsg.), Ökosteuern, Nr. 183, Wien 1995, 1. 33 Bizer/Lang, Ansätze für ökonomische Anreize zum sparsamen und schonenden Umgang mit Bodenflächen, hrsg. vom Umweltbundesamt, Berlin 2000. 34 J. Lang, in FS für H. Flick, Köln 1997, 873. 35 Vgl. J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, in FS für H. Schaumburg, Köln 2009, 45 (54). 36 J. Lang, Das verfassungsrechtliche Scheitern der Erbschaft- und Schenkungsteuer, StuW 2008, 193 (203 f.); J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, in FS für H. Schaumburg, Köln 2009, 45 (57).

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rungen andererseits. Hieraus folgert er, die Umverteilungsideologie der Erbschaft- und Schenkungsteuer sei nicht mehr zeitgemäß; der Schaden der Erbschaftsteuer, die vermögende Bürger ins Ausland vertreibe, größer als ihr fiskalischer Nutzen. Die Spannbreite der von Joachim Lang behandelten Themen ist ein Beleg für seine immense Schaffenskraft. Was Joachim Lang jedoch als Wissenschaftler besonders auszeichnet, sind zwei Eigenschaften: Seine Bereitschaft, wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse und rechtswissenschaftliche Theorie zusammenzubringen sowie seine Kreativität in der Entwicklung konkreter Gesetzgebungsvorschläge. 3. Interdisziplinarität steuerwissenschaftlicher Forschung Wie kein anderer Steuerrechtler seiner Generation interessiert sich Joachim Lang für die ökonomischen Wirkungen von Steuern. So viel über Interdisziplinarität gesprochen wird, Joachim Lang lebt sie in seinem wissenschaftlichen Werk. Er ist es, der der Optimalsteuertheorie auch in der Steuerrechtswissenschaft Gehör verschafft, indem er auf die verzerrende Wirkung der Kapitaleinkommensbesteuerung hinweist und für einen Paradigmenwechsel von der kapitalorientierten zu einer konsumorientierten Besteuerung von Einkommen eintritt. Nur so lässt sich das Lebenseinkommen als richtiger Maßstab wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit intertemporal zutreffend erfassen und eine systemimmanente Inflationsbereinigung erreichen. Vor allem der Austausch mit den Ökonomen Manfred Rose und Franz W. Wagner ist für Joachim Lang ungemein inspirierend. Er betont immer wieder, er habe in den Diskussionen mit den ökonomischen Kollegen viel gelernt. Es ist ein Geben und Nehmen, denn Lang seinerseits bereichert die ökonomische Diskussion um Überlegungen der Verfassungskonformität und Umsetzbarkeit37. Die Forderung nach intertemporaler Neutralität ist für Lang auch eine gleichheitsrechtlich-verfassungsrechtliche, wie er in seinem Referat auf dem Heidelberger Konsumsteuerkongress als einziger Jurist im Kreise weltbekannter Ökonomen herausarbeitet38. Gleichzeitig macht er sich intensiv Gedanken über die gesetzgeberische und verwaltungstechnische Umsetzung39. Eine reine Ausgabensteuer wäre nicht vollziehbar. Deshalb favorisiert er das Konzept der nachgelagerten Besteuerung40. Sie

__________ 37 Siehe z. B. J. Lang, Konsumorientierte Besteuerung von Einkommen aus rechtlicher Sicht, in FS für M. Rose, Berlin/Heidelberg/New York 2003, 325. 38 J. Lang, Taxing Consumption from a legislative point of view, in M. Rose (Ed.), Heidelberg Congress on Taxing Consumption, Heidelberg 1990, 273; Deutsche Ausgabe: Besteuerung des Konsums aus gesetzgebungspolitischer Sicht, Versuch eines interdisziplinär juristisch-ökonomischen Lösungsansatzes, in M. Rose (Hrsg.), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, Heidelberg 1991, 291. 39 J. Lang, Konsumorientierung – Eine Herausforderung für die Steuergesetzgebung?, in Smekal/Sendlhofer/Winner (Hrsg.), Einkommen vs. Konsum – Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, Heidelberg 1999, 143. 40 J. Lang, Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, in DStJG Bd. 24 (2001), 49 (83 ff.).

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lässt sich – wie das Alterseinkünftegesetz vom 5.7.200441 belegt – mühelos in das geltende System der Einkommensteuer integrieren, wobei Lang freilich einen sehr viel umfassenderen Ansatz nachgelagerten Sparens wählt. Langs Vorstellung von einem System konsumorientierter Einkommensbesteuerung lässt sich besonders gut in dem 2001 erschienenen Grundlagenbeitrag „Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen“, den er anlässlich der 25. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft verfasst hat, nachlesen. Die nachgelagerte Besteuerung von Einkommen bietet danach sowohl Ausweg aus dem bis dato geltenden Chaos der Investitionsbesteuerung als auch Antwort auf den unaufhaltsam fortschreitenden Steuerwettbewerb42. Denn die im internationalen Steuerwettbewerb unter Druck geratenen Unternehmenssteuersätze lassen sich steuersystematisch als Element einer partiell nachgelagerten Besteuerung durchaus rechtfertigen. Langs intensive Befassung mit der Reform des Unternehmenssteuerrechts43 basiert ebenfalls auf ökonomischen Neutralitätsforderungen, die er sowohl gleichheits- als auch freiheitsrechtlich in der Verfassung verankert44. Hieraus folgt für ihn nicht nur die Forderung nach rechtsformneutraler Unternehmensbesteuerung mit einem weiten der Umsatzsteuer entsprechenden Unternehmensbegriff45, sondern auch nach Investitionsneutralität. Hierzu propagiert er 1993 zunächst eine zinsbereinigte Unternehmensteuer46. Mittlerweile führt das 2001 eingeführte System einer Zwei-Ebenenbesteuerung mit niedriger Körperschaftsteuerbelastung thesaurierter Gewinne und nachfolgender niedriger Belastung der Ausschüttung auf Anteilseignerebene zu einer (partiell) nachgelagerten Besteuerung von Unternehmensgewinnen47, so dass auf weitere Elemente einer Konsumorientierung in der Bemessungsgrundlage verzichtet werden kann.

__________ 41 BGBl. I 2004, 1427. 42 J. Lang, Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, in DStJG Bd. 24 (2001), 49 ff. 43 J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung, StuW 1989, 3 ff.; Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg zum europäischen Binnenmarkt und zur deutschen Einheit, StuW 1990, 107 ff.; International Harmonization of Enterprise Taxation, Keio Law Review 1993, p. 65; Unternehmenssteuerreform, in FS für D. Schneider, Wiesbaden 1995, 400; Notwendigkeit und Verwirklichung der Unternehmensteuerreform in der 14. Legislaturperiode, in Harzburger Steuerprotokoll 1999, Köln 2000, 33; Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, in DStJG Bd. 24 (2001), 49 (90–115); Der Gordische Knoten einer Steuerreform für Unternehmen, in Universität Passau (Hrsg.), Mentale Blockaden reicher Volkswirtschaften, Schriftenreihe des Neuburger Gesprächskreises, Passau 2006, 11; Unternehmenssteuerreform im Staatenwettbewerb, BB 2006, 1769. 44 J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg zum europäischen Binnenmarkt und zur deutschen Einheit, StuW 1990, 107 (112 ff., 115 ff.). 45 J. Lang, Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, DStJG Bd. 24 (2001), 49 (108). 46 J. Lang, § 162 des Entwurfs eines Steuergesetzbuchs, Schriftenreihe des BMF, Bd. 49, Bonn 1993; vgl. auch Begründung Rz. 478. 47 J. Lang, Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, DStJG Bd. 24 (2001), 49 (90 ff.).

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Freilich steht die Körperschaftsteuer nur Kapitalgesellschaften offen, was aus Langs Sicht der deutschen Personengesellschaftskultur nicht gerecht wird48. Unzufrieden mit den offiziellen Ergebnissen der sog. Brühler Kommission, deren Vorschläge sich auf eine Körperschaftsteueroption beschränken, erdenkt Lang deshalb die sog. Inhabersteuer49, eine niedrige Proportionalsteuer speziell für Personenunternehmen, die der Körperschaftsteuer an die Seite gestellt werden soll. Auf diese Weise eröffnet Lang auch Personenunternehmen den Zugang zur proportionalen Niedrigbesteuerung, wie sie sich international für Kapitalgesellschaften herausgebildet hat, trägt aber gleichzeitig den Besonderheiten personalistischer Unternehmensformen Rechnung. Langs ganzheitlichem Verständnis des Steuersystems ist es zu verdanken, dass er nicht bei den unternehmerischen Einkünften stehen bleibt, sondern die Gefahr, der Benachteiligung von Arbeitseinkünften sieht. Damit die Niedrigbesteuerung investiv verwendeter Unternehmensgewinne gleichheitsrechtlich unangreifbar ist, muss auch Arbeitnehmern eine Möglichkeit begünstigten Sparens eröffnet werden. Hierzu entwickelt Lang ein Modell qualifizierter Vorsorgekonten50. Er vermeidet damit die spaltende Wirkung dualer Einkommensteuern. 4. Marksteine der Verbindung von Wissenschaft und Praxis: Steuerreformentwürfe Wie kein anderer hat sich Joachim Lang zudem von Beginn an für die legistische Umsetzung der Theorie interessiert, einerseits unnachgiebig hinsichtlich der Forderungen, die sich aus einem Gerechtigkeitssystem ergeben, gleichzeitig aber mit großem Realitätssinn für die Besteuerungspraxis. Hier zahlen sich die Jahre in der Finanzverwaltung aus. Seine Vorschläge zur Reform des materiellen Steuerrechts reflektieren stets auch deren Vollziehbarkeit. Systematisierung des Steuerrechts bleibt bei ihm nicht theorielastige abstrakte Forderung, sondern mündet in konkret ausformulierte Gesetzgebungsvorschläge. Dabei legt Lang hohe Kreativität gepaart mit großer Präzision im Gebrauch der Fachsprache an den Tag. Der virtuose Umgang mit einer Verweisungstechnik, die nur dann funktioniert, wenn ihr ein in sich geschlossenes Konzept zugrunde liegt, sorgt für schlanke Texte. Das Ergebnis sind klar abgefasste Normen, die mit beträchtlich viel weniger Text auskommen als das unsystematisch dem Einzelproblem verhaftete geltende Steuerrecht. In der Systematisierung des Steuerrechts liegt für Lang der Schlüssel zur Vereinfachung.

__________ 48 Kritisch dazu in dieser Schrift R. Seer, S. 655. 49 Veröffentlicht als Anhang Nr. 1 der Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe, Heft 66, Bonn 1999. 50 § 31 EStG-E im Kölner Entwurf, vgl. J. Lang, (Sprecher), N. Herzig, J. Hey, H.-G. Horlemann, J. Pelka, H.-J. Pezzer, R. Seer, K. Tipke (beratend), Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, Köln 2005.

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Mittlerweile liegt eine ganze Reihe umfassender Steuergesetzgebungsvorschläge aus der Feder von Wissenschaftlern vor51. Joachim Lang kann auf diesem Gebiet als Vorreiter bezeichnet werden. Bereits 1985 überrascht er auf einem Symposium zum fünfzigjährigen Bestehen des Instituts für Steuerrecht der Westfälischen Wilhelms Universität Münster mit ausformulierten Vorschlägen für eine Systematisierung der Einkommensteuer52. Damit hat Joachim Lang den Grundstein gelegt für zahlreiche Gesetzgebungsprojekte. Roman Seer beschreibt in seiner Würdigung zum 60. Geburtstag von Joachim Lang53 dessen Begeisterung anlässlich des ihm von Bundesfinanzminister Theodor Waigel erteilten Auftrags, ein Steuergesetzbuch für die osteuropäischen Staaten54 zu verfassen. Innerhalb weniger Monate gelingt Lang im Sommer 1992 die Niederschrift eines Gesetzestextes, der bis hin zu Vorschriften des Allgemeinen Steuerrechts und Steuerverfahrensrechts den begründeten Entwurf eines Gesamtsteuersystems enthält. Zu Recht vergleicht Seer diese erstaunliche Leistung eines Einzelkämpfers mit der Schaffung der Reichsabgabenordnung durch Enno Becker. Bemerkenswert ist, dass dieses kreative Feuer immer wieder von neuem entfacht werden kann und Langs Begeisterung für die Gesetzgebungsarbeit auf andere überspringt. So stürzt sich Joachim Lang 10 Jahre später, herausgefordert von einer Ausschreibung der Humanistischen Stiftung, mit einem Team und demselben kreativen Elan in den Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzbuchs55. Dieser wird schließlich Grundlage der von Joachim Lang geleiteten „Kommission Steuergesetzbuch“ unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft56. Lang gelingt es, über 70 Experten aus allen Bereichen des Steuerrechts für die Mitarbeit zu gewinnen. Besonders breite Anerkennung findet das maßgeblich auf eine Idee Joachim Langs zurückzuführende sog. Vier-SäulenModell zur Reform der Kommunalsteuern57. Neu an diesem Vorschlag ist vor allem die Beteiligung der Betriebsstättenkommunen an der Lohnsteuer. Es war Joachim Lang, der gemeinsam mit Friedrich Merz in der Lobby des Hiltons am Gendarmenmarkt die Erkenntnis hatte, dass sich auf diese Weise das sog. „Speckgürtelproblem“ eines kommunalen Zuschlags auf die Einkommensteuer

__________ 51 Vgl. insbesondere die Gesetzesentwürfe von Paul Kirchhof im Rahmen der Forschungsgruppe Bundessteuergesetzbuch zum Einkommen- und Umsatzsteuerrecht, ferner die durch die Ausschreibung der Humanistischen Stiftung initiierten Entwürfe von M. Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, Köln 2004 und J. Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Köln 2004. 52 J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes. Münsteraner Symposion, Band II, Köln 1985. 53 R. Seer, Joachim Lang sechzig Jahre, StuW 2000, 301 (302). 54 Entwurf eines Steuergesetzbuchs, Schriftenreihe des BMF, Band 49, Bonn 1993. 55 J. Lang, (Sprecher), N. Herzig, J. Hey, H.-G. Horlemann, J. Pelka, H.-J. Pezzer, R. Seer, K. Tipke (beratend), Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, Köln 2005. 56 Kommission „Steuergesetzbuch“ (Vorsitzender: J. Lang), Steuerpolitisches Programm, Berlin 2006; Kommission „Steuergesetzbuch“ (Vorsitzender: J. Lang), Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, Berlin 2008. 57 Siehe Kommission „Steuergesetzbuch“, Wirtschaft Regional, Berlin 2010, S. 26.

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lösen lässt und den Kommunen ein zusätzlicher Anreiz zur Schaffung von Arbeitsplätzen gegeben wird. Lang ist in all diesen Arbeitsgruppen der Motor, dabei stets diskussionsfreudig und kompromissbereit. Es geht ihm nicht darum, stur seine eigene Auffassung durchzusetzen, sondern eine sachgerechte und praktikable Lösung zu finden. Doch das Verfassen der Gesetzestexte lässt er sich in der Regel nicht nehmen. Hier ist er der unbestrittene Meister.

VI. Joachim Lang und die Politik Sein Interesse an praktisch-gesetzgeberischer Konkretisierung steuerwissenschaftlicher Erkenntnis prädestiniert Joachim Lang zum Ratgeber der Politik. Erstmals wird er 1984 in die durch die Landesregierung Baden-Württemberg eingesetzte Arbeitsgruppe Steuerreform berufen58. Später ist er Mitglied der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Neuordnung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts59 und entwickelt als stellvertretender Vorsitzender der Brühler Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung60 die sog. „Inhabersteuer“. Im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages wird er häufig als unabhängiger Sachverständiger gehört. Lang wird dabei nicht müde, für systematische, in sich schlüssige Regelungen zu werben, den Systembruch scharf zu kritisieren. Er lässt sich auch nicht von dem Politikeranwurf beirren, eine Unternehmensteuerreform werde nicht für Professoren gemacht, sondern weist – im Ton stets konziliant, in der Sache unnachgiebig – darauf hin, dass sich die von der Politik so gerne beschworene Steuervereinfachung nur durch Systematisierung der Materie erreichen lässt. Jeder Systembruch zieht Rechtsunsicherheit und unzählige Abgrenzungsstreitigkeiten nach sich, macht das Recht labil, provoziert permanente gesetzgeberische Nachbesserungen. Die Forderung nach einer dem Systemgedanken verpflichteten Gesetzgebung ist eben kein Selbstzweck.

VII. Verdienste um die Fortentwicklung der Steuerwissenschaften Als Lang beginnt, sich mit dem Steuerrecht zu beschäftigen, handelt es sich wissenschaftlich noch weitgehend um eine terra incognita. Zwar genießt die deutsche Finanzwissenschaft der Nachkriegsära internationales Ansehen, doch die Rechtswissenschaft vernachlässigt das Steuerrecht. Die Gründung der

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58 Arbeitsgruppe Steuerreform, eingesetzt durch die Landesregierung Baden-Württemberg am 3.10.1984, Steuern der neunziger Jahre, Leitlinien für eine Reform, Stuttgart 1987 (Mitglied der Arbeitsgruppe). 59 Vgl. Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Neuordnung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Band 40, Bonn 1988. 60 Vgl. Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Bericht der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Schriftenreihe des BMF, Band 66, Berlin 1999.

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Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft im Jahr 1975, an der Joachim Lang mitwirkt, stellt eine Kehrtwende dar und bildet einen Meilenstein für die Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft. Von 1975 bis 1981 gehört Joachim Lang dem Vorstand als Schriftführer an. 1993 wird er zum Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt, ein Amt, das er bis 1999 innehat. Als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft hat sein Wort bis heute für die inhaltliche Ausrichtung der Jahrestagungen erhebliches Gewicht. Seit über 20 Jahren prägt Joachim Lang zudem als geschäftsführender Herausgeber die Zeitschrift Steuer und Wirtschaft. Wer die Editorials seit 1989 verfolgt, erkennt, wie er seismographisch aktuelle Probleme aufgreift, Trends und Entwicklungen prognostiziert und der steuerwissenschaftlichen Debatte damit Orientierung gibt. Es handelt sich nach wie vor um die einzige Zeitschrift im Steuerrecht mit primär wissenschaftlichem Ansatz, vergleichbar den Archivzeitschriften auf anderen Rechtsgebieten. Dem Trend zu Kurzbeiträgen hat sich Lang zum Glück erfolgreich verwehrt. Damit ist Steuer und Wirtschaft – abgesehen von den rein ökonomischen Zeitschriften – das einzige Medium auf dem deutschen Markt, in dem längere Grundlagenbeiträge ein Forum finden, in dem Nachwuchswissenschaftler neue Ideen präsentieren und in dem Probleme auch disziplinenübergreifend wissenschaftlich ausdiskutiert werden können. Denn Joachim Lang nimmt den Untertitel „Zeitschrift für die gesamten Steuerwissenschaften“ ernst61, indem er den Diskurs zwischen Ökonomen und Juristen aktiv fördert. Ihm ist es zu verdanken, dass Steuer und Wirtschaft heute auch unter Ökonomen hochangesehen ist und im JOURQUAL2-Teilranking „Betriebswirtschaftliche Steuerlehre“ als beste deutschsprachige Zeitschrift geführt wird62. Dabei scheut sich Joachim Lang auch nicht, sein Anliegen für ein gerechtes und systematisches Steuerrecht einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Immer wieder hat er sich in der Tagespresse zu Wort gemeldet. Im Beirat für Steuergerechtigkeit wendet er sich in Beilagen zum steuertip vornehmlich an Steuerpraktiker. In einem aktuellen Buchprojekt sollen die Gerechtigkeitsdefizite des geltenden Steuerrechts einem Laienpublikum verständlich gemacht werden. Lang versteht sich hier nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Schriftsteller.

VIII. Internationalität Joachim Lang ist es gelungen, dem Systemdenken der Kölner Schule über die Landesgrenzen hinweg zu hohem Ansehen zu verhelfen. Wissenschaftliche Kontakte pflegt er außer zu den Niederlanden, Luxemburg, Italien, Spanien und der Türkei vor allem zu Japan und Brasilien, wohin ihn verschiedene Forschungsreisen führen. Das Instituto Brasileiro de Direito Tributário in São

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61 Siehe J. Lang, Geleitwort zu StuW 1991, 1. 62 Vgl. Henning-Thurau/Walsh/Schrader, VHB-JOURQUAL: Ein Ranking von betriebswirtschaftlich-relevanten Zeitschriften auf der Grundlage von Expertenurteilen, in Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, Jg. 56 (2003), 520 ff.

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Paulo machte ihn zum Ehrenmitglied. Wie groß das Interesse und die Wertschätzung sind, wird auch dadurch deutlich, dass die von Joachim Lang verfassten Teile des Tipke/Lang 2008 ins Brasilianische übersetzt wurden63. In Russland und Osteuropa wird Joachim Lang verschiedentlich als Berater der Gesetzgebung tätig64. Diesem Engagement ist es zu verdanken, dass 1994 auf der Grundlage seines „Entwurfs eines Steuergesetzes“ in Kroatien die zinsbereinigte Unternehmensteuer eingeführt werden konnte65. Auch in Russland wird Lang, entsandt vom Bundesministerium der Finanzen, als Berater des Steuerreformprozesses hoch geschätzt. Der ins Russische übersetzte Entwurf eines Steuergesetzbuchs wurde zwar nur in Teilen umgesetzt, prägt aber die Debatte um die Rechtstaatlichkeit der Besteuerung in Russland nachhaltig66. Die früh erkannte Bedeutung der Rechtsvergleichung in einem zusammenwachsenden Europa war Joachim Lang Anlass, gemeinsam mit Dieter Birk und einer Reihe von Kollegen aus dem Europäischen Ausland das „Academic Committee of European Tax Law“ ins Leben zu rufen, aus dem später die „European Association of Tax Law Professors“ hervorgeht. Ebenso wie die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft auf nationaler Ebene leistet die European Association of Tax Law Professors einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung einer europäischen Steuerrechtswissenschaftsgemeinschaft. Joachim Lang hat hieran maßgeblichen Anteil und ist bei den ausländischen Kollegen wissenschaftlich hoch angesehen und menschlich beliebt. So war es Joachim Lang eine besondere Freude, dass Grundfragen der Kapitaleinkommensbesteuerung, ein Bereich, in dem Lang wegweisend gearbeitet hat, 2003 auf dem EATLPKongress „The Notion of Income from Capital“ in Köln erörtert wurden.

IX. Der Hochschullehrer Joachim Lang ist mit Leib und Seele Hochschullehrer. Er hat knapp 100 Dissertationen betreut und drei Schüler habilitiert. Dass alle drei Schüler mittlerweile renommierte Steuerrechtslehrstühle innehaben, ist Langs besonderer Gabe geschuldet, Nachwuchswissenschaftler zu entdecken, sie für eine Hochschullaufbahn zu gewinnen und ihre Talente zu fördern. Mit seinen Schülern verbindet ihn eine hohe wissenschaftliche Übereinstimmung. Sie verdanken ihm viel. Lang vermag jungen Menschen die politische ebenso wie die praktische Dimension der Materie so anschaulich zu vermitteln, dass sie noch Jahrzehnte später

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63 Brasilianische Übersetzung von L. D. Furquim der von J. Lang verfassten §§ 1 bis 10: Direito Tributário, vol. I, Porto Alegre (Brasilien) 2008. 64 Siehe hierzu J. Lang, The Concept of a Tax Code, in M. Rose (Hrsg.), Tax Reform for Countries in Transition to Market Economies, Stuttgart 1999, 185. 65 Vgl. Wagner/Wenger, Theoretische Konzeption und legislative Transformation eines marktwirtschaftlichen Steuersystems in der Republik Kroatien, in Sadowski/Czap/ Wächter (Hrsg.), Regulierung und Unternehmenspolitik, 1996, 399 ff. 66 Siehe J. Lang, Zum Entstehen des russischen Steuerkodex, in FS für G. Brunner, Baden-Baden 2001, 297; ferner A. Lessowa, Die allgemeinen Besteuerungsprinzipien in der russischen Verfassung und im russischen Steuerkodex, StuW 2000, 475 ff.

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von seinen Vorlesungen schwärmen. Bei ihm ist Steuerrecht nicht „trocken“. Die Studenten spüren, dass sein Zorn über ungerechte, unverständliche, nicht vollziehbare Steuerrechtsnormen authentisch ist. Seiner Fähigkeit, die Studierenden für Gerechtigkeitsfragen ebenso zu begeistern wie für die kreative Lösung praktischer Probleme, sind viele Steuerrechtskarrieren zu verdanken. Dazu trägt bei, dass Joachim Lang auch im Massenbetrieb der Universität zu Köln Menschlichkeit im Umgang mit „seinen“ Studenten ausstrahlt. Er hat es nicht nötig, Studenten die fachliche Überlegenheit spüren zu lassen. Im Gegenteil sucht er den Diskurs mit den Studenten und lässt sich von ihrer kritischen, noch unvoreingenommenen Sichtweise auf das Steuerrecht inspirieren. Dabei interessieren ihn nicht nur die Studienleistungen, sondern auch der persönliche Hintergrund. Von außeruniversitären Leistungen lässt er sich genauso beeindrucken wie von der perfekt gelösten Klausur. Im Institut für Steuerrecht sorgt er für eine offene Atmosphäre. In ausgedehnten Mittagessen mit wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitern werden keineswegs nur Fachprobleme erörtert, sondern auch politische Ereignisse, die neuesten Kinofilme – Lang ist ein großer Cineast – oder der kürzlich gelesene Roman. Mit Freude erfüllt ihn, dass im Institut langjährige Freundschaften zwischen den Mitarbeitern entstehen, nicht selten gekrönt durch sog. „Institutsehen“. Legendär sind die Valser Skiseminare. Lang liebt es, die Studenten für dieses einzigartige Skigebiet zu begeistern. Als ehemaliger Skilehrer steckt er die Studenten dabei läuferisch locker in die Tasche. Geadelt wird, wer sich mit ihm auf eine Tiefschnee-Erkundung begibt. Doch auch wer kein Interesse am Wintersport hat, kommt auf seine Kosten. In der Bergluft lässt es sich genauso hochkonzentriert über Steuerrecht diskutieren wie ausgelassen feiern. Lang ist auch bei letzerem mit dabei. 1990 überreichten ihm seine Mitarbeiter zum 50. Geburtstag eine in kostbares Leder gebundene Festschrift mit dem Titel „Steuerrecht zwischen Sinn und Wahn“ mit humorigen Beiträgen von Frank Balmes, Wolfgang Lingemann, Jörg R. Nickel, Roman Seer, Wolfram Starke, Christine Velten (dichtendes Herzstück des Instituts) und Gastwissenschaftler Diego Marín-Barnuevo Fabo, heute ein international bekannter Steuerrechtler. Das von Lingemann fotografierte Porträt zeigt keinen ernst dreinblickenden Wissenschaftler, sondern einen glücklich lächelnden Bayern im Bogner-Skianzug, der soeben einen unberührten Tiefschneehang erobert hat.

X. Vielseitigkeit: Ein Kopf – vier Berufe Zweifel seiner Schüler an der Karrierewahl des Hochschullehrers wusste Joachim Lang immer mit dem Hinweis auf das Maß an Autonomie und Gestaltungsfreiheit, das man – allen hochschulpolitischen Fehlentwicklungen zum Trotz – nach wie vor als Hochschullehrer genießt, zu zerstreuen. Er übe letztlich vier Berufe aus, den des Wissenschaftlers und Schriftstellers, des Leh15

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rers, des Politikberaters und schließlich den des Rechtsanwalts und Steuerberaters. Bis heute ist Joachim Lang nicht nur wissenschaftlich tätig, sondern auch in der steuerlichen Rechtsberatung. Hier sieht er seine Aufgabe vor allem in der Führung von Musterprozessen, die er nicht nur in das Mandanteninteresse, sondern auch in das Interesse einer systematischen und gerechten Fortentwicklung des Steuerrechts stellt67. Die Aufgabe des Steuerberaters liege nicht in der Formulierung maximaler Steuerminderungspositionen. Vielmehr trage der Steuerberater „die Verantwortung für eine Gestaltung nach Prinzipien und Regeln, die auch der Richter als „gerecht“ nachvollziehen kann“. Für die planungssichere Gestaltung benötige der Steuerberater „sozusagen einen Kompass der Steuergerechtigkeit, basierend auf einem wissenschaftlich fundiertem Wissen um die verfassungsrechtliche Dogmatik der Steuergerechtigkeit“68. Dass diese Ausgewogenheit auch bei der Finanzverwaltung Gehör findet, belegen die kürzlich von Joachim Lang verfassten „Leitlinien für die umsatzsteuerrechtliche Behandlung ästhetisch-chirurgischer Maßnahmen“69, mit denen er eine von der Finanzverwaltung akzeptierte Handreichung entwickelt hat.

XI. Joachim Lang privat Heimisch geworden ist der Süddeutsche Joachim Lang im Bergischen Land, auch wenn sich dessen Erhebungen gegen das Bodensee-Bergpanorama seiner Kindertage kümmerlich ausnehmen. Doch er schätzt die gegenüber der Kölner Bucht klarere Luft in Bensberg. Hier verfasste Lang seine Habilitationsschrift, mental unterstützt von seiner Frau Christine, im Vorwort wie folgt dokumentiert: „Dass ich diese Herausforderung psychisch durchgestanden habe, verdanke ich meiner lieben Frau, treue Gefährtin gerade an jenen Stellen, wo der Weg zu enden schien …“. Die deutsche Forschungsgemeinschaft ermöglichte Lang, seinen Biorythmus in einem Arbeitstag von früh bis tief in die Nacht zu leben. Seit seiner Jugendzeit ein begeisterter Sportler, lief er täglich im bergigen Bensberger Wald die berüchtigte 10-km-Trainingsstrecke von Hennes Weisweiler, mit dem der 1. FC Köln damals deutscher Meister wurde. So kehrte er nach seiner Darmstädter Zeit selbstverständlich dorthin zurück, wo bereits sein Arbeitsleben in die harmonische Intimität seiner Familie eingebettet war und wo er den Bewegungsmangel der unzähligen am Schreibtisch verbrachten Stunden in ausgedehnten Waldläufen oder auf dem nahegelegenen Golfplatz ausgleichen kann. Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist bei Joachim Lang nicht nur Theorie, sondern kommt sowohl in seiner eigenen Vita als auch in der Unterstützung

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67 J. Lang, Steuerberatung und Steuergerechtigkeit, in FS für J. Pelka, München 2010, 51. 68 J. Lang, Steuerberatung und Steuergerechtigkeit, in FS für J. Pelka, München 2010, 51, 65. 69 Hrsg. von der Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland e.V., Bad Soden 2009.

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von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mit Kindern zum Ausdruck. Lang ist kein ferner berühmter Wissenschaftlervater, sondern stets präsent. Voller Stolz verfolgt er die beruflichen Erfolge seines Sohnes und seiner drei Töchter, wünscht ihnen aber gleichzeitig auch persönliche Erfüllung durch eine Familie.

XII. Joachim Lang und die Zukunft des Steuerrechts Das Steuerrecht braucht Joachim Lang. Verglichen mit den 1970er Jahren, in die Langs erste Schritte im Steuerrecht zurückreichen, ist das Feld der Steuerrechtswissenschaft zwar mittlerweile gut bestellt. In seinem geradezu missionarischen Eintreten für ein gerechteres Steuerrecht, seinem unermüdlichen Werben für Steuergerechtigkeitsreformen bleibt Joachim Lang jedoch einzigartig. Seine Schaffenskraft ist ungebrochen, wie eine Fülle kürzlich erschienener Beiträge zu Grundsatzfragen belegt70. Wir hoffen, dass er sich noch lange in die Diskussion einmischen wird. Köln, Bochum, Münster, Klaus Tipke

Roman Seer

Johanna Hey

Joachim Englisch

__________ 70 J. Lang, Der Stellenwert des objektiven Nettoprinzips im deutschen Einkommensteuerrecht, StuW 2007, 3 ff.; Das verfassungsrechtliche Scheitern der Erbschaft- und Schenkungsteuer, StuW 2008, 189; Familiensteuergerechtigkeit, DB 2010, Beilage Standpunkte zu Heft 5, 9 f.; Steuergerechtigkeit und Globalisierung, in FS für H. Schaumburg, Köln 2009, 45.

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1. Steuertheoretische Grundlagen Klaus Tipke

Steuerrecht als Wissenschaft Inhaltsübersicht I. Joachim Langs Weg zur Steuerrechtswissenschaft II. Zum Disput um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft III. (Steuer-)Rechtswissenschaft durch Systemrationalität IV. Die Verteilungsgerechtigkeit als systembestimmend für die Steuerrechtswissenschaft V. Wissenschaftskriterien der Rechtsoder Wertungslogik – angelegt auch im Gleichheitssatz 1. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als grundlegender Steuergerechtigkeitsmaßstab 2. Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips durch Rechtsoder Wertungslogik

a) Das Gebot der Verallgemeinerung b) Das Gebot der Folgerichtigkeit c) Das Gebot der Widerspruchsfreiheit 3. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Wertprinzip von Dauer VI. Steuergesetzgebung ohne Wissenschaft VII. Anmerkungen zu Steuerrechtsanwendung und Wissenschaft VIII. Das Bundesverfassungsgericht: Gesetzgeberische Freiheiten und ihre Schranken; Kontrollverschärfung durch Folgerichtigkeitsgebot IX. Über Gesetzgebung und Gesetzeskontrolle

Der Ärger mit den Politikern ist, dass ihre Wirkungen weiter reichen als ihre Einsicht. – Der Ärger mit den Intellektuellen ist, dass ihre Einsicht weiter reicht als ihre Wirkungen. Helmar Nahr Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler

I. Joachim Langs Weg zur Steuerrechtswissenschaft Nach seinem Assessorexamen kam Joachim Lang im Frühjahr 1969 von München (wo er studiert hatte) nach Köln, um mit mir über seinen Plan zu sprechen, eine Doktorarbeit im Steuerrecht zu schreiben. Da Joachim Lang Vorliebe und Talent zum Systematisieren erkennen ließ, hatte Claus-Wilhelm 21

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Canaris, damals Assistent bei Karl Larenz in München, ihm zu einer Arbeit im Steuerrecht geraten.1 Bekannte empfahlen ihm, es in Köln zu versuchen. Joachim Lang kam mir gerade recht. Seit einigen Jahren lief ich mit einem Aphorismus des Rechtslehrers Hans J. Wolff im Kopf herum: „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht.“ Für das Steuerrecht sah ich die Aufgabe darin, aus dem Konglomerat vieler einzelner Steuern, aus dem Sammelsurium von Details ein systematisches Gedankengebäude zu zimmern. Ich bereitete einen „systematischen Grundriss Steuerrecht“ vor, wobei mir eine Anfang 1969 erschienene Schrift von C.-W. Canaris zugute kam: „Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz“. Mit Joachim Lang wurde ich über das Thema „Systematisierung der Steuervergünstigungen“ einig. Joachim Lang hatte sich bei seiner Vorbereitung auf die steuerrechtliche Klausur im bayerischen Assessorexamen in das Steuerrecht eingearbeitet. Er blieb während des Sommersemesters 1969 in Köln, um sein steuerrechtliches Wissen für die Arbeit an der Dissertation zu erweitern und zu vertiefen. Er besuchte einschlägige Lehrveranstaltungen und erschloss sich die steuerwissenschaftliche Grundlagenliteratur. Dabei beeindruckte ihn besonders das 1933 in dritter Auflage erschienene Lehrbuch von Albert Hensel. Je länger Joachim Lang sich mit dem Steuerrecht beschäftigte, desto mehr faszinierte es ihn, nahm es ihn gefangen. Um alle Lesefrüchte und neuen Eindrücke zu verwerten, ließ er sich mit der Doktorschrift Zeit. 1970 nahm Joachim Lang als Beamter des höheren Dienstes eine Tätigkeit beim Finanzamt Düsseldorf-Nord auf und arbeitete in den Abendstunden und an den Wochenenden an seiner Dissertation. 1971 hielt ich vor nordrheinwestfälischen Steuerberatern einen Vortrag über meine Steuersystematisierungsvorstellungen. Joachim Lang, der den Vortrag angehört hatte, schrieb mir darauf einen Brief, in dem er schilderte, wie sehr er mit meinen Grundauffassungen übereinstimme. Das war der Beginn einer wohl eher seltenen Symbiose rechtswissenschaftlichen Denkens. Etwa zwei Jahre nach seinem Eintritt in die Finanzverwaltung wurde Joachim Lang in das Bundesfinanzministerium abgeordnet, um dort an einer Systematisierung des Steuerrechts für das Projekt JURIS zu arbeiten. Nach der Promotion im Sommersemester 1973 bot ich Joachim Lang eine Assistentenstelle mit der Möglichkeit der Habilitation an. Zu diesem Zweck beurlaubte ihn die nordrhein-westfälische Finanzverwaltung. Joachim Lang forschte acht Jahre lang am Kölner Institut für Steuerrecht. Während dieser Zeit arbeiteten wir eng und freundschaftlich zusammen. Neben einer Reihe von Schriften zu Grundsatzthemen des Steuerrechts entstand Joachim Langs Habilitationsschrift „Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer“, in der er die „Rechtssystematischen Grundlagen steuerlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht“ (so der Untertitel) umfassend aufarbeitete. Obgleich es seinerzeit kaum steuerrechtliche Lehrstühle gab, wurde Joachim Lang ein halbes Jahr nach seiner Habilitation im Wintersemester 1981/82 auf

__________ 1 Dazu schon R. Seer, StuW 2000, 301.

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den Steuerrechtslehrstuhl der Technischen Universität Darmstadt berufen, wo er bis zu seiner „akademischen Heimkehr“ nach Köln im Jahre 1988 Wirtschaftsingenieure im Steuerrecht ausbildete. Mit niemandem sonst habe ich steuerrechtswissenschaftliche Grundfragen so intensiv und so dauerhaft diskutiert wie mit Joachim Lang.2 Wir waren oder wurden uns z. B. einig in folgenden Punkten: (1) Es genügt nicht, sich nur mit dem in der Abgabenordnung geregelten allgemeinen Teil des Steuerrechts zu befassen. Die Abgabenordnung enthält vor allem Verfahrensrecht und technisches Recht. Das in ihr auch geregelte allgemeine Steuerschuldrecht kann man isoliert von dem in den Einzelsteuergesetzen enthaltenen besonderen Steuerschuldrecht nicht verstehen. Das allgemeine Steuerschuldrecht ist ein Torso. (2) Das besondere Steuerrecht lässt sich nicht vom Verwaltungsrecht her verwissenschaftlichen. (Wer das versucht hat, ist gescheitert.) (3) Wir müssen Theorie für die Praxis betreiben. Es genügt nicht, in luftiger Höhe und abgehobener Sprache zu theoretisieren. Prinzipien und Regeln müssen für die Praxis konkretisiert werden – bis in die Details hinein. Das geschieht in der von Joachim Lang mitbegründeten Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, in der Theoretiker und Praktiker sich zum beiderseitigen Vorteil begegnen. (4) Es genügt nicht, sich nur mit der Methodenlehre der Gesetzesanwendung zu befassen. Mit der Anwendungsmethode lassen sich schlechte nicht in gute, ungerechte nicht in gerechte Gesetze verwandeln. Vordringlich ist es, eine Methodenlehre für gerechte, einfache, gleichmäßig anwendbare Steuergesetze zu entwickeln. Joachim Lang hat gezeigt, wie man diese Aufgabe konkret löst, nämlich durch ausformulierte Gesetzentwürfe. Er hat mehrere Gesetzentwürfe3 vorgelegt, darunter den Entwurf eines Steuergesetzbuchs, verfasst im Auftrag des Bundesministers der Finanzen. Aus dem Hilfsreferenten des Jahres 1972, der es gewagt hatte, über das ihm zugewiesene Spezialgebiet hinauszudenken, war 1992 der vom Bundesfinanzminister mit einem Steuergesetzbuchentwurf beauftragte Steuerrechtsprofessor geworden. R. Seer, damals Assistent bei Joachim Lang, erinnert sich an die Begeisterung seines Lehrers über den Entwurfsauftrag des Ministers so: Im Laufe des Sommersemesters 1992 kam „J. Lang mit leuchtenden Augen in das Kölner Institut für Steuerrecht gestürmt“ und ließ uns wissen, welchen Auftrag er bekommen hatte. „Wir schauten ihn damals höchst skeptisch an und zweifelten an der Realisierbarkeit des ehrgeizigen Projekts. Getrieben von seinem unbändigen Enthusiasmus wischte Joachim Lang unsere Bedenken einfach vom Tisch. Er delegierte auch nicht etwa Teilbereiche des

__________ 2 Hinweis auch auf J. Lang, Die Verantwortung der Rechtswissenschaft für das Steuerrecht, StuW 1989, 201 ff. (Kölner Antrittsvorlesung). 3 S. Laudatio von R. Seer, StuW 2000, 301 ff.

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Werkes auf seine … Mitarbeiter. Angebote zur Mithilfe lehnte er freundlich ab und meinte: ‚Das muß ich alleine machen!‘ … Das Ergebnis, das er nach einigen Monaten Tag- und Nachtarbeit leicht übermüdet ablieferte, machte uns sprachlos. In einem wahren Kraftakt hatte er es tatsächlich vollbracht, ein geschlossenes Gesetzeswerk nebst Kommentierung zu formulieren, welches das gesamte Steuerrecht umfaßt.“4 Aus der Feder einer einzigen Person war damit etwas erwachsen, wozu Stäbe von Ministerialbeamten offenbar außerstande sind, eine Gesamtkodifikation des Steuerrechts nebst einer Kommentierung. Eine solche Pionierleistung konnte nur jemand vollbringen, der das Steuerrecht systematisch angeht, der zugleich Generalist und Spezialist ist, Generalspezialist. Unter Fachleuten und Journalisten kam seinerzeit die Frage auf, warum denn das deutsche Finanzministerium den Entwurf nicht für Deutschland nutze? Als Antwort wurde damals kolportiert: Der Entwurf sei als Hilfe für die osteuropäischen Länder gedacht. Er passe nicht zu der hohen deutschen Steuerrechtskultur. Dass der Entwurf vom deutschen Finanzministerium verschmäht worden ist, ändert nichts daran, dass Joachim Lang zu einem eminenten Steuerrechtswissenschaftler geworden ist – mit besonderem Talent und Geschick auch für Gesetzesformulierungen (dazu Hinweis auch auf den Aphorismus von H. Nahr, am Kopf dieses Beitrags).

II. Zum Disput um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft Da die Steuerrechtswissenschaft eine Teildisziplin der Rechtswissenschaft ist, liegt es nahe, zunächst zu fragen: „Worin besteht das Wissenschaftliche der Rechtswissenschaft?“ Dass man mit dieser Frage auch die Teilnehmer eines Doktorandenseminars in Verlegenheit bringen kann, hängt damit zusammen, dass sie während des Studiums des Zivilrechts, des Strafrechts und des öffentlichen Rechts nicht erörtert zu werden pflegt. Man findet etwas darüber in der Literatur über Rechtsphilosophie, Rechtstheorie oder allgemeine Rechtslehre, u. U. auch etwas in Schriften über die Methode(n) der Gesetzesanwendung. Das sind jedoch Fächer, die während des Studiums vernachlässigt werden und vernachlässigt werden können, weil sie in juristischen Examina keine Rolle spielen. Die Prüfung der Juristen ist mehr Wissensprüfung als wissenschaftliche Prüfung.5

__________ 4 R. Seer, StuW 2000, 302 re. 5 N. Horn meint dazu allerdings: „Das Interesse der Juristen an den Grundlagenfächern, insbesondere an der Methodenlehre und an der Rechtsphilosophie, nimmt zu. Gerade die Stoffmasse des geltenden Rechts verstärkt den Wunsch nach übergreifender Orientierung durch eine Rückbesinnung auf die Grundfragen des Rechts und seiner Anwendung“ (Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie4, 2007, Vorwort); hingegen lesen wir bei K. Röhl/H. Röhl: „Das Studium des Rechts ist mehr und mehr verschult. Die juristische Praxis scheint weitgehend ohne wissenschaftliche Anleitung auszukommen. Die Masse des juristischen Schrifttums ist Gebrauchsliteratur.“ (Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 1 unten). Nach J. Braun dominiert in der juristischen Ausbildung „nicht das Nachdenken über Grundfragen des Rechts, son-

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Die Rechtswissenschaft ist keine Naturwissenschaft, sondern eine Geisteswissenschaft oder Kulturwissenschaft.6 Da die Rechtswissenschaft es weithin mit Wertungen zu tun hat, wird sie auch als Wertungswissenschaft oder Idealwissenschaft bezeichnet.7 Sie kann daher nicht so exakt in ihren Ergebnissen sein wie eine auf Empirie gegründete Naturwissenschaft. Aber ist sie deswegen nur eine Pseudowissenschaft? Auch soweit statt von Wissenschaft von Lehre gesprochen wird8, drückt das nicht Unwissenschaftlichkeit aus. Kritisch gelehrt werden soll, was wissenschaftlich erforscht worden ist. K. Röhl/H. Röhl bezeichnen es als Zweck ihrer „Allgemeinen Rechtslehre“, einen Weg aufzuzeigen „von der bloßen Rechtskunde zur Rechtswissenschaft“.9 Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts sprach man von Jurisprudenz (iuris prudentia, nicht von iuris scientia) oder von Rechtsgelehrsamkeit (Rechtsgelahrtheit), erst von da ab setzte sich der Begriff Rechtswissenschaft durch.10 Heute wird der Begriff Jurisprudenz eher synonym mit Rechtswissenschaft gebraucht. Welcher Rechtswissenschaftler erinnert sich nicht an den Namen des preußischen Staatsanwalts Julius v. Kirchmann. Er hielt 1847 vor der Juristischen Gesellschaft in Berlin einen Vortrag mit dem provozierenden Titel „Von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“. Da v. Kirchmann nur die Naturwissenschaften als Wissenschaften akzeptierte, konnte es eine Rechtswissenschaft für ihn nicht geben. Seine Polemik gipfelte in der zum geflügelten Wort avancierten Feststellung: „Indem die (Rechts-)Wissenschaft das Zufällige11 zu ihrem Gegenstand macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit: drei be-

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dern der doktrinäre Geist affirmativer Subordination … Der Gedanke des Rechts erstickt schier unter der Flut von Entscheidungen, die sich nicht auf das Recht, sondern auf andere Entscheidungen [gemeint sind Präjudizien, d. V.] beziehen.“ (Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 359 f.). Kultur ist die von Menschen geschaffene Lebenswelt. Zu ihr gehört das Recht. Je nach dem Zustand, in dem die Kultur sich befindet, mag man von Primitiv- oder Hochkultur sprechen. Der Deutsche Finanzgerichtstag trat auf seiner Tagung von 2004 für „eine bessere Steuerrechtskultur“ ein. Aber nur ein Referent (J. Wieland) ging kurz auf die Frage ein, was er unter einer „besseren Steuerrechtskultur“ verstehe (J. Brandt [Hrsg.], Für eine bessere Steuerrechtskultur, 2004, S. 110 ff.). Die Steuerrechtswissenschaft kann sich allerdings auch empirisch betätigen. Sie kann z. B. die Realität der intakten Durchschnittsehe, die tatsächlichen Folgen von Steuervorschriften, auch von Steuervergünstigungen, aufklären. Sie kann die Motive der Steuerhinterziehung erforschen. Auch die bloß darstellende (nicht wertende) Rechtsvergleichung hat empirischen Charakter. – Soweit der Gesetzgeber auf Tatsachenwissen angewiesen ist, lassen die Juristen gern anderen den Vortritt, z. B. Ökonomen, Soziologen, Kriminologen. Die an der Gesetzgebung Beteiligten bedienen sich oft der sich aufdrängenden – interessierten – Lobbyisten. Auch das Typisieren setzt empirische Kenntnisse voraus. Z. B. Allgemeine Rechtslehre, Betriebswirtschaftslehre, Allgemeine Steuerlehre. K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 1 unten. W. Ernst in Chr. Engel/W. Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 4, Fn. 2. S. auch schon Jan Schröder, Theoretische und praktische Jurisprudenz in Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 1993, S. 237 f. Gemeint war die Gesetzgebung. Dazu auch P. Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 336. v. Kirchmanns Gesetzesbeschreibung mag P. Kirchhof an die Qualitätsmängel der Gegenwartsgesetzgebung erinnert haben.

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richtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“12. J. v. Kirchmann bestritt der Jurisprudenz nicht nur ihre Wissenschaftlichkeit. Er bejahte auch ihre Wertlosigkeit für die juristische Praxis. Offenbar galt seine besondere Abneigung der positivistischen Jurisprudenz. Sein Vortrag ist allerdings nicht nur auf Kritik gestoßen.13 Aber nicht wenige Rechtswissenschaftler empfinden v. Kirchmanns Leugnen der Wissenschaftlichkeit nach 160 Jahren noch immer als Dorn im Fleische der Rechtswissenschaft. Bis in die Gegenwart hinein sind sie bemüht, v. Kirchmann zu widerlegen.14 Solches Bemühen wäre schon erstaunlich, wenn v. Kirchmann der unbedeutende Durchschnittskopf gewesen wäre, als den manche ihn hingestellt haben. K. Röhl / H. Röhl fragen: „Warum legen Juristen Wert darauf, dass ihr Fach als Wissenschaft anerkannt ist?“ Ihre Antwort: „Wissenschaft gilt als gesellschaftlich wertvoll. Sie verleiht Ansehen und Autorität. Wissenschaftliche Berufe … bieten eine privilegierte Möglichkeit des Broterwerbs. Wissenschaft ist umgeben von der Aura der Wahrheit und Neutralität. Wissenschaft verhilft der Justiz zu jener Unparteilichkeit, der sie ihre Anerkennung verdankt, und Wissenschaft steht unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG …“15 Scientia nobilitat animum, hieß es. Nicht wenige Juristen scheinen, was die Wissenschaftlichkeit betrifft, keine sichere Antwort parat zu haben, nicht frei zu sein von Selbstzweifeln. Es wird auch die Auffassung vertreten, nur die Gesetzesanwendungsmethode sei wissenschaftlich. Die Rechtswissenschaft sei eine heuristische oder Interpretationswissenschaft. Die Gesetzgebung gehe sie nichts an.

III. (Steuer-)Rechtswissenschaft durch Systemrationalität Auch Geisteswissenschaften, die Rechtswissenschaft eingeschlossen, müssen möglichst rational sein. Beliebigkeit oder Willkür, bloß subjektives Meinen,

__________ 12 Nachdruck 1990 der Schrift von 1848, S. 24. 13 Über J. v. Kirchmanns Karriere H. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts3, 1983, Rz. 412–418. – J. v. Kirchmann, der übrigens auch in der Politik tätig war, wurde nach mehreren Disziplinarverfahren, bereits 65 Jahre alt, als Justizbeamter ohne Versorgungsbezüge aus dem Dienst entfernt. 14 Ohne Vollständigkeit nenne ich hier F. J. Stahl, Widerlegung der Kirchmannschen Broschüre: Rechtswissenschaft oder Volksbewusstsein?, 1848; Julius Binder, Über den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, Kant-Studien, XXV, 1921, S. 321 ff.; Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 843 ff., 847 ff.; K. Larenz, Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1966 (Larenz beschäftigt sich vor allem mit dem wissenschaftlichen Wert der Rechtsanwendungsmethode); F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 415 f. m. w. N.; G. Radbruch, Rechtsphilosophie8, 1973, S. 218, 320; H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie3, 1976, S. 346; B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 281; K. Röhl/H. Röhl (Fn. 5), S. 80 f.; W. Ernst (Fn. 10), S. 21 f. m. w. N.; M. Jestaedt, ebenda S. 242 f. Hinzuweisen ist auch auf die Kontroverse zwischen Chr. Engel, JZ 2006, 614; JZ 2006, 1118 f. und H. H. Jakobs, JZ 2006, 1115 ff. 15 Fn. 5, S. 79.

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Glauben, Vermuten, Ahnen erfüllen schwerlich den Wissenschaftsbegriff. Wissenschaft besteht in – einem Sammeln von Wissen, so dass ein Fundus von Wissen entsteht, der über das Allgemeinwissen des Bürgers hinausgeht, – dem systematischen Ordnen und Verwerten des gesammelten Wissens. Nach Immanuel Kant ist Wissenschaft ein System, das ist „ein nach Prinzipien geordnetes Ganze der Erkenntnis“.16 Das System besteht aus einem Prinzipien- und Regelgefüge, das eine einheitliche, folgerichtige, widerspruchsfreie Ordnung schafft.17 Systemidee und Wissenschaftlichkeit sind unlöslich miteinander verbunden. Systemabhängig ist – anders als die Rechtskunde – auch die Rechtswissenschaft. Auch sie muss für ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes sorgen, für eine systematische Stoffanordnung.18 Ohne System ist der Stoff – so P. J. A. Feuerbach, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Kriminalgesetz für Bayern erarbeitet hat, „nichts als eine Last für das Gedächtnis, ein trauriger, abschreckender Schutthaufen zertrümmerter Materialien, die für den Staat nutzlos sind und der Vernunft ein Greuel sind“.19 „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht“, so formuliert prägnant Hans J. Wolff.20 M. a. W.: Die Systematik, die systematische Ordnung ist es, die den Wissenschaftscharakter des Rechts begründet.“21 Unsystematische, chaotische Wissenschaft ist ein Widerspruch in sich. Auch im Recht ist Ordnung ein positiver Wert, Unordnung ein negativer. Geht es um Recht und Gerechtigkeit, so genügt indessen keine beliebige systematische Ordnung, sondern es bedarf einer auf Rechtsoder Gerechtigkeitsprinzipien gegründeten Rechts- oder Gerechtigkeitsordnung. Die Steuern jedenfalls sollen zwar die Kassen von Staat und Gemeinden

__________ 16 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786, Vorrede. Weitere Nachweise zum Systembegriff Kants sind nachgewiesen von C. C. E. Schmidt, Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften3, 1996, S. 512 f., Stichwort „System“. 17 Dazu auch J. Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 839; A. v. d. Stein, System als Wissenschaftskriterium in Der Wissenschaftsbegriff, hrsg. von A. Diemer, 1970, S. 99, 107. 18 Zumal in der Politik wird viel vom „deutschen Steuersystem“ gesprochen. Das kann indessen kein systematisches Ganzes meinen, sondern die ungeordnete Gesamtheit der deutschen Steuern, in Wirklichkeit ein Steuerkonglomerat. 19 P. J. A. Feuerbach, Über Philosophie und Empirie im Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft, 1804, S. 87, zitiert nach Jan Schröder (Fn. 10), S. 238. 20 H. J. Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale, 1952, S. 205. 21 Über die Abhängigkeit des Rechtswissenschaftscharakters vom Systemgedanken auch J. Binder (Fn. 14), S. 838 ff.; 852; J. Binder, Kant-Studien XXV, 1921, S. 321 ff., 356; H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, Frankfurter Universitätsreden Heft 17, 1955; H. Coing (Fn. 14), S. 340 ff., 346; C. W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 13 Fn. 16, 29 f., 43; B. Rüthers (Fn. 14), Rz. 139; K. Röhl/H. Röhl (Fn. 5), S. 442; H. Fleischer in Das Proprium (Fn. 10), S. 58 f.; W. Frisch, ebenda, S. 160 ff. („Rechtswissenschaft als systematische [systematisierende] Wissenschaft“).

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füllen, dies dürfen sie jedoch nicht auf beliebige, sondern nur auf gerechte Weise tun. Schon seit Philipp Heck wird zwischen äußerem (formalem) und innerem (inhaltlichem) System unterschieden22, so auch von C. W. Canaris23, K. Larenz24, F. Bydlinski25, B. Rüthers26, K. Röhl / H. Röhl27, A. Steichen28. Die Unterscheidung ist im Privatrecht entwickelt worden; sie hat sich aber auch im Steuerrecht als Gerechtigkeitsrecht (s. S. 30 IV.) bewährt.29 Alain Steichen hat das Systemdenken in das Luxemburger Steuerrecht eingeführt.30 Besonders von wissenschaftlichen Lehrbüchern erwartet man eine Systematisierung des Stoffes, zum einen um ihn eingängig und übersichtlich zu präsentieren, zum anderen um ihn durch Orientierung an Prinzipien und Regeln einsichtig zu machen.31 Jubilar Joachim Lang drückt es so aus: „Ein systematisiertes Steuerrecht ist keine Frage bloßer juristischer Ästhetik oder Kosmetik. Es hat gegenüber einem nicht systematisierten Steuerrecht auch nicht nur den Vorteil größerer Stimmigkeit, Übersichtlichkeit, Klarheit, Durchsichtigkeit, Verständlichkeit, Praktikabilität, Lehr- und Lernbarkeit, Prüfbarkeit und Übersetzbarkeit. Fehlt das innere System, die rechtsethische Prinzipienordnung, so ist das Steuerrecht auch keine Gerechtigkeitsordnung …“32 Auf diesen Erkenntnissen baut das Lehrbuch (früher Grundriss) „Steuerrecht“ Tipke/Lang seit der 1. Aufl. auf. Der beste Beweis dafür, dass das Konzept sich bewährt hat, ist das Erscheinen der 20. Aufl. vor einem Jahr. Der Erfolg des Buches, der mit positivistischen, gerechtigkeitsagnostischen Mitteln nicht erreichbar gewesen wäre, ist wesentlich auch das Verdienst des Jubilars J. Lang, der das Werk seit der 12. Aufl. betreut hat.

__________ 22 Ph. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1933, S. 139 ff. 23 C. W. Canaris (Fn. 21), S. 19, 24, 87, 91 (äußeres S.), 35, 40 ff., 91 (inneres S.). 24 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 1975, S. 61, 155, 161, 266, 315 f., 421, 430, 432 ff., 474 (äußeres S.), 62, 143, 159 f., 315, 326, 361 ff., 458 ff., 471 ff. (inneres S.). 25 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 9, 69 ff., 117 ff. (äußeres S.), IX, 31, 135 ff. (inneres S.). 26 B. Rüthers (Fn. 14), Rz. 141 (äußeres S.), 142 ff. (inneres S.). 27 K. Röhl/H. Röhl (Fn. 5), S. 438 f. (äußeres S.), 439 ff. (inneres S.). 28 A. Steichen, Manuel de droit fiscal4, 2006, S. 110 ff. (Système externe de droit fiscal), 104 ff. (Système interne de droit fiscal). 29 Der Verf. hat sie 1971 in das Steuerrecht eingeführt (StuW 1971, 2, 4 f.), dann in seinen systematischen Grundriss „Steuerrecht“ aufgenommen (1. Aufl. 1973, S. 11– 13). Sie findet sich auch in der Habilitationsschrift des Jubilars (J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, S. 11 insb. Fn. 63). Hinweise auf die Gegenwartsliteratur: K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 61 (äußeres S.), 67 ff. (inneres S.); K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 71 ff. 30 A. Steichen, Manuel de droit fiscal général4, 2006, S. 104 ff. 31 Näher dazu K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 88–94: „Vorteile der Prinzipienhaftigkeit; Nachteile der Prinzipienlosigkeit“. 32 K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 26. Hinzuweisen ist auf das Werk von F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, Wien/New York 1996; Vorwort und 1. Hauptteil sind nicht nur für Privatrechtler lehrreich.

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Das System wird von Prinzipien und Regeln33 getragen und ausgefüllt. Diese sorgen dafür, dass die im Systembegriff angelegte Rationalität – Verallgemeinerung, Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit – erreicht wird. Diese Rationalität lässt sich auch als Rechtslogik34, Systemlogik, Normlogik35, juristische Logik oder Wertungslogik bezeichnen. Diese Logik sorgt aber nicht nur für einen Fortschritt an Rationalität und damit an Wissenschaftlichkeit, sie fördert über den Gleichheitssatz auch das demokratische Element. Nur sollte klar sein, dass es sich nicht um exakte Logik (im strengen Sinne) handeln kann. Zumindest kann die Rechtslogik aber Beliebigkeit, Willkür, Willfährigkeit gegenüber Interessengruppen ausschalten. Es muss untersucht werden, inwieweit die Rechtslogik des Steuerrechts ausreicht, um von Wissenschaftlichkeit sprechen zu können. Terminologisch ist klarzustellen: In der Ethikliteratur findet man Autoren, die entweder den Begriff „Prinzip“ (oder „Grundsatz“) oder den Begriff „Regel“36 bevorzugen, diese Begriffe überhaupt als Synonyme auffassen. Es gibt aber auch Autoren, die den Begriff „Prinzip“ den Fundamentalregeln (die nicht mehr von einem anderen Prinzip abgeleitet werden können) vorbehalten, während Regeln das Prinzip konkretisieren, umsetzen, ausführen. Dafür spricht sprachlich: principium kommt von primum (= Anfang) capere. Prinzip ist danach ursprünglich das, was als Ursprung, als oberster Wert am Anfang steht. Zwischen das Prinzip und ausführende Regeln lassen sich terminologisch noch Subprinzipien schieben. Ein Eingehen auf weitere terminologische Differenzen (und sich daraus eventuell ergebende Weiterungen) verlangt mein Thema m. E. nicht.37 Was für das Prinzipiengefüge des Steuerrechts gilt, muss für andere Rechtsbereiche nicht gelten, auch nicht für andere Bereiche des besonderen Verwal-

__________ 33 Von „Rechtslogik“ spricht I. Tammelo in Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 1977, S. 120 („Im Bereich der Rechtstheorie kommt der Rechtslogik eine zentrale Rolle zu, da es ihre Aufgabe ist, die Voraussetzungen und den Verlauf des folgerichtigen [kurs. durch Verf.] Denkens zu bestimmen …“). K. Röhl/H. Röhl behandeln unter „Normenlogik“ z. B. die Allgemeinheit des Gesetzes und Normwidersprüche (Fn. 5, S. 151 ff., 161). K. Seelmann spricht vom Rechtssystem als „möglichst stimmigen, logischen Wertungs- und Geltungszusammenhang“ (Rechtsphilosophie3, 2004, § 2 Rz. 87). M. G. Singer nennt seine Schrift „Generalization in Ethics“ (1971) einen „Essay in the Logic of Ethics“ (s. Preface). Dazu auch P. Lorenzen, Normative Logic and Ethics, 1969; O. Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, 1973. 34 K. Röhl/H. Röhl (Fn. 5), S. 151 ff.; J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 42 ff. 35 O. Weinberger, Rechtstheorie Bd. 8 (1977), 32 ff. 36 In Deutschland spricht man von der „Goldenen Regel“ und nicht vom „Goldenen Prinzip“ (trotz aller Grundsätzlichkeit). 37 J. Englisch stellt seiner ausgezeichneten Habilitationsschrift ein Kapitel über die Lehre von den Rechtsprinzipien voran. Er behandelt die Theorien von C.-W. Canaris, R. Dworkin, R. Alexy und J.-R. Sieckmann und entwickelt nach einer kritischen Stellungnahme seinen eigenen Ansatz (Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 7 ff., 34 ff., 54 ff.). Über Regeln, Prinzipien und Werte als Strukturelemente des Rechts K. Röhl/H. Röhl (Fn. 5), S. 288 ff.

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tungsrechts, wie z. B. Straßen- und Wegerecht, Beamtenrecht, überhaupt nicht für gerechtigkeitsfreie oder -ferne Rechtsbereiche. Sie sind jedenfalls von anderer Eigenart. Die Steuerrechtswissenschaft als Gerechtigkeitswissenschaft muss das steuerrechtliche Prinzipiengefüge grundsätzlich an der Gerechtigkeit ausrichten. Mit gerechtigkeitsfreien Rechtsbereichen ist das Steuerrecht nicht zu vergleichen. Die Gebote der Rechtslogik, die im Steuerrecht gelten, sollten allerdings entsprechend insbesondere auch im Sozialrecht anwendbar sein.

IV. Die Verteilungsgerechtigkeit als systembestimmend für die Steuerrechtswissenschaft Auch die Steuerrechtswissenschaft hat ihre Eigenart, ihr Proprium.38 Da die Gesamtsteuerlast gerecht auf die einzelnen Steuerbürger aufgeteilt und verteilt werden muss, muss die Steuergerechtigkeit Gegenstand der Steuerrechtswissenschaft sein. So nennt K. Vogel die Steuerrechtswissenschaft denn auch ausdrücklich „Gerechtigkeitswissenschaft“.39 Das System und die es tragenden Prinzipien müssen daher auf Gerechtigkeit hingeordnet sein, von ihr abgeleitet werden. Wer einen Blick in die Lehrbücher anderer Rechtsgebiete wirft, dürfte erstaunt sein, dass die Gerechtigkeit darin keine oder keine besondere Rolle spielt, dass dieses Stichwort jedenfalls weithin nicht für wert befunden wird, ins Sachverzeichnis aufgenommen zu werden.40 Anders verhält es sich allerdings mit Monographien und Lehrbüchern zur Rechtsphilosophie, zur Rechtstheorie, zur Allgemeinen Rechtslehre. In Wirklichkeit haben vor allem diese „Randfächer“ Wissenschaftscharakter. In der Ethik besteht Konsens darüber, dass Gerechtigkeit ein ganz besonders hoher Wert ist. Nach I. Kant: „Die Gerechtigkeit hört auf, eine zu sein, wenn sie sich für irgendeinen Preis weggibt“ (zitiert nach H. J. Neubauer, Hrsg., Mit Kant am Ast der Dummheit sägen, 2006, S. 125). Nach Ch. Perelman ist Gerechtigkeit das, „was es … in der Gesellschaft an Grundlegendstem und an Ehrwürdigstem unter den Begriffen gibt …“41 H. Ruh ordnet die Gerechtigkeit den Begriffen zu, „die für das menschliche Zusammenleben von vitalster Bedeutung sind.“42 Für H. Coing „steht unter den sittlichen Werten, die das Recht gestalten, der Wert der Gerechtigkeit oben an“.43 Es besteht heute „Einigkeit darüber, dass die Gerechtigkeit einen positiven ethischen und sozialen Wert darstellt …“44 D. Höffe bezeichnet sie als „das grundlegende nor-

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38 M. Reimann spricht zutreffend von den „Propria der Rechtswissenschaft“ in Das Proprium (Fn. 10), S. 87, 98 f. 39 K. Vogel, JZ 1993, 1123. Hinweis auch auf J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, 2010, § 1 Rz. 34 („Dadurch wird die Steuerrechtswissenschaft … notwendig zur Steuergerechtigkeitswissenschaft.“). 40 Dazu J. Braun (Fn. 5), S. 358 ff. 41 Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 14. 42 H. Ruh in A. Wildermuth/A. Jäger (Hrsg.), Gerechtigkeit, 1981, S. 55. 43 H. Coing (Fn. 14), S. 184. 44 I. Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, 1977, S. 12.

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mative Prinzip des äußeren Zusammenlebens …, als das sittliche Ideal und Kriterium … selbst der Grundordnung einer politischen Gemeinschaft …“45 Daher bekennt sich auch kein Politiker zur Ungerechtigkeit, auch dann nicht, wenn er Klientelpolitik betreibt, sich für Privilegien seiner Klientel einsetzt. Einen wissenschaftlichen Wert erhält der Gerechtigkeitsbegriff aber erst, wenn es gelingt, ihn in möglichst sicherer Weise zu konkretisieren. Nur so kann Gerechtigkeit einigermaßen sicher von Ungerechtigkeit unterschieden werden. Ein erster Schritt dahin besteht in der Erkenntnis, dass die Gleichbehandlung (wenn Gerechtigkeit sich in ihr nicht erschöpft) jedenfalls den Kern der Gerechtigkeit ausmacht. Ch. Perelman meint: „Die Gerechtigkeitsidee steckt … in einer gewissen Anwendung der Gleichheitsidee.“46 H. Ruh bezeichnet die Gleichheit als den „dominanten Akzent der Gerechtigkeit“.47 Wie viele andere sieht I. Tammelo die Gleichheit als „Kern der Gerechtigkeit“ an.48 O. Höffe formuliert: „Den Kern unserer Vorstellungen von Gerechtigkeit bleibt – neben den Ideen der unantastbaren Menschenwürde, der Freiheit und der Solidarität – das ethische Prinzip der Gleichheit …“49 Man spricht auch von Gleichgerechtigkeit. Für alle ist die Gleichheit Ausfluss der Gerechtigkeit, nicht umgekehrt die Gerechtigkeit Ausfluss der Gleichheit. In der Gleichheit verkörpert sich Gerechtigkeit. „Die steuerliche Ungleichheit war das klassische Thema der Anhänger des Gleichheitssatzes.“50 Heute ist die Steuergleichheit „das elementare Wesensgesetz des Steuerstaates“51, sie wird auch als die Magna Charta des Steuerrechts bezeichnet.52 „Mit der Gleichheit“ – so J. Isensee – „steht und fällt die Steuer.“53 Gleichheit ist aber auch ein Wesenselement der Demokratie. Man hat sie auch „Rückgrat der Demokratie“ genannt. So ist es nicht erstaunlich,

__________ 45 O. Höffe, Lexikon der Ethik7, 1977, S. 96. Über den Wert der Gerechtigkeit für die Gesellschaft auch der Sozialpolitiker Norbert Blüm, Gerechtigkeit. Eine Kritik des homo oeconomicus, 2006, S. 20 ff. 46 Ch. Perelman (Fn. 41), S. 22. 47 In A. Wildermuth/A. Jäger (Hrsg.), Gerechtigkeit, 1981, S. 59. Hinzugefügt wird von H. Ruh: „Folgerichtig wurde dann Gerechtigkeit durch die abendländische Geistesgeschichte hindurch immer wieder gerade von den größten Geistern als Gleichheit interpretiert.“ 48 I. Tammelo (Fn. 44), S. 76. An anderer Stelle (S. 45) vermerkt er, dass „Gleichheit ein Merkmal der Gerechtigkeit ist, spielt in der philosophischen Tradition eine auffallende Rolle …“. 49 O. Höffe, Lexikon der Ethik7, 2008, S. 98. Auch H. Coing erwähnt den „Gedanken der Gleichbehandlung für die Gerechtigkeit“. (H. Coing [Fn. 14], S. 185). – Was man der „Gerechtigkeitsidee“, der „Rechtsidee“, der „Rechtsstaatsidee“ zurechnet, ist eine Frage der Terminologie, betrifft nicht die Inhaltsbestimmung der zuteilenden (Steuer-)Gerechtigkeit. 50 H. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, UTB 1983, S. 51. 51 M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 9. 52 J. Hey, StbJb. 2007/08, 33. 53 J. Isensee, StuW 1994, 3 (7) re.

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dass der Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eine hervorragende Rolle spielt. Sowohl die Gerechtigkeit als auch die aus ihr abgeleitete Gleichbehandlung oder Gleichbelastung sind auf einen Maßstab – auf ein maßstäbliches Grundoder Primärprinzip – sowie auf dieses konkretisierende Subprinzipien und Regeln angewiesen. Sie konstituieren das Gerechtigkeitssystem. Das ist allgemein anerkannt.54 Das Gerechtigkeitsprinzip und der es konkretisierende Gleichheitssatz sind leer, solange sie nicht durch einen sachgerechten Maßstab ausgefüllt werden.55 Prinzipienloses, regelloses Entscheiden ist willkürlich; Willkür ist der Gegensatz von Gerechtigkeit.56

V. Wissenschaftskriterien der Rechts- oder Wertungslogik – angelegt auch im Gleichheitssatz 1. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als grundlegender Steuergerechtigkeitsmaßstab K.-D. Drüen stellt zutreffend fest: „Aus der Gerechtigkeitsidee lässt sich keinesfalls punktgenau ableiten, welchen Beitrag der einzelne Steuerpflichtige durch welche einzelnen Steuern zum Steueraufkommen beitragen soll.“57 „Gerechtigkeit“ ist in der Tat ein unbestimmter, konkretisierungsbedürftiger Begriff. Auch das politische Schlagwort bleibt i. d. R. unbestimmt (z. B.: Die stärkeren Schultern müssen mehr tragen als die schwächeren). Geisteswissenschaften (wie die Rechtswissenschaft) sind nicht per se Wissenschaften. Die Steuerrechtswissenschaft als Gerechtigkeitswissenschaft wird es dadurch, dass sie mit möglichst rationalen Kriterien bestimmt, was der Inhalt der Steuergerechtigkeit ist. Dass dadurch nicht die Exaktheit und Präzision der Naturwissenschaften erreicht wird, liegt in der Natur von Wertungswissenschaften. Die Rechts-, Norm- oder Wertungslogik ist keine exakte Logik. Aber

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54 H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1977, S. 401 f., 404 („Gerechtigkeit verlangt Sich-Festlegen durch ein sachliches Maß, regellos zu verfahren ist ungerecht.“); Ch. Perelman (Fn. 41), S. 57 („Gerecht sein heißt eine Regel anwenden.“), 59 („Die Gerechtigkeit ist ohne Regeln unbegreiflich. Sie bedeutet Treue der Regel und Gehorsam dem System gegenüber.“); I. Tammelo (Fn. 44), S. 42 („Aus der Ideengeschichte über die Gerechtigkeit geht hervor …, dass die menschlichen Verhältnisse nur dann als gerecht qualifiziert werden, wenn sie an Prinzipien oder Regeln gemessen werden, das gerechte Verhalten ist ein regelhaftes – es hält sich an Regeln und Kriterien.“), S. 57 („Diese Prinzipien sind die Kriterien der Gerechtigkeit.“); F. A. v. Hayek, Recht, Gerechtigkeit und Freiheit Bd. 1: Regeln und Ordnung, 1980, S. 129 („ob sie aus einer universalen Regel gerechten Verhaltens besteht.“), 173 (Gesetzgebung als die „Feststellung von universalen Regeln gerechten Verhaltens.“). 55 L. Osterloh in Sachs (Hrsg.), GG5, Art. 3 Rz. 5; R. Mellinghoff, Verfassungsgebundenheit des Steuergesetzgebers – unter besonderer Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in FS für P. Bareis, 2005, S. 176. 56 Dazu zum Steuerrecht auch J. Lang, StuW 2006, 22 (24 f.): „Verankerung von Steuergerechtigkeit im Gleichheitssatz“. 57 K.-D. Drüen, Zur Rechtsnatur des Steuerrechts und ihrem Einfluß auf die Rechtsanwendung, in FS für H. W. Kruse, 2001, S. 196.

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mit ihr kann doch ein Entscheiden nach Gutdünken oder Belieben, nach politischer Opportunität ausgeschaltet werden. Wird das nicht erreicht, so handelte es sich in der Tat um eine Pseudowissenschaft. Gerechtigkeit und die aus ihr folgende Gleichheit58 benötigen als sachgerechtes Fundament einen grundlegenden Wertmaßstab, ein wertendes Grund-, Primär- oder Ausgangsprinzip59 als Vergleichsmaßstab (tertium comparationis) für die Anwendung des Gleichheitssatzes.60 J. Englisch formuliert es so: Es „gibt Art. 3 Abs. 1 GG nicht selbst den Maßstab vor, an dem ein Gebot sachgerechter Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung auszurichten ist. Da es sich um ein Gerechtigkeitsgleichmaß handeln muss, steht die Auswahl aber auch nicht im Belieben des Gesetzgebers. Der Maßstab muss vielmehr nach rechtsethischer Wertung ein gerechter sein … Je nach Regelungsbereich werden unterschiedliche Gerechtigkeitsideale dem Gerechtigkeitsempfinden der Rechtsgemeinschaft entsprechen.“61 Es ist weltweit anerkannt62, dass für den Bereich des Fiskal-Steuerrechts das Leistungsfähigkeitsprinzip der grundlegende sachgerechte Wertmaßstab, das Ausgangs- oder Leitprinzip sein sollte.63 Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist kein Axiom. Es ist auch nicht das Ergebnis bloßer Dezision. Es ist alternativlos, weil das Kopfsteuerprinzip und das Äquivalenzprinzip nicht im Sinne des Sozialstaatsprinzips und des verfassungsrechtlichen Schutzes des Existenzminimums verallgemeinerungsfähig sind. Das Leistungsfähigkeitsprinzip hingegen nimmt darauf Rücksicht.64 Wer finanziell nicht leistungsfähig ist, sich selbst nichts leisten kann, kann auch an die Gemeinschaft nichts leisten. Ethiker mögen vermissen, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht berücksichtigt, warum jemand nicht leistungsfähig ist. Aber: Leistungsfähigkeit ist eine Ist-Größe. Soll-Leistungsfähigkeit lässt sich nicht gleichmäßig erfassen. Die Folgen des Leistungsfähigkeitsprin-

__________ 58 Dazu S. 31 f. 59 J. Englisch (Fn. 37) bevorzugt den Begriff „Leitprinzip“ oder (gelegentlich) „Leitwertung“ (s. z. B. S. 36, 93, 133, 135, 399, 402, 407, 410, 413). 60 So auch D. Birk, Steuerrecht12, 2009, Rz. 187; L. Osterloh (Fn. 55), Art. 3 Rz. 134; R. Mellinghoff (Fn. 55), S. 176 f.; J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, 2009, § 4 Rz. 70 ff. 61 J. Englisch (Fn. 37), S. 84. So auch schon K. Tipke, Steuergerechtigkeit, 1981, S. 11 ff.; K. Tipke, Steuerrechtsordnung, S. 261 ff., 273 ff.; J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 29), § 4 Rz. 76 f. 62 S. unten S. 34. 63 Dazu D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983; D. Birk (Fn. 60), Rz. 188; K. Tipke, Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 471; J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS für H. W. Kruse, 2001, S. 313 ff.; J. Englisch (Fn. 37), S. 563 ff.; L. Osterloh (Fn. 55), Art. 3 Rz. 134; R. Mellinghoff (Fn. 55), S. 177. Für den Bereich der Lenkungsteuern nimmt J. Englisch eine „Zurückdrängung des Leistungsfähigkeitsprinzips“ an (a. a. O. S. 617 ff.); so auch schon J. Lang, DStJG 15 (1995), 113 (126 f.). – Nicht einbezogen ist hier das internationale Steuerrecht (dazu H. Schaumburg, StuW 2000, 369 ff.; StuW 2005, 306 ff.; J. Lang in FS für H. Schaumburg, 2009, S. 45 ff.). 64 S. auch J. Englisch (Fn. 37), S. 577 ff., 594.

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zips sind tragbar. Dieses Prinzip lässt sich, wenn bei Bedarf typisiert wird, auch praktizieren. Es hat sich praktisch bewährt. Das Leistungsfähigkeitsprinzip sollte für alle Fiskalzwecksteuern das fundamentale Wertungsprinzip und Träger eines monistischen Systems sein.65 Der Einwand, das Leistungsfähigkeitsprinzip sei zu unbestimmt, ist durch Konkretisierung widerlegt worden. Der Jubilar hat dazu durch seine Habilitationsschrift66 und durch seine Gesetzentwürfe einen großen Beitrag geleistet. Schwieriger zu konkretisieren als das Leistungsfähigkeitsprinzip ist das Rechtsstaatsprinzip. Trotz mehr als hundertjährigen Bemühens um den Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips herrscht an seinen Rändern allerdings noch nicht in allen Fragen Übereinstimmung.67 Durchweg beschäftigen diese Fragen aber hauptsächlich die Theorie, kaum die Praxis der Verwaltung und Rechtsprechung. Leistungsfähigkeit kommt, wenn auch nicht immer, durch Leistung zustande. Diese kann einfach sein, aber auch körperlich oder geistig besonders schwer sein, sie kann schmutzig sein oder mit besonderen Gefahren verbunden, sie kann zu ungewöhnlichen Zeiten verrichtet werden müssen. Das Gesetz nimmt darauf grundsätzlich keine Rücksicht, denn die Ermittlung der Modalitäten der Leistung würde die Finanzämter gänzlich überfordern. Das Leistungsfähigkeitsprinzip hat nicht nur im deutschen Steuerrechtskreis68, sondern in der ganzen Welt69 Zustimmung gefunden. Während das Leistungsfähigkeitsprinzip in Art. 134 der Weimarer Verfassung ausdrücklich verankert war70, fehlt eine solche Vorschrift im Grundgesetz. Das hat die Nachkriegs-Staats- und Steuerrechtslehre aber nicht daran gehindert, das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht nur als Vergleichsmaßstab für den Gleichheitssatz einzuführen, sondern auch bei der Gesetzesauslegung zu be-

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Lenkungsnormen und Lenkungssteuern fallen aus diesem System heraus. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88. Dazu K. Tipke, Steuerrechtsordnung (Fn. 31), S. 512 ff. („inhaltliche Sonderfragen“). Victor Thuronyi ordnet dem deutschen Steuerrechtskreis zu: das Steuerrecht von Deutschland, Österreich Schweiz, Luxemburg. (Tax Law Design and Drafting Vol. 1, 1996). Zum Leistungsfähigkeitsprinzip in Österreich W. Doralt/H. G. Ruppe, Steuerrecht I9, 2007, Rz. 25 f.; R. Beiser, Steuerrecht, 2004, S. 25 ff.:; in der Schweiz M. Reich, Steuerrecht, 2009, § 10 Rz. 39 ff., 46 ff., § 12 Rz. 40; § 13 Rz. 248 ff., 269 f.; R. Mateotti, Steuergerechtigkeit und Rechtsfortbildung, 2007, S. 31 ff., 357; in Luxemburg A. Steichen, Manuel de droit fiscal3, 2006, S. 105, 106 („le fils rouge du droit fiscal doit être guidé par une idée directrice“), 214 ff. („le principe de capacité contributive“). 69 K. Tipke, Europäisches Steuerverfassungsrecht, in FS für K. Vogel, 2000, S. 561 ff.; Steuerrechtsordnung Bd. I2, 2000, S. 488 ff. 70 Dazu ausführlich A. Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers, VJSchrStFR 1930, 441–493, nachgedruckt in E. Reimer/Chr. Waldhoff (Hrsg.), Albert Hensel, 2000, S. 245–298.

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rücksichtigen. Störend ist, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip auf siebenerlei Weise gerechtfertigt wird.71 Dass das unbestimmte Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisiert werden muss, liegt auf der Hand. Das Leistungsfähigkeitsprinzip muss – zu Ende gedacht – alle Steuern erfassen, und es muss durch Prinzipien und Regeln folgerichtig und widerspruchsfrei umgesetzt werden.72 Das verlangt die Wissenschaftlichkeit.73 Die Frage, ob Steuern auch am Äquivalenzprinzip orientiert werden dürfen, ist zu verneinen.74 Das Äquivalenzprinzip schützt das Existenzminimum nicht, entspricht nicht dem Steuerbegriff (§ 3 Abs. 1 AO), wohl aber dem Begriff der Kausalabgaben (Gebühren, Beiträge). Kaum diskutiert worden ist bisher die Frage, unter welchen Voraussetzungen Steuern, unter welchen Gegebenheiten aber Kausalabgaben die richtige Abgabe sind.75 2. Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips durch Rechts- oder Wertungslogik a) Das Gebot der Verallgemeinerung Das ethische Gebot der Verallgemeinerung verlangt, dass Prinzipien (und Regeln) grundsätzlich zu Ende gedacht werden. Die Verallgemeinerung oder Allgemeinheit ist dem Begriff des Prinzips bereits inhärent. Das „allgemeine Prinzip“ ist ein Pleonasmus. Der Gegenwarts-(Steuer-)Gesetzgeber denkt Prinzipien allerdings selten zu Ende. Das Gebot der Verallgemeinerung wird grundsätzlich verletzt, wenn nur eine Gruppe von Steuerbürgern (etwa Gewerbetreibende, nicht andere Unternehmer), nur eine einzelne Einkunftsart, eine einzelne Vermögensart, ein einzelnes Wirtschaftsgut, eine einzelne Aufwendung erfasst wird.76 In der Geschichte des Steuerrechts sind durchaus Fortschritte in Verallgemeinerung gemacht worden. Einzelne Ertragsteuern sind durch die (synthetische) Einkommensteuer ersetzt worden, die vielen Spezialakzisen durch die allgemeine Umsatzsteuer. Jedoch hat man aus fiskalischen Gründen neben den allgemeinen Steuern an Realsteuern und etlichen besonderen Verbrauchsteuern festgehalten.

__________ 71 Dazu mit Recht kritisch J. Englisch (Fn. 37), S. 572 ff. Er lehnt es zutreffend ab, das Leistungsfähigkeitsprinzip aus Art. 106 GG abzuleiten. Nicht allen von Art. 106 GG erfassten Steuern liegt das Leistungsfähigkeitsprinzip wirklich zugrunde. Dieses Prinzip darf nicht so zurecht gebogen werden, dass es zu allen Steuern passt. 72 S. auch J. Englisch (Fn. 37), S. 147. 73 Auch M. Jestaedt spricht von den „Wissenschaftskriterien der Konsequenz und Konsistenz“ (in Das Proprium [Fn. 10], S. 271). 74 Schon A. Hensel hatte diese Frage verneint (VJSchrStFR 1930, 448). 75 Dazu K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, 2006, S. 103. 76 Zustimmend G. Kirchhof, Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 541.

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Das verallgemeinerte Leistungsfähigkeitsprinzip hätte allen (Fiskalzweck-) Steuern zugrunde gelegt werden müssen. Unbestritten liegt das Leistungsfähigkeitsprinzip aber nur der Einkommensteuer77, der Körperschaftsteuer und der Erbschaftsteuer78 zugrunde. Die Zweifel, ob die Umsatzsteuer vom Leistungsfähigkeitsprinzip getragen wird, dürften durch J. Englisch ausgeräumt worden sein.79 Ob eine allgemeine Vermögensteuer in einem kohärent vom Leistungsfähigkeitsprinzip fundierten Steuersystem untergebracht werden kann, ist umstritten.80 Die Grundsteuer ist eine auf eine Vermögensart beschränkte, an den Grundstücks-Sollertrag anknüpfen sollende Teil-Vermögensteuer. Die Gewerbesteuer lässt sich weder mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip noch mit dem Äquivalenzprinzip rechtfertigen.81 Als letzte Steuer auf Genussmittel wird noch die Kaffeesteuer erhoben. Abgesehen davon, dass der Kaffeeverbrauch keine besondere Leistungsfähigkeit (neben der bereits umsatzsteuerrechtlich erfassten Leistungsfähigkeit) erkennen lässt: Es müssten verallgemeinernd alle Genussmittel speziell besteuert werden.82 In den Gesetzen über kommunale Verbrauch- und Aufwandsteuern ist keine „Steueridee“ zu Ende gedacht worden. J. Lang spricht von einem „Konglomerat, dessen Willkür nicht zu rechtfertigen ist“83, J. Englisch von einem „fragmentierten Steuerkonglomerat“, das „weder Rationalitätspostulaten noch gleichheitsrechtlichen Anforderung an Steuergerechtigkeit“ genügt.84 Kommunalsteuerpolitiker streben mehr und mehr nach „Steuererfindungen“, die an die Zeit der Spezialakzisen erinnern. Die Stadt Köln möchte eine „Kultursteuer“ für diejenigen, die in Kölner Hotelbetten übernachten, einführen. Nur Auswärtige sollen also die Kölner Kultur durch diese Steuer fördern müssen.85 Die früher vom Bundesministerium der Finanzen herausgegebene Schrift „Unsere Steuern von A-Z“ (Ausgabe 1993) erwähnte auch nur zur Einkommensteuer, dass sie „der finanziellen Leistungsfähigkeit Rechnung tragen“ wolle. Zu allen anderen Steuern wurde – mehr oder minder – nur die Geschichte abgehandelt. Das BVerfG ist in der Frage, „welche Steuern Leistungsfähigkeitssteuern sind“, wohl auch nicht sicher. Jedenfalls hebt es immer wieder hervor, das Leistungsfähigkeitsprinzip gelte insbesondere im Bereich der

__________ 77 78 79 80 81 82 83 84 85

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Dazu J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, S. 97 ff. R. Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht20, 2009, § 13 Rz. 102. J. Englisch (Fn. 37), S. 563 f., 583 ff. Ablehnend K. Tipke, Steuerrechtsordnung (Fn. 29), S. 922 ff.; kritisch J. Lang in Tipke/ Lang (Fn. 29), § 4 Rz. 101 ff.; Bedenken hat auch J. Englisch (Fn. 37), S. 581. J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 29), § 8 Rz. 36, 37. Zustimmend J. Englisch (Fn. 37), S. 611, 628; G. Kirchhof (Fn. 76), S. 541. J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 29), § 8 Rz. 107. J. Englisch in Tipke/Lang (Fn. 29), § 16 Rz. 20, s. auch Rz. 14 ff.; s. auch G. Kirchhof (Fn. 76), S. 541. Dazu DER SPIEGEL 1/2010 („Bettensteuer“); FAZ v. 21.12.2009 S. 4 („Kölner Kurtaxe“).

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Einkommensteuer.86 Lerke Osterloh merkt dazu zutreffend an: „Dieses Prinzip hat zwar speziell für das Einkommensteuerrecht inzwischen deutliche Konturen erhalten, ist jedoch in seiner generellen Tragweite auch für andere Steuerarten vom BVerfG bisher kaum näher entfaltet worden.“87 Jedoch ist nicht damit zu rechnen, dass das BVerfG demnächst Steuern mit der Begründung aufheben werde, seine Bemessungsgrundlage entspreche nicht dem Leistungsfähigkeitsprinzip. G. Wacke und K. Vogel haben die vom BVerfG übernommene Theorie begründet, die von Art. 105, 106 GG erfassten Steuern als solche dürften wegen ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung in Art. 105, 106 GG nicht als verfassungswidrig aufgehoben werden. Dass diese Theorie den Vorstellungen der Schöpfer des Grundgesetzes entspreche, trifft nicht zu. Im Übrigen: Alle 1949 übernommenen Steuern stammen aus einer Zeit, in der es entweder noch keine Grundrechte gab oder in der diese nicht verbindlich waren.88 Welchen Sinn machte es also, sie durch Art. 105, 106 GG konservieren und vor einem Messen an den Grundrechten schützen zu lassen? Der ethische Grundsatz der Verallgemeinerung hat eine Parallele im juristischen Grundsatz der Allgemeinheit des Gesetzes.89 In einer imponierend weit ausholenden, innovativen (Habilitations-)Schrift hat Gregor Kirchhof das in Theorie und Praxis vernachlässigt gewesene Thema wieder belebt und die Bedeutung der Gesetzesallgemeinheit für Gleichheitssatz und Demokratie herausgearbeitet.90 Wenn man die in Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG herausgestellte Allgemeinheit des Gesetzes nicht auf diese Vorschrift beschränkt, sondern verallgemeinernd als Gleichheitssatz und Demokratie unterstützendes rechtsstaatliches Prinzip auffasst, im Übrigen nicht annimmt, es gehe nur um die Verhinderung von Einzelfallgesetzen, bewegt man sich parallel zum ethischen Prinzip der Verallgemeinerung. Gerechtigkeit und Gleichheit setzen einen verallgemeinernden Maßstab voraus.91 Fehlt es daran, greift der Gesetzgeber nach politischer Opportunität bald hier, bald dort zu, so fehlt der Gerechtig-

__________ 86 BVerfG v. 23.11.1976 –1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108 (120); v. 11.10.1977 – 343/73, 83/74, 183 und 428/75, BVerfGE 47, 1 (29); v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79 und 363/80, BVerfGE 61, 319 (343 f.); v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223); v. 4.10.1984 – 1 BvR 789/79, BVerfGE 67, 290 (297); v. 17.10.1984 – 1 BvR 527/80, 528/81 und 441/82, BVerfGE 68, 143 (152 f.); v. 30.11.1988 – 1 BvR 1301/84, BVerfGE 79, 174 (199); v. 29.5.1990 – 1 BvL 20, 26/84 und 4/86, BVerfGE 82, 60 (86) = FR 1990, 449. 87 L. Osterloh (Fn. 55), Art. 3 Rz. 134. Hinweis auch auf J. Hey, DStR 2009, 2562 („Während die Garantie der Steuerfreiheit des Existenzminimums oder der Schutz von Ehe und Familie gegenüber dem staatlichen Steuereingriff verfassungsrechtlich gut abgesichert sind, fehlt es zu vielen Fragen des Unternehmensteuerrechts an einer Konkretisierung durch das BVerfG.“). 88 J. Englisch (Fn. 37) stellt zutreffend fest: Art. 105, 106 GG „trifft keine Aussage zur Gerechtigkeitsqualität der dort benannten Steuern …“ S. auch K. Tipke, Steuerrechtsordnung (Fn. 29), S. 300 ff. 89 Dazu z. B. B. Rüthers (Fn. 14), Rz. 219; K. Röhl/H. Röhl (Fn. 5), S. 151, 298 ff.; P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 26 f. 90 G. Kirchhof, Allgemeinheit des Gesetzes, 2009. 91 C.-W. Canaris spricht von der „generalisierenden Tendenz der Gerechtigkeit“ (Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 17, 83, 148 f.).

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keit bereits die Grundlage. Es herrscht Prinzipien- und Regellosigkeit, Willkür. Die Verallgemeinerung dient auch der Wissenschaftlichkeit.92 Und sie entspricht dem Demokratieprinzip. G. Kirchhof stellt dazu zutreffend fest: „Das Allgemeinheitspostulat sucht nicht die Demokratie zu lähmen, sondern ihr zu dienen.“93 Wird ein Prinzip ohne Rechtfertigungsgrund nicht zu Ende gedacht, so muss sein Anwendungsbereich erweitert werden. Eine wesentliche Bedeutung sollte das Verallgemeinerungsgebot künftig im Bereich der Steuervergünstigungen erhalten. „In einer Demokratie“ – so B. Rüthers – „wollen Politiker wiedergewählt werden. Es besteht daher eine Neigung von Politikern, bestimmten Gruppen Sondervorteile einzuräumen, wenn sie sich dadurch Vorteile versprechen (Lobbyismus) … Daher sind rechtliche … Vorkehrungen gegen solche Formen der Privilegierung einzelner Gruppen zu treffen. Die Lösung ist das Gebot der Allgemeinheit der Rechtsquellen …“94 Da es mehr auf die Abgeordneten einwirkende Interessenverbände gibt als Abgeordnete (die zum Teil selbst Lobbyisten sind), besteht hier ein enormes Problem für die Demokratie. Die Interessenverbände streben nicht nach Gleichbelastung oder Gleichbegünstigung für alle in gleicher Lage, sondern nach Privilegien.95 Auf Betreiben von Parteien und Verbänden gewähren sie z. B. unselbständigen Sonntags- und Nachtarbeitern ein Steuerprivileg, kümmern sich aber nicht um andere, die noch schwerer zu arbeiten haben. Oder: Sie wollen – angeblich – das Wachstum steuerlich fördern, fördern aber nur eine kleine Unternehmergruppe aus ihrer Klientel. Überhaupt geht es den Parteien und Verbänden in der Regel nicht um die Beeinflussung volkswirtschaftlicher Globalgrößen, sondern um Gruppenvorteile. Die große Schwierigkeit besteht freilich nicht darin, Steuervergünstigungen als solche zu erkennen, sondern für ihre Abschaffung zu sorgen.96 Die Frage, wie mit Hilfe der Gerichte Privilegierungen anderer abgewehrt werden können, ist bisher nicht befriedigend gelöst. Wo ein Kläger ist, ist nicht immer ein Richter.97 Von Verallgemeinerung kann man auch sprechen, wenn von einzelnen Gesetzesvorschriften – induktiv – auf ein gemeinsames Prinzip geschlossen wird. Dadurch lassen sich Gesetzeslücken prinzipgemäß schließen. Nach dieser Me-

__________ 92 So auch G. Kirchhof (Fn. 76), S. 28 („Verallgemeinerung als Kategorie wissenschaftlichen Denkens“), 31. f. 93 G. Kirchhof (Fn. 76), S. 291. 94 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 219. 95 Prägnant dazu P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 55 ff., 336. 96 P. Kirchhof hat dazu Vorschläge gemacht (Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 336 [Das Schwert gegen den Interessenten, der dem Gesetzgeber die Feder führt]), von denen ich befürchte, dass sie bei den Mächtigen nichts bewirken. 97 Dazu J. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht20, 2010, § 19 Rz. 78; R. Seer, ebenda, § 22 Rz. 127, 128; G. Kirchhof (Fn. 76), S. 26 f., 180 ff., 190–196, 216 ff., 377 ff., 394, 489 ff., 614 ff. (zur Justitiabilität der Allgemeinheitsforderungen).

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thode sind im Kölner EStG-Entwurf Gesetzeslücken des geltenden Einkommensteuergesetzes geschlossen worden.98 In der Ethik spielt die Verallgemeinerungsfähigkeit eine besondere Rolle. Durch den Fähigkeitstest soll herausgefunden werden, ob das verallgemeinerte, allgemein angewandte Prinzip ethiktauglich oder überhaupt durchführbar ist.99 M. G. Singer fragt: „What would happen if everyone did that?“ Was würde die Folge sein, wenn alle entsprechend dem Testprinzip handeln würden? Was würde die Folge sein, wenn niemand Steuern zahlen würde oder wenn jeder einen Teil seiner geschuldeten Steuer hinterziehen würde? Sind die Folgen negativ, schädlich für die Allgemeinheit, so ist das getestete Prinzip nicht verallgemeinerungsfähig und daher untauglich.100 Das Prinzip wäre auch nicht verwendbar, wenn es nicht gleichmäßig umgesetzt werden könnte. Ein Prinzip, wonach die Einkommensteuer Schwere und Dauer der Arbeit generell steuermildernd berücksichtigen müsste, wäre gänzlich unpraktikabel, daher untauglich. Es darf dann aber auch die ausnahmsweise Steuervergünstigung für Sonntags- und Nachtarbeit nicht zugelassen werden (s. auch schon S. 38). b) Das Gebot der Folgerichtigkeit Auch in einer wertenden Geisteswissenschaft wie der Rechtswissenschaft muss folgerichtig gewertet werden. Man spricht auch von Wertungs- oder Konsequenzlogik; sie ist ein Gebot der Rechts- oder Wertungsrationalität. Das Gebot der Folgerichtigkeit ist keine Erfindung des BVerfG.101 Sein Verdienst ist es aber, den wertungslogischen Begriff der Folgerichtigkeit in die Verfassungsrechtsprechung eingeführt zu haben102 und kraft seiner Autorität alsbald

__________ 98 J. Lang u. a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005, S. 39 („Normative Unvollständigkeit des Einkommensteuergesetzes“). 99 Dazu M. G. Singer, Generalization in Ethics, New York 1971 (deutsch: Verallgemeinerung in der Ethik), 1975. 100 Zu M. G. Singer s. D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik2, 2006, S. 154 ff. Hinweis auch auf R. Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 1980; J. Schroth, Universalisierbarkeit moralischer Urteile, 2001. 101 Hinweis z. B. auf A. Regenbogen/U. Meyer (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2005, S. 222 re.; Ch. Perelman (Fn. 41), S. 60; I. Tammelo (Fn. 44), S. 100; C.-W. Canaris (Fn. 21), 12 ff., 18, 22, 43, 45, 47, 97 ff., 100 („wertungsmäßige Folgerichtigkeit“); K. Tipke, DStZ 1975, 407 re. (Gleichheitssatz verlangt folgerichtige Anwendung der systemtragenden Prinzipien und Wertungen); K. Tipke Steuergerechtigkeit (Fn. 61), S. 26, 43, 56 („Konsequenz“, „wertungsmäßige Folgerichtigkeit“); P. Kirchhof, NJW 1987, 3217. 102 Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes fordert das Gericht in ständiger Rechtsprechung, dass die einmal getroffene Ausgangsentscheidung „folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit“ umgesetzt wird, es sei denn, es läge für Ausnahmen ein sachlich rechtfertigender Grund vor (BVerfG v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (95) = FR 1998, 1028 m. Anm. Luttermann; v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126) = FR 2002, 391; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 1735/00, BVerfGE 107, 27 (47) = FR 2003, 568; v. 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412 (433); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180 f.) = FR 2006, 766; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31) = FR 2007, 338).

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verbreitet zu haben, auch durch einige seiner Richter.103 Unbestritten hat das BVerfG insbesondere durch den Rückgriff auf das Folgerichtigkeitsgebot die Kontrollintensität merklich verstärkt.104 Im Steuerrecht ist es das Leistungsfähigkeitsprinzip, das folgerichtig konkretisiert werden muss.105 Das setzt voraus, dass der Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips feststeht. Da das im Grenzbereich des Begriffs nicht der Fall ist106, müssen Richter, die die Folgerichtigkeit der Konkretisierung zu überprüfen haben, sich u. U. zunächst mit dem (Rand-)Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips befassen. Während das Zu-Ende-Denken eines Prinzips sich als horizontale Folgerichtigkeit bezeichnen lässt, handelt es sich bei der Konkretisierung um vertikale Folgerichtigkeit. Im Gebot der (vertikalen) Folgerichtigkeit drückt sich ebenso wie in der Verallgemeinerung Rechtslogik (Gerechtigkeits-, Wertungslogik) aus. Folgeunrichtige Konkretisierung führt zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit, zum Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Das nimmt auch das Bundesverfassungsgericht an.107 Die folgerichtige Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips sorgt für seine gleichmäßige Anwendung. Während das Leistungsfähigkeitsprinzip und die es konkretisierenden Unterprinzipien und Regeln materialen (Gerechtigkeits-)Charakter haben, ist das vertikale Folgerichtigkeitsgebot ein formales.108 Eine das Leistungsfähigkeitsprinzip verfehlende, aber formal gleichmäßige Folgerichtigkeit dürfte in der Praxis wohl kaum vorkommen. Wird dem Leistungsfähigkeitsprinzip ein unterschiedlicher Inhalt entnommen, so kann das dazu führen, dass es zu unterschiedlichen Folgerichtigkeitsergebnissen kommt.

__________ 103 P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, S. 43 ff.; R. Mellinghoff in FS für P. Bareis, 2005, 181; – K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, 201 ff.; s. auch K. Tipke, JZ 2009, 535; J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmensteuerrecht, DStR 2009, 2561; J. Englisch (Fn. 37), S. 11 ff., 17, 34, 76, 122, 132 ff., 755 f.; G. Kirchhof (Fn. 76), S. 302 ff., 321 ff., 402 ff., 470 ff., 541 ff. 104 So auch L. Osterloh: „Eigenständige, markante und folgenreiche Begrenzungsfunktionen des allgemeinen Gleichheitssatzes hat das BVerfG in deutlichem Kontrast zu seiner früher sehr zurückhaltenden Grundposition vor allem in neueren Entscheidungen zum Einkommensteuerrecht … entwickelt. Der übergreifende methodische Ansatz hierzu ist ein zunehmend strenger verstandenes Gebot der Folgerichtigkeit … Dieses führt zu erhöhten Begründungsanforderungen an Abweichungen von der jeweils gleichheitskonkretisierenden Grundentscheidung für eine bestimmte Steuer.“ (in M. Sachs [Fn. 55], Art. 3 Rz. 142). J. Hey spricht von einer „durchaus empfindlichen Beschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit“ (DStR 2009, 2563 re.). 105 J. Englisch (Fn. 37), S. 133, 571, 575 f. 106 S. oben S. 36. 107 Nachweise in Fn. 102. Hinweis auch auf J. Englisch (Fn. 37), S. 133 f. 108 Formale Logik „interessiert sich nicht für die Richtigkeit normativer Sätze, sondern ausschließlich für die formale Schlüssigkeit, die Folgerichtigkeit zwischen beliebigen normativen Sätzen“. (O. Höffe, Lexikon der Ethik7, 2008, S. 48 re.)

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Das Folgerichtigkeitsgebot gilt nicht etwa nur im Steuerrecht, es gilt z. B. auch im Sozialrecht109, es scheint aber auch bei Rechtsphilosophen und Rechtstheoretikern noch nicht durchweg angekommen zu sein.110 Das Folgerichtigkeitsgebot gilt selbstverständlich auch nicht nur für die Einkommensteuer, es gilt z. B. auch im Unternehmensteuerrecht.111 Der Auffassung von U. Kischel, dass das Steuerrecht mit dem Folgerichtigkeitsgebot einen Sonderweg gehe, den es aufgeben sollte, ist nicht zu folgen. Umgekehrt ist es richtig: Alle nicht gerechtigkeitsfreien Rechtsgebiete müssen das im Gleichheitssatz und in der Ethik verankerte Folgerichtigkeitsgebot anwenden. Beispiele für Folgeungerechtigkeit (Inkonsequenz) habe ich an anderer Stelle aufgeführt.112 Dass das auf das Prinzip gleichmäßiger Besteuerung entsprechend der Leistungsfähigkeit angewendete Folgerichtigkeitsgebot nicht durchweg zu zwingenden Ergebnissen führt, trifft zu. Es können mehrere Ergebnisse vertretbar sein. So lässt sich m. E. durch Folgerichtigkeit nicht zwingend113 das Ehegattensplitting ableiten, und auch das Familienprinzip des Erbschaftsteuerrechts belässt dem Gesetzgeber Entscheidungsspielraum. c) Das Gebot der Widerspruchsfreiheit Ethik und Rechtswissenschaft stimmen darin überein, dass Gebote der Ethik, d. h. der Theorie der Moral, und Gebote des Gesetzgebers sich nicht widersprechen dürfen; sie müssen stimmig (kohärent) sein.114

__________

109 Damit ist für das Steuerrecht kein „dogmatischer Sonderweg“ geschaffen worden – wie U. Kischel annimmt (Gleichheit im Verfassungsstaat, hrsg. von R. Mellinghoff/ U. Palm, 2009, S. 175 ff.) –, sondern das Steuerrecht als Gerechtigkeitsrecht konkretisiert worden. Folgerichtig muss auch in anderen Rechtsbereichen verfahren werden, die nicht gerechtigkeitsfrei sind. Offenbar mangelt es – wen wundert es? – auch dem Sozialrecht an Rechtsrationalität. S. aber auch P. Brandis, DStJG 29 (2006), 43 ff. 110 Bei K. Röhl/H. Röhl (Fn. 5), S. 443, heißt es allerdings: „Zum Systemgedanken gehört das Kohärenzpostulat, nämlich die Forderung nach wertungsmäßiger Folgerichtigkeit und innerer Einheit.“ Die Begriffe „Kohärenz“ (und „Konsistenz“) haben wir möglichst vermieden, da über ihren Inhalt keine Einigkeit besteht. Unter Kohärenz wird auch „Stimmigkeit“ verstanden, unter „Konsistenz“ auch Widerspruchslosigkeit (zutreffend J. Hey, DStR 2009, 2566 re.). 111 So zutreffend J. Hey, DStR 2009, 2561 (2566, 2568 re.): „Eine Differenzierung je nach steuerrechtlicher Submaterie lässt sich nicht begründen. Das Unternehmensteuerrecht ist keine steuerverfassungsrechtsfreie Zone“. A. A. U. Kischel (Fn. 109). 112 K. Tipke, StuW 2007, 201 (206 ff., 209 ff.); JZ 2009, 533 (538 f.). 113 Dazu die unterschiedlichen Meinungen zur Ehegatten- und Familienbesteuerung in FR 2010 Heft 3. 114 Dazu R. Wohlgenannt, Die Widerspruchsfreiheit des Aussagenzusammenhangs, in A. Diemer (Hrsg.), Der Wissenschaftsbegriff, 1970, S. 250 ff., 253 f.; G. Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, 1974, Stichwort „Widerspruchsfreiheit“; D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik2, 2007, S. 424 ff. („Kohärenz“); C.-W. Canaris (Fn. 21), S. 16 f., 26 f., 59, 98 f., 112 ff., 130; H. Coing (Fn. 14), S. 118, 313; W. Frisch (Proprium, Fn. 10), 179 f.; P. Kirchhof, StuW 2000, 316 ff. (322 ff.); G. Kirchhof (Fn. 76), Stichwort „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“; H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, 864 ff.

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Eine sich widersprechende Rechtsordnung verletzt die Forderung nach einheitlichen Rechtsmaßstäben für alle Gesetzesadressaten und damit die Rechtsgleichheit.115 Daher gehört es – so F. A. v. Hayek – „zum Wesen juristischen Denkens und gerechter Entscheidungen, dass der Jurist sich bemüht, das ganze System widerspruchsfrei zu machen.“116 Die Steuergesetze bilden leider keine rationale, widerspruchsfreie einheitliche Ordnung. Auch das Gebot der Widerspruchsfreiheit hat Bedeutung als Abwehrmittel gegen die „Kompromissanfälligkeit und die punktuellen Verbandsinterventionen“ im Steuerrecht.117 Das gilt auch für andere Gebote der Rechtslogik. Es ist z. B. wertungswidersprüchlich, – dass es Steuern gibt, die an den Ist-Ertrag anknüpfen, andere, die an den Soll-Ertrag anknüpfen. Mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist nur eine IstGröße vereinbar. Aus einem Soll-Ertrag lassen sich keine Steuern zahlen, – dass das Einkommensteuergesetz den Vermögenszuwachs, den ein Erblasser erarbeitet hat, dem Erben als Einkommen im Sinne des Einkommensteuergesetzes zurechnet, die Erbschaftsteuer denselben Wertzuwachs aber als Bereicherung im Sinne des Erbschaftsteuergesetzes erfasst. Die Doppelbelastung ist wertungswidersprüchlich, – dass die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer den privaten Verbrauch belastet, nicht die Gewinnverwendungen von Unternehmen für Investitionen (dieses Ergebnis wird durch Vorsteuerabzug und Überwälzung erreicht), die Grunderwerbsteuer, die Versicherungsteuer und die Feuerschutzsteuer auch die Unternehmen belasten (diese Steuern kennen keinen Vorsteuerabzug), – dass gewisse Versicherungsbeiträge einerseits (einkommen-)steuerlich als Sonderausgaben (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 EStG) nicht belastet werden, andererseits aber mit (Versicherung-)Steuer belegt werden, – dass Aufwendungen eines Forstwirts für die Jagd (zur Eindämmung von Wildverbiss) einerseits als Betriebsausgaben von der (Einkommen-)Steuer verschont werden, andererseits aber mit (Jagd-)Steuer belastet werden, – dass Aufwendungen für einen aus Berufsgründen geführten doppelten Haushalt als Betriebsausgaben oder Werbungskosten von der (Einkommen-) Steuer verschont werden, andererseits aber mit (Zweitwohnung-)Steuer belastet werden, – dass der Kaffeeverbrauch einerseits dem ermäßigten Steuersatz der Umsatzsteuer als allgemeiner Verbrauchsteuer unterliegt, andererseits aber mit einer besonderen Verbrauchsteuer (der Kaffeesteuer) belastet wird.118

__________

115 Ähnlich H. Coing (Fn. 14), S. 313; s. auch P. Kirchhof, StuW 2000, 316 (322 re.): Verpflichtung zur Widerspruchsfreiheit ergibt sich aus dem „Gebot der Belastungsgleichheit“ und aus dem Rechtsstaatsprinzip; Beispiele S. 323. Weitergehende Fundierung durch H. Sodan, JZ 1999, 864 ff. 116 F. A. v. Hayek (Fn. 54), S. 95. 117 So P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2003, S. 44. 118 In diesem Sinne auch J. Englisch (Fn. 37), S. 599, 611, 618.

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Die in den Beispielen genannten Widersprüche entstehen daraus, dass die Einkommensteuer eine Leistungsfähigkeitssteuer ist, die anderen wertungswidersprüchlichen Steuern aber dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht entsprechen, jedenfalls dagegen verstoßen. Wir gehen hier vom Ideal der „Einheit der Steuerrechtsordnung“ aus. Danach ist nicht jede Steuer für sich zu betrachten.119 Zu einer Steuergesamtordnung passt es aber nicht, wenn Wertungswidersprüche nur im Binnenbereich einer Steuer beanstandet werden dürfen. Da das BVerfG sogar – von der „Einheit der Rechtsordnung“ ausgehend – rechtsbereichsübergreifend Wertungswidersprüche aufdeckt120, ist nicht einzusehen, warum an die Stelle einer einheitlichen Steuerrechtsordnung ein Konglomerat separat zu betrachtender Steuern treten muss. Steuer ist Steuer. Die Belastung hängt nicht vom Namen der Steuer ab. Auch den Art. 105, 106 GG kann nicht entnommen werden, dass das Grundgesetz eine einheitliche, zusammenhängend geschlossene, (steuerübergreifend) widerspruchsfreie Steuerrechtswertordnung nicht gewollt habe. 3. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Wertprinzip von Dauer Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist – wie die Grundrechte – ein Wertprinzip von Dauer, wenn auch kein Wert für immer. Es hat nicht seit jeher gegolten, und wie lange es gelten wird, ist ungewiss. In der Ethik werden Kontinuität, Stetigkeit, Beständigkeit, Verlässlichkeit als positive Werte geschätzt. Nach Auffassung von I. Tammelo „enthält die Gerechtigkeitsordnung, wie die Rechtsordnung, statische, dauernde Elemente … Dies ist durch gewisse anthropologische, tradierte, universale und stabile Bedürfnisse der Menschen zu erklären.“121 Aus der Besteuerung ist das Streben der Steuerbürger nach Planungssicherheit und Rechtskontinuität nur zu bekannt.122 Obwohl das Leistungsfähigkeitsprinzip von allen politischen Parteien verbal als stabiler politischer Wert anerkannt ist, werden die Steuergesetze, die das Leistungsfähigkeitsprinzip umsetzen sollten, ständig geändert, und zwar nicht nur die Lenkungsvorschriften. Es wäre allerdings nicht verwunderlich, wenn konservative, liberale, soziale und sozialistische Parteien den Inhalt des unbestimmten Leistungsfähigkeitsprinzips – pluralistisch – einen unterschiedlichen inhaltlichen Akzent geben würden. Aber das ist jedenfalls kaum der Grund für ständige Gesetzesänderungen. Bei den meisten Änderungen spielen Gerechtigkeit, Gleichheit und finanzielle Leistungsfähigkeit keine Rolle.

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119 Dazu auch G. Kirchhof, DStR 2009, Beihefter zu Heft 49. 120 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1876/91, 2 BvR 1083/91, 2 BvR 2188/91, 2 BvR 2200/92, 2 BvR 2624/94, BVerfGE 98, 83 (97 f.); v. 7.5.1998 – 2 BvR 1998, 2004/95, BverfGE 98, 106 (118 ff., 130 ff.); v. 15.7.2003 – 2 BvF 6/98, BVerfGE 108, 169 (181). 121 I. Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, 1977, S. 134. 122 Dazu J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002; zum Thema auch P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 29, 287, 329 f.; G. Kirchhof (Fn. 76), S. 327 ff. („Kontinuität und Verlässlichkeit“).

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Vielmehr geht es – von Parteien und Interessenverbänden angetrieben – um politisch oder lobbyistisch Opportunes oder um die Befriedigung fiskalischer Bedürfnisse auf partielle oder punktuelle Weise. Das ist nicht nur ein Schlag gegen die Steuergerechtigkeit, die nicht von Jahr zu Jahr oder von Legislaturperiode zu Legislaturperiode einen anderen Inhalt haben kann. Es kann sich auch kein Rechtsbewusstsein und kein Rechtsvertrauen bilden. P. Kirchhof formuliert es so: Das Steuerrecht ist „gegenwärtig ein Recht auf Rädern. Es bewegt sich ständig. Die Richtung ist offen, die Antriebsmittel sind nicht selten gegenläufig. Das Einkommensteuergesetz wird jährlich sechs- bis zwölfmal geändert. Die Änderungen betreffen allerdings meist nur eine Fülle von Details … Steuerrechtswissen wird zur Wegwerfware eines immer neuen, aber nicht besseren Rechts.“123 Wenn u. a. mit Rücksicht auf die Inflation für Kapitaleinkünfte ab 2009 ein Abgeltungssteuersatz von 25 % legal und legitim ist, war dann vor 2009 der die Inflation negierende höhere Steuersatz illegitim? Dafür spricht alles. Viele Änderungen widersprechen den Geboten der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und der Widerspruchsfreiheit. Durch diese Gebote der Rechtslogik fühlen sich Politiker gestört und weisen als Parlamentarier auf ihre demokratische Legitimation hin. Nur, es muss wiederholt werden: Der Gleichheitssatz und die von ihm getragenen Gebote der Rechtslogik sind demokratisch, das Bestreben, im Bündnis mit Interessenverbänden Privilegien für einzelne Gruppen durchzusetzen, die Klientel zu bedienen, sind undemokratisch.

VI. Steuergesetzgebung ohne Wissenschaft Ideal und Wirklichkeit: F. A. v. Hayek war der Meinung: „Die Legislative soll Gesetze geben, das heißt, gute Gesetze nach wissenschaftlichen Prinzipien der Jurisprudenz konstruieren …“124 Bei B. Rüthers lesen wir: „Die Rechtsordnung ist geplant als ein tendenziell konsistentes, durchdachtes und widerspruchsfreies Gefüge von gesetzlichen und richterlichen Entscheidungen.“125 Das sind Ideale, die nicht der Realität parlamentarischer Gesetzgebung entsprechen. Weder folgt der Gesetzgeber von heute „wissenschaftlichen Prinzipien der Jurisprudenz“, noch plant er konsistente, widerspruchsfreie Gesetze. Schon seit Jahrzehnten wird der „miserable Zustand“ der Gesetze beklagt und kritisiert. Ich fasse die Hauptmängel hier in aller Kürze zusammen: Aufbaumängel. Keine Orientierung an Prinzipien und Regeln gerechten Verhaltens. Verstöße gegen die Gebote der Verallgemeinerung, der Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit, damit gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Lücken und Überschneidungen. Ein Sammelsurium partikulärer Vorschriften, schlecht

__________ 123 P. Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 192 f. 124 F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit Bd. 1 (1980), S. 176 oben. F. A. v. Hayek zitiert dazu Napoléon Bonaparte (S. 175). 125 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 752.

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eingepasstes Stück- und Flickwerk.126 Die Gesetzesanwender werden mit einer mehr oder weniger unverdaulichen Kost gefüttert. Die aufgeführten Mängel beschränken sich allerdings keineswegs auf die Steuergesetze.127 Der Lobbyismus macht sich mit vielen ungerechtfertigten Vergünstigungen (Privilegien) im Steuerrecht besonders bemerkbar. Was Betriebsausgaben oder Werbungskosten sind, was Steuersubventionen sein sollen, ist oft schwer abschichtbar. Die Ursachen: Da der Zugang zur Macht und die Erhaltung der Macht in der Demokratie von Wählern und Wahlergebnissen abhängig sind, ist es verständlich, dass auch die Steuerpolitik als Stimmenfangpolitik instrumentalisiert wird. Die Steuerrechtspolitik wird oft der Stimmenfangpolitik geopfert, was sich in den Steuergesetzen niederschlägt. Politische Opportunität und das Zusammenwirken mit Interessenverbänden lassen die Orientierung an Rechtsprinzipien und -regeln in den Hintergrund treten. Die Parlamentsmehrheit und die Mehrheit in den Parlamentsausschüssen lassen sich gegen Prinzipien und Regeln oft von Interessenverbänden128 missleiten oder sie folgen gegen den Rat der Sachverständigen dem Finanzminister und der Regierung. Hinter vielen Änderungen stecken prinzipienfeindliche Interessenverbände129 oder fiskalische Bedürfnisse. Die Steuerpolitiker verschmähen zwar nicht Schlagworte wie „Steuergerechtigkeit“ und „Steuervereinfachung“, tun aber nichts für die Realisierung. Unter Steuerreform verstehen viele keine Rechtsreform, sondern Steuersenkung. Das Politiker- und Parteienverhalten ist wesentlich Reflex der Wählerwünsche. Für sich selbst wollen Wähler nicht selten schon Privilegien.130 Der Konflikt der Regierung und der Parlamentsmehrheit besteht darin, dass sie die Wünsche und Begierden ihrer Wähler befriedigen möchten, dass die Verfassung ihnen aber zumutet, das Gemeinwohl aller zu fördern.

__________ 126 P. Kirchhof kam schon in seiner Analyse der deutschen Steuergesetzgebung von 1987 zu dem „weitgehend pathologischen“ Befund eines unübersichtlichen, teilweise widersprüchlichen, ständig geänderten Gesetzesrechts. „Oft gefährdet ein Mangel an Sprachdisziplin, Stil und System die logische Folgerichtigkeit und damit die materielle Gleichheit der Regelungen.“ (NJW 1987, 3217). Hinweis auch auf R. Mellinghoff, Stbg. 2007, 549 ff. (551). 127 Dazu Fn. 10 (Das Proprium), Stichwort „Gesetzgeber“; G. Kirchhof (Fn. 76), S. 39 ff. („Gesetzgebungswirklichkeit“). 128 Dazu auch G. Kirchhof (Fn. 76), S. 295. 129 Dazu P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 56 ff. („Mehr Verbände als Abgeordnete“), 58 ff. („Der Staat im Visier der Interessen“), 336 („gegen den Interessenten, der dem Gesetzgeber die Feder führt“). – Auch in den Ministerien arbeiten Beschäftigte von Unternehmen und Verbänden meist als Lobbyisten mit; die Einzelheiten sind intransparent. 130 „People prefer privileges“, so der niederländische Steuerrechtslehrer A. Rijkers (StuW 2005, 327 [329]). P. Kirchhof dazu: „Überall haben die Bürger ihre Hoffnungen auf den Griff in die Staatskasse zu Ansprüchen verdichtet, die die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Gemeinwesens übersteigen. Und auch in Deutschland flüstert ihnen die Politik dabei zu: Es könnte eigentlich mehr sein. Mehr Sozialhilfe, mehr Subventionen, höhere Steuererleichterungen. Dieses System bedroht den Zusammenhalt in den Einzelstaaten Europas …“ (DER SPIEGEL 9/2010, S. 86 f.).

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Der Entscheidungsmacht der Politiker ziehen Verfassungs- und Europarecht Grenzen. Die Politiker möchten aber möglichst frei entscheiden können131, daher möchten sie den Gleichheitssatz minimalisieren und klagen darüber, dass das Bundesverfassungsgericht die Grenzen der Gewaltenteilung überschreite und so Politik treibe. Sie fühlen sich vom Verfassungsgericht umklammert, sind aber viel mehr von Lobbyisten umklammert. Die Folgen: Ohne ein System von Prinzipien und Regeln, ohne jede Rechtslogik entstehen Gesetze, die unübersichtlich, undurchsichtig und uneinsichtig sind. Das Gesamtsteuerrecht ist kaum noch von einem Einzelnen132 zu überblicken, geschweige denn zu beherrschen. Die Spezialisten verlernen die Fähigkeit zum Querdenken. Die gleichmäßige Gesetzesanwendung wird erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Ein (viel zu) hoher Anteil der Verwaltungsakte ist fehlerhaft. Der mit der Umsetzung der Gesetze verbundene Personal-, Zeit- und Kostenaufwand ist unnötig hoch. Die FG sind überlastet, die Prozesse dauern zu lange. So werden also Ressourcen verschwendet. Dass keine durchgehend effiziente Kontrolle möglich ist, fördert die Steuerverkürzung. Die in mehr oder weniger großen Abständen beschlossenen Amnestien machen die ehrlichen Steuerbürger zu Dummen. Ein Steuerrechtsbewusstsein kann sich nicht entwickeln. Den Steuerbürgern, die Komplexität und Unsicherheit verabscheuen, wird weisgemacht, die komplizierten Steuergesetze seien allein der gerechte Reflex der komplizierten Lebensverhältnisse. Die Gesetzesänderungen seien auf die wechselnden Konjunkturlagen zurückzuführen. Das sind allenfalls Halbwahrheiten. Nicht nur die Gesetzesadressaten, auch die Abgeordneten verstehen oft die Gesetze nicht, die sie „abnicken“. Sie berufen sich gleichwohl gern auf ihre „demokratische Legitimation“ und verdrängen oder minimalisieren, dass die Grundrechte die Souveränität der Abgeordneten einschränken (Art. 1 Abs. 3 GG). Also gilt auch bei demokratischer Legitimation nicht: Anything goes! Nach allem bleibt nur festzustellen: Die Steuergesetze haben kein wissenschaftliches Fundament. Überhaupt könnten wissenschaftliche Ambitionen wohl nur aus dem Bundesfinanzministerium kommen. Davon ist aber nichts zu erkennen, was die Gesetzgebung betrifft. Vor 2004 haben Steuerwissenschaftler mehrere Einkommensteuergesetzentwürfe erarbeitet. Sie waren alle besser als das geltende Gesetz. Aber Finanzminister P. Steinbrück wies sie mit Aplomb ab: Die Steuerausfälle, die sie auslösen würden, könnten nicht hingenommen werden. Möglicherweise hatte er nicht erkannt, dass es den Urhebern hauptsächlich um die Bemessungsgrund-

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131 Aus fiskalischen Gründen möchte man z. B. das Nettoprinzip zur Ausnahme machen dürfen, möchte man ohne Einwendungen beschließen dürfen, dass der Hundesport gemeinnützig ist. 132 Der Jubilar ist eine seltene Ausnahme umfassenden Sachverstands, was er insbesondere durch seinen Entwurf eines Steuergesetzbuches bewiesen hat (s. dazu S. 23 f.). Eine weitere Ausnahme ist der Wiener Zivilrechtslehrer F. Bydlinski mit seinem Werk „System und Prinzipien des Privatrechts“, Wien/New York 1996. Es erfasst nicht nur das Bürgerliche Recht, sondern auch Handels- und Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht, Wettbewerbsrecht und privates Versicherungsrecht.

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lage ging, nicht um den Tarif. Es wäre erstaunlich, wenn der Minister überhaupt in irgendeinen Entwurf hineingesehen hätte. Die Entwurfsverfasser hatten für ihr Land mehr tun wollen als ihre Berufspflicht. Undank war ihr Lohn. Gerechtigkeit und Vereinfachung haben Politiker oft genug angekündigt. Aber es gibt unter den Politikern und den hohen Beamten des Finanzministeriums niemanden, der die Ankündigung durch eine Rechtsreform umsetzen könnte. Oder ist es so: Die Steuerpolitik will keine Bindung an Prinzipien und Regeln, also darf das Finanzministerium sie auch nicht wollen? Bleibt die Frage: Sollen Rechtswissenschaftler sich überhaupt mit der Gesetzgebung befassen? Es gibt durchaus Autoren, zumal (Anwendungs-)Positivisten133, die das verneinen. Sie wollen sich nur mit den positiven Gesetzen befassen, nicht mit Gerechtigkeits- oder Rechtspolitik. Ihnen widerspricht u. a. M. Reimann.134 In der Tat ist es eine unnötige Verengung, die Rechtswissenschaft auf die Gesetzesanwendung beschränken zu wollen. Natürlich sind Rechtswissenschaftler nicht demokratisch legitimiert. Aber sie sollen und wollen doch keine Gesetze beschließen, sondern sich als Gesetzgebungswissenschaftler durch Beratung nützlich machen. Dass sie in Sachen Steuergesetzgebung weniger fachkompetent sein könnten als Abgeordnete, ist wohl nicht zu befürchten.

VII. Anmerkungen zu Steuerrechtsanwendung und Wissenschaft In der Methode der Rechtsanwendung sehen manche Rechtswissenschaftler die Kernaufgabe der Rechtswissenschaft. Die Rechtsanwendung der Finanzbehörden und -gerichte wird erheblich erschwert durch die Mängel der Gesetze. Ungerechte Gesetzesvorschriften lassen sich nicht durch Gesetzesanwendung in gerechte verwandeln, soweit nicht verfassungskonforme Auslegung zulässig ist. Nicht wenige Finanzrichter, insbesondere die des Bundesfinanzhofs (BFH), veröffentlichen Kommentare, Monographien und Aufsätze von wissenschaftlichem Rang und tragen so zum ‚Erkenntnisfortschritt‘ im Steuerrecht bei. Die juristische (Anwendungs-)Methodenlehre ist um Anwendungssicherheit bemüht; diese dürfte aber unerreichbar sein. In seiner „Methodenlehre für Juristen“ stellt H.-M. Pawlowski fest: „Die juristische Methodenlehre wurde schon seit dem vergangenen Jahrhundert in einer fast unübersehbaren Flut von Aufsätzen und Monographien diskutiert und behandelt. Heute wird sie daneben in einer ganzen Reihe von Lehrbüchern dargestellt.“135 B. Rüthers erwähnt in seiner „Rechtstheorie“, dass die Literatur zu Methodenproblemen

__________ 133 Den Positivismus scharf ablehnend J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 358 f., 367. Leider spielt der Positivismus in Ausbildung und Praxis der Juristen noch immer eine große Rolle. Das Recht der Positivisten ist ethisch jedoch bodenlos. 134 Das Proprium (Fn. 10), S. 87 ff. S. auch W. Schön, ebenda, S. 318 ff. 135 H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen3, 1999, S. 1.

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inzwischen ganze Bibliotheken fülle.136 Noch etwas Neues zu denken, fällt in der Tat schwer. Auch an speziell steuerrechtlicher Methodenliteratur besteht kein Mangel.137 Von Methodenlehrern wird darüber geklagt, dass die richterliche Praxis sich kaum um die Methodenlehre (genauer: den Pluralismus der Methodenlehren) kümmere.138 Es gibt indessen so viele Methodenlehren, dass die Richter sich jeweils die Methode aussuchen könnten, die ihrem Rechtsgefühl für den jeweils zu entscheidenden Fall entspricht. Die Kritik, die auch die Richter des BGH erfahren139, lässt sich auf die Richter der FG und des BFH nicht übertragen.140 Und doch, wenn man Gerichtsurteile – auch die des BVerfG – daran misst, mit welcher Sicherheit sie sich prognostizieren lassen: Je unsicherer die Prognosen sind, desto weniger kann man von Wissenschaft sprechen. Das gilt für die Prognosen der „Wirtschaftsweisen“ über das Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahren, es gilt auch für die Prognosen der Aktienanalysten – Chartanalysten eingeschlossen – über die Entwicklung der DAX-Werte in der Zukunft.141 Es gilt auch für Gerichtspsychiater: Ihre Fehlprognosen kosten immer wieder einmal Menschen das Leben. Wie unsicher Urteilsprognosen sind, weiß jeder Jurist selbst.142 Aussichten, Urteilsprognosen könnten sicherer werden, bestehen nicht. Selbst einschlägige Präjudizien schaffen nicht immer Sicherheit. Verwaltungsanweisungen und Verwaltungsentscheidungen pflegen sich nicht auf Methodenlehren zu berufen. Für Richter gilt: Zur juristischen Dogmatik gehört auch die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit entscheidungserheblicher Vorschriften. Politikwissenschaftler, die uns die Realien der Gesetzgebung vermitteln wollen, schildern uns gerne das Ist, übergehen aber das sich aus Art. 1 Abs. 3 GG ergebende verfassungsrechtliche Soll. Die Grundrechte – der Gleichheitssatz eingeschlossen – enthalten einen ethischen Kernbestand, über den Regierung und Parlamentsmehrheit nicht sollen disponieren dürfen. P. Kirchhof formuliert es treffend so: „In der rechtsprechenden Gewalt steht eine eigene Staatsgewalt bereit, die das Recht des Einzelnen gegen die Parlamentsmehrheit und gegen den Willen der Regierung wahrt, ihm also Waffengleichheit im Kampf mit der Staatsgewalt gewährt. Demokratie gibt deshalb nicht der Mehrheit die Herrschaft über die

__________ 136 B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 640. 137 Dazu zuletzt R. P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007. 138 Dazu z. B. M. Morlok, Theorie/Praxis-Buch in juristischer Methodenlehre und Soziologie, Rechtstheorie, 32. Bd. (2001), 135 ff.; B. Rüthers (Fn. 136), Rz. 647, 675. 139 Z. B. von K. Muscheler in FS für Hollerbach, 2001, S. 99 ff. 140 K. Tipke, StuW 2008, 380. 141 Auf die Frage an Analysten, wo der DAX 30 Ende 2010 stehen werde, schwankten die Angaben zwischen 4500 und 7500. – Sie wissen es nicht! – Zur Prognostizierbarkeit als Wissenschaftskriterium Gert König in FS für A. Hain, 1967. 142 Dazu U. Neumann in Kaufmann/Hassemer, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 1977, S. 176 f.; K. Röhl/H. Röhl (Fn. 5), S. 159.

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Minderheit, sondern schützt zunächst die Grundrechte des einzelnen Menschen und weist der Mehrheit in einer von diesen Grundrechten bestimmten Verfassungsordnung einen begrenzten Entscheidungsraum zu.“143 Da auch Entscheidungen des BVerfG nicht einfach zu prognostizieren sind, sind Fehlprognosen der vorlegenden Fachgerichte nicht vermeidbar, daher nicht vorwerfbar.144

VIII. Das Bundesverfassungsgericht: Gesetzgeberische Freiheiten und ihre Schranken; Kontrollverschärfung durch Folgerichtigkeitsgebot Das BVerfG – so Jubilar Joachim Lang – „leistet unverzichtbare Beiträge zur Durchsetzung der systemtragenden Prinzipien eines rechtsstaatlichen Steuerrechts.“145 Soweit das BVerfG mit „Steuerrecht“ befasst ist, liegt „das Schwergewicht der … Überprüfung steuerrechtlicher Normen beim allgemeinen Gleichheitssatz“.146 Das ist evident. Das Verfassungsgericht belässt dem Gesetzgeber allerdings trotz des Gleichheitssatzes einen großen, wenn auch nicht uneingeschränkten Freiheitsraum, der sich in den folgenden Stereotypen ausdrückt, die bis in die Anfänge der Gerichtstätigkeit zurückzuverfolgen sind. Dass es auch zu Überschneidungen kommt und zu terminologischen Abweichungen, ist nicht verwunderlich, haben an den Leitsätzen doch verschiedene Richtergenerationen in zwei Senaten mitgewirkt. Das Verfassungsgericht hat ständig entschieden, dass der Gesetzgeber „an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit gebunden ist, der sich aus dem Gleichheitssatz ergibt“ (Urteilsnachweise dazu in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Komm., Bearbeiter: A. Burghart, Art. 3 Rz. 496, Lfg. Aug. 2008). – Am Ergebnis ändert sich nichts, wenn man den Satz so fasst: „Der Gesetzgeber ist an den Gleichheitssatz gebunden, der sich aus dem Grundsatz der Gerechtigkeit ergibt.“ Der Gesetzgeber hat ein Steuererfindungsrecht.147 Er darf eine bestimmte Steuerquelle erschließen, braucht andere aber nicht anzuzapfen, wenn er [Schranke] dafür finanzpolitische, volkswirtschaftliche, sozialpolitische, steuertechnische oder sonst sachliche (sachgerechte) Gründe hat, so dass das Will-

__________ 143 P. Kirchhof, Das Gesetz der Hydra, 2006, S. 90, im Original kursiv; s. auch S. 119. 144 Die Rechtsrealisten in den USA sehen das Wissenschaftliche darin, herauszufinden, „what the courts will do in fact“ (O. W. Holmes jun. 10 Harvard Law Review 457 [1897]), weil Recht rechtsrealistisch nicht anderes sei als das, was die Gerichte dafür halten. 145 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 67. 146 J. Hey, StbJb. 2007/08, 33. 147 Dass ein bis zum Willkürverbot reichendes Steuererfindungsrecht zugesprochen wurde, dürfte damit zusammenhängen, dass von den Relativisten angenommen wurde, Gerechtigkeit lasse sich nicht erkennen; daher bleibe nur die Dezision der parlamentarischen Mehrheit übrig.

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kürverbot148 nicht verletzt wird (Nachweise in Leibholz/Rinck, a. a. O., Art. 3 Rz. 516, 517). Der Gesetzgeber darf nach seinem Ermessen entscheiden, welche „Elemente der zu ordnenden Lebensverhältnisse er als maßgebend ansieht, sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln. Der Gesetzgeber darf selbst diejenigen Sachverhalte auswählen, die er als gleich ansehen will.“ Dieser Passus geht zurück auf BVerfGE 13, 202; 21, 27 (Nachweise in Leibholz/Rinck, a. a. O., Art. 3 Rz. 507). Die Steuergestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Erschließung von Steuerquellen endet erst dort, wo [Schranke] die gleiche oder ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die Gleich- oder Ungleichbehandlung entfällt (Nachweise in Leibholz/Rinck, a. a. O., Art. 3 Rz. 517). Bei der Auswahl der Tatbestände, die der Gesetzgeber regeln will, bleibt ihm ein weiter Spielraum [geht zurück bis BVerfGE 18, 124; 19, 125; 21, 26]. Für die Besteuerung des zu erfassenden Personenkreises hat er einen weiten Gestaltungsbereich (geht zurück bis BVerfGE 27, 10]. Er darf einzelne Berufsgruppen erfassen, muss andere aber nicht erfassen, wenn [Schranke] das auf sachgerechten Erwägungen beruht [geht zurück bis auf BVerfGE 26, 8 f.]; s. Nachweise in Leibholz/Rinck, a. a. O., Art. 3 Rz. 66, 842.149 Nur die Einhaltung der äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit („Willkürverbot“) ist vom BVerfG zu prüfen, nicht aber, ob der Gesetzgeber im Einzelfall die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden hat [geht zurück bis BVerfGE 1, 52; 4, 18; 26, 310]; weitere Nachweise in Leibholz/Rinck, a. a. O., Art. 3 Rz. 517.150 Der Gesetzgeber hat bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. (Nachweise in Leibholz/Rinck, a. a. O., Art. 3 Rz. 518; s. schon BVerfGE 23, 256). Aus dem Gleichheitssatz ergeben sich unterschiedliche Grenzen, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen.151 (Nachweise in Leibholz/Rinck, a. a. O., Art. 3 Rz. 64).

__________ 148 Der Kursivdruck in dieser und in den folgenden Passagen ist vom Verfasser veranlasst worden. Um mir lange Präjudizienketten zu ersparen, habe ich möglichst auf den Grundgesetz-Rechtsprechungskommentar von Leibholz/Rinck verwiesen. 149 Auf diese Weise wurde die Erfassung nur der Gewerbetreibenden und die Nichterfassung anderer Unternehmer durch die Gewerbesteuer gebilligt. 150 Dem Gesetzgeber darf nicht (mehr) unterstellt werden, dass er für jede legislative Maßnahme nach einer (aus seiner Sicht) gerechten Lösung sucht. So steht fest, dass die weitgehende Abschaffung der Pendlerpauschale nur fiskalische Gründe hatte. 151 Das ist aus sich heraus schwer zu verstehen. Die strenge Bindung soll angebracht sein, wenn es um Personengruppen geht (dazu BVerfG v. 26.1.1993 – 1 BvL 38, 40, 43/92, BVerfGE 88, 96).

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Der Gesetzgeber ist unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nicht gehalten, in allen Fällen einer Erlaubnis zum Betrieb eines Gewerbes eine Erlaubnissteuer zu erheben oder durchgängig davon abzusehen. Vielmehr kann er nach der Art der erteilten Erlaubnis differenzieren. Dass gerade die Schankerlaubnis mit einer besonderen Steuer belegt wurde, war durch „vernünftige, aus der Natur der Sache sich ergebende Gründe“ gerechtfertigt (BVerfGE 13, 203 f.).152 Bei so viel Freiheit hatte der Gesetzgeber keine Veranlassung, sich zu beklagen. Erst als den Steuerpolitikern die Folgen des Folgerichtigkeitsgebots klar wurden153, wurden sie unwillig. Die Steuerpolitik möchte sich nicht durch Gebote der Rechtslogik, durch besser voraussehbare Gerechtigkeitsdogmatik festlegen oder einengen lassen. Mit Floskeln wie „am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise“, „der Gesetzgeber darf selbst die Sachverhalte auswählen, die er als gleich ansehen will“154, „der Gesetzgeber muss nicht die gerechteste Lösung finden“, „aus der Natur der Sache sich ergebende vernünftige Gründe“ ließ sich recht sorglos legifizieren. Die Versuche des Finanzministeriums, das Folgerichtigkeitsgebot zu unterlaufen und wieder mehr Gestaltungsspielraum zu erhalten155, waren juristisch untauglich und – jedenfalls im Pendlerpauschalenfall – erfolglos. Nicht nachvollziehbar ist es, dass das Verfassungsgericht nicht verlangt, die Steuergegenstände (mit ihren Bemessungsgrundlagen) müssten konkretisierend aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip abgeleitet werden, sondern dass es den grundsätzlich frei auswählbar sein sollenden Steuergegenstand dem Leistungsfähigkeitsprinzip vorlagert. Erst nach Auswahl des Steuergegenstandes – auch als Ausgangstatbestand, Grundentscheidung, Steuerquelle, einmal getroffene Belastungsentscheidung bezeichnet – muss er diesen folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umsetzen. Wenn sich aber im Steuergegenstand keine gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ausdrückt, wie kann es dann durch Folgerichtigkeit zu einer solchen Besteuerung kommen? (s. auch schon oben S. 39 f.). In der Entscheidung zur Pendlerpauschale werden „zwei eng miteinander verbundene Leitlinien“ als Grenzen für den Gesetzgeber genannt, „das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und das Gebot der Folgerichtigkeit“.156 Wieso sind das materiale Leistungsfähigkeitsprinzip und das formale Folgerichtigkeitsprinzip

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152 Auf diese Weise wurde eine Schankerlaubnissteuer als alleinige Erlaubnissteuer gerechtfertigt. Waffenhändler z. B. werden nicht belastet (kritisch zur Schankerlaubnissteuer auch Chr. Trzaskalik, Gutachten E zum 63. Dt. Juristentag, 2000, S. 14, 45). 153 Nach R. Wernsmann hat sich das Folgerichtigkeitsgebot „im Bereich des Steuerrechts zu einem der schlagkräftigsten Verfassungsgebote entwickelt“ (Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, hrsg. von W. Schön/K. Beck, 2009, S. 164). 154 Der Passus erweckt den Eindruck, nicht der Gleichheitssatz dirigiere den Gesetzgeber, sondern der Gesetzgeber bestimme, was gleich sei. 155 S. dazu insb. der frühere Staatssekretär im BMF A. Nawrath, JbFStR 2008/2009, 1 ff.; DStR 2009, 3. 156 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, FR 2009, 74 (75 re.).

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eng miteinander verbunden, wenn nach der Vorstellung des Gerichts der Steuergegenstand statt das Leistungsfähigkeitsprinzip umzusetzen ist? Dem Verfassungsgericht hat von jeher viel an der Kontinuität seiner Rechtsprechung gelegen. Das kommt auch in den langen Präjudizienketten zum Ausdruck. So wird es dem Gericht schwer fallen, die Logik seiner Gerechtigkeitsdogmatik umzubauen. Einkommensteuerrechtlich fällt der von mir angenommene Bruch auch nicht auf. An der Wirklichkeit geht es vorbei, wenn man dem Gesetzgeber stets ein Streben nach Gerechtigkeit unterstellt. Die Frage, was die Durchbrechung des Gleichheitssatzes rechtfertigt, ist ein Sonderthema.157 Je leichtgewichtiger die Rechtfertigungsgründe einer Durchbrechung des Gleichheitssatzes sein dürfen, desto mehr wird die Steuergerechtigkeit beeinträchtigt. Bei Abwägungen ist zu bedenken, dass Gerechtigkeit ein sehr hoher Gemeinwohlwert ist (s. S. 45). Dem Gemeinwohl dient eine Steuervergünstigung nur, wenn von ihr nicht nur die unmittelbar Begünstigten etwas haben, sondern mittelbar auch andere. „Der Fiskus braucht das Geld“ ist kein Grund, eine Gruppe (etwa die Pendler) sonderzubelasten.158 Im Rechtsstaat gilt nicht „Salus fisci suprema lex“. Nicht als Rechtfertigungsgrund taugt ferner die Herkömmlichkeit oder Tradition einer antiquierten Steuer. Steuern, die nicht dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen, sind antiquiert; sie dürfen nicht „wie eine ewge Krankheit“ fortgeschleppt werden. Und Recht ist auch nicht, was von Nutzen ist für die nächste Wahl. Steuerrechtslogik und Steuerrechtswissenschaft würden weiter vorankommen, wenn das Bundesverfassungsgericht nach dem Gebot der Folgerichtigkeit auch das Gebot der Verallgemeinerung anwenden würde, auch im Steuersubventionsrecht.

IX. Über Gesetzgebung und Gesetzeskontrolle Der Disput über die zulässige Reichweite rechtsstaatlicher Gesetzeskontrolle erweckt den Eindruck, es gehe um das Verhältnis des Rechtsstaats zur Demokratie. Die westlichen Demokratien pflegen sich zugleich Rechtsstaaten zu nennen, auch dann, wenn sie ihren Gerichten nicht erlauben, die Gesetzgebung zu kontrollieren, wenn sie kein Verfassungsgericht haben. Die Mehrheit hat dann eben recht, ganz gleich wie sie entscheidet. Insbesondere Deutschland hat die leidvolle Erfahrung machen müssen, dass die Mehrheit sich schrecklich irren kann. Das Grundgesetz ordnet daher an, dass die Gesetzgebung durch die Grundrechte gebunden ist. Unsere Rechtspolitiker fühlten sich nicht gestört, solange das Verfassungsgericht entschied: Der Gesetzgeber hat ein weitreichendes Ermessen; erst die

__________ 157 Dazu J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, 2010, § 4 Rz. 79; J. Hey, ebenda, § 19 Rz. 70–79. Erfahrungsgemäß lassen sich die Schranken des BVerfG leicht überwinden. Sog. „sachliche Gründe“ sind „wohlfeil wie Brommelbeeren“. 158 S. auch J. Hey, StbJb. 2007/08, 39.

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pure Willkür verletzt den Gleichheitssatz, usw. Vor allem im Steuerrecht ist die Kontrolle aber verschärft worden, dadurch zum Störfaktor der Politik geworden. Aber alles in allem hat sich die Qualität der Steuergesetzgebung dadurch bisher nicht verbessert.159 Die Rechtspolitiker fordern nicht die Aufhebung des Art. 1 Abs. 3 GG und die Abschaffung des Verfassungsgerichts, sondern kritisieren die Kontrollintensität. Die wahren Gründe kommen nicht auf den Tisch. Stattdessen wird insinuiert, das demokratische Element werde minimiert. Warum folgen die „Gesetzgeber“ so unwillig den Gerechtigkeitsvorstellungen des Verfassungsgerichts? Letztlich wohl deshalb, weil das „System der Wählerabhängigkeit“ etwas anderes nicht zulässt, jedenfalls in eine andere Richtung lenkt als in die der Gleichheitsgerechtigkeit. Offenbar empfinden die Politiker die Rechtsrationalität als Zwangsjacke für ihre Zunft. Die Parteien, die die Macht erringen oder erhalten wollen, sind auf Wahlen und Wähler angewiesen, auf Stimmenmaximierung160 (s. schon S. 45). Zur Stimmenmaximierung dienen auch Gesetze, die die eigene Klientel der parlamentarischen Mehrheit privilegiert. Das Privileg aber ist der Feind des Gleichheitssatzes und damit der Demokratie. In Wahrheit sind die Rechtspolitiker mehr von Interessenverbänden eingeengt als vom Verfassungsgericht.161 Wer aber zum Zwecke der Wählerstimmenmaximierung den Interessenverbänden folgen muss, kann nicht zugleich den Prinzipien und Regeln des Verfassungsgerichts folgen. Der Konflikt ist also im „System“ angelegt. Die für die Stärkung des „demokratischen Prinzips“ in der Gesetzgebung streiten, haben keine guten Argumente. Vor allem trifft es nicht zu, dass das Gesetzgebungsverfahren des Grundgesetzes für sich schon für Steuergerechtigkeit sorge. Das Problem „Gerechtigkeit durch Mehrheit“ hat schon in der Weimarer Republik eine Rolle gespielt. Die Weimarer Verfassung hatte nicht nur den Gleichheitssatz, sondern auch das Leistungsfähigkeitsprinzip (Art. 134 WRV) verankert, freilich auf unverbindliche Weise. Die Advokaten der Unverbindlichkeit argumentierten: „Was der Gesetzgeber in dem von der Verfassung für richtig gehaltenen Verfahren produziert, genügt allen billigerweise zu stellenden Anforderungen an Gerechtigkeit. Das wertende Grundrecht (gemeint ist der Gleichheitssatz, d. V.) spricht also nur das aus, was schon ohnedies durch den Akt der Gesetzgebung materiell verwirklicht wird … Das demokratische Gesetzgebungsver-

__________ 159 Hinweis auf S. 46 f. 160 Der amtierende Finanzminister W. Schäuble in einem Interview: „Da kommt es auch zum Wettlauf der Parteien um die Gunst der Wähler. Wir Politiker müssen Mehrheiten organisieren. Demokratie beruht nicht auf dem Prinzip, dass sich der Klügere durchsetzt.“ (FOCUS 3/2010, S. 20). 161 „Nicht Einzel-, sondern Gruppenegoismus ist die Hauptbedrohung“ (F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit Bd. 3, 1981, S. 124). Viel wäre gewonnen, wenn Steuervergünstigungen, deren Zweck entfallen ist, außer Kraft treten würden, ohne dass der Gesetzgeber sie aufheben müsste. Ubi cessat ratio legis, cessat ipsa lex.

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fahren sorgt, ohne dass es weiterer Besinnungen oder gar Zweifel bedürfte, einfach durch die formellen Schranken und Sicherungen des Gesetzgebungsverfahrens dafür, dass jedes Steuergesetz den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen der Verfassung (Allgemeinheit der Besteuerung, Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit) ohne weiteres entspricht.“162 Albert Hensel, führender Steuerrechtswissenschaftler in der Weimarer Republik, widersprach dieser Auffassung wie folgt: „Wäre eine solche extremidealistische Würdigung der demokratischen Gesetzgebung als Verfassungsprinzip wirklich anzusehen, so erübrigte sich freilich eine selbständige rechtswissenschaftliche Untersuchung über das materielle Gebot steuerlicher Gerechtigkeit, das Art. 134 enthält … Denn gerade das grundlegende Formalprinzip der demokratischen Gesetzgebung, die Entscheidung durch Mehrheitsbeschluss, kann für das materielle Steuerrecht verhängnisvolle Wirkungen zeitigen … für die materielle Ausgestaltung des Steuerrechts lässt sich schwerlich leugnen, dass die demokratische Macht der Parlamentsmehrheit zum mindesten bestrebt sein kann und auch tatsächlich oftmals bestrebt sein wird, das gesamte Steuersystem wie das einzelne Steuergesetz so auszugestalten, wie es von dem staatssubjektiven Nützlichkeitsstandpunkt der Mehrheitspartei aus gesehen richtig erscheint … Mit dem Verbot willkürlicher Besteuerung wäre zwar einiges, aber doch nur wenig und vor allem gerade nicht das gewonnen, was … Art. 134 WRV an beachtlichen Richtlinien an die Hand gibt.“163 Deutlich formuliert Verfassungsrichter R. Mellinghoff die Rechtslage nach dem Grundgesetz: „Mit dieser Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung trifft das Grundgesetz eine klare Entscheidung gegen eine unbeschränkte Parlamentssouveränität. Auch das Parlament ist an die in der Verfassung gesetzte Ordnung gebunden. Das Gesetzgebungsmonopol des Parlaments begründet zugleich den Auftrag, die Rechtsetzungsmacht zur Herstellung und Wahrung verfassungsmäßiger Zustände einzusetzen“164. Wohl jeder Ethiker vertritt die Auffassung, dass unparteiisch und unbefangen sein müsse, wer über Gerechtigkeitsfragen zu urteilen hat.165 Diese Vorausset-

__________ 162 Nach A. Hensel, VJSchrStFR 1930, 442 (443 f.); abgedruckt auch in: E. Reimer/Chr. Waldhoff (Hrsg.), Albert Hensel, 2000, S. 247. 163 A. Hensel, VJSchrStFR 1930, 444 (446); abgedruckt auch in: E. Reimer/Chr. Waldhoff (Fn. 162), S. 247 f., 250. Ein entschiedener Gegner uneingeschränkter Mehrheitsherrschaft war der Nobelpreisträger F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit Bd. 3, 1981. 164 Festschrift für P. Bareis, 2005, S. 179. 165 S. z. B. L. Siep, Konkrete Ethik, 2004, S. 151; D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik2, 2007, S. 413 ff. („Der ‚moralische Standpunkt‘ ist ein unparteiischer …“); I. Tammelo, Theorie der Gerechtigkeit, 1977, S. 45 („Der Gedanke der persönlichen Distanz und Unparteilichkeit in Gerechtigkeitsfragen wird fast durchweg von den Philosophen anerkannt“); A. Regenbogen/U. Meyer (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2005, S. 266 li. (Unparteilichkeit verlangt vom Gesetzgeber, Gleichstellung aktiv zu fördern); O. Höffe, Lexikon der Ethik7, 2007, S. 100; Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 43–45 (Unparteilichkeit der Regelfestsetzung), 48, 83 („Die Gerechtigkeit bedeutet jene strengste Forderung nach Unparteilichkeit, bei der alle eigenen … Vorlieben, Ideale und Wertvorstellungen als Urteilskriterium

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zungen müssen Richter erfüllen, Abgeordnete aber nicht. Nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sind die Abgeordneten zwar „Vertreter des ganzen Volkes“. Aber in der Praxis geben sie sich doch durchweg mehr als Vertreter ihrer Partei oder von Gruppeninteressen. Nicht nur Steuerpolitiker, auch Politikwissenschaftler und Juristen können m. E. falsche Vorstellungen von „Steuerpolitik“ haben. So vertritt der Politikwissenschaftler St. Heichel die Auffassung166: „Finanzpolitik mag man sich rational wünschen. Sie ist es aber nicht und kann es im politischen Geschäft moderner Parteiendemokratien westlicher Prägung auch gar nicht sein. Warum? Finanzpolitik ist eben genau dies: Politik … Daher wird die Steuerpolitik in allen wichtigen Aspekten auf höchster Ebene bestimmt, im Koalitionsvertrag …, zuvor innerparteilich und nicht zuletzt im Kabinett oder in den Arbeitsgremien …“167 Das Parlament und die „Nebenregierung der organisierten Interessen“ (v. Hayek) erwähnt St. Heichel nicht, das Grundgesetz und seine verbindliche Werteordnung auch nicht. So wie St. Heichel die Wirklichkeit – m. E. zutreffend, wenn auch nicht vollständig – schildert, können wir leider gar nicht davon ausgehen, dass die Steuerpolitiker Steuergerechtigkeit erstreben. Offenbar ergibt sich für St. Heichel das Soll aus dem Ist. Er erkennt nicht, dass das Grundgesetz eine ethikfreie, gerechtigkeitsfreie Steuerpolitik nicht zulässt.168 Man stelle sich einmal vor, das BVerfG würde eine Verletzung des Gleichheitssatzes verneinen mit der Begründung, der Gesetzgeber habe alles getan, was „im politischen Geschäft moderner Parteiendemokratien westlicher Prägung“ möglich sei und auch gar nicht anders handeln können. Auch vom demokratischen Gesetzgeber könne nichts Unmögliches verlangt werden. Nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet. Die Steuerpolitik muss Gerechtigkeitspolitik sein. Sie darf daher nicht in einen Topf geworfen werden etwa mit Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Bildungspolitik, Verkehrspolitik u.Ä. Steuerpolitik, genauer: Besteuerungspolitik, betrifft die Einnahmeseite. Für sie gilt: Da Steuern nur aufgrund Gesetzes erhoben werden dürfen, lassen die Ziele der Steuerpolitik sich nur durch Gesetze erreichen. Solange das Ziel noch nicht erreicht worden ist, handelt es sich um

__________ ausgeschlossen sind.“); B. Rüthers, Rechtstheorie4, 2008, Rz. 351 (Für austeilende Gerechtigkeit wird „die Unparteilichkeit desjenigen, der die Verteilung vornimmt“, erwartet.); J. Rawls verlangt sogar den „Schleier des Nichtwissens [veil of ignorance]“ (Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, Kap. 3 Nr. 24). 166 FAZ v. 5.12.2009, S. 10. 167 Das mag, was das Parlament betrifft, damit zusammenhängen, dass seine Bedeutung „im politischen Geschäft der modernen Parteiendemokratie“ in der Tat relativ gering ist. Trotz Art. 38 Abs. 1 GG (Abgeordnete sind an „Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“) können sie sich tatsächlich Koalitionsvereinbarungen und Fraktionsbeschlüssen nicht entziehen. Die Abgeordneten der Regierungsparteien dürfen der Regierung nicht „in den Rücken fallen“. Viele der zu verabschiedenden Gesetze können sie in Wirklichkeit nur „abnicken“. 168 Dazu auch P. Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 335 ff. S. auch R. Mellinghoff in FS für P. Bareis, 2005, S. 174 ff.

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geplante oder gedachte Gesetzgebung. Die Steuergesetze sind geronnene Steuerpolitik. Da im demokratischen Rechtsstaat Steuergesetze gerecht sein müssen, muss die Steuerpolitik gerecht sein, auf Gleichgerechtigkeit durch Gleichbelastung bedacht (s. S. 31 ff.). Bevor ein Steuergesetz verabschiedet wird, muss es gewissenhaft auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft werden. Der Gesetzgeber hat die „Erstverantwortung“ für die Verfassung. Ethik ist nicht Politik, den Gleichheitssatz anwenden ist nicht Politik, Gebote der Rechtslogik anwenden ist nicht Politik: Und Rechtspolitik ist dem Grundgesetz unterworfen. Die rechtsstaatliche Demokratie besteht eben nicht im opportunen Diktat der Mehrheit. Niemand sollte das Rechtsstaatsprinzip durch das demokratische Prinzip ausspielen wollen. Demokratie und Gerechtigkeit durch Gleichheit sind keine Gegensätze oder Wertungswidersprüche. Der Gleichheitssatz gehört zur Essenz der Demokratie und mit ihm die in ihm angelegte Rechts- oder Wertungslogik. Demokratisch ist auch das möglichst übersichtliche, einsichtige, einfache, verständliche Gesetz. Nicht demokratisch ist Klientelpolitik, Sonderinteressenpolitik, Privilegienpolitik. Solange die Steuergesetze sich in dem auch Verfassungsrichtern bekannten mangelhaften Zustand befinden, brauchen die Verfassungsrichter nicht zu befürchten, sie hätten den Gesetzgeber übermäßig eingeschränkt.169 Chr. Waldhoff gesteht der „Kölner Schule“ des Steuerrechts zu, sie habe mit ihrem Ansatz „die Steuerrechtswissenschaft sehr vorangebracht, im Grunde nach Hensel und Bühler auf eine neue Stufe gehoben.“170 Wenn das so ist, ist es ganz wesentlich auch das Verdienst von Joachim Lang. Er hat die Theorie der Steuergesetzgebung bis in ausformulierte Gesetzentwürfe hinein vertieft. Möge es ihm vergönnt sein, dass Gesetzesvorschläge von ihm doch noch früher oder später das Bundesgesetzblatt erreichen. M. E. besteht kein Zweifel daran: Joachim Langs Lebenswerk – wir erwarten übrigens noch viel von ihm – wird sein Leben bei weitem überdauern.

__________ 169 Von Winston Churchill stammt die Feststellung: „It has been said that Democracy is the worst form of government except those other forms that have been tried from time to time.“ Verbesserbar wäre der Wahlkampf. Er ist unter dem Gemeinwohlaspekt der bedeutendste Wettkampf. Nur sollte in ihm nicht alles erlaubt sein: nicht Belügen der Wähler, unhaltbare Versprechungen, persönliche Verunglimpfung, verbales catch as catch can. Dem Wahlkampf fehlen Regeln und Schiedsrichter. Mit einer Verbesserung der Wahlkampfkultur könnte sich auch eine Verbesserung der Gesetzgebungskultur einstellen. 170 Chr. Waldhoff, in Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, hrsg. von W. Schön/ K. Beck, 2009, S. 150.

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Über Theorien im Steuerrecht Inhaltsübersicht I. Theorienvielfalt im Steuerrecht II. Begriff, Funktionen und Arten juristischer Theorien 1. Zum Theoriebegriff der Jurisprudenz 2. Funktionen juristischer Theorien 3. Arten juristischer Theorien III. Zur Theoriebildung im Steuerrecht 1. Theorienebenen im Steuerrecht 2. Über Schöpfer, Anwender und „Abwickler“ von Theorien im Steuerrecht 3. Theoriebildung und Steuergesetzgebung

4. Theoriebildung durch Steuerrechtsprechung und -verwaltung IV. Über Leistungsfähigkeit und Gefahren von Theorien im Steuerrecht 1. Normverzeichnende oder simplifizierende Theorien 2. Telosverdeckende Theorien 3. Normverdeckende Theoriediskurse 4. Zur gesetzlichen „Kodifikation“ von Theorien V. Schluss: Theorie und Praxis im Steuerrecht

Joachim Lang, dem ich mit diesem Beitrag zu seiner Festschrift für seine wohlwollende Begleitung meines wissenschaftlichen Weges herzlich danken möchte, hat sich seit seiner Kölner Dissertation beständig der Systematisierung des Steuerrechts verschrieben1. Er hat sich dabei ausdrücklich zum Systemdenken im Sinne von Claus-Wilhelm Canaris bekannt2. Dieser hat die für die juristische Systembildung, das „innere“ System3, konstitutiven Kriterien der Einheit und Ordnung4 auf die juristische Theoriebildung übertragen5.

__________ 1 J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974; ders., Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, DStJG 25 (2001), 49 und durchgängiges Anliegen im Lehrbuch Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010. 2 Z. B. J. Lang, Vordenker der Steuergerechtigkeit – Klaus Tipke zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, StuW 2001, 78 (80 f.); ders., Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS Kruse, 2001, S. 313 (317 ff.) und in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 4 Rz. 9 ff. 3 Nur am Rande sei bemerkt, dass der Gedanke eines „inneren Systems“ des Rechts keine neue Entdeckung des 20. Jahrhunderts ist, sondern bereits die auffälligste Neuerung, die die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat (näher J. Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule [1500 bis 1800], 2001, S. 244 f.). 4 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 16 ff. 5 C.-W. Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, JZ 1993, 377 f.; kritisch zu einem derartigen Minimalbegriff juristischer Theorien aber Röhl/ Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 164 (dazu noch sub II.).

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Canaris grundlegende Überlegungen zu Funktion und Leistungsfähigkeit juristischer Theorien fokussieren sich auf zivilrechtliche Theorien6. Untersuchungen speziell zu Theorien im Steuerrecht stehen dagegen noch aus. Ich möchte zu Ehren des Jubilars hierzu an dieser Stelle einen Beitrag leisten.

I. Theorienvielfalt im Steuerrecht An Theorien herrscht in der Jurisprudenz kein Mangel7. Im Gegenteil: Die Lehrbücher sind voll davon, die Studenten lernen sie eifrig und auch die Rechtsprechung bedient sich ihrer häufig8. Vielfach konkurrieren Theorien9. Beim Umgang mit dem Recht erscheint schon wegen der Masse der Normen und der Kompliziertheit ihrer Zusammenhänge eine Theoriebildung unerlässlich10. Theorien sind im juristischen Alltag unausweichlich. Die bisweilen anzutreffende antitheoretische Einstellung der juristischen Praxis11 zielt vornehmlich auf die Rechtstheorie als Disziplin ab, ist aber nicht gegen die juristische Theoriebildung für und bei der Rechtsanwendung gerichtet. Die Ubiquität juristischer Theorien gilt ebenso für das Steuerrecht. Der „Tipke/Lang“ als das vom Jubilar seit der 13. Auflage fortgeführte Standardlehrbuch zum Steuerrecht ist eine wahre Fundgrube für Theorien12. Auch eine kursorische „Theorieninventur“ in steuerrechtlicher Rechtsprechung und Literatur belegt den Theoriereichtum. Die theoretische Bandbreite reicht von A bis Z: Von Abfärbe-

__________ 6 C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (378, Note 13), wirbt dafür ausdrücklich um Verständnis. 7 So schon R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, Festschrift Schelsky, 1978, S. 103, zitiert nach dem Wiederabdruck im Sammelband ders., Recht – Moral – Ideologie, Studien zur Rechtstheorie, 1981, S. 70. 8 Treffend C.-W. Canaris, JZ 1993, 377. 9 Zum „Theorienstreit“ und seinen Gründen bereits H. Wagner, Die Theorie in der Rechtswissenschaft, JuS 1963, 457 (461 ff.). 10 N. Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 2007, Rz. 138. 11 Vgl. M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis, 2006, S. 3 ff. 12 J. Lang in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 4 Rz. 100 „Fundustheorie“, § 5 Rz. 95 „Innen- und Außentheorie“, § 7 Rz. 73 mit Note 62: „materielle und formelle Rechtsgrundtheorie“, § 8 Rz. 30 und § 9 Rz. 52 „Markteinkommenstheorie“, § 8 Rz. 102 „Bewertungsdifferenztheorie“, § 9 Rz. 50 „Quellen- und Reinvermögenszugangstheorie“, § 9 Rz. 219 „Äquivalenztheorie“, § 9 Rz. 220 „Theorie der wesentlichen Bedingung“, § 9 Rz. 801 „Opfertheorie“; W. Reiß, ebenda, § 14 Rz. 1 „Realakttheorie“; J. Hey, ebenda, § 17 Rz. 93 „dynamische Bilanztheorie“, § 17 Rz. 222 „Einheitstheorie“, § 18 Rz. 10 „Bilanzbündeltheorie“, § 18 Rz. 74 „Beitragstheorie“, § 18 Rz. 303 „Geprägetheorie“, § 18 Rz. 408 „Zurechnungstheorie“, § 18 Rz. 416 „eingeschränkte Einheitstheorie“; R. Seer, ebenda, § 21 Rz. 59 „Erklärungstheorie“, § 22 Rz. 191 „Normbegünstigungstheorie“. Dabei lege ich meine Hand nicht dafür ins Feuer, alle im Tipke/Lang erwähnten Theorien gefunden zu haben.

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theorie13, Außentheorie14, Bilanztheorien15, Blasentheorie16, Drei-Objekt-Theorie17, Einheitstheorie18, Evidenztheorie19, Fiktionstheorie20, Fußstapfentheorie21, Gegenwerttheorie22, Geprägetheorie23, Innentheorie24, Personengruppentheorie25, Rechtsgrundtheorien26, Sphärentheorie27, Spiegelbildtheorie28, Stufentheorie29, Trennungstheorie30, Vervielfältigungstheorie31, Wertabspaltungs-

__________ 13 BFH v. 4.12.2007 – VIII R 53/05, BStBl. II 2008, 563 (566); FG Münster v. 17.6.2008 – 1 K 5087/06 G, EFG 2008, 1729; R. Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 185 ff., § 18 Rz. 4, 43. 14 P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 42 AO Rz. 73 (März 2008). 15 B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 13 ff., mit Darstellung der Entwicklung des Verständnisses hin zur „Bilanz im Rechtssinne“. 16 Küffner/Zugmaier, Gesellschaften und Gesellschafter im Umsatzsteuerrecht, DStR 2007, 472 (475). 17 R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 15 Rz. 48 ff., 62 m. w. N. 18 Aus der Rechtsprechung BFH v. 14.1.2009 – I R 47/08, DStRE 2009, 489; v. 27.11. 2008 – IV R 72/06, DStR 2009, 849; FG Berlin-Brandenburg v. 21.4.2009 – 6 K 1052/05, EFG 2009, 1580; E. Kulosa in Schmidt, (Fn. 13), § 6 Rz. 313 (Geschäftswert); R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 16 Rz. 58 f. (teilentgeltliche Betriebsübertragung), § 18 Rz. 203 (Ermittlung des Teilwerts). 19 H. W. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, S. 263. 20 B. Knobbe-Keuk, (Fn. 15), S. 647, als früher h. M. im Recht der verdeckten Gewinnausschüttung. 21 FG Nds. v. 25.3.2009 – 2 K 273/06, EFG 2009, 1478. 22 BFH v. 4.3.1983 – VI R 189/79, BStBl. II 1983, 378 (379); v. 27.12.2006 – III B 107/06, BFH/NV 2007, 701 (702); kritisch D. Birk, Steuerrecht, 12. Aufl. 2009, Rz. 1065 f. 23 Zu Personengesellschaften: z. B. BFH v. 4.9.1997 – IV R 27/96, BStBl. II 1998, 286 (288); FG Hamburg v. 9.7.2004 – VII 20/01, DStRE 2005, 42; zum Gemeinnützigkeitsrecht BFH v. 4.4.2007 – I R 76/05, BStBl. II 2007, 631 (634); dazu zuletzt Schiffer/ Sommer, Mittelbeschaffung bei gemeinnützigen Körperschaften: Ein Ruf gegen die Rechtsunsicherheit durch die „Geprägetheorie“, BB 2008, 2432; R. Wallenhorst, Gemeinnützigkeit: Ist die Geprägetheorie überholt?, DStR 2009, 717; Weitemeier/ Mager, Zum Stand der Diskussion um die Geprägetheorie im Gemeinnützigkeitsrecht, in Hüttemann/Rawert/Schmidt/Weitemeyer (Hrsg.), Non Profit Law Yearbook 2008, 2009, S. 69 (76 ff.). 24 P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, (Fn. 14), § 42 AO Rz. 72 (März 2008). 25 BFH v. 19.3.2009 – IV R 78/06, BStBl. II 2009, 803, zur Betriebsaufspaltung unter Hinweis auf R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 15 Rz. 823 m. w. N. 26 W. Jakob, Abgabenordnung, 5. Aufl. 2010, Rz. 522 f. 27 FG Hess. v. 15.3.2007 – 6 K 1476/02, EFG 2007, 1381. 28 Lüdicke/Sistermann, Unternehmenssteuerrecht, 2008, § 11 Rz. 374, zur Organschaft. 29 St. Meyering, Ermittlung der Anschaffungskosten im Rahmen der Bewertung gem. § 6 Abs. 1 Nr. 7 EStG, DStR 2008, 1008 (1010 ff.): „Stufentheorie“, „modifizierte Stufentheorie“ und „Gleichverteilungstheorie“ zur Aufteilung des Kaufpreises eines Unternehmens. 30 BFH, Beschl. v. 4.4.2006 – IV B 12/05, BFH/NV 2006, 1460; FG Köln v. 26.5.2009 – 8 K 335/07, EFG 2009, 1459; H. Weber-Grellet in Schmidt, (Fn. 13), § 17 Rz. 105; Böhme/Forster, Anwendbarkeit der Trennungstheorie im Rahmen von Übertragungen i. S. d. § 6 Abs. 5 EStG i. d. F. des Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetzes, BB 2003, 1979. 31 BFH v. 11.8.1994 – IV R 126/91, BStBl. II 1994, 936 (937); FG Hamburg v. 27.5.2009 – 2 K 72/07, EFG 2009, 1651; FG Düsseldorf v. 18.11.2009 – 7 K 3041/07 G, F, EFG 2010, 415 (416); R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 18 Rz. 23, 142, 147.

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theorie32, Wertaufhellungstheorie33, Wurzeltheorie34 bis zu Zweivertragstheorie35. Im Prozessrecht hält die Rechtsprechung nach der Meistbegünstigungstheorie Rechtsbehelfe für zulässig36, eine allgemeine „Rosinentheorie“ lehnt sie dagegen ab37. Die Reihe der Theorien ist nicht auf Vollständigkeit angelegt und ließe sich mühelos verlängern38. Allein die kursorische Aufzählung enthält Theorien, die nicht nur im Steuerrecht, sondern auch in anderen Rechtsgebieten ihren Platz haben. In anderen Rechtsgebieten bewährte Theorienamen (z. B. Stufentheorie) werden in das Steuerrecht importiert. Zum Teil hängt sich das Steuerrecht explizit an zivilrechtliche Theorien an39, in anderen Fällen koppelt es sich lieber von lästigen zivilrechtlichen Theoriestreiten ab40. Das Phänomen gleichnamiger Theorien in verschiedenen Rechtsgebieten rührt auch daher, dass manche Theorien auf einem allgemeinen Gegensatzpaar basieren (klassisch: subjektive vs. objektive Theorie41) und darum einen universalen Einsatzbereich haben42. Paradebeispiel dafür ist im Steuerrecht die vielfach konkurrierende Einheits- und Trennungstheorie, für die es ganz verschiedene Anwendungsfelder gibt43. Der Hauptanwendungsfall ist ein teilentgeltliches Veräußerungsgeschäft44. Vielfach wer-

__________ 32 Zuletzt BFH v. 27.5.2009 – I R 53/08, GmbHR 2010, 156 (157). 33 BFH, Beschl. v. 13.3.2007 – X B 37/06, BFH/NV 2007, 1138 (1139); FG BerlinBrandenburg, Beschl. v. 22.8.2008 – 6 S 1617/04 PKH, EFG 2009, 207. 34 Jüngst J. Hageböke, Zur Anwendung des DBA-Schachtelprivilegs bei der KGaA, IStR 2010, 59 (60 f.) sowie J. D. Kramer, Replik, IStR 2010, 63. 35 BFH v. 19.12.2007 – VIII R 14/06, BStBl. II 2008, 475 (477); H. Weber-Grellet in Schmidt, (Fn. 13), § 5 Rz. 144 m. w. N., zur steuerlichen Behandlung von Optionsgeschäften. 36 FG München, Beschl. v. 12.8.2009 – 1 V 1193/09, EFG 2009, 2035 (2039). 37 Explizit FG Köln v. 18.12.2008 – 9 K 2414/08, DStRE 2009, 612 (614), zur Frage einer steuerverschärfenden Analogie im Steuerrecht bei der „analogen“ Anwendung des § 13a Abs. 5 Nr. 1 ErbStG auch auf freiberufliches Betriebsvermögen. 38 Weitere Beispiele sind Ausschüttungs-, Zurechnungs- und Repräsentationstheorie bei der Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7 bis 14 AStG (näher G. Vogt in Blümich, EStG/KStG/GewStG, Vorbemerkungen zu den §§ 7 bis 14 AStG, Rz. 32–36 [April 2007]). 39 Beispiel ist die aus dem Unfallversicherungsrecht stammende „Theorie der wesentlichen Bedingung“ (J. Lang in Tipke/Lang, [Fn. 1], § 9 Rz. 220). 40 So bei der gemischten Schenkung, deren steuerrechtliche Beurteilung beim Erwerber nicht davon abhängen soll, welche der zivilrechtlichen Theorien zur gemischten Schenkung (allgemein Absorptions-, Kombinationstheorie und Theorie der analogen Rechtsanwendung sowie speziell Trennungs-, Einheits- und Zweckwürdigungstheorie) den Vorzug verdient (BFH v. 21.3.1989 – IX R 58/86, BStBl. II 1989, 778 [779]; T. Ehmcke in Blümich, (Fn. 38), § 6 EStG Rz. 162 [Okt. 2003]). 41 Z. B. der Streit um subjektive und objektive Auslegungstheorie (statt vieler Röhl/ Röhl, [Fn. 5], S. 627 ff.). 42 Zu solchen Antonymen als Grundlage zur Formulierung juristischer Theorien vgl. Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 166 ff. 43 S. Nachweise in Noten 18 und 30. 44 Erfolgt die Veräußerung des ganzen Gewerbebetriebes oder Teilbetriebes teilentgeltlich, entsteht ein nach §§ 16, 34 EStG steuerbegünstigter Gewinn, wenn das Entgelt das Kapitalkonto übersteigt. Ist das Entgelt niedriger, werden die Buchwerte fortgeführt (§ 6 Abs. 3 EStG). Der Vorgang ist also einheitlich zu beurteilen (sog. Einheitstheorie), während bei der teilentgeltlichen Übertragung von Privatvermögen (z. B.

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den nur Einheits- und Trennungstheorie gegenüberstellt, ohne die Sinnhaftigkeit weiter zu hinterfragen. Die jeweilige Theorie scheint hinreichende Legitimation zu vermitteln45. Auch bei neu auftretenden Auslegungsfragen kann auf diesen vertrauten Theoriedualismus zurückgegriffen werden. Denn diese Theorien sind wegen ihrer abstrakten Bezeichnung multi-occasionell einsetzbar. Zum Zweiten illustriert schon ein flüchtiger Blick auf den aufgezählten Theoriebestand im Steuerrecht die Heterogenität der Theorien und erhebliche Unterschiede in der „Theoriehöhe“. Auch im Steuerrecht lassen sich Theorien verschiedener „Reichweite“ unterscheiden. Bei schlichten Norminterpretationstheorien, die den Regelungsinhalt einer konkreten Steuerrechtsnorm wiedergeben sollen, ist es mit dem theoretischen Gehalt meist nicht weit her. Manchmal werden gar Plattitüden zur Theorie erhoben. Vielfach scheint die Benennung als „Theorie“ in der Jurisprudenz sehr hoch gegriffen, ist aber dennoch üblich46. Darum steht am Beginn die Verständigung über den Theoriebegriff der Jurisprudenz (II.).

II. Begriff, Funktionen und Arten juristischer Theorien 1. Zum Theoriebegriff der Jurisprudenz Theorie (griechisch theória) bedeutet Betrachtung/Anschauung47 und zugleich das Wissen als Resultat derselben48. Allgemein lässt sich Theorie als denkende Betrachtung des Gegenstandes definieren49. Die wissenschaftliche Theoriebildung geht von zufällig oder bewusst ausgewählten Gegenständen aus und zeichnet sich durch das vorsichtige, tastende und sich ständig selbstkritisch korrigierende Verallgemeinern empirischer und geschichtlicher Betrachtung und Erfahrung und ihrer Deutung in bestimmten Bezugsrahmen und Wertungsmustern aus50. Der Theoriebegriff der Wissenschaftstheorie basiert damit erkennbar auf den Naturwissenschaften. Karl R. Popper beschreibt die Theorie (der Erfahrungswissenschaften) als „das Netz, das wir auswerfen, um „die Welt“ einzufangen – sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen“51. Da der wissenschaftliche Theoriebegriff fest von den Naturwissenschaften okkupiert ist, hängt der juristische Theoriebegriff eng mit der Grundfrage der Rechtswissenschaften als Wissenschaft zusammen52. Ob von der Rechts-

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Kapitalgesellschaftsanteile i. S. d. § 17 EStG) der Vorgang nach der sog. Trennungstheorie in einen entgeltlichen und unentgeltlichen Teil getrennt wird (Lüdicke/ Fürwentsches in Lüdicke/Sistermann, [Fn. 28], § 15 Rz. 127). Nachweise zur Kritik an der unterschiedlichen Behandlung der Übertragung aber bei R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 16 Rz. 39, 58. Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 164. N. Horn, (Fn. 10), Rz. 138. So Th. Vesting, Rechtstheorie, 2007, § 1 Rz. 14 f. R. Dreier, (Fn. 7), S. 80. B. Rüthers, Rechtstheorie, 4. Aufl. 2008, Rz. 17. K. R. Popper, Logik der Forschung, hrsg. v. H. Keuth, 11. Aufl. 2005, S. 36. R. Dreier, (Fn. 7), S. 80.

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wissenschaft formulierten Theorien der Status von Theorien im Sinne der Wissenschaftstheorie zugemessen werden kann, ist dabei fragwürdig53. Darum erstaunt es nicht, wenn manche Autoren den Begriff der Theorie in der Jurisprudenz aus vorsichtiger Reserve stets in Klammern setzen54. Für Niklas Luhmann halten die juristischen Theorien der Rechtspraxis „nicht das, was der Theoriebegriff im Kontext des Wissenschaftssystems verspricht“55. Dies hängt freilich vom wissenschaftlichen Theoriebegriff ab56. Die seit langem geführte Diskussion über die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz57 kratzt am Selbstwertgefühl mancher Juristen und legt Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den vermeintlich strikteren Naturwissenschaften offen58. Infolge des fehlenden Selbstbewusstseins der Juristen wurde zum Teil die Konvergenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften beschworen und die Parallele juristischer zu empirischen Theorien gezogen59. Namentlich Canaris hält die Falsifikationstheorie Poppers60 mutatis mutandis auch in der Jurisprudenz für anwendbar61. Allerdings stößt der Versuch, die für die Erfahrungswissenschaften entwickelte Methode der Falsifikation62 auf juristische Theorien zu übertragen, auf Grenzen63. Sowohl das Ziel als auch der Weg dorthin bedarf einer spezifisch juristischen Ausrichtung. Denn Popper versteht die Falsifikation als Instrument für eine bessere Annäherung an die Wahrheit64. Die Rechtswissenschaft sucht

__________ 53 Näher U. Neumann in Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 396, unter Hinweis auf die „Janusköpfigkeit rechtsdogmatischer Theorien“ mit ihrer rechtsdogmatischen Stellung zwischen Erkenntnis und Normsetzung. 54 So Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 163 ff. bereits in der Kapitelüberschrift. 55 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 9. 56 Definiert man Theorie als „Systeme oder Mengen von Aussagen, zwischen denen Ableitbarkeitsbeziehungen bestehen und die mindestens den Anforderungen der Konsistenz und der Prüfbarkeit genügen“, so spricht manches dafür, auch normative Theorien prinzipiell dazuzurechnen (vgl. bereits R. Dreier, [Fn. 7], S. 82 f.). 57 Dazu aus historischer Sicht J. Schröder, (Fn. 3), dessen Schwerpunkt auf der Entwicklung der Rechtsquellen und Methodenlehre liegt, sowie aus jüngerer Zeit näher U. Neumann, (Fn. 53), S. 386 ff.; zuletzt Kiesow, Rechtswissenschaft – was ist das?, JZ 2010, 858 (586 ff.). 58 Dabei widerspricht bereits K. R. Popper, (Fn. 51), S. 17 mit Anmerkung und passim, dezidiert der Fehldeutung, das logische Kriterium der Falsifizierbarkeit als Sinnkriterium misszuverstehen. Es ist darum kein Kriterium der rationalen Akzeptierbarkeit einer Theorie oder gar ein allgemeines wissenschaftliches Qualitätsmerkmal (abseits der Erfahrungswissenschaften). 59 So Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 164. 60 K. R. Popper, (Fn. 51), S. 17, 54 ff. 61 C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (386 ff.) m. w. N.; a. A. Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 164, die die gezogene Parallele für „irreführend“ halten. 62 Explizit K. R. Popper, Wissenschaftslehre in entwicklungstheoretischer und in logischer Sicht, in Alles Leben ist Problemlösen, 11. Aufl. 2008, S. 15, 35 ff. 63 Gegen eine Übertragung „eins zu eins“ auch B. Rüthers, (Fn. 50), Rz. 11, der im Falsifikationsmodell bei der Rechtswissenschaft letztlich nur die Forderung nach Systembildung und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung erblickt. 64 K. R. Popper, (Fn. 62), S. 15, 39 f.

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aber nicht nach der „Wahrheit des Rechts“65. Da normative Sätze nicht wahr oder falsch sein können, sie gar nicht wahrheitsfähig sind66, erstrebt die Rechtswissenschaft nicht dasselbe Ziel, dem die Falsifizierbarkeit als Grundlage einer kritischen Diskussion dienen soll. Diese kritische Diskussion und die Suche nach wahren Theorien67 hat in der Jurisprudenz ein anderes Ziel. Juristische Theorien haben nicht allein kognitiven, sondern im Schwerpunkt normativen Charakter, so dass sie nicht auf ihren Wahrheitsgehalt, sondern vielmehr auf ihre Konformität mit dem geltenden Recht zu überprüfen sind68. Poppers Weg, durch Falsifikation „falsche Theorien zu eliminieren“69, ist in der Jurisprudenz insoweit fruchtbar, um solche Theorie auszuscheiden, die im Widerspruch zu „Gesetz und Recht“ stehen. Diese Methode wird auch verbreitet praktiziert70. Dabei geht es in der Jurisprudenz nicht um die Widerlegung empirischer Annahmen, sondern immer nur um die Überzeugungskraft der Argumentation71. Insoweit sind juristische Theorien „eher Nebenprodukte der Notwendigkeit, zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen“72. Rechtswissenschaftliche Theorien können und müssen – losgelöst von der Möglichkeit einer Falsifikation oder Verifikation – immer begründet werden73. Das ist das Entscheidende. Die einseitige Ausrichtung des wissenschaftlichen Theoriebegriffs an der Möglichkeit der Falsifikation wird darum dem für juristische Theorien zentralen Begründungserfordernis nicht gerecht. Darum spricht alles dafür, sich losgelöst von den Besonderheiten der Naturwissenschaften auf einen der Jurisprudenz adäquaten Theoriebegriff zu verständigen, der an den Funktionen wissenschaftlicher Theorien ansetzt und offen für verschiedene Arten von Theorien ist74. 2. Funktionen juristischer Theorien Besteht eine Möglichkeit wissenschaftliche Theorien durch die Angabe ihrer Funktionen zu definieren75, so liegt es nahe, den Begriff juristischer Theorien anhand ihrer verschiedenen Funktionen76 festzulegen. Der didaktischen Funktion, das Erlernen des Rechtsstoffes durch dessen strukturierte Darstellung

__________ 65 Deutlich bereits K. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 9, wonach die Frage nach der Wahrheit des Rechts „abwegig sei, weil ein fester Orientierungspunkt des Gegenständlichen, des Erfahrbaren fehle“; auf dem Boden „moderner Wahrheitstheorien“ im Ergebnis ebenso R. Poscher, Wahrheit und Recht. Die Wahrheitsfragen des Rechts im Lichte deflationärer Wahrheitstheorie, ARSP 89 (2003), 200 (202 ff., 211). 66 B. Rüthers, (Fn. 50), Rz. 117 ff., 584. 67 K. R. Popper, (Fn. 62), S. 15, 40. 68 Ebenso U. Neumann, (Fn. 53), S. 396. 69 Wiederum K. R. Popper, (Fn. 62), S. 15, 40 (Hervorhebung im Original). 70 U. Neumann, (Fn. 53), S. 391. 71 Ähnlich Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 164. 72 N. Luhmann, (Fn. 55), S. 9. 73 Zutreffend U. Neumann, (Fn. 53), S. 391 (Hervorhebung im Original). 74 So bereits R. Dreier, (Fn. 7), S. 83 f. 75 R. Dreier, (Fn. 7), S. 83. 76 Dazu bereits H. Wagner, JuS 1963, 457 (458 ff.).

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und Ordnung zu erleichtern77, ist es geschuldet, dass Theorien in juristischen Lehrbüchern ihren festen Platz haben. Da das Recht abstrakt und darum in einem gewissen Sinne „unanschaulich“ ist78, dienen Theorien der veranschaulichenden Beschreibung des Inhalts von Rechtssätzen, verbunden mit der Merksteigerung und der Möglichkeit späterer Wiedererkennung. So wird die abstrakte Aussage des § 124 Abs. 1 Satz 2 AO zur Bekanntgabe von Steuerverwaltungsakten durch das Anheften des „Labels“ „Erklärungs- statt Willenstheorie“79 greifbarer. Mancher Theoriename belegt den Versuch einer plastischen Visualisierung des Inhalts einer abstrakten Norm. So verbindet etwa die sog. Fußstapfentheorie80 mit den betreffenden Normen des Umwandlungssteuerrechts das einprägsame Bild, das übernehmende Unternehmen trete hinsichtlich der steuerlichen Positionen grundsätzlich in die Fußstapfen des übertragenden Rechtsträgers ein. Die Theorie soll als Kurzformel des Norminhalts fungieren, wobei der tradierte Theoriename manchmal auch inhaltlich verkürzend sein kann. Das zeigt das Beispiel der sog. Wertaufhellungstheorie81 zu § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB, deren Bezeichnung zu eng ist, weil nach allgemeiner Meinung das Aufhellungsgebot nicht nur für den Wert eines Bilanzpostens, sondern ebenso für den Ansatz als solchen gilt82. Insoweit ist bereits an dieser Stelle auf die Gefahr hinzuweisen, dass bereits Theorienamen die Auslegung des Gesetzes fehlsteuern können. Wesentliche Funktion juristischer Theorien ist die Systematisierung des Rechtsstoffs. Sie versuchen Rechtssätze und ihr Zusammenspiel konstruktiv zu ordnen oder Regelungsziele und -technik bei komplexen Normen zu erhellen. Theorien gruppieren den Stoff, ordnen das unübersichtliche Material, mit dem die Rechtspraxis es zu tun hat, aber bereiten zugleich den juristischen Entscheidungsprozess vor83. Sie stellen nicht gegebene Rechtssätze bereit und haben insoweit „normpropositiven“ Charakter84. Zwangsläufig enthalten sie „ein produktives Element“85. Damit dienen Theorien auch der Reduktion von Komplexität und der „Schonung des Argumentationshaushalts“, weil sie allgemeine Lösungsmuster aufzeigen und Auslegungsstrategien und -routinen bereithalten86. Ein bereits benanntes Beispiel mit fast universellen Einsatzmöglichkeiten sind Einheits- bzw. Trennungstheorie87. Die Kehrseite dieser Bereitstellungsfunktion scheint allerdings darin zu liegen, dass mitunter beim

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U. Neumann, (Fn. 53), S. 394 f.; ähnlich C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (378). Treffend N. Horn, (Fn. 10), Rz. 138. W. Jakob, (Fn. 26), Rz. 85. Dazu FG Nds. v. 25.3.2009 – 2 K 273/06, EFG 2009, 1478 (1479); Grube/Behrendt/ Heeg, Vororganschaftlich verursachte Mehr- und Minderabführungen und die sog. Fußstapfentheorie im Umwandlungssteuerrecht, GmbHR 2006, 1026 (Teil I). BFH v. 26.4.1989 – I R 147/84, BStBl. II 1991, 213 (215). Drüen/Stiewe, Die „Bilanzaufhellung“ im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung, StuB 2004, 489 (490). Vgl. N. Luhmann, (Fn. 55), S. 9. U. Neumann, (Fn. 53), S. 394 ff. So C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (378). Vgl. dazu die Zusammenstellung bei Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 166 ff. S. Nachweise in Noten 18 und 30.

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Einsatz juristischer Theorien die Reflexionsfunktion zum Teil zu wenig ausgeprägt ist, worauf später mit Beispielen aus dem Steuerrecht zurückzukommen ist (dazu IV.). Insgesamt liegen die Hauptfunktionen wissenschaftlicher Theorien erstens in der Erklärung des „Gegebenen“ durch seine Zurückführung auf Gesetze oder Prinzipien und zweitens in der Ableitung von „nicht Gegebenem“ aus eben jenen Gesetzen oder Prinzipien88. Dabei sind explikative und prognostische (oder heuristische) Funktion89 trennbare, aber komplementäre Funktionen wissenschaftlicher Theorien90. Beide Funktionen ergänzen und fördern sich wechselseitig91. Die Tauglichkeit von juristischen Theorien erweist sich darin, ob sie die Arbeit in einem bestimmten Rechtsgebiet ermöglichen oder erleichtern92. Demnach sind juristische Theorien solche, die (allgemeine) Aussagen über Rechtsnormen enthalten oder zu solchen führen93. 3. Arten juristischer Theorien Definiert man juristische Theorien funktionsorientiert, so ist Raum für verschiedene Arten juristischer Theorien und den Versuch ihrer Systematisierung. Juristische Theorien lassen sich nach ihrer Reichweite unterscheiden. Ralf Dreier hat in seiner grundlegenden Studie folgende Typenreihe für juristische Theorien mit ansteigendem Abstraktionsgrad vorgeschlagen: Interpretative Theorien, normvorschlagende Theorien, konstruktive bzw. Qualifikationstheorien, Institutstheorien, Prinzipientheorien, Grundbegriffstheorien und Rechtsgebietstheorien94. Im Anschluss daran lässt sich bei Umkehrung der Reichweite zwischen Grundbegriffstheorien, Theorien von mittlerer Reichweite95 und „Kleintheorien“ differenzieren96. Dabei werfen – gerade im Vergleich zum ambitionierteren Theoriebegriff der Naturwissenschaften (s. II. 1.) – singuläre normvorschlagende und interpretative Theorien Zweifel auf, ob ihnen „Theoriequalität“ zuzumessen ist97. Wer den juristischen Theoriebegriff mit juristischen Wertungen und allgemeinen Rechtsprinzipien verknüpft98, wird dies ablehnen. Allerdings widerspricht eine solche Verengung einerseits dem verbreiteten Theorieverständnis in der Jurisprudenz99. Zudem erfüllen auch Klein- oder gar „Kleinsttheorien“ die aufgezeigten Funktionen juristischer Theorien, so dass sie dazuzurechnen sind100. Funktionsorientiert defi-

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R. Dreier, (Fn. 7), S. 83. B. Rüthers, (Fn. 50), Rz. 18. U. Neumann, (Fn. 53), S. 394 f. C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (378). Vgl. N. Horn, (Fn. 10), Rz. 138. So C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (386). R. Dreier, (Fn. 7), S. 73. Zum Begriff bereits R. Dreier, (Fn. 7), S. 93. Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 164 f. Diese Zweifel warf schon R. Dreier, (Fn. 7), S. 93, auf. Dafür C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (378, 383 f.). Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 164. Ebenso R. Dreier, (Fn. 7), S. 94.

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niert, ist der juristische Theoriebegriff vergleichsweise „bescheiden“; er umfasst auch „Theorien“, die sich in singulären Lösungsvorschlägen für zweifelhafte Rechtsfragen erschöpfen101. Mit diesem weiten Verständnis des Begriffs juristischer Theorien, verlagert sich die entscheidende Frage weg vom Begriff und hin zu ihrer Leistungsfähigkeit. Die Leistungsfähigkeit juristischer Theorien lässt sich nicht allgemein, sondern immer nur konkret beurteilen. Exemplarisch für das Arbeitsgebiet des Jubilars sollen im Folgenden anknüpfend an grundlegende Überlegungen zur Theoriebildung im Steuerrecht (III.) die Leistungsfähigkeit einzelner Theorien im Steuerrecht und ihre Grenzen beleuchtet werden (IV.).

III. Zur Theoriebildung im Steuerrecht 1. Theorienebenen im Steuerrecht Nach der beschriebenen Differenzierung juristischer Theorien (s. II. 3.) lassen sich auch im Steuerrecht Theorien mit unterschiedlicher Reichweite ausmachen. Klammert man die auch vom Jubilar unter Hinweis auf ClausWilhelm Canaris102 und Robert Alexy103 vertretene Prinzipientheorie104 als vorgeschaltete und übergreifende Theorie der Rechtsprinzipien105 aus, so lässt sich in abnehmender „Theoriehöhe“ eine Reihe bilden: Steuergerechtigkeitstheorien106, Steuerrechtfertigungstheorien107, eine Rechtsgebietstheorie des Steuerrechts108, Grundlagentheorien einzelner Steuerarten, Theorien zu einzelnen Normkomplexen (etwa eine steuerrechtliche „Gemeinnützigkeitstheorie“109) sowie Normtheorien oder gar Theorien zu einzelnen Normteilen. Da zu letzteren Mikrotheorien über die eingangs gemachte Aufzählung (s. I.) hinaus noch später eine beispielhafte Analyse folgt (IV.), konzentrieren sich die allgemeinen Anmerkungen auf die oberen Theorieebenen.

__________ 101 Röhl/Röhl, (Fn. 5), S. 164. 102 C.-W. Canaris, (Fn. 4), S. 112 ff. 103 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., 1994, S. 78 ff., 88; kritisch zur grundrechtlichen Prinzipientheorie und vor allem zur Deutung von Prinzipien als Optimierungsgebote unlängst J. H. Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, JZ 2008, 756 (759 ff.); insoweit kritisch auch die grundsätzliche Antikritik von J.-R. Sieckmann, Zum Nutzen der Prinzipientheorie für die Grundrechtsdogmatik, JZ 2009, 557. C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (383, Note 63), lässt die Frage, ob Prinzipien als Optimierungsgebote zu verstehen sind, explizit offen. 104 J. Lang in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 4 Rz. 12. 105 Dazu jüngst näher J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel (mit Schlussfolgerungen für indirekte Steuern), 2008, S. 7–69. 106 Aus ökonomischer Sicht ist überdies die „Theorie von der optimalen Besteuerung“ zu nennen (dazu D. Birk, [Fn. 22], Rz. 39). 107 Vgl. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 569, § 11: „Grundlegung einer Steuerrechtfertigungstheorie“. 108 Diese führt R. Dreier, (Fn. 7), S. 77, als Beispiel für Rechtsgebietstheorien an. 109 Zu Funktion und Legitimation des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrecht vgl. nur R. Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2008, § 1 Rz. 8 m. w. N.

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Über Steuergerechtigkeit110 und die daraus abzuleitenden Folgerungen lässt sich trefflich streiten111, darum erst recht über die richtige ihr zugrunde liegende Theorie. Dabei lohnt es, philosophische und juristische Theorien auseinanderzuhalten. Trotz des Rekurses auf die Steuergerechtigkeit ist die rechtlich relevante Frage, ob daraus ein (verfassungs-)rechtliches Gebot hergeleitet werden kann. Eine zwingende Ableitung aus der Steuergerechtigkeit scheitert aber regelmäßig112, auch wenn man den eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen eine Steuergerechtigkeitstheorie unterlegt. Die Steuerrechtfertigungstheorie beschäftigt vor allem die Finanzwissenschaft, in der Rechtswissenschaft galt die Rechtfertigung von Steuern lange als eine „vergessene Vorfrage“113. Klaus Tipke räumt der Steuerrechtfertigung dagegen einen zentralen Platz ein, um in Auseinandersetzung mit Opfertheorie und Äquivalenztheorie allein das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als flächendeckendes Fundamentalprinzip anzuerkennen114. Nun ließe sich dieses Prinzip auch als „Leistungsfähigkeitstheorie“ bezeichnen115 und die Diskussion darüber fortsetzen116. Stattdessen sei die jüngste Stellungnahme des BVerfG zur Bedeutung von Steuerrechtfertigungstheorien erwähnt, die unlängst zur Gewerbesteuer erging: „Zwar bedarf es der Äquivalenztheorie nach der ausdrücklichen Verankerung der Gewerbesteuer in Art. 106 Abs. 6 GG nicht für deren finanzverfassungsrechtliche Rechtfertigung. … Als allgemeiner Ausgangspunkt für die innere Rechtfertigung der Gewerbesteuer hat der Gedanke, dass die Gewerbesteuer einen pauschalen Ausgleich für die besonderen Infrastrukturlasten bietet, die durch die Ansiedlung von Gewerbebetrieben verursacht werden, nach wie vor Bestand“117. Ob diese Aussage in der Sache überzeugt, steht auf einem anderen Blatt118.

__________ 110 Vertiefend K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 236 ff., 273 ff.; Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, 201 ff. und zuletzt ders., Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, 533 (534 ff.). 111 Vgl. insbesondere zur Verteilungsgerechtigkeit K.-D. Drüen, Zur Rechtsnatur des Steuerrechts und ihrem Einfluss auf die Rechtsanwendung, Festschrift Kruse, 2001, S. 191 (192 ff., 196 ff.). 112 Kritisch, auch zur gelegentlich auf die Steuergerechtigkeit abhebenden Rechtsprechung des BVerfG, bereits H. W. Kruse, (Fn. 19), S. 44, 50 f. sowie K.-D. Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 3 AO Tz. 42 f. (Juli 2007). 113 Plastisch K. Vogel, Rechtfertigung der Steuern – eine vergessene Vorfrage, Der Staat 25 (1986), 481. 114 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, (Fn. 110), S. 469 ff. und Bd. II, (Fn. 107), S. 576 ff. 115 So z. B. K. Vogel, Der Staat 25 (1986), 481 (485). 116 Zur Position des Jubilars vgl. eingehend J. Lang in FS Kruse, (Fn. 2), 313 (314 ff.) sowie zuletzt ders. in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 4 Rz. 81 ff.; zur Position des Verfassers vgl. K.-D. Drüen in Tipke/Kruse, (Fn. 112), § 3 AO Tz. 43, 45–50 (Juli 2007). 117 BVerfG, Beschl. v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfG 120, 1 (39), unter Bezugnahme insbesondere auf K. Tipke, (Fn. 107), S. 1141. 118 Kritisch namentlich Th. Keß, Anmerkung, FR 2008, 829 und H. Montag in Tipke/ Lang, (Fn. 1), § 12 Rz. 2 m. w. N.

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Immerhin belegt sie, dass Steuerrechtfertigungstheorien in die Auslegung des Steuer(verfassungs)rechts mit einfließen können119. Mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist bereits das Grundprinzip zur Entfaltung einer denkbaren übergreifenden „Rechtsgebietstheorie für das Steuerrecht“120 benannt. Eine solche Theorie aus Sicht der Belastungswirkungen beim Steuerbürger ist zweifellos verdienstvoll, stößt aber – wie der Streit über die Reichweite des Folgerichtigkeitsgebots im Steuerrecht belegt121 – an den überkommenen Steuerartenpluralismus, den das Grundgesetz ausweislich der Verteilung der Steuerhoheiten im föderalen Steuerstaat durch die Finanzverfassung zumindest toleriert122. Liegt dem gewachsenen Steuerrecht aber keine rationale Steuerrechtsordnung zugrunde123, so ist eine das gesamte, reale Steuerrecht umfassende Rechtsgebietstheorie ein Ideal. Auch wenn in juristische Theorien Grundsätze und Ausnahmen eingebaut werden können124, erschwert das geltende Steuer(verfassungs)recht mit seinen Restriktionen und Brüchen die Bildung einer übergreifenden und zugleich aussagekräftigen Theorie. Prominentes Beispiel für Grundlagentheorien zu einzelnen Steuerarten sind die Einkommenstheorien im Einkommensteuerrecht125. Hinter dem pragmatischen Einkommensbegriff des § 2 EStG stehen noch heute Reinvermögenszugangstheorie einerseits und Quellentheorie andererseits126, wobei der darauf basierende sog. Dualismus der Einkunftsarten freilich seit langem kritisiert wird127. Eine alle Einkunftsarten abdeckende Einkommenstheorie hat Hans Georg Ruppe128 mit der Markteinkommenstheorie129 erst im Nachhinein „entdeckt“. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zu den traditionellen Einkom-

__________ 119 Am Rande sei bemerkt, dass trotz des Steuerbegriffs des § 3 Abs. 1 AO mit dem Merkmal der Gegenleistungsfreiheit dem geltenden Recht durchaus Äquivalenzelemente zugrunde liegen können (vgl. K.-D. Drüen in Tipke/Kruse, [Fn. 112], § 3 AO Tz. 18b [Juli 2007] m. w. N.). 120 Von ihrer Existenz geht – wie bereits erwähnt – R. Dreier, (Fn. 7), S. 77, aus. 121 Zur ständigen Kritik K. Tipkes an der Rechtsprechung des BVerfG vgl. K. Tipke, StuW 2007, 201 (207 ff.); ders., JZ 2009, 533 (537 f.): „Art. 106 GG-Positivismus“; stellvertretend für den Gegenpol der Kritik O. Lepsius, Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht (Anmerkung), JZ 2009, 260 sowie – allgemein kritisch zur „Systemlehre“ des Steuerrechts – jüngst R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, Festschrift Steiner, 2009, S. 119 (122 ff.). 122 Näher K. Vogel, Zur Auslegung des Art. 106 Grundgesetz, Festschrift Tipke, 1995, S. 93 (100 ff.) sowie K.-D. Drüen, (Fn. 111), S. 191 (201 f.). 123 Im Ausgangspunkt übereinstimmend und K. Tipke, (Fn. 110), S. 301 ff., 483 und H. W. Kruse, (Fn. 19), S. 1 ff., 12, 64 f., freilich mit denkbar unterschiedlichen Folgerungen. 124 Dafür allgemein C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (385). Die Verbindung zur Prinzipientheorie (s. Fn. 102 f.) ist augenfällig. 125 Dazu J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, S. 36 ff. 126 Statt aller J. Lang in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 8 Rz. 32, § 9 Rz. 50 ff. 127 Dazu K. Tipke, (Fn. 107), S. 716 ff. 128 H. G. Ruppe, Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Einkunftsquellen als Problem der Zurechnung von Einkünften, DStJG 1 (1977), 7. 129 Dazu zuletzt J. Lang in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 9 Rz. 52; näher auch zur Kritik K. Tipke, (Fn. 107), S. 615 ff., jeweils m. w. N.

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menstheorien, die dem Gesetzgeber bei der Gesetzesfassung erkennbar vor Augen standen (sogleich III. 3.). Der explizite gesetzgeberische Bezug auf eine juristische (Grundlagen-)Theorie schlägt die Brücke zu den Akteuren der Theoriebildung. 2. Über Schöpfer, Anwender und „Abwickler“ von Theorien im Steuerrecht Wirft man den Blick hinter die Theorien im Steuerrecht auf die handelnden Personen und Institutionen, so werden zugleich Anlässe für die Theoriebildung und Gründe für den festzustellenden „Theoriehunger“ offengelegt. Vielfach werden juristische Theorien mit einem intuitiven Zugang mit Hilfe „juristischer Phantasie“130 aus einem bestimmten Anlass durch Wissenschaft oder Praxis entdeckt oder erfunden131. Dieser Prozess juristischer Entdeckung132 lässt sich wissenschaftlich kaum rekonstruieren oder bewerten133. Ein neu auftretendes Problem oder ein neuartiger Baustein zu seiner Lösung kann der Auslöser sein. So mag erstmalig ein theoretischer Anlauf unternommen werden, um neue Erkenntnisse der Rechtsprechung oder Verwaltung zu erklären und zu verdeutlichen. Ein Exempel dafür ist die sog. Blasentheorie zu „Lufträumen“ innerhalb des umsatzsteuerlichen Organkreises134. Sehr beliebt ist es, einer bestehenden Theorie eine konkurrierende gegenüberzustellen. Dabei wird häufig eine bereits zuvor diskutierte Theorie nicht schlicht verworfen, sondern „modifiziert“; Beispiele für Schöpfungen einer modifizierten xyTheorie gibt es in der Jurisprudenz zuhauf135. Betrachtet man Urheber und Anwender von Theorien im Steuerrecht näher, so ist es neben der Wissenschaft und schriftstellernden Praxis vor allem die Rechtsprechung, die Theorien begründet, pflegt, aber auch aufgibt. In Erinnerung zu rufen ist die schrittweise Aufgabe der Bilanzbündeltheorie136. Jüngste Beispiele für höchstrichterliche Theorieabkehr sind die explizite Aufgabe der Theorie der finalen Entnahme137 sowie nachfolgend der Theorie der finalen Betriebsaufgabe138. Als Begründung führt die Rechtsprechung in derartigen Fällen an, dass die jeweilige Theorie im Gesetz keine hinreichende Grundlage finde.

__________ 130 So C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (383). 131 Zum dahinstehenden Antrieb bemerkt B. Rüthers, (Fn. 50), Rz. 19: „Ohne emotionalen Schub bewegt sich auch in der Wissenschaft herzlich wenig“. 132 Dazu H. Dölle, Juristische Entdeckungen, 42. Deutscher Juristentag, 1957, Bd. 2, B 1. 133 Für K. R. Popper, (Fn. 51), S. 7, schien das Aufstellen einer Theorie „einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein“. 134 Küffner/Zugmaier, DStR 2007, 472 (475) mit Schaubild! 135 Beispiele aus dem Steuerrecht sind die sog. modifizierte Stufentheorie (Hörger/ Stobbe, Die Zuordnung stiller Reserven beim Ausscheiden eines Gesellschafters einer Personengesellschaft – Modifizierte Stufentheorie, DStR 1991, 1230 [1233]) und die sog. modifizierte formelle Rechtsgrundtheorie (so U. Koenig in Pahlke/ Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 37 Rz. 52). 136 Zu Impulsen und Teilschritten der Aufgabe durch den BFH näher B. Knobbe-Keuk, (Fn. 15), S. 363 f. und F. J. Haas, Ist die Bilanzbündeltheorie tatsächlich überholt?, DStR 1997, 1706 (1707) m. w. N. 137 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/08, BStBl. II 2009, 464 (3. Leitsatz). 138 BFH v. 28.10.2009 – I R 99/08, DStR 2010, 40 (Leitsatz).

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Jeder Theorieabschied wirft indes eine Fülle von Folgefragen auf. Das belegt die jüngste Diskussion über die Konsequenzen der Aufgabe der finalen Entnahmetheorie139. Das gilt umso mehr, wenn die Finanzverwaltung bekundet, dass sie die entsprechende Theorie über Jahrzehnte angewendet habe und „im Vorgriff auf mögliche gesetzliche Regelungen“ auf der Theorie beharrt140. Theoriebildung und -pflege ist demnach nicht das Proprium der Steuerrechtswissenschaft. Wenn Theorien aber das „Spiel Wissenschaft“ (Popper)141 verlassen und Eingang in den Prozess der Rechtserzeugung finden, dann gelten im gewaltengegliederten Verfassungsstaat dafür „Spielregeln“. 3. Theoriebildung und Steuergesetzgebung Juristische Theorien stehen zur Disposition des Gesetzgebers, weil es ihm frei steht, ihnen Verbindlichkeit zuzuerkennen oder abzusprechen142. Gesetzliche Änderungen werfen mitunter die Folgefrage auf, ob zuvor entwickelte Theorien fortgelten. Ein Exempel hierfür ist die vom RFH und BFH entwickelte sog. Vervielfältigungstheorie, die nach der Rechtsprechung für vermögensverwaltende Tätigkeiten nach § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG nach wie vor gilt, wie der Umkehrschluss aus dem später eingeführten § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG belegen soll143. Der Gesetzgeber kann aber auch explizit auf theoretischen Diskussionen aufbauen, bestimmten Theorien folgen oder andere bewusst ablehnen, wofür die erste reichseinheitliche Einkommensteuergesetzgebung ein prominentes historisches Beispiel ist144. Die amtlichen Begründungen zum EStG 1920 und zum EStG 1925 setzen sich eingehend mit den finanzwissenschaftlichen Einkommenstheorien auseinander145. Der Gesetzgeber wandte sich im Jahre 1920 von der Quellentheorie im Sinne von Fuisting146 ab und der Reinvermögenszugangstheorie im Sinne von v. Schanz147 zu. Praktische Schwierigkeiten und die Erfahrungen in der Inflationszeit bewogen den Gesetzgeber fünf

__________ 139 Stellvertretend X. Ditz, Aufgabe der finalen Entnahmetheorie – Analyse des BFHUrteils vom 17.7.2008 und seiner Konsequenzen, IStR 2009, 115 sowie die Kontroverse zwischen Schneider/Oepen, Finale Entnahme, Sicherstellung stiller Reserven und Entstrickung, FR 2009, 22 und W. Mitschke, Nochmals: Aufgabe der „finalen Entnahmetheorie“, FR 2009, 326 mit Duplik von Schneider/Oepen, Letztmals: Aufgabe der finalen Entnahmelehre, FR 2009, 568. 140 So der Nichtanwendungserlass BMF v. 20.5.2009 – IV C 6 - S 2134/07/10005, DStR 2009, 1263 (1264). 141 K. R. Popper, (Fn. 51), S. 30. 142 U. Neumann, (Fn. 53), S. 395 f. 143 So BFH v. 11.8.1994 – IV R 126/91, BStBl. II 1994, 936 (937); FG Nds. v. 18.8.2009 – 13 K 47/06, juris Rz. 37. 144 Dazu eingehend J. Lang, (Fn. 125), S. 36 ff. 145 Begründung zum Reichseinkommensteuergesetz 1920, Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 340 (1920), Nr. 1624, 24 und Regierungsbegründung des Reichseinkommensteuergesetz-Entwurfes v. 23.4.1925, Verhandlungen des Reichtages, III. Wahlperiode 1924, Nr. 795, 1 (21 ff.). 146 B. Fuisting, Die preußischen direkten Steuern, Kommentar zum EStG i. d. F. v. 19.6. 1906, 7. Aufl. 1907, § 6 Anm. 1; § 13 Anm. 14. 147 G. v. Schanz, Der Einkommensbegriff und Einkommensteuergesetze, FinArch. 13 (1896), Bd. 1, 1 ff.

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Jahre später im EStG 1925 den Einkommensbegriff weder an der Quellen- noch an der Reinvermögenszugangstheorie auszurichten, sondern pragmatisch durch den Einkünftekatalog zu bestimmen148. Cum grano salis ist es dabei bis heute geblieben. Allerdings wurde im Jahre 1920 keine Theorie „1 zu 1“ positiviert. Auch wenn sich die amtliche Begründung grundsätzlich zur v. Schanz’schen Theorie bekennt, schränkte der Gesetzgeber sie substantiell ein, damit sie im Rechtsleben praktisch durchführbar war149. In diesem historischen Beispiel wurde demnach nicht eine Theorie als solche durch den Gesetzgeber festgeschrieben. Das Exempel ist zugleich Anlass, die allgemeine These, juristische Theorien würden als solche durch die Gesetzgebung festgeschrieben oder verworfen150, zu relativieren. Denn sie verzerrt die Wirkung legislativer Intervention selbst in Fällen, in denen der Gesetzgeber vollumfänglich der Theorie folgen will. Denn der Gesetzgeber kann keine Theorien normieren. Auch wenn er explizit auf eine Theorie Bezug nimmt oder sie sanktionieren will, erstarkt diese nicht als solche zum Gesetz. Dasselbe gilt auch bei der „Kodifikation“ richterlicher Theorien. Die Aufnahme richterlicher Theorien oder einzelner Elemente daraus in das Gesetz bedeutet keine „1 zu 1“-Festschreibung der Rechtsprechung. Die Funktion einer juristischen Theorie ändert sich, wenn von der Rechtsprechung elaborierte Theorien zu einem gesetzlichen Tatbestand gemünzt werden. Das ist später am Beispiel der sog. Geprägetheorie zu verdeutlichen (dazu IV. 4.). Allgemein ist festzuhalten: Baut der Gesetzgeber auf theoretischen Vorstellungen auf, ist es Frage der Gesetzesauslegung, ob und inwieweit diese hinreichenden Ausdruck im Gesetz gefunden haben. Es gelten die allgemeinen Auslegungskriterien151, so dass auch bei ausdrücklicher Bezugnahme auf eine Theorie die „theoretische“ Auslegung nicht etwa zu einer eigenständigen Auslegungsmethode wird. 4. Theoriebildung durch Steuerrechtsprechung und -verwaltung Im Rahmen der Gesetzesauslegung ist die Bezugnahme auf juristische Theorien auch in der Rechtsprechung verbreitet. Einzelne Spruchkörper scheinen mehr theorieaffin, andere räumen dagegen mit den im Rechtsprechungsfundus vorgefundenen Theorien gründlich auf152. Die Bildung von Theorien soll – wie bereits aufgezeigt (s. II. 2.) – die Abstraktion des Gesetzes überwinden und den Norminhalt verdeutlichen. Die richterliche Theoriebildung ist hilfreich und unproblematisch, soweit sich die Theorie auf das Gesetz zurückführen lässt. Da juristischen Theorien aber funktional zugleich immer eine Rechtsgewinnungsfunktion zukommt, ist beim richterlichen Einsatz von Theorien immer

__________ 148 149 150 151

Dazu J. Lang, (Fn. 125), S. 42. Treffend J. Lang, (Fn. 125), S. 39 f. m. w. N. So U. Neumann, (Fn. 53), S. 395. Dazu stellvertretend K.-D. Drüen in Tipke/Kruse, (Fn. 112), § 4 AO Tz. 231 ff., 250 ff. (Okt. 2006). 152 Jüngste Beispiele für höchstrichterliche Theorieabkehr ist der „Doppelschlag“ des I. Senats des BFH zur Aufgabe der Theorie der finalen Entnahme sowie nachfolgend der Theorie der finalen Betriebsaufgabe (s. Nachweise in Noten 137 f.).

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das Problem der Grenzen zulässiger Auslegung latent vorhanden. Wegen immanenter Extensionstendenzen muss die Gefahr einer Verselbständigung des Theoriegehaltes gebannt werden. Denn juristische Theorien münden angesichts ihres „produktiven Elements“153 vielfach in die Rechtsfortbildung. Diese ist aber stets begründungspflichtig und unterliegt im Steuerrecht als Eingriffsrecht engen verfassungsrechtlichen Schranken154. Vielfach basiert richterliche Rechtsschöpfung und -fortbildung auf juristischen Theorien. Beruft sich „kreative“ Rechtsprechung nicht auf eine Theorie, so ruft sie häufig im Nachhinein eine Diskussion über die theoretische Fundierung hervor. Diesen „Theoriehunger“ sollen Beispiele aus dem Unternehmenssteuerrecht illustrieren. Als erstes Beispiel dafür mag die Organschaft dienen, die bekanntlich auf die Rechtsprechung des RFH und des BFH zurückgeht, wobei die Literatur zur Rekonstruktion der Rechtsfortbildung verschiedene Theorien entwickelt hat155. Aber auch nachdem die Rechtsprechung der Glaube an die Zulässigkeit ihres Tuns verließ und der Gesetzgeber mit Verzug die Organschaft eher pragmatisch denn auf eine Theorie fixiert gesetzlich normiert hat156, besteht der Theoriebedarf fort. Das abstrakte Gesetz soll mittels ausfüllender Theorien konkretisiert werden. Bei der Organschaft vertritt die Rechtsprechung nach eigenem Bekunden die „sog. eingeschränkte Einheitstheorie“, wonach trotz der Fiktion des § 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG die eingegliederten Organgesellschaften und der Organträger kein einheitliches Unternehmen, sondern selbständige Gewerbebetriebe bilden, die einzeln für sich bilanzieren und deren Gewerbeerträge getrennt zu ermitteln sind157. Die inhaltlich übereinstimmende Aussage wird bei der Betriebsaufspaltung – in Ermangelung einer gesetzlichen Aussage – aus der sog. Trennungstheorie abgeleitet: Trotz ihrer sachlichen und personellen Verflechtung sollen Besitzunternehmen und Betriebsgesellschaft rechtlich und wirtschaftlich selbständige Unternehmen sein (Trennungstheorie), die ihren Gewinn selbständig ermitteln und eigenständig bilanzieren müssen158. Neben der eingangs betonten universellen Ein-

__________ 153 Vgl. nochmals C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (378). 154 Monographisch R. Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996; aus jüngerer Zeit K.-D. Drüen, Über konsistente Rechtsfortbildung – Rechtsmethodische und verfassungsrechtliche Vorgaben am Beispiel des richterrechtlichen Instituts der Betriebsaufspaltung, GmbHR 2005, 69 (73 ff.); ders. in Tipke/Kruse, (Fn. 112), § 4 AO Tz. 344 ff., 360 ff. (Okt. 2006) sowie R. P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 297 ff., 334 ff., 423 ff. 155 Nachweise zur Entwicklung der Organschaft und den verschiedenen Theorien bei C.-H. Witt, Die Konzernbesteuerung, 2006, S. 143–174; theoretischer Kurzüberblick zu Angestelltentheorie, Bilanzierungstheorie, Einheits- oder Filialtheorie sowie Zurechnungstheorie bei St. Kolbe in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 14 KStG Anm. 3 (Mai 2006). 156 G. Frotscher in Frotscher/Maas, KStG/UmwStG, § 14 KStG Rz. 7 (Nov. 2009). 157 Explizit BFH v. 27.11.2008 – IV R 72/06, DStR 2009, 849 (850) unter Hinweis auf BFH v. 28.10.1999 – I R 79/98, DStRE 2000, 366 (367): „sog. gebrochene oder eingeschränkte Einheitstheorie“. 158 Schweyer/Keller in Lüdicke/Sistermann, (Fn. 28), § 4 Rz. 157. Näher zur Entwicklung und Überwindung einer strengen Korrespondenz jüngst W.-D. Hoffmann, Bilanzierung bei Betriebsaufspaltung, StuB 2010, 249 f.

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satzmöglichkeit von Einheits- und Trennungstheorie belegen die Beispiele, dass die Benennung vom Ausgangspunkt abhängt und darum durchaus variabel erscheint159. Inhaltlich entscheidend ist, ob die der richterlichen Schöpfung oder „Fort-Fortbildung“ zugrunde liegende Theorie, wie z. B. die Personengruppentheorie zur personellen Verflechtung von Betriebs- und Besitzunternehmen bei der Betriebsaufspaltung160, noch auf eine Belastungsentscheidung des Gesetzgebers zurückführbar ist161 oder ob sie eine steuerlastschaffende oder -verschärfende Theorie ist. Damit ist aber die allgemeine Frage nach der Zulässigkeit von Rechtsfortbildung im Steuerrecht gestellt, deren Antwort nicht davon abhängt, ob die Rechtsprechung explizit auf einer Theorie aufbaut oder sich eine solche nachträglich formulieren lässt. Eine theoretische Fundierung verändert die Eingriffslage nicht und verschiebt auch die Gewichte nicht. Was Brigitte Knobbe-Keuk für Prinzipien formuliert hat162, gilt gleichermaßen für steuerjuristische Theorien: Eine Theorie darf nicht mit dem Besteuerungstatbestand gleichgesetzt werden163. Eine Theorie soll eine „Antwort auf Fragen“ sein164 – ob der Richter sie geben darf, besagt die Theorie aber gerade nicht. Mit der Betonung einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage sind zugleich die Grenzen des Einsatzes steuerjuristischer Theorien durch die Finanzverwaltung angesprochen. Dient die Theorie nur der Konkretisierung des Gesetzesinhalts, so gilt für die rechtsanwendende Verwaltung nichts anderes als für die Rechtsprechung. Erkennt die Rechtsprechung indes, dass die Rechtsgrundlage einer Theorie fehlt, so darf die Finanzverwaltung nicht an einer gesetzesfremden, belastenden Theorie festhalten. Unzulässig ist dabei auch die interimistische Berufung auf die verworfene Theorie „im Vorgriff auf gesetzliche Neuregelungen“. Allein die so begründete Reklamation der Fortgeltung der Theorie der finalen Entnahme im jüngsten Nichtanwendungserlass165 offenbart ernste verfassungsrechtliche Probleme im gewaltengegliederten Steuerstaat, die der Theo-

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159 So könnte die beschriebene Behandlung bei der Betriebsaufspaltung auch als „eingeschränkte Einheitstheorie“ bezeichnet werden. 160 Zuletzt BFH v. 19.3.2009 – IV R 78/06, BStBl. II 2009, 803 m. w. N. 161 Zur Frage der Rechtsgrundlage der Betriebsaufspaltung vgl. nur D. Carlé, Die Betriebsaufspaltung, 2003, Rz. 1 ff.; R. Gluth in Herrmann/Heuer/Raupach, (Fn. 155), § 15 EStG Anm. 773 (März 2009). 162 B. Knobbe-Keuk, Rechtsfortbildung als Aufgabe des obersten Steuergerichts; erlaubte und unerlaubte Rechtsfortbildung durch den BFH, Festschrift RFH-BFH, 1993, S. 303 (305): „Prinzipien … sind … nicht einem vom Gesetzgeber gesetzten Steuertatbestand gleichzusetzen und begründen für sich keine Steuerpflicht“. 163 Bisweilen erweckt aber die Rechtsprechung zumindest den Eindruck, auf „steuerbegründenden Theorien“ zu basieren. Vgl. die jüngste Formulierung des FG Nds. v. 18.8.2009 – 13 K 47/06, juris Rz. 36: „Die somit der Art nach selbständige vermögensverwaltende Tätigkeit der Klägerin i. S. d. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG ist nach der sog. Vervielfältigungstheorie unter Berücksichtigung der Gesamtumstände ein Gewerbebetrieb i. S. d. § 2 Abs. 1 GewStG“ (Hervorhebung durch Verfasser). 164 So C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (380). 165 Im Nichtanwendungserlass BMF v. 20.5.2009 – IV C 6 - S 2134/07/10005, DStR 2009, 1263 (1264), heißt es wörtlich: „Im Vorgriff auf mögliche gesetzliche Regelungen sind für Überführungen und Übertragungen von Wirtschaftsgütern vor Anwendung der Entstrickungsregelungen im SEStEG die Grundsätze des BFH-Urteils über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden“.

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rierekurs nur oberflächlich kaschiert. Denn im Klartext bedeutet die Aussage der Verwaltung erstens, dass es nur eine theoretische, aber (aus höchstrichterlicher Sicht) keine hinreichende gesetzliche Grundlage für den Besteuerungszugriff gibt. Zweitens soll durch die Berufung auf die Theorie der Frage einer verfassungsrechtlich unzulässigen Rückwirkung ausgewichen werden. Der Versuch administrativer Theoriebeharrung vermag aber nicht zu verdecken, dass der Gesetzgeber gefordert ist. Ob und wie dieser richterlich verworfene Theorien perpetuieren kann, soll später am Beispiel der Geprägetheorie untersucht werden (dazu IV. 4.).

IV. Über Leistungsfähigkeit und Gefahren von Theorien im Steuerrecht Zur Illustration der Leistungsfähigkeit juristischer Theorien und ihren Mängeln166 will ich im Folgenden einige Beispiele geben. Dabei sollen die Theorieexempel nicht die Funktion juristischer Theorien (s. II. 2.) grundsätzlich in Frage stellen, sondern greifbare Gefahren verdeutlichen, ohne dass inhaltlich an dieser Stelle eine vollständige und abschließende Würdigung der materiellen Probleme angestrebt ist. 1. Normverzeichnende oder simplifizierende Theorien Eine Grundanforderung juristischer Theorien ist – wie aufgezeigt (s. II. 1.) – neben ihrer internen Konsistenz167 auch ihre externe Konsistenz: Die Theorie muss mit vorgegebenen Normen vereinbar sein168. Die Grundfrage der Übereinstimmung mit dem Gesetz führt dabei ins Detail der jeweils in Rede stehenden Theorie. Hier lassen sich nur allgemeine Gefahren beschreiben. So kann eine Theorie unterkomplex sein und ein zu einfaches Bild zeichnen, dass zu Fehlvorstellungen einladen mag. Der Versuch, ein Normzusammenspiel theoretisch-konstruktiv zu ordnen, stößt an Grenzen, wenn die zugrunde liegenden gesetzlichen Normen nicht aus einem „systematischen Guss“ oder nicht hinreichend abgestimmt sind. Beispiele für derart „normverzeichnende“ Theorien gibt es auch im Steuerrecht. So lässt sich die rechtstechnische Ausgestaltung der Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7 bis 14 AStG weder durch die Ausschüttungstheorie noch die Zurechnungstheorie befriedigend erklären, weil der Gesetzgeber auf eine einheitliche Rechtskonstruktion im Sinne einer der beiden Theorien verzichtet hat169. In einem solchen Fall fällt aber die bruchlose theoretische Rekonstruktion von Regelungszielen und -technik schwer. Ein weiteres Exempel für eine simplifizierende Theorie könn-

__________ 166 Dazu allgemein mit Beispielen aus dem Zivilrecht C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (384 ff., 387 f.). 167 Näher C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (384 f.). 168 U. Neumann, (Fn. 53), S. 396. 169 G. Vogt in Blümich, (Fn. 38), Vorbemerkungen zu den §§ 7 bis 14 AStG, Rz. 33 f. (April 2007).

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te die Wurzeltheorie sein170, die bei der durchaus komplexen Besteuerung einer KGaA als hybrides Gebilde gelten soll. Ob das einfache, vom BFH unter Berufung auf Enno Becker gezeichnete Bild171 der Abspaltung der Einkommensbesteuerung des persönlich haftenden Gesellschafters „an der Wurzel“ von der Körperschaftsbesteuerung der KGaA172 ausreicht und vor allem bei grenzüberschreitenden Fällen dem internationalen Steuerrecht gerecht wird, erscheint durchaus zweifelhaft173. Der für seine Wortlauttreue bekannte I. Senat des BFH ist im „Ausmisten“ des höchstrichterlichen Theorienbestands geübt174 und hat in einem anhängigen Revisionsverfahren Gelegenheit über die Vereinbarkeit der Wurzeltheorie mit den nationalen Vorschriften und dem Doppelbesteuerungsabkommen zu befinden175. 2. Telosverdeckende Theorien Eine Theorie soll den Norminhalt identifizieren und ihren Regelungsgehalt umschreiben. Der Versuch der plakativen Umschreibung der Norm kann indes auch zu (teleologischen) Verkürzungen führen. Ein Beispiel dafür ist die sog. Abfärbetheorie zu § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG176, die allein die Wirkung der Norm beschreibt, nicht aber den Grund für die Abfärbewirkung benennt. Mit dem Einsatz derartiger Theorien sind durchaus Gefahren verbunden. Mit dem Anstrich als „Theorie“ geht eine stillschweigende Aufwertung einher. Der vermeintlich theoretische „Überbau“ lädt aber offenbar zur Gedankenlosigkeit bei der Anwendung der Norm ein. Wird die Theorie wie eine Monstranz vor dem Gesetz vorangetragen, so droht das Normtelos aus dem Blick zu geraten. Diese Gefahr hatte sich über Jahre bei § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG realisiert. Die Theorie führte ein Eigenleben. Ihr Sinn wurde kaum noch hinterfragt. Erst vor dem Eindruck krass gelagerter Fälle begann wieder das Nachdenken über den Zweck der Regelung177. Inzwischen ist es fast common sense, dass die Abfärbung dem Schutze des Gewerbesteueraufkommens und der vereinfachten

__________ 170 171 172 173 174 175 176 177

S. Nachweise in Note 34. E. Becker, Erläuterungen zur Rechtsprechung, StuW 1936, Teil I, Sp. 80 (97). So BFH v. 21.6.1989 – X R 14/88, BStBl. II 1989, 881 (884), sog. Herstatt-Urteil. Vgl. FG Hess. v. 23.6.2009 – 12 K 3469/01, IStR 2009, 658 (660 f.); J. D. Kramer, IStR 2010, 63. S. Nachweise in Noten 137 f. Die Revision gegen die der angesprochenen Diskussion zugrunde liegenden Entscheidung des FG Hess. v. 23.6.2009 – 12 K 3469/01, IStR 2009, 658, ist inzwischen beim BFH unter Az. I R 62/09 anhängig. Zum Teil auch als Infektionstheorie bezeichnet (z. B. D. Grasshoff, Steuerrecht 2010, 2010, Rz. 155; R. Wacker in Schmidt, [Fn. 13], § 15 Rz. 185 [Überschrift]). Zur Diskussion namentlich J. Schulze-Osterloh, Verfassungswidrigkeit der Kodifikation der Abfärbetheorie (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG), Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk 1997, 531; G. Habscheidt, Der IV. Senat des BFH auf Irrwegen, BB 1998, 1184; K.-D. Drüen, Über Zweck und Grenzen der Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG, FR 2000, 177; Seer/Drüen, Ausgliederung gewerblicher Tätigkeiten zur Vermeidung der Gewerbesteuerpflicht freiberuflicher Sozietäten, BB 2000, 2176.

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Einkünfteermittlung dienen soll178. So sieht es nunmehr auch das BVerfG179. Auf dieser teleologischen Basis hat die Rechtsprechung des BFH den Anwendungsbereich des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG in den letzten zehn Jahren mehrfach teleologisch reduziert180. Es musste also erst der Zweck des Gesetzes (wieder-) gefunden werden, um die „Theorie“ zweckgerecht zurückzustutzen und die „Abfärberechtsprechung“ wieder „einzufangen“. Diese restriktive Auslegung sieht das BVerfG als einen Grund, die Norm verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden181. Trotz beachtlicher verfassungsrechtlicher Kritik182 hält es § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG für verfassungskonform183. Ob dies überzeugt, mag an dieser Stelle dahinstehen184. Hier geht es allein darum, ein Exempel für die Gefahren im Umgang mit vermeintlich normidentifizierenden Theorien im Steuerrecht zu geben. Es bedurfte erheblicher Anstrengungen, die von der Norm abgekoppelte Theorie wieder teleologisch zu „domestizieren“. Die Theorie verdeckte das Telos. Vor allem aber lieferte sie nicht im Ansatz einen Grund für ihren eingeschränkten Geltungsbereich. Die mit axiomatischer Kraft rezipierte Abfärbetheorie verdeckt vielmehr die Lücke in der Begründung: Warum soll die Theorie auf gemischte Tätigkeiten von Personengesellschaften begrenzt sein,

__________ 178 Stellvertretend D. Birk, (Fn. 22), Rz. 1117; Th. Stapperfend, Die Infektion im Einkommensteuerrecht – Ein Beitrag zum Krankheitsbild des Einkommensteuergesetzes, StuW 2006, 303 f. 179 BVerfG, Beschl. v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (45): „Die Regelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG … verfolgt in erster Linie das Ziel, die Ermittlung der Einkünfte gemischt tätiger Personengesellschaften zu vereinfachen, indem sie alle Einkünfte typisierend auf die Einkunftsart gewerblicher Einkünfte konzentriert. Damit versucht sie zugleich, die Substanz der Gewerbesteuer zu erhalten.“ 180 Vgl. BFH v. 11.8.1999 – IX R 12/98, BStBl. II 2000, 229: keine Abfärbewirkung für den Fall eines „äußerst geringen Anteil(s) der originär gewerblichen Tätigkeit“ an der Gesamttätigkeit (1,25 v. H.) unter Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; BFH v. 20.8.2001 – IV R 43/00, BStBl. II 2002, 152: keine Abfärbewirkung von (nach § 3 Nr. 20 GewStG) gewerbesteuerfreien Tätigkeiten, weil sich die Gewerbesteuerbefreiung auch auf die originär nicht gewerbliche Tätigkeit erstrecken soll; BFH v. 28.6.2006 – XI R 31/05, BStBl. II 2007, 378: keine gewerbliche Abfärbung aus dem Sonderbetriebsbereich sowie BFH v. 6.10.2004 – IX R 53/01, BStBl. II 2005, 383: keine Abfärbung gewerblicher Beteiligungseinkünfte bei einer doppelstöckigen Personengesellschaft auf Vermietungseinkünfte einer vermögensverwaltenden Ober-Gesellschaft, allerdings nicht dauerhaft durchschlagend wegen Nichtanwendungserlasses (BMF v. 18.4.2005 – IV B 2 - S 2241 - 34/05, BStBl. I 2005, 698) und korrigierender Gesetzesänderung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 2 EStG durch das JStG 2007. 181 Explizit BVerfG, Beschl. v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (53). 182 Zur Kritik J. Hey, Anmerkung, FR 2004, 876; M. Jachmann, Besteuerung von Unternehmen als Gleichheitsproblem, DStJG 23 (2000), 9 (52 ff.); Th. Stapperfend, StuW 2006, 303 (305 ff.); a. A. R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 15 Rz. 185; ohne Stellungnahme M. Kempermann, Probleme der Freiberufler-Personengesellschaft in der neueren Rechtsprechung, FR 2007, 577 (582 f.). 183 Zuvor ebenso BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats v. 26.10.2004 – 2 BvR 246/98, FR 2005, 139 (140), mit kritischer Anm. von H.-J. Kanzler; dagegen auch J. SchulzeOsterloh, Das BVerfG und die Unternehmensbesteuerung, FS Raupach, 2006, S. 531 (536 ff.). 184 Dazu K.-D. Drüen, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung als verfassungsrechtlicher Imperativ?, GmbHR 2008, 393 (402).

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während gemischte Tätigkeiten einzelner Steuerpflichtiger den jeweiligen Einkunftsarten zuzuordnen sind, jede Tätigkeit getrennt zu behandeln und ggf. im Wege der Schätzung aufzuteilen ist185? Mit diesem Einwand soll nicht die Erstreckung auf einzeln tätige Steuerpflichtige propagiert, sondern nur vor blinder Theoriegläubigkeit gewarnt werden. Denn allein die Erhebung zur Theorie und die beständige Beschwörung derselben, verbürgt noch keine theoretische Richtigkeit. 3. Normverdeckende Theoriediskurse Neben der telosverdeckenden Theorie liegt eine weitere Gefahr in normverdeckenden oder gar -ignorierenden Theorien. Während im ersten Fall zu wenig reflektiert wird, so dass das Normtelos „unter die Räder“ gerät, so wird umgekehrt im zweiten ein gesetzesfreier Diskurs betrieben. Exempel für diese grundlegende Gefahr ist der Streit über sog. Innen- und Außentheorie beim Kampf gegen Steuerumgehung. Es geht um die Frage, ob der Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten durch eine Generalklausel quasi „von außen“ oder aber durch Auslegung der potentiell umgangenen Steuerrechtsnorm, vulgo „von innen“, zu bekämpfen ist. Zwischen Innen- und Außentheorie wird jeher186, aber auch nach der Novellierung von § 42 AO durch das Jahressteuergesetz 2008187 ein erbitterter Theorienstreit ausgetragen188. Die auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden gefallene Terminologie189 wurde aus Österreich importiert190, ist aber unglücklich. Denn einerseits ist bereits die wenig aussagekräftige Benennung („das Theoriedesign“) geneigt, Missverständnisse hervorzurufen191. Das „Spiel um (die) Worte“192 „innen und außen“

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185 So für einzeln tätige Steuerpflichtige BFH v. 21.4.1994 – IV R 99/93, BStBl. II 1994, 650 (651 f.); R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 15 Rz. 97. 186 H. Hahn, § 42 AO und Steuerkultur – zu einem unbekannten Standortfaktor, DStZ 2005, 183 (185 ff.); P. Fischer, Zum Streit zwischen „Außentheorie und Innentheorie“, FR 2005, 585 (586 ff.). 187 P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, (Fn. 14), § 42 AO Rz. 64, 71 ff., 87, 140 (März 2008). 188 Dabei hat M. Heintzen, Die Neufassung des § 42 AO und ihre Bedeutung für grenzüberschreitende Gestaltungen, FR 2009, 605, Note 75, für die Frage, ob ein Theorielager aus der Neufassung von § 42 AO durch das Jahressteuergesetz 2008 gestärkt hervorgegangen ist (dies verneinend H.-P. Schmieszek in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 42 AO Rz. 29 [Febr. 2009] m. w. N.), angesichts des Niveaus der Neufassung deutliche Worte gefunden: „Jede der beiden Theorien sollte es als unter ihrer Würde liegend ansehen, sich die letzte Neufassung von § 42 AO als Pluspunkt in ihrem Konkurrenzkampf zuschreiben zu lassen“. 189 Z. B. D. Birk, (Fn. 22), Rz. 343; J. Lang in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 5 Rz. 95; E. Ratschow in Klein, Abgabenordnung, 10. Aufl. 2009, § 42 Rz. 10 ff.; H.-P. Schmieszek in Beermann/Gosch, (Fn. 188), § 42 AO Rz. 29 (Febr. 2009). 190 Dazu W. Gassner, Das allgemeine und das besondere Umgehungsproblem im Steuerrecht, Festschrift Kruse, 2001, S. 183 (186 ff.). 191 So B. Heuermann, Vermieten als unangemessenes Gestalten durch gegenläufige Rechtsgeschäfte auf der Nutzungsebene – Zugleich einige methodenkritische Bemerkungen über den Sinn der Unterscheidung von Innen- und Außentheorie, StuW 2004, 124 (126). 192 H.-P. Schmieszek in Beermann/Gosch, (Fn. 188), § 42 AO Rz. 29 (Febr. 2009).

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lädt gerade zu Verwechselungen ein193. Andererseits suggeriert die Außentheorie den falschen Eindruck, dass Steuerumgehung durch eine Generalklausel mittels eines eigenen Tatbestands mit eigenem Maßstab bekämpft werde194. Beides enthält § 42 AO aber gerade nicht. Der Maßstab ist nicht „von außen“ durch § 42 AO, sondern mit Hilfe eines Abgleichs des (potentiell) umgangenen Gesetzes – Innentheorie! – mit den wirtschaftlichen Vorgängen zu gewinnen195. Die schlichte Dichotomie von „innen und außen“ verdeckt den Unterschied zwischen dem Steuertatbestand als Maßstab zur Beurteilung einer Steuerumgehung und § 42 AO als Instrument zu ihrer Zurückweisung. Darum könnte man von einer „implementierten“ oder „internalisierten Außentheorie“ sprechen196. Besser wäre es jedoch, von dem „Arbeitsbegriff“197 der Innen- bzw. Außentheorie ganz Abstand zu nehmen198. Denn die genannten Theorien sind keine Normtheorien zu § 42 AO oder § 22 (österreichische) Bundesabgabenordnung, sondern betreffen die vorgelagerte rechtspolitische Ebene. Eine existierende Generalklausel hinweg gedacht, ist die Überlegung, ob die Abwehr der Gesetzesumgehung „von innen“ oder „von außen“ zu bewerkstelligen ist, durchaus legitim. Für diese rechtspolitische Frage sind die Ausführungen von Albert Hensel in der Bonner Festgabe für Zitelmann immer noch wegweisend199. Wenn sich aber der Gesetzgeber für eine Generalklausel zur Missbrauchsabwehr entschieden hat und diese auch noch unlängst reformiert hat, um ihre Wirkkraft zu stärken200, so befremdet der fortgesetzte und abgehobene Diskurs zwischen Innen- und Außentheorie. Die Innentheorie, nach der § 42 AO überflüssig sein soll201, ist nämlich eine „norminfragestellende“ Theorie. Ein freischwebender Theoriestreit droht aber die gesetzliche Wertung pro § 42 AO zu verdecken. Rechtspolitisch mag man die Abwehrgesetzgebung durch Generalklauseln als methodisch nicht mehr „auf der Höhe der Zeit“ einstufen202 oder § 42 AO als „offensichtlichen Missgriff und Pyrrhussieg des Steuerpositivis-

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193 Vgl. nur R. P. Schenke (Fn. 154), 2007, S. 410 (2. Abs.). 194 Deutlich P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, (Fn. 14), § 42 AO Rz. 73 (März 2008): Die Außentheorie sehe „in § 42 AO einen selbständigen, zu dem Einzelsteuergesetz hinzutretenden Besteuerungstatbestand mit eigenem Norminhalt und eigenen Tatbestandsmerkmalen“; ebenso H.-P. Schmieszek in Beermann/Gosch, (Fn. 188), § 42 AO Rz. 29 (Febr. 2009). 195 K.-D. Drüen in Tipke/Kruse, (Fn. 112), § 42 AO Tz. 8 (Juli 2008). 196 So mein – freilich ironischer – Vorschlag bei K.-D. Drüen, Unternehmerfreiheit und Steuerumgehung, StuW 2008, 154 (159 mit Note 100). 197 So P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, (Fn. 14), § 42 AO Rz. 72 (März 2008). 198 B. Heuermann, StuW 2004, 124 (126): „Wir sollten die Unterscheidung getrost vergessen“. 199 A. Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs „Steuerumgehung“, Festgabe Zitelmann, 1923, S. 217 (261 ff.). 200 Vgl. die Gesetzbegründungen zum Jahressteuergesetz 2008, BT-Drucks. 16/6290, 40 ff., 16/6739, 24 und 16/7036, 10 ff. 201 Nachweise und Kritik bei K.-D. Drüen in Tipke/Kruse, (Fn. 112), § 42 AO Tz. 8 und 8a (Juli 2008). 202 Insbesondere P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, (Fn. 14), § 42 AO Rz. 72 (März 2008), erachtet § 42 AO unter Berufung auf S. Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 30 ff., als methodisch „nicht mehr zeitgemäß“.

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mus“ begreifen203. Im Konkurrenzkampf der Theorien ist manches erlaubt. Allerdings ist der Rechtsanwender nur de lege ferenda berechtigt, seine (vermeintlich) bessere theoretische Einsicht dem Gesetz entgegenzustellen. De lege lata ist es ihm aber verwehrt, einen theoretischen Weg abseits des Gesetzes einzuschlagen204. Theorien und der Diskurs über sie dürfen aber nicht am Gesetz vorbei führen. 4. Zur gesetzlichen „Kodifikation“ von Theorien Zuletzt ist auf die bereits angeschnittene Frage der gesetzlichen Normierung von Theorien, insbesondere nach ihrer Aufgabe durch die Rechtsprechung, zurückzukommen (s. III. 3. und 4.). Der staatliche Besteuerungszugriff als freiheitsverkürzender Akt bedarf einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Ein rein theoretisches Fundament genügt dem Gesetzesvorbehalt nicht. Gelangt die Rechtsprechung trotz jahrzehntelanger Übung zu dem Ergebnis, dass eine Theorie keine gesetzliche Grundlage hat, so stellt sich das Problem, ob der Gesetzgeber mit rückwirkender Kraft die Theorie gesetzlich festschreiben darf. Prominentes Beispiel hierfür ist die sog. Geprägetheorie, die der Große Senat des BFH im Jahre 1984 explizit aufgegeben hat205. Der Gesetzgeber kann das Heft des Handelns in die Hand nehmen und auch Theorien „gesetzlich verankern“206 (s. III. 3.). Ob er dies auch rückwirkend darf, ist allein eine Frage des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsschutzes207. Ob das Gepräge-Gesetz als „rechtsprechungsbrechende Steuergesetzgebung“ nicht nur ein „Affront“ gegen die Judikatur, sondern eine antijudizielle und illoyale Zerstörung des Rechtsgedankens ist208, beantwortet sich allein aus der Gewaltengliederung im Verfassungsstaat. Die Antworten hierauf sind nicht bei juristischen Theorien zu suchen. Die aus „theoretischer Sicht“ allein interessierende Frage liegt darin, ob durch die gesetzliche Intervention die richterlich entwickelte, aber verabschiedete Theorie unverändert fortlebt. Dieser Frage lohnt es am Beispiel des § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG nachzugehen. Eine nicht originär gewerblich tätige Personengesellschaft gilt danach als gewerblich geprägt, wenn bei ihr „ausschließlich eine oder mehrere Kapitalgesellschaften persönlich haftende Gesellschafter sind und nur diese oder Personen, die nicht Gesellschafter sind, zur Geschäftsführung befugt sind“ (Satz 1). Für diese Norm steht in der Praxis nach wie vor der Begriff der Geprägetheorie209. Das sog. Geprägegesetz gilt als „rückwärtsgewandtes Gesetz“,

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R. P. Schenke (Fn. 154), S. 411. Zutreffend bereits B. Heuermann, StuW 2004, 124 (125). BFH, Beschl. v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (764). So J. Hey in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 18 Rz. 303, zur „Geprägetheorie“. Der BFH hält die „rückwirkende Einführung der Geprägetheorie“ durch das Steuerbereinigungsgesetz 1986 verfassungsrechtlich für zulässig (BFH v. 4.9.1997 – IV R 27/96, BStBl. II 1998, 286 [288] m. w. N.; zu Recht kritisch bereits B. Knobbe-Keuk, [Fn. 15], S. 375–377). 208 Dazu J. Lang, Reaktion der Finanzverwaltung auf missliebige Entscheidungen des BFH, StuW 1992, 14 (15, 18, 21, 23). 209 S. Nachweise am Anfang der Note 23.

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das allein die Geprägerechtsprechung „konservieren“ solle210. Der Gesetzgeber hat mit § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG aber faktisch ein Wahlrecht zwischen gewerblich geprägter und nicht gewerblicher Personengesellschaft geschaffen211, weil die Tatbestandsmerkmale unkompliziert gestaltbar sind212. Ob derartige nur an die Rechtsform anknüpfende, frei gestaltbare Wahlrechte im Einklang mit der Verfassung stehen, soll hier ausgeblendet werden213. Eine in der Praxis verbreitete, auch von der Finanzverwaltung214 tolerierte Vermeidungsmöglichkeit liegt darin, dass neben der alleinigen Komplementär-Kapitalgesellschaft eine weitere Kapitalgesellschaft zur Geschäftsführung befugt ist, die nur Kommanditistin der KG ist. In diesem Fall greift der Wortlaut des § 15 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 EStG nicht ein. Denn bei dieser Gestaltung ist zwar ausschließlich eine Kapitalgesellschaft persönlich haftender Gesellschafter, aber die kumulative zweite Voraussetzung ist nicht erfüllt, weil nicht „nur diese“ oder „Personen, die nicht Gesellschafter sind, zur Geschäftsführung befugt sind“. Die gewerblich geprägte Personengesellschaft wird gezielt vermieden, weil die zweite vertraglich zur Geschäftsführung berufene Kapitalgesellschaft, nicht persönlich haftet, aber (als Kommanditistin) gleichwohl Gesellschafterin ist. Die „Wiedereinführung der Geprägetheorie“ ist dem Gesetzgeber „verunglückt“215. Aber gerade diese imperfekte Umsetzung erhellt den Unterschied zwischen Gesetz und Theorie. Eine Theorie ist um ihren Kern herum216 flexibel und anpassungsfähig. Die frühere richterliche Geprägetheorie konnte bei Aufdeckung von „Lücken“ umformuliert werden217. Aber kann wie dem zuvor geschilderten Gestaltungsfall auch nach der „Verankerung“ der Theorie „entgegen dem missverständlichen Gesetzestext“ eine gewerbliche Prägung angenommen werden218? Diese Frage ist zu verneinen219, auch wenn man wegen der Gesetzesgenese meint, die Auslegung des § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG könne „nur mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung erfolgen“220. Denn die Theorie wird eben nicht als solche perpetuiert. Zum „Geprägegesetz“ erhoben221, verliert eine Theorie die ihr zuvor immanente Beweglichkeit, weil der gesetzliche Besteuerungstatbestand hinreichend bestimmt sein muss222. Die theoretischen Hei-

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So M. Groh, Nach der Wiedereinführung der Geprägetheorie, DB 1987, 1006 (1012). R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 15 Rz. 214. J. Huken in Deloitte, GewStG, 2009, § 2 Rz. 306. Die h. M. bejaht sie (vgl. zuletzt Th. Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, [Fn. 155], § 15 EStG Anm. 1404 [März 2009] m. w. N.). R 15.8 Abs. 6 Sätze 1 ff. Einkommensteuerrichtlinien 2008. So M. Groh, DB 1987, 1006 und 1010. Zum Bild des „Theoriekerns“ bereits C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (381 f.). Zur Entwicklung der „prägenden“ Eigenschaft einer Kapitalgesellschaft in der Rechtsprechung näher M. Groh, DB 1987, 1006 (1010). Dafür plädiert R. Wacker in Schmidt, (Fn. 13), § 15 Rz. 222 a. E. Th. Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, (Fn. 155), § 15 EStG Anm. 1444 (März 2009); G. Stuhrmann in Blümich, (Fn. 38), § 15 EStG Rz. 278 (Sept. 2008) m. w. N. Ebenso M. Groh, DB 1987, 1006 (1007, 1010 ff.). So namentlich B. Knobbe-Keuk, (Fn. 15), S. 380 f., unter Darstellung der Schwierigkeiten einer teleologischen Auslegung. Zu den Anforderungen der Tatbestandsklarheit vgl. nur K.-D. Drüen in Tipke/ Kruse, (Fn. 112), § 3 AO Tz. 40 (Juli 2007) m. w. N.

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lungskräfte kommen dem Gesetz nicht zugute. Der Gesetzgeber schöpft die Theorie mit ihrer normpropositiven Funktion ab. Nach der „Kodifikation“ setzt der Wortsinn der Auslegung Grenzen. Darum muss sich der Gesetzgeber an seinen verfehlten Versuch, eine Theorie als Eingriffstatbestand zu formulieren, festhalten lassen223. Theorie ist Theorie und Gesetz ist Gesetz. § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG ist gerade wegen seiner Mängel ein Beleg dafür, dass eine Theorie nur vermeintlich „vergesetzlicht“ oder „konserviert“ werden kann.

V. Schluss: Theorie und Praxis im Steuerrecht Am Ende der Überlegungen zu Theorien im Steuerrecht erscheinen einige abschließende Bemerkungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis angebracht. Denn sobald das Wort „Theorie“ fällt, so ist die Praxis als Gegenpol fast immer mitgedacht. Allerdings gilt es Versuchen entgegenzutreten, Theorie und Praxis gegeneinander auszuspielen. Das Auseinanderfallen von Theorie und Praxis kann verschiedene Gründe haben. Immanuel Kant hat sie in seinem berühmten Traktat „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ dargelegt224. Einer liegt darin, dass es nicht genug Theorie gibt (Theorielücke oder -defizit). Die Empfehlung Kants liegt aber – entgegen mancher Fehldeutung – nicht in weniger Theorie, sondern in mehr und besserer Theorie225. Gerade in der Rechtswissenschaft kann es weder praxislose Theorie noch theorielose Praxis geben, vielmehr muss die „Theorie“ die „Praxis“ und umgekehrt befragen, befruchten und korrigieren226. Canaris formuliert mit Recht, dass „die enge Stirn eierköpfiger Bewohner von Elfenbeintürmen dem Rechtswissenschaftler angesichts des unmittelbaren Praxisbezugs besonders schlecht steht“. Deshalb ist eine Lehre, die in der Theorie richtig ist, aber in der Praxis nicht taugt, mit dem Anwendungsbezug juristischer Theorien nicht zu vereinbaren227. Ergeben sich Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, so muss entweder die Theorie aufgegeben bzw. korrigiert werden228 oder aber die Praxis geändert werden229. Theorie und Praxis gehören demnach zusammen. Freilich gelingt die Verbindung trotz

__________ 223 Ebenso schon B. Knobbe-Keuk, (Fn. 15), S. 378, 381. 224 I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, S. 273 ff., wonach die Theorie aus Mangel an Prämissen (noch) unvollständig sein kann oder aber „nicht genug Theorie da war“ (S. 275). 225 M. Jestaedt, (Fn. 11), S. 13 f. 226 Treffend B. Rüthers, (Fn. 50), Rz. 19. 227 C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (390). 228 Denn jede Theorie ist nur ein Lösungsvorschlag und immer zugleich nur der letzte Stand des möglichen Irrtums (vgl. nur B. Rüthers, [Fn. 50], Rz. 10 m. w. N.) oder klassisch mit K. R. Popper, (Fn. 51), S. 30: „Das Spiel Wissenschaft hat grundsätzlich kein Ende“. 229 So bereits C.-W. Canaris, JZ 1993, 377 (390).

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des Leitspruchs „theoria cum praxi“ nicht immer. Dafür gibt es verschiedene Gründe230. Einerseits dürfen die praktischen Folgen theoretischer Differenzen nicht unterschätzt werden. So kommen die konträren Rechtsgrundtheorien zum Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO („ohne rechtlichen Grund“) in einfach gelagerten Fällen durchaus zu identischen Ergebnissen231. Diese Fälle bewegen aber weder Theorie noch Praxis. Gerade bei theoretisch interessanten Dreiecksverhältnissen und „Störungen“ (wie Insolvenz) zeigen sich aber praktisch wichtige Unterschiede. Die Einschätzung, der Theorienstreit habe nur geringe praktische Bedeutung232, gilt darum nicht für die in der Praxis verbreiteten und problematischen Fallgruppen der Abtretung, Pfändung und Verpfändung von Steueransprüchen233. Im Übrigen dürfen auch die materiellen Folgewirkungen, namentlich bei der Erbschaftsteuer234, nicht übersehen werden. Gerade mit Blick auf die Besteuerungsfolgen sollte die Praxis Theorienstreite darum nicht reflexartig als rein akademische Pflichtübung abtun. Anderseits sollte die Praxis sich vom Einsatz (steuer-)juristischer Theorien nicht blenden lassen. Eine Theorie tritt schon kraft ihrer Benennung mit dem Anspruch theoretischer Richtigkeit und dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit auf. Unausgesprochen geht mit ihr eine Aufwertung der Praxis oder gegenüber der Praxis einher. Höhere Weihen muss sich eine Theorie aber erst verdienen. Die Benennung als solche ist nur eine Schein-Fundierung und reicht allein nicht aus. Die Aufwertung eines Vorschlags bei der Rechtsanwendung und -fortbildung zur Theorie bedarf immer der Begründung. Erforderlich ist stets die Rückvergewisserung, was das Steuergesetz vorschreibt und die Prüfung, ob die ins Feld geführte Theorie hiermit im Einklang steht. Darum fängt oftmals das Bedürfnis juristischer Argumentation erst an, wenn eine Theorie im Raume steht. Insoweit ist der Rekurs auf eine (steuer-)juristische Theorie immer ein Signal für gebotene Reflexion.

__________ 230 Manche Zuflucht der Praxis zu steuerjuristischen Theorien mutet hilflos an, vgl. jüngst und mit Bezug zum Jubilar FG Köln v. 30.9.2009 – 9 K 2697/08, EFG 2010, 343 (347): „Hinsichtlich des vom Kläger letztlich gerügten Verstoßes gegen die Reinvermögenstheorie (gemeint sein dürfte wohl die Reinvermögenszugangstheorie, vgl. dazu nur Tipke/Lang, 19. Aufl. 2008, § 8 Rz. 32 ff.) ist dem Senat bereits nicht klar, welche konkreten Anwendungsvoraussetzungen dieser Rechtsgrundsatz haben soll und welche konkreten Rechtsfolgen ein Verstoß gegen dieses Grundprinzip überhaupt auslösen könnte“. 231 U. Koenig in Pahlke/Koenig, (Fn. 135), § 37 Rz. 52. 232 J. Lang in Tipke/Lang, (Fn. 1), § 7 Rz. 73 mit Note 62. 233 Zu den Folgen der unterschiedlichen Theorien vgl. W. Hein, Überlegungen zur Entstehung des steuerrechtlichen Erstattungsanspruchs, DStR 1990, 301 (305 f.). 234 So hebt BFH v. 16.1.2008 – II R 30/06, BStBl. II 2008, 626 bei der Frage, ob ein Steuererstattungsanspruch zum steuerpflichtigen Erwerb i. S. d. § 10 Abs. 1 Satz 3 ErbStG zählt, auf den materiellen Rechtsgrund ab (ebenso auch FG Münster v. 19.4.2007 – 3 K 2939/05 Erb, EFG 2007, 1457) und bekräftigt damit die materielle Rechtsgrundtheorie (R. Jüptner, Private Steuererstattungsansprüche und Erbschaftsteuer, UVR 2008, 180 [185]).

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Prinzipien im Steuerrecht Inhaltsübersicht I. Kölner Schule und Prinzipien II. „Am Anfang war das Chaos“

V. Begriff „Prinzip“ VI. Gesetzgebung und Prinzipien

III. Prinzipien als Wege aus dem Chaos

VII. Prinzipien und Rechtsanwendung, insbesondere Analogie

IV. Natur von Prinzipien

VIII. Ergebnis

I. Kölner Schule und Prinzipien Spricht man von der „Kölner Schule“ des Steuerrechts, so meint man die von Klaus Tipke in besonderer Weise betonte Ausrichtung des Steuerrechts an Prinzipien. In seinen Worten: „Gerecht handeln, heißt Prinzipien folgen“. Dieses Bekenntnis zu Prinzipien als den Grundlagen eines gerechten Steuersystems durchzieht die Beiträge der „Kölner Schule“ nicht nur als roter Faden, sondern als verbindendes Element der grundlegenden Methodik.1 An „Prinzipien“ herrscht im Steuerrecht wahrlich kein Mangel: Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, Nettoprinzip, Subjektprinzip, Subsidiaritätsprinzip, Trennungsprinzip, Jahresprinzip usw. Über ihren genauen Inhalt, ihre rechtliche Verbindlichkeit bzw. Funktion, ihre Abgrenzung zur allgemeinen Dogmatik des Steuerrechts oder zu allgemeinen Regeln oder zu Grundsätzen oder zu Theorien jedoch bestehen keine gefestigten Erkenntnisse. In neuerer Zeit kommt ein Frontalangriff auf die Geltung von Prinzipien des Steuerrechts hinzu. So schreibt der ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Axel Nawrath: „sog. Steuerrechtsprinzipien können für den Gesetzgeber immer nur Referenzpositionen sein.“2 Er fügt dann noch hinzu, das kein demokratisch legitimierter Gesetzgeber gezwungen werden könne, „die Wirkung von Steuerprinzipien gegen sich uneingeschränkt gelten zu lassen, wenn in ihrem Windschatten dem Staat die fiskalische Basis entzogen wird.“ Bei anderer Gelegenheit soll er gesagt haben,3 manche trügen steuersystematische Prinzipien „wie Tätowierungen auf dem Oberarm“.4

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1 Vgl. nur die methodischen Bemerkung J. Lang’s in Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Köln 1988, S. 11 ff. 2 Nawrath, Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers und gleichheitsgerechte Sicherung des Steueraufkommens, DStR 2009, 3. 3 Nach Ceterum censeo, FR 2008, 847. 4 Hierzu bemerkt Pezzer, er oute sich als Angehöriger eines steuerlichen MaoriStammes mit Ganzkörper-Tätowierung, DWS, Nettoprinzip – Grundelement einer sachgerechten Besteuerung, DWS-Schriftenreihe 18, Berlin 2009, S. 11.

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Ein größerer Widerspruch zur Kölner Schule ist kaum vorstellbar. Daher soll in diesen Joachim Lang gewidmeten Zeilen der Versuch gewagt werden, den rechtlichen Standort von Steuerrechtsprinzipien zu bestimmen. Es geht dabei nicht um diese selbst, ihren Inhalt und ihre Reichweite, sondern vielmehr um ihre Rechtsnatur. Soweit auf einzelne Prinzipien eingegangen wird, geschieht dies nur zur Verdeutlichung, ohne jedoch zu deren Inhalt Stellung nehmen zu wollen. Der Beitrag untersucht nicht, welche Prinzipien im Steuerrecht existieren.5 Die Fragestellung ist eine andere: Was sind Prinzipien des Steuerrechts? Wo kommen sie her? Welche Verbindlichkeit besitzen sie für Gesetzgeber und Rechtsanwender?

II. „Am Anfang war das Chaos“ Viele Schöpfungsmythen der Völker – z. B. Hesiod für die griechische Mythologie – bezeichnen den Urzustand als Chaos. In der Genesis heißt dieser Zustand Tohuwabohu. Es bedurfte der Götter, um aus diesem ungeordneten, abgrundtief klaffenden Zustand den Kosmos als geordneten Zustand zu schaffen, und selbst dieser wird als ständig gefährdet gesehen, wie der germanische Mythos vom Fenriswolf zeigt. Das Chaos ist ungeordnet, es gelten keinerlei Gesetze. Im Kosmos gilt das Gesetz von Ursache und Wirkung. In diesem mechanistischen Weltbild lässt sich jeder Vorgang durch seine Ursachen erklären oder bei Kenntnis der Ursachen das Ergebnis vorhersagen. Dies setzt aber eine exakte Kenntnis der Ausgangssituation und der Einflussfaktoren voraus. Da diese gemessen werden müssen, die Messungen jedoch notwendigerweise ungenau sind, lassen sich in dynamischen Systemen mit vielfältigen Einflüssen die Ergebnisse nicht mehr vorhersagen. Man spricht dann von einem deterministischen Chaos.6 Der Meteorologe Edward Lorentz hat dies in einem Bild festgehalten: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann in Texas einen Tornado auslösen. Das Weltbild ist zwar noch deterministisch, aber die Ursachen sind zu vielfältig, um deren Einfluss auf das Ergebnis bestimmen zu können. Der Verlauf erscheint dann nicht vorhersehbar, eben chaotisch. Die Abläufe folgen zwar noch der Regel von Ursache und Wirkung, aber angesichts der nicht messbaren und zahlreichen Ursachen kann der Kausalverlauf nicht mehr angegeben werden. Das deterministische Chaos ist somit nicht eigentlich ein regelloser Zustand, wir sind aufgrund unserer eingeschränkten Erkenntnismöglichkeit nur nicht in der Lage, die Regeln zu erkennen. Ob Joachim Lang Steuerchaos in diesem Sinne versteht,7 ist nicht ganz sicher. Das Jahr 1971 scheint das Jahr der Geburtsstunde des Begriffs des Steuerchaos’ zu sein. In seinem programmatischen Beitrag anlässlich der Übernahme der

__________ 5 Dies würde den Rahmen erheblich sprengen, setzte dies doch eine umfassende Analyse des Steuerrechts voraus. 6 Zum Ganzen vgl. Stichwort Chaos, Serres/Farouki, Thesaurus der exakten Wissenschaften, Frankfurt 2001. 7 J. Lang, Einkommensteuer – quo vadis?, FR 1993, 661.

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Herausgeberschaft von „Steuer und Wirtschaft“ hat Tipke8 den Zustand des Steuerrechts als den eines Chaos charakterisiert. Geht Hensel9 noch wie selbstverständlich von einem System des Steuerrechts aus, so beginnt nach den systemzerstörenden Eingriffen der Nationalsozialisten10 und den Notmaßnahmen nach 194511 bereits Mitte der 50er Jahre12 das Nachdenken über eine Reform vor allem der Ertragsteuern, deren Zustand als unbefriedigend empfunden wird. Doch erst Tipke hat mit entschiedener Deutlichkeit den Zustand des Steuerrechts als Chaos bezeichnet. Danach wird dies allgemeine Meinung13. Unter Steuerchaos werden dabei in Anlehnung an die „Chaostheorie“ vor allem die Kompliziertheit, das Fehlen systemgestaltender Grundsätze, innere Widersprüchlichkeiten, schnelle Abfolge von Änderungsgesetzen des deutschen Steuerrechts verstanden, so dass das Ganze unüberschaubar wird. Joachim Lang hat die Vielzahl der zahlreichen gesellschaftlichen Interessen, die auf das Steuerrecht einwirken und die zu kanalisieren den Politikern nicht mehr gelingt, als wesentliche Determinanten des Steuerchaos ausgemacht.14 Für ihn ist der Lobbyismus der Fenriswolf des Steuerrechts, weil Einzelinteressen ohne Rücksicht auf die Auswirkungen die Gesetzgebung prägen. Für Klaus Vogel ist es der Verlust des Rechtsgedankens.15 Nach Helsper16 ist das Chaos selbst auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen. Er macht als solche „den Glauben der ministeriellen Steuerexperten, sie könnten Schlupflöcher stopfen“ ebenso verantwortlich wie den Glauben „der richterlichen Experten an das Konzept der Einzelfallgerechtigkeit“. Aber auch die praktische Unbrauchbarkeit wissen-

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Steuerrecht-Chaos, Konglomerat oder System, StuW 1971, 2. A. Hensel, Steuerrecht, 3. Aufl., Berlin 1933, S. 3 f. S. Reimer Voß, Steuern im Dritten Reich, München 1995 (Diss. Osnabrück). Bühner, Die Einkommensteuer in den drei Besatzungszonen der West-Alliierten (1945 – 1949), Köln 1990. O. Bühler, Die rechtsstaatlichen Forderungen auf dem Gebiete des Steuerrechts im Rahmen der dringenden steuerpolitischen Anliegen, StbJb 1955/56, 19, spricht von einer „zerfahrenen Gelegenheits- und Flickgesetzgebung“; Reaktionen auf diesen Zustand: Denkschrift des Tröger-Ausschusses zur Verbesserung der Einkommensbesteuerung, Stuttgart 1957; Falk-Kommision, Untersuchungen zum Einkommensteuerrecht (BMF-Schriftenreihe 7), Bonn 1964; Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF zur Reform der direkten Steuern (BMF-Schriftenreihe 9) Bonn 1967; Gutachten der Steuerreformkommission 1971 (BMF-Schriftenreihe 17), Bonn 1971. Vgl. – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Birk (Hrsg.), Niedergang und Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts, Köln 1985; F. Klein, Unstetes Steuerrecht, StbJb 1989/1990, 3; Dann, Steuerchaos in Deutschland, StB 1993, 244; Raupach, Wege aus dem Chaos, in Kirchhof/Offerhaus/Schöberle (Hrsg.), Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik (Festschrift für Franz Klein), Köln 1994, S. 309; Baron/ Handschuch (Hrsg.), Wege aus dem Steuerchaos, Stuttgart 1996; Jachmann, Wider das Steuerchaos, Stuttgart 1998; auch Kl. Vogel, Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht, in Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, DStjG 12 (1989), 123 ff. J. Lang, Einkommensteuer – quo vadis?, FR 1991, 661 (664 ff.). Kl. Vogel, DStjG 12, 123 ff. – Fn. 13. Helsper, Die Chaotisierung der Steuerrechtsordnung als Folge eines verfehlten Zusammenspiels von politischer Führung und juristischer Expertenkompetenz, BB 1995, 16 ff.; Die Chaotisierung der Steuerrechtsordnung und die Verantwortung der Führungskräfte, BB 1996, 2326.

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schaftlicher Spitzenleistungen als auch ein Verständnis der Politik als Wählerstimmenmaximierung macht er verantwortlich, oder kurz gesagt: alle tragen zur Chaotisierung bei.

III. Prinzipien als Wege aus dem Chaos Darüber, wie man aus dem Steuerchaos herausfindet, ist bereits viel nachgedacht worden.17 Ein Konsens hat sich noch nicht gebildet. So sieht Helsper18 das Heil in der Praktikererfahrung der Finanzbeamten und Berater und schiebt den „erfahrungsfeindlichen Basistheorien“ die Verantwortung für das Chaos zu.19 Hier sollte man Kant20 und seine Bemerkung zum Verhältnis von Theorie und Praxis beherzigen, der erkannte, dass Theorie ohne Urteilskraft nicht zum „Consilium“ taugt, dass aber andererseits „herumtappt“, wer glaubt, ohne „Prinzipien (die eigentlich das ausmachen, was man Theorie nennt)“ auszukommen, und „ohne sich ein Ganzes (welches, wenn dabei methodisch verfahren wird, System heißt) über sein Geschäft gedacht zu haben“. Wozu Gesetzgebung aufgrund von Praktikererfahrung führt, kann man anschaulich durch eine unbefangene Lektüre der §§ 38–42f EStG21 oder §§ 43– 45e EStG erfahren. Prinzip, System und praktische Urteilskraft gehören für Kant zusammen. Die beiden ersteren machen für ihn die Theorie aus, letztere ist zur Praxis notwendig. Recht ist in diesem Zusammenhang Theorie bezogen auf menschliches Verhalten. Gemäß seiner normativen Natur deutet es bestimmtes Verhalten22 als geboten, verboten oder erlaubt. Durchaus im Sinne Kants verlangen Tipke und Lang für das Steuerrecht die Beachtung von Prinzipien „als Träger des inneren Systems des Steuerrechts“.23 Während die Begriffsjurisprudenz, vor allem in der Begriffspyramide Puchtas24, ein Rechtssystem deduktiv aus Grundbegriffen ableitete, gehen Tipke und Lang von einer Vielzahl von Prinzipien ganz unterschiedlichen Rangs und Inhalts aus, die miteinander in Konflikt geraten. So widerspricht beispielsweise das Trennungsprinzip dem Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit, indem Beteiligungen an Personen- und Kapitalgesellschaften unterschiedlich behandelt werden. So wird der Gesellschafter einer Personengesellschaft mit dem Anteil am von der Gesellschaft erwirtschafteten Gewinn unmittelbar besteuert, gleichgültig, ob er ihn nach dem Gesellschaftsvertrag entnehmen kann oder nicht, während der Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft erst dann besteuert wird, wenn der Gewinn in der Ausschüttung ihm zur Verfügung steht.

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S. Fn. 13. Helsper, BB 1996, 2326 ff. Helsper, BB 1996, 2326 (2328). Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, A 203. Raupach, Fn. 13, 312 spricht von „mosaiksteinartiger Kasuistik“. Im Sinne der heuristischen Funktion einer Theorie. Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, S. 79 (3.1). Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 239 f.

Prinzipien im Steuerrecht

Prinzipien als solche bieten demnach keine Gewähr für die Vermeidung von Chaos. Raupach25 sieht im Maßgeblichkeitsprinzip eine Ursache für das Steuerchaos. Prinzipien müssen nicht unbedingt gerecht sein.26 Prinzipien sind eine notwendige, aber nicht eine hinreichende Voraussetzung für gerechtes Handeln. Sie müssen aufeinander abgestimmt sein und insgesamt ein „sinnvolles Ganzes“ ergeben, wie Kant das System nennt. Dies führt zu Fragen wie: wo kommen Prinzipien her, wer ordnet ihnen einen Rang zu, welche Bedeutung besitzen sie für die Rechtspraxis, die Urteilskraft im Kantschen Sinne, und woraus ergeben sich Maßstäbe zur Beurteilung von Prinzipien?

IV. Natur von Prinzipien Unter Prinzipien verstehen Tipke/Lang27 allgemeine Rechtsgedanken, die der Konkretisierung bedürfen und setzen ihnen die Normen oder Regeln entgegen. Unter Berufung auf Alexy28 verstehen sie Prinzipien als Optimierungsgebote. Würde man annehmen, damit wäre alles Erforderliche gesagt, da man von einem allgemein anerkannten Begriff der Prinzipien ausgehen könne, so befände man sich im Irrtum. Vielmehr ist umstritten, was Rechtsprinzipien sind und welche Rolle sie in einem Rechtssystem spielen. Doch zuvor ist eine Bemerkung zur Begriffsbildung im Allgemeinen angebracht. Zu streiten, ob ein Begriff richtig oder falsch ist, wäre ein müßiger Streit. Begriffe sind wie Landkarten: sie dienen der Orientierung und müssen auf die Bedürfnisse des Nutzers zugeschnitten sein. Eine Seekarte, Luftfahrtkarte oder Fernfahrerkarte sieht jeweils anders aus, auch wenn sie dasselbe Gebiet darstellen. Begriffe sind zweckmäßig oder unzweckmäßig im Hinblick auf die Funktion, der sie dienen. Als weitere Schwierigkeit kommt im Recht hinzu, dass es sich nicht um Begriffe handelt, die Gegenstände beschreiben (ontische Begriffe, Realdefinitionen im aristotelischen Sinn) wie etwa der Begriff „Haus“, der empirisch überprüft werden kann, was im Ergebnis zu einem Ja oder Nein führt. Der Satz „Dort steht ein Haus“ ist entweder wahr oder falsch. Bei den deontischen Begriffen des Sollens, Verbotenseins oder Erlaubtseins verhält es sich anders. Aussagen in diesem Bereich sind entweder richtig oder falsch. Ob es richtig ist, kann nicht empirisch, sondern nur vernunftmäßig und argumentativ ermittelt werden. Der Satz „A kann von B 10.000 Euro Schmerzensgeld verlangen“ kann nicht im Laborversuch empirisch auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft werden. Ob er richtig ist, ergibt sich aus der Anwendung von Normen eines Rechtssystems auf einen konkreten Sachverhalt. Was unter Rechtsprinzipien zu verstehen ist, richtet sich daher danach, was ihre Funktion innerhalb einer Rechtsordnung ist. Dabei geht es vor allem dar-

__________ 25 Raupach, a. a. O., Fn. 13, 311. 26 Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt (2. Aufl.), 1994, S. 93 nennt die Rassentrennung als ungerechtes Prinzip. 27 Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 11, S. 72. 28 Ebenda Rz. 12; Alexy, Theorie, S. 75 f.

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um, ob Rechtsprinzipien normativen Charakter haben, lediglich Referenzpositionen sind oder irgendwo dazwischen anzusiedeln sind. Alexy bejaht den normativen Charakter und unterteilt Normen in Regeln und Prinzipien.29 Die grundgesetzlichen Grundrechte ordnet er den Prinzipien zu und versteht diese als Optimierungsgebote. Diese Auffassung muss man in den Zusammenhang seines Forschungsinteresses stellen. Ausgangspunkt ist für ihn die widersprüchlich erscheinende Regelung des Grundgesetzes, dass Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechte mit der Wirkung als unmittelbar geltendes Recht ausstattet, dass aber Grundrechte mit anderen Grundrechten und öffentlichen Gütern kollidieren können. Diesen Konflikt hat das BVerfG durch Abwägungen30 im Einzelfall gelöst, so dass ein unmittelbar geltendes Grundrecht im Einzelfall zurücktreten muss, selbst wenn es vorbehaltlos im Grundgesetz garantiert wird. Hier setzt Alexy an, wenn er Regeln und Prinzipien als die beiden Erscheinungsformen der Norm unterscheidet. Tipke/Lang31 hingegen setzen Regeln und Normen einander gleich und stellen diesen die Prinzipien gegenüber. Für Alexy besteht der grundlegende Unterschied zwischen Regel und Prinzip darin, dass eine Regel gilt oder nicht gilt. Gerät sie in Konflikt mit einer anderen Regel, so wird der Konflikt durch eine Ausnahmebestimmung32 gelöst. Da Normen menschliches Handeln lenken, muss eindeutig sein, was der Normbefehl in einer gegebenen Situation ist. Sind mehrere Normen auf eine Situation anwendbar und unterscheiden sich ihre Rechtsfolgen, so kann nur eine angewendet werden. Widerspruchsfreiheit ist eines der wesentlichen Merkmale einer Rechtsordnung, die diese Bezeichnung verdient.33 Dem setzt Alexy die Normen in Gestalt der Prinzipien gegenüber. Diese sind für ihn Normen, aber im Konfliktsfalle ist es Aufgabe des Rechtsanwenders, die konfligierenden Normen, Werte und Interessen zum Ausgleich zu bringen.34 Prinzipien werden dann für ihn zu Optimierungsgeboten, d. h. im Einzelfall gilt dann nicht die eine oder andere Norm, sondern beide gelten und sind miteinander zu „versöhnen“.35 Diese Optimierung gleicht den drei Stufen der Verhältnismäßigkeit: Zunächst wird die Geeignetheit geprüft. Dies bedeutet, das zu beurteilende Verhalten muss überhaupt in den Anwendungsbereich der Grundrechte hineinreichen. Beruft sich z. B. ein Künstler auf die Kunstfreiheit, wenn er fremde Häuserwände besprüht, so muss dadurch überhaupt Art. 5 GG berührt sein. Dem stehen die Eigentumsrechte des Hauseigentümers, dessen Häuserwand besprüht wird, gegenüber. Kann er sich auf eine Schutzposition des Art. 14 GG berufen, so geraten die Grundrechte in Konflikt. Bei der fol-

__________ 29 Alexy, Theorie, S. 77: „Jede Norm ist entweder eine Regel oder ein Prinzip“. 30 Vgl. Harald Schneider, Die Güterabwägung des BVerfG, Baden-Baden 1979; s. auch Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, München 1988, S. 928 f. m. w. N. 31 Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 11. 32 Bzw. andere Konkurrenzregeln wie lex posterior usw.; Alexy, Theorie S. 77 ff. 33 Felix, Einheit der Rechtsordnung, Tübingen 1998, S. 239 f. m. w. N. 34 Hesse hat den Ausdruck der praktischen Konkordanz hierfür geprägt, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl., Stuttgart 1999, S. 317 f. 35 Ähnlich Hesses praktische Konkordanz, vgl. Hesse, Grundzüge, S. 318.

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Prinzipien im Steuerrecht

genden Stufe der Erforderlichkeit ist zu fragen, ob es außer einem Verbot des Sprayens andere Möglichkeiten gibt, die Kunstfreiheit zu verwirklichen bzw. das Eigentum zu schützen. Bestehen solche Möglichkeiten – milderes Mittel als Stichwort – nicht, so kommt es auf der dritten Stufe zur Abwägung, die nur unter Beachtung des Einzelfalles – Lage des Grundstücks, dessen Zustand, Entfernbarkeit der Gesprayten usw. – vorgenommen werden kann. Damit gelingt es Alexy, den Geltungsanspruch eines Grundrechts auch dann aufrecht zu erhalten, wenn es im Einzelfall „zurücktritt“. Abgesehen davon, dass durchaus Einwände36 gegen die Grundrechtstheorie Alexy’s erhoben werden, so ist nicht erkennbar, wie dessen begrenztes Erkenntnisinteresse für das Steuerrecht fruchtbar gemacht werden kann. Vor allem dessen Gleichsetzung von Norm und Prinzip erscheint problematisch. Zwar lehnt sich Alexy an Dworkin37 an, in diesem Punkt unterscheidet er sich aber von Dworkin. Auch Josef Esser38 sieht dies anders. Er unterscheidet bereits im Titel Grundsatz (= Prinzip) und Norm. Sein Erkenntnisinteresse ist ein anderes als das Alexy’s, aber ebenso begrenzt. Ihn interessiert, wie Prinzipien für die Rechtsfortbildung im Zivilrecht fruchtbar gemacht werden können. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Hier geht es nur um den Begriff des Prinzips. Diesem Begriff ergeht es ähnlich wie anderen Begriffen, die inflationär und unbestimmt benutzt werden. Vor allem im Steuerrecht zählen hierzu „Theorie“ und „Institut“. Von Abfärbetheorie bis Zeitbezugstheorie, „Institute“ wie die Betriebsaufspaltung und die Realteilung dienen dazu, bestimmte Auslegungsergebnisse von Steuernormen zu überhöhen. Hier ist größte Skepsis vonnöten. Die Gefahren eines zu schnellen Umgangs mit dem Begriff des Prinzips seien an folgendem Beispiel aufgezeigt. § 5 Abs. 1 EStG ordnet den Ansatz der Wirtschaftsgüter in der Steuerbilanz gemäß den handelsrechtlichen Grundsätzen (Prinzipien?) ordnungsmäßiger Buchführung an. Dies ist eine klare Norm. Das EStG enthält auch Ausnahmen39 von dieser Norm. Dies ist ein klares Regelsystem im Sinne Alexy’s. Wird § 5 Abs. 1 EStG zum Maßgeblichkeitsprinzip überhöht, verliert er einerseits seinen zwingenden Normcharakter und wird andererseits offen für Abwägungen. § 5 Abs. 1 EStG ist nicht mehr nur dann nicht anzuwenden, wenn eine Ausnahmebestimmung erfüllt ist, er ist vielmehr zu optimieren im Verhältnis zu anderen Prinzipien. Weber-Grellet40 hat hier das Leistungsfähigkeitsprinzip ins Spiel gebracht. Dabei ist durchaus unklar, ob dies im Sinne einer vorrangigen Verfassungsnorm, an der § 5 Abs. 1

__________ 36 Z. B. Siekmann, Grundrechte als Prinzipien, in Die Prinzipientheorie der Grundrechte – Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexis, Baden-Baden 2007, S. 17 ff. 37 R. Dworkin, Taking rights seriously, Cambridge/Mass. 1977, deutsch: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt 1984; Alexy, Theorie, S. 88 ff. 38 Josef Esser, Grundsatz und Norm, Tübingen 1956, passim. 39 Z. B. § 5 Abs. 6 EStG. 40 Weber-Grellet, Maßgeblichkeitsgrundsatz und eigenständige Zielsetzung der Steuerbilanz, DB 1994, 288; Der Maßgeblichkeitsgrundsatz im Lichte aktueller Entwicklungen, BB 1996, 2659 (2666); Unterschiede handels- und steuerrechtliche Wertaufhellung, in Kirchhof/Nieskens, FS für Wolfram Reiss, Köln 2008, S. 483 (490).

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EStG zu messen sei, gemeint ist oder ob es sich um ein Optimierungsprogramm handeln soll. Das Beispiel verweist noch auf einen anderen Begriff, der vom Prinzip abgegrenzt werden muss, den des Telos, des Sinn und Zwecks einer Norm. Man kann die Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze auch als Telos der Norm des § 5 Abs. 1 EStG ansehen, indem das Gesetz zum Ausdruck bringt, dass der Gesetzgeber diese Grundsätze auch für das Steuerrecht für angemessen ansieht. Zwar findet man häufig41, dass 1891 gleichsam aus Bequemlichkeit die handelsrechtliche Bilanzierungsgrundsätze für das neue preußische Einkommensteuerrecht übernommen worden seien. Aber bereits 1874 hatte Bremen42 die Maßgeblichkeit vorgesehen und damit begründet, dass keine größere Gewähr für die zutreffende Ermittlung eines gewerblichen Gewinns existiere als die handelsrechtliche Methode. Kurz: Finanzbeamte sind nicht schlauer als Kaufleute. In seiner Auseinandersetzung mit Alexy befürwortet Siekmann43, unter Prinzipien „normative Argumente“ zu verstehen. Was damit gemeint ist, erschließt sich nicht von selbst. Auch Siekmann greift auf Dworkin zurück. Einigkeit zwischen beiden besteht insoweit, dass Normen Handlungen von Menschen leiten und deuten. Das Heben einer Hand ist ein physikalischer Vorgang, er kann aber auch ein Zeichen sein. Als Zeichen wird er Teil eines Kommunikationsprozesses. Es kann einem anderen Menschen eine Bedeutung „signalisieren“, etwa stehen zu bleiben, zu kommen oder sich begrüßt zu fühlen. Dies hängt vom jeweiligen Kontext ab. Sagt eine Frau zu ihrem Mann: „Ich gehe jetzt“, so ist der Sinn völlig offen. Antwortet der Mann: „Wer ist er?“ oder „Bring mir ein Bier mit“, so erhält der Satz jeweils eine ganz andere Bedeutung. So kann im rechtlichen Kontext das Heben der Hand auf einer Versteigerung eine andere rechtliche Bedeutung erhalten als vor Gericht bei einer Vereidigung. Normen haben insofern eine heuristische Funktion, indem sie physikalischen Vorgängen eine rechtserhebliche Bedeutung beilegen. In ihrer Bedeutung als Sollen – Gebot, Verbot, Erlaubnis – sind Normen Gründe für Handlungen44. Alexy hält es zwar für plausibel, dass Regeln Gründe für Handeln und Prinzipien Gründe für Regeln sind.45 Er will jedoch auch Prinzipien konkrete Sollensurteile, d. h. Handlungsanleitungen entnehmen. Hierin unterscheidet sich dann Siekmann von Alexy, indem für ihn Prinzipien eben – nur – Argumente für normative Urteile, nicht aber „hingegen unmittelbar handlungsleitende Normen“ sein können.

__________ 41 Vgl. Mössner, Ist die Maßgeblichkeit tot?, Stbg 1998, 145 f. m. w. N.; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 17 Rz. 43 m. w. N. 42 Vgl. Dziadkowski, Beck’sches Handbuch der Bilanzierung B120; ähnlich die Gesetzesbegründung zum EStG 1925, abgedruckt bei Strutz, Kommentar zum Einkommensteuergesetz 1925, § 13 Anm. I 2 a): „in den ordentlichen Geschäftsbilanzen die relativ sicherste Grundlage“. 43 Siekmann, Grundrechte, Fn. 36, S. 24 f. 44 Dworkin, Raz, Practical reason and norms, London 1975, S. 15, 58. 45 Alexy, Theorie, S. 91.

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Tipke46 unterscheidet normierte Prinzipien, die Rechtssätze sind und damit den Prinzipien im Sinne Alexy’s und den Regeln im Sinne Siekmanns entsprechen, von normkonzipierenden Rechtsätzen, die Prinzipien im Sinne Siekmanns sind. Dies belegt, wie sehr man auf die genaue Bedeutung der benutzten Worte achten muss. Da – wie dargelegt – Begriffsbildung nach Zweckmäßigkeit und Fruchtbarkeit der Verwendungsmöglichkeit zu erfolgen hat, stellt sich die Frage, ob es im Steuerrecht sinnvoller ist, Regeln und Prinzipien als Normen, d. h. unmittelbar handlungsleitenden Anweisungen, zusammenzufassen, oder ob es zweckmäßiger ist, Prinzipien nicht als Normen zu begreifen, wobei man dann sich in weiten Bereichen vom üblichen Sprachgebrauch entfernt, was aber vorzuziehen wäre, wenn es der Klarheit diente.

V. Begriff „Prinzip“ Prinzip leitet sich vom lateinischen principium – = das Erste nehmen/fassen – ab. Princeps ist der, der die erste Stelle einnimmt. Es ist demnach etwas, mit dem es beginnt: der Anfang, ein Wort, das auch „fangen“ enthält. Es kann daher der Grund oder die Ursache für etwas anderes sein, insofern es vorangeht. Dem würde der Begriff des Grundsatzes – das, worauf anderes aufbaut, was als Grund gesetzt ist – entsprechen. Allerdings lässt ein Grundsatz Ausnahmen zu, nicht jedoch ein Prinzip. Tipke47 zählt aber noch folgende Begriffe gleicher oder ähnlicher Bedeutung auf: „Basissätze, Wertungen, Leitideen, regulative Ideen, Leitgedanken oder Leitmaßstäbe, Motivationen, Postulate, Sachgesetzlichkeiten, Ziel- oder Zweckvorstellung, Gesetzespläne, Gesetzesteleologie, teleologische Systematik, rationes leges“. Teilweise verwendet er die Begriffe „Regel“, „Maßstab“ als Synonyme für Prinzipien. Er will den Begriff „Prinzip“ der „fundamentalen Regel, der Primär- oder Grundwertung vorbehalten“. Diese Vielzahl von Begriffen, die sich noch erweitern ließe, belegt anschaulich, dass weder die Bedeutung der einzelnen Begriffe festgelegt ist noch ihr Verhältnis zu einander geklärt bzw. allgemein anerkannt ist. Tipke48 selbst erweitert durch seine Unterscheidung von normierten und normkonzipierenden, konstruktiven und prohibitiven, sowie wertenden und technischen Prinzipien die Begriffsvielfalt. In dieser kaum noch zu durchschauendes begrifflichen Differenzierung hilft auch ein Blick über die Grenzen nicht weiter. Zutreffend weist Tipke darauf hin, dass auch das amerikanische Recht eine Vielzahl verwandter Begriffe kennt. Hinzu kommt, dass dort dem Begriff „principle“ eine ganz spezifische, sich aus dem Präjudizienrecht ergebende Bedeutung zukommt. Nach der von

__________ 46 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, § 5, 2.2. 47 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, § 5, 2.1. 48 Ebenda 2.2.

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Cardozo49 entwickelten rule-principle-Lehre stellt die „rule“ die den Einzelfall entscheidende, vom Gericht gefundene Rechtsnorm dar. Sie wird als Präejudiz Bestandteil der Rechtsordnung. Ein neuer Fall wird nach dieser rule entschieden, wenn er der Vorgänger-Entscheidung in den wesentlichen Elementen entspricht, er wird nach diesem Verständnis der rule entsprechend entschieden.50 Über den Normen (rules) schwebt gleichsam als gemeinsamer Gedanke das Prinzip (principle). Es wird durch Verallgemeinerung aus den rules gewonnen und kann dann zur Entscheidung eines Falles herangezogen werden, der nicht den bisher entschiedenen Fällen entspricht. Josef Esser hat in seiner großen Schrift über Grundsatz und Norm vor allem die Bedeutung von Grundsätzen in der richterlichen Rechtsfortbildung des Privatrechts auf rechtsvergleichender Grundlage – vor allem im Hinblick auf den anglo-amerikanischen Rechtskreis – analysiert. Auch wenn somit die Richtung seiner Untersuchung einer andere ist, so findet sich doch notwendigerweise eine Reihe von Überlegungen, die auch in unseren Zusammenhang gehören. Esser geht es vor allem um die normative Funktion der Grundsätze im Rahmen einer richterlichen Rechtsfortbildung. Unter Bezugnahme auf Sperduti51 unterscheidet er: – principi scientifici als die System- und Lehrgrundsätze, wie sie die Rechtswissenschaft entwickelt – principi normativi als die „immanenten Prinzipien positiver Institutionen und die das juristische Denken unmittelbar bindenden logischen Prinzipien“ – principi informatori als „die materiellen Gerechtigkeitsprinzipien, soweit sie nicht positiv verkörpert sind.“ Ob man dieser Einteilung folgen mag, ist nicht entscheidend. Dass jedoch unter Prinzipien je nach Funktion etwas ganz Unterschiedliches verstanden werden kann, wird dadurch bestätigt. Diese Einteilung entspricht jedenfalls nicht der von Tipke vorgenommenen. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Esser keine „normierten Prinzipien“ kennt, also Norm und Prinzip unterscheidet. Das Verhältnis von rules zu principle ließe sich bildlich danach wie das Verhältnis von Einzelnote zur Melodie umschreiben. Dann aber sind Prinzipien keine Normen. Sie verbinden Normen zu einem System im Kant’schen Sinne. Dann aber stellt sich die Frage, welche Bedeutung sie für den Gesetzgeber besitzen. Sind sie unverbindlich (Referenzpositionen) oder binden sie den Gesetzgeber? Und falls sie binden, wieweit?

__________ 49 Zum Ganzen vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. II, Tübingen 1975, S. 81 ff. 50 Wobei man diese Vorstellung mit einer Subsumtion nur mit Einschränkungen vergleichen kann. 51 Sperduti, L’individuo nel diritto internazionale, Mailand 1950, S. 7.

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Prinzipien im Steuerrecht

VI. Gesetzgebung und Prinzipien Steuerrecht ist janusköpfig: auf der einen Seite geht es bei ihm darum, das zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben erforderliche Finanzvolumen zu erbringen, und auf der anderen Seite muss es die daraus resultierende Steuerlast mittels der Gestaltung der Steuern gerecht verteilen.52 Auch wenn beide Seiten eng zusammenhängen, so muss in unserem Zusammenhang das erforderliche Finanzvolumen als vorgegebene Größe akzeptiert werden.53 Nawrath u. a.54 postulieren den Vorrang dieser Aufgabe. Selbst wenn dem so ist, lässt sich daraus wenig oder nichts für die Art der Gestaltung der Steuern gewinnen. Landauf, landab reklamieren Finanzpolitiker, vor allem auch Finanzminister, Freiheit bei der Gestaltung der Steuern, um die notwendigen Einnahmen für den Staat zu sichern. Steuerrecht wird als „hochpolitisches Rechtsgebiet“55 bezeichnet, was wohl besagen soll, dass hier der Primat der Politik, oder besser vielleicht: die freie und ungebundene Gestaltung der Steuererhebung nicht durch Prinzipien oder verfassungsrechtliche Normen eingeschränkt werden soll. Urteile des BVerfG werden dann „Übergriff in die Kompetenz des Parlaments“56 gebrandmarkt. Neu ist eine derartige Schelte des Verfassungsgerichts nicht. Bereits auf das erste Urteil57 des BVerfG in Steuersachen waren derartige Stimmen zu vernehmen58 und von Franz-Josef Strauß wird kolportiert, dass er das BVerfG als das teuerste Gericht bezeichnet habe. In einer Hinsicht wird man eine „Überwirkung“ der Notwendigkeit der Erbringung des Finanzvolumens auf die Gestaltung der Steuern anerkennen können. Der Steuergesetzgeber muss bei der Erschließung der Steuerquellen darauf achten, dass diese möglichst ergiebig sind. Er muss dort sich etwas holen, wo etwas zu holen ist, und dies auf eine Weise, dass der Ertrag möglichst effizient erbracht wird. Dies ist keine neue Erkenntnis, sondern findet sich bereits bei Adam Smith59 als eines der Prinzipien der Steuern. Auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip verlangt, dass die Art der Verteilung der Steuerlast überhaupt geeignet ist, den Finanzzweck zu erreichen, was einer Ausrichtung an

__________ 52 Nur um die sog. Finanzzwecknormen – Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 20 – soll es hier gehen. 53 Kritisch Kl. Vogel, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, Berlin 1999, S. 9. 54 Nawrath, DStR 2009, 3; Wieland in Verfassungsrecht und Steuerrecht, DWS Symposium 2009, Berlin 2010, S. 18. 55 So Lepsius, Anmerkung zu BVerfG (Pendlerpauschale), JZ 2009, 266 f. 56 Sybille Tönnies, Tagesspiegel, zitiert nach Tipke JZ 2009, 533. 57 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55. 58 Debatin, Ein Diskussionsbeitrag zum Beschluss des BVerfG 17.1.57 1 BvL 4/54 zur Ehegattenbesteuerung, StuW 1957, Sp. 410; Ehlers, Zur Kritik am Spruch von Karlsruhe, StuW 1957, Sp. 414; Klein, Die Problematik der Übergangsregelung, StuW 1957, Sp. 719, jeweils mit ausführlichen Auseinandersetzungen mit der Kritik am Beschluss. 59 Adam Smith, Vom Reichtum der Nationen, 1776, vier Prinzipien: Gerechtigkeit (Gleichmäßigkeit, Leistungsfähigkeit), Ergiebigkeit, Unmerklichkeit, geringe Erhebungskosten.

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der finanziellen Leistungsfähigkeit entspricht. Doch setzt dies der vom BVerfG60 hervorgehobenen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Auswahl der Steuertatbestände kaum Grenzen. Das Grundgesetz ist in seinen Aussagen zum Steuerrecht ausgesprochen zurückhaltend.61 Bleibt die Frage nach der Bedeutung von Prinzipien für den Gesetzgeber. Nawrath hat diese mit dem Begriff „Referenzpositionen“ umschrieben. Der Begriff ist allgemein ungebräuchlich, kommt aber in der Technik und im – modernistischen – Sprachgebrauch mancher Politiker vor. Gemeint ist damit ein Punkt, eine Stelle oder ein Standpunkt, auf den sich von anderen Positionen aus Bezug nehmen lässt. Was damit allerdings hinsichtlich von Steuerprinzipien gesagt sein soll, erschließt sich nicht, außer, dass sie keine zwingende Verbindlichkeit für den Gesetzgeber besitzen, der darauf Bezug nehmen kann oder auch nicht. Tipke/Lang62 zählen zu den Prinzipien auch „normierte Prinzipien“, zu denen sie auch die im Grundgesetz niedergelegten Rechtssätze rechnen, wobei sie beispielsweise erwähnen: Sozialstaatsprinzip, Gleichheitsgrundsatz, Rechtssicherheitsprinzip. Zugleich stellen sie fest, dass die „systemtragenden Prinzipien des Steuerrechts verfassungskräftige Prinzipien sind. Sie sind demnach aus der Wertordnung des Grundgesetzes abgeleitet.“ In diesem Zusammenhang erwähnen sie das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, Übermaßverbot und Verbot der Benachteiligung von Ehe und Familie. Zum Teil werden verfassungsrechtliche Normen und Grundsätze erwähnt, die nicht spezifisch steuerrechtliche sind. So gilt beispielsweise der Grundsatz der Rechtssicherheit ganz allgemein. Ein steuerrechtliches Prinzip ist er nicht, er gilt aber auch für das Steuerrecht als Teil der Rechtsordnung. Wegen ihrer Abstraktheit bedürfen jedoch diese allgemeinen Verfassungsnormen der steuerlichen Konkretisierung. Dadurch verlieren sie nicht ihre Rechtsnatur als höherrangige Normen. Wenn die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit Bestandteil des Gleichheitssatzes gem. Art. 3 GG ist, genießt sie Verfassungsrang.63 Ist das Nettoprinzip seinerseits Bestandteil der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, dann hat es ebenfalls Verfassungsrang.64

__________ 60 Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, 533 (537) nennt dies einen „notorischen Leitsatz“ des BVerfG; vgl. BVerfG v. 7.5.1968 – 1 BvR 420/64, BVerfGE 23, 242 (256); v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271); v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136); v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (95); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (47) = FR 2003, 568; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30); v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, FR 2009, 873 = BStBl. II 2009, 685. 61 Näheres vgl. Mössner, Verfassungsrecht und Steuerrecht, DWS-Symposium 2009, Berlin 2010, S. 7 ff. 62 Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 17, S. 73. 63 Vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 81 ff. mit umfassenden Nachweisen. 64 Vgl. Pezzer (Fn. 4) DWS-Symposium 2008, 15; Steuerwissenschaftliches Symposium BFH 2009: Zulässigkeit und Grenzen der Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, DStR Beihefter zu Heft 34/2009.

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Allerdings muss sich dann aus der Verfassung auch der Maßstab der Leistungsfähigkeit ableiten lassen. Ist dies etwa die realisierte Vermögensmehrung, dann ist auch das objektive Nettoprinzip eine verfassungsrechtliche Norm. Muss und kann hingegen der Gesetzgeber erst festlegen, was Maßstab der Leistungsfähigkeit ist, dann ist weder die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit noch das Nettoprinzip eine Norm, sondern ein Prinzip – immer im Sinne der Terminologie Essers. Eine Antwort auf die aufgeworfenen Fragen lässt sich nur dann geben, wenn zuvor geklärt ist, wie konkret das Steuersystem in der Verfassung vorgezeichnet ist. Führt die Erwähnung der Einkommensteuer in Art. 106 GG beispielsweise dazu, dass auch bestimmter Typ an Steuerart festgelegt wird.65 Wäre damit etwa ein scheduläres Einkommensteuersystem vereinbar?66 Verneint man eine Festlegung des Gesetzgebers auf ein bestimmtes Einkommensteuersystem, was notwendige Folge gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit in der Auswahl der steuerwürdigen Sachverhalte ist67, so wird man dem Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit den Normcharakter absprechen müssen. Doch dies heißt nicht notwendig, dass die „systemtragenden Prinzipien des Steuerrechts“ nicht „verfassungskräftig“68 sind. Mit der Entscheidung für eine bestimmte Steuer legt der Gesetzgeber zugleich ihre Grundstrukturen fest und ist daran nach dem vom BVerfG zunehmend69 in den Vordergrund gestellten Gebot der Folgerichtigkeit gebunden. Ihm sind dann die Hände für Abweichungen von der Grundstruktur gebunden. Um beim Beispiel zu bleiben: hat der Gesetzgeber das Einkommen zum Maßstab der Leistungsfähigkeit bestimmt und dieses als einen Reinvermögenszuwachs definiert, so legt er damit dem Einkommensteuerrecht das objektive Nettoprinzip als sinnstiftende Wertung zugrunde. In diesem Sinne wird es dann „verfassungskräftig“. Steuerrechtsprinzipien sind daher die grundlegenden Systementscheidungen70 des Gesetzgebers. Dies erfordert, dass Gesetzesänderungen mit den Grundentscheidungen vereinbar sind. Wie Nawrath jedoch deutlich macht, wird Steuerpolitik an den haushaltsmäßigen Auswirkungen ausgerichtet. Dominanz von Denken in Haushaltseffekten und Vernachlässigung der steuersystematischen Auswirkungen der Steuergesetzgebung führen zur Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit, zum Chaos im Steuerrecht.

__________ 65 Vgl. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung, München 1997, S. 182 ff. m. w. N. 66 Vgl. die bemerkenswerten Erwägungen Gregor Kirchhofs, Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt im Steuerecht. Schedulenbesteuerung, Nettoprinzip, Steuerkonkurrenzen, DStR 2009 Beihefter zu Heft 49, 140 f. 67 Vgl. die überzeugenden Erwägungen Johanna Heys, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, 2561 (2563). 68 So Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 14, S. 73. 69 Vgl. Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, 877 (878, 881); Hey, DStR 2009, 2563 f. 70 So auch Tipke, StuW 1971, 4 f.

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Doch damit ist noch nicht die Herkunft der Prinzipien geklärt. Das BVerfG71 gesteht dem Gesetzgeber bei der „Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes“ einen weitreichenden Gestaltungsspielraum zu. Darunter versteht es die Auswahl des Steuergegenstandes und die Bestimmung des Steuersatzes. Beides – was wird besteuert? wie hoch wird besteuert? – sind die Grundentscheidungen für ein Steuersystem. Wenn das Gericht zudem verlangt, dass „die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden“ muss, so wird der „Ausgangstatbestand“ zu einem Prinzip, das die einzelnen Normen der folgerichtigen Umsetzung miteinander verbindet. Es ist somit der Gesetzgeber, der über die Prinzipien des Steuerrechts entscheidet. Dabei gesteht das Gericht ihm eine weitreichende, keine unbeschränkte Gestaltungsfreiheit zu. Da es um die gerechte Verteilung der Steuerlast geht, ergeben sich die Grenzen insbesondere aus dem Gleichheitssatz und dem Rechtsstaatsprinzip, hier vor allem auch aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip72. Im Übrigen wirken auf den Gesetzgeber allgemein vorherrschende Gerechtigkeitsvorstellungen, aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse ein. Gerecht handelt der Gesetzgeber, wenn er die „richtigen“ Prinzipien wählt und diese folgerichtig in die Einzelnormen umsetzt. Unter diesen Voraussetzungen entsteht ein Steuersystem, das diesen Namen verdient. Angesichts der Vielgestaltigkeit der Verhältnisse kann es nicht gelingen, das Steuersystem aus einem Prinzip zu entwickeln, vielmehr müssen eine Reihe von Grundentscheidungen miteinander in Einklang gebracht werden.73 Die heutige Steuergesetzgebung verfehlt diese ihre Aufgabe in beachtlichem Maße. Die notorische Hektik bei der Änderung der Steuergesetze durch unablässige Jahressteuergesetze, Reformgesetze, Fortentwicklungsgesetze, Beschleunigungsgesetze und Gesetze mit anderen euphemistischen Bezeichnungen lässt sowohl die grundlegenden Belastungsentscheidungen vermissen oder jedenfalls nicht erkennen, als auch führt sie mit ihren punktuellen Regelungen zu unkalkulierbaren Durchbrechungen der Steuersystematik. Um nur ein Beispiel zur Verdeutlichung zu nennen: Dem Einkommensteuerrecht liegen Prinzipien der Verlustberücksichtigung74 zugrunde, diese finden wegen der Vielzahl der Sondernormen75 aber in Praxis kaum noch Anwendung.

__________ 71 St. Rspr. z. B. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136); v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (95); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290); v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126) = FR 2002, 391; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (47) = FR 2003, 568; v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180) = FR 2006, 766; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31); v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, FR 2009, 873. 72 Ebenso Paul Kirchhof, AöR 128, 8: Verhältnismäßigkeit als sinnstiftender und eingriffsbegrenzender Zweck. 73 Insofern nehmen Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 12, S. 72 zutreffend Alexy’s These von den Optimierungsgeboten in Bezug. 74 S. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rz. 60 ff.; Birk, Steuerrecht, 11. Aufl., Heidelberg 2008, Rz. 27. 75 Umfassende Darstellung bei Lüdicke/Kempf/Braunagel, Verluste im Steuerrecht, Baden-Baden 2010.

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VII. Prinzipien und Rechtsanwendung, insbesondere Analogie Ganz herrschend folgt die heutige Rechtsdogmatik dem Verständnis der Analogie, wie es Karl Larenz76 begründet hat. Danach setzt die Analogie eine „planwidrige Lücke“ voraus. Von einer Lücke kann man nur dann sprechen, wenn in einem größeren Zusammenhang etwas fehlt. Ein Beispiel für Analogie findet sich im Islam. In Sure 2, 219 wird von „chamr“ gehandelt. Dies bedeutet wörtlich „Vergorenes“. Zur Zeit des Propheten wurde Alkohol durch Vergären von Trauben, Datteln und Feigen gewonnen. Im Begriff „chamr“ wird die zufällige Erscheinungsform (Akzidenz) von Alkohol in einer örtlichen und zeitlichen Umgebung benannt. Darin kommt das Wesen (Essenz) des Verbotes, nämlich von Alkohol – nach anderen aller berauschender Mittel – zum Ausdruck. Analoge Anwendung bedeutet somit Anwendung einer Norm nicht nur gemäß ihrem Wortlaut als dem akzidentiellen Ausdruck, sondern gemäß dem essentiell Gewollten. Damit lässt sich auch die planwidrige Lücke im Sinne Larenz’ bestimmen: ein Gesetz enthält dann eine Lücke, wenn es seinem Sinn und Zweck nach auf einen bestimmten Sachverhalt nach den objektivierten Vorstellungen des Gesetzgebers77, dem Telos, der Essenz des Gesetzes, auf diesen Sachverhalt anwendbar sein soll, der Wortlaut es aber nicht ermöglicht, das Gesetz insoweit anzuwenden. Die Zulässigkeit der Analogie im Steuerrecht ist umstritten. Die Tatbestandsmäßigkeit der Steuer setzt für ihre Erhebung eine Rechtsgrundlage voraus. Die Frage ist, ob diese auch explizit in einer Norm gegeben sein. Das Grundgesetz enthält nicht für das Steuerrecht eine Art. 103 GG entsprechende Norm. Gleichwohl verneint die ganz überwiegende Ansicht die Zulässigkeit einer steuerverschärfenden Analogie, weil Steuerrecht in der sozialen Wirklichkeit keine Maßstäbe für die Belastungsentscheidung vorfinde.78 In anderen Bereichen des Rechts – beispielsweise dem Recht der Gefahrenabwehr – trage die Wirklichkeit gleichsam schon das gesetzgeberische Programm – Beseitigung der Gefahr – in sich. Steuerrecht werde von seinem Fiskalzweck bestimmt und dieser richte sich nach den gesetzgeberischen Entscheidungen zu den Staatsaufgaben, die dann die Staatsausgaben bestimmen. Dem Fiskalzweck diene jede Ausweitung der Steuernorm, sofern sie zusätzliche Staatseinnahmen generiere. Dem ist mit Tipke79 entgegenzuhalten, dass jede Finanzzwecknorm einen Doppelcharakter besitzt. In der Belastungsentscheidung kommt die Entschei-

__________ 76 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 6. Aufl., Heidelberg 1991, S. 370 ff.: Lücke, wenn das Gesetz für einen bestimmten Bereich eine einigermaßen vollständige Regelung anstrebt, S. 381 ff. zur Analogie. 77 Nicht der konkret am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, so aber BFH 25.11.2009 – I R 72/08, FR 2010, 381 m. Anm. Wendt (4. c. cc. bbb.) = DStR 2010, 269. 78 So z. B. Paul Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (6 f.). 79 Tipke, Steuerrechtsordnung, Bd. II, § 28.

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dung über die Art und Weise der Verteilung der Steuerbelastung zum Ausdruck, sie ist in den Worten Klaus Vogels „Lastenausteilungsnorm“. Man muss jedoch zugestehen, dass die Steuergesetzgebung nicht immer erkennen lässt, was sie als Maßstab der Lastenverteilung einer Norm zugrunde legt. Als beliebiges Beispiel sei die Neufassung von § 8c KStG durch das Unternehmensteuerreformgesetz 200880 erwähnt. Die Gesetzesbegründung81 nennt nur Vereinfachungsgründe durch Wegfall der Tatbestandsvoraussetzung „Zuführung von überwiegend neuem Betriebsvermögen“ und Gegenfinanzierungsgründe. In der ursprünglichen Fassung82 der sog. Mantelkaufsregelung konnte man als Prinzip erkennen, dass nach Einstellung einer wirtschaftlichen Tätigkeit seitens der hinter einer Kapitalgesellschaft stehenden Personen die von der Gesellschaft erwirtschafteten, aber mangels weiterer Gewinne unausgeglichenen Verluste nicht mehr genutzt werden sollten, da die Anteilseigner entweder über eine Abschreibung der Beteiligung in ihrem Betriebsvermögen ihren Verlust realisieren konnten oder weil der Verlust bei einer Beteiligung im Privatvermögen ihre steuerlich unerhebliche Vermögenssphäre betraf. Die Neuregelung in § 8c KStG lässt keine systematische, prinzipielle Begründung dafür erkennen, dass einer wirtschaftlich unverändert tätigen Kapitalgesellschaft die Geltendmachung eines Verlustvortrages deshalb verweigert wird, weil es im Kreise der unmittelbaren oder sogar mittelbaren Gesellschafter zu Veränderungen kommt. Dies Beispiel zeigt sehr anschaulich, welche Bedeutung Prinzipien haben, wenn man sie wie hier als Grundgedanken versteht, die mehrere Einzelnormen zu einem System verbinden. Die Besteuerung der Kapitalgesellschaften beruht auf dem Trennungsprinzip, welches das Körperschaftsteuersystem materiell ausformt. § 8c KStG in der gegenwärtigen Fassung fügt sich nicht in das System ein, weil er nicht dem Prinzip entspricht. Als Fremdkörper im System kann ein Prinzip nicht zu seiner Auslegung herangezogen werden. Die Bedeutung von Prinzipien für eine analoge Auslegung im Steuerrecht ergibt sich daraus, dass, wie Tipke/Lang zu Recht hervorheben, Prinzipien dem inneren System des Steuerrechts eine Struktur geben. Zwar kann eine Analogie auch auf den Sinn und Zweck einer einzelnen Norm gestützt werden,83

__________ 80 BGBl. I 2007, 1912. 81 BT-Drucks. 16/4841, 75; 16/4841, 43. 82 Aufgabe der Rechtsprechung zum Mantelkauf BFH v. 29.10.1986 – I R 202/82, BStBl. II 1987, 308 = FR 1987, 69; v. 29.10.1986 – I R 318/83, I R 319/83, I R 318319/83, BStBl. II 1987, 310; gesetzliche Wiedereinführung durch Steuerreformgesetz 1990, BGBl. I 1988, 1093, modifiziert Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform 1997, BGBl. I 1997, 2590. 83 Vgl. FG Düsseldorf 22.1.2009 – 16 K 1267/07 F, DStRE 2010, 12: eine GmbH war Mitunternehmerin einer KG, die gewerbliche Einkünfte erzielte. An der GmbH waren natürliche Personen (Schlussgesellschafter) über eine Personengesellschaft beteiligt. Zwischen der GmbH und dieser Gesellschaft bestand ein Organschaftsverhältnis. Fraglich war, ob die GmbH als Organ den Schlussgesellschaftern die Steuerermäßigung des § 35 EStG vermittelt. Das Gericht wandte § 35 Abs. 3 S. 4 a. F. (jetzt § 35 Abs. 2 S. 5) EStG analog an.

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aber wie Tipke zutreffend bemerkt84: „Nur ein (inneres) System lässt sich aus sich selbst heraus ergänzen; die das System tragenden Prinzipien tragen nämlich den Plan für den weiteren Ausbau ins Konkrete in sich“. Von seinen Beispielen für analoge Rechtsanwendung sei nur die Entwicklung des Sonderbetriebsvermögens durch die Rechtsprechung erwähnt. Aus den „Prinzipien der Besteuerung von Personengesellschaften“ wurde die lückenhafte Regelung des § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG ergänzt. Hat der Gesetzgeber entweder kein Prinzip zugrunde gelegt oder ein bestehendes durch systemwidrige Durchbrechungen zerstört, so kann die Rechtsprechung auch keine Ergänzungen vornehmen, so dass sie nur strikt am Wortlaut sich orientieren muss.

VIII. Ergebnis Steuerrechtsprinzipien sind keine Normen, sie verbinden vielmehr steuerrechtliche Normen zu einem System. Durch seine grundlegenden Belastungsentscheidungen bestimmt der Gesetzgeber zugleich die Steuerrechtsprinzipien, die aufgrund des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Folgerichtigkeit „verfassungskräftig“ werden. Ein Gesetzgeber, der die von ihm begründeten Steuerrechtsprinzipien lediglich als Referenzpositionen behandelte, würde seinen Auftrag verfehlen, die Steuerlast nach Gerechtigkeitsaspekten zu verteilen. In Abwandlung der These Tipkes gilt: „Die Achtung von Prinzipien ist notwendige Voraussetzung für gerechtes Handeln“. Der Rechtsprechung geben Prinzipien Leitlinien für die stimmige Fortentwicklung des Steuerrechts. Ein prinzipienloses Steuerrecht kann nur strikt nach dem Wortlaut ausgelegt werden.

__________ 84 Tipke, Steuerrechtsordnung, Bd. II, § 28.

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Is fiscal justice progressing? Table of content I. Introduction II. The principles of tax justice 1. The general framework of the principles of justice 2. The budgetary principle 3. The principle of public benefit 4. The principle of equality and ability to pay 5. The principle of redistribution of income 6. The principle of social merit or utility 7. Distribution according to need III. Trends in revenue and tax mix (1965– 2005) 1. Trends in revenue 2. Trends in the tax mix 3. Impact of the tax mix on the distribution of tax burdens IV. Development in the structure of national income tax systems 1. At the start: high progressive personal income tax on total aggregate income 2. At the end: reduction in top rates and flattening of the rate structure 3. The role of the tax base in determining effective tax burdens

4. The position of corporate income tax in the tax system 5. Global or schedular systems of income tax 6. Taxation of capital gains 7. The unit of taxation 8. The impact of social security 9. Developments since 1989 V. Looking for new priciples of fiscal justice 1. First a look at some old principles 2. Redistribution and distribution according to need 3. Equality and ability to pay 4. New mix of principles of fiscal justice a) Effective taxation is more important than progressive taxation b) Robustness of the tax system c) Total exemption of subsistence income d) Proportional tax rate for the majority of taxpayers e) Progression only for top taxpayers f) No redistribution through the tax system g) Special rates for special circumstances VI. Conclusion

I. Introduction At the final stage of a long and successful career, like the career of Joachim Lang, it is fully justified to ask the question: did the science to which I have spent the best of my life-time make any progress after all? In the case of Joachim Lang, who has written extensively on issues of justice in taxation, this question boils down to the title of this contribution: has there been any progress in the theory or practice of fiscal justice? On its own justice in taxation is a subject requiring a substantial monograph. Therefore, in this paper, 101

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I will limit the exercise to the following four questions: (1) which ideas on fiscal justice were dominating the tax scene a generation ago, (2) how were these ideas implemented in the tax systems of the Western world, (3) how did the changes of increasing economic integration in Europe and globalisation worldwide impact this implementation of fiscal justice and (4) do we need some new principles to be able to continue to implement just tax systems in a global world? The starting point of my observations will be the ideas in two small books by two great masters whose teaching had a decisive influence on both our careers: Klaus Tipke1 for Joachim Lang and Boris Bittker2 for myself. Although the theme of Tipke’s booklet was fiscal justice in general, the emphasis on justice in taxation is most pronounced in income taxation and to a lesser extent in inheritance and wealth taxes. Although the concern for justice is also present in turn-over taxes, some consumption taxes and environmental levies, it is generally accepted that a just income tax is the cornerstone for justice in taxation „tout court“. Therefore this paper will concentrate on income tax. Within the income tax there is the formal aspect of equal enforcement which is required for the just application of all legal rules. But more specifically fiscal justice also sets conditions for the scope, the base and the rate of the tax. This last aspect of fiscal justice has been the subject of lively debate in the U.S. between Dean Galvin and Professor Bittker, and before that time with Walter Blum and Harry Kalven3. It is a question which has resurfaced several times: should income tax be progressive or should it be proportional with or without tax free threshold and if it is to be progressive, how progressive should it be? Before I start the discussion I would like to make two preliminary remarks. First, the discussion in the sixties and the seventies of the last century was largely confined to income, including capital gains tax, and sometimes extended to inheritance and wealth taxes. It also extended to discussions about including unrealised and imputed income into the tax base, but rarely dealt with the effects of social security contributions and benefits. Much has been written about the distinction between income taxes and social security contributions, but in my humble opinion a meaningful discussion about justice in taxation in the 21st century is incomplete without considering the impact of contributions and benefits of universal mandatory social security systems and tax privileges for non-mandatory health insurance, or savings- or pension systems. Second, in the old days the discussion was also largely confined to national taxation. Cross border aspects like double taxation of foreign source income for individuals were hardly discussed. Again the discussion, about justice

__________ 1 K. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, vom politischen Schlagwort zum Rechtsbegriff und zur praktischen Anwendung, Otto Schmidt Verlag, Köln 1981, written in honour of the 75th. anniversary of the Otto Schmidt Verlag. 2 Ch. O. Galvin, B. I. Bittker, The income tax how progressive should it be?, American Enterprise Institute for Public Policy Research, Washington D.C., 1969. 3 W. J. Blum, H. Kalven Jr., The Uneasy case for Progressive Income Taxation, 19 University of Chicago Law Review, 1952, p. 417.

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in taxation is incomplete, if we do not take into account the fact that the object of taxation may already have been taxed in another jurisdiction. Before coming to the question whether we need any new principles of fiscal justice we will first review the principles that were dominant at the start of Joachim Lang’s tax career. Then we will review trends in tax revenue, tax mix and tax structure in major industrial countries during Joachim Lang’s career and on this basis I hope finally to be able to answer the question whether there has been has been any progress in effectuating fiscal justice and whether now we have better ideas than forty years ago.

II. The principles of tax justice 1. The general framework of the principles of justice The general framework of the principles of fiscal justice, which had already been developed in the first half of the last century, before Bittker and Tipke entered the debate are summarised in an excellent way in the introductory chapters of Tipke/Lang4. First there are a number of principles of formal justice, which do not only apply to all taxes, but may also be applicable in other areas of law, such as the principles of legal certainty, legality, specificity, nonretroactivity, prohibition of analogous application and the legitimate trust in public authority5. These principles do not directly affect the scope, base or rate of a tax. There are also material principles of justice applying to taxes which form the basis for the justification of taxes6. These principles are the basis for the justification of imposing the levy by itself, but also the principles that justify the particular distribution of a particular tax burden. Several principles come here into play. 2. The budgetary principle The first and foremost function of a tax is to raise revenue for the government. This is of course the general justification for all taxes. To the extent that a country adheres to the rule of law7 the levying of taxes is of course justified8. However the need for public revenue is in itself not sufficient to provide full justification for the existence of a specific tax. The justification of a tax on the basis of the budgetary function can result into totally arbitrary taxation9. The way in which the tax is levied and in particular the way the tax burden is distributed over all taxpayers is decisive for the just character of the tax.

__________ 4 K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht, ein systematischer Grundriss, Otto Schmidt Verlag, Köln, 1991. 5 Tipke/Lang, Steuerrecht, p. 27. 6 L. Stevens, Fiscale fascinatie, fiscaal beleid, Wolters Kluwer Business, Deventer, 2006, no. 4.1, p.77. 7 Rechtsstaat. 8 K. Tipke, Steuergerechtigkeit, p. 56. 9 K. Tipke, Steuergerechtigkeit, p. 29.

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3. The principle of public benefit Although as a matter of principle tax is an obligatory contribution to the government without any ascertainable counterpart or direct consideration, the principle of public benefit10 justifies taxation on the basis that „in abstracto“ taxpayers benefit from government activities, like police, general administration, defence, public works etc. It is a bone of contention as to whether the value of these public services should be taken into account in the determination of the tax base. It is generally admitted that government services that in principle are for the benefit of everyone, even if not all taxpayers make effective use of these services, are an uncertain and therefore also an unjust yardstick for calculating the tax base. Hence they are not used to determine the tax base and in particular not used to calculate taxable income11: „… if the tax burden is to take account of the benefit received by the taxpayer, a measuring stick is required. Is anything more than intuition available?“12 When however the government provides services that specifically benefit an individual or certain groups of taxpayers, a compensating retribution on citizens using these services is in order covering all or part of the cost. The public benefit principle answers the questions whom and what to tax rather than how to tax. In the international context it is used to justify taxation of resident or national taxpayers, but also foreign taxpayers, who undertake economic activities in other countries than their country of residence or nationality. As a resident or a national they will indeed make use of the government services of their country of residence or nationality, but also in the country in which they are undertaking economic activities such as trading and industrial exploitation, even if the latter is not their country of residence. 4. The principle of equality and ability to pay The dominant principle of justice in the area of taxation is the principle of equality, which is a much wider principle than just a tax principle and which has been incorporated in many constitutions13 after the declarations of the

__________ 10 Das Äquivalenzprinzip. 11 W. J. Blum, H. Kalven Jr., The Uneasy Case for Progressive Income Taxation, 19 University if Chicago Law Review, 1952, p. 417 in which they cite John Stuart Mill, who argued that if government protection were to be withdrawn, those who would suffer most would be those who were weakest in mind or body, either by nature or by position. Therefore a tax system based on the taxpayer’s benefit would place the heaviest burdens on those least capable of carrying these burdens. Bittker turns this argument on its head by stating that the value of government protection is much more important for the wealthy than for the destitute: „If wealth is seen as dependent for its protection on the existence of a legal order, rather than an attribute of a man which antedates government and can be preserved by self-help, Mill’s argument collapses. What good are stock certificates or even deeds to real estate, in a society in which ownership depends on brute force?“, Galvin/Bittker, p. 49. 12 B. I. Bittker in Galvin/Bittker, p. 49. 13 Art. 3 GG in Germany.

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American14 and the French15 revolution. On the basis of this principle of equality many of the constitutional texts also included a specific tax provision prohibiting privileges or special status in taxation16. This prohibition of privileges in taxation points to extending the tax base as widely as possible and limiting exceptions for special categories of taxpayers or categories of income. The major expression of the principle of equality in taxation and in particular in income taxation has been the principle of the ability to pay, which also has explicitly been incorporated in several constitutions17. Even in countries where the principle of ability to pay has not been consecrated as a constitutional rule, this principle is the dominating standard for shaping the income tax system. This principle has also played a crucial role in the discussion on the shape of the tax rate and in particular in the choice between a proportional or a progressive tax rate. „Those who are familiar with the intellectual history of progression will recall that „ability to pay“, „payments in accords with benefits received“, „equality of sacrifice“ and „reduction of inequality are principles that with various refinements and in various combinations, have repeatedly been used to support progressive tax rates“18. Tipke however strongly disagreed with using the principle of ability to pay as an argument for progressive tax rates: „Der progressive Tarif ist kein Ausfluss des Leistungsfähigkeitsprinzips. Die gleichmäßige Anwendung dieses Prinzips führt zur Proportion, nicht zur Progression. Erst wenn das Sozialstaatsprinzip ins Spiel kommt, das in die Richtung „Jedem das Gleiche“ führt, kann man die Progression erklären. Die Progression ist nicht ein Akt – separat gesehener – Steuergerechtigkeit, sie ist vielmehr ungleiche Besteuerung; aber sie ist als ein Akt allgemeiner – über das

__________ 14 Opening statement of the American Declaration of Independence, 1776: „All men are created equal“. 15 Déclaration des Droits de l’Homme, 1789, art. 1. 16 Art. 112, now art. 172, of the Belgian constitution 1831;- Art. 101 Preußische Verfassung 31.1.1850: [1] „In Betreff Steuern können Bevorzugungen nicht eingeführt werden. [2] Die bestehende Steuergesetzgebung wird einer Revision unterworfen und dabei jede Bevorzugung abgeschafft“. 17 Tipke/Lang, Steuerrecht, p. 58 refers to the constitutions of France, Greece, Italy, Spain and Turkey; R. GOODE, The Individual Income Tax, Brookings Institution, Washington (1964), p. 17: „In regard to taxation capacity or ability to pay is the relevant aspect of equality and uniquality.“; W. Klein, Policy Analysis of the Federal Income Tax, Foundation Press, Mineola, New York, (1976), p. 5, 7: „In our tax system we have decided that equality refers to ability to pay …“. 18 B. Bittker in Galvin/Bittker, p.36; Progression in income tax as a consequence of the theory of marginal utility was already defended in de 19th century, see doctoral thesis of J. A. Cohen Stuart, Bijdrage tot de theorie der Progressieve Inkomstenbelasting (1889); see for the discussion between proponents and opponents of a progressive tax rate on the basis of the principle of ability to pay the doctoral thesis of L. Stevens, Belasting naar draagkracht, Kluwer-Samson, Deventer (1980), pp. 151–160 and pp. 179–183; a proponent of progressive tax rates on the basis of ability to pay was J. Van Houtte, Beginselen van het Belgisch belastingrecht, Sory-Scientia, GentLeuven (1979) at p. 27, nr. 25.

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Steuerrecht hinausgreifender – sozialer Gerechtigkeit gedacht und gerechtfertigt“19. However even long before the Reagan tax revolution there were already proponents of a system of a flat income tax. Arguing that a progressive rate system led into too much complexity and distortions, and that excessive progressivity was killing economic initiative, Dean Galvin pleaded for a broad tax base with a low flat rate and a tax free threshold, resulting in a slightly progressive average tax rate20. He rejected the principle of the ability to pay based on the doctrine of the proportional sacrifice: „Who is to say that a dollar which a member of an upper income group spends for investment or consumption is worth more or less than the dollar which a member of a lower-income group spends for the same purpose? By what criteria are these value judgements made? Who is to say what the curve of progressivity should be?“21. In practice the principle of the ability to pay has not always been applied with full rigour in real tax systems. There have been many exceptions and inconsistencies.22 It is not surprising that the conclusion by Blum and Kalven was that the case for a progressive tax rate was „uneasy“23. 5. The principle of redistribution of income The redistribution of income can only be considered as a real principle of taxation in the sense of changing the primary distribution of income in excistence before taxation. However, given the fact that the spontaneous distribution of income and wealth as it results from the market forces of supply and demand, is considered by many authors as too unequal and therefore unjust, the objective of changing that distribution of income and wealth has been used as a justification for a progressive tax rate24. Already Henry Simons stated that: „The case for drastic progression in taxation must be rested on the case against inequality – on the ethic and aesthetic judgement that the prevailing distribution of wealth and income reveals a degree (and/or kind) of inequality which is distinctly evil or unlovely“25. Tipke and Lang justify the progressive tax rate on

__________ 19 Tipke, Steuergerechtigkeit, p. 97, 98. Tipke refers to the book Public Finance in Theory and Practice, New York 1980, McGraw Hill, by R. A. Musgrave and P. B. Musgrave at p. 201: „… there is no ready basis on which to conclude whether equal absolute sacrifice calls for progression, not to speak of the proper degree of progression.“ 20 Ch. Galvin in Galvin/Bittker, p. 20–22. 21 Ch. Galvin in Galvin/Bittker, p. 15. 22 Stevens, no. 4.2.1. p. 79. See also the very different forms of implementation of the ability to pay principle in various national tax systems under nrs. IV.9 e.s. 23 W. J. Blum, H. Kalven Jr., The „Uneasy“ Case for Progressive Taxation, see note 11. 24 Tipke, Steuergerechtigkeit, p. 99: „Der progressive Tarif führt zu einer gewissen Umverteilung. Eine solche Umverteilung ist insoweit gerechtfertigt, als sie den Leistungswillen der progressiv Besteuerten nicht wesentlich schwächt, und die Umverteilung insb. denen zugute kommt, die nicht in der Lage sind, sich den erforderlichen Entfaltungsspielraum aus eigener Anstrengung zu verschaffen. 25 H. C. Simons, Personal Income Taxation, University of Chicago University Press, 1938, p. 18.

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the basis of the redistribution of income, which follows from the application of a progressive tax rate on the ground of what they call „das Sozialstaatsprinzip“26. Therefore redistribution of income and wealth has to be taken into account in shaping and income tax system. 6. The principle of social merit or utility Although they are sometimes listed as a norm27 which guides tax rules, social merit and utility are rather to be situated in the area of specific policy goals which the government is attempting to achieve by using the tax law as an instrument of social engineering. Tax rules are used as tools in order to achieve certain policy goals, which in the opinion of the lawmakers have a high social merit or utility. In most cases these policy goals could also be achieved by granting subsidies, but instead of providing direct cash subsidies, lawmakers often prefer to use indirect tax incentives28. However such policy objectives cannot be considered as material principles of just taxation. In many cases these tax incentives destroy the over-all material principles of justice like equality, ability to pay and social cohesion through redistribution. One pervasive example of tax incentives based on social utility are all the tax privileges related to environmental objectives. 7. Distribution according to need Distribution according to need is sometimes also used as a principle to determine justice in taxation. It is then often used as an argument for redistribution29 through taxation and for steeply progressive tax rates. However like with the principle of redistribution of income, the principle of distribution according to need, has one major drawback in that taxes by themselves do not provide citizens with income or subsidies, taxes only take income or wealth away. Whether these taxes will be spend in a way that effectively redistributes income or wealth and that effectively provide subsidies in accordance to need depends on the criteria used in distributing the money that has become public through taxation. I. e. when redistribution and distribution according to need are put forward as objectives of taxation, taxation is always to be considered in connection with the way public money is to be spent. Taxation on its own cannot guarantee redistribution or distribution in accordance with need.

__________ 26 Tipke/Lang, Steuerrecht, no. 3.5, p. 55. 27 Tipke/Lang, Steuerrecht, no. 3.322, p. 52, Sozialzwecknormen. 28 The budgetary costs of these tax incentives are listed in many countries in a inventory of tax expenditures, reflecting the fact that these costs can be considered to be the equivalent of cash subsidies. 29 Tipke, Steuergerechtigkeit, p. 18: „Da die Bedürfnisse und die Fähigkeit oder der Wille, diese Bedürfnisse durch eigene Leistungen zu befriedigen, oft erheblich auseinanderfallen, verlangt gleichmässige Befriedigung der Bedürfnisse nach Umverteilung von Einkommen und Vermögen.“

107

Frans Vanistendael

III. Trends in revenue and tax mix (1965–2005) 1. Trends in revenue The total revenue evolution during this period can be divided into two stages of each twenty years: 1965–1985 and 1985–2005. The figures show that there have been many more changes in the period 1965–1985 than in the period 1985–2005. Table I: Development of total tax revenue as a percentage of GDP has been as follows30:

United States

1965

1985

2005

24,7

25,6

27,3

Canada

25,7

32,5

33,4

Australia

21

28,3

30,8

Japan

18,2

27,4

27,4

OECD Europe

26,3

37,1

38

EU 15

27,7

39

39,7

During this period there was a very slow but steady revenue increase in the United States. The over-all share of public revenue in terms of percentage of GDP rose by 2,6 percentage points or somewhat more than 10 % in relative terms between 1965 and 2005. In the other major industrial countries there was a sharp rise in tax burdens expressed in percentage points of GDP in the first twenty years of the period and something close to a status quo during the last twenty years of the period. While by the end of the period Japan and the US were on par, the tax burden in the other countries was substantially higher. The difference with Europe was more than 10 percentage points of GDP! A similar pattern can be seen in the evolution of total tax revenue, excluding social security charges, during the same period31. Table II: Total tax revenue as percentage of GDP, excluding social security 1965

1985

2005

United States

21,4

19,1

20,6

Canada

24,3

28,1

28,4

Australia

21

28,3

30,8

Japan

14,3

19,1

17,3

OECD Europe

20,9

26

27,3

EU 15

21,5

26,9

28,6

__________ 30 Source OECD Revenue Statistics 1965 – 2007 (2008), Table 3, pp. 94–96. 31 Source: OECD Revenue Statistics 1965 – 2005, (2008), Table 4, p. 97.

108

Is fiscal justice progressing?

The United States follows its own course which is different from that of all other countries and in 2005 the over-all tax burden, excluding social security was less than it was 40 years ago. Canada, Australia and Europe all show the same pattern: robust revenue growth in the first half of the period and stagnation in the second half. Japan shows a loss of revenue, but unlike the U.S. does not revert to lower levels than 40 years ago. From these figures it can be concluded that the over-all tax-bite did not increase substantially over the last twenty years, after a substantial increase in the prior twenty year period outside the US. The question is what the causes were of these changes, or lack of changes and whether they had to do anything with the structure of national tax systems: changes in the tax mix or the rate and/or base structure. 2. Trends in the tax mix Except for Australia and the US, all countries considered had the same major sources of revenue: personal income tax, social security, corporate income tax, taxes on consumption (sales taxes, excises and VAT) and property taxes. The patterns of revenue development are shown in the tables below32. Table III: Personal income tax as percentage of GDP: 1965

1985

2005

United States

7,8

9,7

9,7

Canada

5,8

11,5

11,9

Australia

7,2

12,8

12,2

Japan

4

6,8

OECD Europe

7

10,1

EU 15

7,2

11

6 9,1 10,2

Table IV: Social security contributions as percentage of GDP: 1965

1985

2005

United States

3,3

6,4

6,7

Canada

1,4

4,4

5

Australia





Japan

4

8,3

10,1



OECD Europe

5,4

9,3

10,6

EU 15

6,2

10,7

11,1

__________ 32 Source: OECD Revenue Statistics 1965 – 2005, (2008) tables 10, 14, 20, 12, 24 and 22, pp. 100, 107.

109

Frans Vanistendael

Table V: Taxes on payroll and workforce as percentage of GDP:

United States

1965

1985

2005







Canada





0,7

Australia

0,7

1,3

1,4

Japan







OECD Europe

0,4

0,5

0,3

EU 15

0,4

0,5

0,4

Table VI: Corporate income tax as percentage of GDP: 1965

1985

2005

United States

4

1,9

3

Canada

3,8

2,7

3,5

Australia

3,4

2,6

6

Japan

4

5,7

4,2

OECD Europe

1,7

2,5

3,5

EU 15

1,9

2,4

3,3

Table VII: Taxes on goods and services as percentage of GDP:

United States Canada

1965

1985

2005

5,6

4,8

4,8

10,4

10,3

8,5

Australia

7,3

9,3

8,6

Japan

4,8

3,8

5,3

OECD Europe

10,3

11,4

12,1

EU 15

10,4

11,6

11,9

Table VIII: Taxes on property as percentage of GDP: 1965

1985

2005

United States

3,9

2,7

3,1

Canada

3,7

3

3,3

Australia

2,4

2,2

2,6

Japan

1,5

2,7

2,6

OECD Europe

1,7

1,5

1,8

EU 15

1,8

1,5

2,1

110

Is fiscal justice progressing?

These figures are the tale of some (very few) worldwide trends and quite a few substantial regional differences. The common worldwide trends are in personal income tax, social security and payroll taxes. There has been a substantial rise in revenue for all these taxes (payroll being mainly an Australian phenomenon) in all major world economies during the first 20 years of the period and a stabilisation during the last 20 years of the period. The stabilisation has been more outspoken in personal income tax, because social security has still been growing at a slower pace. These figures also explain the trends in over-all tax revenue worldwide, which show a similar trend. There are also a few stark regional contrasts: social security burdens are substantially lower in NorthAmerica and Australia compared to Europe and Japan. Japan has a very low contribution of personal income tax. Trends in other taxes are not worldwide. Corporate income tax declined in the middle of the period in North-America and Australia and the rose again and in a spectacular way in Australia. In Japan corporate income tax peaked in 1985 and then fell almost back to its position of forty years ago. In Europe revenue from corporate income rose steadily throughout the whole forty years period to North-American levels by the end of the period. Developments in this area are of course heavily determined by the share of corporate profits in GDP. Trends of taxes in goods and services are also hard to discern, probably because of different trends in different taxes making up the tax mix of taxes on goods and services. The statistics show two different trends for general consumption taxes like VAT and GST and specific consumption taxes. Revenue from general consumption taxes increased substantially33, while revenue from specific taxes like excises decreased for the whole OECD from 5,8 % in 1965 to 3,8 % in 200534. This confirms the reputation of VAT as an excellent revenue raiser and the gradual decline of excises. 3. Impact of the tax mix on the distribution of tax burdens During this period some major changes took place in national tax systems. Some of these changes can be seen as reflected in the revenue figures, while others apparently do not show up. The introduction of VAT replacing the old sales and turn-over taxes has resulted in a substantial increase of this tax as a percentage of GDP over the period. That increase can be traced in the revenue figures. The great rate slashing exercise in the personal income tax in the mid eighties under president Reagan in the US, followed by a worldwide trend in rate reduction did not result in a reduction of the relative position of personal income tax as a revenue raiser. It did stop the steady relative increase in reve-

__________ 33 Source: OECD Revenue Statistics 1965 – 2007 (2008): Table 28 at p. 109 indicates that the share of general consumption taxes between 1965 and 2005 rose from 4,7 % of GDP to 7,5 % of GDP in the EU 15 and from 1,5 % to 4, 1 % in Australia and in the OECD as a whole from 3,8 % to 6,8 %. 34 Source: OECD Revenu Statistics 1965 – 2007 (2008): Table 30 at p. 110.

111

Frans Vanistendael

nue, but base broadening in the personal income tax also prevented a deterioration of its quality as a revenue raiser. The same can be said of the competitive rate reductions in the corporate income tax. The EU 15 which have now statutory rates that are significantly lower than the US are raising more revenue from that tax than the US35. With respect to the distribution of tax burdens, the trends in the revenue mix do not lead to clear cut conclusions on the just distribution of tax burdens. If there is any conclusions that can be drawn from developments over the last forty years, it is (1) that personal income tax and social security have become more prominent as revenue raisers and therefore their impact on the distribution of burdens has increased, (2) the great exercise in rate reduction in the personal income tax has not affected its prominent position as a revenue raiser and its potential as an instrument of just distribution of income, (3) social security should be taken into account when assessing the over-all redistribution of income as being the main instrument of this redistribution, (4) the increase in VAT/GST is not of that magnitude as to reduce the importance of personal income tax and social security as instruments of just distribution of burdens and redistribution of income, and (5) on corporate income tax being a tax borne by the owners of capital, little can be said as to its fair share in the over-all burden, because the increase of corporate income tax as a percentage of GDP has its origin mainly in the increasing share of corporate profits in GDP. The over-all conclusion is that in order to assess the implementation of fiscal justice a more concrete and detailed look is necessary in the developments of systems of personal income tax and social security.

IV. Development in the structure of national income tax systems In the period under consideration developments in income tax can be characterised in two stages: a first stage which lasted roughly until the 1986 tax reform in the US under president Reagan, and which was characterised by taxation of all aggregate income at steeply progressive rates and various mechanisms to integrate corporate and personal income tax and a second stage, after the Reagan reform, which was characterised by a spectacular reduction of progressive income tax rates and a gradual disintegration of corporate and personal income tax and further from the late nineties onward by a fall of statutory corporate income tax rates, except for the US.

__________ 35 The adjusted statutory tax rate for the EU 16 was on average 28,4 %, which is substantially lower than the progressive US rate of up to 35 %. Source: Taxation Trends in the European Union (2009), Table II-2.1, at p. 66 and Global Corporate Tax Handbook, IBFD (2007), Amsterdam, United States nr. 1.6 tax rates.

112

Is fiscal justice progressing?

1. At the start: high progressive personal income tax on total aggregate income Until the eighties of the last century the model of personal income taxation was a steeply progressive tax on total worldwide aggregate income, regardless the category or the source of that income. Table IX: Top and bottom rates in progressive personal income tax 1975, number of brackets36 Top rate37

Bottom rate

Australia

65

20

6

Belgium

60 +

17

20

Denmark

40 +

14

3

France

60

5

12

Germany

56

22



Ireland

77

26

6

Italy

72

10

32

Japan

75 +

10

19

Netherlands

72

20

10

Norway

48 +

6

10

Spain

62

15

16

Sweden

56 +

7

10

United Kingdom

83

35

10

United States

70 +

14

25

Number of brackets

Taking into account the important part of regional and local income taxation in Scandinavia and the continuation of rate increases in the late seventies it is clear that as a rule the top rates for many industrial countries oscillated between 70 and 80 % of personal taxable income, with the U.K. as undisputed champion with a rate of 98 % on unearned income in the last year of the Callaghan government (1978–1979), preceding Margaret Thatcher. The country with the lowest marginal top rate was Germany, because in the German system the top rate of the personal income tax was related to the rate of the corporate income tax. Germany, at the time had the lowest top rate in personal income tax, but the highest rate in corporate income tax. It is also clear that

__________ 36 Source: K. Messere, Tax policy in OECD countries, IBFD Amsterdam (1993), p. 285, Table 10.15. 37 In several countries marked with + regional or local entities would impose surcharges. Typical surcharges would be: Belgium 7 %, Denmark 30 %, Norway 25 %, Sweden 31 % and Japan 5–16 %, United States 2–4 %. A few countries increased their rates in the late seventies: Belgium to 72 % plus surcharges, France to plus 70 %, Spain to 66 %. Luxembourg from 57 % in 1975 to 66 % in 1985.

113

Frans Vanistendael

the tension between tax rates in the highest and the lowest brackets generally was quite high at ratios of 5:1 and more. The number of brackets also indicates that the rate structure was often very complicated. 2. At the end: reduction in top rates and flattening of the rate structure The turn came with the advent of the Thatcher and Reagan administrations which slashed the top rates in the personal income tax in a dramatic way, a trend followed at some distance in other major Western economies. A new impetus on this movement in rate reduction was given by the advent of EastEuropean countries on the European scene. By the end of the period the rate structure of the personal income tax looked dramatically different from thirty years before, although revenue raised from personal income tax in terms of GDP did not decrease since the major tax reforms38. The rate structure of the personal income tax in 2005 looked much flatter. Table X: Top and bottom rates in personal income tax in 200539 Top rate

Bottom rate40

Number of Brackets

Australia

45

15 –

4

Belgium

50

25 +

5

Denmark

59

28 +

3

France

40 (2006)

Germany

42

15 –

4

Ireland

42

20 –

2

Italy

43

23 +

5

Japan

40 (2007)

5–

6

Netherlands

52

Norway Spain Sweden

5,5 +

4

33,65 +41

4

28 + 12

28 +

2

45

24 +

4

25 + 31,6

20 +

3

United Kingdom

40

10 –

3

United States

35

10 –

6

Bulgaria

24 (2007)

20

3

__________ 38 See Table X above. 39 Source: Structures of the taxation systems in the European Union (1995–2004), Eurostat 2006, p. 32, Graph I-4; Global Individual Tax handbook (2007), IBFD, Amsterdam. 40 The + or – indicate whether the bottom rate has increased or decreased since 1975. 41 The Netherlands is a special case, because in a tax reform in 1989–1990 social security contributions were incorporated in the lowest bracket of the rate structure, thereby increasing considerably the lowest tax rate.

114

Is fiscal justice progressing? Top rate

Bottom rate

Number of Brackets

Estonia

24

24

1

Hungary

36 (2006)

18

2

Poland

40

19

3

Slovakia

19

19

1

This table shows that the lowest rates in 1975 (Germany, 56 %) are close to the highest rates now (Denmark, 59 % and Sweden, 51,6 %). The rate structure has become very flat. With the exceptions of France and Japan, the highest ratio between the top and the bottom rate is in the U.K.: 4:1, while a number of countries (Bulgaria, Estonia, Hungary, Ireland, the Netherlands, Norway and the Slovak Republic are approaching or already applying flat rate systems. In fact the only country which has been able to widen the gap between the top and the bottom rate has been the U.K. It was 2,3:1 in 1975 and is now 4:1 in 2005! Even France and Japan have drastically reduced the number of brackets and the gap between the top and bottom rates. The top rates are only the most visible part of the story, affecting only a limited number of taxpayers. While top rates have been reduced across the board the trends in the bottom rates are contradictory. Many countries have increased (!) their bottom rates, but a sizeable number of countries have also reduced their bottom rates. This suggests that the distributive effects of the tax reform within various national tax systems may have been very different. Finally the rate structure does not tell everything. In assessing the distributive effect of the tax rate structure some countries take into account the tax unit, as the individual, the couple or the family. Germany has a splitting system, the hallmark of the French system is the „quotient familial“ and the US has special rates for singles, married individuals and heads of households. These systems have a major impact on the effective tax burdens of individuals. Generally speaking however, as the rate structure has become flatter and more proportional, the way in which the tax systems deals with family structures has become less important. The effective tax burden is finally determined by applying the tax rates to a tax base and the aggregate total tax base that was the main characteristic of most systems in 1975 has also been changed by successive tax reforms, with a profound impact on distribution effects of the tax burdens. 3. The role of the tax base in determining effective tax burdens The determination of the tax base has also great impact on the way tax rates operate and therefore impact on the ultimate effective tax burden of companies and individual taxpayers. There are too many different national rules determining the tax base so as to be able to discuss each of them specifically within the framework of this limited contribution. With respect to their impact on fiscal justice most of them should be considered of rather marginal 115

Frans Vanistendael

importance, because they consist of a never ending movement of some deductions here, or some credits there introduced as the result of continuous lobbying by specific interest groups. The over-all degree of fiscal justice however is more determined by the basic structure of the tax base and the way tax rules are implemented and applied by the tax administration. That last aspect of fiscal justice, however important, will not be dealt with in this contribution. The crucial mechanisms of a tax system determining the over-all tax burden can be summarised as follows: (1) the existence of an income tax for corporations separate from their owners, (2) the degree of integration of corporate income tax and individual income tax, (3) the definition of income on the basis of sources or schedules or on the basis of an all inclusive income concept and finally (4) the unit of taxation (family or individual) used in personal income tax. 4. The position of corporate income tax in the tax system By the time Joachim Lang started his career, in the early seventies, the issue whether income from business activities in legal entities should be taxed on behalf of the entity or of its owners practically had been settled. All major taxing powers had a corporate income tax in which income was taxed separately. Of course there were systems of incomplete legal entities which were treated as transparent for tax purposes with „flow through“ taxation in which income derived by the entity was taxed directly to its owners42. Also the question of the tax base for companies had been settled in that ordinary business or trading income would not only include income flowing from stable sources, but also any change in the value of the assets used in the business or trade. Although in common law countries the inclusion of capital gains and capital losses into the concept of ordinary business or trading income was not evident, most countries solved this problem by developing a specific concept of capital gains that was to be included in the corporate income tax base43. There was much more variety in the degree of integration of corporate income tax into personal income tax44. In the early seventies three major tax systems, the Netherlands, Sweden and the U.S. adhered to full double taxation of companies and individual shareholders. Japan followed that model quite closely by allowing only a minor tax credit of 10 %. When the United Kingdom introduced corporate income tax in 1965 it went for a full classical system, but moved to partial imputation in 1973. The outcome of these systems of double taxation was that the tax burden on dividends received by individuals was

__________ 42 H. J. Ault (ed.), Comparative income taxation, a structural analysis, Kluwer Law International, The Hague 1997, p. 285 and 354 e.s. 43 See R. Vann, General description: Australia, in Ault, Comparative income taxation, p. 9 and J. Tiley, General description: United Kingdom, in Ault, Comparative income taxation, p. 112 and 113; L. Burns and R. Krever, Chapter 16, Taxation of income from business and investment, in V. Thuronyi (ed.), Tax Law Design and Drafting, Kluwer Law International, The Hague, 2000, pp. 602–605. 44 Ault, Comparative income taxation, 1997, Table III pp. 352 and 353.

116

Is fiscal justice progressing?

higher than the tax burden on any other category of investment income, since dividends received were also subject to progressive income tax. Two countries, Australia and Germany were on the opposite side of the scale with full tax relief for distributed corporate profits. In Australia and Germany a conscious effort was made to keep the total tax burden on distributed profits (corporate income tax and dividend distribution tax) and the top progressive rate in the personal income tax in balance45. France provided also a relief system with the „avoir fiscal“, but the French tax credit covered only half of the corporate income tax. The result of these systems was that dividends were always taxed at the highest rate in the progressive rate scale for personal income tax. Again the tax burden on dividends was higher than on other investment income which was also subject to progressive income tax. Depending on the income position of the individual taxpayer such other investment income could fall in lower tax brackets. In between were tax systems of partial imputation with two variations: (a) imputation restricted to the corporate income tax effectively paid46, or (b) fixed imputation credits regardless of whether corporate income tax had been effectively paid47. Whether under these circumstances dividends were effectively reported and subjected to progressive individual income tax depended on a number of factors such as (a) the relationship in the rates of personal income tax and corporate income tax48, (b) the size of the tax credit in relation to the corporate income tax en (c) non structural factors such as investigation powers of the tax administration, the existence of registered shares and fiscal morality of taxpayers at large. 5. Global or schedular systems of income tax One feature of the tax system of decisive impact on the tax burden on various categories of income was the fact whether a country applied a schedular or a global system of individual income tax. The U.K. chose for a schedular system from the beginning and many of its former colonies and dependencies followed suit. The perceived advantage from the point of view of implementation was that the method of taxation could be adapted to the nature of each different category of income. The nature of such income was often determined by its source. From the point of view of fiscal justice the system had two major drawbacks: (1) some categories of income were not covered and escaped taxation altogether and (2) there was no over-all progressivity in the schedular system, because each separate category of income was often subject to a completely different rate structure, not taking into account the over-all ability to pay of the taxpayer.

__________

45 A. Rädler, General description: Germany, in Ault, Comparative income taxation, 1997, p. 58. 46 Ex. The U.K. advance corporation tax (ACT). 47 Ex. Belgium and Canada. 48 When personal income tax rates would be high at 70 or 80 % and corporate tax rates would be rather at 40 % levels, or when the tax credit would be minimal in relation to the corporate tax rate, the incentives to report the dividend, even with a tax credit attached, was of course not very high.

117

Frans Vanistendael

The champion of global income tax was and still is the U.S., with a very broad definition of „gross income“ including income from all sources and all accessions to wealth with only very few exclusions49. Such a system was thought to be more complex for implementation and administration, but it also reflected more the idea of ability to pay, because it resulted in one single measurement of all taxable income. By the early seventies many schedular systems had developed in the direction of global systems: (1) by extending the tax base through inclusion of a category of other or miscellaneous income not limited to income from a particular source and (2) by imposing a progressive tax on the aggregation of income from all schedules and/or sources. The only difference remaining was that in the schedular system deductions and losses were restricted to one particular category of income, while in the global system deductions had effect on all different items of income. The U.K., the mother of schedular taxation, was showing the example by introducing a graduated rate schedule, first as a separate surtax for higher income earners, and later in 1973 the two taxes were merged into a stiff progressive income tax with the infamous super rate of 98 % for the top of unearned income50. Many countries adherents of the schedular system followed the same route51. Some form of progressive taxation on aggregate income of all sources was the norm for industrial countries in the early seventies. 6. Taxation of capital gains There was one item on which tax systems still showed major differences and that was taxation of capital gains for individual taxpayers. For corporate income tax purposes capital gains were generally part of the tax base. The only remaining question was whether these gains should be taxed at the ordinary rate or at a special averaging or lower rate. For individuals however the situation was quite different. Tax developments in this field can be divided largely into two geographical areas: (1) the area of common law countries and/or countries following a schedular model like the U.K. plus the U.S. and (2) the area of civil law countries regardless whether they adhered to a schedular or a global tax system.

__________ 49 J. R. Repetti, General description: United States, in Ault, Comparative income taxation, 1997, p. 137. 50 J. Tiley, General description, United Kingdom, in Ault, Comparative income taxation 1997, p. 111. 51 Some schedular countries preceded the U.K. in their reform. Belgium which had copied in 1919 its schedular system from the U.K. on the basis of a report written during the war by the King’s secretary Jules Ingenbleek (La Justice dans l’Impôt, Paris 1918), immediately introduced a progressive supertax. In 1962 a general progressive individual income tax was established on the three schedular types of income (real property, income from capital and income from business, employment and professional activities) and a fourth category (miscellaneous income) was added. It consisted typically in an aggregation of net-income of the three sources, plus some adaptations at the level of aggregate income.

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Is fiscal justice progressing?

The situation of the common law countries is best characterised by the following citation: „The most influential concept of income existing in the law when income tax was introduced in the U.K. and Australia was the trust law concept of income. Trust law distinguishes between the capital beneficiary of the trust and the income beneficiary of the trust with the former being entitled to any increments in value of the property of the trust which generates its income. The influence of the trust law has been most apparent in the exclusion of capital gains from the basic concept of income in the U.K and Australia“52. As a result, traditionally, capital gains were excluded from the individual income tax base in common law countries, the big exception being the U.S., because the U.S. used the different concept of global income taxation. By the mid seventies however major common law countries had come to the conclusion that capital gains form part of the ability to pay and should be included in the tax base53. Development in civil law countries was different54. To the extent that they followed taxation in accordance of the source of income only flows of income were considered to be taxable, while the source itself was not subject of income tax. The exception were the Scandinavian countries which introduced capital gains taxes at an early stage55. Quite a few countries, without a system of general taxation of private capital gains, at the time applied annual net wealth taxes on capital, which also had been introduced at an early stage56. Typically these countries would tax „speculative“, short term capital gains, or capital gains from substantial shareholdings57, but not operate a comprehensive capital gains tax. The general conclusion on taxation of capital gains by individuals is that, contrary to almost universal progressive taxation of total income, taxation of private capital gains was not general, the main exceptions from general capital gains tax being localised in continental Europe. 7. The unit of taxation Another important element determining the over-all tax burden is the unit of taxation. In the early seventies, the debate on this issue was warming up considerably because many countries applying progressive income tax, were aggregating all income from spouses58 resulting in a system that was perceived as

__________

52 R. Vann, General Description: Australia, in Ault, Comparative income taxation, 1997, p. 9. 53 Australia 1980, Canada (partially) in 1972, Ireland in 1975 and the U.K. in 1965. 54 See Messere, Tax policy in OECD countries, 1993, Table 11.2 Forms of capital and capital gains taxation in OECD countries, at p. 293. 55 Denmark 1958, Finland 1920, Norway 1911, Sweden 1928. 56 Austria 1923, Germany 1923, Netherlands 1892. 57 Examples of taxation of speculative gains or gains from substantial shareholdings in the mid seventies: Belgium (partially), France, Germany and the Netherlands. France introduced capital gains tax in 1976 and has maintained it ever since. 58 Messere, Tax policy in OECD countries, Table 10.2 Tax units for earned income 1992 and changes since 1970, at p. 266. This table shows that in 1970 joint taxation was the system in the following countries: Austria, Belgium, Denmark, Finland, Iceland, Italy, Ireland, Netherlands, Sweden and the U.K.

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discriminating against married taxpayers and favouring singles and cohabitation59. This aggregation of spouse’s income resulted in sharply increasing tax burdens on married people in comparison to singles and unmarried couples at a time when income tax burdens were rising quite sharply due to bracket creep resulting from inflation and steep progressivity, while at the same time married women were participating in increasing numbers in the labour market. Some countries did not take into account marriage for income tax purposes and taxed earned income on an individual basis60. Finally the legislators of a few countries had perceived the problem and worked out various solutions consisting of income splitting61, different rate schedules62 to the famous „Quotient familial“ in France which still exists today. From this panoply of different systems it is clear that in spite of similar rate progressive schedules the effective tax burdens could be very different because of variations in the tax base and in the unit of taxation. 8. The impact of social security Social security contributions are the final element in the over-all tax burden. They represent the third largest source in revenue, after income taxes and consumption taxes. Table XI: Receipts of specific taxes as percentage of total taxation63 1965

1975

OECD

1985

1995

2005

(unweighted average)

Income/profits tax

34,7

37,1

36,9

35,3

35,1

Consumption tax

36,2

31,1

32,1

30,7

30,2

Social security

17,6

22

22,1

24,7

25,5

__________ 59 At the time there was considerable debate and research on this issue. See for the U.S.: O. Oldman & P. Temple, Comparative Analysis of the Taxation of Married Persons, Stanford Law Review (1960) p. 585: – see for the Netherlands: E. N. Kertzman, Belastinghefing van gehuwden en ongehuwden, Kluwer, Deventer 1979, pp. 256;- see for the U.K.: R. Kerrdige, Taxation and Marriage, Cambridge Law Journal, 47 (1), March 1988 p. 77;- see also a later „Gutachten“ by professor Lang in R. Parsche, M. Steinherr, J. Lang, Vermeidung von Schlechterstellunggen der Ehe gegenüber nichtehelicher Lebensgemeinschaften im Einkommensteuerrecht, Gutachten, InfoInstitut für Wirtschaftsforschung, Munich 1999, pp. 183. 60 Australia, Canada, Greece, Japan and New-Zealand. 61 Germany, Luxembourg and Portugal. 62 Norway, Switzerland and the U.S. 63 Source: OECD Revenue Statistics 1965–2007 (2008), Table composed on the basis of tables 9, 15 and 27, at pp. 99, 102 and 108. Social security statistics do not include payroll taxes, which in some countries are used to finance social security. Over the whole period such payroll taxes represent less than 1,5 % of total tax revenue in the OECD and the EU 15, see table 21 at p. 105.

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Is fiscal justice progressing? 1965

1975

1985

1995

2005

Income/profits tax

30,4

33

33,7

33,4

33,7

Consumption tax

36,4

30

30,2

29,7

28,8

Social security

22,7

28,6

28,9

29,5

28,4

EU 15

From this table it follows that, over the period under consideration, social security contributions have become a close third as revenue raiser. If only personal income tax is taken into account social security and payroll taxes now come in second place. This means that for the distributive effects of the tax burden social security contributions and payroll have the same relative importance as the personal income tax. Contrary to progressive income tax which only shifts income from private taxpayers to the public purse containing non-earmarked funds, social security is a system which collects revenue that is earmarked for certain benefits that are part of the system. Personal income tax may reduce income inequalities, but because its proceeds are for general spending there is no real subsidising effect to certain categories of beneficiaries. Social security however has the potential to redistribute income taken away from some contributors in order to give it to some other individuals who paid less, or even did not contribute to the system at all. Therefore the structure of the social security is of great importance for achieving fiscal justice. It is telling that in that part of the tax system that has the most impact on effective redistribution of income, the variations in the national systems are such that it is impossible to draw any systematic or geographic lines giving some insights in the objectives of these systems64. Some countries consider social security benefits as a public good, like education, defence and infrastructure and to the extent that such benefits should be provided by the government they should be financed out of general revenue. This view is often, but not always, connected with the idea that government provided social protection should be restricted to the minimum necessary. The other view is that social security should be considered as a collective insurance system, providing more than minimal protection that should be financed out of premiums, which cannot be put at the same level as taxes. In between there is a lot of variation, whereby some benefits are financed mainly out of general revenue and some others out of premium contributions. These confusing views on the objectives of the system are reflected in the ad hoc financing systems that can be found in many countries. The choices are (1) between earmarked contributions or general taxes, (2) between progressive rates for contributions as in some systems of payroll taxes or proportional or

__________

64 This diversity is illustrated in chapter 8 on Financing social security benefits in: Messere, Tax policy in OECD countries, 1993, pp. 167–184.

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flat rates, (3) between global rates for all benefits or schedular rates for various categories of benefits, (4) between a threshold for contributions or no threshold, (5) between a cap or ceiling for contributions or no ceiling, (6) between a contribution based on employment or business income, or on general income including investment income65, (7) benefits proportional to contributions or not proportional to contributions and in extreme cases benefits without contributions, (8) between benefits more or less proportional to income and the same benefits to all beneficiaries, (9) between mandatory and optional contributions, (10) between contributions that are tax deductible or benefit from a tax credit and contributions that are not or only partially deductible, (11) between means tested and not means tested benefits and finally (12) between systems with different categories of benefits. All these choices result in an untidy and opaque patchwork of national systems with one common characteristic: they totally obfuscate the clear social objectives to be achieved by these systems of social protection. As a result these systems can hardly be considered as the implementation of particular fundamental principles of fiscal or social justice. 9. Developments since 1989 The fall of the Berlin wall and the ensuing disintegration of the sovietcommunist system, the extension and the growing integration of the EU, the opening of China, and finally the IT revolution in communication have resulted in an irresistible movement of worldwide economic, social and political globalisation, with inevitable consequences for national tax systems. The first and very visible consequence has been a sharp increase in harmful and non-harmful tax competition. All kinds of special tax regimes were flourishing, the number of tax havens increased considerably and the statutory rates of ordinary corporate income tax were reduced in subsequent rounds of tax competition. The reduction in corporate tax rates made it increasingly difficult to maintain the balance between the corporate tax rate and the top rate in the progressive individual income tax. Imputation systems came under pressure66 and where possible individual taxpayers started to incorporate professional activities to benefit from lower corporate tax rates67. The downward movement of top rates in the progressive income tax continued as new countries joined the market system with very low top rates in personal income tax. These low rates were beneficial for the high income earners, but tax burdens for ordinary workers were hardly reduced a.o. because flat rate social security levies without thresholds and with ceilings remained almost unchanged and bottom rates in the tax scale went up in quite a number of

__________ 65 Example: CSG, the Cotisation Sociale Générale in France, applied to income from capital. 66 France abolished its famous « avoir fiscal » system and the U.K. abandoned ACT. 67 Final capitulation occurred in the U.S. when it agreed to the „check the box“ system, allowing taxpayers to choose whether or not to be taxed in the corporate income tax.

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Is fiscal justice progressing?

countries. This means that tax burdens on below average income in the EU was quite high68. Individual taxpayers discovered the joys of free moving capital, and started investing and collecting income abroad at low or non-existing rates in the source country, without reporting such income in their home countries. Effective tax burdens on income from capital went down69. Under the motto if you can’t beat them join them, countries abandoned progressive income tax on capital income and started introducing dual individual income tax systems in which earned income from business and employment was still taxed progressively, but income from capital (dividends, interests) was taxed proportionally or at a lower rates, or subjected to proportional and final withholding taxes. In 2008 this model has been followed in Australia, Austria, Belgium, Finland, Germany, Greece, Hungary, Italy, Poland, Portugal, Russia (only for dividends), Slovenia. A few countries now apply over-all flat tax rates for all categories of income, including income from capital even when taxed by way of final withholding tax: Bulgaria (10 %), Czech Republic (15 %), Romania (16 %) and Slovakia (19 %). The Netherlands has a special „box“ system, which in fact comes down to a schedular system with a flat rate for income from substantial shareholdings and income from private capital70. There are also a few countries still sticking to the ideal of progressive income taxation of all income including income from capital: Canada, France, Ireland, Spain, the U.K. and the U.S., but even in these countries there are all kinds of exemptions deductions and credits so as to lower the effective tax burden on income from capital. Japan has a mixed system in which domestic source interests and „small dividends“ are subject to final withholding tax, but other dividends and foreign source interest must be reported and subjected to progressive tax. Only New-Zealand still operates a system in which capital income of domestic sources is effectively taxed at the highest progressive rate when such income would not be reported71. If reported the lower brackets of the progressive rate also apply. As to the unit of taxation most countries which operated a joint assessment on aggregate income, moved to separate taxation of earned and unearned income of spouses, thereby demolishing also progressive taxation on investment income. The countries which applied various forms of splitting or family tax

__________ 68 For a single worker at two thirds average earnings the tax wedge varied between 38,9 % and 37,1 % from 2000 to 2007 in the EU-27, see Table II-3.3, Taxation Trends in the European Union, Eurostat 2009, at p. 85. 69 One of the major reasons for proposing the tax package with the EU interest-savings directive in 1996, was the widening gap between effective taxation of income from labour and income from capital. 70 A proportional tax of 30 % on an estimated return of 4 % on capital assets in box 3, regardless of the effective amount of income received. 71 All the information with respect to each of these countries originates in the nrs. 1.5 and 1.9 with respect to taxation of investment income and tax rates in the Global Individual Tax Handbook 2009, IBFD, Amsterdam.

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systems continued to apply those systems which generally also provided for joint taxation of unearned income72 The conclusion at the end of Joachim Lang’s career is that it is clear that there is no dominating model of income tax anymore and that current tax systems are a long way from the ideals of fiscal justice and the ability to pay, as they were perceived at the beginning of that same career. This situation can be explained however by the profound changes that have taken place in the position of national tax systems in the globalised economic environment and in the very different role which income taxes play in the economies of countries moving at very different levels of development. This raises the question of new principles of fiscal justice for this new century.

V. Looking for new priciples of fiscal justice 1. First a look at some old principles Before looking to new principles for fiscal justice we should first have a hard look at the old principles and find out whether they are still useful. We listed the old principles as follows: the budgetary principle, the principle of public benefit, equality and ability to pay, redistribution of income, principle of social merit or utility and distribution according to need. The budgetary principle remains unchanged, as raising revenue remains the main task of the tax administration, but this principle does not provide a useful indication as to the just distribution of burdens. We indicated that the principle of social merit and utility was not a structural principle of the tax system, because the judgements on social merit and utility can be better served by tax incentives. This leaves the secondary question whether certain incentives are in line with fiscal justice. Tax incentives are generally not considered as the best instruments to achieve fiscal justice. The principle of public benefit does not help to regulate the distribution of tax burdens either. It may be useful to determine what and who should be taxed in the international context. This leaves three distributive principles: the principle of equality and ability to pay, the redistribution of income and the distribution according to need. 2. Redistribution and distribution according to need The principles of redistribution and distribution according to need should be taken together, because distribution according to need is a particular type of redistribution. As stated above income tax in itself does not distribute income to taxpayers. At most it reduces somewhat the inequality in the income distribution. It only takes away income from the taxpayer to transfer it to the treasury. Effective redistribution of income from certain categories of taxpay-

__________ 72 See Table 10.2 tax units for earned and unearned income 1992, in Messere, Tax policy in OECD countries, 1993, p. 266.

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Is fiscal justice progressing?

ers to certain other categories of taxpayers depends on the spending side of the budget. Whether there is any redistribution on the spending side of the budget is difficult to measure, because the essence of a tax is that it is a payment for which there is no tangible counter-part for the taxpayer. Since government services are as a matter of principle freely available for anyone who needs those services, the distribution of government services is a distribution according to need. However, because these services fill a need, e.g. a negative ability to bear burdens, it is not logical to take the value of these services into account in order to determine the positive ability to bear tax burdens. Taxes can only be levied when there is a positive ability to bear financial burdens. The reasoning above is only valid for general government services, such as administration, police, courts, defence, free use of infra-structure, basic education and medical care. Specific subsidies are a different matter however73. Specific subsidies reduce the cost of certain goods or services, the use or acquisition of which is normally not free. Therefore such subsidies are often also part of the tax base in VAT as well as in income tax. Here the principle of social merit and utility comes into play. Specific subsidies are neither part of a general tax system, nor part of a general spending system. These subsidies benefit a limited number of citizens organised in pressure groups. Fiscal justice would demand that these subsidies are shaped in such a way that they do not violate principles of fiscal or social justice. For subsidies benefiting individuals this is often achieved in a rough and ready way by putting income caps or ceilings for the beneficiaries, or by distributing these subsidies on a means tested basis. When subsidies have the character of regular income supporting or income supplementing benefits, the question of redistribution and distribution according to need does become relevant. This is the case for income support provided out of general revenue and even more so when the subsidies are part of a system where beneficiaries are also contributing to the subsidy system, which is the case in most social security systems. The latter type subsidies correspond to the basic philosophy of social security stating that only contributors are entitled to benefits, although the benefit is not always commensurate with the contribution. This direct entitlement is the main reason why social security contributions are still considered not to constitute a tax. Many Western social security systems are in a crisis, because they are confused about their objectives as they originally developed as solidarity systems for certain organised social groups, such as trade unions, rather than as a solidarity system for society as a whole. This resulted in great confusion between universal and basic benefits and systems aimed at guaranteeing specific benefits or a certain level of income or standard of living and the many diverse ways of financing such systems. Those systems of social security which had the objective of financing income and standard of living supporting systems for

__________ 73 Example: subsidies for eco-investments, subsidies for arts and letters, subsidies for specific froms of R&D.

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everyone are now on the verge of bankruptcy, because contributions from labour are insufficient to finance income and standard of living supporting systems above the minimum level. Instead of reducing the benefits of those systems, general tax revenue is often used in an attempt to shore up the levels of these benefits. These systems cater to the middle class, rather than the underclass of society. Because the middle class represents the large majority of voters in Western democracies, it is very difficult to change a system which is rightly perceived as favouring that same middle class. The financial crisis in Western social security systems opens a window of opportunity to rethink the relationship between financing and spending in social security systems and therefore reviewing the whole redistribution mechanism. For the financing of support of income levels there are two main systems for redistribution: (1) the use of general revenue to support a universal but minimal amount of income that is accessible to all, who don’t dispose of any other means of subsistence, for whatever reason (illness or accident, unemployment, old age, or just plain laziness), (2) the use of earmarked contributions to maintain certain income levels in excess of this minimal amount of subsistence that bear some form of relationship to the prior income position of the contributor and which are only available to contributors to the system. This implies to ways of redistribution. The first way is that those who pay taxes finance the benefit of the minimum income for others who may or may not have paid taxes. In most cases those who pay taxes will never claim these benefits and in this way redistribution is effective. Benefits will be low, close to the minimum, because there is not enough revenue to support high kevels of income to everyone. Granting high levels of financial support, regardless of the cause of the need, would kill initiative and the drive to work. The second way of redistribution is within a real social insurance system. This system is only open to those who pay contributions. As a consequence the benefits are not universal and they are intended to maintain a certain standard of living that loosely relates to the income position of the contributor before the social risk materialised. However the benefits are not strictly proportional or commensurate with contributions, i. e. there is a clear redistribution from those with higher incomes to those with lower incomes within the system. The exact degree of redistribution for every individual participant may not be very clear, but the over-all mathematical parameters of such redistribution can be calculated. The system should also not be supported by general revenue, because that would mean (1) either that taxpayers who do not contribute in the system would pay without being entitled to benefits or (2) that people who did not contribute to the system would still be entitled to benefits. Experience in Western social security systems has shown that such systems which contain either „free contributors“ or „free riders“ cannot be policed and in the end run out of control. If contributions are insufficient to pay out the benefits, contributions should be increased or benefits should be decreased. The system should not burden the general budget.

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This system may however burden the budget indirectly. From a point of fiscal justice the question is whether contributions to such a „strict“ social security system should be tax deductible or not and if so how the tax deduction should be organised. When social contributions are tax deductible part of the burden is in fact borne by the general budget. The tax advantages of a tax deduction should not be underestimated. First there is the timing advantage of tax deferral. Most of the contributions are for deferred income which will be paid at a later moment in time (pension, unemployment, illness). On equal terms the tax saving on actual income now is nearly always larger than the discounted value of the tax burden on deferred benefits. Second and in particular in a progressive tax system there is the advantage of trading the present high rate against a future lower tax rate. Since the system by hypothesis is not universal, but only open to contributors, there is a strong argument not to allow any deduction for such social security contributions. However, in view of the high level of tax burdens in most countries74 a system of non-tax deductible social security contributions hardly seems to be practically feasible. Existing systems are tax deductible in practically all countries. In order to avoid inordinate burdens on general revenue, because of tax deductions for social security the level of maximal benefits should be restricted. Tax deduction of contributions can only be allowed when benefits are capped. Restriction of benefits is also a condition for effective redistribution. Contributions may or may not be capped, depending on the degree of redistribution a system wants to achieve. Benefits should be capped however, because otherwise there is almost no redistribution and a cap automatically leads to a restriction in the level of contributions. The way the tax deduction is structured is also important for redistribution purposes. In a progressive rate schedule a deduction from the base is beneficial to high income earners. Tax credits or a fixed rebate may be more beneficial to low income earners, but they result in secondary redistribution effects which are difficult to evaluate, because the whole cost of the contribution is not effectively taken into account for tax purposes. Most countries allow a deduction from the base for the general and mandatory social security contributions. 3. Equality and ability to pay Finally there are equality and ability to pay. In spite of all the criticism on ability to pay this principle has stayed on either as the expression of the principle of equality75 or on its own as a specific direct expression of fiscal jus-

__________ 74 The average tax wedge for a single worker a two thirds of average earnings, i. e. below average, in the EU 27 amounted to 37,1 % in 2007, Taxation Trends in the EU, Eurostat 2009, Table II-3.3, p. 85. 75 See sources cited in note 17.

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tice76. In tax debates at the political level it has often been used as an argument for a (steeply) progressive income tax. The question is however whether progressivity is the necessary consequence of the ability to pay. On that count there is a lot of scepticism. Boris Bittker, himself a staunch defender of progressivity, admitted at the time: „… I believe that in the choice of an income tax rate schedule, one cannot avoid, in the end, a decision that rests more on faith, personal preference, or fiat than on logic. I will pursue the road of rationality as far as I can trace its tracks; but for me, the final destination is not attained without wandering in the wilderness with only one’s soul for guidance“77. That sounds more like moral conviction than like hard economic evidence. Blum and Kalven express the same scepticism: „… there is still a popular idea that taxes should be levied in accordance with the respective abilities of taxpayers to pay. In fact it is not infrequently urged that ability to pay is the cardinal criterion of tax justice. Stated this briefly, ability to pay does furnish a slogan with emotive appeal to which almost everyone can subscribe. The difficulty, of course, is that the key phrase is so ambiguous that the slogan lacks any content“78. The main criticism against using the ability to pay principle as the theoretical foundation for a particular form of progressive rate scale lies in the difficulty to make the transition from theory to practice. The law of decreasing marginal utility and the theory of equality of marginal sacrifice has been all but abandoned because of problems of comparability of individual situations. The exact shape of the progressivity has been questioned, because there are no conclusive arguments to prefer one rate schedule over another. Even when progressivity is based on the premise of a more equal distribution of income it is difficult to determine an acceptable degree of equality. It is clear that perception and tolerance of society towards inequality may change over time79. This changing perception can also be observed since the Reagan and Thatcher revolutions in the U.S. and Europe in the form of an increasing acceptability of inequality. This perception has been translated in less progressive rate structures in personal income tax. Apart from the rate structure, the composition of the tax base is also of paramount importance. In its ideal form the tax base is comprehensive and includes all forms and categories of income. In that respect the factual situation

__________

76 BVerfGE 8, 51 pp., 68 p: „… im Bereich des Steuerrechts [würde] eine formale Gleichbehandlung von, Reich und Arm durch Anwendung desselben, Steuersatzes dem Gleichheitssatz widersprechen Hier verlangt die Gerechtigkeit, dass im Sinne der verhältnismässigen Gleichheit der wirtschaftlich Leistungsfähigere einen höheren Prozentsatz seines Einkommens als Steuer zu zahlen hat, als der wirtschaftlich Schwächere“. 77 B. Bittker in Galvin/Bittker, p. 28. 78 Blum/Kalven: The uneasy case for progressive taxation, University of Chicago Press (1963), p. 64. 79 Two extreme examples of radically changing attitude towards inequality can be found in economic and social developments in Russia and Eastern Europe after the fall of communism and in the P.R. of China after the opening up of the Chinese economy.

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in which progressive rates are to be applied has also been deteriorating. Due to globalisation and new communication techniques the tax base of income from capital has become much more mobile and therefore more difficult to apprehend in a comprehensive tax base. In many cases there has been no tax at all on capital income. These theoretical and factual developments point towards a less obsessive and a more detached attitude towards progression. In stead of being mesmerized by the details of a steep progression that is structured in many tax brackets, the new application, of the ability to pay principle and the drive for more social equality should concentrate on the essentials. These essentials can be formulated as new mix of principles of fiscal justice, which in part are the same like the old principles, but with a different emphasis and weight. 4. New mix of principles of fiscal justice The essentials of this new mix of principles are: (1) all income should be brought to charge, i. e. the tax base should be as wide as possible and tax should be effective: effective taxation of all income is more important than progressive taxation on part of the income, (2) the tax system should be robust so that alternative ways of earning income should be subject to the same or comparable tax burdens, (3) income below the level of subsistence should under no circumstance be subject to tax, (4) for the large majority of taxpayers a proportional rate structure is adequate, (5) an extra bracket in a progressive structure may be indicated for the very top taxpayers, provided that effective enforcement is possible, (6) redistribution is not the task of the tax system, but of social security and the subsidy system and (7) special rates or regimes may be indicated for windfall profits or special events that are generally perceived to disturb the social balance. It is clear that these principles do not dictate one single tax system or one single rate. They should rather be considered as guidelines in stead of mathematical rules. a) Effective taxation is more important than progressive taxation The first and foremost principle is that all income capable of paying taxes should be brought into the tax charge. The rate at which this income should be taxed is less important than the fact that it is effectively caught. Increasingly globalisation has made it possible to escape taxation. The tax competition between jurisdictions and the emphasis of taxation in the country of residence in OECD and EU policy documents and the rejection of source taxation have contributed to a de facto situation in which foreign source income of individuals is hardly taxed in the country of source, while it is difficult to catch in the country of residence. When a residence country is not in a position to effectively enforce its taxes on foreign source income, it is more important for fiscal justice that this income is taxed somewhere be it in the country of source, rather than that it is taxed nowhere.

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b) Robustness of the tax system The tax system should be robust enough, meaning that regardless of how the taxpayer organises himself to earn income the over-all tax burdens should remain comparable. This does not mean that under all circumstances the tax outcomes should be identical, but over-all tax arbitrage within the system should be restricted to a minimum. This has to do with the relationship between corporate and personal income tax for small and medium businesses. The over-all tax burdens of income from capital from companies and business income from sole proprietorships should be comparable. If there has to be a difference, capital income from companies should be taxed at a higher rate. Capital gains tax on the realisation of substantial shareholdings in companies is also a crucial element in maintaining the balance of burdens on income from capital. c) Total exemption of subsistence income This is a rule which is rather easy to enforce. Yet many tax systems do not follow this rule and tax income below the subsistence level. This is totally inadmissible and flies in the face of the ability to pay principle. In his original thesis Cohen Stuart makes the comparison with the technical capacity of a bridge to carry weight. The first condition for a bridge to carry weights is that it can carry its own weight, before it can bear any extra burdens. The effective bearing capacity of a bridge consists in its total bearing capacity minus the capacity to carry its own weight80. This points to the impossibility to tax income which the taxpayer needs for his own sustenance. This is also confirmed by Tipke who sees the exemption of a subsistence minimum as the expression of the principle that only net-income can be taxed81. This fundamental condition for any rate systems automatically results in a progressive rate system, when the tax threshold is combined with a proportional rate. d) Proportional tax rate for the majority of taxpayers Once the principle of a tax threshold is accepted there is no need for a strong progressivity for income in excess of he threshold. As already stated the progressivity does not redistribute income. It only flattens somewhat the income distribution. The question is whether it is absolutely necessary for reasons of fiscal justice to flatten the income distribution between low and medium income earners. In view of the uncertainty about which rate scales exactly do

__________ 80 A. J. Cohen Stuart, Bijdrage tot de theorie der progressieve belasting (1889), p. 39. 81 Tipke, Steuergerechtigkeit, p.96: „Das Leistungsfähigkeitspinzip verlangt aber nicht nur nach einem objektiven, sondern auch nach einem subjektiven Nettoprinzip.Was der Steuerpflichtige notwendigerweise für seine oder seiner Familie Existenz aufwenden muss, steht ihm zur Steuerzahlung nicht zur Verfügung, er muss es von der Bemessungsgrundlage abziehen können“.

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translate fiscal justice, it is advisable to catch the large majority of taxpayers at a proportional rate82. e) Progression only for top taxpayers A special progressive bracket for the highest category of income earners is justified. However the bracket should be calculated in such a way that only a small portion of taxpayers are subject to that rate. When progression is introduced it is essential that the tax can effectively be enforced. Better no progression than no enforcement. Progression without enforcement establishes an illusion of fiscal justice. f) No redistribution through the tax system As already stated before a progressive tax system in itself does not lead to redistribution. It only leads a more equal distribution of income. The real redistribution should be left to the social security system and to subsidies. g) Special rates for special circumstances When the rate structure consist of a tax threshold and a proportional rate without any progression, it may be necessary to provide for special rates for special circumstances. Such special circumstances may be events which result in windfalls such as speculative gains, or outsized remuneration or bonuses83 which are perceived as unfair. However rather than having to introduce special rates or special taxes on specific occasion, it is preferable to apply one single higher rate as a kind of progression which will catch all higher incomes, also those which are due to special circumstances. Special taxes introduced just for the occasion risk to be totally arbitrary. A structural super top rate for progression may also be arbitrary, but at least it is an arbitrariness that the top taxpayer can foresee, while occasional levies cannot be foreseen.

VI. Conclusion Is there a conclusion to be drawn from this study? Perhaps this one: that there has been very little progression in fiscal justice. The principles on which fiscal justice continues to be founded at the close of Joachim Lang’s career did not change very much since the beginning his career forty years ago. There are some changes however. Experience has taught us, tax professors, to be more modest in our scientific claims and arguments when speaking about fiscal jus-

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82 When the rate is a mathematical formula like in Germany it is possible to apply a slow progression. Such a mathematical formula does have the disadvantage however to obscure the effective tax rate to the taxpayer, who generally is unable to envisage his effective tax burden. 83 See the proposals for special taxes on bonuses in the financial industry in several countries after the financial crisis.

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tice in general and about tax rates and tax bases in particular. Most of the basic principles on equality and fiscal justice are still valid, but in applying them we should only use the broad brush and not the fine pencil. Also the social perception of the same principle may change over time and tax systems should adapt to these changes in perception. It is obvious that today we have a different view on the application of the principle of equality than our predecessors had in the middle of the 18th or even the 19th century. Even though the view on equality and fiscal justice in taxation may not have changed so much during Joachim Lang’s career, there have been shifts to which we should adapt and which require reconsideration of tax systems by every generation of tax professors.

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Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung Inhaltsübersicht I. Joachim Lang und das Nutzenprinzip II. Zum Inhalt des Nutzenprinzips 1. Das Äquivalenz- und Nutzenprinzip in der Finanzwissenschaft 2. Individual- und Gruppenäquivalenz 3. Kosten- und Nutzenäquivalenz 4. Das Äquivalenzprinzip in der Rechtsprechung 5. Das Äquivalenzprinzip im rechtswissenschaftlichen Schrifttum III. Bedeutung des Nutzenprinzips für die Rechtfertigung und Ausgestaltung von Steuern 1. Allgemeine Steuerrechtfertigung 2. Rechtfertigung einzelner Steuerarten a) Stand der Diskussion b) Haupteinwände gegen eine äquivalenztheoretische Rechtfertigung einzelner Steuern/ Bemessungsgrundlagen aa) Das Wesen der Steuer als gegenleistungslose Gemeinlast bb) Bedeutung der Verwendung des Steueraufkommens für eine äquivalenztheoretische Rechtfertigung, insb. Äquivalenzprinzip und Umverteilung 3. Ausgestaltung einzelner Steuern – Aussagegehalt des benefit principle für die Auswahl der Steuergegen-

stände, Bemessungsgrundlage und Tarif a) Indikator des Nutzens staatlicher Leistung b) Unterscheidung zwischen „Generalsteuern“ und „Sondersteuern“ c) Einkommensteuer d) Unternehmensbesteuerung e) Kommunalsteuern aa) Besonderheit: Größere Nähebeziehung zwischen Zensiten und Abgabengläubiger bb) Gewerbesteuer cc) Grundsteuer f) Indirekte Steuern/Verbrauchsteuern aa) Allgemeine Verbrauchsbesteuerung durch die Umsatzsteuer bb) Besondere Verbrauchsteuern mit Lenkungszweck 4. Territoriale Abgrenzung der Steuerjurisdiktionen a) Äquivalenztheoretische Grundlage der internationalen Verteilungsgrundsätze b) Kommunale Steuerhoheit, Gewerbesteuerzerlegung und Finanzausgleich IV. Das Verhältnis des Äquivalenzprinzips zum Leistungsfähigkeitsprinzip V. Fazit

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I. Joachim Lang und das Nutzenprinzip Joachim Langs wissenschaftliches Schaffen war und ist der Erforschung und Verteidigung des Leistungsfähigkeitsprinzips gewidmet1. In seiner Habilitation hat er bis heute gültige „Rechtssystematische Grundlagen der steuerlichen Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht“2 gelegt. In der 20. Aufl. des Tipke/Lang prangert er erneut mit unverminderter Schärfe die allgegenwärtigen Verletzungen des Nettoprinzips als Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip3 an. Insofern ist er völlig unverdächtig, dem Leistungsfähigkeitsprinzip die Rolle als Leitprinzip des Steuerrechts abzusprechen. Dennoch wendet sich Joachim Lang in der jüngsten Auflage des Lehrbuchs verstärkt auch dem Äquivalenzprinzip zu4. Sein jüngst erwachtes Interesse am Äquivalenzprinzip ist indes nicht von der Intention einer Verdrängung, sondern der Ergänzung des Leistungsfähigkeitsprinzips getragen: Das Leistungsfähigkeitsprinzip werde „komplementär ergänzt“ durch das finanzwissenschaftlich präferierte Äquivalenzprinzip“5. Dabei möchte Joachim Lang statt vom Äquivalenzprinzip lieber vom Nutzenprinzip („benefit principle“; „principio de beneficio“) sprechen, um deutlich zu machen, dass es nicht um eine Abgeltung von Kosten staatlicher Leistungen, sondern um die Abschöpfung des aus staatlichen Leistungen gezogenen Nutzens geht. Die Folgerungen sind weitreichend. Während dem Äquivalenzprinzip in den Vorauflagen des Lehrbuchs Tipke/Lang für die „Generalsteuern“ wie Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer etc. jede Bedeutung abgesprochen wurde, weil diese Steuern „nicht auf bestimmte Nutzergruppen bezogen seien“6, erkennt Joachim Lang nunmehr sowohl für die indirekten als auch für die direkten Steuern eine nutzentheoretische Rechtfertigungsmöglichkeit7. Indirekte Steuern auf den Konsum seien sogar „vornehmlich nutzentheoretisch gerechtfertigt“. Sie seien „der Preis für staatliche Ordnung und Sicherheit, die der Konsument in Anspruch nimmt“. Je spezieller die indirekte Konsumsteuer, desto deutlicher werde ihr nutzentheoretischer Charakter. Umweltsteuern könnten als Preis für die Nutzung von Umweltgütern, gesundheitsbezogene Steuern als Abgeltung zusätzlicher Kosten, die Raucher und

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1 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 81 ff.; s. ferner z. B. aus jüngerer Zeit die Grundlagenbeiträge J. Lang, Der Stellenwert des objektiven Nettoprinzips im deutschen Einkommensteuerrecht, StuW 2007, 3 ff.; J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS für H. W. Kruse, Köln 2001, S. 313 ff. 2 So der Untertitel zu J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., Köln 1988. 3 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 8 Rz. 91 ff. 4 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 86 ff.; Siehe auch schon J. Lang in FS für Harald Schaumburg, Köln 2009, S. 45 (47 f., 64). 5 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 86; J. Lang in FS für Harald Schaumburg, Köln 2009, S. 45 (47): „sachgerechte Kombination“ von Leistungsfähigkeits- und Nutzenprinzip. 6 Bis zur 19. Aufl., vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., Köln 2008, § 4 Rz. 88. 7 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 87.

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Trinker dem Gesundheitswesen verursachen, verstanden werden8. Neu ist die Erstreckung der Aussagen auf die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer. Darüber hinaus lasse sich das Nutzenprinzip aber auch für direkte Steuern wie die Einkommensteuer fruchtbar machen. Mit Paul Kirchhof erwägt Joachim Lang die Möglichkeit, den progressiven Einkommensteuertarif nutzentheoretisch mit der „überproportionalen Teilhabe des Einkommensbeziehers an den von der Rechtsgemeinschaft bereitgestellten Erwerbschancen“9 zu begründen10. Die Notwendigkeit eines Wandels in der Bewertung des Äquivalenzprinzips für die Steuerrechtfertigung wird auf den Wettbewerb der Steuersysteme und die Zunahme von Fragen territorialer Zuordnung von Vermögen, Betriebsstätten, Umsätzen usw. zurückgeführt. Diese werde traditionell auf der Grundlage des Nutzenprinzips vorgenommen11. Dennoch bleibt der Vorstoß zugunsten des Nutzenprinzips insgesamt vorsichtig formuliert und wird letztlich deutlich relativiert, indem Joachim Lang noch einmal die Dominanz des Leistungsfähigkeitsprinzips als Maßstab für Steuergerechtigkeit betont12. Für die direkten Steuern fordert er auch und gerade in Anbetracht des Vordringens der indirekten Steuern eine umso striktere Ausrichtung am Leistungsfähigkeitsprinzip. Mit diesem Beitrag soll der Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung beleuchtet werden. Taugt das Äquivalenzprinzip zu mehr als zu einer allgemeinen Rechtfertigung des Steuerstaates? Welche Aussagen lassen sich für die Rechtfertigung einzelner Steuern, für die Ausgestaltung von Bemessungsgrundlage und Tarif gewinnen? Wie verlässlich sind die Schlussfolgerungen für die territoriale Zuordnung von Besteuerungsrechten?

II. Zum Inhalt des Nutzenprinzips 1. Das Äquivalenz- und Nutzenprinzip in der Finanzwissenschaft Während das Leistungsfähigkeitsprinzip auf dem Opfergedanken beruht, liegt dem Äquivalenzprinzip der Austauschgedanke zugrunde. Einnahmen- und

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8 Letzeres entspricht allerdings wieder eher dem Kostentragungs- statt dem Nutzengedanken. 9 So P. Kirchhof in Besteuerung im Verfassungsstaat, Tübingen 2000, S. 53. 10 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 87. Ähnlich B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 214 f. Gleichzeitig kritisiert Lang den nutzentheoretischen Ansatz aber, weil „die Einkommensteuer ihren Charakter als Leistungsfähigkeitsteuer verliere, wenn die mit dem Nutzen der Teilhabe am Markt gerechtfertigt werde“ (J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 8 Rz. 31). 11 Ebenso A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 62; ähnlich W. Schäfer, Schattenwirtschaft, Äquivalenzprinzip und Wirtschaftspolitik, Diskussionspapier Nr. 46, Januar 2006, Fächergruppe Volkswirtschaftslehre der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg, S. 5 Fn. 4; zweifelnd hinsichtlich der Verwirklichung einer am Leistungsfähigkeitsprinzip orientierten, verfassungsdirigierten Steuergesetzgebung im Staatenwettbewerb auch U. Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit, JZ 2007, 749 (753 ff.). 12 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 88.

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Ausgabenseite werden miteinander verknüpft13. Dies dient aus Sicht der Finanzwissenschaft einer effektiven Ressourcenallokation14. Der Staat wird nur die Güter bereitstellen, für die der Nutzer bezahlt (Effizienzgedanke)15. Aus demokratietheoretischer Sicht hat dies den Vorteil, dass die zur Finanzierung herangezogenen Zahler über die Mittelverwendung und damit auch das Ausmaß der Belastung unmittelbarer mitentscheiden können16. Dieser Aspekt wird verstärkt, wenn Staatswesen oder Kommunen miteinander in Wettbewerb stehen, so dass der Nutzer zwischen unterschiedlichen Leistungspaketen wählen kann. Darüber hinaus wohnt dem Äquivalenzprinzip auch ein Gerechtigkeitsgedanke inne. Nur derjenige, der einen Nutzen zieht, muss zahlen. Gezahlt werden muss nur für den individuell in Anspruch genommenen Vorteil. Einer Stärkung der Äquivalenzbeziehung zwischen Staatsleistungen und privatem Finanzierungsbeitrag wird daher ein positiver Effekt auf die Steuermoral zugeschrieben und damit ein Rückgang der Schattenwirtschaft17. Schließlich ist es vor allem die Gegenleistungslosigkeit der Steuer, die ihr Akzeptanzproblem begründet. 2. Individual- und Gruppenäquivalenz Voraussetzung für die äquivalenztheoretische Rechtfertigung von Abgaben ist allerdings gegenüber einer rein auf Leistungsfähigkeit basierenden Heranziehung eine irgendwie geartete Nähebezeichnung zwischen Abgabenschuldner und Staat. Der Abgabenschuldner muss von der Allgemeinheit unterscheidbar sein, um ihm eine besondere Finanzierungsverantwortlichkeit anzulasten. In seiner engsten Fassung fordert das Äquivalenzprinzip die individuelle Zuordnung der Kosten für die vom Einzelnen in Anspruch genommenen staatlichen Leistungen. Man spricht von Individual(kosten)äquivalenz18. Sie lässt sich grundsätzlich nur im Gebühren- und Beitragsrecht verwirklichen.

__________ 13 C. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 7. Aufl., München 2008, S. 176. B. Hansjürgens, Allokative Begründung des Äquivalenzprinzips: Mehr Effizienz im politischen Prozess, List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik Bd. 24, BadenBaden 1998, S. 307 sieht hierin einen zentralen Vorteil gegenüber einer Ausgestaltung des Steuersystems nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip oder nach der Optimalsteuertheorie, die zur Verausgabung der Mittel keine Aussagen enthalten. 14 Hierzu B. Hansjürgens, Allokative Begründung des Äquivalenzprinzips: Mehr Effizienz im politischen Prozess, List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik Bd. 24, Baden-Baden 1998, S. 307 ff. 15 H. Hanusch, Äquivalenzprinzip und kollektive Güter. Allokationstheoretische Aspekte, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121, Berlin 1981, S. 39. 16 Dazu B. Hansjürgens, Allokative Begründung des Äquivalenzprinzips: Mehr Effizienz im politischen Prozess, List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik Bd. 24 (BadenBaden 1998), S. 307 (310 ff.). 17 W. Schäfer, Schattenwirtschaft, Äquivalenzprinzip und Wirtschaftspolitik, Diskussionspapier Nr. 46, Januar 2006, Fächergruppe Volkswirtschaftslehre der HelmutSchmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg, S. 4 ff. 18 Zur Begrifflichkeit K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl., Köln 2000, S. 476.

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Auch wenn der Übergang vom Steuer- zum Gebührenstaat immer wieder diskutiert19 und eine stärker nutzenorientierte Kostenanlastung gefordert wird, stößt eine derartige direkt-individuelle Abrechnung von Kosten bzw. Sondernutzen verhältnismäßig schnell an ihre Grenzen. Dies hat zum einen praktische Gründe, weil die Einzelabrechnung staatlicher Leistungen mit erheblichem Erhebungsaufwand einhergeht, zum anderen politische, weil öffentliche Güter vielfach auch solchen Nutzern zugutekommen sollen, die nicht in der Lage sind, hierfür einen marktmäßigen Preis zu entrichten20. Es verbleibt ein großer Rest staatlicher Leistungen, die einer Finanzierung durch Vorzugslasten und damit der Verwirklichung von Individualäquivalenz nicht zugänglich sind. Bei allen anderen Abgabeformen, namentlich Steuern, kann es nur um die Verwirklichung von Gruppenäquivalenz gehen, indem einer von der Allgemeinheit unterscheidbaren Gruppe bestimmte Kosten bzw. die Inanspruchnahme spezieller Vorteile zugeordnet werden, die dann unabhängig von der individuellen Kostenverursachung und der konkreten Nutzung allen Gruppenmitgliedern auferlegt werden21, ohne dass hiermit bereits etwas über die Verteilung innerhalb der Gruppe ausgesagt wäre. Je weiter die Gruppe (alle Staatsangehörigen) gefasst wird, desto näher ist man der allgemeinen Steuerrechtfertigung22, die Klaus Tipke zur besseren Unterscheidung als „Generaläquivalenz“ bezeichnet23. 3. Kosten- und Nutzenäquivalenz Noch nicht geklärt ist damit, ob die Verbindung zwischen staatlicher Leistung und Abgabe anhand eines Kosten- oder Nutzenmaßstabs herzustellen ist24. Unter anderem auf Heinz Haller ist die Unterscheidung zwischen marktmäßiger Äquivalenz und kostenmäßiger Äquivalenz zurückzuführen25. Während bei letzterer Maßstab der Abgabenbemessung die staatlicherseits aufgewendeten Kosten sind, liegt der marktmäßigen Äquivalenz der Gedanke von an den

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19 Zu den Grenzen der Finanzierung durch Vorzugslasten vgl. Sacksofsky/Wieland, Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, Baden-Baden 2000; P. Helbig, Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, DVBl. 1999, 688 ff.; positiver U. Siegenthaler, Vom Leistungsfähigkeitsprinzip zum Äquivalenzprinzip. Erhöhte Transparenz und Effizienz bei der Finanzierung von Staatsaufgaben – mit einem Zahlenbeispiel für die Schweiz, Luzern 1977. 20 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 22 f. 21 Zur Figur der Gruppenäquivalenz z. B. A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 97; aus finanzwissenschaftlicher Sicht B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 204; H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 13. 22 Dazu unten III.1. 23 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl., Köln 2000, S. 476. 24 Zu dieser Differenzierung z. B. H.-P. Bär, Probleme äquivalenzorientierte Prämienbemessung am Beispiel der obligatorischen Unfallversicherung, Zürich 1994, S. 46 ff.; W. Pfähler, Normative Theorie der fiskalischen Besteuerung, Frankfurt a. M. 1977, S. 150 ff., 159; vgl. ferner J. Isenseee, Äquivalenz, Kostenausgleich, Verbandssolidarität im Abgabenrecht, in Gedächtnisschrift für W. K. Geck, Köln u. a. 1989, S. 355 (386), der statt vom Nutzen- vom Leistungsmaßstab spricht. 25 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 13 f.

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Präferenzen der Leistungsnutzer bemessenen Marktpreisen zugrunde, die folglich von den Kosten der Leistungserstellung abweichen können26. Bepreist wird die Nutzenziehung. Diese marktmäßige Äquivalenz wird in der englischsprachigen Literatur als „benefit principle“ diskutiert27. In der jüngeren finanzwissenschaftlichen Diskussion dominiert das nutzentheoretische Verständnis28, auch wenn der Praktikabilität des Nutzenäquivalents Skepsis entgegengebracht wird. Der individuelle Nutzen (Vorteil) sowie die Präferenzen der Nutzer variierten und seien für die Finanzverwaltung nicht unmittelbar messbar29. Die Nutzer seien versucht, ihre Präferenzen nicht offenzulegen. Diesen Bedenken ist entgegenzuhalten, dass sich der Nutzen zumindest indirekt am erwirtschafteten Erfolg misst. Es mag sein, dass der Einzelne den Anteil der staatlichen Rahmenbedingungen und den Anteil seines eigenen Einsatzes am Erfolg unterschiedlich bewertet und sich hieraus unterschiedliche Präferenzen ergeben. Doch ebenso wie individuelle Konsumneigungen in der Opfertheorie ausgeblendet werden, können derartige individuelle Nutzenpräferenzen im Rahmen der Nutzentheorie außer Betracht bleiben30. 4. Das Äquivalenzprinzip in der Rechtsprechung Das BVerfG zieht den Äquivalenzgedanken ebenfalls in doppelter Ausprägung heran, sowohl als Kostenabgeltung als auch als Vorteilsabschöpfung. Sieht

__________ 26 So definieren Buchholz/Peters, Justifying the Lindahl solution as an outcome of fair cooperation, Public Choice Bd. 133 (2007), S. 157 (158), den Inhalt des benefit principle wie folgt: „everyone should pay for a public good according to his marginal willingness to pay“. H. Hanusch, Äquivalenzprinzip und kollektive Güter, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121 (Berlin 1981), S. 39, weist allerdings darauf hin, dass bei einer nach den Gesetzen der Marktwirtschaft funktionierenden Preisbildung Kosten- und Nutzenäquivalenz zusammenfallen müssen. Dem ist zuzustimmen für die aufgewandten Kosten als Untergrenze des Preises für die staatliche Leistung. Stellt der Staat genau die richtige Menge kollektiver Güter zu effizienten Preisen zur Verfügung, wird der Nutzer grundsätzlich bereit sein, die Kosten dafür zu tragen. Ein Nutzenmaßstab müsste aber in der Lage sein, auch über die staatlicherseits aufgewendeten Kosten hinausgehende Preise zu rechtfertigen. 27 H. Hanusch, Äquivalenzprinzip und kollektive Güter. Allokationstheoretische Aspekte, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121 (Berlin 1981), S. 39. 28 S. insb. Buchholz/Peters, Justifying the Lindahl solution as an outcome of fair cooperation, Public Choice Bd. 133 (2007), S. 157 ff.; J. R. Hines Jr., What is benefit taxation?, Journal of Public Economics Bd. 75, Amsterdam u. a. 2000, S. 483 ff. 29 Wala/Knoll, ÖStZ 2001, 295 (296); H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 18 f.; D. Wellisch, Finanzwissenschaft II, Theorie der Besteuerung, München 2000, S. 38 ff.; ebenso A. Musil, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Gebühren im Steuerstaat, in FS für J. Isenseee, Heidelberg 2007, S. 929 (940). 30 In ähnlicher Weise findet sich im neueren finanzwissenschaftlichen Schrifttum der Versuch, einen linearen Einheitspreis als optimal zur Verwirklichung des benefit principle nachzuweisen, J. R. Hines Jr., What is benefit taxation?, Journal of Public Economics Bd. 75, Amsterdam u. a. 2000, S. 483 (486 ff.); Buchholz/Peters, Justifying the Lindahl solution as an outcome of fair cooperation, Public Choice Bd. 133, 2007, S. 157 ff.

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Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung

man von der jüngsten Entscheidung zur Gewerbesteuer ab31, handelt es sich dabei um Judikate auf dem Gebiet der nichtsteuerlichen Abgaben, primär des Gebühren- und Beitragsrechts. Dabei räumt das Gericht dem Gesetzgeber bemerkenswert weite Gestaltungsspielräume ein. Ohne erkennbares Rangverhältnis werden für die Festlegung der Gebührenhöhe den Zwecken der Kostendeckung und des Vorteilsausgleichs Lenkungsinteressen und soziale Zwecke zur Seite gestellt32. Erst wenn sich der Gesetzgeber durch Abfassung des Gebührentatbestandes auf einen bestimmten Gebührenzweck festgelegt hat, hält das Gericht ihn hieran fest. Eine Berufung auf weitere unbenannte Gebührenzwecke ist in diesem Fall ausgeschlossen33. Welchem Aspekt des Äquivalenzprinzips der Vorrang eingeräumt wird, hängt auch innerhalb der nichtsteuerlichen Abgaben mit dem Abgabentypus zusammen. Bei der Bemessung von Verwaltungsgebühren wird vorwiegend auf das Prinzip der Kostenäquivalenz rekurriert. Es schlägt sich vor allem im Kostendeckungsprinzip als Gebührenobergrenze nieder34. Mit Gebühren werde regelmäßig die besondere Zweckbestimmung verfolgt, Einnahmen zu erzielen, um spezielle Kosten der individuell zurechenbaren öffentlichen Leistung ganz oder teilweise zu decken35. Eine exakte Kosten(zu)rechnung36 wird dem Gesetzgeber allerdings nicht abverlangt. Äußerste Grenzen lassen sich jedoch z. B. in der BVerfG-Entscheidung zur Baden-Württembergischen Rückmeldegebühr erkennen. Die Kosten der Leistungserstellung und die Gegenleistung dürfen

__________ 31 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 ff. = FR 2008, 818 m. Anm. Keß; dazu ausführlich unten III.3.e. 32 BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, 2 BvL 10/98, 2 BvL 11/98, 2 BvL 12/98, BVerfGE 108, 1 (18); v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88, BVerfGE 93, 319 (344); v. 6.2.1979 – 1 BvL 5/76, BVerfGE 50, 217 (226 f., 230 f.); v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332 (346 f.); vgl. auch den „doppelgliedrigen“ Gebührenbegriff von Klaus Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Ort und Erscheinungsjahr fehlen, § 87 Rz. 46, wonach Vorzugslasten entweder als Vorteilsabschöpfung oder als Kostenabgeltung konzipiert sein können; ferner z. B. A. Musil, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Gebühren im Steuerstaat, in FS für J. Isenseee, Heidelberg 2007, S. 929 (939). 33 BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, 2 BvL 10/98, 2 BvL 11/98, 2 BvL 12/98, BVerfGE 108, 1, 2. Leitsatz unter Berufung auf P. Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in HStR Bd. IV, 2. Aufl. 1999, § 88 Rz. 198. 34 D. Ehle, Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Kostendeckungsprinzips im Gebührenrecht, DÖV 1962, 45 ff.; M. Wienbracke, Die verfassungskräftige Verankerung des gebührenrechtlichen Kostendeckungsprinzips, DÖV 2005, 201 ff.; zum Verhältnis zwischen Äquivalenz- und Kostendeckungsprinzip M. Richtsteig, Allgemeine Gebührenprinzipien, Köln 1975, S. 161. 35 BVerfG v. 6.2.1979 – 1 BvL 5/76, BVerfGE 50, 217 (226); v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332 (345); v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, 2 BvL 10/98, 2 BvL 11/98, 2 BvL 12/98, BVerfGE 108, 1, Rz. 18; D. Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, München 1973, S. 265. 36 BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, 2 BvL 10/98, 2 BvL 11/98, 2 BvL 12/98, BVerfGE 108, 1 (19); vgl. dazu auch M. Richtsteig, Allgemeine Gebührenprinzipien, Köln 1975, S. 56 ff., 97 ff. – Wirklichkeits- und Wahrscheinlichkeitsmaßstab.

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nicht in einem „groben, unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht mehr hinnehmbaren Missverhältnis“ stehen37. Bereits die Rechtsprechung zu den als Verbandslasten eingeordneten Zwangsbeiträgen zu den Berufskammern38 entfernt sich dann weitgehend vom Gedanken der Kostenäquivalenz. Zwar soll nach Auffassung des BVerwG auch der Verbandslast als „Beitrag im rechtlichen Sinne“ das Äquivalenzprinzip zugrunde liegen, jedoch ohne dass diesem „konkrete Anforderungen“ für die Beitragsbemessung zu entnehmen seien39. Nur als Nutzenprinzip bleibt der Äquivalenzgedanke erkennbar. Nicht die durch das einzelne Mitgliedsunternehmen verursachten Kosten, sondern der potentielle Nutzen der Interessenvertretung soll die Beitragspflicht legitimieren. Dabei ist allerdings auch der Zusammenhang zwischen Vorteil und konkretem Beitrag nur schwach ausgeprägt40. Der durch die Verbandslast finanzierte Vorteil müsse nur „abstrakt und mittelbar“ bestehen41, was freilich den Abstand zwischen Verbandslast und Steuer weitgehend zusammenschmelzen lässt42. Noch deutlicher wird die Hinwendung vom Kosten- zum Nutzenprinzip bei den Finanzierungssonderabgaben. Das Wesen der Sonderabgabe ist, dass es an einer Kostenäquivalenz fehlt. Andernfalls hätte man es mit Gebühr/Beitrag zu tun. Ersetzt wird die individuelle Kostenäquivalenz durch die Nutzenfunktion. Unterscheidbarkeit (Homogenität) der in Anspruch genommenen Gruppe und gruppennützige Aufkommensverwendung sind als Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen untrennbar miteinander verbunden. Der individuelle Nutzen spielt dagegen weder für die Rechtfertigung dem Grunde, noch der Höhe nach eine Rolle43. Die Rechtfertigung von Finanzierungssonderabgaben basiert folglich auf dem Prinzip der Gruppennutzenäquivalenz44. Auch Umweltgebühren wie der baden-württembergische Wasserpfennig oder Umweltsonderabgaben fußen auf dem Prinzip der Vorteilsabschöpfung45. Umweltlenkungsgebühren und Lenkungssonderabgaben können überhaupt nur unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsabschöpfung mit dem Äquivalenzprinzip

__________ 37 BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, 2 BvL 10/98, 2 BvL 11/98, 2 BvL 12/98, BVerfGE 108, 1 (21). 38 Von H. Bauersfeld, Die Verbandslast, Diss. Köln 2010, S. 52 ff., den Finanzierungssonderabgaben zugeordnet. 39 BVerwG v. 26.7.1990 – 1 C 45/87, NVwZ 1990, 1167. 40 Deshalb kritisch J. Isensee, Äquivalenz, Kostenausgleich, Verbandssolidarität im Abgabenrecht. Legitimations- und Strukturfragen des Abwasserverbands-Beitrags, in Gedächtnisschrift für K. Geck, Berlin/München 1989, S. 355 (374 ff.). 41 R. Jahn, GewArch 2005, 221 (222 Fn. 193) mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen. 42 Hierzu J. Hey, Verbandslast, Mitgliedsabgabe, Kammerbeitrag, StuW 2008, 289 (292 ff.). 43 Zur Bemessung von Sonderabgaben fehlt es freilich bisher an richterlichen Aussagen, vgl. H. Bauersfeld, Die Verbandslast, Diss. Köln 2010, S. 96 ff. 44 K. Waechter, Sonderabgaben sind normale Abgaben, ZG 2005, 97 (98, 103 f.); ebenso mit gewissen Einschränkungen Birk/Eckhoff, Staatsfinanzierung durch Gebühren und Steuern. Vor- und Nachteile aus juristischer Perspektive, in Sacksofsky/Wieland (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, Baden-Baden 2000, 54 (61). 45 BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88, BVerfGE 93, 319 (345).

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in Einklang gebracht werden, weil es hier an einem konkreten Aufwand der öffentlichen Hand fehlt. Die zugrunde liegende Idee der Internalisierung externer Kosten führt lediglich zu politischen Preisen. 5. Das Äquivalenzprinzip im rechtswissenschaftlichen Schrifttum Die Rechtsprechung zum Gebührenrecht hat in der Vergangenheit auch den Rahmen für die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Äquivalenzprinzip gesetzt46. Zwar tritt es neuerdings im sozialversicherungsrechtlichen Schrifttum verstärkt neben die Prinzipien des sozialen und intergenerativen Ausgleichs47. Die meiste Beachtung erlangt es jedoch nach wie vor bei der Ausgestaltung konkret-individueller Nutzungsverhältnisse durch Gebühren und Beiträge, namentlich im Kommunalabgabenrecht48. Im steuerrechtlichen Schrifttum spielt das Äquivalenzprinzip dagegen, seitdem es im 19. Jahrhundert weitgehend vom Leistungsfähigkeitsprinzip verdrängt wurde49, kaum noch eine Rolle. Nur gelegentlich wird es im Zusammenhang mit Kommunalsteuern herangezogen50.

__________ 46 Vgl. etwa M. Richtsteig, Allgemeine Gebührenprinzipien, Köln 1975, S. 127 ff.; kritisch A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 6. 47 J.-E. Schenkel, Sozialversicherung und Grundgesetz, 2008, S. 186 ff.; A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 195–216; freilich auch hier in erster Linie von der Versicherungsökonomie kommend vgl. z. B. J. G. Jagob, Das Äquivalenzprinzip in der Alterssicherung, Frankfurt/M. 2003; M. Penske, Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung – Probleme und Reformoptionen, Frankfurt a M. 2006, S. 24–27; zurückhaltend Lenze/Zuleeg, Europaund verfassungsrechtliche Aspekte der Neugestaltung der sozialen Sicherheit, NZS 2006, 456 (458 f.); N. Hopf, Das Verbot der doppelten Besteuerung bei Alterseinkünften, Berlin 2009, S. 143 ff. 48 Vgl. z. B. M. Kaufmann in Henneke/Pünder/Waldhoff, Recht der Kommunalfinanzen, München 2006, § 15 Rz. 50 ff.; J. Isenseee, Äquivalenz, Kostenausgleich, Verbandssolidarität im Abgabenrecht, in Gedächtnisschrift für W. K. Geck, Köln u. a. 1989, S. 355 ff.; A. Musil, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Gebühren im Steuerstaat, in FS für J. Isenseee, Heidelberg 2007, S. 929 (936). 49 Zuvor war es die zentrale Steuerrechtfertigungsregel, ausführlich K. Vogel, Der Staat 1986, S. 480 (486 ff.); ferner S. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 5. Aufl., München 2007, S. 42 f.; H. Hanusch, Äquivalenzprinzip und kollektive Güter. Allokationstheoretische Aspekte, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121 (Berlin 1981), S. 36. 50 Vor allem im finanzwissenschaftlichen Schrifttum, vgl. Scherf, Perspektiven der kommunalen Besteuerung, in Andel (Hrsg.), Probleme der Kommunalfinanzen, Berlin 2001, S. 20; John H. Beck, Tax Competition, Uniform Assessment and the Benefit Principle, Journal of Urban Economics 13 (1983), 127 ff.; Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern in der Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe des BMF Heft 31, Bonn 1982, Kap. 2; aus juristischer Sicht s. A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 254 f., der seine Aussagen allerdings auf das „Äquivalenzprinzip in zuständigkeitsbezogener Hinsicht“ beschränkt, ferner J. Lang in Brühler Empfehlungen, BMF-Schriftenreihe Heft 66 (1999), Anhang Nr. 1, S. 57; dagegen R. Wendt, BB 1987, 1257 (1259); J. Hey, StuW 2002, 314 (319 ff.).

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Einen breiteren Ansatz verspricht Arndt Schmehl in der Einleitung zu seiner Gießener Habilitationsschrift „Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung“51 aus dem Jahr 2004. Er hat die Aufwertung des Äquivalenzprinzips zum Ziel, klammert dann aber den Bereich des Steuerrechts leider weitgehend aus seiner Betrachtung aus. Trotzdem lassen sich die Ergebnisse der Schrift auch für das Steuerrecht nutzen. Schmehl sieht die entscheidende Funktion des Äquivalenzprinzips aus juristischer Sicht im Konnex zwischen „Entscheidenkönnen und Einstehenmüssen“52 und macht vor allem die „zuständigkeitsbezogenen Ausprägungen“ des Äquivalenzprinzips deutlich53, die sich bei den gegenleistungslosen Abgaben vor allem in der regionalen und internationalen Steuerabgrenzung niederschlagen54.

III. Bedeutung des Nutzenprinzips für die Rechtfertigung und Ausgestaltung von Steuern 1. Allgemeine Steuerrechtfertigung Im steuerrechtlichen Schrifttum wird das Äquivalenzprinzip heutzutage in erster Linie zur allgemeinen Steuerrechtfertigung herangezogen55. Zwar ist die Steuerstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland56 im Grundgesetz allenfalls mittelbar in der Kompetenzordnung der Finanzverfassung verankert. Doch die Heranziehung des Bürgers zur Steuerzahlung wird als notwendige Folge der Staatstätigkeit nicht in Frage gestellt57. Der Staat stellt – demokratisch legitimiert – ein bestimmtes Leistungspaket zur Verfügung, zu dem u. a. auch nichtrivalisierende sowie nicht exkludierbare öffentliche Güter58 wie

__________ 51 A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004. 52 A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 262. 53 A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 219–258. 54 Dazu unten III.4. 55 Dazu ausführlich K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl., Köln 2000, S. 228–234; und rechtshistorisch K. Vogel, Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, Der Staat 1986, S. 481 ff.; ferner z. B. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 1 Rz. 6; § 4 Rz. 60; G. Crezelius, Stbg. 2005, 101 (102); S. Reis, Konsumorientierte Unternehmensbesteuerung aus verfassungsrechtlicher Sicht, Berlin 2007, S. 202. 56 J. Isenseee, Äquivalenz, Kostenausgleich, Verbandssolidarität im Abgabenrecht, in Gedächtnisschrift für W. K. Geck, Köln u. a. 1989, S. 355 (368); A. Musil, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Gebühren im Steuerstaat, in FS für J. Isenseee, Heidelberg 2007, S. 929 (930). 57 Z. B. R. Mellinghoff, Steuergesetzgebung im Verfassungsstaat, Stbg. 2005, 1; etwas anders G. Crezelius, Steuergesetzgebung im Steuerstaat, Stbg. 2005, 101: Steuer als Preis für die durch die wirtschaftliche Zurückhaltung des Staates bedingte wirtschaftliche Freiheit. 58 Zu den Kriterien der Rivalität und Exkludierbarkeit vgl. R. A. Musgrave, CostBenefit Analysis and the Theory of Public Finance, Journal of Economic Literature Bd. 7 (1969), S. 126 f.; C. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 7. Aufl., München 2008, S. 53 ff.

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äußere Sicherheit oder sozialer Friede gehören, so dass eine Kostenanlastung durch Gebühren und Beiträge ausgeschlossen ist. Damit löst sich die allgemeine Steuerrechtfertigung gänzlich von individueller Inanspruchnahme oder individuellem Nutzenkalkül59. Steuerpflicht ist Bürgerpflicht. Allerdings setzt auch die steuerliche Heranziehung ein im Konzept der unbeschränkten/beschränkten Steuerpflicht oder sonstiger territorialer Anknüpfungspunkte zum Ausdruck kommendes Näheverhältnis zwischen Staat und Steuerpflichtigem voraus, das eine zumindest partielle Inanspruchnahme staatlicher Leistungen möglich erscheinen lässt. In dieser sehr abstrakten Form bietet das Äquivalenzprinzip indes keine Anhaltspunkte für die Ausgestaltung des Steuersystems, d. h. für die Frage der Verteilung der durch die Staatstätigkeit verursachten Kosten, dem „Wie“ der Besteuerung. Vielmehr lässt sich auf der Basis dieses allgemeinen Tauschgedankens jedwede Steuer rechtfertigen60. 2. Rechtfertigung einzelner Steuerarten a) Stand der Diskussion Bei der Legitimation von Einzelsteuern führt das Äquivalenzprinzip in der Steuerrechtfertigungslehre nur eine Nischenexistenz. Für möglich gehalten wird eine äquivalenztheoretische Rechtfertigung von Steuern, die Sondervorteile oder Sonderlasten abgelten (insb. verkehrsbezogene Steuern wie Kfz- und Mineralölsteuer; gesundheitsbezogene Steuern wie Tabak- und Alkoholsteuern und umweltbezogene Steuern wie Strom- und Energiesteuern)61. Freilich erschöpfen sich die Überlegungen in der Regel in einem mehr oder weniger pauschalen Hinweis auf das Äquivalenzprinzip, ohne dass die Konsistenz der äquivalenztheoretischen Argumentation näher beleuchtet wird62. Lediglich im Bereich der Kommunalsteuern wird dem Äquivalenzprinzip sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum größere Bedeutung beigemessen63. Dieter Birk und Rolf Eckhoff bringen die Zweifel am Nutzen des Äquivalenzprinzips für das Steuerrecht auf den Punkt: „Äquivalenzgesichtspunkte, die der Rechtfertigung einer Steuer dienen, bleiben so lange bloße Rhetorik, wie sie weder auf die Höhe der Steuerlast, noch auf deren Verteilung auf die Abgabepflichtigen oder auf die Verwendung des Abgabenaufkommens irgendeinen Einfluss haben“64.

__________ 59 Dass dabei eine totale marktmäßige Äquivalenz nicht erreichbar ist, versteht sich von selbst, vgl. H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 20 f. 60 B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 209. 61 Z. B. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl., Köln 2000, S. 478. 62 Eine Ausnahme stellen die Ausführungen von K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, S. 1037 ff.; 1076 ff.; 1092 ff., dar. 63 Dazu unten III.3.e. 64 Birk/Eckhoff, Staatsfinanzierung durch Gebühren und Steuern. Vor- und Nachteile aus juristischer Perspektive, in Sacksofsky/Wieland (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, Baden-Baden 2000, S. 54 (61).

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b) Haupteinwände gegen eine äquivalenztheoretische Rechtfertigung einzelner Steuern/Bemessungsgrundlagen aa) Das Wesen der Steuer als gegenleistungslose Gemeinlast Haupteinwand gegen die äquivalenztheoretische Rechtfertigung einzelner Steuern ist die Gegenleistungslosigkeit der Steuer als ihr in § 3 Abs. 1 AO normiertes Wesensmerkmal65. Die Gegenleistungslosigkeit steht der Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen steuerlicher Bemessungsgrundlage/Höhe der Steuerlast und Kostenverursachung grundsätzlich entgegen, will man diesen Zusammenhang nicht über die Figur der Gruppenäquivalenz weitgehend aufgeben. Dann aber wird die Abgeltung der Kosten für „empfangene Leistungen“ weitgehend zur Fiktion. Allerdings steht das Fehlen einer „besonderen“ staatlichen Leistung i. S. v. § 3 Abs. 1 AO in erster Linie der äquivalenztheoretischen Begründung der konkreten Steuerhöhe entgegen, schließt aber nicht die Rechtfertigung der Sonderbelastung einzelner Gruppen aus. Zudem rekurriert der Einwand des fehlenden Gegenleistungsbezugs in erster Linie auf das Äquivalenzprinzip in seiner Ausprägung als Kostenäquivalenz. Diese Schwierigkeit lässt sich überwinden bei einem Verständnis als Entgelt für die Nutzenziehung bzw. als Vorteilsabschöpfung. bb) Bedeutung der Verwendung des Steueraufkommens für eine äquivalenztheoretische Rechtfertigung, insb. Äquivalenzprinzip und Umverteilung Daneben wird äquivalenztheoretischen Rechtfertigungsversuchen die fehlende Zweckbindung des Steueraufkommens und der Einsatz der Steuereinnahmen für staatliche Umverteilungsmaßnahmen entgegengehalten66. Das Fehlen einer formalen Zweckbindung ist indes unproblematisch, schließlich fließt auch das Gebührenaufkommen in die allgemeinen Haushalte der Gebührengläubiger67.

__________ 65 G. Crezelius, Steuergesetzgebung im Steuerstaat, Stbg. 2005, 101 (102); J. Hey, Kommunale Einkommen- und Körperschaftsteuer. Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung des Äquivalenzprinzips für die Ausgestaltung kommunaler Steuern, StuW 2002, 314 (319); R. Hartmann, BB 2008, 2490 (2495); H. Jochum, Das BVerfG als Hüter der Gewerbesteuer?, StB 2005, 254 (258); A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 70, 92, 96, der allerdings am Wortlaut von § 3 Abs. 1 AO („nicht Gegenleistung für eine besondere Leistung“) orientiert lediglich einen konkreten Gegenleistungsbezug ausschließt, nicht aber eine Orientierung des Steuergesetzgebers am materiellen Äquivalenzgedanken. 66 Birk/Eckhoff, Staatsfinanzierung durch Gebühren und Steuern. Vor- und Nachteile aus juristischer Perspektive, in Sacksofsky/Wieland (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, Baden-Baden 2000, S. 54 (60 f.); W. Schön, StuW 2004, 62 (66). Dagegen vertritt B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 224 f., dass eine Zweckbindung des Aufkommens aus einer im Übrigen äquivalenztheoretisch begründeten Steuer keineswegs immer mit dem Äquivalenzprinzip vereinbar sei (d. h. nicht nur nicht erforderlich, sondern auch nicht gerechtfertigt), sondern nur dann, wenn eine direkte Beziehung zwischen der Steuerzahlung und der Nutzung der öffentlichen Leistung bestehe und die Zweckbindung den Interessen der Nutzer entspricht. 67 G. Schwarting in Henneke/Pünder/Waldhoff, Recht der Kommunalfinanzen, München 2006, § 40 Rz. 27 ff.

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Wird die Besteuerung als Kostenäquivalent gerechtfertigt, muss allerdings ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Steuereinnahmen und den angeblich ausgeglichenen Kosten bestehen. So ist die äquivalenztheoretische Rechtfertigung der Tabaksteuer wenig überzeugend, wenn hieraus kein Zuschuss zur Krankenversicherung bzw. anderweitige Kosten staatlicher Gesundheitsvorsorge finanziert werden68. Auch die Erhöhung der Mineralölsteuer zur Finanzierung des Zuschusses für die Rentenversicherung („Rasen für die Rente“69) kann unter dem Gesichtspunkt der Kostenäquivalenz – ungeachtet dessen, dass es sich um eine rein politische Verknüpfung ohne rechtliche Bindungswirkung handelt – nicht überzeugen. Für eine Anspannung der Besteuerung über die abzugeltenden Kosten hinaus mögen Lenkungsziele sprechen. Freilich verfälscht die zusätzliche Verfolgung von Lenkungsinteressen die dem Äquivalenzprinzip zugeschriebene Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Einnahmen- und Ausgabenseite. Auch ein umverteilender Einsatz des Steueraufkommens innerhalb der (sonderbelasteten) Gruppe steht dem Rückgriff auf das Äquivalenzprinzip nicht per se entgegen. Schließlich erkennt das BVerfG auch im Rahmen unzweifelhaft primär äquivalenztheoretisch begründeter Gebühren eine Gebührenstaffelung nach sozialen Gesichtspunkten an, wobei allerdings das Äquivalenzprinzip in der hierzu ergangenen Entscheidung des BVerfG zur Zulässigkeit gestaffelter Kindergartengebühren70 umverteilungsbegrenzend gewirkt hat. Auch dem höchsten Beitrag – so der entscheidende Senat – müsse noch ein angemessenes Leistungsäquivalent gegenüberstehen71. Bei einem nutzentheoretischen Verständnis des Äquivalenzprinzips kommt es zudem zu einer weitgehenden Entkoppelung der Rechtfertigung der Belastung von der Aufkommensverwendung, schließlich können die marktmäßig nach Nutzenpräferenzen erzielbaren Preise über den Kosten der öffentlichen Hand für die Bereitstellung der öffentlichen Güter liegen. Damit wird Aufkommen für die Umverteilung frei. Dass das Äquivalenzprinzip nicht primär auf Umverteilung angelegt ist72, bedingt zudem nicht per se, dass es zum Verständnis unseres heutigen umverteilenden Steuersystems nicht beizutragen vermag. Umverteilung wird als Aus-

__________ 68 Zweifelhaft nach der zuvor geführten Diskussion über den Einsatz der Mittel aus der Tabaksteuererhöhung durch Gesetz zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchsteuergesetze vom 23.12.2003 (BGBl. I 2003, 2924) zur Finanzierung der Terrorismusbekämpfung („Rauchen für die Sicherheit“, vgl. Die WELT v. 10.10.2001), BT-Drucks. 15/1313, 1 und 6: Abgeltung der versicherungsfremden Leistungen mittels eines aus der Tabaksteuer finanzierten Bundeszuschusses an die Krankenkassen. Eine spezielle Kostenverursachung durch Raucher ist nicht ersichtlich. 69 Begründung zum Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform, BT-Drucks. 14/40, 1. 70 BVerfG v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332. 71 BVerfG v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332 (447 f.). 72 S. Wotschofsky, Gerechte Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, Betrieb und Wirtschaft 2002, 54.

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druck des Sozialstaatsprinzips verstanden73, ist folglich auch nicht notwendiger Inhalt einer Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip74. Umverteilung mag sich leichter innerhalb einer am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichteten Besteuerung organisieren lassen, die Notwendigkeit des Ausgleichs konkurrierender Prinzipien ist indes keine Besonderheit des Äquivalenzprinzips75. Die Argumentation mit dem Äquivalenzprinzip verträgt jedoch allenfalls eine moderate Umverteilung76. Geht es dagegen primär um die Erzielung von Steueraufkommen für Umverteilungszwecke und werden große Teile des Steueraufkommens – wie dies im Bundeshaushalt der Fall ist77 – für Sozialtransfers aufgewendet, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass sich die Tarifgestaltung an der möglicherweise höheren Zahlungsbereitschaft der Steuerpflichtigen mit hohem Einkommen orientiert. Der Zwangscharakter der Steuer tritt in den Vordergrund. 3. Ausgestaltung einzelner Steuern – Aussagegehalt des benefit principle für die Auswahl der Steuergegenstände, Bemessungsgrundlage und Tarif a) Indikator des Nutzens staatlicher Leistung Will man den Äquivalenzgedanken als Nutzenprinzip über die allgemeine Steuerrechtfertigung hinaus für die Ausgestaltung des Steuersystems fruchtbar machen, muss zunächst ermittelt werden, anhand welchen Indikators der aus der Bereitstellung öffentlicher Güter gewonnene Nutzen gemessen werden kann78. Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit die klassischen Leistungsfähigkeitsparameter Einkommen, Vermögen und Konsum79 mit einer äquivalenztheoretischen Rechtfertigung vereinbar sind oder ob es zur Verwirklichung des Äquivalenzprinzips einer kompletten Umgestaltung des Steuersystems bedürfte.

__________ 73 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 186. 74 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 186: Umverteilung durch von Vorschriften zur Abbildung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abgeschichtete Sozialzwecknormen; ferner, a. a. O., § 8 Rz. 8. 75 Zum Zielkonflikt zwischen Optimalsteuertheorie und Umverteilung und Möglichkeiten seiner Auflösung vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 1 Rz. 45; § 8 Rz. 8. 76 Im Ergebnis so auch C. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 7. Aufl., München 2008, S. 176. 77 Vgl. Haushaltsgesetz 2009 v. 28.11.2008, BGBl. I 2008, 2899, des Bundes mit 123,6 Mrd. Euro als größtem Einzelposten für Arbeit und Soziales. 78 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 14, unterscheidet in diesem Kontext je nach Differenziertheit des Nutzenmaßstabs zwischen „exakter“ und „schematischer“ Äquivalenz. Dieser Mühe einer Konkretisierung haben sich bisher nur wenige Autoren unterzogen. Peter Bohley, Praktische Probleme bei der Anwendung des Äquivalenzprinzips, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121, Berlin 1981, S. 93 (95–102) etwa beschreibt die Schwierigkeiten der Indikatorfindung anhand der Anlastung der Kosten bzw. der Abgeltung des aus der Kultureinrichtung entstehenden Nutzens anhand des Züricher Opernhauses sowie an der Hochschulfinanzierung. 79 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 92 ff.

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Unabhängig davon, ob man ein kosten- oder nutzentheoretisches Verständnis zugrunde legt, ist eine unmittelbar äquivalenztheoretische Abgabenbemessung nur dann möglich, wenn der Nutzungsakt selbst individuell erfassbar ist80, was aber eben nur im Fall von Gebühr und Beitrag der Fall ist. Im Steuerrecht kann die Zuordnung immer nur kollektiv und typisierend erfolgen, etwa indem auf bestimmte persönliche, sachliche oder räumliche Merkmale abgestellt wird, anhand derer die Kostenverursachung/Nutzenziehung typisiert wird. Aus finanzwissenschaftlicher Sicht wird als unmittelbarster äquivalenztheoretischer Besteuerungsparameter auf kommunaler Ebene die Wertschöpfung diskutiert81, deren Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuer vergleichbar ist, allerdings anders als diese Ausfuhren sowie Investitionen einbezieht82. Damit handelt es sich um eine echte Unternehmensteuer, die nicht tatbestandlich auf Überwälzung angelegt ist, bei entsprechend niedrigem Steuersatz aber vermutlich gleichwohl in die Verbraucherpreise eingehen würde83. Ein derart ertragsunabhängiger Maßstab weicht allerdings am stärksten von den Leistungsfähigkeitsparametern ab und wird deshalb ganz überwiegend abgelehnt84. Indes ist die Abkehr von den Leistungsfähigkeitsparametern keineswegs zwingend. Als mit einem nutzentheoretischen Äquivalenzverständnis vereinbar scheint durchaus auch das nach dem objektiven Nettoprinzip ermittelte Einkommen bzw. der Gewinn als Bemessungsgrundlage, weil sich in ihm die aus der Bereitstellung staatlicher Leistungen gezogenen wirtschaftlichen Vorteile widerspiegeln. Auch eine Anknüpfung an das Vermögen ist nutzentheoretisch begründbar, weil der vermögendere Steuerpflichtige in der Regel ein höheres Interesse am Schutz durch staatliche Institutionen haben wird als der Vermögenslose. Schwieriger ist dagegen die äquivalenztheoretische Deutung des allgemeinen Konsums, soweit dieser nicht als umwelt- oder gesundheitsschädlicher Konsum besondere externe Kosten erzeugt. Zwar ließe sich für eine äquivalenztheoretische Rechtfertigung des allgemeinen Konsums die Abgeltung der Bereitstellung des Verbrauchermarktes anführen. Allerdings gerät die Argumentation dann sehr in die Nähe der allgemeinen Steuerrechtfertigung. b) Unterscheidung zwischen „Generalsteuern“ und „Sondersteuern“ Traditionell wird hinsichtlich der Bedeutung des Äquivalenzprinzips für die Besteuerung zwischen „allgemeinen Steuern“ oder „Generalsteuern“, die allein am Leistungsfähigkeitsprinzip auszurichten sind, und Sondersteuern, für die

__________

80 B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 217. 81 Insb. Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern in der Bundesrepublik Deutschland, BMF-Schriftenreihe Nr. 31, Bonn 1982; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1984/85, Rz. 420, 470; anders Jahresgutachten 2001/02, Rz. 380 ff.; Kronberger Kreis, Gute Gemeindesteuern, Frankfurter Institut, Bd. 40, Berlin 2003. 82 Vgl. D. Brümmerhoff, Finanzwissenschaft, 9. Aufl., München/Wien 2007, S. 541. 83 Vgl. R. Peffekoven, Abschaffung der Gewerbesteuer: Was kann Ersatz sein?, in FS für H. O. Solms, Berlin 2005, S. 133 (137). 84 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 8 Rz. 96.

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auch der Äquivalenzgedanke fruchtbar gemacht werden könne, unterschieden85. Selbst entschiedene Gegner einer Anwendung des Äquivalenzprinzips im Steuerrecht86 relativieren ihre Ablehnung für besondere Verbrauchsteuern87. Die Anwendung des Äquivalenzprinzips im Steuerrecht funktioniert ohnehin nur, wenn man statt einer Individualbetrachtung eine Gruppenbetrachtung anstellt88. Diese ist aber grundsätzlich auf gruppenbezogene Sondersteuern beschränkt. Je weiter der persönliche und sachliche Anwendungsbereich einer Steuer, umso schwieriger ist es, überhaupt noch einen Zusammenhang zwischen der Steuer und einer konkreten staatlichen Tätigkeit oder bestimmten Aufgabenbereichen herzustellen89. Verzichtet man auf diesen Zusammenhang, verbleibt es bei der allgemeinen Steuerrechtfertigung. Folglich lassen sich Aussagen bezüglich einzelner Steuern in erster Linie dann gewinnen, wenn es möglich ist, durch Einzelsteuern einen spezifischen Sondernutzen abzuschöpfen. Dies erklärt, warum das Äquivalenzprinzip traditionell vor allem bei Umweltsteuern (Sondernutzen der kostenlosen Umweltnutzung), Unternehmensteuern (Nutzung staatlicher Infrastruktur) und bei Kommunalsteuern (Nutzung kommunaler Einrichtungen) zum Einsatz kommt. Dass sich das Äquivalenzprinzip keineswegs für alle Steuern zur Rechtfertigung eignet, hängt zudem mit der im Steuersystem organisierten Umverteilung zusammen. Zwar wurde dargelegt, dass Umverteilung bei Ausgestaltung und Verwendung von Steuern einer äquivalenztheoretischen Rechtfertigung nicht a priori entgegensteht90. Das Ausmaß der durch die aufkommensstarken Generalsteuern verwirklichten Umverteilung relativiert jedoch die äquivalenztheoretischen Rechtfertigungsbemühungen. Auch die nutzentheoretische Rechtfertigung besonderer Steuern ist zum einen dann problematisch, wenn deren Aufkommen nicht zumindest überwiegend gruppennützig verwendet wird, sondern in den allgemeinen Umverteilungstopf fließt. Denn der allgemeine soziale Ausgleich ist von der Gesamtheit der Bürger im Wege der Gemeinlast zu finanzieren91. Aber auch innerhalb der sonderbelasteten Gruppe sind einer umverteilend ausgestalteten Steuer Grenzen

__________ 85 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 347 ff.; H.-P. Bär, Probleme äquivalenzorientierter Prämienbemessung am Beispiel der obligatorischen Unfallversicherung, Zürich 1994, S. 34 f. 86 F. Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, Tübingen 1970, S. 122 ff. 87 F. Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, Tübingen 1970, S. 129, wonach für besondere Verbrauchsteuern das Leistungsfähigkeitsprinzip versagt, ohne dass ganz deutlich wird, ob diese dann überhaupt nicht gerechtfertigt werden können, oder insofern auf das Äquivalenzprinzip zurückgegriffen werden kann. 88 Siehe oben II.3. 89 B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 204 f. und 207 ff. 90 III.2.b.(2). 91 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 23; J. Isensee, Steuerstaat als Staatsform, FS für H. P. Ipsen, Tübingen 1977, S. 409 (432 f.).

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gesetzt. Zwar mag es aus politischer Sicht gute Gründe geben, wenn zu Lasten leistungsstärkerer Nutznießer leistungsschwachen bzw. weniger leistungsbereiten Nutznießern die Nutzung zu verbilligten Preisen ermöglicht wird. Sofern die sonderbelastete Gruppe keine abgegrenzte Solidargemeinschaft bildet, ist es aber Aufgabe der Allgemeinheit, für eine derartige Umverteilung zu sorgen92. c) Einkommensteuer Die allgemeine Einkommensteuer wird traditionell als die Leistungsfähigkeitssteuer schlechthin verstanden93. Gleichwohl ermöglicht die Markteinkommenstheorie auch einen äquivalenztheoretischen Rechtfertigungsansatz. Dabei laufen Äquivalenz- und Leistungsfähigkeitsprinzip praktisch auf dasselbe hinaus, wenn man als Nutzenfunktion das durch die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen erwirtschaftete Einkommen heranzieht94: nämlich auf eine am Netto-Einkommen bemessene (proportionale) Einkommensteuer95. Paul Kirchhof will darüber hinaus selbst die Einkommensteuerprogression äquivalenztheoretisch rechtfertigen96. Zwingend ist dies nicht. Es mag sein, dass das Äquivalenzprinzip einer progressiven Steuersatzgestaltung nicht entgegensteht, begründen kann es die Progression dagegen meiner Ansicht nach nicht. Kostenäquivalenz führt grundsätzlich zu einer proportionalen Tarifgestaltung, da, selbst wenn man dem Bezieher höherer Einkommen eine stärkere Inanspruchnahme staatlicher Leistungen unterstellt, in der Regel nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Kosten der staatlichen Leistungserstellung bei einer größeren Menge bereitgestellter öffentlicher Güter überproportional steigen. Sie werden sich normalerweise proportional, eher regres-

__________ 92 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 24. 93 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 9 Rz. 1; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., Köln 1988, S. 14. 94 Dies entspricht insbesondere Paul Kirchhofs Verständnis der Markteinkommenstheorie, vgl. P. Kirchhof, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, 57. Deutscher Juristentag, Gutachten F, München 1988, S. F 16 f.; Verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerlast und der Staatsverschuldung, in Frankfurter Institut (Hrsg.), Schranken gegen Staatsverschuldung und Steuerlast, Bad Homburg 1996, S. 51 (53); zu historischen Vorläufern s. W. Schön, StuW 2004, 62 (65). 95 H. Hanusch, Äquivalenzprinzip und kollektive Güter. Allokationstheoretische Aspekte, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121 (Berlin 1981), S. 38; Gegenüberstellung Äquivalenz- und Opferprinzip bei W. Pfähler, Normative Theorie der fiskalischen Besteuerung, Frankfurt a. M. u. a.1978, S. 148 ff. 96 Ähnlich S. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 5. Aufl., München 2007, S. 8, soweit auch das durch umverteilende Steuern erzielte Steueraufkommen für die Allgemeinheit eingesetzt wird. Auch B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 214 ff., hält einen progressiven Tarif für mit dem Äquivalenzprinzip durchaus vereinbar, weil er als Annäherung an die Nutzenverteilung allgemeiner Staatsleistungen angesehen werden könne, allerdings zugesteht, dass von den Effizienzwirkungen des Äquivalenzprinzips bei einer derart abstrakten Verbindung zwischen Steuerzahlung und empfangenem Nutzen nicht viel übrig bleibt.

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siv entwickeln97. Wer den Markt mehr nutzt als ein anderer und daher mehr Einkommen erwirtschaftet, muss proportional mehr Steuern zahlen. Doch die intensivere Marktnutzung erzeugt nicht automatisch höhere Kosten pro Inanspruchnahme. Die Bereitstellung öffentlicher Güter bleibt grds. gleich teuer. Lediglich als Nutzenäquivalenz lässt sich eine (moderat) progressive (Einkommensteuer) Tarifgestaltung mit dem Äquivalenzprinzip vereinbaren, ohne dass sie aus diesem unmittelbar ableitbar ist. Derjenige, der, weil er fähiger ist, einen größeren Vorteil aus der staatlichen Leistung ziehen kann, mag bereit sein, hierfür einen höheren Preis zu bezahlen (marktmäßige Äquivalenz im Sinne Heinz Hallers98). Auch nach Charles B. Blankart ist die Frage der Einkommenselastizität entscheidend, d. h. die Zahlungsbereitschaft des einzelnen Steuerzahlers. So wird jemand mit höherem Einkommen (wohl eher Vermögen) bereit sein, einen höheren Preis für die Landesverteidigung zu bezahlen, als jemand mit niedrigem Einkommen99. Wohlhabende Individuen hätten bei zahlreichen öffentlichen Gütern eine höhere Zahlungsbereitschaft als Arme. Immerhin lässt sich auf diese Weise begründen, dass das Äquivalenzprinzip nicht notwendig zu einer – vom gleichen Nutzen für alle Staatsangehörigen ausgehenden – Kopfsteuer führen muss. Damit lässt sich festhalten, dass die Einkommensteuer zwar einer äquivalenztheoretischen Rechtfertigung nicht vollständig verschlossen ist, dass diese aber gegenüber der Rechtfertigung durch das Leistungsfähigkeitsprinzip kaum Mehrwert bringt, und – zumindest was die konkrete Ausgestaltung eines stark progressiven Einkommensteuertarifs angeht – schnell an ihre Grenzen stößt100. d) Unternehmensbesteuerung Ein Grund dafür, dass das Äquivalenzprinzip seit jeher mehr Beachtung im Bereich der Unternehmensbesteuerung findet101 – sei es auf kommunaler oder staatlicher Ebene – liegt darin, dass hier Effizienzüberlegungen individueller Gerechtigkeit vorgehen102. Das Äquivalenzprinzip wird insbesondere herangezogen, um eine separate Besteuerung von Unternehmensgewinnen zusätzlich zu der Besteuerung der hinter dem Unternehmen stehenden natürlichen Per-

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97 J. Isenseee, Äquivalenz, Kostenausgleich, Verbandssolidarität im Abgabenrecht, in Gedächtnisschrift für W. K. Geck, Köln u. a. 1989, S. 355 (386); D. Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, München 1973, S. 197. 98 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 13. 99 C. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 7. Aufl., München 2008, S. 174 f. Vgl. auch Aaron/McGuire, Public goods and income distribution, Econometrica Bd. 38 (1970), S. 907 ff.; B. Hansjürgens, Neue ordnungspolitische Vorgaben für die Steuerpolitik, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik Bd. 46, 1997, S. 125 (127): Vereinbarkeit des Benefit Principle mit einer progressiven Besteuerung unter dem Gesichtspunkt, dass der Nutzen öffentlicher Güter mit steigendem Einkommen steigt. 100 Im Hinblick hierauf zweifelnd W. Schön, StuW 2004, 62 (65). 101 Siehe nur K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, 1193 ff. 102 Z. B. W. Wiegard, Internationaler Steuerwettbewerb und Reform der Unternehmensbesteuerung: 7 Fakten – 7 Thesen, in Frotscher/Peine (Hrsg.), Anforderungen an ein modernes Steuersystem angesichts der Globalisierung, Freiburg 2006, S. 97 (111).

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sonen zu legitimieren103. Denn hier versagt das Leistungsfähigkeitsprinzip, weil der Einsatz juristischer Personen zur Einkommenserzielung bei gleich hohem Ergebnis keine zusätzliche Leistungsfähigkeit begründen kann104. Zur Rechtfertigung einer klassischen Körperschaftsteuer taugt aber auch das Äquivalenzprinzip schon deshalb nicht, weil das Ausmaß der Nutzung staatlicher Infrastruktur nicht von der Rechtsform abhängt105. Auch die Verleihungsthese, die in der Körperschaftsteuer ein Entgelt für die Verleihung der Rechtsfähigkeit und die hiermit verbundenen Vorteile im Wirtschaftsleben wie z. B. die Haftungsbeschränkung und die Möglichkeit größerer Kapitalakkumulation sieht, vermag nicht zu überzeugen, wenn dieser Vorteil im Gewinn gemessen wird, weil auch bei typisierender Betrachtung weder kosten- noch nutzenäquivalenztheoretisch ein Zusammenhang zwischen Rechtsform und Gewinnhöhe feststellbar ist. So könnte allenfalls eine allgemeine Unternehmensteuer neben der persönlichen Einkommensteuer äquivalenztheoretisch gerechtfertigt werden. Dies hält Klaus Tipke im Hinblick auf die (besondere) Nutzung staatlicher Infrastruktur durch Unternehmen, die sich in ihrem Gewinn niederschlägt, grundsätzlich für möglich106. Dem ist mit Heinz-Jürgen Pezzer entgegenzuhalten, dass es sich letztlich nur um einen Ausschnitt des allgemeinen Steuerrechtfertigungselements handelt ohne Aussagekraft für die Rechtfertigung einzelner Steuern wie der Körperschaftsteuer107. Zudem entbindet eine zusätzliche äquivalenztheoretische Rechtfertigung der Besteuerung von Unternehmensgewinnen im Verhältnis zu den hinter dem Unternehmen stehenden natürlichen Personen nicht von der Einhaltung verfassungsrechtlicher Besteuerungsgrenzen, wie sie im subjektiven Nettoprinzip und in der Steuerfreiheit des Existenzminimums ihren Niederschlag finden. e) Kommunalsteuern aa) Besonderheit: Größere Nähebeziehung zwischen Zensiten und Abgabengläubiger Mehr Beachtung wird dem Äquivalenzprinzip traditionell sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum bezüglich der Rechtfertigung und Ausgestaltung von Kommunalsteuern beigemessen, und zwar sowohl im Rahmen der Gewerbe- als auch der Grundsteuer. Dabei liegen dem Rekurs auf das Äquivalenzprinzip im Bereich der Gemeindesteuern ganz unterschiedliche Zielrich-

__________ 103 C. Rasenack, Die Theorie der Körperschaftsteuer, Berlin 1974, S. 300; Musgrave/ Musgrave, Public Finance in Theory and Practice, 4. Aufl., New York 1984, S. 388. 104 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, 1174 f. 105 S. dazu J. Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa, Köln 1997, S. 256 ff. 106 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl., Köln 2000, S. 233 und Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, S. 1169 ff.; 1193. 107 H.-J. Pezzer, Rechtfertigung und Rechtsnatur der Körperschaftsteuer, DStJG Bd. 20 (1997), 5 (14).

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tungen zugrunde, teils geht es um die örtliche Zuordnung von Steueransprüchen108, teils um ein Argument zugunsten der Verstetigung der kommunalen Steuereinnahmen durch ertragsunabhängige Bemessungsgrundlagen, teils um die Sonderbelastung einzelner Nutzerkreise109. Die Sonderrolle des Äquivalenzprinzips im Bereich der kommunalen Steuern ist deshalb nicht ganz erklärlich, weil es in der Kommune zwar eine größere Nähe zwischen öffentlicher Leistung und Zensiten gibt, die Einwände gegen eine Anwendung des Äquivalenzprinzips im Steuerrecht aber nicht quantitativer110, sondern qualitativer Natur sind. Auch eine Kommunalsteuer ist nur dann Steuer, wenn sie gegenleistungslos erhoben wird. Damit besteht auch hier die Schwierigkeit, die Austauschbeziehung in der Bemessungsgrundlage abzubilden. Zur Begründung der Abgeltung der Kosten gemeindlicher Infrastrukturleistungen taugt das Äquivalenzprinzip daher auch auf kommunaler Ebene nur für nichtsteuerliche Abgaben, d. h. Gebühren, Beiträge oder Fremdenverkehrsabgaben wie etwa der jüngst diskutierten „Kölner Bettensteuer“111. Die Rechtfertigung einzelner kommunaler Steuern weist dagegen gegenüber staatlichen Steuern keine Besonderheiten auf; sie ist ebenfalls nur als nutzentheoretisch fundierte Vorteilsabschöpfung denkbar. bb) Gewerbesteuer Im jüngsten Gewerbesteuerbeschluss vom 15.1.2008 lässt das BVerfG den zugrunde gelegten Äquivalenzmaßstab zwar im Dunkeln, billigt dem bereits totgesagten Äquivalenzprinzip jedoch eine tragende Rolle in der Gewerbesteuerrechtfertigung zu, indem es an seine Rechtsprechung aus den 1960er Jahren112 anknüpft113. Auf etwaige Einwände geht das Gericht im Jahr 2008 gar nicht mehr ein, sondern lässt sich auf die „traditionelle, pauschale Rechtfertigung der Gewerbesteuer aus dem Äquivalenzprinzip“ zurückfallen. Auf diese Weise sei die Sonderbelastung von Gewerbebetrieben unter Herausnahme der freien Berufe zu rechtfertigen. Überzeugen kann die Entscheidung des Ersten Senats nicht, weil die Prämisse, dass sich die Gewerbesteuer „pauschal“ mit dem Äquivalenzprinzip rechtferti-

__________ 108 Dazu im Einzelnen unten III.4. 109 Zur Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen diesen Fragen bezogen auf die Gewerbesteuer K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, S. 1137. 110 Zur Bedeutung der Gruppengröße für die Anwendung des Äquivalenzprinzips H. Hanusch, Äquivalenzprinzip und kollektive Güter. Allokationstheoretische Aspekte, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121, Berlin 1981, S. 60 f. 111 Siehe dazu J. Lang, Beilage des Beirats für Steuergerechtigkeit zu Der STEUERTIP, Januar 2010. 112 BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 (348); v. 13.7.1965 – 1 BvR 771/59, BVerfGE 19, 101 (112); v. 13.5.1969 – 1 BvR 25/65, BVerfGE 26, 1 (11); zwischenzeitlich relativiert BVerfG v. 25.10.1977 – 1 BvR 15/75, BVerfGE 46, 224 (236 f.). 113 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 ff. = FR 2008, 818 m. Anm. Keß.

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gen lasse, nicht näher begründet wurde114. Die Sonderbelastung der Gewerbetreibenden lässt sich weder kosten- noch nutzentheoretisch auf das Äquivalenzprinzip stützen115. Das Gericht hat auf die Kosten der gemeindlichen Infrastrukturleistungen abgestellt, die jedenfalls „nicht vollständig“ durch Gebühren und Beiträge abgedeckt würden. Auf das erhebliche Missverhältnis zwischen dem Gewerbesteueraufkommen und den speziell der gewerblichen Wirtschaft zugutekommenden kommunalen Infrastrukturinvestitionen geht der Senat nicht ein. Dabei fließt ein beträchtlicher Teil des Gewerbesteueraufkommens in die kommunalen Sozialhaushalte116. Aber auch nutzentheoretisch lässt sich eine Sonderbelastung der gewerblichen Wirtschaft nicht rechtfertigen, weil – vielleicht einmal abgesehen vom Ausweis neuer Gewerbegebiete – nicht davon ausgegangen werden kann, Gewerbetreibende zögen Sondervorteile aus der kommunalen Infrastruktur, die nicht in ähnlicher Weise auch von anderen Selbständigen gezogen werden. Die Gruppe der Gewerbetreibenden in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft ist zu heterogen für derartige Typisierungen. Im Dienstleistungsgewerbe ergeben sich hinsichtlich der Art der Nutzung der gemeindlichen Infrastruktur kaum Unterschiede gegenüber der Gruppe der Freiberufler117. Im Übrigen intendiert die Abgrenzung zwischen § 15 und § 18 EStG auch gar keine Typisierung der Inanspruchnahme kommunaler Infrastruktur. Ebenso wenig taugt das Äquivalenzprinzip zur Rechtfertigung der gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen118. Auch hier wird auf das – zur Steuerrechtfertigung weitgehend ungeeignete – Kostenäquivalenzprinzip zurückgegriffen, wenn argumentiert wird, dass auch das fremdfinanzierte Unternehmen, das keine Gewinne macht, Kosten produziere („Feuerlöschzug, der auch zum Verlustunternehmen ausrücken muss“)119.

__________ 114 Siehe die Kritik z. B. bei R. Hartman, Bestandsschutz für die Gewerbesteuer, BB 2008, 2490 (2493 ff.); T. Keß, FR 2008, 829 ff.; schon zuvor gegen eine äquivalenztheoretische Rechtfertigung der Gewerbesteuer ausführlich R. Wendt, Zur Vereinbarkeit der Gewerbesteuer mit dem Gleichheitssatz und dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, BB 1987, 1257 (1261 ff.); D. Birk, Steuerrecht, 12. Aufl., Heidelberg 2009, Rz. 1127 ff.; H. Montag in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 12 Rz. 1; H. Jochum, StB 2005, 254 (258 f.). 115 Ausführlich J. Hey, StuW 2002, 314 (319 f.); ebenso W. Schön, StuW 2004, 62 (65 f.). 116 Vgl. exemplarisch Haushaltsplan der Stadt Düsseldorf für das Jahr 2009: Rund 37 % der Erträge (2.478,4 Mio. Euro) stammen aus der Gewerbesteuer (908 Mio. Euro). 117 Dem Einwand kann auch nicht mit dem Hinweis des BVerfG begegnet werden, Kleingewerbetreibende zahlten vielfach keine Gewerbesteuer (BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (40) = FR 2008, 818 m. Anm. Keß, weil bereits die Prämisse falsch ist, dass der Kleingewerbetreibende hinsichtlich der aus der Nutzung der gemeindlichen Infrastruktur gezogenen Vorteile dem Freiberufler (unabhängig welcher Ertragsstärke) vergleichbar sei, einer näheren Überprüfung nicht stand hält; in diesem Sinne auch H. Jochum, StB 2005, 254 (258). 118 Ebenso K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, S. 1148 ff. 119 Pressemitteilung des BMF v. 10.9.2008 „Politische Leitlinien der Unternehmensteuerreform“: „Ausprägung des Äquivalenzprinzips im politischen Sinne“, was auch immer das heißen mag.

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Der kostentheoretische Rechtfertigungsansatz vermag vor allem deshalb nicht zu überzeugen, weil die Gewerbesteuer – wenngleich höchst erratisch durch Hinzurechnungen modifiziert – so doch primär am Ertrag bemessen wird120. Zwischen Ertrag und Kostenverursachung besteht auch bei großzügigster Typisierung kein hinreichender Zusammenhang. Zudem wirkt die Gewerbesteuer, versteht man sie als Kostenäquivalent, auch innerhalb der Gruppe der Gewerbebetriebe umverteilend. Zwar bewirken die ertragsunabhängigen Elemente der Bemessungsgrundlage, dass auch ertraglose Unternehmen in geringem Umfang zur Besteuerung herangezogen werden, freilich nur soweit die Freibeträge des § 8 Nr. 1 GewStG überschritten werden. Damit kommt es zu einer Umverteilung zwischen größeren und kleineren Unternehmen bzw. ertragsstarken und ertragsschwachen Unternehmen. Wirtschaftsförderung durch Unterstützung wirtschaftlich schwächerer oder kleinerer Unternehmen ist aber allgemeine Staatsaufgabe, so dass die Finanzierung nicht zu Lasten einer bestimmten Gruppe erfolgen kann121. Versteht man das Äquivalenzprinzip dagegen als Rechtfertigung dafür, dass die Gemeinde einen Teil des aus der Bereitstellung der kommunalen Infrastruktur gezogenen Nutzens abschöpft, und stellt man auf den tatsächlich gezogenen Nutzen ab, und nicht auf einen theoretisch möglichen Soll-Nutzen, dann führt auch das Äquivalenzprinzip zwanglos zum Gewinn als richtiger Bemessungsgrundlage. Mit einem nutzentheoretischen Verständnis lässt sich eine ertragsunabhängige Besteuerung nicht vereinbaren. Dies legt Manfred Rose in dieser Schrift dar, indem er sein Plädoyer für eine Zinsbereinigung einer kommunalen Gewinnsteuer außer mit dem Postulat der Entscheidungsneutralität auch äquivalenztheoretisch absichert. Die kostenlose Nutzung der gemeindlichen Infrastruktur führe zu einer Rente für das Unternehmen, die in dem Gewinnanteil zum Ausdruck kommt, der die Zinskosten der Nutzung von Fremd- und Eigenkapital übersteigt122. Damit leitet Manfred Rose aus dem Äquivalenzprinzip genau das Gegenteil zur herkömmlichen steuerjuristischen Doktrin ab, nämlich, dass die Bemessungsgrundlage einer kommunalen Gewinnsteuer zwingend um alle gezahlten Kreditzinsen und um eine standardisierte Verzinsung des Eigenkapitals bereinigt sein muss. Ob alternativ der Übergang zu einer kommunalen Wertschöpfungsteuer möglich wäre, wie es von namhaften Finanzwissenschaftlern aus dem Äquivalenzprinzip gefolgert wird, soll hier nicht weiter vertieft werden123.

__________ 120 Ebenso R. Hartmann, BB 2008, 2490 (2494). 121 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 24; ähnlich H. Jochum, StB 2005, 254 (259). 122 M. Rose, in dieser Schrift, S. 642. 123 Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern in der Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe des BMF Heft 31, Bonn 1982; A. Oberhauser, Wertschöpfungsteuer als Alternative zur Gewerbesteuer, Regensburg 1984; a. A. Fehr/Wiegard, Gesamtwirtschaftliche Wirkungen einer Wertschöpfungsteuer (und einiger Alternativen) in FS für A. Oberhauser, Berlin 2000, S. 477 ff., die stattdessen auch auf kommunaler Ebene für eine zinsbereinigte Gewinnsteuer eintreten;

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cc) Grundsteuer Auch die Grundsteuer wird – weil hier bei Ablehnung der sog. Fundustheorie das Leistungsfähigkeitsprinzip an seine Grenzen stößt124 – vielfach äquivalenztheoretisch gerechtfertigt125. Bei Überwälzung auf den Mieter kann sie als Einwohnersteuer eingeordnet werden, als über die konkret anfallenden grundstücksbezogenen Abgaben (Gebühren und Beiträge) hinausgehendes Entgelt für die Möglichkeit der Nutzung der kommunalen Infrastruktur126. Freilich stellt sich dann die Frage, ob die Bemessung am Grundstückswert mit dem Äquivalenzprinzip vereinbar ist. Eine Einwohnersteuer müsste – trotz aller Widerstände gegen derartige Poll Taxes127 – als Kopfsteuer mit Einheitsbetrag konzipiert sein, wenn sie (rein) äquivalenztheoretisch begründet wird128. Allenfalls ließe sich die Bemessung anhand des Grundstückswertes damit rechtfertigen, dass sich bessere Infrastrukturleistungen in einem höheren Grundstückswert niederschlagen und es sich hierbei um einen pauschalen Nutzenmaßstab handelt. f) Indirekte Steuern/Verbrauchsteuern aa) Allgemeine Verbrauchsbesteuerung durch die Umsatzsteuer Die größte Neuerung stellt Joachim Langs Hinwendung zu einer nutzentheoretischen Rechtfertigung der indirekten Steuern, und zwar auch der Umsatzsteuer dar. Es diene „dem gerechten Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips, wenn seine Herrschaft im Bereich der indirekten Steuern nicht künstlich aufrechterhalten werde. „In diesem Bereich alter Steuern“ heißt es weiter, „herrscht bei genauer Betrachtung immer noch das herkömmliche Nutzenprinzip: Steuern sind der Preis für staatliche Sicherheit und Ordnung, die der Konsument in Anspruch nimmt“129. Damit will Joachim Lang in dem alten Streit vermitteln, ob die Umsatzsteuer überhaupt außer mit dem Zweck, dem Staat Geld einzubringen130, sachlich

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R. Niemann, Was der deutsche Steuergesetzgeber von Österreich lernen kann – und was nicht, Sächsische Steuertagung 2007, Stuttgart u. a. 2008, S. 45 (50 f.), im Hinblick auf die negativen Entscheidungswirkungen der Wertschöpfungsteuer. Mit ausführlicher Begründung und zahlreichen Nachweisen K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, S. 922 ff., 957. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 87 f. R. Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., Köln 2008, § 13 Rz. 202; a. A. P. Leuchtenberg, Grundsteuer im Brennpunkt de Verfassungsrechts, DStZ 2006, 36 (38). S. dazu W. Schön, Steuergesetzgebung zwischen Markt und Grundgesetz, StuW 2004, 62 (64). Zum Zusammenhang zwischen Äquivalenzprinzip und Einheitsbeitrag auch J. Eichelberger, MedR 2006, 369 (370). J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, in FS für H. Schaumburg, Köln 2009, S. 45 (52); dezidiert a. A. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, 970 f.: „Kopfsteuerprinzip und Äquivalenzprinzip sind nicht nur nicht sachgerecht, sie liegen der Umsatzsteuer auch evident nicht zugrunde“. So R. Grabower, UR 1952, 2.

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gerechtfertigt werden kann. Sind nicht alle Bemühungen, auch die Umsatzsteuer und ihre Bemessungsgrundlage auf die Konsumleistungsfähigkeit des Verbrauchers zurückzuführen, letztlich Fiktion? In der Tat begegnet die Rechtfertigung der Umsatzsteuer und ihrer konkreten Ausgestaltung anhand des Leistungsfähigkeitsprinzips stets der Schwierigkeit, dass die Überwälzung keine exakt auf den individuellen Konsumenten zugeschnittene Belastung erlaubt. Bis heute ist das Problem der Berücksichtigung des subjektiven Nettoprinzips ungelöst. Die Befreiungstatbestände im § 4 UStG131 bilden ebenso wie die Steuersatzermäßigung in § 12 Abs. 2 UStG – dies belegt einmal mehr die zum 1.1.2010 eingeführte Subventionierung des Beherbergungsgewerbes132 – ein wildes Durcheinander von Normen zur Wirtschaftsförderung, zur Entlastung des existenznotwendigen Bedarfs und Steuerkonkurrenzregeln. Eine Vergütung der auf dem existenznotwendigen Konsum lastenden indirekten Steuern ist nicht vorgesehen133, und nach Auffassung des BVerfG auch nicht erforderlich134. Dennoch scheint mit der Preisgabe des Rechtfertigungsmaßstabes Leistungsfähigkeitsprinzip nichts gewonnen. Das Äquivalenzprinzip gibt für die Rechtfertigung der umsatzsteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage wenig her. Allenfalls ließe sich folgern, dass auf jegliche Befreiung und Ermäßigung, sei sie wirtschafts- oder sozialpolitisch motiviert, zu verzichten ist. In einer streng äquivalenztheoretisch verstandenen Umsatzsteuer bedarf es der zum Teil zweifelhaften Versuche einer Berücksichtigung der subjektiven Leistungsfähigkeit nicht. Denn auch beim existenznotwendigen Konsum nimmt der Verbraucher den staatlicherseits bereitgestellten Markt in Anspruch. Damit ließe sich die Gefahr unklarer Zwecksetzungen und versteckter Subventionen reduzieren, ohne freilich derartige Subventionen auszuschließen. Denn ebenso wie das Leistungsfähigkeitsprinzip kann auch das Äquivalenzprinzip zur Verwirklichung legitimer gesetzgeberischer Zwecke durchbrochen werden. Dies wird überdeutlich in der Rechtsprechung des BVerfG zur Ausgestaltung von Gebühren, wenn das Gericht ganz selbstverständlich neben die äquivalenztheoretischen Zwecke der Kostenabgeltung bzw. Vorteilsabschöpfung die Zwecke des sozialen Ausgleichs und der Lenkung stellt135. Die Rechtfertigung der Umsatzsteuer mit dem Äquivalenzprinzip läuft letztlich hinaus auf die aus meiner Sicht abzulehnende Rechtfertigung, einziger Zweck der Umsatzsteuer sei es, dem Staat zusätzliche Einnahmen zu verschaffen. Das Äquivalenzprinzip vermittelt keine über die allgemeine Steuerrechtfertigung hinausgehenden Erkenntnisse für die Ausgestaltung der Umsatzsteuer.

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131 Vgl. die Systematisierung von P. Hoffsümmer, Steuerbefreiungen für Inlandsumsätze (§ 4 Nrn. 8 bis 28 UStG), Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 89 ff. 132 Eingeführt durch Wachstumsbeschleunigungsgesetz v. 22.12.2009 (BGBl. I 2009, 3950). 133 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Tübingen 2008, S. 600. 134 BVerfG v. 23.8.1999 – 1 BvR 2164/98, FR 1999, 1134 m. Anm. Kanzler = NJW 1999, 3478. 135 Siehe oben II.4.

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Dies mag – gemessen am realen Zustand der Umsatzsteuergesetzgebung – den Vorzug der ehrlichen Lagebeschreibung haben, würde die Umsatzsteuer aber unter dem Gesichtspunkt der iustitia distributiva aufgeben. bb) Besondere Verbrauchsteuern mit Lenkungszweck Sehr viel schwieriger als die Rechtfertigung der Umsatzsteuer ist unter Leistungsfähigkeitsgesichtspunkten die Rechtfertigung der besonderen Verbrauchsteuern, insbesondere wenn sie neben der Umsatzsteuer erhoben werden. Denn eine gesteigerte Konsumleistungsfähigkeit liegt den wenigsten Steuergegenständen der speziellen Verbrauchsteuern zugrunde136. Dies erklärt, warum hier in besonderem Maße nach einer alternativen Rechtfertigung gefahndet wird. Erst die Befrachtung mit Lenkungszwecken137 hilft über den lapidaren und wenig überzeugenden Hinweis, die einzige Legitimation besonderer Verbrauchsteuern liege in ihrem Einnahmeerzielungszweck138, hinweg. Tabaksteuer, Alkoholsteuern und Energiesteuern werden mittlerweile – trotz mancher verbleibenden Ungereimtheit139 – überwiegend als gesundheitspolitische140 oder umweltpolitische Lenkungsinstrumente verstanden und akzeptiert141. Vor allem im Bereich von Umweltabgaben gründet die Lenkung auf äquivalenztheoretischem Gedankengut. Schließlich geht es um die Internalisierung externer Kosten der Umweltnutzung. Umweltabgaben basieren auf dem Verursacherprinzip als „moderner Variante“142 des Äquivalenzprinzips. Die für die Umweltnutzung angesetzten Preise werden allerdings mangels tatsächlicher, dem Staat entstehender Kosten143 im politischen Prozess gebildet144. Es geht nicht um die Erhebung eines Entgelts für staatliche Kostenaufwendungen, sondern um die

__________ 136 J. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 16 Rz. 18 ff. 137 S. dazu z. B. H. Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts unter besonderer Berücksichtigung der Ergebnisse der Verbrauchsteuerharmonisierung der Europäischen Union, Berlin 1997, S. 320; J. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 16 Rz. 22. 138 Zu dieser rein fiskalischen Rechtfertigung s. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, S. 1040. 139 S. J. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 16 Rz. 23 und 25. 140 Vgl. BT-Drucks. 9/844, 8 bzgl. der Tabaksteuer; BT-Drucks. 15/2587, 1 bzgl. der Steuer auf sog. Alkopops. 141 Vgl. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, S. 1057 f.; 1092 ff.; 1097 ff. 142 P. Bohley, Praktische Probleme bei der Anwendung des Äquivalenzprinzips, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121 (Berlin 1981), S. 93 (95). 143 Dazu aus äquivalenztheoretischer Perspektive B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 221. 144 Zurückzuführen auf das sog. Demeritorisierungsmodell von Baumol/Oates, The Use of Standards and Prices for Protection of the Environment, Swedish Journal of Economis, Vol. 73 (1971), S. 42 ff. – deutsche Übersetzung in Umwelt und wirtschaftliche Entwicklung, Darmstadt 1989, S. 169 ff. Das Gegenmodell der Pigousteuer im Sinne exakter Bestimmung und Anlastung der Kosten der Umweltnutzung muss letztlich Fiktion bleiben.

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Abschöpfung des Sondervorteils der (übermäßigen) kostenfreien Umweltnutzung. Dass dabei weder eine exakte Kostenanlastung stattfindet, noch die Einnahmen seitens des Staates dem Umweltschutz gewidmet werden, wird vor allem mit Blick auf die intendierte Lenkung hingenommen. Ausgestaltung und Bemessung orientieren sich nicht an den der Allgemeinheit entstehenden Kosten, sondern am Lenkungsziel der Verhinderung bzw. Reduktion des umweltschädlichen Verhaltens unter Berücksichtigung der Preiselastizität. Auf diese Weise lässt es sich rechtfertigen, den Umweltfaktoreinsatz zu besteuern, statt an Emissionswerten anzuknüpfen. Mit einer nutzentheoretischen Argumentation könnte sogar eine Anknüpfung an den durch besonders intensive Umweltnutzung erwirtschafteten Gewinn in Erwägung gezogen werden. Allerdings dürfte dem die Schwierigkeit entgegenstehen, in einer derartigen Bemessungsgrundlage einen Zusammenhang zwischen Umweltnutzung und Gewinn zu typisieren. Alkohol- und Tabaksteuern können ebenfalls einerseits mit dem Lenkungsziel der Mäßigung legitimiert werden, andererseits sollen Tabak- und Alkoholkonsumenten an den durch (übermäßigen) Tabak- und Alkoholkonsum entstehenden Kosten beteiligt werden, auch wenn eine exakte Zuordnung der den Sozialsystemen entstehenden Kosten – nicht zuletzt im Hinblick auf gegenläufige Effekte einer verkürzten Lebenserwartung – schwierig sein dürfte145. Zudem muss, da auch der gelegentliche, keine zusätzlichen Gesundheitskosten verursachende Alkoholkonsum besteuert wird, auch insoweit der Gedanke der Gruppenverantwortlichkeit bemüht werden. Eine nutzentheoretische Betrachtung gesundheitsbezogener Sondersteuern scheidet dagegen aus. Welchen staatlicherseits zur Verfügung gestellten Sondervorteil schöpft der Raucher ab, der nicht auch allen anderen zugute kommt, die das staatliche Gesundheitssystem nutzen? Der Nutzen der Alkohol-/Tabaksucht dürfte eher bei Herstellern und Vertreibern liegen, die aber die entsprechenden Steuern auf die Konsumenten überwälzen. Hier kann also nur der Maßstab der Kostenäquivalenz überzeugen146. 4. Territoriale Abgrenzung der Steuerjurisdiktionen a) Äquivalenztheoretische Grundlage der internationalen Verteilungsgrundsätze Weitgehend unumstritten sind die Ableitungen aus dem Äquivalenzprinzip, die der territorialen Aufteilung von Besteuerungsrechten zugrunde liegen147.

__________ 145 Zur Gegenrechnung einer eventuell kürzeren Lebenserwartung und damit geringeren Inanspruchnahme der Renten- und Pflegeversicherung S. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 5. Aufl., München 2007, S. 182. 146 Ebenso B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 222. 147 Zur kompetenzabgrenzenden Seite des Steuerguts G. Burmester, Begriff und Funktion des Steuerguts, StuW 1993, 221 (225 ff.).

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Am deutlichsten wird die äquivalenztheoretische Grundlage der zwischenstaatlichen Verteilung von Besteuerungsrechten im Quellenprinzip. Das Besteuerungsrecht des Quellenstaates fußt auf der Bereitstellung der Infrastruktur, deren Nutzung dem beschränkt Steuerpflichtigen die Einkünfteerzielung ermöglicht148. Dabei geht es erkennbar nicht um Kostenzurechnung, weder um individuelle noch gruppenbezogene, sondern um Nutzenabschöpfung149. Damit wird das benefit principle zur Grundlage internationaler Verteilungsgerechtigkeit. Trennscharfe Verteilungsmaßstäbe im Sinne einer exakten territorialen Zuordnung von Verursachungsbeiträgen lassen sich auf dieser Basis freilich nicht gewinnen150. Es handelt sich lediglich um Leitgedanken, die der Konkretisierung durch die nationalen Rechtsordnungen und die Doppelbesteuerungsabkommen bedürfen. Zudem ergänzen sich in den der beschränkten Steuerpflicht zugrunde gelegten Anknüpfungspunkten nutzentheoretische und leistungsfähigkeitsdogmatische Aspekte151. So rechtfertigt sich nach Gabriele Burmester das Belegenheitsprinzip primär aus der Nutzung der staatlichen Infrastruktur, während das Arbeitsortprinzip auf die „Einbindung in die konkrete staatliche Teilhabe- und Finanzierungsgemeinschaft“ zurückzuführen sei152. Je unklarer der Zusammenhang zwischen der Nutzung der staatlichen Infrastruktur und dem hierdurch erwirtschafteten Gewinn wird, desto weniger eindeutig fällt auch die territorial abgrenzende Funktion des Nutzenprinzips aus. Dies wird etwa deutlich an der internationalen Zuordnung von Lizenzgebühren153. Zwar wird der wirtschaftliche Wert des Patents unter Nutzung des Marktes im Staat des Lizenznehmers realisiert. Indes gibt das OECDMusterabkommen in Art. 12 OECD-MA der Nutzung der staatlichen Infrastruktur im Staat der Patententwicklung den Vorrang. Dieser Gedanke liegt – wenngleich die internationale Konvention übersteigend – auch den Regeln der Funktionsverlagerung zugrunde. Wer die deutsche Forschungslandschaft einschließlich der steuerlichen Absetzbarkeit seiner Aufwendungen nutzt, soll auch in Deutschland Steuern zahlen. Auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs spielt das Äquivalenzprinzip eine zentrale Rolle. So wird der Inhalt der Niederlassungsfreiheit äquivalenztheoretisch definiert. Nur wer die Infrastruktur des Aufnahme-

__________ 148 Z. B. R. Costa, Entwicklung und theoretische Fundierung des Territorialitätsprinzips in Lateinamerika, in Steuern auf ausländische Einkünfte, München 1985, S. 43 (52). 149 K. Vogel, Die Besteuerung von Auslandseinkünften, DStJG Bd. 3 (1985), 3 (20 ff.). 150 M. Engelschalk, Was bedeutet Territorialität im konkreten Fall?, in Steuern auf ausländische Einkünfte, München 1985, S. 74 ff. 151 G. Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., München 2009, S. 7, spricht nicht ganz zu Unrecht von der „Zielungenauigkeit steuerlicher Regelungen“, unter denen das internationale Steuerrecht in ganz besonderem Maße leide. 152 G. Burmester, Begriff und Funktion des Steuerguts, StuW 1993, 221 (226). 153 Vgl. J. Isenbergh, International Taxation, 2. Aufl., New York 2005, S. 29.

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staates zur Erwirtschaftung von Einkommen nutzt, kann sich gegenüber diesem auf die Grundfreiheiten berufen154. Zwar können Diskriminierungen und Beschränkungen nicht auf das Territorialitätsprinzip gestützt werden. Dennoch wird dem Quellenstaat ein Vorrecht zugestanden, auf seinem Territorium erwirtschaftete Gewinne zu besteuern155. Mangels Anhaltspunkten im EG-Vertrag stützt sich der EuGH dabei, wenn er anhand von Quellen- und Wohnsitzprinzip Besteuerungsrechte und Verantwortlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten zuweist, auf allgemein anerkannte doppelbesteuerungsrechtliche Konventionen156. Gleichzeitig macht der Gerichtshof deutlich, dass ein derart nutzentheoretisch verstandenes Quellenprinzip ein Nettoprinzip ist. Der Quellenstaat darf nur den Nettoertrag abschöpfen und muss Betriebsausgaben sowie Verluste, die durch die Einkommenserzielung entstanden sind, berücksichtigen157. Eine eher kostenbezogene Betrachtung spricht dagegen für das Wohnsitzprinzip. Dass auch der Wohnsitzstaat an im Ausland erwirtschafteten Einkommen partizipieren soll, ist zwar primär Ausdruck des Welteinkommensprinzips und dient der vollständigen Erfassung der steuerlichen Leistungsfähigkeit158. Gleichzeitig kommt aber auch zum Ausdruck, dass der Steuerpflichtige am Wohnsitz Kosten verursacht. Ob das Äquivalenzprinzip bzw. Nutzenprinzip auch zur Steuerabgrenzung im Verbrauchsteuerrecht herangezogen werden kann, ist weniger klar. Joachim Lang begründet, es sei gerecht, „wenn auch Touristen in dem Land, in dem sie weilen, ihren Beitrag leisten“159. Ähnlich argumentiert Gabriele Burmester: Wesentlicher Inhalt des Gebrauchssachverhalts sei „die Belastung einer im tatsächlichen oder fiktiven Aufwand repräsentierten Benutzermöglichkeit und deren hoheitliche Gestaltung, wodurch zum entscheidenden Zugehörigkeitskriterium die Belegenheit des Gebrauchsgutes werde“. Die Rechtfertigung für eine Besteuerung durch den Verbrauchsstaat sieht sie in der Schaffung der

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154 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, EuGHE 2006, I-7995 = FR 2006, 987 m. Anm. Lieber, Rz. 53: Die Niederlassungsfreiheit ermöglicht den Staatsangehörigen der Gemeinschaft, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen ihrer Herkunft teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen; ebenso EuGH v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94 – Gebhard, EuGHE 1995, I-4165, Rz. 25. 155 EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-231/05 – Oy AA, EuGHE 2007, I-6373 Rz. 56; v. 12.12. 2006 – Rs. C-374/04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, EuGHE 2006, I-11673, Rz. 59; ausführlicher dazu J. Hey, Vorrecht des Quellenstaates und binnenmarktkonforme Besteuerung von Kapitalgesellschaften in der Europäischen Union, in FS für H. Schaumburg, Köln 2009, S. 767 (777 ff.). 156 Vgl. z. B. EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-470/04 – „N“, EuGHE 2006, I-7409 = FR 2006, 1128 Rz. 45 f. 157 Ständige Rechtsprechung vgl. EuGH v. 23.2.2006 – Rs. C-471/04 – Keller Holding, EuGHE 2006, I-2107 = FR 2006, 425 Rz. 44; v. 29.3.2007 – Rs. C-347/04 – Rewe Zentralfinanz, EuGHE 2007, I-2647 Rz. 68 f.; v. 12.6.2003 – Rs. C-234/02 – Gerritse, EuGHE 2003, I-5933 Rz. 25 ff. 158 H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl., Köln 1998, Rz. 5.66. 159 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, in FS für H. Schaumburg, Köln 2009, S. 45 (52).

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Gebrauchslage. Äquivalenztheoretisch begründen auch Fischer/Kleineidam/ Warneke160 das Bestimmungsland damit, dass der Konsument im Bestimmungsland von den durch die indirekten Steuern finanzierten Staatsleistungen profitierten, was freilich gerade für den Touristen nur in sehr geringem Maße zutreffen dürfte. Meiner Ansicht nach liegt die Rechtfertigung des Bestimmungslandprinzips primär in der Gewährleistung von Wettbewerbsneutralität im jeweiligen Verbrauchermarkt161. Daneben wird die territoriale Zuordnung des Verbrauchsteuerguts zum Bestimmungsland (in der Regel Wohnsitz des Verbrauchers) zentral durch die Abschöpfung der Verbrauchsleistungsfähigkeit begründet162. Joachim Englisch spricht in diesem Zusammenhang vom „hinreichenden Nexus zum Konsumenten“ als Grundlage der „Einforderung von finanzieller Solidarität“ durch das Bestimmungsland163. Damit liegt die tragende Rechtfertigung für das Bestimmungslandprinzip in der Umsatzsteuer in der Zuordnung der Leistungsfähigkeit zum Verbrauchsort, nicht in der Abschöpfung eines Verbrauchsnutzens. Zwar könnte für eine äquivalenztheoretische Fundierung des Bestimmungslandprinzips angeführt werden, dass der Verbrauchsstaat die Infrastruktur des Konsums, z. B. eine funktionstüchtige Rechtsordnung einschließlich des Verbraucherschutzes gewährleiste, indes reicht dies meines Erachtens nicht aus, um die territoriale Zuordnung des Verbrauchsteueranspruchs nutzentheoretisch zu rechtfertigen. b) Kommunale Steuerhoheit, Gewerbesteuerzerlegung und Finanzausgleich Innerstaatlich definiert das Äquivalenzprinzip die Reichweite der kommunalen Steuerhoheit, ist theoretische Grundlage der Gewerbesteuerzerlegung und findet sich, wenngleich zum Teil durch bündische Umverteilungsinteressen überlagert, auch in der horizontalen Verteilung des Steueraufkommens zwischen den Ländern. Zwar taugt das Äquivalenzprinzip nicht für die Rechtfertigung des subjektiven Anwendungsbereichs sowie der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer, wohl aber liefert es eine Erklärung für die räumliche Abgrenzung der Gewerbesteuer164. Die Zerlegung des Gewerbesteueraufkommens basiert auf dem Versuch einer Zuordnung nach äquivalenztheoretischen Erwägungen, wenngleich der Zerlegungsmaßstab der Lohnsumme den Beitrag der einzelnen Kommune

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160 Fischer/Kleineidam/Warneke, Internationale Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, 5. Aufl., Berlin 2005, S. 47, die allerdings gleichberechtigt auch auf den Zweck der Wettbewerbsneutralität zur Legitimation heranziehen. 161 Aus ökonomischer Sicht Produktionseffizienz vgl. S. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 5. Aufl., München 2007, S. 313 ff., s. ferner Zimmermann/Henke/Broer, Finanzwissenschaft, 10. Aufl., München 2009, S. 227 ff. 162 H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl., Köln 1998, § 9 Rz. 9.2. 163 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Tübingen 2008, S. 630 und 798. 164 J. Hey, Kommunale Einkommen- und Körperschaftsteuer, StuW 2002, 314 (319 f.); kritisch H. Jochum, StB 2005, 254 (258) hinsichtlich der von Gewerbebetrieben ausgelösten gemeindegrenzenübergreifenden Effekte.

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zum wirtschaftlichen Erfolg des Gewerbebetriebes (= Gewerbeertrag) nur sehr grob typisierend abbilden kann165 und im Einzelfall abweichend von § 29 GewStG durch andere Maßstäbe den tatsächlichen Verhältnissen zur Vermeidung offenbarer unbilliger Ergebnisse (§ 33 GewStG) angenähert werden muss166. Die Feststellung einer derartigen Unbilligkeit und die Festlegung eines anderen Aufteilungsschlüssels erfolgt dann dezidiert (kosten)äquivalenztheoretisch167. Die Orientierung an Kosten statt am Nutzen kommt auch in der Sonderregel für mehrgemeindliche Betriebsstätten des § 30 GewStG zum Ausdruck („Berücksichtigung der durch das Vorhandensein der Betriebsstätte erwachsenden Gemeindelasten“). Schwieriger ist es, das Äquivalenzprinzip auch im Finanzausgleich wiederzuerkennen168. Zwar stellt die Zuweisung des örtlichen Aufkommens in Art. 107 Abs. 1 S. 1 GG einen Zusammenhang zwischen der vom jeweiligen Land zur Verfügung gestellten Infrastruktur und dem mit dieser Hilfe erwirtschafteten Erfolg her169. Das Prinzip bündischer Solidarität170 lockert jedoch den Nexus zwischen der Kostentragung für die Bereitstellung öffentlicher Güter und der hierdurch begründeten Partizipation am durch die Nutzung dieser Güter erwirtschafteten Erfolg. Soweit aber beispielsweise ein Ausgleich für Pendlerströme geschaffen werden soll171, liegt dem ganz klar ein berechtigtes nutzentheoretisches Interesse zugrunde. Nicht die Schlafstadt, die aufgrund der Zuständigkeit der Wohnsitzgemeinde die Einkommensteuer vereinnahmt, sondern die Arbeitsortgemeinde leistet den Beitrag zur Erwirtschaftung des Einkommens. In dem auf Joachim Lang zurückzuführenden Vier-Säulen-Modell der Kommission Steuergesetzbuch Stiftung Marktwirtschaft172 wird dieser äquivalenztheoretische Zusammenhang transparent, indem die Arbeitsortgemeinde an dem in ihr erwirtschafteten Lohnsteueraufkommen beteiligt wird. Damit kommt es zu einer Aufkommensteilung zwischen Arbeits- und Wohnsitzgemeinde. Das aus äquivalenztheoretischer Sicht unbefriedigende „Speckgürtelphänomen“ wird vermieden.

__________ 165 Zweifelnd, ob das Verhältnis der Lohnsumme dem Äquivalenzprinzip gerecht werde G. Güroff in Glanegger/Güroff, GewStG, Kommentar, 7. Aufl., München 2009, § 29 Rz. 1. 166 BFH v. 12.7.1960 – I B 47/59 S, BStBl. III 1960, 386; v. 1.3.1967 – I B 240, 241/62, BStBl. III 1967, 324. 167 Vgl. z. B. BFH v. 4.4.2007 – I R 23/06, BStBl. II 2007, 836. 168 Hierzu z. B. P. Bohley, Praktische Probleme bei der Anwendung des Äquivalenzprinzips, in Beiträge zum Äquivalenzprinzip und zur Zweckbindung öffentlicher Einnahmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 121, Berlin 1981, S. 93 ff.; A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 256 ff. 169 H. Siekmann in M. Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl., München 2009, Art. 107 Rz. 6. 170 BVerfG v. 11.11.1999 – 2 BvF 2/98, BVerfGE 101, 158 (222); s. das auf dieser Grundlage erlassene Maßstäbegesetz. 171 H. Siekmann in M. Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl., München 2009, Art. 107 Rz. 8 ff. 172 Siehe J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 8 Rz. 97; Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft, Steuerpolitisches Programm, Berlin 2006, S. 40 ff.

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Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung

IV. Das Verhältnis des Äquivalenzprinzips zum Leistungsfähigkeitsprinzip Das Äquivalenzprinzip ist kein dieses konkretisierendes Subprinzip des Leistungsfähigkeitsprinzips, auch wenn es als Nutzenprinzip verstanden durchaus zu kongruenten Schlussfolgerungen führen kann173. Eine Aufwertung des Äquivalenzprinzips geht daher mit der Frage einher, wie es sich zum Leistungsfähigkeitsprinzip verhält. Schließlich geht es auch Joachim Lang nicht darum, das Leistungsfähigkeitsprinzip abzulösen, sondern lediglich um seine Ergänzung. Dann aber stellt sich die Frage, welchem Prinzip bei unterschiedlichen Schlussfolgerungen der Vorrang zu geben ist. Die Probleme eines Nebeneinanders gleichrangiger Prinzipien offenbaren sich dem wahrlich nicht durch Prinzipienstrenge verwöhnten Betrachter des Steuerrechts bei einem Blick auf das Sozialversicherungsrecht, wo Versuchen, ein Rangverhältnis zwischen den Prinzipien versicherungsmathematischer Äquivalenz sowie dem sozialen und intergenerativen Ausgleich herzustellen, ausdrücklich eine Absage erteilt wird174. Damit ist die Beitragsbemessung ebenso wie die Frage der Mittelverwendung (z. B. Problem der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen) in erster Linie Folge wechselnder politischer Entscheidungen175, die sich keinem verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebot unterwerfen müssen176. Kontinuitätsvermittelnd wirken letztlich nur die praktischen Schwierigkeiten eines Umsteuerns in einem auf langfristige Strukturen angelegten System. Eine vergleichbar beliebige Wahl zwischen Äquivalenz- und Leistungsfähigkeitsprinzip würde das Steuerrecht weitgehend der fiskalpolitischen Willkür ausliefern, eine Gefahr, die in einem monistisch am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichteten System nicht in diesem Maße besteht. Um dies zu verhindern, bedarf es einer Prinzipienhierarchie. In seiner anerkannten Funktion als Prinzip der allgemeinen Steuerrechtfertigung ist das Äquivalenzprinzip dem Leistungsfähigkeitsprinzip vorgelagert177. Insofern kommt es nicht zu Konflikten. Anders als das Leistungsfähigkeitsprinzip ist es in dieser Eigenschaft kein Steuergerechtigkeitsprinzip, weil die Frage der Steuergerechtigkeit als Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die ein-

__________ 173 Siehe oben III.3c und 3 e. 174 Lenze/Zuleeg, Europa- und verfassungsrechtliche Aspekte der Neugestaltung der sozialen Sicherheit, NZS 2006, 456 (459); L. Osterloh in M. Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar, 5. Aufl., München 2009, Art. 3 Rz. 187. 175 F. Reuther, Verfassungsrechtliche Determination für die Beitragsbemessung in der sozialen Kranken- und Pflegeversicherung, in FS für J. Isensee, Heidelberg 2002, S. 435 (465), der diesen Zustand kritisiert. 176 Zu verbleibenden verfassungsrechtlichen Grenzen im Sozialversicherungsrecht z. B. F. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung“, NZS 2004, 1 ff. 177 Vgl. auch K. Vogel, Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, Der Staat, 1986, S. 481 (482), der insofern von der „Rechtfertigung der Steuerpflicht dem Grunde“ nach im Unterschied zur Verteilung der Steuerlast spricht.

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zelnen Gesellschaftsmitglieder178 logisch erst nach der Rechtfertigung von Steuern als solchen einsetzt. Erst wenn man versucht, das Äquivalenzprinzip für die Ausgestaltung des Steuersystems oder gar einzelner Steuern fruchtbar zu machen, stellt sich die Frage nach dem Rangverhältnis zum Leistungsfähigkeitsprinzip. Auf dieser Ebene wird das Äquivalenzprinzip größtenteils als Antagonist zum Leistungsfähigkeitsprinzip verstanden179. Abgaben sollen entweder auf dem Äquivalenzprinzip oder auf dem Leistungsfähigkeitsprinzip basieren180. Das Äquivalenzprinzip ist ein wertungsoffenes Prinzip, schon weil Kostenund Nutzenmaßstab sehr unterschiedliche Ergebnisse zulassen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass das Äquivalenzprinzip mit ähnlichen Unschärfen behaftet ist wie das Leistungsfähigkeitsprinzip und noch sehr viel weniger als das hierfür immer wieder gescholtene Leistungsfähigkeitsprinzip konkrete Rückschlüsse auf die Bemessungsgrundlagen einzelner Steuern zulässt. Dies liegt daran, dass es sich im Steuerrecht, gleich ob als Kosten- oder Nutzenprinzip verstanden, mangels strenger Äquivalenzbeziehungen nur sehr stark typisierend umsetzen lässt181. In seiner steuerrechtlichen Umsetzung stößt es auf sehr viel größere Schwierigkeiten als das Leistungsfähigkeitsprinzip. Offen von der Steuerbemessung nach Leistungsfähigkeit abweichende Bemessungsgrundlagen lassen sich äquivalenztheoretisch nicht hinreichend stringent rechtfertigen. Die insbesondere vom Bundesfinanzministerium182 erhoffte Weiterentwicklung – in Wirklichkeit geht es darum, sich von seinen Fesseln zu befreien – des objektiven Nettoprinzips kann jedenfalls nicht auf das Nutzenprinzip gestützt werden. Im umgekehrter Richtung können und müssen (aus verfassungsrechtlichen Gründen) äquivalenztheoretisch begründete Einzelsteuern um anderweitige Aspekte ergänzt werden, die traditionell dem Leistungsfähigkeitsprinzip zugeschrieben werden. So ließe sich zwar eine Kopfsteuer als allgemeine Äquivalenzsteuer rechtfertigen183, sie wäre aber mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums nicht vereinbar und müsste daher um Elemente des subjektiven Nettoprinzips ergänzt werden.

__________ 178 D. Wellisch, Finanzwissenschaft II – Theorie der Besteuerung, München 2000, S. 38 ff.; Wala/Knoll, Einkommen vs. Konsum: Betriebswirtschaftliche Überlegungen zum ertragsteuerlichen Leistungsfähigkeitsindikator, ÖStZ 2001, 295. 179 H. Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 15: Äquivalenzprinzip als dem Leistungsfähigkeitsprinzip „diametral“ entgegengesetzt. 180 H.-P. Bär, Probleme äquivalenzorientierte Prämienbemessung am Beispiel der obligatorischen Unfallversicherung, Zürich 1994, S. 37. 181 Ebenso W. Scherf, Perspektiven der kommunalen Besteuerung, in G. Färber u. a. (Hrsg.), Probleme der Kommunalfinanzen, Berlin 2001, S. 9 (19). 182 Z. B. Pressemitteilung des BMF v. 10.9.2008 „Politische Leitlinien der Unternehmensteuerreform“. 183 S. B. Hansjürgens, Äquivalenzprinzip und Staatsfinanzierung, Berlin 2000, S. 211.

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Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung

V. Fazit Die weitgehende Ablehnung des Äquivalenzprinzips im steuerrechtlichen Schrifttum beruht darauf, dass das Äquivalenzprinzip in der Regel kostentheoretisch verstanden wird. Insofern ist die Ablehnung berechtigt. Der Versuch, in Steuertatbestände eine Kostenabgeltung zu integrieren, ist insbesondere im Rahmen der Ertragsteuern zum Scheitern verurteilt. Auch die Figur der Gruppenäquivalenz vermag das Charakteristikum der Steuer als gegenleistungslos erhobene Abgabe nicht zu überwinden. Joachim Lang hat dies klar erkannt und mit seiner Hinwendung zum Nutzenprinzip die Debatte neu belebt. Dabei liegt die Bedeutung des Nutzenprinzips neben dem Leistungsfähigkeitsprinzip für das Recht der direkten Steuern primär in der räumlichen Zuordnung der Besteuerungsrechte184. Für eine vom Leistungsfähigkeitsprinzip abweichende Ausgestaltung steuerlicher Bemessungsgrundlagen ist das Äquivalenzprinzip dagegen wenig ergiebig. Als Nutzenprinzip verstanden führt es wie dieses zu einer Besteuerung auf der Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs, zu einer Nettoeinkommensteuer. Der Versuch, ertragsunabhängige Bemessungsgrundlagen mit dem Argument der Kostenäquivalenz zu rechtfertigen, schlägt dagegen fehl. Bei richtigem Verständnis als Nutzenprinzip stärkt das Äquivalenzprinzip das Nettoprinzip. Nutzentheoretisch lassen sich ferner sogar progressive Einkommensteuertarife, wenn auch nicht aus diesem ableiten, so doch mit dem Äquivalenzprinzip vereinbaren. Für das Verständnis der Umsatzsteuer als allgemeiner Verbrauchsteuer ist das Nutzenprinzip dagegen wenig ergiebig. Hier bleibt als Fazit letztlich nur: Das Nutzenprinzip schadet nicht, aber es nutzt nur wenig. Auch wenn damit der Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung differenziert zu betrachten ist, hat Joachim Lang mit der Debatte um das Nutzenprinzip einen wichtigen Denkanstoß gegeben. Wie schon durch seine intensive Befassung mit der Optimal- und Konsumsteuertheorie185 hat er erneut eine Brücke zwischen der Steuerrechtswissenschaft und den Nachbardisziplinen geschlagen. Diese Offenheit für disziplinenübergreifende Denkansätze macht Joachim Lang zu einem unvergleichlichen Lehrer.

__________ 184 Hierin sieht auch A. Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004, S. 264, die Hauptfunktion des Äquivalenzprinzips. Ähnlich, allerdings dort nur für die Kommunalsteuern untersucht, auch schon J. Hey, StuW 2002, 314 (319). 185 Vgl. z. B. J. Lang, Besteuerung des Konsums aus gesetzgebungspolitischer Sicht, Versuch eines interdisziplinär juristisch-ökonomischen Lösungsansatzes, in M. Rose (Hrsg.), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, Heidelberg 1991, S. 291.

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2. Steuerverfassungsrecht Joachim Englisch

Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Mehrdimensionaler Charakter des Folgerichtigkeitsgebotes III. Gleichmäßige Umsetzung bereichsspezifisch sachgerechter Verteilungsmaßstäbe 1. Grundsätzliche Ausrichtung an sachgerechten Maßstäben 2. Notwendigkeit wertender Maßstabskonkretisierung 3. Zur Festlegung des maßstabsrelevanten Regelungsbereichs a) Grundsätzliche Erwägungen b) Besonderheiten im Steuerrecht 4. Der zulässige Systemwechsel 5. Anforderungen an eine Durchbrechung des folgerichtig zu entfaltenden Leitprinzips a) Bloß prinzipieller Charakter des Folgerichtigkeitsgebotes b) Kontroverse Formulierung des Rechtfertigungsstandards im Schrifttum c) Wankelmut des BVerfG

d) Eigener Standpunkt zum Rechtfertigungsstandard e) Exkurs: Eine Kritik der Entscheidung betreffend Jubiläumsrückstellungen f) Steuervergünstigungen im Besonderen g) Verbot substantieller Aushöhlung des sachgerechten Verteilungsprinzips h) Strengere Anforderungen im Rahmen besonderer Gleichheitssätze IV. Widerspruchsfreie Ausgestaltung der Abweichungen vom Verteilungsmaßstab 1. Grundsätzliche Erwägungen 2. Folgerichtige Ausgestaltung von Steuervergünstigungen im Besonderen V. Ansätze eines europarechtlichen Folgerichtigkeitsgebotes VI. Zusammenfassung

Es war Joachim Lang, der mich für das Steuerrecht begeisterte. In meinem fünften Studiensemester haben mich seine Vorlesungen und das damals schon ganz überwiegend aus seiner Feder stammende Lehrbuch „Steuerrecht“ so fasziniert, dass ich den an sich zu bestreitenden Pflichtfachstoff beiseite schob, um mich ganz jener Materie zu widmen. Die Klarheit der Gedankenführung und die systematische Durchdringung des gesamten Rechtsgebiets bis in die Details beeindruckten mich nachhaltig. Während meiner Assistententätigkeit am Kölner Institut für Steuerrecht erlebte ich Joachim Lang als diskursfreudigen Forscher, der seinen Mitarbeitern ein Höchstmaß an intellektueller Freiheit zugestand, sie aber auch stets zu kritischer Reflexion an167

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hielt. Joachim Lang zählt zur steuerrechtswissenschaftlichen Elite, er ist aber frei von elitärem Dünkel; er hat sich auch nie in den Elfenbeinturm praxisferner Wissenschaft zurückgezogen. Mehr als nur akademischer Lehrer und Vorbild war er mir in meiner wissenschaftlichen Laufbahn auch ein warmherziger und lebenserfahrener Ratgeber. Mit diesem Festschriftenbeitrag möchte ich ihm meinen tiefempfundenen Dank für seine vielfältige Förderung und Unterstützung ausdrücken.

I. Einleitung Im Vorwort zur 20. Aufl. des von ihm über zwei Jahrzehnte lang verantworteten deutschen Standardwerkes zum Steuerrecht beklagt Joachim Lang den ungebrochenen „Steueränderungsrausch“ des Gesetzgebers1. Dies deckt sich mit dem Befund anderer prominenter Steuerrechtswissenschaftler, die Steuergesetze zur „Wegwerfware“ degeneriert sehen2, weshalb das steuerliche Schrifttum permanent „Wegwerfliteratur“ produziere3. Verantwortlich hierfür sind in erster Linie die stete Orientierung der Abgeordnete und Regierungsmitglieder stellenden politischen Parteien an kurzfristiger Stimmenfang- und Klientelpolitik4 sowie eine auch in den Finanzministerien anzutreffende Kultur des Kurierens nur an punktuellen Symptomen von an sich tiefer liegenden Defiziten des Steuersystems. Die Mut- und Kraftlosigkeit zur vom Jubilar wiederholt angemahnten strukturellen Steuerreform5 und tagespolitischer Aktionismus werden maßgeblich befördert durch ein nach wie vor unterentwickeltes Bewusstsein des Gesetzgebers für steuerliche Systematik und für systemtragende Prinzipien der Besteuerung6. Mit dem Steuerrecht vertraute Richter sowohl am Ersten als auch am Zweiten Senat des BVerfG haben sich denn auch in drastischen Worten über den Mangel an prinzipiell-systematischer Ausgestaltung dieses Rechtsgebietes geäußert7.

__________ 1 J. Lang, Vorwort zur 20. Aufl. des Tipke/Lang, Steuerrecht, 2010. 2 Vgl. D. Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (19); K. Vogel, StuW 1984, 197. 3 Vgl. K. Tipke in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (873). 4 Vgl. K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr! Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, S. 65 ff. 5 Eine strukturelle Reform muss bei den Steuerarten und ihrer Bemessungsgrundlage, kann nicht nur am Steuertarif ansetzen, vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 8 Rz. 82; dens. u. a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005, S. 36 f.; dens., StuW 2006, 22 (31 f.); s. auch K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 838. 6 So etwa auch die Kritik von D. Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (22); R. Eckhoff, FR 2007, 989 (991); J. Hey, BB 2007, 1303 (1309); K. Tipke, StuW 2007, 201 (212). Vgl. auch schon J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985, S. 8: „fortschreitender Qualitätszerfall der Steuergesetzgebung“; vgl. auch dens., a. a. O., S. 10 f. 7 Vgl. F. Kirchhof, StuW 2002, 185; R. Mellinghoff in FS Bareis, 2005, S. 171 (182).

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Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot

Es liegt daher nahe, dem daraus resultierenden „Steuerchaos“8 eine stärkere Effektuierung ordnungsstiftender und systemstabilisierender Besteuerungsprinzipien entgegenzusetzen. Der gegenüber dem Gesetzgeber primär dazu berufene Souverän vermag dies jedoch kaum zu leisten: So zahlreich sind Ausnahme- und Sondervorschriften inzwischen, dass die Wahrung des eigenen Steuerprivilegs weitaus eher im Fokus der meisten Wähler steht als die übergreifende Frage gleichmäßiger und gerechter Verteilung der Steuerlast auf alle Steuerbürger9; obschon meist durchaus ein rechtethisches Gespür für ungerechtfertigte Vergünstigungen anderer besteht. Die entscheidenden Impulse müssten mithin vom BVerfG ausgehen, zumal die beschriebenen Fehlentwicklungen zweifellos eine verfassungsrechtliche Dimension aufweisen: Steuerrecht ist staatlich gesetztes Eingriffsrecht, es hat darum die Vorgaben des Grundgesetzes und insbesondere die Grundrechte zu beachten. Unsystematisches, inkonsequentes, wertungswidersprüchliches Recht ist dabei seit jeher dem Verdacht eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz ausgesetzt. Im Zentrum gleichheitsrechtlich fundierter Erwartungen nicht nur an eine Entschlackung des geltenden Steuerrechts, sondern vor allem auch an eine Hebung der gesetzgeberischen Steuerrechtskultur durch stärkere Akzentuierung verfassungsrechtlicher Direktiven steht das sog. Folgerichtigkeitsgebot. Nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des BVerfG wird die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers, die Determinanten steuerlicher Gleich- oder Ungleichbehandlung festzulegen, im Steuerrecht „vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit.“10 Das BVerfG hat es in seiner jahrzehntelangen Spruchpraxis jedoch nicht vermocht, das Folgerichtigkeitsgebot zu einem stringent gehandhabten Prüfungsmaßstab fortzuentwickeln. Gerade im vergangenen Jahr kamen höchst unterschiedliche Signale aus Karlsruhe: Einerseits die strikte Prüfung auf Stimmigkeit und Konsequenz der gesetzgeberischen Konzeption in der Entscheidung zur Pendlerpauschale11, andererseits der Beschluss betreffend Jubiläumsrückstellung, der nach Auffassung von Joachim Lang „den Systemgedanken und das Folgerichtigkeitsgebot für den Bereich des Unternehmensteuerrechts praktisch außer Kraft“ setzt12. Entsprechend kontrovers wird im Schrifttum diskutiert, ob und ggf. inwiefern dem Folgerichtig-

__________ 8 Vgl. schon K. Tipke, StuW 1971, 2. Im Vorwort zur 19. Aufl. des Tipke/Lang, Steuerrecht, 2008, spricht J. Lang überspitzt von einer „Verrottung des deutschen Steuerrechts“. 9 Vgl. K. Tipke in dieser Festschrift, S. 44 f.; speziell zum Wirken der Interessenverbände auch K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung III, 1993, S. 1454 f. 10 BVerfG v. 13.10.2009 – 2 BvL 3/05, BVerfGE 123, 111 (120); vgl. ebenso BVerfG v. 16.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (125); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 u. a., BVerfGE 107, 27 (46 f.); v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 164 (180); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30); v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, DStRE 2009, 922 (924); v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, FR 2010, 804. 11 Vgl. dazu auch die Einschätzung von D. Birk, DStR 2009, 877 (881): „deutlich verschärfte Maßstäbe“. 12 Vgl. J. Lang, Vorwort zur 20. Aufl. des Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010.

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keitsgebot neben der allgemeinen Dogmatik des Gleichheitssatzes eine eigenständige Bedeutung zukommt. Dieser Frage ist der vorliegende Beitrag gewidmet. Er darf hoffen, auf das Interesse des Jubilars zu stoßen, dessen Lebenswerk ganz maßgeblich vom Ringen um eine konsequente Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Recht der Ertragsteuern geprägt ist.

II. Mehrdimensionaler Charakter des Folgerichtigkeitsgebotes Bei genauerer Betrachtung weist das vom BVerfG aufgestellte Gebot wertungsmäßig folgerichtiger Gesetzgebung zwei zentrale Ausprägungen auf13: Zunächst beinhaltet es die Forderung an die Legislative, die Begründung von Rechten oder Pflichten im Rahmen eines im Kern durch ein Anliegen der iustitia distributiva gekennzeichneten Regelungskomplexes konsequent an ein und demselben Verteilungsmaßstab auszurichten, also gleichartige Vorteile oder Belastungen „gleichmäßig“ zuzuteilen. Es geht also um die folgerichtige gesetzgeberische Orientierung an einem je sachgerechten Leitprinzip für die Gewährung staatlicher Leistungen und die Auferlegung staatlicher Lasten, für den Zugang zu staatlichen Ämtern und Institutionen, sowie generell für die Zuteilung knapper, staatlicherseits gewährter Vorteile einerseits und für die Auswahl unter mehreren potentiellen Pflichtigen, wenn nach Grund oder Ausmaß schon deren nur teilweise Inanspruchnahme zur Erfüllung der in Rede stehenden staatlichen Aufgabe ausreicht, andererseits14. Speziell im Steuerrecht steht dafür insbesondere die Formulierung, es müsse „bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands … die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden.“15 Dieser Akpekt des Folgerichtigkeitsgebots dominiert regelmäßig die steuerjuristische Debatte16. Aus ihm leitet sich auch

__________ 13 Siehe dazu auch U. Kischel, AöR 124 (1999), 174 (177), der nach den ersten beiden der nachfolgend genannten Ausprägungen differenziert. 14 Demgegenüber wird in Regelungsbereichen wie etwa dem Polizei- und Ordnungsrecht, in denen sich ein staatlicher Grundrechtseingriff gegen jeden richtet, der für die Erreichung des Eingriffszwecks individuell verantwortlich gemacht werden kann, die Sicherstellung einer gleichmäßigen Gewährleistung grundrechtlicher Garantien bereits vollständig über die freiheitsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung erreicht, vgl. BVerfG v. 28.3.2006 – 1 BvR 1054/01, BVerfGE 115, 276 (317); eingehend J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 86 ff. 15 Vgl. Vgl. BVerfG v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (95); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290); v. 16.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 u. a., BVerfGE 107, 27 (47); v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 164 (180 f.); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31); v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, DStRE 2009, 922 (924); v. 13.10.2009 – 2 BvL 3/05, BVerfGE 123, 111 (120). 16 Grundlegend K. Tipke, DStZ-A, 1975, 406 (407); s. ferner etwa D. Birk in FS Schaumburg, 2009, S. 3 (12); DStR 2009, 877 (881); G. Morgenthaler in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (52). Im staatsrechtlichen Schrifttum grundlegend C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 4 u. 19 f., der überhaupt nur diesen Aspekt gleichheitsrechtlicher Folgerichtigkeit diskutiert.

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die gleichheitsrechtliche Missbilligung einer wertungswidersprüchlichen tatbestandlichen Konkretisierung ein und desselben Zuteilungsmaßstabs bzw. der ihm zuzuordnenden Unterprinzipien ab, sei es im Binnenkontext eines Regelungsbereichs oder auch bereichsübergreifend. Darüber hinaus steht das Folgerichtigkeitsgebot aber auch einer widersprüchlichen Gewichtung von Grundrechten oder verfassungsrechtlichen Prinzipien in der Abwägung mit je kollidierenden Rechten, Prinzipien oder Zielen entgegen. So hat das BVerfG etwa in der Entscheidung zur Pendlerpauschale u. a. festgestellt, bei Nutzung sparsamer Verkehrsmittel mit geringem Kostenaufwand prämiere die in unveränderter Höhe gewährte Pauschale umweltschonendes Verhalten unter bewusster Verdrängung des aufwandsorientierten Nettoprinzips. Es sei aber wertungswidersprüchlich, eine solche Vorrangwertung zugunsten umweltpolitischer Zielsetzungen nur bei längeren, nicht auch bei regelmäßig noch umweltfreundlicheren kürzeren Wegstrecken zu treffen. Noch deutlicher zum Ausdruck kam das Gebot konsistenter Gewichtung von Grundrechten in der Abwägung mit kollidierenden Belangen – in concreto grundrechtlichen Schutzpflichten – jüngst in der sog. Nichtraucherentscheidung des BVerfG17. Aus diesen beiden Facetten des Folgerichtigkeitsgebotes erschließt sich seine potentielle Reichweite und Wirkmächtigkeit bei der gleichheitsrechtlichen Einhegung des steuerlichen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers18. Damit einher gehen freilich seit jeher Befürchtungen, statt der erhofften Lichtung des Steuerdschungels könne das Folgerichtigkeitsgebot einen regelrechten Kahlschlag gewachsener Steuerstrukturen bewirken19. Auch Joachim Lang hat in seiner Doktorschrift noch den Standpunkt vertreten, ein generelles Verdikt der Verfassungswidrigkeit systemwidriger Steuernormen würde unweigerlich die geltende Steuerrechtsordnung aus den Angeln heben20. Im Schrifttum stößt die gleichheitsrechtliche Verankerung des Folgerichtigkeitsgebotes daher auch heute noch auf Widerstand; insbesondere wird vor einem steuerlichen Sonderweg in der gleichheitsrechtlichen Dogmatik gewarnt21. Bei zutreffender Betrachtung stellt das Folgerichtigkeitsgebot indes ein – keineswegs nur steuerspezifisches – Essentiale gleichheitsrechtlicher Verbürgungen dar, dessen Effektuierung gegenüber dem Gesetzgeber vom BVerfG allerdings wie vom Jubilar angeregt stets mit Augenmaß erfolgen muss22. Dies soll im Folgenden näher dargelegt werden.

__________ 17 Vgl. BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, u. a., BVerfGE 121, 317 (356 ff.); s. dazu noch unten bei IV.1. 18 Vgl. P. Kirchhof, StuW 2006, 3 (14): „praktisch bedeutsamste steuerliche Wirkung des Gleichheitssatzes“; ähnlich R. Wernsmann in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 161 (164). 19 Pointiert U. Battis in FS Ipsen, 1977, S. 11 (20). 20 Vgl. J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 145. 21 Vgl. U. Kischel in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (178). 22 So auch D. Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (38).

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III. Gleichmäßige Umsetzung bereichsspezifisch sachgerechter Verteilungsmaßstäbe 1. Grundsätzliche Ausrichtung an sachgerechten Maßstäben Seit der Antike ist die Vorstellung individueller, sozialer und politischer Gleich- oder Ungleichbehandlung aufs engste mit Gerechtigkeitspostulaten verbunden23. Auch die Gleichheitsideale der Aufklärung waren rechtsethisch fundiert24 und mündeten in die Aufnahme gleichheitsrechtlicher Vorgaben in zahlreiche Menschenrechtserklärungen und Verfassungstexte25. In dieser Tradition steht auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Er nimmt als wertungsoffenes26 und kontextrelatives27 Grundrecht Gerechtigkeitsvorstellungen der Verfassung und des Gesetzgebers in sich auf28. Auch das BVerfG geht davon aus, dass der allgemeine Gleichheitssatz unmittelbarer Ausdruck des der Rechtsidee inhärenten Gerechtigkeitsgedankens ist29. Er hält den Gesetzgeber dementsprechend dazu an, sich in jedem Regelungsbereich an „sachgerechten“ Differenzierungskriterien zu orientieren30. Speziell im Steuerrecht soll Art. 3 Abs. 1 GG dementsprechend Steuergerechtigkeit gewährleisten31.

__________ 23 Für weitere Nachweise s. J. Englisch in Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rz. 1 Fn. 1. 24 Vgl. W. Heun in H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rz. 3. 25 Vgl. J. Englisch in Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rz. 1 und 2. 26 Näher J. Englisch in Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rz. 23; Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 85 Fn. 64; L. Osterloh in Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 3 Rz. 5 ff. m. w. N. 27 Vgl. BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93 u. a., BVerfGE 105, 17 (46); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 31, 44 u. 363; K.-A. Schwarz in FS Isensee, 2007, S. 949. 28 Vgl. M. Albers, JuS 2008, 945; P. Baumeister in Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 251; E.-W. Böckenförde, VVDStRL 47 (1989), S. 95; E. Kaufmann, VVDStRL 3 (1927), S. 2 (10); R. Wendt, NVwZ 1988, 778; K. Tipke in dieser Festschrift, S. 30; R. Zippelius, VVDStRL 47 (1989), S. 7 (10 ff.); weitere Nachweise bei J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberscrheitenden Handel, 2008, S. 82 Fn. 61. A. A. C. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Abs. 1 Rz. 15. 29 Vgl. BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7 (18); 1.7.1987 – 1 BvL 21/82, BVerfGE 76, 130 (139); 16.3.2004 – 1 BvR 1778/01, BVerfGE 110, 141 (167); st. Rspr. vgl. auch BVerfG v. 3.6.1987 – 1 BvL 5/81, BVerfGE 75, 361 (366); v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (70); v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271); v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332 (346). 30 Siehe dazu eingehend BVerfG v. 15.10.1985 – 2 BvL 4/83, BVerfGE 71, 39 (57 f.) m. w. N. Vgl. ferner J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 77; R. Mellinghoff in FS Bareis, 2005, S. 171 (177); K. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, S. 37; R. Zippelius, VVDStRL 47 (1989), S. 73. So im Ansatz auch die Gegner eines Folgerichtigkeitsgebotes im Steuerrecht, vgl. W. Flume, StbJb 1967/68, S. 63 (64); H. W. Kruse, StuW 1990, 322 (323 u. 327). Ablehnend hingegen A. Hanebeck, Der Staat 41 (2002), 429 (446). 31 Vgl. BVerfG v. 3.7.1973 – 1 BvR 368/65 u. a., BVerfGE 35, 324 (335); v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (279) m. w. N.; v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180); v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (44); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (231); v. 13.10.2009 – 2 BvL 3/05, BVerfGE 123, 111 (120).

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Gerechtigkeitsvorstellungen wandeln sich im Laufe der Zeit; auch wird sich in einer pluralistischen Gesellschaft mitunter im rechtsethischen Diskurs kein allgemein anerkannter Gerechtigkeitsmaßstab herauskristallisieren. Im Ausgangspunkt ist daher der demokratisch legitimierte Gesetzgeber dazu berufen, über sachgerechte Prinzipien der Zuteilung von Rechten und Pflichten zu befinden. Dabei hat er sich freilich an „den in den Grundrechten konkretisierten Wertentscheidungen und den fundamentalen Ordnungsprinzipien des Grundgesetzes“ zu orientieren32. Diese werden zudem gerade im Bereich des seit jeher einem intensiven Gerechtigkeitsdiskurs unterliegenden Steuerrechts auch durch die Überzeugungen der Rechtsgemeinschaft mitgeformt33. Im freiheitlich verfassten Sozialstaat deutscher Prägung ist damit letztlich das Leistungsfähigkeitsprinzip als fundamentaler Maßstab für die gleichmäßige Auferlegung von primär fiskalisch motivierten Steuern nach wie vor alternativlos34, auch wenn bei der internationalen Abgrenzung der je maßgeblichen Solidargemeinschaft der Steuerzahler nutzentheoretische Erwägungen mit einfließen mögen35. Die Gegner eines gleichheitsrechtlich angebundenen Folgerichtigkeitsgebotes pflegen an dieser Stelle einzuwenden, das Leistungsfähigkeitsprinzip sei nur ein gerechtes Lastenzuteilungskriterium neben einer Vielzahl weiterer gleichrangiger Gesichtspunkte, anhand derer der Gesetzgeber die Steuerlast bemessen dürfe. Auch wirtschaftspolitische, umweltpolitische, sozialpolitische und sonstige „politische“, nicht schon per se verfassungswidrige Erwägungen könnten als sachlich gerechtfertigte Gründe eine steuerliche Gleich- oder Ungleichbehandlung aufwiegen36. Damit mangele es jedenfalls im Steuerrecht an

__________ 32 Vgl. BVerfG v. 24.3.1976 – 2 BvR 804/75, BVerfGE 42, 64 (72 f.); P. M. Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 522; H. P. Ipsen, VVDStRL 47 (1989), S. 88; J. Lang, StuW 1989, 201 (205). 33 Vgl. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 124; dens. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 76; s. dazu allgemein und grundlegend C. R. Sunstein, Constitution of Many Minds, 2009, passim und zusammenfassend S. 213; ferner C. Kannengießer in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 3 Rz. 19. 34 Eingehend J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 578; vgl. auch D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 155 ff.; R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 152; J. Isensee in FS Ipsen, 1977, S. 409 (418); M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 9 ff.; K. Tipke in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (877). Vgl. auch BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (125); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 u. a., BVerfGE 107, 27 (46 f.); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30); v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, DStRE 2009, 922 (924); v. 13.10.2009 – 2 BvL 3/05, BVerfGE 123, 111 (120). Die grundlegend a. A. von W. Leisner, Der Gleichheitsstaat, 1980, S. 189 ff., hat sich zurecht nicht durchgesetzt. 35 Vgl. J. Lang in FS Schaumburg, 2009, S. 45 (47); K. Vogel, Intertax 1988, 393 (395). 36 Vgl. H.-W. Arndt in FS Mühl, 1981, S. 17 (29); NVwZ 1988, 787 (791); U. Kischel, AöR 124 (1999), S. 174 (187 u. 197); dens. in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (179 ff.); H.-W. Kruse, DStJG 5 (1982), 71 (80); StuW 1990, 322 (327). Im Ergebnis ebenso R. Wernsmann in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 161 (165 ff.). Ähnlich und nicht lediglich

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einem eindeutigen Anknüpfungspunkt für die gleichheitsrechtliche Durchsetzung von „Systemkonsequenz“. Dahinter steht teils explizit, teils implizit die Vorstellung, der Gleichheitssatz gebiete nur den kleinteiligen Vergleich einzelner Be- oder Entlastungswirkungen ohne Rückanbindung an übergeordnete Maßstäbe der Lastenzuteilung. Ausgehend von einer solchen Sichtweise lässt sich dann auch gar nicht mehr feststellen, welche Regelungen das Steuersystem tragen und welche nicht37. Dieser Standpunkt negiert indes den gleichheitsrechtlichen Eigenwert einer bezogen auf die gesamte Solidargemeinschaft der Steuerzahler prinzipiell gleichmäßigen Besteuerung38. Wer wie vorstehend beschrieben argumentiert leugnet die im Gerechtigkeitsdiskurs zu gewinnende Erkenntnis, dass auch und gerade die gerechte Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die einzelnen Bürger ein „Imperativ der Ethik“39 ist, der Eingang in den rechtsethisch angelegten Gleichheitssatz finden muss40. Das BVerfG kleidet diese Zusammenhänge in die Feststellung, dass der steuerliche Eingriff seine Rechtfertigung auch und gerade aus der Gleichheit der Lastenzuteilung gewinnt41. Steuergerechtigkeit ist Verteilungsgerechtigkeit, deren gleichheitsrechtliche Gewährleistung daher eines steuerspezifisch gerechten Verteilungsmaßstabs bedarf42. Mithin ist Folgerichtigkeit gerade im Steuerrecht ein eigenständiges und besonders gewichtiges Gerechtigkeitskriterium43. Könnte der Gesetzgeber hingegen ohne besonderen Rechtfertigungsbedarf bald diesem, bald jenem Ge-

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auf das Steuerrecht bezogen auch C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 53; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 232 u. 238. Vgl. U. Kischel in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (184); dazu kritisch S. Huster in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 3 (Stand: 12/2004) Rz. 112. Vgl. auch S. Müller-Franken in GS Trzaskalik, 2005, S. 195 (203 f.); K. Tipke, StuW 2007, 201 (208); R. Wendt, NVwZ 1988, 778 (783); ähnlich K.-A. Schwarz in FS Isensee, 2007, S. 949 (958); sowie grundsätzlich C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 46 f. Pointiert K. Tipke in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (868): Steuerrecht darf sich nicht in „beliebiger Schröpfungstechnik“ erschöpfen. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 1993, S. 261; dies konzediert an sich auch H. W. Kruse, StuW 1990, 322 (329). Vgl. J. Lang in FS Tipke, 1995, S. 3 f.; K. Tipke, JZ 2009, 533 (534 u. 536). Siehe ferner R. Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional Financeiro e Tributário, Vol. II, 2005, S. 163 ff.; G. F. Schuppert in FS Zeidler, 1987, S. 691 (710). BVerfG 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (268) f.; ähnlich R. Prokisch in FS Vogel, 2000, S. 293 (307 f.); F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (187); S. Müller-Franken in GS Trzaskalik, 2005, S. 195 (203). K. Tipke, StuW 2007, 201 (203). Vgl. K. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, S. 14 ff. u. S. 47 ff.; dens., StuW 2007, 201 (205); dens. in FS Reiß, 2008, S. 9 (11); ähnlich L. Micker, DStZ 2009, 285 (289). Siehe ferner BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, DStRE 2009, 922 (924); v. 13.10.2009 – 2 BvL 3/05, BVerfGE 123, 111 (120): die einmal getroffene Belastungsentscheidung ist „folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit“ umzusetzen.

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sichtspunkt den Vorzug geben, sofern nur dessen prinzipielle Tragfähigkeit erwiesen wäre, so verlöre die Steuerwürdigkeitsentscheidung Richtung und Maß. Die den Einzelnen treffende Belastung ließe sich im Verhältnis der Staatsbürger zueinander, d. h. intersubjektiv in der Gruppe potentiell Betroffener nicht länger als gerecht oder doch zumindest gerechtfertigt bewerten. Insofern ist zwischen der Sachgerechtigkeit gleichmäßiger Lastenzuteilung einerseits und der – unbestrittenen vielfach anzuerkennenden – Gerechtigkeitsqualität sonstiger gesetzgeberischer Zielsetzungen andererseits zu unterscheiden, weil letztere nur eine punktuelle Durchbrechung des Sachgerechtigkeitsmaßstabs zu legitimieren vermögen44. In diesem Sinne ist mit Joachim Lang in der Tradition der Kölner Schule des Steuerrechts anzunehmen, dass Prinzipien- und Regellosigkeit Willkür, also das Gegenteil von Gerechtigkeit bedeutet45. Der Gesetzgeber kann mithin das gleichheitsrechtliche Folgerichtigkeitsgebot nicht dadurch unterlaufen, dass er ein Rechtsgebiet „chaotisiert“ und sich nicht einmal ansatzweise an bereichspezifisch einheitlichen Grundsätzen der Lastengleichheit im Sinne eines Besteuerungsgleichmaßes orientiert46. Deshalb mindert gerade das strikte Beharren auf Folgerichtigkeit die teilweise47 beschworene Gefahr des verfassungsrichterlichen Hineininterpretierens von Wertungen in ein gesetzliches „System“, das sich nicht erkennbar an rechtsethischen Leitmotiven orientiert. Das Folgerichtigkeitsgebot zielt auf Entfaltung, nicht auf Substitution von (verfassungskompatiblen) gesetzgeberischen Gerechtigkeitswertungen48, die als klar erkennbare Direktiven vom Gleichheitssatz vorausgesetzt werden. Gleichheitssatzrechtliche Willkür ist auch zu konstatieren, wenn der Gesetzgeber die Ausgestaltung bestimmter Belastungen teils an einem bestimmten Leitprinzip, teils an einem damit unvereinbaren anderen grundsätzlichen Lastenausteilungsmaßstab orientiert und damit von vornherein einer Folgerich-

__________ 44 Ähnlich P. Baumeister in Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 251 (257): „natürliche Gerechtigkeit“ vs. sonstige Ziele. A. A. H. W. Kruse, StuW 1990, 322 (324). 45 Vgl. J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 73; vgl. ferner K. Tipke, StuW 1988, 262 (265); dens. in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (870); StuW 2007, 201 (204); JZ 2009, 533 (534). Im Ergebnis ebenso, aber rechtsstaatlich akzentuiert C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 112 ff.: Verbot des „Systems der Systemlosigkeit“. 46 A. A. U. Battis in FS Ipsen, 1977, S. 11 (20), skeptisch auch D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 160 f.; dagegen dezidiert wie hier K. Tipke, StuW 1988, 262 (269); ders. in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (876): Regellosigkeit ist Willkür und damit ein Grundverstoß gegen den Gleichheitssatz. Ähnlich kritisch F. Schoch, DVBl. 1988, 863 (878). 47 Vgl. A. Hanebeck, Der Staat 41 (2002), 429 (433); ähnlich F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 234. 48 Vgl. K. Tipke, JZ 2009, 533 (539); s. dazu auch U. Di Fabio, JZ 2007, 749 (754).

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tigkeitskontrolle die Grundlage entzieht49. Hieran krankt etwa die Gewerbesteuer, deren Bemessungsgrundlage bei dem auf Basis des Leistungsfähigkeitsprinzips ermittelten Gewinn ansetzt, um dann Modifikationen zwecks Verwirklichung des Grundsatzes einer Besteuerung am Maßstab der „objektivierten Ertragsfähigkeit“ vorzunehmen, wobei das Ausmaß der Korrekturen nach Grund und Höhe jedoch willkürlich zwischen beiden Leitideen oszilliert. Nicht ausgeschlossen ist hingegen, dass die einem Verteilungsgrundsatz zugrunde liegenden Wertungen – wie etwa das Solidarprinzip als ethisches Fundament des Leistungsfähigkeitsprinzips50 – punktuelle Durchbrechungen eines anderen, an sich bereichsspezifisch maßgeblichen Zuteilungsprinzips zu legitimieren vermögen. So ist es jedenfalls ansatzweise zu rechtfertigen, Kindergartengebühren als an sich am Nutzenprinzip ausgerichtete Abgaben aufgrund sozialstaatlich getragener Erwägungen zu ermäßigen. Kann das Leistungsfähigkeitsprinzip oder ein anderer – sachgerechter51 – Lastenzuteilungsmaßstab als Leitprinzip für die Ausgestaltung des Besteuerungstatbestandes identifiziert werden, so ist mit Klaus Tipke davon auszugehen, dass sich ein Gebot konsequenter Umsetzung dieses Grundsatzes schon aus seiner Eigenschaft als den Gleichheitssatz bereichsspezifisch konkretisierende Wertung selbst ergibt52. Besagtes sachgerechtes Leitprinzip fungiert dann insbesondere als Vergleichsmaßstab bzw. tertium comparationis bei der Beurteilung, ob und ggf. inwieweit sich zwei miteinander zu vergleichende Sachverhalte oder Personen hinsichtlich ihrer Besteuerungswürdigkeit unterscheiden53. Infolgedessen sind Maßstabsabweichungen als Gleichbehandlung von

__________ 49 Vgl. K. Lange, Die Verwaltung 4 (1971), 259 (265 f.); K. Tipke, StuW 2007, 201 (204): kein Messen mit zweierlei Maß. Siehe in diesem Zusammenhang auch BVerfG v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 (233) im Umkehrschluss. Vgl. ferner J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 135 ff., zu Konstellationen zulässiger Aufteilung einer Regelungsmaterie in Gebiete, die sich an je unterschiedlichen – und jeweils folgerichtig entfalteten – Maßstäben ausrichten. 50 Dazu eingehend J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 577 f. 51 Zur Notwendigkeit der Anknüpfung folgerichtiger Wertung an sachgerechte Ausgangsprämissen vgl. K. Tipke, StuW 1971, 2 (7); dens. in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (870); StuW 2007, 201 (207); dens. in FS Reiß, 2008, S. 9 (11); JZ 2009, 533 (535). Siehe auch U. Di Fabio, JZ 2007, 749: Gerechtigkeit ist eine Frage des richtigen Maßes. Insoweit zutreffend auch U. Kischel, AöR 124 (1999), 174 (195 f.). Im Steuerrecht gilt dies für alternative Maßstäbe namentlich im Bereich der Lenkungsteuern. 52 Vgl. K. Tipke, StuW 2007, 201 (205); DB 2008, 263 (264); dens. in dieser Festschrift, S. 35; s. auch schon K. Tipke, DStZ-A 1975, 406 (407). 53 Vgl. J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 142; R. Wendt, NVwZ 1988, 778 (782 f.); K. Tipke, BB 1973, 157 (158); StuW 1988, 262 (266 u. 269); dens. in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (876); H. Ávila, Sistema Constitucional Tributário, 3. Aufl. 2007, S. 357 f.; R. Ferraz in Ferraz (Hrsg.), Princípios e Limites da Tributação, 2005, S. 447 (476 ff.); J. Casalta Nabais, O Dever Fundamental de Pagar Impostos, 2004, S. 442 ff.; generell zur Bedeutung eines bereichsspezifisch sachgerechten Maßstabs

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wesentlich bzw. „wertmaßstäblich“54 Ungleichem oder als Ungleichbehandlung von wesentlich bzw. „wertmaßstäblich“ Gleichem besonders zu rechtfertigen. Generell und auch im Steuerrecht wird auf diese Weise Gemeinwohlorientierung des Rechts gewährleistet; der Gleichheitssatz wirkt damit als verfassungsrechtliches Bollwerk gegen politisch opportune Befriedigung von Partikularinteressen55. Die Bezeichnung als Folgerichtigkeitsgebot drückt die vorstehend beschriebenen Zusammenhänge schlagwortartig aus; es könnte in einer entsprechend angelegten Gleichheitssatzprüfung auf diese terminologische Hervorhebung aber auch ohne Einbußen an Kontrolldichte verzichtet werden56. Es trifft zu, dass gleichheitsrechtliche Folgerichtigkeit gesetzgeberische Handlungsspielräume einhegt und damit auch die Möglichkeiten zum Kompromiss im parlamentarischen Prozess der Gesetzgebung beschneidet. Nicht zu folgen ist aber der Grundsatzkritik, eine dahingehende Effektuierung des Gleichheitssatzes erzeuge Verfassungserwartungen, die mit dem im Staatsorganisationsrecht angelegten politischen und institutionellen Zwang zur Kompromissbildung unvereinbar seien57. Denn Abgeordnete wie auch Gesetzgebungsorgane sind nach wie vor frei, innerhalb der verbleibenden, signifikanten Wertungsund Konkretisierungsspielräume58 auch den politischen Kompromiss zu suchen59. Soweit politische Strömungen für die unterschiedliche Gewichtung von Gemeinwohlbelangen oder von jedem zustehenden individuellen Freiheits- oder Teilhaberechten bzw. für unterschiedliche Wege zu deren Verwirklichung bzw. Schutz stehen, werden keine Hürden für einen moderierenden Interessenausgleich erzeugt. Erschwert wird nur der „faule“ Kompromiss, der

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für die Bestimmung des tertium comparationis U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (96); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 22 f. Vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 18 u. 43. Vgl. auch J. Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, 1987, S. 33 f.; G. Morgenthaler in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (57 f. u. 64). Vgl. auch H. F. Zacher, AöR 93, 341 (35): Diese Schutzfunktion des Gleichheitssatzes „erscheint umso dringlicher, als der Parteien- und Verbändebetrieb der modernen Massendemokratie den Abstand zwischen Mehrheiten und Minderheiten, machtvoll organisierten Interessen und nicht organisierten oder nicht organisierbaren Interessen vergrößert.“ Dies wird besonders deutlich im jüngst ergangenen Beschluss des BVerfG zur Regelung des Übergangs vom körperschaftsteuerlichen Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren, wo es lediglich heißt, „Ausnahmen von dem … Gebot gleicher Besteuerung bei gleicher Ertragskraft bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes“, was im Folgenden auch besonders stringent geprüft wird, ohne dass auf den Begriff der Folgerichtigkeit rekurriert würde, vgl. BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434 (435). So aber O. Lepsius, JZ 2009, 260 (262); in der Tendenz ähnlich U. Battis in FS Ipsen, 1977, S. 11 (26); A. Hanebeck, Der Staat 41 (2002), 429 (442); U. Kischel in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185). Siehe dazu nachfolgend unter 2. und 5. Vgl. K. Tipke, StuW 1988, 262 (268).

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politische „Kuhhandel“ ohne Gemeinwohlorientierung und entgegen dem Verfassungsauftrag des Art. 38 Abs. 1 S. 2, Halbs. 1 GG. Der Gleichheitssatz bewirkt auf diese Weise zugleich, dass die in Rede stehende Rechtsmaterie dem rechtsethischen Postulat der – nicht lediglich äußeren, sondern axiologischen bzw. inneren – systematischen Ordnung des Rechts genügt60. Joachim Lang hat dafür die treffende Formel von der Folgerichtigkeit als einer Emanation der Rechtsidee geprägt61. Schlagwortartig lässt sich auch von Folgerichtigkeit als „Logik der Ethik“ sprechen62. Daraus ergibt sich zugleich, dass eine Folgerichtigkeitsbetrachtung stets beim inneren System, d. h. bei den eine bestimmte Vorschrift tragenden Sachgerechtigkeitserwägungen ansetzen muss63. Verfehlt ist es demgegenüber, allein aus der äußeren Anordnung zweier Regelungskomplexe im Gesetz darauf zu schließen, sie müssten folgerichtig gleich oder aber ungleich behandelt werden64. Das heißt zugleich, dass ein Mangel an äußerer Systematik nicht zwangsläufig einen Verfassungsverstoß indizieren muss65. Erfahrungsgemäß wird ein Defizit an nachvollziehbarer und unmittelbar einsichtiger Gesetzessystematik aber häufig mit einer rechtfertigungsbedürftigen Durchbrechung des bereichsspezifischen Leitprinzips – oder gar dem Fehlen jeglicher Ausrichtung an Maßstäben bereichsspezifischer Sachgerechtigkeit – einhergehen. Eng verbunden mit seinem rechtsethischen Gehalt lässt sich das Folgerichtigkeitsgebot schließlich gerade im Steuerrecht als rechtspolitische Klugheitsregel begreifen, die den Belastungsgrund verdeutlicht, die grundsätzliche Unausweichlichkeit der gleichheitsgerechten Belastung verbürgt und damit Besteuerungs- wie Steuermoral zu stützen vermag66. Es gewährleistet Wertungs- und Begründungsrationalität der Besteuerung67. Auch wirkt es strukturstabilisierend – nicht aber entgegen gelegentlicher Polemik strukturkonservierend68 – und trägt so zur Rechtssicherheit bei69.

__________ 60 Vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 16. 61 J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 142. 62 Vgl. M. G. Singer, Generalization in Ethics, New York 1971, Preface; zitiert nach K. Tipke, DB 2008, 263 (264). Nicht übersehen werden darf aber die Notwendigkeit wertender Effektuierung des Folgerichtigkeitsgebotes. 63 Vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 18; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3; K. Tipke, StuW 1971, 2 (5); DStZ-A 1975, 406 (407); dens. in FS Wacke, 1972, S. 211 (214). Siehe dazu auch BVerfG v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (282). 64 So aber BFH v. 19.6.2007 – VIII R 69/05, BStBl. II 2008, 551 (553); mit Anm. J. Englisch, FR 2008, 230 ff. 65 Vgl. L. Osterloh in Sachs, GG, Art. 3 Rz. 99. 66 Siehe dazu auch D. Birk, DStR 2009, 877 (881); P. Kirchhof, AöR 128 (2003), 1 (44); K. Tipke, StuW 1988, 262 (268 f.); dens. in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (872); Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000, S. 89 ff.; StuW 2007, 201 (205 ff.). 67 Vgl. dazu generell L. Osterloh in Sachs, GG, Art. 3 Rz. 98. 68 Dazu unter 3. 69 Vgl. K.-J. Bieback, SGb 1989, 46 (51).

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Dementsprechend bekennt sich inzwischen die überwältigende Mehrheit der Steuerrechtswissenschaftler zur gleichheitsrechtlichen Verankerung und Effektuierung des Folgerichtigkeitsgebotes70. Auch jenseits spezifisch steuerverfassungsrechtlicher Betrachtung setzt sich in der Staatsrechtslehre nach anfänglicher Skepsis71 immer stärker die Erkenntnis durch, dass der Gleichheitssatz prinzipiell die konsequent-gleichmäßige Zuteilung von Rechten und Pflichten entsprechend einem folgerichtig umzusetzenden Sachgerechtigkeitsmaßstab verbürgt72. Vor allem dem Sozialrecht kommt insoweit eine Vorreiterrolle außerhalb des Steuerrechts zu73. Das BVerfG schließlich hat das Folgerichtigkeitsgebot, dem es zu Beginn seiner Rechtsprechung noch reserviert gegenüberstand74, mittlerweile in zahlreichen Entscheidungen und rechtsgebietsübergreifend zur Geltung gebracht75. Es betont zudem zu Recht,

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70 Grundlegend K. Tipke in FS Wacke, 1972, S. 211; DStZ-A 1975, 406 (407); sodann pars pro toto: D. Birk, DStR 2009, 877 (881); S. Breinersdorfer, StuW 2009, 211 (213); J. Hey, DRV 2004, 1 (3); U. Di Fabio, JZ 2007, 749 (754); R. Mellinghoff in FS Bareis, 2005, S. 171 (181); F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (187 u. 189); P. Kirchhof, StuW 1984, 297 (301); Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, 1996, S. 24; AöR 128 (2003), 1 (43 f.); J. M. Mössner, DStZ 1990, 132 (136); S. MüllerFranken, StuW 1997, 3 (17); C. Schlotter, FR 2007, 951 (953 u. 959); W. Schön in Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 1 (13); S. Sieker in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 195 (197); R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 179 f.; K.-D. Drüen, StuW 2008, 3 (9). 71 Vgl. U. Battis in FS Ipsen, 1977, S. 11 (17) m. w. N.; P. Lerche, AöR 90 (1965), 341 (362) m. w. N. Zur Verankerung eines Gebotes der „Systemtreue“ in anderen Verfassungsprinzipien anstelle des Art. 3 Abs. 1 GG in der älteren Literatur vgl. die Nachweise bei R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1983, S. 109. 72 Vgl. U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (87 f.); C. Gusy, NJW 1988, 2506 (2508); A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 232; G. Morgenthaler in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (64); L. Osterloh in Sachs, GG, Art. 3 Rz. 98; F. Schoch, DVBl. 1988, 863 (878); C. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Rz. 44 ff.; tendenziell auch G. Robbers, DÖV 1988, 749 (755); K. Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 838; R. Wendt, NVwZ 1988, 778 (783); auch H. Sodan, JZ 1999, 864 (872); P. Kirchhof, HbStR V, 2. Aufl. 2000, § 124 Rz. 223; L. Michael, JZ 2008, 875 (878); K.-A. Schwarz in FS Isensee, 2007, S. 949 (957). A. A. U. Kischel, AöR 124 (1999), 174 (176); O. Lepsius, JZ 2009, 260: „richterrechtlich erfundenes Prinzip der Folgerichtigkeit“; W. Heun in Dreier, GG Band I, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rz. 28 f. 73 Vgl. U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (81); K.-J. Bieback, SGb 1989, 46 (51). 74 Vgl. BVerfG v. 3.12.1958 – 1 BvR 488/57, BVerfGE 9, 3 (20). 75 Vgl. statt aller BVerfG v. 7.5.1968 – 1 BvR 420/64, BVerfGE 23, 242 (256); v. 9.2.1982 – 2 BvL 6/78, 2 BvL 8/79, BVerfGE 60, 16 (40); v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271); v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (172); v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126); v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u. a., NJW 2010, 505 (508); sowie folgende Entscheidungen nichtsteuerlicher Art: BVerfG v. 9.2.1982 – 2 BvL 6/78 u. a., BVerfGE 60, 16 (40); v. 13.2.2008 – 2 BvK 1/07, BVerfGE 120, 82 (103); v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 u. a., BVerfGE 121, 317 (362). Einen ausführlichen Überblick über Anfänge und Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG zum Folgerichtigkeitsgebot, das zumal vor 1990 vielfach auch als Gebot der Systemgerechtigkeit bezeichnet wurde (s. dazu auch die Literaturnachweise bei C. Starck in v. Mangoldt/

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dass das Gebot der folgerichtigen Umsetzung des vom Gesetzgeber festgelegten Zuteilungsmaßstabs auch den Gesetzesvollzug und die Rechtsprechung betrifft, wenn steuerliche Tatbestandsmerkmale durch Auslegung zu konkretisieren sind76. Auffällig ist allerdings, dass dieser Terminus auf dem Gebiet des Steuerrechts inzwischen praktisch durchgängig verwendet wird, während in Entscheidungen des BVerfG zu gleichheitsrechtlichen Fragestellungen in anderen Rechtsgebieten teilweise an der früheren Bezeichnung als prinzipiellem Verbot von Systemwidrigkeiten festgehalten wird77. Es kann aber nicht einmal terminologisch von einer Isolierung oder Verselbständigung der steuerrechtsbezogenen Judikatur die Rede sein78, und jedenfalls in der Sache stellt die gleichheitsrechtliche Forderung nach Folgerichtigkeit im Sinne einer konsequenten Entfaltung sachgerechter Verteilungsmaßstäbe keinen steuerrechtlichen Sonderweg dar79. Richtig ist allein, dass dem Gedanken einer möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichtigen und damit dem Folgerichtigkeitsgebot im Steuerrecht eine besondere Bedeutung zukommt, weil die Steuergesetze einen besonders empfindlichen Eingriff in die Vermögens- und Rechtssphäre der Steuerpflichtigen enthalten80, dessen nähere Ausgestaltung jedenfalls bei der Hauptgruppe der Fiskalzwecksteuern auch nicht schon durch den primären – fiskalischen – Eingriffszweck vorgezeichnet ist81. 2. Notwendigkeit wertender Maßstabskonkretisierung Bereichsspezifisch universal gültige Verteilungsmaßstäbe weisen in der Regel einen noch relativ hohen Abstraktionsgrad auf, wie etwa das Prinzip der Bestenauslese bei der Übertragung von Ämtern im Öffentlichen Dienst82, das

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Klein/Starck, GG Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Rz. 44) bieten R. Prokisch in FS Vogel, 2000, 293 ff.; K.-I. Schwarz in FS Isensee, 2007, S. 949 (959 ff.); G. F. Schuppert in FS Zeidler, 1987, S. 691 (714 f.). Vgl. BVerfG v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 (138 f.); v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151 (155). Siehe dazu auch K.-D. Drüen, GmbHR 2005, 69 ff. Vgl. etwa BVerfG v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, JZ 2010, 37 (39) m. w. N. Vgl. BVerfG v. 9.2.1982 – 2 BvL 6/78, 2 BvL 8/79, BVerfGE 60, 16 (40); v. 13.2.2008 – 2 BvK 1/07, BVerfGE 120, 82 (103); s. auch bereits BVerfG v. 25.7.1960 – 1 BvL 5/59, BVerfGE 11, 283 (292 f.) ferner BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 u. a., BVerfGE 121, 317 (362). Die vor allem von U. Kischel in Mellinghoff u. a. (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (178) beschworene Gefahr, der allgemeine Gleichheitssatz könne im Steuerrecht eine andere Struktur als in anderen Sachgebieten erhalten, besteht demnach nicht. So wörtlich schon BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57 u. a., BVerfGE 21, 12 (27); zustimmend G. F. Schuppert in FS Zeidler, 1987, S. 691 (712). Siehe ferner auch BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271): die Belastungsgleichheit als „konstituierendes Element des Steuertatbestandes“; weitere Nachweise bei K. Tipke, JZ 2009, 533 (534). So tendenziell auch P. Kirchhof, AöR 128 (2003), 1 (44). Vgl. BVerfG v. 28.5.2008 – 2 BvL 11/07, BVerfGE 121, 205 (226).

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Bedürftigkeitsprinzip im Sozialhilferecht83, oder eben das Leistungsfähigkeitsprinzip im Steuerrecht. Sie bedürfen der wertenden Konkretisierung durch Subprinzipien, die sich ihrerseits nach nochmals konkreteren Subprinzipien auffächern können, um dann letztlich ihren Niederschlag in einzelnen gesetzlichen Bestimmungen zu finden84. Dabei gilt stets, dass sich ein Subprinzip nicht im Wertungswiderspruch zu einem übergeordneten Prinzip befinden darf, da anderenfalls keine Prinzipienkonkretisierung erfolgt, sondern eine Prinzipiendurchbrechung zu konstatieren ist, die gesonderter Rechtfertigung bedarf. Klaus Tipke spricht insoweit von „vertikaler“ Folgerichtigkeit in der Stufenordnung der Prinzipien im Gegensatz zur „horizontalen“ Folgerichtigkeit, die auf eine gleichmäßige Entfaltung jedes Prinzips in der Fläche der jeweils von ihm angesprochenen Teilrechtsordnung abzielt85. Allerdings lassen sich Unterprinzipien nur zum Teil durch unmittelbaren axiologischen Rekurs auf das je fundamentalere Prinzip ableiten. Vielfach müssen in dessen Konkretisierung auch eigenständige Wertungen der Legislative einfließen86, die dabei ihrerseits Verfassungsdirektiven und insbesondere freiheitsrechtliche Vorgaben beachten muss87. Das Wertsystem einer Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist also in erster Linie ein verfassungsrechtliches88; dessen unbeschadet sind Wertungsspielräume des Steuergesetzgebers nicht ausgeschlossen89. Diese kann er auch unter Berücksichtigung ökonomischer Rationalitätspostulate ausschöpfen; dieser interdisziplinäre Brückenschlag in die Wirtschaftswissenschaften war stets ein besonderes Anliegen von Joachim Lang90. So ergeben sich beispielsweise im Einkommensteuerrecht das Universalitätsprinzip91 ebenso wie das Individualsteuerprinzip92 unmittelbar aus den dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit inhärenten Wertungen

__________ 83 Vgl. BVerfG v. 10.11.1981 – 1 BvR 894/78, BVerfGE 59, 52 (59). 84 Vgl. BVerfG 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (234 f.) speziell zum Nettoprinzip; s. ferner allgemein D. Birk in FS Schaumburg, 2009, S. 3 (12); K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 67 ff.; J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 13 ff. 85 Vgl. K. Tipke, JZ 2009, 533 (535). 86 Vgl. D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 54 ff.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 57; R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 157; C. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Rz. 45. 87 Vgl. P. Kirchhof, StuW 1984, 297 (301); J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985, S. 28. 88 So zu Recht J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 125. 89 Vgl. auch J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 77; K. Tipke, StuW 1988, 262 (270). 90 Vgl. etwa J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985, S. 12 ff.; DStJG 24 (2001), 49 (74 ff.); dens. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 78. 91 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 14. 92 Vgl. J. Hey in GS Trzaskalik, 2005, S. 219 (221); J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 14; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 70; H. Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 178.

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gleichmäßig-solidarischer Lastentragung durch jede der deutschen Besteuerungsgewalt unterworfene Person. Hinsichtlich der territorialen Abgrenzung dieser Besteuerungsgewalt, d. h. hinsichtlich eines Vorrangs oder Nachrangs der solidarischen Einstandspflicht im Inland bei einer grenzüberschreitenden Dislozierung ihrer personellen und sachlichen Anknüpfungspunkte, bedarf es indes gesetzgeberischer Wertung, und es stehen insoweit auch wirtschaftliche Nutzenerwägungen und Praktikabilitätsgesichtspunkte zur Disposition93. Ähnliches ist für die temporale Dimension des Besteuerungszugriffs festzustellen94. Das einkommensteuerliche Nettoprinzip95 wiederum ist ebenso wie das Realisationsprinzip oder das Prinzip eigentumsschonender Steuerbilanzierung96 in hohem Maße freiheitsrechtlich fundiert. Sowohl die mangels verfassungsrechtlich tragfähiger Alternativen zwingend vorgegebenen wie auch die wertend konkretisierten Subprinzipien sind grundsätzlich in der gesamten von ihrem jeweiligen Fundamentalprinzip umfassten Rechtsmaterie folgerichtig durchzuhalten97. Dem bereichsspezifisch sachgerechten Fundamentalmaßstab kommt insoweit eine gleichheitsrechtliche Transmissions- und Integrationsfunktion zu: Da die Subprinzipien dieses gleichheitsrechtlich unmittelbar relevante, gleichmäßig zu entfaltende Leitprinzip konkretisieren, sind sie ihrerseits gleichmäßig umzusetzen98. Besagtes Leitprinzip führt zudem die im jeweiligen Einzelfall nach Grund und Ausmaß unterschiedliche Aktualisierung der diversen Subprinzipien in einer Maßgröße zusammen, die erst dann in einen wertenden Vergleich mit ihrer Ausprägung bei anderen Personen zu setzen ist. Das Fundamentalprinzip bildet damit gleichsam einen Vektorraum, dessen Elemente die einzelnen Subprinzipien ausmachen. Infolgedessen ist das bereichsspezifische Leitprinzip mehr als nur

__________ 93 Vgl. auch H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 5.63 ff.; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 523 f.; K. Vogel in FS Klein, 1994, S. 373. 94 Näher J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2004, S. 182 ff.; Die Duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland?, 2005, S. 133 ff.; s. auch K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 754 ff. 95 Siehe dazu BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91 u. a., BVerfGE 87, 153 (169 f.); M. Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, S. 398 ff. – subjektives Nettoprinzip; J. Englisch, Beihefter zu Deutsches Steuerrecht 2009, Heft 34, S. 92 (94) – objektives Nettoprinzip. 96 Vgl. dazu J. Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (316 f.); N. Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, 2004, S. 49; C. Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005, S. 256 ff.; s. auch schon J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 368. 97 Vgl. auch BVerfG v. 9.2.1982 – 2 BvL 6/78 u. a., BVerfGE 60, 16 (40), zum Sozialversicherungsrecht: „… bewegt der Gesetzgeber sich … innerhalb eines von ihm selbst gesetzten Systems konkretisierter Rechtspositionen, hat er bereits bestimmte Wertungen und Vernünftigkeitsraster normiert, innerhalb deren sich der Gleichheitsgrundsatz vor allem als Forderung nach Folgerichtigkeit der Regelungen, gemessen an den Angelpunkten der gesetzlichen Wertungen, zu Wort meldet.“ 98 Vgl. auch BVerfG v. 4.2.1969 – 2 BvL 20/63, BVerfGE 25, 198 (206); s. ferner BVerfG v. 13.11.1990 – 2 BvF 3/88, BVerfGE 83, 89 (108), zum beamtenrechtlichen Fürsorgeprinzip und seiner beihilferechtlichen Konkretisierung u. a. durch das Subsidiaritätsprinzip.

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die Summe seiner Unterprinzipien, nicht bloß rhetorische Überhöhung eines Komplexes je autarker Detailmaßstäbe. Speziell im Steuerrecht ist die Orientierung am Leistungsfähigkeitsprinzip daher kein in der gleichheitsrechtlichen Prüfung letztlich entbehrlicher Topos99, sondern bildet das Fundament bzw. den Hintergrund, auf bzw. vor dem ein Vergleich anhand konkreterer Maßstäbe erfolgt. Diese gleichheitsrechtliche Verankerung des bereichsspezifischen Leitprinzips strahlt schließlich auch auf die gleichmäßige Verwirklichung der Unterprinzipien in Einzelbestimmungen des gesetzlichen Tatbestands aus. Auch und gerade insoweit können dem Gesetzgeber Wertungsspielräume zukommen, die nicht zu verwechseln sind mit seiner Befugnis, vom Fundamentalprinzip und seinen Ausprägungen in einzelnen Regelungen aus (nach sachlich hinreichend begründeter Wertung) überwiegenden gegenläufigen Gesichtspunkten abzuweichen. Die Deutungshoheit und Gestaltungsmacht des Gesetzgebers findet aber auch hier ihre gleichheitsrechtliche Grenze im Folgerichtigkeitsgebot100. Denn nur gesetzgeberische Wertungskonsistenz verbürgt, dass im Binnenkontext eines Regelungsbereichs die Maßgröße des je einschlägigen Fundamentalprinzips nicht durch willkürliches Changieren zwischen verschiedenen je vertretbaren Konkretisierungen intersubjektiv verfälscht wird. Konkretisieren etwa einkommensteuerrechtliche Abzugstatbestände bzw. Abzugsverbote das objektive Nettoprinzip anhand des Veranlassungsprinzips, so impliziert dies in Fällen gemischter Veranlassung eine stimmige Bewertung und Gewichtung je deckungsgleicher erwerbswirtschaftlicher und privater Veranlassungsmomente in Gestalt wertungsmäßig kongruenter gesetzlicher Vorgaben zur vollständigen, teilweisen oder ausgeschlossenen Abziehbarkeit der jeweils in Rede stehenden Aufwendungen. Tritt beispielsweise nach der Lebenserfahrung das private Veranlassungselement für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte mit zunehmender Entfernung immer stärker in den Vordergrund, darf die Abzugsfähigkeit nicht im umgekehrten Verhältnis hierzu bei Kurzstrecken stärker eingeschränkt werden101; es dürfen auch grundsätzlich nicht die erforderlichen Kosten beruflich begründeter doppelter Haushaltsführung weiterhin uneingeschränkt abziehbar sein.

__________ 99 So aber W. Gassner/M. Lang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht – Gutachten, 14. ÖJT Band III/1 (2000), S. 58 (64); ÖStZ 2000, 643 (644). 100 Siehe in diesem Zusammenhang auch BVerfG v. 17.1.1979 – 1 BvL 25/77, BVerfGE 50, 142 (161), zum strafrechtlichen Rechtsgüterschutz (das insoweit angesprochene Schuldprinzip ist allerdings kein Maßstab der iustitia distributiva, sondern ein an der Art der betroffenen Rechtsgüter und der Intensität ihrer Verletzung sowie der individuellen Verantwortung des jeweiligen Täters hierfür ausgerichtetes Kriterium, das tatbestandlich folgerichtig gegen dessen Freiheitsrechte abgewogen werden muss; vgl. unten bei III.1.). 101 Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (240) zur Pendlerpauschale (dort für den Fall typisierender Gewichtung angemahnt).

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3. Zur Festlegung des maßstabsrelevanten Regelungsbereichs a) Grundsätzliche Erwägungen Die gleichheitsrechtsdogmatisch vorausgesetzte Auswahl eines bereichsspezifisch sachgerechten Verteilungsmaßstabs und seiner wertungskongruenten Konkretisierung setzt eine vorherige Bestimmung des relevanten Regelungsbereichs voraus. Speziell im Steuerrecht wird seit jeher die Frage diskutiert, wie weit oder eng dieser Regelungsbereich zu definieren ist bzw. inwieweit dem Gesetzgeber insoweit eine Definitionshoheit zukommt. Ihre Beantwortung ist (nur) insoweit von Bedeutung, als damit zugleich auch die Grenzen einer möglichen Folgerichtigkeitskontrolle festgelegt werden. Die Steuerrechtswissenschaft muss dabei zur Kenntnis nehmen, dass die Finanzverfassung bestimmte Steuerarten ausdrücklich benennt; es ist bekanntermaßen umstritten, ob und ggf. inwieweit besagte Steuerarten infolgedessen vor einer gleichheitsrechtlichen Prüfung ihrer folgerichtigen Einbettung in etwaige übergeordnete Maßstäbe gleichmäßiger Lastenzuteilung – namentlich das Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – abgeschirmt sind102. Ungeachtet dieser Besonderheit handelt es sich indes nicht um eine auf das Steuerrecht beschränkte Problemstellung; insbesondere das Sozialversicherungsrecht mit seinem historisch gewachsenen Konglomerat an Sozialversicherungszweigen und Sozialversicherungsträgern stellt Rechtsprechung und Lehre vor ähnliche Herausforderungen103. Das BVerfG lässt seit jeher eine gewisse Zurückhaltung erkennen, wenn es um eine Folgerichtigkeitskontrolle jenseits derjenigen Regelungsbereiche geht, die schon rein äußerlich durch ihre Positivierung in einem einzigen Gesetz erkennbar von einheitlichen Grundwertungen und Sachzusammenhängen getragen sind104. Ausdrücklich ausgeschlossen wurde dies jedoch nicht105, und vereinzelt wurde sogar eine rechtsgebietsübergreifende Betrachtung angestellt. Insbesondere nimmt das BVerfG seit den Neunziger Jahren ein auf Folgerichtigkeitserwägungen basierendes Junktim zwischen dem sozialhilferechtlich abgedeckten und dem steuerrechtlich zu verschonenden existenziellen Bedarf an106. Denn wer mit Blick auf Staatsleistungen bedürftig ist, kann nicht zugleich mit Blick auf die Staatsfinanzierung leistungsfähig sein; Bedürfnis-

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102 Siehe vorerst nur K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 298 ff. m. w. N.; näher dazu sogleich unter b. 103 Vgl. dazu P. Baumeister in Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 251 (264); K.-J. Bieback, SGb 1989, 46 (48); C. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Rz. 50 f. 104 Vgl. BVerfG v. 25.7.1960 – 1 BvL 5/59, BVerfGE 11, 283 (293); v. 18.6.1975 – 1 BvL 4/74, BVerfGE 40, 121 (139 f.). 105 Vgl. BVerfG v. 8.1.1992 – 2 BvL 9/88, BVerfGE 85, 176 (186); andeutungsweise auch schon BVerfG v. 12.10.1976 – 1 BvL 9/74, BVerfGE 43, 13 (21). 106 Vgl. BVerfG 29.5.1990 – 1 BvL 20/84 u. a., BVerfGE 82, 60 (85 f.); v. 25.9.1992 – 2 BvF 4/89 u. a., BVerfGE 87, 153 (169 f.); v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (259); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 u. a., BVerfGE 107, 27 (48); v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (281); v. 13.2.2008 – 2 BvK 1/07, BVerfGE 120, 125 (154 ff.).

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und Leistungsfähigkeitsprinzip sind insoweit nur zwei spiegelbildliche Ausprägungen des übergeordneten Solidarprinzips bzw. des Grundrechts107 auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums108. Faktoren, die potentiell die sozialhilferechtliche Bedürftigkeit erhöhen würden, müssen daher grundsätzlich zugleich die steuerliche Leistungsfähigkeit mindern109. Nach hier vertretener Auffassung bietet es sich – vorbehaltlich der noch zu erörternden finanzverfassungsrechtlichen Einwirkung auf die Problemstellung – generell an, den relevanten Regelungsbereich sowohl nach dem äußeren wie nach dem inneren System gesetzlicher Normen zu bestimmen, in das die gleichheitsrechtlich zu überprüfende Vorschrift eingebettet ist: Ein bereichsspezifisch einheitliches Fundamentalprinzip sachgerechter Zuteilung von Begünstigungen oder Belastungen muss zumindest für alle diejenigen Tatbestände gelten, die der Gesetzgeber um der Verwirklichung eines einheitlichen Regelungsanliegens willen schon äußerlich in einem als solches bezeichneten Gesetz zusammenfasst, das begrifflich nicht mehr weiter in Einzelgesetze aufgeteilt ist110. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet die Postulierung des Grundsatzes der Gleichbehandlung aller einkommensteuergesetzlichen Einkunftsarten im Sinne einer einkunftsartenübergreifend gleichmäßig leistungsfähigkeitsgerechten Belastung aller Einkünfte111. Soweit ferner der jeweilige

__________

107 Siehe dazu BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u. a., NJW 2010, 505 (507); C. Seiler, JZ 2010, 500 ff. 108 Vgl. P. Brandis, DStJG 29 (2006), 93 (102 ff.); J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 193; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 38; Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 631. 109 Vgl. auch K. Tipke in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (870 f.): sozialrechtliche Bedürftigkeit als negative Leistungsfähigkeit; s. ferner auch BFH v. 10.1.2008 – VI R 17/07, BStBl. II 2008, 234 (252), bzgl. bedarfserhöhender, ergo leistungsfähigkeitsmindernder „notwendiger [Erwerbs-]Ausgaben“. 110 Siehe dazu auch BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 u. a., BVerfGE 121, 317 (362). A. A. wohl D. Birk in FS Schaumburg, 2009, S. 3 (12), nach dessen Auffassung allein entscheidend sein soll, dass die unterschiedlichen Normstrukturen – ggf. auch innerhalb ein und desselben Gesetzes – ein „Mindestmaß an Systemorientierung“ aufweisen. Nach hier vertretener Ansicht enthebt diese an sich durchaus berechtigte Forderung aber nicht von einer vorangehenden Prüfung, ob die Aufteilung des Regelungsbereichs in mehrere Teilsysteme unter Preisgabe einer „übergreifenden Konzeption“ (so D. Birk, a. a. O.) trotz eines im Ausgangspunkt erkennbar identischen Verteilungsproblems und -maßstabs durch hinreichende sachliche Gründe – verhältnismäßig – gerechtfertigt ist; auch darf die Ausdifferenzierung insgesamt selbst bei Vorliegen legitimer und hinreichend gewichtiger Gründe für jedes einzelne Sonderregime nicht ein Ausmaß erreichen, das die Regelbelastung bzw. den Regelmaßstab als eine (weitere) Ausnahme erscheinen lässt; s. dazu bei 5.g. 111 Vgl. BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (363); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181) m. w. N.; vgl. auch H. Söhn in GS Kopp, 2007, S. 393 (395). Demgegenüber hat das BVerfG in der Frühzeit seiner Rechtsprechung den Dualismus der Einkunftsarten noch als dem Gesetzgeber in den Grenzen des Willkürverbotes freigestellte Grundentscheidung erachtet, vgl. BVerfG v. 9.7.1969 – 2 BvL 20/65, BVerfGE 26, 302 (310); v. 7.10.1969 – 2 BvL 3/66 u. a., BVerfGE 27, 111 (127); ebenso C. Schlotter, FR 2007, 951 (953); ähnlich K. Vogel, DStJG 12 (1989), 123 (135); zu Recht a. A. hingegen F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (190); J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 152; K. Tipke, StuW 1971, 2 (10).

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Begünstigungs- oder Belastungsgrund bzw. das zuteilungsrelevante Leitprinzip zweier Gesetze als fundamental übereinstimmend zu beurteilen ist, insbesondere weil andere oder entsprechend dem Gesetzeszuschnitt kleinteiliger gefasste Verteilungsmaßstäbe als un(sach)gerecht bzw. willkürlich auszuscheiden sind, kommt aber darüber hinaus auch eine gesetzesübergreifende Entfaltung des Folgerichtigkeitsgebotes in Betracht112. Nach der Gegenauffassung sind regelmäßig nur Wertungswidersprüche innerhalb eines Gesetzes gleichheitsrechtlich relevant113. Dieser Standpunkt verkennt jedoch, dass im Lichte eines auf wertmaßstäbliche bzw. materiale Folgerichtigkeit angelegten Gebotes sachgerechter Verteilung von staatlicherseits gewährten Vorteilen oder staatlicherseits auferlegten Lasten die bloß formale bzw. gesetzestechnische Aufspaltung einer Materie auf mehrere Rechtsbereiche für sich genommen noch keine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag114. Eine ungerechte, weil widersprüchlich (nicht komplementär) mit zweierlei Maß messende Lastenzuteilung wird nicht dadurch gerecht, dass die ungerechtfertigte Zusatz- oder Minderbelastung in ein eigenes Gesetz ausgelagert wird. Im Übrigen spielt es für die Bestimmung des maßgeblichen Regelungsbereichs keine Rolle, ob die jeweiligen Gesetzesmaterien im Lichte ein und desselben übergeordneten Verteilungsmaßstabs auch folgerichtig aufeinander abgestimmt sind; denn dies ist gerade Gegenstand und nicht etwa Voraussetzung der Folgerichtigkeitsprüfung. Jenseits eines durch übereinstimmende Grundwertungen bzw. Verteilungsmaßstäbe charakterisierten Regelungsbereichs sowie gegenüber verschiedenen Hoheitsträgern kann hingegen nur das rechtsstaatlich fundierte Gebot einer widerspruchsfreien Ausgestaltung der Rechtsordnung zur Geltung gebracht werden115. Danach dürfen gesetzliche Wertungen eines bestimmten Regelungsbereichs in anderen normativen Zusammenhängen nicht unberücksichtigt bleiben, sofern die Interessenlage bzw. die in Ausgleich zu bringenden Belange jeweils dieselben sind.

__________ 112 Wie hier G. Morgenthaler in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (52 f.); noch weitergehend P. Kirchhof, HbStR V, 2. Aufl. 2000, § 124 Rz. 223 u. 225. 113 Vgl. C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 15; C. Gusy, NJW 1988, 2506 (2508); G. Robbers, DÖV 1988, 749 (755 f.); R. Schmidt in FS Canaris, 2007, 1353 (1365). 114 So auch U. Kischel, AöR 124 (1999), 174 (181); W. Rüfner, BK-GG, Art. 3 (Stand: 10/1992) Rz. 40. Sehr pointiert H. F. Zacher, AöR 93, 341 (357 f.). 115 Siehe dazu BVerfG v. 15.7.1969 – 1 BvR 457/66, BVerfGE 26, 327 (335 f.); v. 7.5.1998 – 2 BvR 1876/91 u. a., BVerfGE 98, 83 (100 ff.); v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95 u. a., BVerfGE 98, 106 (125 ff.); v. 15.7.2003 – 2 BvF 6/98, BVerfGE 108, 169 (181 f.); vgl. auch H. D. Jarass, AöR 126 (2001), 588 (595); kritisch C. Brüning, NVwZ 2002, 33 (36). Keine Differenzierung nach dem jeweiligen verfassungsrechtlichen Geltungsgrund findet sich hingegen bei P. Kirchhof, HbStR V, 2. Aufl. 2000, § 124 Rz. 223 u. 225; für eine gleichheitsrechtliche Anbindung auch des Gebots der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung vgl. auch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 16; nicht ganz eindeutig K. Tipke, JZ 2009, 533 (537). Grundlegend a. A. ist schließlich R. Prokisch in FS Vogel, 2000, S. 293 (306), der schon das Folgerichtigkeitsgebot primär rechtsstaatlich fundiert.

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b) Besonderheiten im Steuerrecht Im Steuerrecht hat das BVerfG die Problematik der sachgerechten Abgrenzung des eine Folgerichtigkeitskontrolle begrenzenden Regelungsbereichs – abgesehen von seinen Entscheidungen zum Existenzminimum – seit jeher als Dichotomie zwischen der Erschließung einer Steuerquelle einerseits und ihrer näheren Ausgestaltung andererseits formuliert116. Bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes komme dem Gesetzgeber ein weitreichender Entscheidungsspielraum zu117. Er werde nur durch Gerechtigkeitsgedanken im Sine eines Willkürverbotes begrenzt118. Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands hingegen müsse die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden119. Dieser Standpunkt ist im Schrifttum vielfach auf Zustimmung gestoßen120. Als von einer übergreifenden Folgerichtigkeitsprüfung abgeschottete Entscheidung des Gesetzgebers über die auszuschöpfende Steuerquelle hat das BVerfG dabei stets die Erhebung einer der in der Finanzverfassung ausdrücklich erwähnten Steuerarten angesehen. Die „Grundstruktur“ dieser Steuern in ihrer historisch gewachsenen Bedeutung sei verfassungsrechtlich als zulässig anerkannt121. Der Charakter der Art. 105 f. GG als Staatsorganisationsnormen schließe es nicht aus, dass ihnen auch materiell-rechtliche Aussagen zur Verfassungsfestigkeit der dort aufgeführten Steuern entnommen werden könnten122. Demgegenüber sei die konkrete gesetzliche Ausprägung bzw. Ausgestaltung durch die Finanzverfassung regelmäßig auch dann nicht vor gleichheits-

__________ 116 Zu ähnlichen Tendenzen im Sozialrecht vgl. P. Baumeister in Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 251 (264). 117 Vgl. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 u. a., BVerfGE 107, 27 (47); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30); v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (120). 118 Vgl. BVerfG v. 8.12.1970 – 1 BvR 95/68, BVerfGE 29, 327 (335). 119 Vgl. BVerfG v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (95); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290); v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 u. a., BVerfGE 107, 27 (47); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180 f.); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (213). 120 Vgl. H. W. Kruse, StuW 1990, 322 (325); K. Vogel, DStJG 12 (1989), 123 (143); tendenziell befürwortend auch F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (189). Ebenso aus Sicht des brasilianischen Steuerrechts R. Lobo Torres, Tratado de Direito Constitucional Financeiro e Tributário, Vol. II, 2005, S. 167. 121 Vgl. BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 (348); v. 13.5.1969 – 1 BvR 25/65, BVerfGE 26, 1 (8); v. 25.10.1977 – 1 BvR 15/75, BVerfGE 46, 224 (236); v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (26), zur GewSt; v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12 (26), zur USt; v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (134 f.), zu VSt und Realsteuern; BVerfG v. 22.5.1962 – 1 BvR 301/59, 1 BvR 302/59, BVerfGE 14, 105 (111), zu den Finanzmonopolen. 122 Vgl. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (26); s. auch BVerfG v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77, BVerfGE 53, 30 (56).

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rechtlicher Kontrolle abgeschirmt, wenn sie in der beanstandeten Art und Weise schon vom verfassungsgebenden bzw. -ändernden Gesetzgeber vorgefunden wurde123. Zu den Abgrenzungsschwierigkeiten, die sich auch noch innerhalb der von der Finanzverfassung vermeintlich eingezogenen Schotten aus der Stufenfolge einer nur der Willkürkontrolle unterliegenden Auswahl der Steuerquelle einerseits und ihrer folgerichtigen Ausgestaltung andererseits ergeben können124, hat das BVerfG vor kurzem in seinem jüngsten Gewerbesteuerbeschluss Stellung bezogen: Danach könne die Frage, welcher Prüfungsstufe die (unterbliebene) Einbeziehung einer Personengruppe oder eines Sachverhalts in den Anwendungsbereich eines Steuergesetzes zuzuordnen sei, nicht nach abstrakten Kriterien getroffen werden. Stattdessen komme es regelmäßig wesentlich darauf an, „inwieweit die Gruppe oder der Sachverhalt … durch Merkmale geprägt ist, die gerade den Steuergegenstand, dessen Ausgestaltung in Frage steht, unter dem Gesichtspunkt des steuerbaren Vorteils kennzeichnen“125. Indes muss schon der ausdrückliche Verweis auf einen vorgeblichen Mangel an abstrakten Abgrenzungskriterien, die dann gleichwohl unmittelbar im Anschluss postuliert werden, misstrauisch stimmen126. Tatsächlich lässt sich der vom BVerfG aufgestellte Maßstab nur entweder als zirkuläre Leerformel oder aber als Widerspruch in sich begreifen: Wäre der den Steuergegenstand prägende „steuerbare Vorteil“ eng im Lichte des traditionellen Zuschnitts des Steuerobjekts zu bestimmen, so würden die zur Abgrenzung des Steuertatbestands in seiner gegenwärtigen Form herangezogenen Merkmale ohne weiteres auch eine Begründung für die vermeintlich willkürfreie Nichtberücksichtigung der bislang noch nicht erfassten Sachverhalte oder Personengruppen bei der Erschließung der Steuerquelle liefern. Verstünde man unter dem die jeweils in Rede stehende Steuerart charakterisierenden „steuerbaren Vorteil“ hingegen ihren Belastungsgrund im Sinne eines ihr zugrunde liegenden, wenigstens im begrenzten Rahmen ihrer „Grundstruktur“ umfassend zu entfaltenden sachgerechten Lastenverteilungsprinzips, so befände man sich bereits inmitten einer Betrachtung zur folgerichtigen Ausgestaltung des Ausgangstatbestandes, und für eine bloße Willkürprüfung dürfte an sich kein Raum mehr sein. Das Verfassungsgericht schwankt denn im Gewerbesteuerbeschluss auch orientierungslos zwischen dem Abstellen auf bloß typologische Unterschiede zwischen Gewerbetreibenden und anderen selbständig tätigen Unternehmern einer-

__________ 123 Sehr deutlich BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12 (26); v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (27 f.). Tendenziell anders noch BVerfG v. 22.5.1962 – 1 BvR 301/59, 1 BvR 302/59, BVerfGE 14, 105 (111), zu den Finanzmonopolen. 124 Kritisch J. Hey, StBJb 2007/2008, 17 (36); W. Schön in FS Solms, 2005, S. 263 (266). 125 Vgl. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (30). 126 Kritisch auch J. Hey, DStR 2009, 2561 (2563); T. Keß, FR 2008, 818 (825 ff.).

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seits und Sachgerechtigkeitserwägungen auf Basis des – freilich nicht (mehr) sachgerechten127 – Äquivalenzprinzips andererseits128. Richtigerweise ist im Ausgangspunkt davon auszugehen, dass Fiskalzwecksteuern regelmäßig nur bei einer Ausrichtung am Leistungsfähigkeitsprinzip als sachgerecht und damit gleichheitssatzkonform konzipiert anerkannt werden können129. Entsprechend dem gesetzlich festgelegten Zeitpunkt des Besteuerungszugriffs kann die Leistungsfähigkeit entweder in Form des Vermögenserwerbs (Einkommen bzw. Ertrag), des Vermögensbestandes oder der Vermögensverwendung (Konsum bzw. Verbrauch) gemessen werden130. Diese Leistungsfähigkeitsindikatoren können in einem Mehrsteuersystem komplementär und damit widerspruchsfrei entfaltet werden, so wie auch die Deckung eines Teils des staatlichen Finanzbedarfs durch am Äquivalenzprinzip orientierte Vorzugslasten neben der Steuererhebung keiner gleichheitsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Insofern kann von einer dem Gesetzgeber weitgehend freigestellten, d. h. nur anhand des Willkürverbotes und grundlegender Verfassungsprinzipien bzw. Gerechtigkeitserwägungen überprüfbaren Auswahl unter mehreren Abgabenquellen bzw. ihrer Gewichtung im Abgabensystem gesprochen werden131. Eine Folgerichtigkeitsbetrachtung im Sinne eines Gebotes der gleichmäßigen Steuerbelastung entsprechend der individuellen Leistungsfähigkeit kann somit erst innerhalb eines jeden anhand der vorstehend erörterten Indikatoren abgegrenzten Regelungsbereiches einsetzen132. In deren Rahmen bleibt jedenfalls beim Belastungsvergleich zwischen natürlichen Personen dann aber kein Raum mehr für die Annahme wertmaßstäblich gesondert zu beurteilender Steuerquellen133. Das Beharren auf einer eigenständigen „Gewerbeertragsleistungsfähigkeit“, einer eigenständigen „Kaffekonsumleistungsfähigkeit“, etc. wäre als willkürliche, unsachgerechte Maßstabsbildung zurückzuweisen134. Die Auswahl solch kleinteiliger Fiskalzwecksteuerobjekte muss sich vielmehr an sich bereits folgerichtig in das je übergeordnete Besteuerungsgleichmaß einfügen. Dafür eignen sich Bemessungsgrundlagen

__________ 127 Vgl. H. Montag in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 12 Rz. 1; M. Jachmann, DStJG 25 (2002), 195 (210 ff. m. w. N.); a. A. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 1141; differenzierend J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 87. 128 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (33 ff.). 129 Siehe dazu schon oben bei 1. 130 Siehe dazu auch BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (135); J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 95; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 501 m. w. N. 131 Vgl. dazu auch R. Hüttemann, DStJG 23 (2000), 127 (138 f.); M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 109 ff.; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, S. 34; dens., DStJG 24 (2001), 9 (19). 132 Die noch weitergehende Aussage in BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (135) ist vom BVerfG nach dem Ausscheiden des Richters P. Kirchhof nicht mehr aufgegriffen worden. 133 So auch J. Hey, StbJb 2007/2008, S. 17 (51); DStR 2009, 2561 (2563); K. Tipke, StuW 2007, 201 (208). 134 Vgl. auch J. Hey, StBJb 2007/2008, S. 17 (35 f.).

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und Satz von Spezialsteuern wie eben der Gewerbesteuer oder der Kaffeesteuer grundsätzlich nicht135. Hier setzt dann die Frage ein, inwieweit sie infolge ihrer namentlichen oder klassifikatorischen Erwähnung in der Finanzverfassung gleichwohl in ihrem Bestand geschützt sind. Pointiertester Kritiker der dazu ergangenen, oben skizzierten Rechtsprechung des BVerfG ist Klaus Tipke. Er beklagt eine im Lichte der historischen Entwicklung der Finanzverfassung nicht zu rechtfertigende Überhöhung und verfehlte materiell-rechtliche Aufladung der Art. 105 f. GG, die den Gleichheitssatz kupiere und damit die Entwicklung einer fortschrittlichen Dogmatik behindere136. Joachim Lang war in seinen Schlussfolgerungen zunächst vorsichtiger137, hat sich zwischenzeitlich aber der grundrechtsfreundlicheren Linie seines akademischen Lehrers angeschlossen138. Beide haben völlig zutreffend festgestellt, dass der Verfassungsgeber bei der Ausformung der Finanzverfassung keine ethisch rationale Steuerrechtsordnung vor Augen hatte, sondern lediglich die Kompetenzen hinsichtlich des historisch vorgefundenen Steuerkonglomerats regeln wollte139. Nach meiner Auffassung kann man aber auch nicht in Abrede stellen, dass der Verfassungsgeber seinerzeit mit der Aufzählung bestimmter Steuerarten in der Finanzverfassung zum Ausdruck gebracht hat, dass diese Steuern in verfassungskonformer Weise nebeneinander erhoben werden können140. Dieser Befund wird noch dadurch erhärtet, dass auch nachfolgende Reformen der Finanzverfassung – zuletzt die Föderalismusreform II141 – nicht zum Anlass für eine an Sachgerechtigkeitserwägungen ausgerichtete Neuordnung des in der Finanzverfassung vorausgesetzten Steuersystems genommen wurden. Im Gegenteil wird die Gewerbesteuer seit der Reform von 1997 in Art. 106 Abs. 6 S. 1 GG sogar ausdrücklich erwähnt. Etwaige damit verbundene Beschränkungen der Reichweite des gleichheitsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebotes dürften auch schwerlich die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG tangieren142, sind somit „nur“ verfassungspolitisch zu beanstanden. Damit stellt sich die Abstimmung der Art. 105 f. GG einerseits und des Art. 3 Abs. 1 GG andererseits letztlich als ein Anwendungsfall des verfassungsrechtlichen Gebotes der Herstellung praktischer Konkordanz dar. Dabei ist der Gleichheitssatz soweit als möglich zur Entfaltung zu bringen, weil eben die Finanzverfassung rechtsethische Erwägungen nicht präjudizieren will, sondern

__________

135 Vgl. K. Tipke, StuW 2007, 201 (205). 136 Vgl. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 300 ff.; StuW 2007, 201 (209). 137 Vgl. J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 71 f. 138 Vgl. J. Lang in FS Tipke, 1995, S. 3 (20); dens. in Tipke/Lang, Steuerrrecht, 20. Aufl. 2010, § 3 Rz. 6. 139 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 3 Rz. 3; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 301. 140 Ähnlich P. Kirchhof, StuW 1984, 297 (305). 141 Vgl. BGBl. I 2009, 2284. 142 Siehe dazu BVerfG v. 23.4.1991 – 1 BvR 1170/90 u. a., BVerfGE 84, 90 (120 ff.); H. Dreier in Dreier, GG Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 79 III Rz. 32; M. Sachs in Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 79 Rz. 57.

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nur dem gleichheitsrechtlichen Verdikt der generellen Unzulässigkeit einer der dort namentlich aufgeführten Steuerarten entgegensteht. Das bedeutet insbesondere, dass Steuern bzw. Steuerarten, die als Fiskalzwecksteuern bei der an sich gebotenen steuerübergreifenden Betrachtungsweise nicht folgerichtig in das Steuersystem zu integrieren sind, die aber als Lenkungsteuern für die Verwirklichung extrafiskalischer Ziele in Betracht kommen, nur als solche konzipiert werden dürfen. Die Erwähnung der Verbrauchsteuern in Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG schirmt darum die Erhebung der Kaffeesteuer nicht vor gleichheitsrechtlicher Kontrolle ab; deren Unzulässigkeit lässt die Vorschrift nicht leerlaufen, da signifikante Verbrauchsteuern willkürfrei und damit im Ansatz gleichheitssatzkonform als Lenkungsteuern (z. B. Tabaksteuer oder Alkopopsteuer) konzipiert werden können. Wo eine bei stringenter Effektuierung des Gleichheitssatzes drohende Redundanz finanzverfassungsrechtlicher Steuerrezeption nicht durch Verweis auf weiterhin zulässige lenkungsteuerliche Alternativen abgewendet werden kann, muss das Gebot einer gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wenigstens im begrenzten Rahmen der finanzverfassungsrechtlich verstandenen „Grundstruktur“ der jeweiligen Steuerart folgerichtig entfaltet werden. Bleibt nämlich letztere ohnehin schon hinter dem übergeordneten Leitprinzip sachgerechter Zuteilung steuerlicher Lasten zurück, so kann es im Binnenkontext der jeweiligen Steuerquelle keinen Spielraum hinsichtlich der Art und des Ausmaßes ihrer Ausschöpfung mehr geben143. Dies hat das BVerfG in seinem Gewerbesteuerbeschluss übersehen; wohl auch weil es zu Unrecht meinte, noch das Äquivalenzprinzip als Belastungsgrund bemühen zu dürfen. Zu verlangen ist schließlich ein Mindestmaß an folgerichtiger Abstimmung bzw. „Einbindung“ der Wertungen der jeweiligen Steuer in das System der übrigen Steuerarten144. Wird beispielsweise im Rahmen der Erbschaftsteuer ein bestimmter Vermögenszuwachs als unentgeltliche Zuwendung erfasst, darf er bei demselben Steuerpflichtigen nicht anschließend noch ganz oder teilweise der Einkommensteuer wie ein selbst erwirtschafteter Vermögenszuwachs unterliegen. Werden Beiträge für bestimmte Versicherungen einkommensteuerrechtlich dem Existenzminimum zugeordnet, sind sie auch von der Versicherungsteuer auszunehmen145.

__________ 143 Die Gewerbesteuer darf demnach nicht nur (vgl. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (29)), sondern sie muss gleichmäßig die Erträge aus jeglicher unternehmerischer Tätigkeit erfassen; und das gewerbesteuerrechtliche Objektsteuerprinzip schirmt allenfalls vor den Anforderungen des subjektiven, nicht aber auch vor denjenigen des objektiven Nettoprinzips ab. Vgl. dazu auch die Kritik von D. Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (30). Nebulös hingegen BVerfG v. 25.10.1977 – 1 BvR 15/75, BVerfGE 46, 224 (237): „gewisse [weitere] Besonderheiten, die sich aus dem Objektsteuercharakter der Gewerbesteuer ergeben“, nachdem zuvor richtig nur auf die fehlende Notwendigkeit einer Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der Betriebsinhaber abgestellt wurde. 144 Siehe dazu auch BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (28). 145 Vgl. K. Tipke, StuW 2007, 201 (206).

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Von den vorstehenden Überlegungen unberührt bleibt im Übrigen das Gebot, die Konkretisierung übereinstimmender Grundwertungen nach dem Vorbild der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Existenzminimum auch rechtsgebietsübergreifend folgerichtig aufeinander abzustimmen. Ist beispielsweise die nichteheliche Lebensgemeinschaft zivilrechtlich und auch im Recht des öffentlichen Dienstes als eine auf Dauer angelegte Versorgungsgemeinschaft ausgestaltet und insoweit der ehelichen Lebensgemeinschaft vollumfänglich gleichgestellt – so das BVerfG146 – dann muss sie folgerichtig auch in den Genuss des Ehegattensplittings nach § 32a Abs. 5 EStG kommen. Denn auch dem Splitting liegt das Leitbild einer „Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft“ bzw. Wirtschaftsgemeinschaft zwischen den Ehegatten zugrunde147. 4. Der zulässige Systemwechsel Das Urteil des BVerfG zur sog. Pendlerpauschale148 hat nicht zuletzt deshalb große Aufmerksamkeit in Fachkreisen erfahren, weil es die Grenzen der gesetzgeberischen Bindung an das Folgerichtigkeitsgebot betont hat: Der Gesetzgeber kann ein neues Regelwerk schaffen, ohne durch Grundsätze der Folgerichtigkeit an frühere Grundentscheidungen gebunden zu sein149. Diese Erkenntnis deckt sich mit der praktisch einhelligen Auffassung im Schrifttum, wonach das Folgerichtigkeitsgebot Bindungen grundsätzlich hinsichtlich der konsequenten Verwirklichung einer einmal getroffenen Grundentscheidung erzeugt, nicht aber auch solche an die Grundentscheidung selbst150. Auch im Steuerrecht bindet die Belastungsgrundentscheidung nur für deren Dauer151. Der Grundsatz der Folgerichtigkeit knüpft an fundamentale Verteilungsmaßstäbe und deren Konkretisierung in Unterprinzipien an, so dass deren Auswechslung auch seine Bezugsgröße verändert152. Darin liegt deshalb auch keine – rechtfertigungsbedürftige – „Durchbrechung“ des bisherigen Systems153; der Gesetzgeber darf sich beim Übergang zu neuen, ihrerseits sachgerechten Be-

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146 Vgl. BVerfG v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, JZ 2010, 37 (39 ff.). 147 Vgl. BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78 u. a., BVerfGE 61, 319 (345 f.) m. w. N.; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 627 ff.; s. auch BT-Drucks. III/260 S. 34. 148 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210. 149 Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (242); s. dazu auch schon BVerfG v. 19.12.1978 – 1 BvR 335/76 u. a., BVerfGE 50, 57 (82); v. 9.2.1982 – 2 BvL 6/78 u. a., BVerfGE 60, 16 (43). Siehe dazu ferner das obiter dictum der nachfolgenden Entscheidung des BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434 (436). 150 Vgl. U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (89 f.); S. Breinersdorfer, StuW 2009, 211 (213); D. Birk, StuW 2000, 328 (334); dens., DStR 2009, 877 (881); R. Eckhoff, FR 2007, 989 (993 f.); S. Huster in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 3 (Stand: 12/2004) Rz. 111; M. Jachmann, BB 2003, 2712 (2716); C. Gusy, NJW 1988, 2506 (2508); C. Schlotter, FR 2007, 951 (959). 151 Treffend P. Kirchhof, HbStR V, 2. Aufl. 2000, § 124 Rz. 223; ders., AöR 128 (2003), 1 (44). 152 Siehe dazu auch schon BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (69). 153 So aber missverständlich die Formulierung von D. Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (29).

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oder Entlastungsmaßstäben somit auch von fiskalischen Erwägungen leiten lassen154. Als haltlos erweisen sich damit auch die Befürchtungen, die gleichheitsrechtliche Verankerung des Folgerichtigkeitsgebotes drohe zu einer „Verkrustung der Gesellschaftsordnung“ bzw. zu einer „Versteinerung des Rechts“ zu führen155. Die dem Folgerichtigkeitsgebot durchaus innewohnende temporale Komponente ist nicht prospektiv, sondern retrospektiv angelegt: Im parlamentarischen System der Bundesrepublik geht mit veränderten Präferenzen oder besserer Erkenntnis des Souveräns idealiter auch ein Wechsel parlamentarischer Mehrheiten oder aber deren politische Neuausrichtung einher. Gleichheitsrechtliche Folgerichtigkeit fragt in der pluralistischen Demokratie des Grundgesetzes daher anlässlich eines Systemwechsels nicht nach einer besonderen Rechtfertigung dafür, dass mit dessen Inkrafttreten Neufälle anders als Altfälle behandelt werden, sondern vielmehr umgekehrt, warum die neuen Maßstäbe nicht auch an die Altfälle angelegt werden. Zu legitimieren vermögen dies häufig die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes156, je nach Fallgestaltung eventuell auch andere Erwägungen. Die Abkehr von zuvor gültigen systemprägenden Prinzipien und der Übergang zu einem neuen Konzept erfordert vielfach einen legislativen, administrativen und eventuell auch fiskalischen Kraftakt, der eine Übergangsphase nötig machen kann. Derartige Gründe rechtfertigen daher Ungleichbehandlungen für einen begrenzten Zeitraum157. Dessen Dauer kann nicht allgemeingültig bestimmt werden, sondern wird wesentlich von der Komplexität der Materie und dem Aufwand für eine Umstellung der Verwaltungsabläufe sowie ggf. von haushalterischen Erwägungen bestimmt. Die einzelnen Übergangsregelungen müssen im Übrigen ihrerseits folgerichtig ausgestaltet sein158. Unbeschadet der vorstehenden Erwägungen muss eine gesetzliche Neukonzeption aber stets nach Ziel und Wirkung die Orientierung an letztlich umfassend zu implementierenden, alternativen Prinzipien erkennen lassen, um sich von den gleichheitsrechtlichen Bindungen an die bisherigen Maßstäbe zu lösen. „Einen zulässigen Systemwechsel kann es ohne ein Mindestmaß an neuer Systemorientierung nicht geben.“159 Punktuelle Abweichungen vom bisherigen fundamentalen Verteilungsgrundsatz bzw. von den ihn konkretisierenden Unterprinzipien in einem schmalen Teilbereich können nicht ohne weiteres mit

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154 BVerfG v. 9.2.1982, 2 BvL 6/78 u. a., BVerfGE 60, 16 (43), spricht von „schwindenden Mitteln und siechen Haushalten“. Solche Erwägungen dürfen freilich nur neben Sachgerechtigkeitsüberlegungen treten und vermögen selbige nicht zu ersetzen. 155 Vgl. M. Gubelt in v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 3 Rz. 30; W. Heun in Dreier, GG Band I, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rz. 36; U. Kischel, AöR 124 (1999), 175 (205); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 222 ff. (226); G. Schuppert in FS Zeidler, 1987, S. 691 (713 ff.). 156 Siehe dazu ausführlich J. Englisch/B. Plum, StuW 2004, 342 ff.; J. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 106 ff. 157 Vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 127; K. Lange, Die Verwaltung 4 (1971), 259 (263). 158 Vgl. auch J. Hey, DRV 2004, 1 (4). 159 Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (242).

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der Einleitung eines Systemwechsels begründet werden, sofern es für letzteren keine greifbaren Anhaltspunkte etwa in Gestalt einer aus der Gesetzesbegründung ersichtlichen Einbettung in ein schrittweise zu verwirklichendes neues Grundkonzept gibt160. Wer hiergegen einwendet, der Gesetzgeber könne auch der Überzeugung sein, dass eine Neuregelung nur in bestimmten Einzelaspekten erforderlich sei161, muss sich fragen lassen, worin die Legitimität eines solchen Anliegens begründet sein soll: Geht es lediglich darum, die tatbestandliche Konkretisierung eines systemtragenden Prinzips an gewandelte tatsächliche Verhältnisse anzupassen, steht dem der Grundsatz der Folgerichtigkeit schon nicht entgegen. Soll um der Erreichung bestimmter Lenkungswirkungen oder sonstiger Gemeinwohlziele willen punktuell von diesem Prinzip abgewichen werden, so ist eine Rechtfertigung als Durchbrechung des nur grundsätzlich folgerichtig zu verwirklichenden Zuteilungsmaßstabs nicht ausgeschlossen; sie wird gelingen, wenn die gesetzgeberische Überzeugung auf legitimen und hinreichend gewichtigen Erwägungen beruht und die Abweichung ihrerseits folgerichtig ausgestaltet wird162. Gleichheitssatzwidrig sind aber die partielle und damit willkürliche Suspendierung tragender Gerechtigkeitserwägungen aus Gründen fiskalpolitischer Opportunität und deren Verbrämung als neues „System im System“. Als größte Hürde für einen Systemwechsel wird sich gerade im Steuerrecht ohnehin vielfach das zwingende Erfordernis erweisen, dass die vollzogene oder schrittweise anvisierte Umstellung sich an ihrerseits verfassungskonformen, mit Blick auf die Bemessung der Lastenausteilung sachgerechten Prinzipien ausrichten muss163. Ein Systemwechsel darf nicht nur nicht ins Chaos, er darf auch nicht in den Verfassungsbruch führen, kein evident un(sach-)gerechtes System etablieren164. Gerade bei einer schrittweisen Umstellung muss das vorgeblich zunächst nur in einem Teilbereich verfolgte Konzept auch verallgemeinerungsfähig sein, ohne dass sich freiheitsrechtlich inakzeptable oder absurde, der Zuteilungsproblematik offensichtlich inadäquate Ergebnisse einstellen würden165. Eine Atomisierung grundlegender Be- und Entlastungsprinzipien in eine Vielzahl vermeintlich autonomer, tatsächlich aber rein mikrobereichsspezifischer „Grundentscheidungen“ ohne rechtsethisches Gewicht kann vor dem Gleichheitssatz keinen Bestand haben166.

__________ 160 Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (241 f.). Siehe auch J. Hey, DStR 2009, 2561 (2564): gefordert ist ein „erkennbarer Plan“; C. Schlotter, FR 2007, 951 (959): Der Gesetzgeber unterliegt einer „Erklärungspflicht“. 161 Vgl. U. Kischel, AöR 124 (1999), 174 (205). 162 Siehe unten bei 4. und III.1. 163 Vgl. K.-D. Drüen, Ubg 2009, 23 (27). 164 Siehe dazu auch BVerfG v. 7.5.1968 – 1 BvR 420/64, BVerfGE 23, 242 (256). 165 Vgl. auch K. Tipke, JZ 2009, 533 (535). 166 Siehe speziell zum objektiven Nettoprinzip K.-D. Drüen, StuW 2008, 3 (10); Ubg 2009, 23 (27); J. Englisch, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 92 (96); K. Tipke, StuW 2007, 201 (209); a. A. A. Leisner-Egensperger, BB 2007, 639 (643); R. Wernsmann, DStR-Beihefter zu Heft 17/2008, 37 (40 f. u. 44).

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5. Anforderungen an eine Durchbrechung des folgerichtig zu entfaltenden Leitprinzips a) Bloß prinzipieller Charakter des Folgerichtigkeitsgebotes Das Folgerichtigkeitsgebot in seiner ersten, bislang erörterten Ausprägung bezieht sich auf fundamentale Prinzipien sachgerechter Zuteilung von Vorteilen und Lasten sowie auf selbige konkretisierende Unterprinzipien. Diese bereichsspezifischen Leitprinzipien sind der Relativierung durch andere Prinzipien und Gemeinwohlbelange zugänglich, deren Verwirklichung situationsbezogen mit der Umsetzung jener Fundamentalmaßstäbe kollidieren kann. Das gleichheitsrechtliche Ideal einer Regelung der Verteilungsproblematik, die sich durchgängig an für den gesamten Regelungsbereich einheitlich geltenden Sachgerechtigkeitserwägungen orientiert, muss also in einen Ausgleich mit anderen, nach verfassungsrechtlicher Wertung ebenfalls legitimen gesetzgeberischen Anliegen gebracht werden. Die Gegenposition liefe auf eine Verabsolutierung eines einzelnen – gleichheitsrechtlichen – Grundrechtsbelangs hinaus, die der auf Ausgleich bedachten verfassungsrechtlichen Werteordnung sowie dem Grundrechtscharakter grundsätzlich fremd ist167. Die zwingende Ausrichtung einer Auswahlentscheidung an bestimmten sachgerechten Maßstäben kann sich allenfalls ausnahmsweise kraft ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Anordnung ergeben, wie etwa im Falle des Art. 33 Abs. 2 GG. Daher kann auch der Grundsatz der Folgerichtigkeit, der wie oben schon erwähnt lediglich den rechtsprinzipiellen Charakter des jeweiligen Verteilungsmaßstabs zum Ausdruck bringt und gleichheitsrechtlich effektuiert168, mit Blick auf in einem bestimmten Regelungskontext gegenläufige gesetzgeberische Zielsetzungen durchbrochen werden169. Dementsprechend wird sowohl in der Rechtsprechung des BVerfG170 als auch im Schrifttum171 einhellig anerkannt, dass sachliche Gründe eine Abweichung vom bereichsspezifischen Leitprinzip bzw. von einem seiner Unterprinzipien zu rechtfertigen vermögen. Speziell bei Fiskalzwecksteuern fordert Art. 3 Abs. 1 GG demnach nur die prinzipiell gleiche Lastenverteilung an einem Maßstab wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit172.

__________ 167 Siehe dazu M. Sachs in Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Vor Art. 1 Rz. 97; K. Stern in Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010, Einl. Rz. 117 ff. 168 Vgl. Fn. 52. 169 Siehe auch C. Schlotter, FR 2007, 951 (954). 170 Vgl. die Nachweise in Fn. 185 ff. 171 Vgl. statt aller M. Gubelt in vMünch/Kunig, GG Band I, 5. Aufl. 2000, Art. 3 Rz. 30; S. Huster in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 3 (Stand: 12/2004) Rz. 112; C. Kannengießer in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 3 Rz. 19; W. Rüfner, BK-GG, Art. 3 (Stand 10/1992) Rz. 38; C. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Rz. 45; K. Tipke, StuW 1971, 2 (6); BB 1973, 157 (158). 172 Vgl. R. Wendt, NVwZ 1988, 778 (782 f.; Hervorhebung im Original).

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b) Kontroverse Formulierung des Rechtfertigungsstandards im Schrifttum Kontrovers erörtert wird aber seit jeher, welche Anforderungen an die Durchbrechung des Folgerichtigkeitsgrundsatzes zu stellen sind. Das Spektrum der hierzu vertretenen Meinungen umfasst auf der einen Seite nihilistische Standpunkte wie insbesondere die Auffassung von Peine, das Postulat der Folgerichtigkeit bzw. Systemgerechtigkeit laufe letztlich leer, weil sich Art. 3 Abs. 1 GG keine Aussage dazu entnehmen lasse, unter welchen Bedingungen eine Abweichung gerechtfertigt werden könne173. Dem nahe stehen Teile des Schrifttums, die für eine Beurteilung von Abweichungen lediglich anhand des tradierten Willkürverbotes plädieren174. Denn auf diese Weise ist lediglich gewährleistet, dass die Abweichung zur Förderung eines legitimen Ziels geeignet ist175. Dem eigentlichen Anliegen des Folgerichtigkeitsgebotes, nämlich der Bewahrung von fundamentalen Maßstäben der Zuteilungs- bzw. Lastengerechtigkeit vor ihrer Unterminierung durch beliebige Alternativerwägungen176, wird auf diese Weise nur sehr unvollkommen Rechnung getragen. Einige dahingehende Entscheidungen des BVerfG177 sind denn auch als widersprüchlich kritisiert worden178. Eine etwas weitergehende Position nehmen diejenigen ein, die der Abweichung von systemtragenden Prinzipien eine Indizwirkung für eine Verletzung des Gleichheitssatzes beimessen und zu deren Entkräftung eine „besondere“ Begründung seitens des Gesetzgebers verlangen179. Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich dann vor allem in der steuerrechtlichen Literatur zahlreiche Stimmen, die eine genuine Verhältnismäßigkeitskontrolle jeglicher Durchbrechungen des bereichsspezifischen Leitprinzips und seiner Unterprin-

__________ 173 Vgl. C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 53. 174 Vgl. C. Brüning, NVwZ 2002, 33 (36); W. Heun in Dreier, GG Band I, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rz. 36; U. Kischel in Mellinghoff u. a. (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (177); sowie speziell aus dem steuerrechtlichen Schrifttum W. Flume, StbJb 1967/68, S. 63 (66 ff.); wohl auch G. Morgenthaler in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (52 f.). Tendenziell gl. A. auch K. Vogel, DStJG 12 (1989), 123 (140), der nur bei einer Differenzierung nach persönlichen Eigenschaften „Gründe von Gewicht“ verlangt, ansonsten aber lediglich eine Plausibilitätskontrolle für geboten erachtet. Siehe ferner aus dem spanischen Steuerverfassungsrecht E. Lejeune Valcárcel in Ferraz (Hrsg.), Princípios e Limites da Tributação 2, 2009, S. 251 (276). 175 Vgl. dazu auch S. Müller-Franken, StuW 1997, 3 (20) m. w. N. 176 Siehe dazu auch BVerfG v. 9.2.1982 – 2 BvL 6/78, 2 BvL 8/79, BVerfGE 60, 16 (40). 177 Vgl. etwa BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 16/83, BVerfGE 68, 237 (253); sowie die weiteren in Fn. 190 nachgewiesenen Entscheidungen. 178 Vgl. H.-W. Arndt in FS Mühl, 1981, S. 17 (33); ähnlich kritisch F. Schoch, DVBl. 1988, 863 (882); J. Wieland in FS Zeidler, 1987, S. 735 (749). 179 Vgl. K.-J. Bieback, SGb 1989, 46 (51); H. W. Kruse, StuW 1990, 322 (326); W. Rüfner, BK-GG, Art. 3 (Stand 10/1992) Rz. 38; C. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Rz. 45. So ursprünglich auch K. Tipke, StuW 1971, 2 (7).

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zipien für erforderlich halten180. Diese Ansicht wird auch vom Jubilar geteilt181. Das Schutzgut, auf welches Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung im traditionellen, freiheitsrechtlich geprägten Sinne zu beziehen sind, ist dabei der Gerechtigkeitsgehalt und verfassungsfeste Eigenwert einer gleichmäßig-sachgerechten Vorteilsgewährung bzw. Lastenverteilung182. Joachim Lang hat dies schon in seiner Doktorschrift klar mit seiner Forderung nach einer angemessenen „Relation von Intensität der Ausnahme und Gewicht der dafür sprechenden Gründe“ zum Ausdruck gebracht183. c) Wankelmut des BVerfG Das BVerfG hat in der Debatte bislang noch nicht eindeutig Stellung bezogen. Der zur Anwendung gebrachte Rechtfertigungsmaßstab hat auch nach jahrzehntelanger Rechtsprechung zum Folgerichtigkeitsgebot noch keine klaren Konturen gewonnen184. In seiner ersten Entscheidung zur – steuerlichen – Systemgerechtigkeit hat das Gericht allerdings wie der Jubilar ganz im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung formuliert, die „Gründe für eine … Ausnahmevorschrift können nur überzeugen, wenn ihr Gewicht der Intensität der Abweichung von dem grundsätzlich gewählten Ordnungsprinzip entspricht.“185 Diese Formulierung ist in der Folgezeit aber so nur noch vereinzelt und ohne Auswirkungen in der Sache wieder aufgegriffen worden186. Stattdessen betonte das BVerfG vermehrt, der von ihm zunächst sog. „Gedanke der Systemgerechtigkeit“ stelle keinen selbständigen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab dar187, eine Systemwidrigkeit impliziere darum „für sich allein“ keine Verlet-

__________ 180 Vgl. P. Baumeister in Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 251 (256 u. 260); D. Birk in FS Schaumburg, 2009, S. 3 (17); J. Hey, StBJb 2007/2008, S. 17 (37 f.); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 371 ff.; dens. in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 3 (Stand: 12/2004) Rz. 112; J. Isensee in FS Dürig, 1990, S. 42 (59); M. Reich, Steuerrecht, 2009, S. 92; M. Rodi, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, 1994, S. 155; P. Selmer in GS Trzaskalik, 2005, S. 411 (423); K. Tipke, StuW 1988, 262 (274); Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 259; R. Wendt, NVwZ 1988, 778 (785); wohl auch K.-H. Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (28 f.); C. Kannengießer, Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 3 Rz. 19. Siehe aus dem (brasilianischen) Ausland auch H. Ávila, Sistema Constitucional Tributário, 3. Aufl. 2007, S. 357. 181 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 79. 182 Deutlich wird dies vor allem bei R. Wendt, NVwZ 1988, 778 (785). 183 Vgl. J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 144. 184 Vgl. J. Hey, StBJb 2007/2008, S. 17 (37); K.-A. Schwarz in FS Isensee, 2007, S. 949 (958). 185 Vgl. BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 (334). 186 Vgl. BVerfG v. 10.11.1981 – 1 BvL 18/77 u. a., BVerfGE 59, 36 (49); v. 15.5.1984 – 1 BvR 464/81 u. a., BVerfGE 67, 70 (84 f.). Eingehend zur weiteren Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG R. Prokisch in FS Vogel, 2000, S. 293 (294). 187 Vgl. BVerfG v. 8.12.1982 – 2 BvL 12/79, BVerfGE 62, 354 (370); ähnlich zuvor schon BVerfG v. 10.11.1981 – 1 BvL 18/77, 1 BvL 19/77, BVerfGE 59, 36 (49); so auch BVerfG v. 16.6.1987 – 1 BvL 4/84 u. a., BVerfGE 75, 382 (395); v. 1.7.1987 – 1 BvL 21/82, BVerfGE 76, 130 (140); v. 26.4.1988 – 1 BvL 84/86, BVerfGE 78, 104 (123) m. w. N.

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zung des Art. 3 Abs. 1 GG188, sondern indiziere lediglich eine solche189. Diese Indizwirkung wiederum könne durch „plausible“ oder „sachliche“ Gründe für die nicht maßstabsgerechte Regelung widerlegt werden190. Im Ergebnis zog sich das BVerfG damit wieder auf eine reine Willkürkontrolle zurück191. Seit Ende der Neunziger Jahre ist vordergründig wieder das Anlegen strengerer Maßstäbe zu beobachten, verbunden mit einer terminologischen Hinwendung zum Begriff der „Folgerichtigkeit“192: Das BVerfG fordert nun vermehrt „besondere, sachlich rechtfertigende“ Gründe für eine Abweichung vom systemtragenden Leitprinzip bzw. von seinen Unterprinzipien193. Teilweise werden auch „hinreichende sachliche Gründe“ verlangt194, was auf das Erfordernis eines Mindestmaßes an rechtethischem Gewicht dieser Gründe entsprechend einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne hindeutet. In einer jüngeren Entscheidung zum Steuerrecht hat das Gericht auch ausdrücklich dem bloßen Willkürverbot bei der Auswahl des Steuergegenstandes die „engere Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Folgerichtigkeit und Belastungsgleichheit“ gegenübergestellt195. Dessen ungeachtet wird eine abwägende Angemessenheitsprüfung dann aber in der Sache nur vereinzelt und eher ober-

__________ 188 Vgl. BVerfG v. 21.6.1977 – 2 BvR 308/77, BVerfGE 45, 363 (375); v. 10.11.1981 – 1 BvL 18/77 u. a., BVerfGE 59, 36 (49); v. 19.10.1982 – 1 BvL 39/80, BVerfGE 61, 138 (149). 189 Vgl. etwa BVerfG v. 7.11.1972 – 1 BvR 338/68, BVerfGE 34, 103 (115) m. w. N.; v. 23.1.1990 – 1 BvL 44/86 u. a., BVerfGE 81, 156 (207); v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223 f.); v. 10.10.2001 – 1 BvL 17/00, BVerfGE 104, 74 (87). 190 Vgl. BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 16/83, BVerfGE 68, 237 (253); v. 23.1.1990 – 1 BvL 44/86 u. a., BVerfGE 81, 156 (207): „plausible Gründe“; ferner BVerfG v. 5.3.1974 – 1 BvL 17/72, BVerfGE 36, 383 (394); v. 19.10.1982 – 1 BvL 39/80, BVerfGE 61, 138 (149), wonach jeweils „sachliche Gründe“ genügen sollten. 191 Vgl. R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1983, S. 108. Insoweit zutreffend auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 287: Art. 3 I GG in seinem Verständnis als Willkürverbot bewirkt keine Konsequenz. 192 Zur grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen den Konzepten der Systemgerechtigkeit und der Folgerichtigkeit vgl. U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (84 f.); P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (22 f.); dens., AöR 128 (2003), 1 (45); U. Kischel, AöR 124 (1999), 174 (179); sowie L. E. Schoueri in Ferraz (Hrsg.), Princípios e Limites da Tributação 2, 2009, S. 139 (157 f.), aus der Warte des brasilianischen Verfassungsrechts. Der Begriff des Systems ist jedoch sprachlich ungenauer, weil er genaugenommen auch die vom jeweiligen Leitprinzip abweichenden Wertungen mit umfasst, soweit sie gesetzlichen (Ausnahme-)Regelungen zugrunde liegen; dies kann zu Missverständnissen führen, vgl. U. Kischel, AöR 124 (1999), 174 (206 f.). 193 Vgl. BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290); v. 20.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 (139); v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151 (155); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 u. a., BVerfGE 107, 27 (46 ff.); ähnlich BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126); v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (29 u. 45). 194 Vgl. BVerfG v. 10.10.2001 – 1 BvL 17/00, BVerfGE 104, 74 (87); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181); v. 13.2.2007 – 1 BvR 910/05, BVerfGE 118, 1 (28); ähnlich BVerfG v. 11.2.1992 – 1 BvL 29/87, BVerfGE 85, 238 (247). 195 Vgl. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (30); Hervorhebung nur hier.

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flächlich praktiziert196; meist ist der strenger formulierte Prüfungsmaßstab ohne erkennbare Auswirkungen auf die weitere Prüfung geblieben197. Erwägungen zur Erforderlichkeit der Maßstabsdurchbrechung werden nur ganz vereinzelt angestellt198. Anders verhält es sich nur bei der gleichheitsrechtlichen Kontrolle von Typisierungen, wo Verhältnismäßigkeitserwägungen im klassischen Sinne sehr viel deutlicher zum Tragen kommen199. d) Eigener Standpunkt zum Rechtfertigungsstandard Festzuhalten ist zunächst, dass Abweichungen vom jeweils bereichsspezifischen Leitprinzip sachgerechter Zuteilung von Rechten oder Pflichten ebenso wie eine damit ggf. verbundene Durchbrechung von diesen Fundamentalgrundsatz konkretisierenden Unterprinzipien der Rechtfertigung durch andere, „sachlich rechtfertigende“ bzw. legitime Gründe bedürfen200. Zurückzuweisen ist damit der gelegentlich immer noch vertretene innenrechtstheoretische Ansatz, der die Direktivkraft dieser Grundsätze mit dem Verweis auf eine ihnen vorgeblich immanente Begrenzung durch gegenläufige Zielsetzungen auszuhöhlen versucht. Dies wird teils als Notwendigkeit ihrer punktuellen „Anpassung“ an veränderte Gegebenheiten und politische Entscheidungen201, teils durch Betonung ihrer „normativen“ Ausdeutung im Lichte von Fairnesserwägungen und den Rahmenbedingungen der Rechts- und Sozialordnung verbrämt202. Eine derartige Relativierung „von innen heraus“ ist abzulehnen, weil sie den in Art. 3 Abs. 1 GG gründenden Verfassungsrang einer gleichmäßigen Zuteilungsentscheidung anhand von im gesamten Regelungsbereich einheitlich geltenden und als Gerechtigkeitskriterium verallgemeinerungsfähigen Grundsätzen leugnet. Eine Adaption der Rechtslage an Gemeinwohlbelange, die mit einem solchen Prinzip sachgerechter Zuteilung situationsspezifisch kollidieren, muss außenrechtstheoretisch gerechtfertigt werden, weil sie die Gleichmäßigkeit der Vorteilsgewähr oder Belastung beeinträchtigt. Speziell im Abgabenrecht kein legitimer Belang ist dabei der rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung, wie das BVerfG (erst) in jüngeren Ent-

__________ 196 Vgl. BVerfG v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (97), wo es heißt, der zu beurteilende gänzliche Ausschluss einer Verlustverrechnung sei auch mit Blick auf seine Ziele „unangemessen“. 197 So auch die Analyse von J. Hey, StBJb 2007/2008, S. 17 (38 u. 57). 198 Vgl. BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434 (437); der Beschluss vermeidet es allerdings, von einer Folgerichtigkeitsbetrachtung zu sprechen, obschon das BVerfG in der Sache eine solche vornimmt. 199 Vgl. etwa BVerfG v. 2.2.1999 – 1 BvL 8/97, BVerfGE 100, 195 (205); s. ferner die Nachweise in Fn. 221. 200 Vgl. dazu auch H.-W. Arndt in FS Mühl, 1981, S. 17 (23 f.); D. Birk in FS Schaumburg, 2009, S. 3 (17), unter Relativierung des in seiner Habilitationsschrift noch eingenommenen strengeren Standpunktes, vgl. dens., Das Leistungsfähigkeitsprinzip, 1983, S. 245; F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (189); J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 79; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 332. 201 Vgl. A. Nawrath, JbFAStR 2008/2009, S. 11 (12 f.; 17 f.; 19); zu Recht kritisch J. Hey, DStR 2009, 2561; ablehnend auch K.-D. Drüen, Ubg 2009, 23 (24). 202 Vgl. BFH v. 9.5.2001 – XI B 151/00, BStBl. II 2001, 552 (554).

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scheidungen mit der gebotenen Deutlichkeit klargestellt hat203. Denn auch wenn der Staat auf Einnahmenvermehrung angewiesen ist, muss er auf eine gleichheitsgerechte Verteilung der Lasten achten und darf nicht willkürlich sonderbelasten204. Dies ist schon seit langem im Standardwerk des Jubilars nachzulesen205. Anders verhält es sich selbstverständlich, wenn bestehende Steuervergünstigungen abgebaut werden, denn hierfür besteht schon kein – gleichheitsrechtlicher – Rechtfertigungsbedarf206. Die vorstehenden Überlegungen gelten mutatis mutandis auch für das Ziel der Ausgabenverminderung im Bereich der staatlichen Leistungsverwaltung207. Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen ergibt sich sodann ferner, dass an sich jede Maßstabsabweichung wie vom Jubilar gefordert einer Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterziehen ist. Denn die gleichheitsrechtlich fundierte Forderung nach einer folgerichtig durchgehaltenen Gleichmäßigkeit von Zuteilungsentscheidungen bildet ein eigenständiges Element der verfassungsrechtlichen Werteordnung208, das erstens durch den Gesetzgeber nicht generell in Frage gestellt werden darf und von dem er zweitens auch punktuell zwecks rationalem und schonendem Ausgleich nur soweit als erforderlich abweichen darf. Außerdem muss jede Abweichung auch aufgrund einer Abwägung mit Blick auf die situationsspezifische Gewichtung von folgerichtigem Zuteilungsgleichmaß und kollidierenden Belangen als verhältnismäßig erscheinen, um den verfassungskräftigen Eigenwert des erstgenannten Grundsatzes gegenüber dem Gesetzgeber angemessen zur Geltung zu bringen. Dass diese Rationalitäts- und Konkordanz- bzw. Verhältnismäßigkeitspostulate nicht ausdrücklich im Grundgesetz normiert sind, schadet im Kontext des Art. 3 Abs. 1 GG ebenso wenig wie bei den übrigen Grundrechten. Dem BVerfG ging und geht es in seiner aus Sicht des Gesetzgebers tendenziell großzügigeren, wechselhaften Rechtsprechung erkennbar darum, die rechte

__________ 203 Vgl. BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93 u. a., BVerfGE 105, 17 (45); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (233); v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, FR 2010, 804. 204 Vgl. W. Bergkemper, HFR 2009, 186; K.-D. Drüen, StuW 2008, 3, 11 f.; L. Micker, DStR 2007, 1145 (1148); A. Musil, DB 2008, 12 (14 f.); W. Schön in FS Solms, 2005, S. 263 (268); K. Tipke, BB 1973, 157 (159); dens. in FS Raupach, 2006, S. 177 (178 f.); BB 2007, 1525 (1528). Vgl. demgegenüber noch BVerfG v. 2.10.1969 – 1 BvR 132/67, BVerfGE 27, 57 (66): „finanzpolitische Erwägungen“ könnten eine Abweichung rechtfertigen. Weiterhin dieser überkommenen Sichtweise anhängend O. Lepsius, JZ 2009, 260 (262). 205 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. und insoweit unveränderte Aufl. 2010, § 4 Rz. 79. 206 Zu rechtfertigen ist vielmehr die fortdauernde Aufrechterhaltung der Vergünstigung, vgl. BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93 u. a., BVerfGE 105, 17 (32 f. u. 46 f.); R. Mellinghoff in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 491 (498). 207 Vgl. aus Sicht des Sozialrechts P. Baumeister in Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 251 (267 f.); tendenziell auch K.-J. Bieback, SGb 1989, 46 (53). 208 Siehe dazu auch S. Huster in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 3 (Stand: 12/2002), Rz. 76.

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Balance zwischen einer stringenten Prüfung der Einhaltung gleichheitsrechtlicher Anforderungen einerseits und einer im Gewaltenteilungsgrundsatz angelegten richterlichen Zurückhaltung gegenüber der demokratisch unmittelbar legitimierten ersten Gewalt andererseits zu wahren. Ein solcher „judicial restraint“ drückt sich auch in der tradierten Formel aus, es sei nicht Aufgabe des BVerfG „nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber im Einzelfall die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden hat.“209 Der damit bekundete verfassungsgerichtliche Respekt vor der politischen Gestaltungsmacht der Legislative und ihrer damit einhergehenden primären Verantwortung für die Ausformung von Gerechtigkeitsmaßstäben ist im Lichte der grundlegenden staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen des Art. 20 GG auch wohlbegründet210. Es ist aber nicht einsichtig, weshalb dieser Gesichtspunkt einen gleichheitsrechtlichen Sonderweg in Gestalt einer Abstufung der Kontrolldichte bis hin zum bloßen Willkürverbot legitimieren sollte211. Augenfällig ist namentlich die Diskrepanz zur verfassungsgerichtlichen Gewährleistung des Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit „im umfassenden Sinne“, das „ohne Rücksicht … [auf das] Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung“ stets nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden darf212. Erst dies soll nach – zutreffender – Ansicht des BVerfG einen Grundrechtsschutz „von substantiellem Gewicht“ sicherstellen213. Es wäre aber wertungswidersprüchlich, eine solch substantielle Sicherung individueller Freiheit selbst in ihren eher exotischen, weder für den Einzelnen noch für die Gemeinschaft besonders bedeutsamen Facetten mit guten Gründen für unverzichtbar zu erachten, wenn auf der anderen Seite die Beachtung hochrangiger Individual- und Gemeinwohlbelange wie beispielsweise die gleichmäßige Heranziehung aller potentiell Pflichtigen zu Wehrdienst oder Staatsfinanzierung jedenfalls teilweise durch eine bloße Willkürkontrolle substantiell entwertet würde214. Stattdessen sind der Legislative zuzugestehende Einschätzungs- und Abwägungsprärogativen bei der Durchbrechung des Folgerichtigkeitsgebotes in die gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung zu integrieren. Hierfür bieten sich insbesondere die Anerkennung prognostischer Beurteilungsspielräume

__________ 209 Vgl. BVerfG v. 23.10.1951 – 2 BvG 1/51, BVerfGE 1, 14 (52); v. 29.11.1989 – 1 BvR 1402/87, u. a. BVerfGE 81, 108 (117 f.); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (36). 210 Vgl. G. Dürig in Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. I (Stand: 12/1973) Rz. 298. 211 Für eine eingehende Kritik vgl. J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 182 ff. 212 Grundlegend BVerfG v. 6.6.1989 – 1 BvR 921/85, BVerfGE 80, 137 (152 f.) – Reiten im Walde, m. w. N.; st. Rspr., vgl. C. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 2 Abs. 1 Rz. 13. 213 Vgl. BVerfG v. 6.6.1989 – 1 BvR 921/85, BVerfGE 80, 137 (154). 214 Kritisch zum asymmetrisch verminderten Grundrechtsschutz nur im Kontext des Art. 3 Abs. 1 GG auch K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, Vorwort S. VII.

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in der Erforderlichkeitsprüfung sowie gewisser Wertungsspielräume bei der Gewichtung der miteinander kollidierenden Prinzipien und Ziele an215. Das Willkürverbot hingegen hat allenfalls da seine Berechtigung, wo es nicht um eine Abweichung von folgerichtig bzw. gleichmäßig zu entfaltenden, den gesamten Regelungsbereich umspannenden Grundsätzen sachgerechter Zuteilung, sondern um deren dem Folgerichtigkeitsgebot gedanklich vorangehende Festlegung und (generalisierbare) Konkretisierung durch Unterprinzipien geht. Mangels Prinzipienkollision besteht insoweit kein Bedarf für einen verhältnismäßigen Ausgleich; wohl aber ist der Gesetzgeber auch insoweit wie oben dargelegt an verfassungs- und insbesondere grundrechtliche Direktiven gebunden216. Das BVerfG hat sich dem hier vertretenen Standpunkt in den letzten zehn Jahren vor allem in seinen Entscheidungen mit steuerrechtlichem Bezug jedenfalls rhetorisch bereits stark angenähert. Es hat verdeutlicht, dass der Folgerichtigkeitsgrundsatz bei Abweichungen vom gleichmäßig umzusetzenden Beoder Entlastungsprinzip nach deren Eignung zur Realisierung eines nach verfassungsrechtlicher Wertung legitimen Ziels fragt und darüber hinaus auch im Verhältnis zur bloßen Willkürprüfung erhöhte Anforderungen an das „Gewicht“ dieser sachlich rechtfertigenden Gründe stellt217. Wo eine Erforderlichkeitsprüfung sich nicht – wie namentlich bei Steuervergünstigungen – absehbar auf die Feststellung gesetzgeberischer Beurteilungsspielräume zurückziehen müsste, hat das Gericht zudem vielfach auch dahingehende Erwägungen angestellt218, insbesondere im Bereich der bloß typisierenden Verwirklichung von Zuteilungsmaßstäben219 sowie bei der typisierenden Bekämpfung von Steuerumgehung und -hinterziehung220. Es mangelt bislang wie dargelegt vor allem noch an einer stringenten Prüfung des Postulats „hinreichend“ gewichtiger, d. h. abwägungsfester Gründe für eine Durchbrechung221. Selbst die-

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215 Näher dazu dazu J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 185 f. 216 Siehe dazu oben bei 1. und 2. 217 Siehe dazu auch C. Brüning, JZ 2001, 669, 673; J. Hey, DStR 2009, 2561 (2567); U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (88). 218 Den bisherigen Schlusspunkt bildet die Entscheidung des BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434 (437), wo das BVerfG sich des rhetorischen Kniffs bedient, den Mangel an Erforderlichkeit mit einem Mangel an sachlich rechtfertigenden Gründen gleichzusetzen. Damit wird im Gewande der Willkürprüfung de facto eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt. 219 Vgl. etwa BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (359 f. u. 364); v. 2.2.1999 – 1 BvL 8/97, BVerfGE 100, 195 (205). 220 Vgl. BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297 (311 f.); s. ferner J. Hey, DRV 2004, 1 (5 f.); S. Sieker in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 195 (198). 221 Vgl. zu den Grenzen der Typisierung aber unlängst sehr deutlich BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434 (441): Eine Typisierung ist unverhältnismäßig, wenn der mit dem Verzicht darauf einhergehende Vereinfachungsverlust kein solches Gewicht hätte, dass gemessen daran die Beeinträchtigung des Gebots gleichmäßiger Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit als hinnehmbar erscheint. Siehe dazu auch BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (364); v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 BVerfGE 121, 317 (358); v. 6.7.2010 – 2 BvL

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ses Defizit wird aber ansatzweise durch das ergänzende Erfordernis einer folgerichtigen Ausgestaltung der Ausnahme, d. h. einer zumindest widerspruchsfreien Gewichtung der sie legitimierenden Gründe222 kompensiert. e) Exkurs: Eine Kritik der Entscheidung betreffend Jubiläumsrückstellungen Aus dem Rahmen fällt lediglich die jüngste Entscheidung des BVerfG zur steuerlichen Berücksichtigung von Jubiläumsrückstellungen. Nach der darin zum Ausdruck kommenden Vorstellung des Zweiten Senats ist der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der von ihm selbst – wenn auch unter Beachtung der relevanten verfassungsrechtlichen Direktiven – statuierten „zentralen [Maßstäbe] gerechter Belastungsverteilung“ durch die Grundsätze der „Folgerichtigkeit und Verhältnismäßigkeit … an ein hinreichendes Maß an Rationalität und Abgewogenheit“ gebunden223. Anders verhielte es sich aber bei Unterprinzipien, die eine „grundsätzliche steuergesetzliche Disponibilität“ aufwiesen und zudem – wie das steuerbilanzrechtliche Vorsichtsprinzip – von außersteuerlichen Zielsetzungen geprägt seien, sich also nicht unmittelbar aus „zentralen“ Lastenverteilungsmaßstäben ableiten ließen. Hier soll die Entwicklung „‚überzeugende[r]‘ dogmatische[r] Strukturen durch eine systematisch konsequente und praktikable Tatbestandsausgestaltung“ der weitgehenden Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers überantwortet sein, dessen Spielraum diesbezüglich nur durch das Willkürverbot begrenzt sei. Der Beschluss des BVerfG plädiert somit für einen gleitenden Prüfungsmaßstab in Abhängigkeit von der Stellung des möglicherweise durchbrochenen Besteuerungsgrundsatzes in der bereichsspezifischen Prinzipienhierarchie224. Dieses Judikat vermag in mehrfacher Hinsicht nicht zu überzeugen225: Erstens schafft die Grenzziehung zwischen der Verwirklichung „zentraler Fragen gerechter Belastungsverteilung“ einerseits und der tatbestandlichen Konkretisierung bloß nachgeordneter Prinzipien Abgrenzungsschwierigkeiten, die allenfalls nach und nach durch eine entsprechende Kasuistik des BVerfG handhabbar würden226. Zweitens und vor allem wäre eine solche Abgrenzung immer künstlich. Denn auch soweit die Konkretisierung eines „zentralen“ Belastungsgrundsatzes durch ein bestimmtes Unterprinzip für den Gesetzgeber zunächst in dem Sinne „disponibel“ war, dass sie eigenständiger Wertungen bedurfte und nicht schon im fundamentaleren Maßstab mit angelegt war, so wird doch jede Abweichung von diesem selbst gesetzten Unterprinzip denknotwendig auch die gleichmäßige Umsetzung des dahingehend konkretisierten, über-

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13/09, FR 2010, 804; H.-W. Arndt, NVwZ 1988, 787 (789); C. Kannengießer in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 3 Rz. 20; P. Selmer in GS Trzaskalik, 2005, S. 411 (425 f.); R. Wendt, NVwZ 1988, 778 (784). Siehe dazu noch eingehend unter IV.1. Vgl. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (123); Hervorhebung durch den Verf. Vgl. auch L. Osterloh in Birk (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, 2009, S. 71; als Berichterstatterin hat Osterloh die Entscheidung maßgeblich mitgeprägt. Ablehnend auch C. Schlotter, BB 2009, 1411 (1412). Kritisch auch J. Hey, DStR 2009, 2561 (2566).

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geordneten Be- oder Entlastungsprinzips beeinträchtigen. Nur die Entscheidung für ein bestimmtes Unterprinzip lässt sich in gewissen Maßen von derjenigen für das Fundamentalprinzip trennen, nicht aber die jeweils folgerichtige Umsetzung227. Es muss daher auch bezweifelt werden, ob sich eine Durchbrechung „entfernterer“ Unterprinzipien leichter rechtfertigen lässt als eine Abweichung von unmittelbar das Fundamentalprinzip konkretisierenden Grundsätzen228, zumal unter Umständen gerade ersteren zusätzlich eine besondere freiheitsrechtliche Komponente innewohnen kann. Insofern trifft es beispielsweise zwar zu, dass sich der maßgebliche Zeitpunkt für die steuerliche Berücksichtigung gewinnmindernder Aufwendungen und mithin die Geltung des bilanzsteuerlichen Vorsichtsprinzips nicht ohne weiteres mit Hilfe des Leistungsfähigkeitsprinzips oder des objektiven Nettoprinzips bestimmen, also sich aus diesen Prinzipien nicht schon logisch ohne zwischengeschalteten Wertungsakt ableiten lässt229. Auch mag man der Auffassung zuneigen, das Vorsichtsprinzip sei auch generell nicht Ausdruck grundlegender Entscheidungen über eine gerechte Lastenverteilung, die sich hierzu neutral verhielten, sondern diene der Praktikabilität der Besteuerung230. Dessen ungeachtet unterliegt die Zweite Kammer des BVerfG aber einem Trugschluss, wenn sie annimmt, eine – unterstellte – Missachtung des Vorsichtsprinzips durch ein steuerliches Rückstellungsverbot impliziere unter diesen Prämissen „weder eine relevante Abweichung von einer verfassungsrechtlich gebotenen Besteuerung nach finanzieller Leistungsfähigkeit noch eine Durchbrechung des … objektiven Nettoprinzips.“231 Besagte Prinzipien sind von Verfassungs wegen folgerichtig ergo gleichmäßig zu verwirklichen. Werden bestimmte gewinnrelevante Aufwendungen nach dem Realisationsprinzip statt wie üblich nach dem Vorsichtsprinzip berücksichtigt, so wird aber die periodisch verglichene steuerliche Leistungsfähigkeit nicht nach einem für alle gleichen Maß gemessen, und in der Folge wird das objektive Nettoprinzip nicht allen Steuerpflichtigen gegenüber auch in seiner temporalen Dimension gleichermaßen zur Geltung gebracht232.

__________ 227 Ähnlich J. Hey, DStR 2009, 2561 (2566), aus umgekehrter Perspektive: dogmatisch überzeugende Strukturen können nur durch folgerichtige Umsetzung sachgerechter Belastungsentscheidungen entstehen. 228 So J. Hey, DStR 2009, 2561 (2568). 229 Vgl. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (124). 230 Vgl. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (124 f.); vgl. demgegenüber aber zutreffend E. Kammann, Stichtagsprinzip und zukunftsorientierte Bilanzierung, 1988, S. 85 f. sowie die Nachweise in Fn. 96. Insoweit das BVerfG allerdings (zu Unrecht) andeutet, das Vorsichtsprinzip könnte gar im Widerspruch zum Leistungsfähigkeitsprinzip stehen, und habe jedenfalls im Steuerrecht keinerlei rechtsethische Legitimation, hätte es diesen vermeintlichen Bedenken gründlicher nachspüren müssen, denn auch für das Steuerbilanzrecht als Determinante steuerlicher Lastenverteilung gilt selbstverständlich das gleichheitsrechtliche Gebot der Orientierung an bereichsspezifisch sachgerechten Zuteilungsmaßstäben. 231 Vgl. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (125 f.). 232 Vgl. auch J. Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (310); J. Hey, DStR 2009, 2561 (2565); C. Schlotter, FR 2007, 951 (953), zum gleichheitsrechtlichen Gebot symmetrischer Entfaltung des Vorsichtsprinzips auf der Aktiv- und Passivseite der Steuerbilanz.

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Hätte das BVerfG hingegen mit seinen Formulierungen zum Ausdruck bringen wollen, das Steuerbilanzrecht habe nach seiner Einschätzung die Orientierung am Vorsichtsprinzip insgesamt aufgegeben und folge hinsichtlich der periodischen Zuordnung von Ertrag und Aufwand keinem erkennbaren Leitprinzip (mehr), so hätte es erwägen müssen, dem Gesetzgeber nach dem Vorbild des Erbschaftsteuerbeschlusses233 zur Überwindung derartiger Willkür eine komplette Neuregelung aufzugeben. Im Übrigen kann ein gleitender Prüfungsmaßstab je nach der Nähe des durchbrochenen Prinzips zu fundamentalen Be- oder Entlastungsentscheidungen auch nicht auf die inzwischen ständige – gleichwohl fragwürdige234 – Rechtsprechung zurückgeführt werden, wonach der Gesetzgeber regelmäßig nur bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen oder bei nachteiligen Auswirkungen der beanstandeten Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten einer im Verhältnis zum Willkürverbot strengeren gleichheitsrechtlichen Kontrolle unterliege235. Denn zumindest eine signifikante Grundrechtsbetroffenheit wird gerade im Steuerrecht auch jenseits der „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“ gegeben sein236. Zutreffend ist allein, dass es „nicht Aufgabe des BVerfG [ist], die ‚Richtigkeit‘ von Lösungen komplexer dogmatischer Streitfragen zu kontrollieren und zu gewährleisten.“237 Dem Gesetzgeber kann also ein Wertungsspielraum bei der mitunter nicht eindeutig zu beantwortenden238 Frage zukommen, welche Schlussfolgerungen sich hinsichtlich eines konkreten Regelungsbedarfs aus dem jeweils in Rede stehenden Subprinzip ergeben239. Derartige Wertungen müssen sich dann freilich ihrerseits in die sonstigen, vom fraglichen Subprinzip erfassten Lösungsansätze harmonisch einfügen.

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Zutreffend ist mithin allein die Erkenntnis des BVerfG, das es einer Rechtfertigung für die je unterschiedliche Konkretisierung dieser temporalen Dimension bei den Überschusseinkunftsarten einerseits und den Gewinneinkunftsarten andererseits bedarf, vgl. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (125). Anführen kann der Gesetzgeber insoweit in der Tat Aspekte der Steuervereinfachung, nach hier vertretener Ansicht freilich im Rahmen der Überschusseinkunftsarten. Vgl. BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1. Zur Kritik vgl. J. Englisch in Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 3 Rz. 14 ff. m. w. N. Vgl. etwa BVerfG v. 8.6.1993 – 1 BvL 20/85, BVerfGE 89, 15 (22 f.); v. 22.2.1994 – 1 BvL 21/85 u. a., BVerfGE 90, 46 (56); v. 11.1.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 (174); v. 13.6.2006 – 1 BvR 1160/03, BVerfGE 116, 135 (161). Siehe auch schon K. Vogel, DStJG 12 (1989), 123 (140): „Gründe von Gewicht“ seien nur bei einer Differenzierung nach persönlichen Eigenschaften zu verlangen. Vgl. J. Hey, StBJb 2007/2008, S. 17 (37); DStR 2009, 2561 (2567); im Ergebnis ebenso F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (187). Siehe ferner auch U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (94), aus sozialversicherungsrechtlicher Warte. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 (123). Vgl. U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (91); E. Lejeune Valcárcel in Ferraz (Hrsg.), Princípios e Limites da Tributação 2, 2009, S. 251 (259), wonach die Unterscheidung nach systemtragenden und systemdurchbrechenden Normen schwierig sein könne. Die Kritik von H. D. Jarass, AöR 126 (2001), 588 (598), das Folgerichtigkeitsgebot sei insofern nicht stringent zu handhaben, ist bei der gebotenen Anerkennung gesetzgeberischer Wertungsspielräume somit obsolet.

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f) Steuervergünstigungen im Besonderen Als besondere sachliche Gründe für Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung und Konkretisierung steuergesetzlicher Belastungsentscheidungen hat das BVerfG in seiner bisherigen Rechtsprechung vor allem außerfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke anerkannt240. Mit Blick auf solche (nicht maßstabsgerechte) Steuervergünstigungen gesteht das BVerfG dem Gesetzgeber im Ausgangspunkt „große Gestaltungsfreiheit“ zu. Er sei „weitgehend frei“ in seiner Entscheidung, welche Personen oder Unternehmen er aus wirtschafts-, sozial-, umwelt- oder gesellschaftspolitischen Gründen fördern wolle241. Verlangt wird ferner anstelle einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung lediglich, die Vergünstigung müsse „jedenfalls ein Mindestmaß an zweckgerechter Ausgestaltung aufweisen“242. Dieses Erfordernis entspricht demjenigen der Zweckeignung der Maßnahme243; es läuft damit auf eine bloße Willkürprüfung hinaus244. Allerdings stellt das BVerfG seit dem Vermögensteuerbeschluss darüber hinaus ein Begründungsgebot245 dahingehend auf, dass Förderungs- und Lenkungsziele von erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidungen getragen, namentlich mit hinreichender Bestimmtheit tatbestandlich vorgezeichnet sein müssten246. Diese Rechtsprechungslinie degradiert das eigene Bekenntnis zum Erfordernis „hinreichender [und] sachlicher“ Gründe zu hohler Rhetorik247 und schafft damit eine offene Flanke der gleichheitsrechtlichen Bewehrung des Leistungsfähigkeitsprinzips sowie alternativer Lastenzuteilungsmaßstäbe. Richtigerweise muss erstens auch für Steuervergünstigungen gelten, dass ihre Zielsetzung nur bei hinreichender Gemeinwohlorientierung eine Abweichung vom Leitprinzip sachgerechter Besteuerung sachlich zu legitimieren vermag248.

__________ 240 Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (231). 241 Vgl. BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293) m. w. N.; vgl. zur Rspr. auch J. Hey, StBJb 2007/2008, S. 17 (39). 242 Vgl. BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (113); v. 17.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (33); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., BVerfGE 122, 210 (231). Ähnlich F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (190): „realitätsnaher Rechtfertigungsgrund“. Zum daneben postulierten Gebot folgerichtiger Ausgestaltung s. unten bei III.2. 243 Vgl. R. Mellinghoff in FS Bareis, 2005, S. 171 (183). 244 So ausdrücklich BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); vgl. ferner S. Müller-Franken, StuW 1997, 3 (20) m. w. N. Siehe auch R. Mellinghoff in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 491 (499). 245 So die zutreffende Charakterisierung durch U. Kischel in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (187). 246 Vgl. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (147 f.); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (296); v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (112 f.); v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182); st. Rspr. 247 Vgl. die überspitzte Kritik bei K.-A. Schwarz in FS Isensee, 2007, S. 949 (964): „leere und abstrakte Klausel“. 248 So auch R. Mellinghoff in FS Bareis, 2005, S. 171 (182); K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 340 ff. Zu streng P. Kirchhof in FS Solms, 2005, 1 (6); AöR 128 (2003), 1 (48): Gemeinwohlbezogene Anforderungen ähnlich denen des Art. 14 III 1 GG.

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Dazu hat Joachim Lang schon in seiner Kölner Dissertationsschrift eingehende Erwägungen angestellt249. Diese gelegentlich auch vom BVerfG zum Ausdruck gebrachte Einschränkung250 verträgt sich nicht mit der Zuerkennung eines frei flottierenden gesetzgeberischen Ermessens bei der Definition legitimer Lenkungsziele. Steuerprivilegien um der Förderung einzelner, willkürlich bzw. nach klientelpolitischen oder wahltaktischen Erwägungen abgegrenzter Gruppierungen willen sind als gleichheitssatzwidrig zu verwerfen251. Auch deshalb ist beispielsweise das neue umsatzsteuerrechtliche Hotelprivileg des § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG verfassungswidrig252. Formuliert die Gesetzesbegründung zur Rechtfertigung breiter gefasste und vordergründig gemeinwohlorientierte Zielsetzungen, so muss die derart kaschierte Privilegierung letztlich ebenfalls gleichheitsrechtlichen Schiffbruch erleiden, weil es dann an ihrer folgerichtigen Ausgestaltung mangelt253. Zweitens ist aus den oben schon erörterten Gründen auch bei Steuervergünstigungen eine genuine Verhältnismäßigkeitsprüfung geboten, einschließlich einer Abwägung zwischen den von ihr zu erwartenden positiven Effekten einerseits und der damit einhergehenden Beeinträchtigung des Besteuerungsgleichmaßes andererseits254. Dem Gesetzgeber kommt zwar vor allem hinsichtlich der Erforderlichkeit einer steuerlich überbrachten Subvention, aber auch bezüglich ihrer Eignung sowie der Angemessenheit einer Abweichung vom bereichsspezifischen Lastenzuteilungsmaßstab zunächst eine prognostische Einschätzungs- und Wertungsprärogative zu255. Ihn trifft aber zugleich eine „Produktbeobachtungspflicht“: Erweist sich die Vergünstigung als wirkungslos oder doch als weniger effektiv als erwartet, oder ist der mit ihr verfolgte Zweck im Wesentlichen dauerhaft erreicht oder hat er sich anderweitig erledigt, muss der Gesetzgeber nachjustieren bzw. wieder zu einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zurückkehren256. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, Steuervergünstigungen seien – was zutrifft – als Verschonungssubventionen zu charakterisieren, weshalb sie ebenso wie Direktsubventionen nicht besonders

__________ 249 Vgl. J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, 1974, S. 145; vgl. auch dens. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 75. 250 Vgl. etwa BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (147); BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (31). 251 So auch G. Morgenthaler in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (65); R. Mellinghoff in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 491 (498 f.). 252 Es ist denn auch bezeichnend, dass in der Gesetzesbegründung kein rechtfertigender Grund für die Steuerermäßigung kurzfristiger Übernachtungen angegeben wird, vgl. BT-Drucks. 17/15, 20. 253 Siehe dazu näher bei III.2.; vgl. auch K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 345. 254 Vgl. K. Tipke, StuW 1988, 262 (274); dens in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (879). 255 Insoweit tendenziell zutreffend BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182). 256 Vgl. BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93, BVerfGE 105, 17 (34); s. auch P. Kirchhof in Birk (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, 2009, S. 12 (24); K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 343.

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gerechtfertigt werden müssten257. Denn nur die Inanspruchnahme von Steuerverschonungen können die Steuerpflichtigen ohne Überprüfung auf Zweckdienlichkeit in einem effektiven Verwaltungsverfahren selbst steuern und auf diese Weise Ausmaß und Höhe der (Verschonungs-)Subvention beeinflussen. Steuervergünstigungen beeinträchtigen die Belastungsgleichheit daher in besonderem Maße258. Das vom BVerfG aufgestellte Begründungsgebot vermag die vorstehend kritisierten Rechtsprechungsdefizite nicht zu kompensieren; es hat vielmehr eine eigenständige Berechtigung259. Es soll verhindern, dass eine missglückte Fiskalzwecknorm im Nachhinein als Lenkungsnorm ausgegeben wird260, ohne dass der dazu berufene Gesetzgeber die Wünschbarkeit des denkbaren Lenkungsziels reflektiert und einer Bewertung von dessen Gewicht im Verhältnis zu Belangen der Belastungsgerechtigkeit vorgenommen hätte261. Derartige Erwägungen müssen zumindest im Gesetzgebungsverfahren sichtbar werden262; das BVerfG darf sich insoweit nicht zum Ersatzgesetzgeber aufschwingen. Dies ist in früheren Entscheidungen nicht hinreichend beachtet worden263. g) Verbot substantieller Aushöhlung des sachgerechten Verteilungsprinzips Ausnahmeregelungen, die bei jeweils isolierter Betrachtung mit Blick auf die dem Gesetzgeber zuzugestehende Wertungsprärogative als legitime und verhältnismäßige Abweichung vom folgerichtig zu entfaltenden Leitprinzip sachgerechter Verteilung zu akzeptieren wären, können gleichwohl in der Summe eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des dem Folgerichtigkeitsgrundsatz zugrunde liegenden gleichheitsrechtlichen Gebotes gleichmäßiger Behandlung bewirken: Der Gesetzgeber darf den – von ihm selbst gewählten oder durch verfassungsrechtliche Vorgaben im Wesentlichen determinierten – Zuteilungsmaßstab nicht durch eine Fülle von Ausnahmen in einem Maße schwächen, das den Grundsatz unterminiert und seine Orientierungsfunktion als Gerech-

__________ 257 So aber U. Kischel in Mellinghoff u. a. (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (182 f.). 258 So auch P. Kirchhof, AöR 128 (2003), 1 (46 f.); R. Mellinghoff in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 491 (498 f.); im Ergebnis gl.A. auch R. Wernsmann, NVwZ 2004, 819. 259 Befürwortend auch U. Becker in FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 (89); G. Robbers, DÖV 1988, 749 (756); F. Schoch, DVBl. 1988, 863 (878 f.); ablehnend U. Kischel in Mellinghoff u. a. (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (188): es müsse genügen, dass vernünftige Gründe „konstruierbar“ sind. 260 Zutreffend D. Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (37). 261 Vgl. auch BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (147). 262 Vgl. S. Breinersdorfer, StuW 2009, 211 (213); wie das BVerfG und damit wohl zu weitgehend hingegen P. Kirchhof, AöR 128 (2003), 1 (47); R. Mellinghoff in Ballwieser/ Grewe (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 491 (499): in Gesetzgebungsverfahren und Gesetzestext. 263 Vgl. BVerfG v. 26.4.1978 – 1 BvL 29/76, BVerfGE 48, 227 (236 f.); v. 20.3.1979 – 1 BvR 111/74 u. a., BVerfGE 51, 1 (26 f.); v. 11.2.1992 – 1 BvL 29/87, BVerfGE 85, 238 (245).

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tigkeitsprinzip entwertet264. Speziell im Steuerrecht darf die prinzipiell folgerichtig zu gewährleistende Regelbelastung nicht wegen der Vielzahl von Ausnahmen zur Sonderbelastung mutieren. Wird das Belastungsgleichmaß durch zu viele Abweichungen zersetzt, und seien sie auch je für sich genommen zulässig, so werden auch die maßstabsgerecht Besteuerten nicht mehr gleichheitsgerecht besteuert265. Es ist bemerkenswert, dass selbst die ansonsten von großer richterlicher Zurückhaltung geprägte Rechtsprechung des französischen Conseil constitutionnel die Missachtung dieses Gerechtigkeitsanliegens durch ein Gesetz zur CO2Besteuerung (die sog. „contribution carbone“) jüngst als Verstoß gegen das verfassungskräftige Gebot der Besteuerungsgleichheit gebrandmarkt hat266. Nichts anderes kann hier in Deutschland insbesondere für das erst vor kurzem reformierte Erbschaftsteuerrecht gelten: Auch hier wird die steuerliche Regelbelastung zur Ausnahme267: Die weitreichende Privilegierung von Eigenheimen, Mietwohnungsunternehmen, Freiberuflerpraxen sowie gewerblichen und landwirtschaftlichen Betrieben einschließlich einer großzügigen Verschonung auch von sog. betrieblichem „Verwaltungsvermögen“ lässt die „Regelbesteuerung“ von bis zu 50 % auf den Verkehrswert des sonstigen übertragenen Vermögens als willkürliche, gleichheitsrechtlich nicht zu duldende Sonderbelastung erscheinen268. h) Strengere Anforderungen im Rahmen besonderer Gleichheitssätze Schließlich gelten die vorstehenden Ausführungen nur für diejenigen folgerichtig zu entfaltenden Leitprinzipien sachgerechter Vergabe bzw. Inanspruchnahme, die mangels speziellerer Regelung im Grundgesetz an den allgemeinen Gleichheitssatz angebunden sind; dies trifft namentlich für das steuerliche Leistungsfähigkeitsprinzip zu. Demgegenüber können etwa die für die Wahl in ein Abgeordnetenamt geltenden Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit nach Art. 28 Abs. 1 S. 2; 38 Abs. 1 S. 1 GG nur unter wesentlich strengeren Voraus-

__________ 264 Prägnant K. Stern/U. Aussem, Die Verwaltung 27 (1994), 1 (23 ff.), zur seinerzeit diskutierten Vermögensabgabe; s. auch M. Bäcker, DVBl. 2008, 1180 (1183). 265 Siehe dazu auch J. Englisch, NJW 2009, 894 (896). 266 Vgl. Conseil constitutionnel v. 29.12.2009 – 2009-599 DC, Rz. 82 f.: „… que l’importance des exemptions totales de contribution carbone étaient contraires à l’objectif de lutte contre le réchauffement climatique et créaient une rupture d’égalité devant les charges publiques. Par voie de conséquence il a censuré l’ensemble du régime relatif à cette contribution. …“ 267 Vgl. D. Birk, DStR 2009, 877 (881 f.), der – zu Recht – eine Perversion der Grundidee des ErbSt-Beschlusses v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (33 ff.), beklagt. Daran sind allerdings die fragwürdigen Aussagen des ersten ErbSt-Beschlusses zur vermeintlich gebotenen Verschonung von Betriebsvermögen nicht ganz unschuldig, vgl. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (175 f.) und die zu Recht kritischen Anmerkungen von H.-E. Kiehne, Grundrechte und Steuerordnung in der Rechtsprechung des BVerfG, 2004, S. 67. Zum vergleichbaren Rechtszustand auch schon vor der ErbSt-Reform 2008 vgl. F. Klein in FS Flick, 1997, S. 327 (335). 268 So auch G. Crezelius, ZEV 2009, 1 (2); R. Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 13 Rz. 101; K. Tipke, StuW 2007, 201 (210).

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setzungen durchbrochen werden269. Für das Leistungsprinzip bei der Ämtervergabe nach Art. 33 Abs. 2 GG wird teilweise sogar vertreten, dass Abweichungen hiervon unter keinen Umständen zu rechtfertigen sind270.

IV. Widerspruchsfreie Ausgestaltung der Abweichungen vom Verteilungsmaßstab 1. Grundsätzliche Erwägungen Das Folgerichtigkeitsgebot erschöpft sich nicht in dem grundsätzlichen Verlangen nach konsequenter, d. h. gleichmäßiger gesetzlicher Verwirklichung verfassungsrechtlich legitimer und rechtsethisch begründbarer Maßstäbe für die Besetzung staatlicher Ämter und für staatliche Zuteilungsentscheidungen sowie für die Auferlegung staatlicher Lasten. Soweit Abweichungen von dem jeweiligen fundamentalen Verteilungsprinzip einschließlich seiner Unterprinzipien entsprechend den vorstehenden Ausführungen gerechtfertigt werden können, ist darüber hinaus auch die folgerichtige Ausgestaltung der Ausnahmeregelung geboten. Zwar sind dem Gesetzgeber wie oben dargelegt Wertungsspielräume bei der Abwägung der widerstreitenden Belange und dementsprechend bei der Entscheidung für oder gegen eine Ausnahmeregelung zuzuerkennen. Der Gleichheitssatz fordert jedoch, dass die darin zum Ausdruck kommende Gewichtung von Rechtsgütern in vergleichbaren Fällen dieselbe ist, der Wertungsspielraum also gleichmäßig ausgefüllt wird271. Auch insoweit bedeutet gesetzgeberische Inkonsequenz ein Messen mit zweierlei Maß und damit einen Verstoß gegen die Generalität des Gerechtigkeitsgedankens272. Art. 3 Abs. 1 GG stellt also ein Gebot konsistenter und insbesondere widerspruchsfreier Abwägung auf273. Insofern lässt sich auch von „bewertungsbezogener“ Folgerichtigkeit sprechen, im Gegensatz zur bislang erörterten „wertmaßstäblichen“ Folgerichtigkeit274. Das BVerfG bringt diese zweite Dimension des Folgerichtigkeitsgebotes bereits seit Mitte der Neunziger Jahre vor allem in seiner Rechtsprechung zur Rechtfertigung von Steuervergünstigungen275 zum Ausdruck. Denn geprüft

__________

269 Vgl. etwa BVerfG v. 29.11.1990 – 2 BvE 1, 3, 4/90, 2 BvR 1247/90, BVerfGE 82, 322 (338); v. 10.4.1997 – 2 BvC 3/96, BVerfGE 95, 408 (418); st. Rspr. 270 Vgl. U. Battis in Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 33 Rz. 38 a. E.; B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, 25. Aufl. 2009, Rz. 509 u. 512; s. aber auch J. Masing in Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 33 Rz. 54. 271 Siehe dazu eingehend J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzübeschreitenden Handel, 2008, S. 119 ff. u. S. 131 ff.; vgl. auch L. Michael, JZ 2008, 875 (880); K. Tipke, StuW 1988, 262 (274). 272 Siehe dazu auch K. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, S. 26. 273 Vgl. auch H. H. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 72; S. Breinersdorfer, StuW 2009, 211 (213); U. Kischel, AöR 124 (1999), 174 (199 f.). 274 Letztlich geht es indes stets um konsistentes Werten, vgl. dazu auch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 16 u. S. 125; H. D. Jarass, AöR 126 (2001), 588 (592); P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (21); H. Otto, JZ 2005, 473; K. Tipke in FS Wacke, 1972, S. 211 (214). 275 Siehe dazu noch eingehend unter 2.

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wird u. a., ob ein vom Leistungsfähigkeitsprinzip abweichender Förderungsund Lenkungszweck vom Gesetzgeber „gleichheitsgerecht ausgestaltet“ wurde276. Auf größere Resonanz im staatsrechtlichen Schrifttum ist diese Rechtsprechungslinie allerdings erst gestoßen, als das BVerfG die zugrunde liegenden gleichheitsrechtlichen Erwägungen auch im Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts fruchtbar gemacht hat, namentlich im sog. Rauchverbotsurteil277. Dieses Urteil betrifft zwar einen Regelungskomplex, in dem kein Verteilungsproblem zu lösen ist, sondern in dessen Rahmen sich der staatliche Eingriff gegen jeden Grundrechtsträger richtet, der für die Erreichung des Eingriffszwecks individuell verantwortlich gemacht werden kann. Die gleichheitsrechtliche Problematik einer nicht folgerichtigen Abwägung des betroffenen Grundrechts einerseits und kollidierender Individualrechte oder Gemeinwohlziele andererseits ist jedoch dieselbe278, nur dass es sich bei dem betroffenen Grundrecht nicht um Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Gebot gleichmäßiger Umsetzung sachgerechter Verteilungsprinzipien handelt, sondern um ein Freiheitsrecht. Das BVerfG hat in diesem Zusammenhang folgende, nahezu durchgängig überzeugende Feststellungen getroffen: Es hat zunächst dargelegt, dass der Gesetzgeber im Rahmen der durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorstrukturierten Abwägung die beeinträchtigten Grundrechte einerseits und die geschützten bzw. geförderten Rechtsgüter andererseits bewertet. Dabei bestimme er im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben darüber, mit welcher Wertigkeit die von ihm verfolgten Interessen der Allgemeinheit in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingehen; dem Gesetzgeber komme insoweit ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu279. Wie oben dargelegt, wird es sich ebenso regelmäßig auch bei einer Durchbrechung von bereichsspezifischen Leitprinzipien sachgerechter Zuteilung von Rechten oder Pflichten, und namentlich bei Abweichungen vom steuerlichen Leistungsfähigkeitsprinzip um der Verwirklichung bestimmter Gemeinwohlziele willen verhalten. Das BVerfG betont dann aber, der Gesetzgeber handle unschlüssig, wenn er identischen Gefährdungen des Schutzgutes in demselben Gesetz unterschiedliches Gewicht beimesse. Habe er die betroffenen Interessen in einer Abwägung erkennbar bewertet und gewichtet, so müsse er vielmehr „diese Entscheidung auch folgerichtig weiterverfolgen.“280 Nach Auffassung des BVerfG

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276 Vgl. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (148); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (296); v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerGE 116, 164 (182); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (32); s. dazu auch schon K. Tipke, BB 1973, 157 (158), sowie dens., StuW 2007, 201 (217); sowie R. Mellinghoff in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 491 (498). 277 Vgl. BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317. 278 Siehe dazu ausführlich J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzübeschreitenden Handel, 2008, S. 126 ff. 279 Vgl. BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (356 u. 360); tendenziell a. A. im Kontext des staatlicherseits zu gewährleistenden Gesundheitsschutzes offenbar Sondervotum J. Masing, a. a. O., S. 382. 280 Vgl. BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (362).

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können sich daher von einem gesetzlichen Eingriff in ihre Grundrechte Betroffene auf die in einer anderen Regelung zum Ausdruck kommende relativ geringe Gewichtung des Schutzgutes berufen, um auf Basis dieser a priori keineswegs zwingenden Interessenbewertung die Unverhältnismäßigkeit bzw. Unzumutbarkeit ihrer eigenen Grundrechtsbeeinträchtigung darzutun281. Aufgrund der Übereinstimmung der zugrunde liegenden gleichheitsrechtlichen Problemstellung lassen sich die vorstehend skizzierten, stringenter als bislang gehandhabten Anforderungen des Rauchverbotsurteils an bewertungsbezogene Folgerichtigkeit in der Abwägung grundsätzlich auf die Konstellationen einer Durchbrechung von bereichsspezifisch sachgerechten Leitprinzipien staatlicher Vorteilsgewährung bzw. Lastenauferlegung übertragen. Die am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messende Abweichung vom gleichheitsrechtlich fundierten Verteilungsmaßstab ist insoweit einer Freiheitsbeeinträchtigung gleichzuachten. Stets ist eine konsistente Güterabwägung und -gewichtung kollidierender Prinzipien, Rechte und Ziele gefordert. Insofern müssen auch legitime und verhältnismäßige Bereichsausnahmen noch ihrerseits dem Gleichheitssatz entsprechen282. Nicht zu überzeugen vermag lediglich die vom BVerfG praktizierte Zusammenschau von freiheitsrechtlichem Übermaßverbot und gleichheitsrechtlichem Folgerichtigkeitsgebot283. Tatsächlich lässt sich nicht ohne weiteres feststellen, eine bestimmte Grundrechtsbeeinträchtigung sei unzumutbar, weil dem eingriffslegitimierenden Schutzgut an anderer Stelle im Gesetz in einem gleichgelagerten Interessenkonflikt erkennbar eine geringere Wertigkeit beigemessen wurde, als ihm gemessen an der Schwere der nun zu beurteilenden Grundrechtsbeeinträchtigung zur Rechtfertigung zukommen müsste. Gerade bei der Austarierung von grundrechtlichen Abwehrrechten und damit kollidierenden grundrechtlichen Schutzpflichten ließe sich nämlich ebenso gut vertreten, es sei die andere Regelung, die im Lichte des beanstandeten Grundrechtseingriffs zu verwerfen sei, weil sie dem Untermaßverbot nicht genüge. Im Kern ist der Verstoß gegen das Gebot folgerichtiger Abwägung eben stets ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, und als solcher sollte er um der Verdeutlichung der verbleibenden Gestaltungsoptionen des Gesetzgebers willen auch sanktioniert werden. Das gilt erst recht im Kontext einer Abweichung von gleichmäßig zu verwirklichenden Lastenausteilungsmaßstäben, also etwa für eine gemessen am Begünstigungszweck nicht folgerichtige Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips, weil es dem nachteilig Betroffenen hier regelmäßig nicht darauf ankommen wird, maßstabskonform behandelt zu werden, sondern vielmehr ebenfalls in den Genuss der fraglichen Vergünstigung zu kommen.

__________ 281 Vgl. BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (365). 282 Vgl. K. Tipke, StuW 1988, 262 (274). 283 Insoweit zu Recht kritisch auch M. Bäcker, DVBl. 2008, 1180 (1182 f.). Siehe zu dieser Verquickung aber auch schon andeutungsweise das Votum der die Entscheidung insoweit nicht tragenden Richter in BVerfG v. 9.6.2004 – 1 BvR 626/02, BVerfGE 111, 10 (43).

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Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass das im Rauchverbotsurteil des BVerfG entwickelte und damit auch das hier vertretene Konzept folgerichtiger Wertungskonsistenz in der Abwägung in Teilen der Literatur auf grundsätzliche Ablehnung gestoßen ist284. Befürchtet wird ähnlich wie bei der ersten, schon erörterten Dimension des Folgerichtigkeitsgebotes (Garant gleichmäßiger Entfaltung sachgerechter Verteilungsmaßstäbe) eine „Lähmung“ der Legislative durch exzessive Beschneidung ihres Gestaltungsspielraums285. Politikwechsel würden erschwert, Radikallösungen prämiert286 und der notwendige Raum für politische Kompromisse im Verlauf des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses unzulässig eingeengt287. Der Kritik ist zuzugestehen, dass das Folgerichtigkeitsgebot gerade auch in seiner Ausprägung als Gebot der Abwägungskonsistenz dem Gericht ein scharfes Schwert in die Hand gibt, das mit Bedacht geführt werden will. Es hieße aber den Grundrechtsschutz des Art. 3 Abs. 1 GG unzulässig zu verkürzen, wenn es deshalb von vornherein aus dem gleichheitsrechtlichen Arsenal verbannt würde. Stattdessen ist zuvörderst auf eine genaue Prüfung zu achten, ob in den jeweils verglichenen Situationen stets nur dieselben Prinzipien und Ziele gegeneinander abzuwägen sind oder ob eventuell bei einer der beiden Regelungen noch zusätzlich hinzutretende Grundsätze von Gewicht das Abwägungsergebnis im Sinne des Gesetzgebers zu beeinflussen vermochten. Letzterenfalls kann ein Wertungswiderspruch regelmäßig nicht mehr festgestellt werden288. Auch ist stets eine sorgfältige Analyse gefordert, ob die vermeintlich wertungswidersprüchlich gewichteten kollidierenden Belange in beiden Regelungszusammenhängen tatsächlich nach Intensität und Wahrscheinlichkeit ihrer Beeinträchtigung bzw. Förderung mindestens je gleichermaßen betroffen sind oder sich diesbezüglich sogar diametral zum gesetzgeberischen Regelungskonzept verhalten. Dasselbe gilt mit umgekehrten Vorzeichen hinsichtlich der Behauptung einer zu Unrecht unterlassenen gesetzlichen Differenzierung. Wird etwa bestimmten Gewerbezweigen eine Entlastung von ökologisch motivierten genuinen Produktionsmittelsteuern gewährt, weil die reguläre Belastung mangels vergleichbarer Steuerbelastungen im Ausland absehbar eine

__________ 284 Vgl. M. Bäcker, DVBl. 2008, 1180 (1183 f.); R. Gröschner, ZG 2008, 400 ff.; O. Lepsius, JZ 2009, 260 (261). Demgegenüber haben die beiden Sondervoten der Richter B.-O. Bryde und J. Masing in BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (378 ff.) im Wesentlichen nur die konkrete Handhabung des jedenfalls im Ansatz auch von ihnen anerkannten Folgerichtigkeitsgebotes im Einzelfall kritisiert, wobei speziell B.-O. Bryde sich gegen eine aus seiner Sicht zu strenge Kontrolle wendet und mit seiner Argumentation im Ergebnis einer Ablehnung des Folgerichtigkeitsgebotes nahekommt. 285 Vgl. M. Bäcker, DVBl. 2008, 1180 (1183). 286 Vgl. O. Lepsius, JZ 2009, 260 (261). 287 Vgl. R. Gröschner, ZG 2008, 400 (404); tendenziell gl.A. auch das Sondervotum B.-O. Bryde, BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (378 ff.). 288 Vgl. J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 124 f.

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gravierende Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit dieser Gewerbezweige zur Folge hätte, so können nicht ohne weiteres auch alle anderen einem gewissen internationalen Wettbewerb ausgesetzten Branchen unter Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG dieselbe Vergünstigung reklamieren bzw. einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz monieren, solange nicht dargetan ist, dass sie mindestens ebenso gravierend betroffen sind. Schließlich und vor allem kommt dem Gesetzgeber auch in diesem Kontext eine gewisse Typisierungsbefugnis respektive Wertungsprärogative dahingehend zu, trotz je unterschiedlicher (aber jeweils gegebener) Betroffenheit der abzuwägenden Rechtsgüter dieselben Rechtsfolgen oder trotz relativ stark angenäherter (aber nicht übereinstimmender) Betroffenheit unterschiedliche Rechtsfolgen vorzusehen289. Gleichheitsrechtlich relevant sind damit grundsätzlich nur genuine Wertungswidersprüche290 sowie solche Wertungen, bei denen das Ausmaß der vorgesehenen Rechtsfolgendifferenzierung oder deren Unterlassung in einem evidenten Missverhältnis zum Ausmaß der jeweiligen Unterschiede in der Rechtsgüterbetroffenheit steht291. Die Anforderungen an den Gesetzgeber steigen allerdings mit zunehmender lenkungspolitischer Ausdifferenzierung eines Rechtsgebietes, da die Abweichungen vom an sich sachgerechten Gleichmaß dann nicht nur für sich genommen folgerichtig abgegrenzt, sondern auch im Verhältnis zueinander wertungskonsistent entwickelt werden müssen292. Das BVerfG hat dies – nun wieder in steuerrechtlichen Zusammenhängen – dahingehend formuliert, es dürften unterschiedliche Rechtfertigungsgründe für eine ungleich(mäßig)e Behandlung „zueinander nicht in Widerspruch stehen, sondern müssen innerhalb eines vertretbaren gesetzgeberischen Konzepts aufeinander abgestimmt sein.“293

__________ 289 Eine Typisierung muss allerdings realitätsgerecht sein, vgl. BVerfG v. 6.5.1975 – 1 BvR 332/72, BVerfGE 39, 316 (328 f.); v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126 f.). Sind innerhalb einer anhand bestimmter Charakteristika abgrenzbaren Personengruppe (etwa einer Berufsgruppe oder Wirtschaftsbranche) signifikante Unterschiede im Maß der Betroffenheit in abwägungsrelevanten Belangen festzustellen, die Gruppenangehörige nicht nur in Einzelfällen betreffen, sondern als Mitglieder einer – wenn auch zahlenmäßig begrenzten – ihrerseits durch typische Merkmale charakterisierten Untergruppe, so darf über diese Unterschiede nicht hinwegtypisiert werden, vgl. BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (358). Das sog. Ökosteuerurteil BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, BVerfGE 110, 274 (292) genügt diesen selbstgesetzen und auch in der Sache überzeugenden Maßstäben nicht; dazu näher J. Englisch in Tipke/Lang, 20. Aufl. 2010, § 16 Rz. 25 m. w. N. 290 Vgl. auch P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (21): Ein Regelungswiderspruch hat vor dem Gleichheitssatz keinen Bestand, weil er keinen rechtfertigenden Grund erkennen lässt. 291 Für eine zu geringe Kontrolldichte aber W. Rüfner, BK-GG, Art. 3 (Stand: 10/1992) Rz. 42: Erst bei Unverständlichkeit des Gesetzes. 292 Zur dahingehenden, disziplinierenden Wirkung des Folgerichtigkeitsgebotes näher J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzübeschreitenden Handel, 2008, S. 131 ff., mit Beispiel. 293 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181).

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2. Folgerichtige Ausgestaltung von Steuervergünstigungen im Besonderen Speziell zu den Steuervergünstigungen judiziert das BVerfG seit dem Vermögensteuerbeschluss, dass deren Förderungs- und Lenkungszweck seinerseits gleichheitsgerecht ausgestaltet sein müsse294. Insbesondere müsse der Kreis der Begünstigten sachgerecht abgegrenzt sein295. Nichts anderes gilt im Übrigen auch bei der Auferlegung von Sonderbelastungen296. Dabei ist dem Gesetzgeber nach der – vereinzelt auch ausdrücklich hervorgehobenen – Auffassung des BVerfG allerdings ein „weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum einzuräumen“297. In der bisherigen Spruchpraxis sind Steuervergünstigungen denn auch nur ausnahmsweise an dieser Hürde gescheitert298. Die vorstehend beschriebene Forderung des BVerfG nach gleichheitsgerechter Ausgestaltung der Steuervergünstigung beinhaltet keine bloß verklausulierte Fassung des Kriteriums der Zweckeignung der Steuervergünstigung299; denn auch eine zu eng oder zu weit gefasste Begünstigungsnorm wird immer noch zu einer gewissen Förderung des Lenkungszwecks beitragen300. Stattdessen wird zu Recht verlangt, dass der Gesetzgeber seine in der Durchbrechung des steuerlichen Lastenzuteilungsmaßstabs zum Ausdruck kommende Vorrangwertung301 zugunsten anderer Ziele auch folgerichtig weiterverfolgt und die Steuervergünstigung nach dem Kreis der Begünstigten und dem Ausmaß der Begünstigung wertungskonsistent ausgestaltet302. Auch und gerade steuerliche Verschonungssubventionen dürfen nicht beliebig zugeschnitten werden303. Darüber hinaus ist auch darauf zu achten, dass es bei folgerichtiger Ausgestaltung der Steuervergünstigung eventuell auch flankierender Regelungen jenseits der in Rede stehenden Steuergesetzgebung bedarf, etwa um bei sozialstaat-

__________ 294 Vgl. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (148); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (296); v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (32). 295 Vgl. BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182). 296 So schon BVerfG v. 13.7.1965 – 1 BvR 771/59, BVerfGE 19, 101 (116) – Zweigstellensteuer. 297 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182). 298 Vgl. BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (297) – steuerfreie Zulage Ost. 299 So aber R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 245. 300 Vgl. zu diesem Standardverständnis des Eignungserfordernisses im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung statt aller BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, BVerfGE 110, 226 (262) m. w. N.; M. Sachs in Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 20 Rz. 150 m. w. N. 301 Vgl. auch P. Selmer in GS Trzaskalik, 2005, S. 411 (424): Maßgeblichkeit der „die Steuerverschonung leitenden Gesichtspunkte“. 302 Vgl. dazu auch R. Mellinghoff in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung im Wandel, 2008, S. 491 (498); C. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Band 1, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Rz. 53; K. Tipke, BB 1973, 157 (158); StuW 2007, 201 (217). 303 Vgl. W. Schön in FS Solms, 2005, S. 263 (269, Fn. 49).

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lich motivierten Begünstigungen auch nicht steuerbelastete Rechtssubjekte in den Kreis potentieller Empfänger einzubeziehen304. Die Zurücknahme der Kontrolldichte, die das BVerfG nach eigenem Verständnis praktiziert, ist entsprechend den Erwägungen des Vorabschnitts im Grunde nicht zu beanstanden305. Allerdings wird eine reine Willkürprüfung, die beliebige sachbezogene Gründe für eine Differenzierung oder Gleichbehandlung hinsichtlich der Begünstigung ausreichen lässt und keine Überlegungen zur jeweiligen Rechtsgüterbetroffenheit erkennen lässt, dem besonderen gleichheitsrechtlichen Geltungsgrund des Gebotes wertungskonsistenter Abwägung auch im Kontext der Steuervergünstigungen nicht gerecht. Nichts anderes gilt, wenn dahingehende Erwägungen zwar angestellt werden, dies aber nur auf Basis gänzlich oberflächlicher, (zu) grober und nicht weiter fundierter Typisierungen geschieht, so wie im sog. „Ökosteuer“-Urteil des BVerfG306. Erst recht nicht hinnehmbar sind Wertungswidersprüche, wie sie etwa bei der Ausgestaltung sozialpolitisch motivierter Steuervergünstigungen als Abzug von der Bemessungsgrundlage einer progressiven Steuer auftreten307: Wie Joachim Lang überzeugend dargelegt hat, lässt sich das hieraus resultierende, umgekehrt proportionale Verhältnis von Begünstigung und Bedürftigkeit nicht rechtfertigen308. Ein weiteres, in der Rechtsprechung des BVerfG bislang noch nicht ausreichend geklärtes Problem stellt sich schließlich im Hinblick auf die gleichheitsrechtliche Beurteilung von Folgebestimmungen, die an eine bestimmte als Steuervergünstigung konzipierte Regelung anknüpfen und die ihrerseits durchaus wieder belastender Natur sein können. So hat etwa die teilweise Steuerbefreiung für (betriebliche) Dividendeneinkünfte nach § 3 Nr. 40 lit. d EStG eine entsprechend anteilige Abzugsbeschränkungen hinsichtlich der mit den steuerfreien Einnahmen korrespondierenden Erwerbsaufwendungen gem. § 3c Abs. 2 EStG zur Folge, und die Sondertarifierung im Rahmen der Abgeltungsteuer (§§ 32d Abs. 1, 43 Abs. 5 EStG) zieht gem. § 20 Abs. 6 S. 2 EStG

__________ 304 Vgl. auch P. Kirchhof, StuW 1984, 297 (299). 305 Kritischer wohl J. Hey, StBJb 2007/2008, 17 (40). 306 Vgl. BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (300 f. u. 303); zustimmend aber U. Kischel in Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (192). Vgl. demgegenüber die klare Grenzziehung bzgl. zulässiger Verallgemeinerung in BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (358); s. ferner die Nachweise in Fn. 289. 307 Siehe dazu auch P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), 9 (22); StuW 1984, 297 (299); K. Tipke in FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 865 (879). Daran krankt etwa der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende nach § 24b EStG, wenn man ihn – zutreffend – als nicht mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip konforme Steuervergünstigung einstuft; die Charakterisierung als maßstabsabweichende Vergünstigung kann darum – entgegen der unbefriedigenden Kammerentscheidung BVerfG (K) v. 22.5.2009 – 2 BvR 310/07, HFR 2009, 1027 (1028 f.) – nicht offenbleiben. 308 Vgl. J. Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, 1987, S. 34 f.; s. dort auch zur u. U. abweichenden Würdigung von am Verdienstprinzip orientierten bzw. wirtschaftslenkenden Steuervergünstigungen.

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regelmäßig ein Verbot der Verrechnung von im Rahmen der privilegierten Einkunftsart angefallenen Verlusten mit anderen, regulär besteuerten positiven Einkünften nach sich309. Hier stellt sich die Frage, ob das mit der Steuerbegünstigung geschaffene „Subsystem“ den maßgeblichen Bezugspunkt für die Folgerichtigkeitsbetrachtung bildet. In den Beispielsfällen ließe sich dann kein Gleichheitssatzverstoß feststellen. Zu anderen Ergebnissen310 gelangt man jedoch, wenn man für jedes einzelne Element eines nicht vom Leistungsfähigkeitsprinzip – oder vom sachgerechten Lastenzuteilungsmaßstab einer Lenkungsteuer – getragenen Regelungskomplexes verlangt, dass es sich als verhältnismäßige und folgerichtig ausgestaltete Durchbrechung dieses den originären Maßstab der gleichheitsrechtlichen Prüfung bildenden Leitprinzips rechtfertigen lässt311. Zutreffend dürfte allein dieser Ansatz sein. Auch wenn eine Steuervergünstigung von legitimen Gründen getragen wird, beinhaltet sie keine eigenständige Steuerwürdigungsentscheidung, welche das betreffende Sonderregime vom bereichsspezifisch umfassend geltenden Sachgerechtigkeitsmaßstab zu isolieren und einen alternativen Zuteilungsmaßstab zu begründen vermöchte. Auch mit Blick auf Folgeregelungen zur Steuervergünstigung gilt stattdessen, dass vom Fundamentalprinzip sachgerechter Lastenzuteilung nur soweit abgewichen werden darf, als dies zur Erreichung des Begünstigungszieles erforderlich und angemessen ist, etwa um überschießende Begünstigungswirkungen zu vermeiden.

V. Ansätze eines europarechtlichen Folgerichtigkeitsgebotes Das Bemühen um dogmatische Durchdringung des Folgerichtigkeitsgebotes darf sich im Hinblick auf die immer weiter fortschreitende europäische Integration und die EU-rechtliche Harmonisierung von Rechtsmaterien – auch im Bereich des Steuerrechts – nicht mehr auf die gleichheitsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes beschränken. Schon früh hat der Europäische Gerichtshof seinen Standpunkt dargelegt, wonach sekundäres Unionsrecht und namentlich Verordnungen sowie Richtlinien nicht an nationalen Grundrechtsbestimmungen gemessen werden können312. In seiner „Solange II“-Entscheidung ist das BVerfG diesem Ansatz unter dem Vorbehalt eines dem deutschen Grundgesetz „im Wesentlichen“ gleichzuachtenden europarechtlichen Grundrechtsschutzes

__________ 309 Dabei lässt sich insb. im Falle des § 3 Nr. 40 lit. d EStG durchaus darüber streiten, ob es sich im Ausgangspunkt überhaupt um eine maßstabsdurchbrechende Steuervergünstigung handelt; näher dazu J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2004, S. 119 ff. m. w. N.; G. Roderburg, Die Steuerfreiheit der Anteilsveräußerungsgewinne im neuen Körperschaftsteuersystem, 2005, S. 129 ff. 310 Siehe dazu näher J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2004, S. 423 ff., zu § 3c Abs. 2 EStG; StuW 2007, 221 (234 ff.), zu § 20 Abs. 6 S. 2 EStG. 311 So wohl D. Birk in Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2010, S. 17 (37); weniger klar aber ders. in FS Schaumburg, 2009, S. 19 f. 312 Grundlegend EuGH v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125, Rz. 3.

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gefolgt313. Vor kurzem hat es klargestellt, dass dies auch für innerstaatliche Regelungen gilt, soweit diese lediglich zwingende Vorgaben des EU-Richtlinienrechts umsetzen314. Diese Selbstbeschränkung hat das BVerfG mittlerweile auch im Bereich des harmonisierten Steuerrechts erkennen lassen315. Damit einhergehen müsste dann aber eine Effektuierung des Folgerichtigkeitsgebotes gegenüber dem Unionsgesetzgeber im Rahmen des unionsrechtlich fundierten316 Gleichheitssatzes317. Die Judikatur der Europäischen Gerichte steckt diesbezüglich noch in den Kinderschuhen. Wertmaßstäbliche Folgerichtigkeit wird nur gelegentlich – etwa im Besoldungsrecht – eingefordert318. Speziell im harmonisierten Mehrwertsteuerrecht wird der Leitgedanke einer gleichmäßigen Belastung (nur) des Endverbrauchers entsprechend der Höhe seiner Konsumaufwendungen nur vereinzelt zur Auslegung der MwSt-Richtlinien herangezogen319, von einer quasiverfassungsrechtlichen Kontrolle des Unionsgesetzgebers ganz zu schweigen320. Noch seltener gelangt das Gebot folgerichtiger Abwägung zur Anwendung; und selbst wo in der Sache entsprechende Erwägungen angestellt werden, wird ihre Verankerung in einem gleichheitsrechtlichen Gebot der Wertungskonsistenz nicht reflektiert321. Gerade von Vorlageverfahren deutscher Gerichte könnten hier wertvolle Impulse für die dogmatische Fortentwicklung des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes ausgehen.

__________ 313 Vgl. BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (387); bestätigt durch das sog. „Maastricht-Urteil“ des BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 u. a., BVerfGE 89, 155 (174 f.) sowie durch das sog. „Lissabon-Urteil“ des BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE 123, 267 (335). 314 Vgl. BVerfG v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95 ff.); zustimmend W. Holz, NVwZ 2007, 1153 ff. Eingehend zur Problematik und zum Streitstand vor dieser Entscheidung J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 738 ff.; T. Kingreen in Calließ/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 51 GRCh Rz. 9 ff. m. w. N. Siehe nunmehr auch BVerfG v. 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 u. a., NJW 2010, 833 (835); die Entscheidung modifiziert aber die prozessualen Konsequenzen des Grundsatzbeschlusses aus 2007; vgl. dazu D. Westphal, EuZW 2010, 494 (497 ff.). 315 Vgl. BVerfG (K) v. 6.12.2007 – 1 BvR 2129/07, DVBl. 2008, 105 (106); vgl. auch Österreichischer VwGH v. 24.9.2007, Zl. EU 2007/2008-1, IStR 2007, 781 (784). 316 Grundlegend EuGH v. 19.10.1977, verb. Rs. 117/76 u. 16/77 – Ruckdeschel u. a., Slg. 1977, 1753, Rz. 7. Seither st. Rspr., vgl. etwa EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-280/93 – Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973, Rz. 67. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.11.2009 ist der primärrechtliche, quasi-konstitutionelle Rang des allgemeinen Gleichheitssatzes auch unmittelbar aus Art. 20 GRCh abzuleiten, vgl. Art. 6 (1) EUV. 317 So auch K. Tipke in FS Reiß, 2009, S. 9 (14 f.). 318 Vgl. EuGH v. 20.10.1994 – Rs. C-76/93 P – Scaramuzza, Slg. 1994, I-5173, Rz. 22 ff.; v. 19.10.2006 – Rs. T-311/04 – Buendía Sierra, Slg. 2006, II-4137, Rz. 185. 319 Vgl. etwa EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-317/94 – Elida Gibbs, Slg. 1996, I-5339, Rz. 19 u. 22. 320 Siehe dazu näher J. Englisch in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, S. 39 (56 ff.). 321 Exemplarisch EuGH v. 8.4.1992 – Rs. C-256/90 – Mignini, Slg. 1992, I-2651, Rz. 15 u. 32, zu unterschiedlich gravierenden, jeweils mittelbar in die Berufsausübungsfreiheit eingreifenden Mitwirkungspflichten trotz je vergleichbarer Interessenlage.

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Die zweite, bewertungsbezogene Ausprägung des Folgerichtigkeitsgebots verdient im Übrigen auch im Bereich der Einwirkung des primären Europarechts auf nicht harmonisierte Rechtsmaterien Beachtung. Vom nationalen Gesetzgeber ist nämlich zu verlangen, dass Abweichungen von grundsätzlichen Gleichbehandlungsvorgaben der EU-Verträge und namentlich von den Grundfreiheiten des Art. 26 Abs. 2 AEUV um der Verfolgung legitimer bzw. zwingender Gemeinwohlziele willen nicht nur verhältnismäßig, sondern auch folgerichtig ausgestaltet sind. Nicht anders als im Kontext nationaler Grundrechtsgewährleistungen322 ist auch insoweit Wertungskonsistenz in der Abwägung zu fordern323; dabei könnte zur Begründung auf Basis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unmittelbar auf den unionsrechtlichen Gleichheitssatz rekurriert werden, weil nach dessen Auffassung bei der Rechtfertigung von Grundfreiheitsverstößen die unionsrechtlichen Grundrechte als Schranken-Schranken zu beachten sind324. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beanstandet in der Tat seit längerem Wertungswidersprüche bei der Umsetzung grundfreiheitssensibler Regelungsanliegen und folgert daraus deren mangelnde Eignung als „sachgerechter“ Rechtfertigungsgrund325. In der jüngsten Rechtsprechung hat sich dafür die Formulierung herausgebildet, eine nationale Regelung sei „nur dann geeignet …, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.“326 Diese Anforderungen gehen über das bloße Gebot der Zweckeignung im traditionellen Sinne hinaus327, sie umschreiben vielmehr in erster Linie Anforderungen konsistenter Gewichtung des Regelungsziels in der Abwägung mit widerstreitenden Belangen.

VI. Zusammenfassung Gleichheitsrechtliche Folgerichtigkeit ist ein allgemeingültiges Verfassungsgebot. Weder bildet das Steuerrecht insoweit eine Bereichsausnahme, noch gilt hierfür eine solche. Sowohl im Steuerrecht wie auch auf sonstigen Regelungsgebieten, deren gesetzliche Ausgestaltung aus rechtsethischer Warte primär Verteilungsgerechtigkeit sicherzustellen hat, ist die prinzipielle und in diesem

__________ 322 Siehe dazu oben bei IV.1. 323 Eingehend J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 357 ff. 324 Grundlegend EuGH v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925, Rz. 43 f.; seither st. Rspr., vgl. auch A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S. 90 ff. m. w. N. 325 Exemplarisch EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-500/06 – Corporación Dermoestética, Slg. 2008, I-5785, Rz. 39 f. 326 Vgl. EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-169/07 – Hartlauer, EuZW 2009, 298, Rz. 55; v. 8.9.2009 – Rs. C-42/07 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional, EWS 2009, 425, Rz. 61; v. 6.10.2009 – Rs. C-153/08 – Kommission/Spanien, ZfWG 2009, 336, Rz. 38; EuGH v. 17.11.2009 – Rs. C-169/08 – Regione Sardegna, EWS 2009, 522, Rz. 42. 327 Sie sollen selbiges nach Auffassung des EuGH allerdings wohl mit einschließen, vgl. EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, EuZW 2010, 137, Rz. 53.

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Sinne folgerichtig durchgehaltene Orientierung insbesondere des Gesetzgebers an bereichsspezifisch sachgerechten Zuteilungsmaßstäben bzw. Leitprinzipien zu fordern. Deren Festlegung und Konkretisierung wird zwar häufig im Rahmen der je einschlägigen Verfassungsdirektiven durch politische Wertvorstellungen und Opportunitätserwägungen des Gesetzgebers beeinflusst. Die entsprechenden Wertungsmaßstäbe müssen dann jedoch an sich durchgängig und konsequent verwirklicht werden; speziell im Steuerrecht ist zudem das Fundamentalprinzip einer Lastenzuteilung entsprechend der individuellen Leistungsfähigkeit bei den Fiskalzwecksteuern der Disposition des Gesetzgebers entzogen. Abweichungen von diesem Sachgerechtigkeitsmaßstab und konkretisierenden Unterprinzipien bedürfen qualitativ einer Rechtfertigung anhand legitimer Gemeinwohlgründe, die sich auch im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes punktuell gegen den hochrangigen Belang der Steuergerechtigkeit durchzusetzen vermögen. In quantitativer Hinsicht dürfen sie zudem letzteren nicht grundsätzlich in Frage stellen, müssen also die Ausnahme bleiben. Darüber hinaus müssen derartige Abweichungen auch ihrerseits folgerichtig ausgestaltet sein; gleichheitsrechtlich gefordert ist somit auch Konsistenz in der Gewichtung der sie tragenden Prinzipien oder Ziele. Der Richter am BVerfG Udo di Fabio hat kürzlich festgestellt, der Wettbewerb der Staaten untereinander lasse Forderungen nach Konsistenz und Gerechtigkeit im Innern beinahe als Nebensache erscheinen328. Dieser provozierenden These ist entgegenzuhalten, dass sich die Rechtsordnung als eine materielle Gerechtigkeitsordnung auch gegenüber den von ihm beschriebenen internationalen Entwicklungen behaupten und deren Bewältigung in geordnete Bahnen lenken muss, sollen nicht die gesellschaftlichen und ethischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates erodieren. Gerade auch vor diesem Hintergrund bedarf es einer Effektuierung des Folgerichtigkeitsgebotes vor allem im Bereich des im Wettbewerb um Ressourcen, Kapital und Köpfe besonders bedeutsamen Steuerrechts, um den Gesetzgeber zu einer möglichst gerechtigkeitsverträglichen Konzeption des Steuerrechts anzuhalten und Abweichungen auf ein erforderliches und gemeinwohlverträgliches Minimum zu begrenzen. Dass dies machbar ist, hat nicht zuletzt Joachim Lang durch zahlreiche Reformvorschläge demonstriert.

__________ 328 Vgl. U. di Fabio, JZ 2007, 749 (750).

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„Rückwirkende Klarstellungen“ des Steuergesetzgebers als Verfassungsproblem Inhaltsübersicht I. Einführung II. Verfassungsrechtliche Maßstäbe 1. Rechtsstaatsprinzip und Grundrechte 2. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) a) Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips für die rückwirkende Gesetzgebung b) Das grundsätzliche Verbot echter Rückwirkung c) Bedingungen des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes III. Die Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf „klarstellende“ Gesetze 1. Verfassungswidrigkeit der bisherigen Rechtslage?

a) Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG b) Fehlerhaftigkeit „unterhalb“ der Verfassungswidrigkeit 2. Unklare oder verworrene Rechtslage 3. Vorhersehbarkeit der Gesetzesänderung 4. Wiedereinsetzung einer früheren Rechtsprechung IV. Rechtfertigungsgründe des gemeinen Wohls 1. Einführung 2. Ankündigungseffekt 3. Herstellung von Steuergerechtigkeit 4. Finanzbedarf des Staates V. Schluss

I. Einführung Wer sich als Steuerbürger mit der Finanzverwaltung über die richtige Interpretation der Steuernormen streitet, ist in dreifacher Hinsicht in der unterlegenen Rolle: – Das Verfahren beginnt mit einem belastenden Steuerbescheid auf der Grundlage der Normauslegung der Finanzverwaltung, der den Steuerpflichtigen nicht nur vorläufig verpflichtet, den behaupteten Steueranspruch zu erfüllen, sondern ihn auch mit der Last der fristgerechten Einlegung und Begründung von Rechtsbehelfen belegt. – Der Steuerpflichtige ist auf diesem zweiten Schritt den Fährnissen des Instanzenweges durch die Finanzgerichtsbarkeit ausgesetzt, der nicht nur Mühen, Kosten und Zinslasten einschließt, sondern oft erst nach einer erheblichen Verfahrensdauer zu einem Urteil führt. – Hat der Bürger schließlich obsiegt, droht ihm die ultimative Waffe der Finanzverwaltung: Sie vermag den Gesetzgeber nicht nur zu einer Änderung des zugrunde liegenden Steuergesetzes zu veranlassen, sondern kann auch anstreben, ihre Rechtsauffassung mit Wirkung für frühere Veranlagungszeit221

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räume oder (bei nichtperiodischen Steuern) abgeschlossene Sachverhalte festzuschreiben. Am Ende stehen für den Steuerpflichtigen ein mit Mühen gewonnener Finanzprozess und ein vollständiges Unterliegen in der Sache. Gewährt das Verfassungsrecht Schutz gegen dieses Vorgehen? Joachim Lang, dessen steuerrechtlichen Arbeiten ein hoher rechtsstaatlicher Anspruch zugrunde liegt1, wird diesem Begehren gewiss mit Sympathie begegnen. Ob und in welchem Umfang das Grundgesetz und die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sowie des Bundesfinanzhofs (BFH) dieses Postulat ebenfalls tragen, ist Gegenstand dieser Abhandlung. Dabei müssen zwei Grundkonstellationen von vornherein unterschieden werden: – Häufig findet sich der Fall, dass der Steuerbürger seinen Rechtsstreit mit der Finanzverwaltung vor dem Hintergrund einer herrschenden Rechtsprechung führt, die dem Steuerpflichtigen ungünstig ist. Hier gilt es zunächst, die Gerichte von der „richtigen“ Interpretation des einfachen Gesetzesrechts zu überzeugen. Ändert der BFH unter dem Eindruck der Argumente des Steuerpflichtigen seine Position, so versucht die Finanzverwaltung häufig, die Grundaussagen der früheren Rechtsprechung für die Vergangenheit sowie die Zukunft zu verankern. Bekannte Beispiele aus der jüngeren Rechtsprechung betreffen die Anerkennung der Mehrmütterorganschaft2 sowie die Bilanzierung von Jubiläumsrückstellungen3, zu denen das BVerfG zum Nachteil der Steuerpflichtigen judiziert hat. – Ebenso häufig betrifft der Rechtsstreit mit der Finanzverwaltung eine Norm, zu der sich in der Rechtsprechung der Gerichte (insbesondere des BFH) noch keine Aussagen finden. Obsiegt der Steuerpflichtige, so wird die Finanzverwaltung nicht selten versuchen, ihre eigene Rechtsauffassung gegen den erklärten Willen der Judikatur mit rückwirkender Kraft in das Gesetz zu schreiben. Häufig geschieht dies bereits, bevor eine Rechtsfrage überhaupt den Instanzenweg durchlaufen hat. Beispielhaft ist eine jüngere Vorlage des FG Münster zu Teilwertabschreibungen auf Fondsanteile, in denen das FG Münster eine rückwirkende „Klarstellung“ des Bundestages für grundgesetzwidrig hält4. Eine weitere Fallkonstellation bot jüngst die Einfügung von § 15 Abs. 7 S. 2 AStG, welche die Finanzverwaltung unter zweifelhafter Interpretation des Fachschrifttums als bloße „Klarstellung“ zu camouflieren sucht5. In beiden Konstellationen findet sich in der Gesetzesbegründung der neuen Vorschriften regelmäßig die Aussage, es handele sich lediglich um eine „Klar-

__________

1 Zum Thema „Rückwirkung“ s. nur Lang, StuW 1985, 10 ff., 28 ff.; StuW 1992, 14 ff.; WPg 1998, 163 ff.; ders. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 170 ff. 2 BVerfG v. 15.10.2008 – 1 BvR 1138/06, HFR 2009, 187 ff. 3 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00 BStBl. II 2009, 685 (691 f.) = FR 2009, 873 m. Anm. Buciek. 4 FG Münster v. 22.2.2008 – 9 K 5096/07 K, EFG 2008, 983 ff. 5 Hey, IStR 2009, 181 ff. (188 ff.).

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stellung“ der wahren Rechtslage. Damit wird einerseits der Tatbestand eines tatsächlichen Eingriffs in die frühere Rechtslage verschleiert, andererseits eine Rechtfertigung für diesen Eingriff versucht. Ob dies verfassungsrechtlichen Maßstäben standhält, soll im Folgenden erörtert werden.

II. Verfassungsrechtliche Maßstäbe 1. Rechtsstaatsprinzip und Grundrechte Als wesentliche verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für die rückwirkende Anwendung solcher „klarstellender“ Rechtsnormen kommen in objektiv-rechtlicher Sicht das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) und in subjektiv-rechtlicher Sicht der Schutz der Grundrechte (Art. 1–19 GG) in Betracht. Dabei genießt bei Fällen „echter Rückwirkung“ („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“) das Rechtsstaatsprinzip Vorrang, während in Fällen „unechter Rückwirkung“ („tatbestandlicher Rückanknüpfung“) in erster Linie die Grundrechte zu beachten sind6. In den hier betrachteten Fällen (vor allem bei Gesetzesänderungen nach Abschluss von Gerichtsverfahren) sind typischerweise Veranlagungszeitraum oder Sachverhalt (seit langer Zeit) abgeschlossen. Daher kommt Art. 20 Abs. 3 GG vorrangig in den Blick. 2. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) a) Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips für die rückwirkende Gesetzgebung In der Rechtsprechung des BVerfG und des BFH sowie im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ist anerkannt, dass das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG eine wesentliche Grundlage gesetzgeberischer Kontinuitätsgewähr bildet. Das Verbot rückwirkender Gesetzgebung bildet ein zentrales Element des Gesetzesvorbehalts und begründet damit einen besonderen Rechtfertigungszwang für nachträgliche Eingriffe des Gesetzgebers. Die Gerichte haben dies wie folgt ausgeführt: „Vor dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes bedarf es einer besonderen Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände im nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten.“7

__________ 6 BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (242 ff.); v. 23.11.1999 – 1 BvF 1/94 BVerfGE 101, 239 (262 f.); zuletzt BVerfG v. 10.6.2009 – 1 BvR 571/07, HFR 2009, 921 (922 ff.). 7 S. BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (78) – Schiffsbeteiligungen = FR 1998, 377 m. Anm. Stapperfend; v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93, BVerfGE 105, 17 (36 f.) – Sozialpfandbriefe = FR 2002, 1011 m. Anm. Kanzler; BFH v. 16.12. 2003 – IX R 46/02, BStBl. II 2004, 284 ff. – Spekulationsfrist = FR 2004, 351 m. Anm. Weber-Grellet.

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Das Schrifttum stimmt diesem Grundansatz ganz überwiegend zu8. b) Das grundsätzliche Verbot echter Rückwirkung In der Rechtsprechung des BVerfG zum gesetzgeberischen Vertrauensschutz hat sich bereits früh die Differenzierung zwischen „echter“ und „unechter“ Rückwirkung herausgebildet. Hierzu nahm das BVerfG von vornherein den Standpunkt ein, dass „echte“ Rückwirkung im Grundsatz unzulässig, „unechte“ Rückwirkung hingegen im Ausgangspunkt nicht verboten sei. Dabei sei entscheidend, ob sich die (Steuer-)Gesetzgebung auf einen bereits „abgeschlossenen Tatbestand“ beziehe9. Ein solcher „abgeschlossener Tatbestand“ sei bei der Veranlagung laufender Steuern (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer etc.) erst, aber auch immer dann anzunehmen, wenn der Veranlagungszeitraum abgeschlossen und damit die Steuer entstanden sei10. Der Eingriff in einen solchen abgeschlossenen Veranlagungszeitraum muss vom Bürger im Grundsatz nicht hingenommen werden. Er kann sich darauf verlassen, dass die Steuerlast rückwirkend nicht angehoben wird. Dabei macht es keinen Unterschied, ob belastende Tatbestände rückwirkend eingeführt oder steuerliche Freiräume rückwirkend aufgehoben werden11. Schließlich kommt es für die Unzulässigkeit einer „echten Rückwirkung“ auch nicht darauf an, ob der Steuerpflichtige in besonderer Weise „disponiert“, insbesondere Vermögensverfügungen getroffen hat12. Mit dem Ablauf eines Veranlagungszeitraums steht für den Bürger fest, welches „konsumfähige Einkommen“ ihm nach Abzug der Steuerlast zugeflossen ist. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG muss daher in den hier behandelten Konstellationen eine Beeinträchtigung der rechtsstaatlich gebotenen Kontinuitätsgewähr i. S. einer „echten Rückwirkung“ festgestellt werden, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als unzulässig zu qualifizieren ist13.

__________ 8 Aus dem neueren Schrifttum s. Birk, DStR 2009, 877 (879); Drüen, StuW 2006, 358 ff.; Hey, NJW 2007, 408 ff.; Jachmann, ThürVBl 1999, 269 (274); dies., in FS Raupach, 2006, S. 27 ff.; P. Kirchhof, StuW 2000, 221 (224); F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (196 f.); Lehner, in FS Raupach, 2006, S. 67 ff.; Mellinghoff in Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004), 25 (30); DStR 2003, Beihefter 3, 13; Spindler in Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004), 69 (72 f.); DStR 2001, 725 (726). 9 BVerfG v. 13.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (271 ff.) – Erhöhung KSt-Satz; v. 10.3.1971 – 2 BvL 3/68, BVerfGE 30, 272 (284 ff.) – DBA Deutschland/Schweiz; v. 23.3.1971 – 2 BvL 17/69, BVerfGE 30, 392 (401 f.) – Berlin-Präferenzen; Papier, Stbg. 1999, 49 (56 f.). 10 BVerfG v. 13.12.1961, a. a. O., (Fn. 9), 270; v. 13.12.1961 – 2 BvR 1/60, BVerfGE 13, 274 (277 f.) – KSt-Satz; v. 13.12.1961 – 2 BvR 2/60, BVerfGE 13, 279 (282 ff.) – GewStSatz; Papier, a. a. O., (Fn. 9), 56 f.; Jachmann, a. a. O., (Fn. 8), 29. 11 BVerfG v. 10.3.1971, a. a. O., (Fn. 9), 285. 12 FG Köln v. 23.1.2008 – 10 K 6227/04, EFG 2009, 872 ff. 13 BVerfG v. 15.10.1996 – 1 BvL 44/92, 1 BvL 48/92, BVerfGE 95, 64 (86); zuletzt BVerfG v. 10.6.2009, a. a. O., (Fn. 6); aus der Rechtsprechung der Finanzgerichte s. zuletzt: BFH v. 16.12.2008 – I R 96/05, BFH/NV 2009, 744 ff.; FG Köln v. 23.1.2008 – 10 K 6227/04, EFG 2008, 872 ff.

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„Rückwirkende Klarstellungen“ des Steuergesetzgebers als Verfassungsproblem

c) Bedingungen des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes Den Ausgangspunkt des rechtsstaatlich gebotenen Bestandsschutzes für den Steuerpflichtigen bildet der Grundsatz, dass der Steuerbürger auf den Bestand der Normenlage, wie sie bei Vollzug und Abschluss des Steuertatbestandes gegolten hat, vertrauen darf. Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung jedoch mehrere Fallgruppen herausgearbeitet, in denen sich das Vertrauen auf den Bestand einer bestimmten gesetzlichen Situation von vornherein nicht als schützenswert erweist14. Dazu gehören die Fälle, in denen – die bisherige Vorschrift verfassungswidrig war; – die Rechtslage unklar und verworren war; – der Steuerpflichtige mit der rückwirkend angeordneten Regelung rechnen musste; – die rückwirkende Neuregelung nur Bagatellprobleme betrifft.

III. Die Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf „klarstellende“ Gesetze 1. Verfassungswidrigkeit der bisherigen Rechtslage? a) Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BVerfG und des BFH, dass der Gesetzgeber in der Lage ist, verfassungswidrige Gesetze nachträglich durch verfassungsmäßige Normen zu ersetzen. In diesen Fällen ist ihm auch eine „echte Rückwirkung“ zum Nachteil des Bürgers erlaubt15. Dabei ist zu beachten, dass an den Verfassungsverstoß hohe Anforderungen gestellt werden müssen. Es kann jedenfalls nicht ausreichen, dass der Gesetzgeber in einem ersten Schritt ein nachbesserungsbedürftiges Gesetz produziert und diese (dem Bürger im Ausgangspunkt nachteilige) Situation anschließend für Maßnahmen mit „echt rückwirkendem“ Charakter heranzieht. Als Grundgesetznorm, gegen die eine bestimmte Auslegung des Gesetzes verstoßen könnte, kommt dabei häufig Art. 3 Abs. 1 GG in den Blick16. Dieser gebietet – so die neuere Rechtsprechung des BVerfG – insbesondere die „Folgerichtigkeit“ der Gesetzgebung. Diese ist verletzt, wenn der Gesetzgeber es ohne sachlichen Grund versäumt, die selbst gewählten steuerpolitischen Entscheidungen seiner Gesetzgebung konsequent zu verwirklichen. Auf der Grundlage des Prinzips der „Folgerichtigkeit“ beruht z. B. die Rechtsprechung des BVerfG zum Konsequenzgebot bei der Besteuerung von Alterseinkünften oder der An-

__________

14 BVerfG v. 13.12.1961, a. a. O., (Fn. 9), 272; v. 14.5.1986, a. a. O., (Fn. 6), 258 ff.; v. 25.5.1993 – 1 BvR 1509/91, 1 BvR 1648/91, BVerfGE 88, 384 (404) – zur Neuregelung von Rechtsverhältnissen in der ehemaligen DDR; zusammenfassend Drüen, a. a. O., (Fn. 8), 360 ff. 15 Zuletzt BFH v. 20.10.2004 – II R 74/00, FR 2005, 449 m. Anm. Viskorf – Rückwirkende Anwendung des ErbStG 1997, Rz. 23 m. w. N. 16 Zum Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG als Rechtfertigung einer rückwirkenden Gesetzgebung s. etwa BVerfG v. 14.5.1986, a. a. O., (Fn. 6), 260.

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erkennung von Verlustvorträgen17. Auch die ungerechtfertigte Freistellung von Einnahmen von der Einkommensbesteuerung kann sich als Verstoß gegen das Folgerichtigkeitsgebot darstellen, wie das BVerfG am Beispiel der „Zulage Ost“ entschieden hat18. In diesen Fällen kommt im Grundsatz auch eine rückwirkende Korrektur durch den Steuergesetzgeber in den Blick19. Allerdings kommt das ursprünglich erlassene Gesetz als Vertrauensgrundlage nur dann nicht in Betracht, wenn die Verfassungswidrigkeit entweder bereits vom BVerfG ausgesprochen oder für die Beteiligten „von Anfang an offensichtlich“ ist20. Andernfalls könnte der Steuergesetzgeber seinen eigenen Verstoß gegen das Grundgesetz (nämlich gegen die Grundrechte) mit einem zweiten Verstoß (nämlich gegen das Rechtsstaatsprinzip) heilen und damit letztlich dem Bürger die Last mangelhafter Steuergesetzgebung zuweisen21. Dies muss vor allem dann gelten, wenn sich die Verfassungswidrigkeit einer Gesetzeslage erst im Rahmen streitiger Gerichtsverfahren herausstellt – etwa weil die Lückenhaftigkeit des Gesetzes erst in diesem Rahmen sichtbar wird. Der Bürger darf im Grundsatz darauf vertrauen, dass das Gesetz ihn so betrifft, wie es gefasst ist, und dass der Gesetzgeber die Vereinbarkeit dieser Gesetzeslage mit den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen sachgerecht geprüft und bejaht hat. b) Fehlerhaftigkeit „unterhalb“ der Verfassungswidrigkeit Im Schrifttum wird verstärkt die Frage diskutiert, in welchem Umfang das Ziel der Beseitigung gesetzgeberischer Fehler „unterhalb“ der Schwelle der Verfassungswidrigkeit den Gesetzgeber zu rückwirkender Gesetzgebung berechtigt. Hier werden Fälle „noch verfassungsmäßiger Rechtslagen“ oder bloße „Systemwidrigkeiten“, schließlich auch „redaktionelle Fehler“ genannt22. In diese Richtung weist auch ein neueres Urteil des BFH (zu § 50c Abs. 11 EStG)23, in dem der Gedanke der Abwehr von Missbräuchen als Rechtfertigung für eine (möglicherweise „echte“) Rückwirkung im Steuerrecht herangezogen wird. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Fälle nicht von den Schutzwirkungen des Rechtsstaatsprinzips ausgenommen sind. Vielmehr sind sie in ers-

__________ 17 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99 BVerfGE 105, 73 ff. = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer; v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91 BVerfGE 99, 88 ff. = FR 1998, 1028 m. Anm. Luttermann. 18 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95 BVerfGE 99, 280 (298) = FR 1999, 254. 19 Hey in Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004), 91 (94 f.) m. w. N. 20 Kirchhof, a. a. O., (Fn. 8), 228; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 104 f.; s. beispielhaft: BVerfG v. 23.6.1993 – 1 BvR 133/89, BVerfGE 89, 48 (67). 21 Siehe dazu die Grundsatzkritik bei Schön in Hüttemann, (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, DStJG 33 (2010), 29 (34 ff.). 22 Hey, a. a. O., (Fn. 19), 95 ff. 23 BFH v. 12.11.2008 – I R 77/07 BStBl. II 2009, 831 (834 ff.) = FR 2009, 764 m. Anm. Kempermann.

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ter Linie geeignet, den Gesetzgeber zu zukunftsorientierter Neuregelung der Gesetzeslage zu veranlassen24. Daher wird man für diese „problematischen“ Gesetze nicht von vornherein den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz aufheben können, vielmehr wird allenfalls zu prüfen sein, ob das Regelungsanliegen des Gesetzgebers sich als vorrangiges „Gemeinwohlziel“ einordnen lässt25. Dafür kann es nicht ausreichen, dass die Finanzverwaltung sich im korrekten Verständnis einer bestimmten Gesetzesvorschrift geirrt hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Gerichte bei ihrer Interpretation der Gesetzeslage in erheblichem Umfang systematischen und teleologischen Aspekten Raum geben können und daher die von den Gerichten gefundene Auslegung im Zweifel auch den „Gerechtigkeitsgedanken“ des jeweiligen Normumfeldes entspricht. 2. Unklare oder verworrene Rechtslage Ein schutzwürdiges Vertrauen des Bürgers ist weiterhin nicht gegeben, wenn die bisherige Rechtslage als „unklar und verworren“ angesehen wird und vom Gesetzgeber im Wege rückwirkender Gesetzgebung „handhabbar“ gemacht werden muss. In diesen Fällen ist aus der Sicht des Steuerpflichtigen von vornherein keine schutzwürdige Vertrauensgrundlage erkennbar. Dabei ist zu beachten, dass die ursprünglich vom BVerfG angesprochenen Fälle, in denen die „unklare oder verworrene“ Rechtslage zur Legitimation von rückwirkender Gesetzgebung herangezogen wurde, Massenfälle der Nachkriegszeit waren, in denen kurzfristig für eine Vielzahl von Situationen Rechtsklarheit und verlässliche Rahmenbedingungen für die Betroffenen geschaffen werden mussten. Von einer solchen dringenden Notwendigkeit zur rückwirkenden Gesetzgebung kann bei den meisten heute anstehenden Konstellationen allerdings keine Rede sein. Hier weist nun die Steuergesetzgebung häufig die Problematik auf, dass der Gesetzgeber bei seiner Tätigkeit eine bestimmte Konstellation nicht erkannt hat, später allerdings meint, diese mit Hilfe einer „redaktionellen Klarstellung“ bereinigen zu können. Es scheint in diesen Fällen nahe zu liegen, aus der (möglicherweise nur scheinbaren) Reparaturbedürftigkeit des Gesetzes sowie aus den Auslegungsdivergenzen, die sich im Fachgespräch zwischen der Finanzverwaltung und den betroffenen Steuerpflichtigen (und ihren Verbänden) zeigen, auf den Tatbestand einer „unklaren und verworrenen“ Rechtslage zu schließen. Aus der Sicht der Finanzverwaltung ist die Versuchung groß, mit Hilfe einer „rückwirkenden Klarstellung“ die eigene Position durchzusetzen. Häufig wartet man noch nicht einmal eine Klärung (und damit auch argumentative Durchdringung) der Sachfragen durch die Gerichte ab. Der Steuerpflichtige, der sich von Anfang an mit einer ihm nachteiligen Interpretation der Gesetze durch die Finanzverwaltung konfrontiert gesehen hat, muss sich dann entgegenhalten lassen, dass er diesen Meinungsstreit und damit die „Unklarheit“ der Rechtslage ja gekannt habe.

__________ 24 So wohl Mellinghoff, a. a. O., (Fn. 8), 50 ff. 25 S. bereits BVerfG v. 13.12.1961, a. a. O., (Fn. 9), 273.

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Die Anmaßung der Finanzverwaltung, sich selber die Interpretationshoheit über die vom Parlament beschlossenen Steuergesetze zuzubilligen, greift zunächst in die ausgewogene Balance zwischen Finanzverwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung ein. Dies gilt besonders dann, wenn die Gerichte bereits in der Sache zugunsten des Steuerpflichtigen entschieden haben und dennoch die Finanzverwaltung darauf beharrt, mit einer (rückwirkenden) Gesetzesänderung die aus ihrer Sicht „richtige“ Auslegung der früheren Gesetzeslage durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund wird die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser „Nichtanwendungsgesetze“ von Vertretern der Finanzgerichtsbarkeit ganz abgelehnt, soweit diese Nichtanwendung mit der Kraft der echten Rückwirkung ausgestattet werden soll26. Selbst wenn man den Rechtfertigungsgrund der „Unklarheit“ mit dem BVerfG anerkennt, ist doch zu beachten, dass nicht jede sachliche Streitfrage um die Interpretation einer Steuernorm als „Unklarheit“ im Sinne dieser Rechtsprechung und damit zugleich als Einschränkung des verfassungsrechtlich garantierten Vertrauensschutzes des Steuerpflichtigen gewertet werden kann27. Vielmehr bleibt es bei dem allgemeinen Grundsatz, dass sich in erster Linie der Gesetzgeber „etwaige Unzulänglichkeiten des Regelungswortlautes anlasten“28 muss. Dies bedeutet in einem ersten Schritt, dass ein eindeutiger Wortlaut, der das ursprünglich verfolgte Regelungsanliegen des Gesetzgebers – oder auch nachträgliche erkannte Problemfälle – eindeutig nicht erfasst, deshalb nicht „unklar oder verworren“, sondern allenfalls verbesserungsfähig ist29. Nicht jede überschießende Normanwendung durch die Finanzverwaltung taugt dazu, eine wirkliche Auslegungsfrage aufzuwerfen. In einem zweiten Schritt ist festzuhalten, dass auch bei fehlender Eindeutigkeit eines steuerlichen Normtextes nach der Verfassungsordnung des Grundgesetzes die Gerichte berufen sind, die Rechtsfolgen des Gesetzes für den jeweiligen Einzelfall zu konturieren. Der Bürger kann in diesem Fall vielleicht nicht mit Selbstverständlichkeit annehmen, Recht zu bekommen, aber er kann darauf vertrauen, dass die Rechtslage unter Berücksichtigung aller sachlichen und methodischen Gesichtspunkte objektiv geklärt wird. Diese „Klärbarkeit“ der Rechtslage reicht aus, um die Notwendigkeit einer rückwirkenden Rechtsänderung auszuschließen30. Andernfalls würde das rechtsstaatliche Grundprinzip, dass „echte“ Rückwirkungen unzulässig sind, in sein Gegenteil verkehrt: nicht der Staat, sondern der Bürger trüge die Nachteile unvollkommener Gesetzgebung. In einer neueren Entscheidung hat der BFH gemeint, dass der Gesetzgeber auch dann zum Nachteil des Steuerpflichtigen eine im Sinne der Finanzverwaltung „klarstellende“ Rückwirkung praktizieren dürfe, wenn in der Zwischenzeit

__________ 26 Spindler, a. a. O., (Fn. 8), 87. 27 Ebenso FG Münster, a. a. O., (Fn. 4), 989. 28 BFH v. 13.11.2002 – I R 9/02 BStBl. II 2003, 489 (491) = FR 2003, 715; s. auch Kyrill Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, S. 129; Mellinghoff, a. a. O., (Fn. 8), 51. 29 Hey, a. a. O., (Fn. 19), 99. 30 S. auch Hey, a. a. O., (Fn. 19), 100 ff.

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der BFH selbst die Rechtslage im Sinne des Steuerpflichtigen geklärt hat31. In diesem Urteil nahm der BFH an, dass die Einbeziehung von „Marktrenditen“ von Wertpapieren in die Besteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen rückwirkend angeordnet werden könne, auch wenn die Gerichte die ursprüngliche Gesetzeslage anders ausgelegt und auf das Fehlen eines eindeutigen gesetzgeberischen Willens hingewiesen hätten. Dem ist nicht zuzustimmen. Es darf nicht in der Hand der Finanzverwaltung liegen, durch die Verbreitung einer dem Steuerpflichtigen nachteiligen Rechtsauffassung von vornherein dessen Rechtsschutz gegen spätere rückwirkende Gesetze zu unterminieren. Gerade dann, wenn der Steuerpflichtige vor dem BFH Recht bekommen hat, sind die Gesetzeslage und ihre Interpretation geklärt und es ist schlicht verfassungsrechtlich nicht geboten, zur erneuten „Klärung“ dieser Rechtslage dem Gesetzgeber die Ermächtigung zur Gesetzgebung mit rückwirkender Kraft zu erteilen. 3. Vorhersehbarkeit der Gesetzesänderung Eine weitere – ebenfalls problematische und umstrittene32 – Einschränkung des Vertrauensschutzes des Steuerpflichtigen wird vom BVerfG dann angenommen, wenn der Steuerpflichtige „nach der rechtlichen Situation“ mit einer bestimmten (Neu-)Regelung „rechnen musste“33. Hierzu wird im Schrifttum außerordentlich streitig die Frage diskutiert, von welchem Zeitpunkt an der Bürger durch Überlegungen und Initiativen vor dem Inkrafttreten des Gesetzes soweit in seinem Vertrauen auf den (Fort-)Bestand einer gesetzlichen Regelung erschüttert ist, dass er sie nicht weiter als Grundlage seines Verhaltens hinnehmen darf, sondern sich auf eine veränderte Rechtslage einstellen muss. Bestehen Auslegungs- und Anwendungsprobleme hinsichtlich einer bestimmten Norm, so wird mit dem öffentlichen (häufig im Fachschrifttum oder auf Fachtagungen ausgetragenen) Diskurs über die richtige Interpretation des Gesetzes regelmäßig auch die Frage nach einer (Notwendigkeit der) Novellierung des Gesetzestextes einhergehen. Vertreter der Finanzministerien erläutern in der Fachöffentlichkeit nicht nur ihre Interpretation des geltenden Steuergesetzes, sondern kündigen in einer solchen Situation häufig auch an, für den Fall nachteiliger Gerichtsentscheidungen dem Gesetzgeber eine solche Normänderung zu empfehlen. Ist damit bereits die verfassungsrechtlich relevante „Vorhersehbarkeit“ der Gesetzesänderung eingeläutet? Ausgangspunkt muss die Erkenntnis sein, dass „solange ein Steuergesetz in Kraft ist, (…) der Steuerpflichtige sich grundsätzlich auf die geltende Rechtslage verlassen können muss“. Erst die offizielle „Verkündung“ nach Art. 82

__________ 31 BFH v. 13.12.2006 – VIII R 79/03 BStBl. II 2007, 562 ff. = FR 2007, 893. 32 Zur Kritik s. Spindler, a. a. O., (Fn. 8), 87. 33 BVerfG v. 13.12.1961, a. a. O., (Fn. 9), 272; v. 25.5.1993, a. a. O., (Fn. 14), 404 ff. – für den Sonderfall der Erneuerung der gesamten Ordnung des Wirtschaftsrechts im Beitrittsgebiet nach der Wiedervereinigung.

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des Grundgesetzes informiert ihn über die neue Rechtslage34. Soweit das Vertrauen bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zerstört werden soll, bedarf es daher zumindest einer öffentlichen Äußerung des Parlaments als des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Dazu hat das BVerfG in seinem Grundsatzurteil vom 14.5.1986 gemeint, dass erst der endgültige Bundestagsbeschluss als wesentliche demokratische Entscheidung ausreicht, um die Verlässlichkeit der bis dahin geltenden Gesetzeslage in Frage zu stellen. Das bloße Bekanntwerden von Gesetzesinitiativen reicht im Ansatz nicht aus, um das Vertrauen in die bisherige Rechtslage entfallen zu lassen35. An diesem Ergebnis ändert sich aber auch dann nichts, wenn man auf das Bekanntwerden der jeweiligen Gesetzesinitiativen der Bundesregierung oder gar von bloßen Referentenentwürfen abstellt. Es ist bereits zweifelhaft, ob es – unter der Herrschaft der Gewaltenteilung des Grundgesetzes – überhaupt zulässig ist, dass Organe der Exekutive (Bundesregierung, Bundesfinanzministerium, Finanzverwaltung) durch die Ankündigung von Initiativen das Vertrauen des Bürgers auf das Parlamentsgesetz erschüttern können36. Denn die Ankündigung einer Neuregelung als solcher begründet noch nicht die Erwartung gerade einer rückwirkenden Veränderung der Rechtslage37. Eine weitergehende Beeinträchtigung des Vertrauens der Steuerpflichtigen lässt sich auch nicht aus Diskussionen der Finanzverwaltung über die sachgerechte Auslegung einer Norm herleiten. Der bloße Umstand, dass eine Vorschrift Schwierigkeiten bei der Interpretation aufwirft und vielleicht sogar innerhalb der Finanzverwaltung darüber ein Konsens nur schwer hergestellt werden kann, darf nicht dazu führen, dass der Bürger kein Vertrauen in die Gültigkeit des Rechts (in der von den Gerichten zu verifizierenden Auslegung) entwickeln kann und jederzeit damit rechnen muss, dass die Verwaltung ihre Auffassung in Gesetzesform gießen wird. 4. Wiedereinsetzung einer früheren Rechtsprechung Eine „echte Rückwirkung“ wird durch das BVerfG allerdings regelmäßig akzeptiert, wenn sich bereits vorher in der Rechtsprechung eine entsprechende einhellige Auffassung gebildet hatte, der BFH diese Rechtsprechung aufgibt und der Gesetzgeber den Text des Gesetzes zur Bestätigung der früher herrschen-

__________ 34 Lang, a. a. O., (Fn. 1), § 4 Rz. 173; ders., a. a. O., (Fn. 1), 171 f.; Mellinghoff, a. a. O., (Fn. 8), 34 f. 35 BVerfG v. 14.5.1986, a. a. O., (Fn. 6), 261 ff.; v. 25.7.1974 – 2 BvF 2/73, 3/7, 3 BVerfGE 37, 363 (398); v. 15.10.1996, a. a. O., (Fn. 13), 87; BFH v. 29.4.2008 – I R 103/01 BStBl. II 2008, 723 (725 ff.) = FR 2008, 1063 m. Anm. Kempermann; Hey, a. a. O., (Fn. 8), 409 ff.; Jachmann, a. a. O., (Fn. 8), 270 (276); Mellinghoff, a. a. O., (Fn. 8), 38; Schulze-Fielitz in Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 GG Rz. 159; kritisch auch gegenüber dieser Vorverlagerung F. Kirchhof, a. a. O., (Fn. 8), 197. 36 Hey, a. a. O., (Fn. 20), 319 ff. 37 Jachmann, a. a. O., (Fn. 8), 276.

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den Lehre abändert oder ergänzt38. In diese Richtung judiziert auch der BFH. Es entsteht der Eindruck, dass in einem solchen Fall eine materielle Änderung der Rechtslage aus der Sicht der Beteiligten gar nicht einzutreten scheint39. Daher wurde in derartigen Fällen für die fehlende Schutzwürdigkeit des Bürgers vorgebracht, dass das Gesetz lediglich eine „bestehende Rechtsüberzeugung kodifiziert“, die bisher schon „einmütig“ Beachtung gefunden habe40. Dem scheint zu korrespondieren, dass der Große Senat des BFH jüngst – am Beispiel der Vererblichkeit von Verlustvorträgen – den Steuerpflichtigen einen „gesetzesgleichen“ Vertrauensschutz gegen rückwirkende Änderungen einer jahrzehntelangen Rechtsprechung zum Nachteil des Bürgers gewährt hat41. Dahinter steht die einheitliche Grundauffassung, dass eine gefestigte Rechtsprechung zum Vorteil wie zum Nachteil des Bürgers dessen „Rechtslage“ zu prägen vermag42. Im Schrifttum ist die Gegenauffassung indessen frühzeitig von gewichtigen Stimmen begründet worden43. Es erscheint aus der Sicht des Rechtsstaats unverhältnismäßig, wenn der Bürger seinen Prozess gegen eine von den Gerichten bisher gebilligte Verwaltungspraxis nur verlieren kann – entweder schon vor dem BFH oder spätestens vor dem Parlament. Andernfalls wäre der Sinn einer finanzgerichtlichen Kontrolle nachteiliger Gesetzesinterpretationen in Frage gestellt. Der Bürger, der mit Erfolg darauf vertraut hat, dass seine rechtlichen Argumente im Instanzenzug Gehör finden und eine klärungsbedürftige Rechtsfrage in seinem Sinne gelöst wird, darf nach den Wertungen des Rechtsstaatsprinzips dann auch darauf vertrauen, dass dieses Ergebnis nicht mit rückwirkender Kraft gesetzlich in Frage gestellt wird. Das bloße Faktum einer früheren entgegenstehenden Verwaltungspraxis – auch wenn diese durch die Rechtsprechung zeitweilig gestützt wurde – darf nicht als solches ausreichen, einem späteren Gesetzgeber plein pouvoir zu gewähren. Erneut muss gelten: der Bürger darf nicht nur auf einen eindeutigen Gesetzeswortlaut vertrauen, sondern auch auf das Ergebnis eines gerichtlichen Verfahrens im Anschluss an einen Streit mit der Finanzverwaltung über die Auslegung einer Norm, die das „geltende Recht“ feststellt. Die Verantwortung für das Gesetz trägt nicht der Bürger, sondern der Staat. Dieser Schutz darf auch nicht nur auf die Person des Steuerpflichtigen konzentriert werden, der ein konkretes Verfahren vor dem BFH erfolgreich abgeschlossen hat44. Auch sämtliche anderen Steuerpflichti-

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38 BVerfG v. 23.1.1990 – 1 BvL 4/87, 1 BvL 5/87, 1 BvL 6/87, 1 BvL 7/87, BVerfGE 81, 228 (239); v. 15.10.2008, a. a. O., (Fn. 2), 187 ff.; v. 12.5.2009, a. a. O., (Fn. 3), 691 f.; skeptisch dazu Lang, a. a. O., (Fn. 1), 19; ders., a. a. O., (Fn. 1), 28 ff. 39 BFH v. 10.7.1986 – IV R 12/81 BStBl. II 1986, 811 ff. = FR 1986, 489; v. 8.6.2000 – IV R 37/99, BStBl. II 2001, 162 ff. = FR 2001, 190; v. 18.2.1982 – IV R 85/79 BFHE 135, 311 (315) = FR 1982, 419; s. zuletzt BFH v. 14.3.2006 – I R 1/04, BStBl. II 2006, 549 ff. = FR 2006, 646 m. Anm. Pezzer – zur „Mehrmütterorganschaft“. 40 BFH v. 10.7.1986, a. a. O., (Fn. 39), 812 f. zur „Geprägetheorie“. 41 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 (616 ff.) = FR 2008, 457 m. Anm. Kanzler; s. bereits Flume, Richterrecht und Steuerrecht, Stbjb. 1964/65, 55 ff. = Gesammelte Schriften II, 1988, 267 (283 ff.). 42 Zum Begriff der „Rechtslage“ s. Hey, a. a. O., (Fn. 20), 61, 327 ff. 43 Flume, DB 1985, 1152; Knobbe-Keuk, BB 1985, 941 ff., 942; Kirchhof/Raupach, DB 2001, Beilage 3; Hey, a. a. O., (Fn. 20), 327 ff.; BB 2000, 1453 (1459 f.) m. w. N. 44 So wohl Hey, a. a. O., (Fn. 20), 329.

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gen, deren Veranlagungen für abgeschlossene Veranlagungszeiträume noch offen sind und die daher bereits versucht haben oder jederzeit in der Lage wären, ihre steuerliche Veranlagung anzugreifen, müssen davon profitieren. Oft ist es ja ein Zufall, wessen Verfahren als erstes den Instanzenzug durchschreitet und in welchen Fällen untere Instanzen (Finanzbehörden oder Finanzgerichte) den Ausgang eines Musterverfahrens abwarten. Der Rechtsstaat dient allen, die nicht durch freiwilliges Verstreichenlassen der Rechtsbehelfsfristen den Eintritt der Bestandskraft akzeptiert haben.

IV. Rechtfertigungsgründe des gemeinen Wohls 1. Einführung Kann sich der Bürger gegenüber dem Steuergesetzgeber im Ausgangspunkt auf ein rechtsstaatlich schützenswertes Vertrauen berufen, so vermag die Legislative dies nur dann zu überwinden, wenn sie sich auf „überragende Gründe des gemeinen Wohls“ berufen kann45. Diese Gemeinwohlgründe müssen aber auch ernsthaft „überragend“ sein, d. h. sie müssen bei der gebotenen Abwägung in deutlicher Weise die Schutzwürdigkeit des Steuerpflichtigen hinter sich lassen. Dafür reicht nicht jedes sachliche Regelungsinteresse aus. Darüber hinaus muss der Gesetzgeber deutlich machen, dass seine sachlichen Ziele nicht nur eine Neuregelung als solche erfordern, sondern zugleich eine „echte Rückwirkung“ notwendig erscheinen lassen. 2. Ankündigungseffekt Ein Gemeinwohlbelang, der vom BVerfG bereits akzeptiert worden ist, liegt in dem Bemühen des Gesetzgebers, steuerlich motivierte Gestaltungen auf der Grundlage eines „Ankündigungseffekts“ zu vermeiden. Es geht in diesen Fällen darum, Steuerpflichtigen die Motivation zu nehmen, in dem Zeitraum zwischen dem Bekanntwerden einer Gesetzgebungsinitiative und der abschließenden Verkündung des Gesetzes im Bundesgesetzblatt Dispositionen „im Vertrauen“ auf die bis dahin geltende Rechtslage zu treffen46. Bei „klarstellenden“ Gesetzen steht dieser Gesichtspunkt nur selten im Vordergrund: Hier geht es der Finanzverwaltung ja aus ihrer Sicht gerade nicht um eine Veränderung der Rechtslage, die mit bestimmten Reaktionen der Steuerpflichtigen einhergehen kann. 3. Herstellung von Steuergerechtigkeit Zunehmend wird im Schrifttum angenommen, dass auch die Herstellung von „Steuergerechtigkeit“ einen wichtigen Gemeinwohlbelang darstellt. Dabei

__________ 45 Ständige Rechtsprechung seit BVerfG v. 13.12.1961, a. a. O., (Fn. 9), 272. 46 BVerfG v. 3.12.1997, a. a. O., (Fn. 7), 67; BFH v. 27.8.2002 – XI B 94/02 BStBl. II 2003, 18 (20) = FR 2003, 27 m. Anm. Seeger; P. Kirchhof, a. a. O., (Fn. 8), 229.

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„Rückwirkende Klarstellungen“ des Steuergesetzgebers als Verfassungsproblem

wird allerdings darauf hingewiesen, dass die Herstellung von Systemgerechtigkeit (unterhalb der Schwelle der Verfassungswidrigkeit) im Ausgangspunkt nur zu Gesetzesänderungen pro futuro legitimiert. Insoweit können die Steuerpflichtigen keinen Anspruch auf den Fortbestand einer ihnen günstigen, unsystematischen Gesetzeslage geltend machen47. Der Gesetzgeber ist auch berechtigt, im Wege „tatbestandlicher Rückanknüpfung“ den Steuerpflichtigen für künftige Veranlagungszeiträume die Verfügung über systemfremde Vergünstigungen zu entziehen, soweit dem nicht spezifische Grundrechte der Beteiligten entgegenstehen48. Davon ist allerdings die Frage zu trennen, ob der Gesetzgeber sich auch mit Wirkung für die Vergangenheit (im Wege „echter Rückwirkung“) die Freiheit herausnehmen darf, die Rechtslage in Richtung auf (nach seiner Einschätzung) mehr Systemgerechtigkeit zu verändern. Dies hat der XI. Senat des BFH in der Frage der Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes für Entschädigungen verneint, wenn die Vereinbarung bereits vereinbart worden war, bevor die Tarifänderung ins Gesetzgebungsverfahren gelangt war49. Solche „Klarstellungen“ sind dem Gesetzgeber daher nur dann erlaubt, wenn er letztlich nur ausdrücklich kodifiziert, was implizit ohnehin im Wege der Auslegung im geltenden Recht vorhanden war50. 4. Finanzbedarf des Staates Damit wäre der – aus der Sicht des Fiskus wohl primäre – Gesichtspunkt erreicht, der zur Legitimation der rückwirkenden Geltung ins Feld geführt werden kann: Das Interesse der öffentlichen Hand an einer Vermeidung von Haushaltsausfällen. Es fragt sich jedoch, ob der Gesetzgeber berechtigt ist, zur Deckung des öffentlichen Finanzbedarfs im Wege „echter Rückwirkung“ auch in abgeschlossene Veranlagungszeiträume einzugreifen. Das ist im Grundsatz nicht der Fall. Ausgangspunkt ist vielmehr die Erkenntnis: „Die bloße Absicht, staatliche Mehreinkünfte zu erzielen, ist für sich genommen kein den Vertrauensschutz betroffener Steuerpflichtiger regelmäßig überwindendes Gemeinwohlinteresse, weil dieses Ziel durch jedes, auch durch sprunghaftes und willkürliches Besteuern erreicht würde.“51

__________ 47 Mellinghoff, a. a. O., (Fn. 8), 50 ff. 48 BVerfG v. 5.2.2002, a. a. O., (Fn. 7), 32 ff. – Sozialpfandbriefe; BFH v. 27.8.2002, a. a. O., (Fn. 46), 20; v. 6.11.2002 – XI R 42/01 BStBl. II 2003, 257 (260 ff.) = FR 2003, 405; v. 16.12.2003, a. a. O., (Fn. 7) Rz. 98 ff.; v. 9.5.2001 – XI B 151/00 BStBl. II 2001, 552 (555) = FR 2001, 777 m. Anm. Hallerbach – § 2 Abs. 3 EStG; Kritik zu letztgenannter Entscheidung bei Hey, a. a. O., (Fn. 19), 109. 49 BFH v. 6.11.2002, a. a. O., (Fn. 48), Rz. 56 ff.; s. auch BFH v. 16.12.2003, a. a. O., (Fn. 7) Rz. 100. 50 Hey, a. a. O., (Fn. 19), 102 (106 f.). 51 BVerfG v. 5.2.2002, a. a. O., (Fn. 7), 45; BFH v. 6.11.2002, a. a. O., (Fn. 47); v. 16.12. 2003, a. a. O., (Fn. 7), Rz. 97; Drüen, a. a. O., (Fn. 8), 364 f.

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Dieser Grundsatz ist vom BVerfG nicht nur in Fragen der steuerlichen Rückwirkung, sondern auch im Rahmen des Gleichheitsgrundsatzes betont worden. Es bildet einen Grundsatz rechtsstaatlichen Besteuerns, dass rein finanzpolitische Erwägungen nicht ausreichen können, um gleichheitswidrige oder rückwirkende Eingriffe in Rechtspositionen der Bürger vorzunehmen52. Das BVerfG hat daher jüngst zur „Pendler-Pauschale“ noch einmal ausgeführt, dass das „Bestreben, ein hinreichendes Volumen an zusätzlichen Einnahmen zu erreichen“, Durchbrechungen des Gleichheitssatzes und der Folgerichtigkeit nicht zu legitimieren vermag53. Dies gilt – wie der BFH betont hat – auch und gerade dann, wenn der Gesetzgeber durch Tarifermäßigungen (hier: im Rahmen des Steuersenkungsgesetzes 2000) den öffentlichen Finanzbedarf erst herbeiführt oder steigert54. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind allenfalls dann anzuerkennen, wenn der Finanzbedarf der öffentlichen Hand auf einer unerwarteten Grundlagenänderung beruht – etwa bei Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder der Bewältigung der finanziellen Lasten durch die Wiedervereinigung55. Schließlich kann die „Unvorhersehbarkeit“ der Einnahmeausfälle nicht damit begründet werden, dass das angebliche „Redaktionsversehen“ oder die eingetretene Änderung der Rechtsprechung bei der Berechnung der Haushalte nicht berücksichtigt worden sei und daher der Gesetzgeber nunmehr rückwirkend die Aufbringung der steuerlichen Mittel sicher stellen müsse. Eine solche Rechtfertigung würde nicht nur die rechtsstaatlichen Maßstäbe für die Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetzgebung weitgehend in Frage stellen. Sie ist auch durch den BFH in der Frage einer Auflösung von Bilanzpositionen nicht anerkannt worden56.

V. Schluss „Rückwirkende Klarstellungen“ des Steuergesetzgebers sind nicht lediglich eine semantische Verharmlosung oder Ausdruck affirmativer Rechthaberei. Sie führen zugleich einen Angriff auf den rechtsstaatlichen Schutz des Steuerbürgers, der darauf vertrauen darf, dass das geltende Recht so auf ihn und die von ihm verwirklichten Sachverhalte Anwendung findet, wie es die unparteiische Auslegung durch die Finanzgerichte ergibt. Ein Verfassungsverständnis, das der Finanzverwaltung Raum geben würde, durch bloße Rechtsbehauptungen dieses schutzwürdige Vertrauen des Steuerpflichtigen zu zerstören, würde diesen Grundsatz, in dem das Prinzip der Gewaltenteilung und die Gewähr-

__________ 52 Grundlegend: BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (268 f.) = FR 1991, 375 m. Anm. Felix. 53 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (233) = FR 2009, 74. 54 BFH v. 16.12.2003, a. a. O., (Fn. 7), Rz. 97. 55 BVerfG v. 5.2.2002, a. a. O., (Fn. 7), 44 f.; Mellinghoff, a. a. O., (Fn. 8), 52; kritisch zu Recht Hey, BB 2002, 2312 (2314). 56 BFH v. 10.11.1999 – X R 60/95, BStBl. II 2000, 131 (138).

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leistungen des Rechtsstaats konvergieren, in Frage stellen und den Bürger nachhaltig entmutigen, selbstbewusst die öffentlichen Gerichte anzurufen. Auch dann, wenn sich eine Verwaltungspraxis auf eine langjährige Rechtsprechungslinie stützen kann, muss dem Bürger die Möglichkeit gegeben werden, seinen besseren Rechtsstandpunkt durchzusetzen, ohne dass ihm die Frucht seiner Bemühungen wieder aus den Händen gewunden wird. Dem Gesetzgeber bleibt es unbenommen, eine für problematisch empfundene Gesetzeslage mit Wirkung für die Zukunft zu ändern; den Zugriff auf abgeschlossene Sachverhalt verbietet ihm Art. 20 Abs. 3 GG.

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Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit 1. Geklärte und offene Fragen 2. Weitreichender Ermessensspielraum des Gesetzgebers bei der Auswahl des Besteuerungsgegenstands? a) Grundaussage des BVerfG b) Kritik c) Beispiele III. Der Stellenwert des objektiven Nettoprinzips 1. Die Judikatur des BVerfG und ihre „Nebenwirkungen“ 2. Objektives Nettoprinzip als Unterprinzip des Leistungsfähigkeitsprinzips

IV. Insbes.: Rückstellungen bei der steuerlichen Gewinnermittlung 1. Der Beschluss des BVerfG vom 12.5.2009 (2 BvL 1/00, Jubiläumsrückstellungen) 2. Kritik a) Rückstellungen: Schulden der Periode b) Rückstellungen vs. Überschusseinkünfte: Folgerichtigkeit im jeweiligen Subsystem c) Rückstellungen, Maßgeblichkeit und objektives Nettoprinzip d) Gerechtigkeit in der Zeit e) Reichweite des Gebots der Folgerichtigkeit V. Zusammenfassung in Thesen

I. Fragestellung Joachim Lang ist einer der führenden Köpfe der Steuerrechtswissenschaft. Ein Steuerrecht ohne Ordnung ist ihm ein Graus. Es muss ihn daher betrüben, wenn er die Entwicklung des Steuerrechts durch die Politik, aber auch manche jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Unternehmensteuerrecht betrachtet. In Berlin wird zwar viel über Steuergerechtigkeit und „grundlegende Steuerreformen“ geredet, aber wenig wirklich durchgreifend reformiert. Vor diesem Hintergrund hat der Jubilar das BVerfG zu judicial activism aufgerufen1. Aber dieser Aufruf wird in Karlsruhe, wie es scheint, nicht für alle Bereiche des Steuerrechts gleichermaßen gehört. Zwar gibt es manche Entscheidungen, mit denen das BVerfG dem Gesetzgeber enge Grenzen setzt. Aus jüngerer Zeit ist hier insbesondere das Urteil zur sog. Pend-

__________ 1 Vgl. J. Lang, StuW 2007, 3 (15); in demselben Sinne Tipke, FS für Raupach, 2006, S. 177 (193); Hey, FR 2008, 1033 (1039).

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lerpauschale zu nennen2. Auch im Bereich der Familienbesteuerung3, des Existenzminimums4, der Einheitswerte5 und der Erbschaftsteuer6 setzt das BVerfG teils enge Maßstäbe und wird von Joachim Lang daher sogar als „das weltweit strengste Verfassungsgericht“ bezeichnet7. Auf der anderen Seite und im auffälligen Gegensatz zu den erwähnten Judikaten zeigt der 2. Senat des BVerfG bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung unternehmensteuerrechtlicher Normen allerdings große Zurückhaltung8 und tendiert dazu, den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers mehr und mehr auszuweiten. Das war beispielsweise im Beschluss des BVerfG zu § 32c EStG a. F. erkennbar9, mit dem das Verfassungsgericht en passant den bestehenden Dualismus der Unternehmensbesteuerung „abgesegnet“ hat10. Und diese Tendenz setzt sich fort im aktuellen Beschluss zu den Jubiläumsrückstellungen11, in dem das (zeitweilige) Verbot des Ansatzes von Rückstellungen für Jubiläumszusagen (§ 52 Abs. 6 S. 1, 2 EStG a. F.) vom BVerfG als verfassungsgemäß beurteilt wird, weil dem Gesetzgeber keine Willkür vorzuwerfen sei. Diese uneinheitliche Linie des BVerfG wirft einmal mehr die Grundsatzfrage auf, welche Grenzen der Steuerpolitik gezogen sind: Darf der Gesetzgeber den Gegenstand, den er für besteuerungswürdig hält, frei wählen? Ist die verfassungsrechtliche Kontrolldichte bei der Auswahl der Besteuerungsgegenstände geringer als bei der Ausgestaltung der Einzelsteuern? Besonders betrachtet werden soll sodann das objektive Nettoprinzip: Welchen Stellenwert hat die-

__________ 2 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., DStR 2008, 2460 = FR 2009, 74. Diese Entscheidung wurde in der Tagespresse interessanterweise sogar als „Übergriff“ des BVerfG in die Kompetenzen des Parlaments gewertet, vgl. Handelsblatt v. 10.12. 2008: Keine Chance für Reformen. Ähnlich Lepsius, JZ 2009, 260 ff. 3 Vgl. BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/545, BVerfGE 6, 55; v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, 1 BvR 1335/78, 1 BvR 1104/79, 1 BvR 363/80, BVerfGE 61, 319 – Unterhaltsverpflichtungen; v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 = FR 1990, 449 – Kindergeld; v. 12.6.1990 – 1 BvL 72/86, BVerfGE 82, 198 – Kinderfreibetrag; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – doppelte Haushaltsführung; v. 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412 – Kindergeld; vgl. auch J. Lang, StuW 1983, 103. 4 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = FR 1992, 810. 5 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer. 6 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 = FR 2007, 338. 7 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010 (im Folgenden kurz: Tipke/Lang), § 4 Rz. 74. 8 Schulze-Osterloh, FS für Raupach, 2006, S. 531 m. w. N. aus der Judikatur des BVerfG; vgl. ferner Drüen, Ubg 2009, 23; Hey, DStR 2009, 2561 (2562); Schön, DStR-Beihefter zu Heft 17/2008, S. 10 (13). – Anders und bemerkenswert aber jüngst der 1. Senat des BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, BStR 2010, 434; dazu Drüen, BStR 2010, 513. 9 Vgl. BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164; dazu krit. Hennrichs/ Lehmann, StuW 2007, 16; Wendt, FR 2006, 775; eingehend Drüen, GmbHR 2008, 393. 10 Vgl. J. Lang, BB 2006, 1769 (1771). 11 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 = BStBl. II 2009, 685 = FR 2009, 873 m. Anm. Buciek = NJW 2009, 3151 = NZG 2009, 836.

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Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung

ses Prinzip?12 Könnte der Gesetzgeber die Einkommensteuer ganz neu modellieren und beispielsweise eine (partielle) Bruttobesteuerung einführen? Und was folgt aus dem objektiven Nettoprinzip für die Berücksichtigung von Rückstellungen in der Steuerbilanz?

II. Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit 1. Geklärte und offene Fragen Es ist heute im Ausgangspunkt ganz überwiegend anerkannt, dass die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgen soll13. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist, in den Worten des Jubilars, der „Primärgrundsatz des Steuerrechts“, der „ein inneres System“ von konkretisierenden und ergänzenden Unterprinzipien leitet und dadurch „eine dogmatisch verifizierbare Ordnung des Steuerrechts substantiier[t].“14 Zwar findet sich vereinzelt die Kritik, das Leistungsfähigkeitsprinzip sei zu unbestimmt und tauge nicht für die verfassungsrechtliche Disziplinierung des Steuerrechts. Aber, um nochmals den Jubilar zu zitieren: „Zum Leistungsfähigkeitsprinzip gibt es keine Alternative eines besser geeigneten Primärgrundsatzes; es gibt lediglich die Alternative fundamentaler Prinzipienlosigkeit.“15 Was wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausmacht und wie sie gemessen werden soll, ist damit freilich im Einzelnen noch nicht gesagt und folglich umstritten. Da Steuern nur mit Liquidität bezahlt werden können, setzt besteuerungswürdige Leistungsfähigkeit Liquidität16 oder zumindest Liquiditätspotentiale voraus. Klaus Tipke spricht von „gespeichertem Einkommen“17. Aber was genau ist gespeichertes Einkommen? Einkommen kann man dahin verstehen, dass es den am Markt hinzuerworbenen Vermögenszuwachs umfasst (sog. Markteinkommen). Relativ klar ist, dass Steuern nach dem Gebot der praktischen Vernunft und gemäß den Freiheitsrechten des GG nur auf Ist-Einkommen (und nicht auf Soll-Größen) erhoben werden können. Wer, statt zu arbeiten, sich lieber dem Müßiggang hingibt und kein Einkommen erzielt, dem kann der Fiskus auch nichts abnehmen. Jenseits dieser relativ klaren Grenzen beginnen aber schon die Fragen: Geht Einkommen über das sog. Markteinkommen hinaus? Erfasst es auch „Leistun-

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12 Aus jüngerer Zeit s. J. Lang, StuW 2007, 3 ff.; NJW 2006, 2209 ff. und öfter; grdl. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88. 13 Vgl. BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, 1 BvR 1335/78, 1 BvR 1104/79, 1 BvR 363/80, BVerfGE 61, 319 (343 f.); v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 (86) = FR 1990, 449; grdl. J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 81 ff.; DStJG 24 (2001), 50 (55 ff.); ferner namentlich Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000 (im Folgenden: StRO I2), S. 479 ff. 14 J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 83. 15 J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 83. 16 J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 102. 17 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003 (im Folgenden: StRO II2), S. 580 und passim.

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gen an sich selbst“, beispielsweise die Wertschöpfung für den privaten Eigenbedarf und die Nutzung privater Wirtschaftsgüter (z. B. den Nutzenwert der eigenen Wohnung oder gar der Hausfrauenarbeit, sog. imputed income18)? Gehören „private“ Lotteriegewinne und Erbschaften zum Einkommen? Dem Gedanken, dass Steuern an Liquidität(spotentialen) auszurichten sind, entspricht tendenziell ein weiter Einkommensbegriff. Das geltende Recht erfasst demgegenüber private Wertschöpfungen und Nutzungen sowie Lotteriegewinne gar nicht; Erbschaften unterfallen nicht der Einkommensteuer, sondern dem ErbStG. Sodann: Wie ist mit indisponiblem Einkommen umzugehen? Die Antwort der geltenden Steuergesetze lautet: „mal so – mal so!“ In der Einkommensteuer werden indisponible Aufwendungen (teilweise) berücksichtigt, bei der Umsatzsteuer auf Seiten des letztlich belasteten Verbrauchers nicht (oder jedenfalls nur sehr grob typisierend durch unterschiedliche Umsatzsteuersätze). Weiter: Darf innerhalb des Einkommens nach bestimmten Einkommenstypen, nach der Herkunft oder Quelle des Einkommens unterschieden werden? Dürfen beispielsweise Kapitaleinkünfte anders besteuert werden als Arbeitseinkünfte, wie es derzeit der Fall ist? Ferner: Was ist der richtige Zeitrahmen, um die Leistungsfähigkeit zu messen? Das Kalenderjahr, ein Durchschnitt aus mehreren Jahren oder die sog. Totalperiode?19 Und last but not least: Ist Einkommen nur eine Nettogröße und wenn ja, welche Aufwendungen sind steuerlich zum Abzug zuzulassen? Dem sog. subjektiven Nettoprinzip hat das BVerfG verschiedentlich Verfassungsrang zugesprochen und die steuerliche Berücksichtigung von indisponiblen Privataufwendungen gefordert20. Den verfassungsrechtlichen Stellenwert des sog. objektiven Nettoprinzips, wonach besteuerungswürdig nur der Saldo aus Erwerbseinnahmen abzgl. Erwerbsaufwendungen ist, hat das Gericht demgegenüber bis heute offen gelassen21. 2. Weitreichender Ermessensspielraum des Gesetzgebers bei der Auswahl des Besteuerungsgegenstands? a) Grundaussage des BVerfG Über diese und andere Aspekte gehen die Meinungen in Wissenschaft und Praxis weit auseinander. Es ist daher vorderhand durchaus verständlich, dass das BVerfG sich zurückhalten will. Nach einer stereotyp wiederholten Formel des BVerfG soll der Steuergesetzgeber denn auch „bei der Auswahl des Steuergegenstandes … einen weitreichenden Entscheidungsspielraum“ haben. Der

__________ 18 Dazu J. Lang in Tipke/Lang, § 8 Rz. 32 f. 19 Vgl. hierzu auch BFH v. 2.8.2006 – XI R 30/03, BStBl. II 2006, 895 = FR 2007, 53 m. Anm. Wendt. 20 Vgl. BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 = FR 1990, 449; v. 12.6.1990 – 1 BvL 72/86, BVerfGE 82, 198; J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 113 f., § 9 Rz. 68 ff. 21 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u. a., FR 2009, 74 m. Anm. Greite – Pendlerpauschale, Tz. 63; v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 = FR 2009, 873 m. Anm. Buciek – Jubiläumsrückstellungen, Tz. 28.

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(Steuer-)Gesetzgeber habe die „Befugnis, … die zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung weitgehend ungebunden zu entscheiden“22. (Erst) Bei der weiteren Ausgestaltung des Steuertatbestandes müsse „die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden“ und bedürften Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung eines besonderen sachlichen Grundes23. b) Kritik Die Formulierung des BVerfG könnte dahin (miss-)verstanden werden, der Steuergesetzgeber könne den Steuergegenstand mehr oder weniger nach Belieben frei wählen24. Der Gesetzgeber nimmt für sich eine weitreichende Gestaltungsfreiheit denn auch gern in Anspruch. Das real existierende Steuerrecht ist geprägt von einer Vielzahl von Einzelsteuergesetzen. Diese regeln Steuern teilweise ohne Abstimmung untereinander, ohne dass ein inneres System immer erkennbar wäre. Die Wertentscheidungen des Grundgesetzes für die Steuerrechtsordnung zu entfalten, ist sicher in erster Linie Sache des Gesetzgebers. Dabei ist der Steuergesetzgeber aber richtigerweise nicht frei, sondern bereits bei der Auswahl der Besteuerungsgegenstände an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden25. Abgesehen davon, dass die Abgrenzung zwischen der Auswahl der Besteuerungsgegenstände und der Ausgestaltung des Steuertatbestandes Unschärfen aufweist (ist beispielsweise die Gewerbesteuer ein besonderer Besteuerungsgegenstand oder nicht eher eine besondere Ausgestaltung des Einkommensteuertatbestandes?)26, ist in Erinnerung zu rufen, dass die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip universell gelten. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Ausfluss des Art. 3 Abs. 1 GG gilt deshalb bereits bei der Auswahl der Besteuerungsgegenstände. Steuerrecht muss, wie alles Recht, auf Legalität (Gesetzmäßigkeit) und auf Legitimität (Rechtmäßigkeit, Gerechtigkeit) aufgebaut sein (Art. 20 Abs. 3 GG). Legitimität beginnt bei der Auswahl des Steuergegenstandes. Warum auch sollte ausgerechnet die erste und prägende Belastungsentscheidung dem Steuer-

__________ 22 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 = FR 2009, 873 m. Anm. Buciek = NZG 2009, 836 (837) – Jubiläumsrückstellungen, Tz. 26, 32. Ebenfalls für eine weitreichende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers namentlich Wernsmann, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 101 ff. 23 Vgl. BVerfG, a. a. O., (s. Vornote), Tz. 26, 32 m. w. N. Hey, DStR 2009, 2561 (2562) spricht treffend von einer zweistufigen Prüfung/Argumentation des BVerfG. 24 Vgl. Papier, DStR 2007, 973 (975): „Aus dem Gebot der möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichtiger folgt für den Gesetzgeber indes keine Beschränkung in seinem Entscheidungsspielraum bei der Auswahl des Steuergegenstandes.“ 25 Zutr. und grdl. Tipke, StRO II2, S. 569 ff.; StuW 2007, 201 (207 ff.); JZ 2009, 533 ff.; im folgend FG Nds. v. 21.4.2004 – 4 K 317/91, EFG 2004, 1065, Tz. 106 f.; s. ferner Hey, FR 2008, 1033 (1034); Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 109 (110); DStR 2009, 2561 (2563); je m. w. N. 26 Zutr. Hey, DStR 2009, 2561 (2563).

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gesetzgeber frei stehen? Eine ungerechte Steuer wird nicht dadurch besser und legitim, dass die Ungerechtigkeit folgerichtig durchgehalten wird!27 Warum beispielsweise gibt es eine Steuer auf das Halten von Vermögen zwar noch in Gestalt der Grundsteuer, also für Grundvermögen, aber nicht (mehr) für andere Vermögensarten?28 Ist es gerecht, Grundvermögen zu besteuern, demgegenüber beispielsweise das Halten von Segelyachten nicht? Wieso lässt sich aus Grundbesitz eine besondere Steuerwürdigkeit ableiten?29 Ferner: Warum gilt die Körperschaftsteuer zwar für Kapitalgesellschaften, aber nicht für rechtsfähige Personengesellschaften (§ 124 HGB) und nicht einmal für die GmbH & Co. KG?30 Warum hängen Art und Höhe der Unternehmensbesteuerung von der Rechtsform ab?31 Warum folgt die Erbschaft- und Schenkungsteuer, obwohl sie steuersystematisch eine Einkommensteuer im weiteren Sinne ist (nämlich auf das Transfereinkommen des Erben)32, anderen Prinzipien als die Einkommensteuer?33 Warum gibt es überhaupt gleich eine Vielzahl von Steuern? Und schließlich: Sind Vorschriften legitim, die (wie beispielsweise die Zinsschranke gem. §§ 4h EStG, 8a KStG oder die Funktionsverlagerung gem. § 1 Abs. 3 AStG34) so kompliziert gefasst sind, dass sie selbst Fachleute nicht mehr verstehen? Oder Vorschriften, denen (wie die Verlustabzugsbeschränkung gem. § 8c KStG35) keine nachvollziehbare ratio legis zugrunde liegt36 und die den Steuerpflichtigen Lasten auferlegen, die sie gar nicht erfüllen können? Dass es in ausländischen Steuerrechtsordnungen nicht besser ist37, mag trösten, hilft aber nicht wirklich.

__________ 27 Treffend Tipke, StRO II2, S. 577. 28 Vgl. auch Tipke, JZ 2009, 533 (538). 29 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 100: „Mit der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist die Belastung bestimmter Vermögensarten unvereinbar“. 30 Dies absegnend BVerfGE 116, 164, 198 ff.; dagegen Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; Hey in Tipke/Lang, § 18 Rz. 533; FS für Raupach, 2006, S. 479 (480 ff., 492 f.); J. Lang, FS für Reiß, 2008, S. 379 (386 ff.) – alle für eine moderate Ausdehnung der Körperschaftsteuer; je m. w. N.; ferner Tipke, JZ 2009, 533 (538). 31 Vgl. zur Diskussion um Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung Drüen, GmbHR 2008, 393 ff.; Hennrichs, StuW 2002, 201 ff.; Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 ff.; Hey, DStJG 24 (2001), 155 (166 ff.); in Tipke/Lang, § 18 Rz. 530 ff.; Kirchhof, FS für Reiß, 2008, S. 359 (363); FS für Solms, 2005, S. 1, 10 f.; J. Lang, StuW 1990, 107 (115 f.); je m. w. N. 32 Zutr. Meincke, ErbStG, 15. Aufl. 2009, Einf. Rz. 2; Seer in Tipke/Lang, § 13 Rz. 103; Tipke, StRO II2, S. 872 m. w. N. 33 Krit. dazu Hey, JZ 2007, 564 (566); s. auch Tipke, StRO II2, S. 881 ff., der zu Recht mindestens eine Abstimmung zwischen ESt und ErbSt für notwendig erachtet. 34 Dazu mit Recht krit. z. B. Hey, BB 2007, 1303 (1304 ff.); Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 109 (112 f.); J. Lang, FS für Reiß, 2008, S. 379 (389 ff.). 35 Auch dagegen zutr. z. B. Hey, a. a. O., (s. Vornote); ferner z. B. Drüen, Ubg 2009, 23 (28 f.). 36 Anlässlich eines Steuerkolloquiums in Köln, bei dem Wege der teleologischen Interpretation des § 8c KStG erörtert wurden, äußerte ein hochrangiger Vertreter der Finanzverwaltung in entwaffnender Offenheit, die Vorschrift des § 8c KStG habe gar keine erkennbare Teleologie und könne deshalb auch nicht teleologisch ausgelegt werden! Das ist die Bankrotterklärung der Norm! 37 Selbst der Finanzminister (!) der USA, O’Neill, hat das US-amerikanische Steuerrecht als Abscheulichkeit bezeichnet, vgl. bei Tipke, StRO II2, S. 575.

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Die Akzeptanz des Rechts setzt Ordnung voraus. Das gilt auch für das Steuerrecht. Das Steuerrecht muss ebenso wie andere Teilrechtsgebiete auf sachgerechten Prinzipien beruhen und diese system- und wertungskonsequent umsetzen38. Aus der Vielzahl einzelner Steuergesetze muss deshalb eine Steuerrechtsordnung werden. Das beginnt bei der Auswahl der Steuergegenstände. Bereits die Steueranknüpfung muss auf einem sachgerechten Prinzip beruhen39. Steuern sind nicht beliebig, gleichsam per se legitim, sondern sie müssen sich einpassen in das Gesamtgefüge einer Steuerrechtsordnung. Das gegenwärtige Steuerrecht erinnert bisweilen an den Stand des Zivilrechts vor der Kodifikation im BGB. Die Einzelsteuergesetze sind eine Kompilation, eine bloße Zusammenstellung. Eine Kodifikation, ein Steuergesetzbuch täte not. Dabei wäre erstens das Vielsteuersystem auf den Prüfstand zu stellen und wären solche Steuern auszusortieren, für die es keine sachliche Rechtfertigung gibt. Der Umstand, dass Art. 105 Abs. 2a, 106 GG einzelne Steuerarten nennen, legitimiert diese Steuern nicht per se40. Zweitens wären die verbleibenden Steuern sinnvoll aufeinander abzustimmen41 und systematische Bruchlinien zu beseitigen. Die Teil-Steuern müssen sich harmonisierend ergänzen42. Kann es mithin einen „verfassungsrechtlichen Freiraum“ zugunsten des Steuergesetzgebers bei der Auswahl des Steuergegenstandes nicht geben, so ist damit freilich noch nicht die Frage entschieden, ob die Auswahl des steuerlichen Belastungsgrundes immerhin einer reduzierten verfassungsrechtlichen Kontrolldichte unterliegt. Ist der Steuergesetzgeber also im Erfinden und Modellieren von Steuern zwar nicht völlig frei, aber beispielsweise „nur“ durch das Willkürverbot gebunden? Oder gelten insoweit bereits strikte verfassungsrechtliche Vorgaben? Aus theoretischer Sicht ist eine nach Sachbereichen differenzierte verfassungsrechtliche Kontrolldichte (nur Willkürkontrolle bei der Auswahl der Steuergegenstände, strikte Verhältnismäßigkeitskontrolle bei der weiteren Ausgestaltung) nicht einleuchtend. Die Freiheitsgrundrechte, der Gleichheitssatz und das Rechtsstaatsprinzip gelten universell, und sie gelten auch für das BVerfG43. Je nach Sachbereich unterschiedliche verfassungsgerichtliche Kontrolldichten bergen ihrerseits die Gefahr von Ungleichheiten in der Rechtsanwendung durch das BVerfG. Zudem ist nicht ersichtlich, warum zwischen der Auswahl des Steuergegenstands und der Ausgestaltung der Bemessungs-

__________

38 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 70 ff. (78 f.); Tipke, JZ 2009, 533 (534 ff.). Ganz anders schon im Ansatz Lepsius, JZ 2009, 260, der ernsthaft meint, Systemerwartungen seien im Steuerrecht als einem „hochpolitischen Rechtsgebiet“ „weder verfassungsrechtlich zwingend noch verfassungspolitisch wünschenswert“. 39 J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 78. 40 Zutr. Tipke, StRO II2, S. 576 ff.; FS für Reiß, 2008, S. 9 (22 f.); a. A. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 – zur Vermögensteuer; v. 13.5.1969 – 1 BvR 25/65, BVerfGE 26, 1 (8) und v. 25.10.1977 – 1 BvR 15/75, BVerfGE 46, 224 (236) – zur Gewerbesteuer; v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (345 f.) – zur Zweitwohnungssteuer. 41 Vgl. auch J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 85. 42 Tipke, StRO II2, S. 596. 43 Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 182 ff.

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grundlage gleichheitsrechtlich ein Unterschied bestehen soll. Die ungleiche Erfassung von Steuergegenständen kann dieselbe Wirkung haben wie Sondersteuersätze für einzelne Einkunftsarten oder Ausnahmeregelungen in der Bemessungsgrundlage44. Aus praktischer Sicht hängt die Bedeutung der Fragestellung davon ab, welchen Inhalt das Gericht insbesondere dem Willkürverbot gibt. Lässt man zur Verneinung von Willkür schon jeden irgendwie nicht völlig abwegigen Gedanken genügen45, gibt eine bloße Willkürkontrolle die verfassungsrechtliche Kontrolle im Ergebnis weitgehend auf. Macht man demgegenüber mit dem Gedanken Ernst, dass Differenzierungen, sollen sie nicht willkürlich sein, einen sachgerechten Grund erfordern46 und verlangt man weiter, dass die Differenzierung zur Verwirklichung relativ gewichtiger Rechtsprinzipien erforderlich und angemessen sein muss47, dann setzt auch eine so verstandene Willkürkontrolle bereits spürbare Grenzen. Im Sinne der Steuerrechtsordnung ist an das BVerfG zu appellieren, dem Gesetzgeber durchgängig mindestens sachgerechte Gründe und eine angemessene Verhältniswahrung abzuverlangen. c) Beispiele Die praktischen Auswirkungen mögen an zwei Beispielen veranschaulicht werden. Die Existenz der Grundsteuer kann man mit der Erwägung zu rechtfertigen versuchen, diese zähle zu den ältesten Steuern. Dieser Gedanke ist sicher nicht völlig abwegig. Aber allein die Tradition (nach dem Motto „Das haben wir schon immer so gemacht!“) ist kein sachgerechter Grund. Ferner: Die tradierte unterschiedliche Besteuerung von Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften kann man mit der Erwägung rechtfertigen wollen, dies entspreche den überkommenen zivilrechtlichen Typusunterschieden zwischen diesen Gesellschaftsformen, wonach nur die Kapitalgesellschaften als solche rechtlich selbständig seien, während bei den Personengesellschaften das Gesellschaftsvermögen zivilrechtlich den Gesellschaftern zugerechnet werde48; außerdem wird bisweilen angeführt, die Ungleichheiten könnten hingenommen werden, weil das Zivilrecht die Freiheit der Rechtsformwahl gewähre (sowohl bei Gründung als auch, durch das Umwandlungsrecht, im späteren Verlauf), so dass die Bürger die für sie auch steuerlich passende Rechtsform wählen könnten49. Der erste Aspekt ist aber kein sachgerechter Grund, weil

__________ 44 Zutr. Hey, FR 2008, 1033 (1034). 45 Vgl. BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 = BStBl. II 2009, 685 = FR 2009, 873 m. Anm. Buciek, Tz. 41: „Für das Willkürverbot kommt es nicht auf einen Mangel an dogmatisch ‚überzeugenden‘ oder systematisch ‚richtigen‘ Gründen an, sondern auf den offenkundigen Mangel an jeglicher Sachlichkeit des Grundes“ (Hervorhebung durch Verf.). 46 So namentlich Hey, FR 2008, 1033 (1038); DStR 2009, 2561 (2567). 47 Englisch (o. Fn. 43), S. 187. 48 So BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164. 49 Vgl. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 = FR 2008, 818 m. Anm. Keß; Drüen, GmbHR 2008, 393 (400); Görke, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 106 (108); je m. w. N.

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sich zwischenzeitlich die zivilrechtlichen Anschauungen zum Typus der Personengesellschaft grundlegend gewandelt haben und hinsichtlich der Rechtsfähigkeit, auf die bei der steuerrechtlichen Argumentation entscheidend abgestellt wird, nach heute ganz h. M. im Zivilrecht gerade kein Unterschied zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften besteht50. Auch die Rechtfertigung mit dem Argument der freien Rechtsformwahl taugt nicht als sachgerechter Differenzierungsgrund51. Zum einen ist es angreifbar, wenn das Steuerrecht (Fehl-)Anreize für die Rechtsformwahl ausübt. Das Steuerrecht sollte vielmehr entscheidungsneutral sein. Hybride Gesellschaftsformen wie die GmbH & Co. KG „verdanken“ wir dem Dualismus der Unternehmensbesteuerung. Zum anderen bewirkt eine Rechtfertigung nach der Losung „Besteuerung nach Wahl“ Dummensteuereffekte, weil nur derjenige, der teuer und gut beraten ist, die „steueroptimierte“ Wahl treffen kann. Die Steuerrechtsordnung sollte aber nicht den gut Beratenen privilegieren. Und schließlich ist die Wahlmöglichkeit auch nicht in jedem Fall gegeben. Insbesondere eine spätere Umwandlung kostet Zeit und Geld und ist mitunter aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft oder wegen anderer außersteuerrechtlicher Rahmenbedingungen gar nicht zu verwirklichen.

III. Der Stellenwert des objektiven Nettoprinzips 1. Die Judikatur des BVerfG und ihre „Nebenwirkungen“ Wie angedeutet, hat das BVerfG die Frage, ob dem sog. objektiven Nettoprinzip Verfassungsrang zukommt, bis heute offen gelassen. Das objektive Nettoprinzip wurde bislang nur als einfach-gesetzlich verankertes Prinzip des EStG im Rahmen der Prüfung der Folgerichtigkeit herangezogen. Die jüngeren „Steuerreformgesetze“ enthalten vielfach Beschränkungen der steuerlichen Aufwandsberücksichtigung oder Verlustverrechnung, die unter dem Aspekt des objektiven Nettoprinzips problematisch sind. Die sog. Zinsschranke (§§ 4h EStG, 8a KStG) und die Regelung des § 8c KStG sind besonders unrühmliche Beispiele. Hier zu nennen sind aber beispielsweise auch Beschränkungen des Ansatzes (z. B. § 5 Abs. 3, 4, 4a EStG) oder systematische Unterbewertungen von Rückstellungen in der Steuerbilanz (z. B. §§ 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. e und f, 6a EStG). Manche reden gar der völligen Abschaffung von Rückstellungen bei der steuerlichen Gewinnermittlung das Wort52. Das BVerfG setzt dem bislang leider wenig entgegen. Die Zurückhaltung des BVerfG, sich zur verfassungsrechtlichen Fundierung des objektiven Nettoprinzips zu bekennen, mag auch einen Grund in der skizzierten Prämisse haben, wonach der Gesetzgeber „bei der Auswahl des Steuer-

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50 Vgl. Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16 (18 ff.); Wendt, FR 2006, 775; je m. w. N. 51 Zutr. Hey in Tipke/Lang, § 18 Rz. 535; FS für Raupach, 2006, S. 479 (482); SchulzeOsterloh, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 531 (537 f.); FS für Raupach, 2006, S. 531 (540). Vgl. auch BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434, Tz. 78 ff. 52 Vgl. Doralt, DB 1998, 1357; Wagner, DStR 1997, 517 (518 f.); ferner Weber-Grellet, DB 1997, 2233 (2235).

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gegenstandes … einen weitreichenden Entscheidungsspielraum“ habe53. Nimmt man diese Formulierung wörtlich, erscheint eine verfassungsrechtliche Fundierung des objektiven Nettoprinzips in der Tat zweifelhaft. Denn wenn es im „weitreichenden Ermessensspielraum“ des Gesetzgebers stünde, den Besteuerungsgegenstand auszuwählen, dann müsste es möglich sein, beispielsweise eine neue Steuer auf Unternehmensgewinne zu kreieren, bei der Erwerbseinnahmen nach dem Periodisierungsprinzip, Erwerbsausgaben aber nach dem Zuflussprinzip erfasst werden – womit das Imparitätsprinzip aus der steuerlichen Gewinnermittlung eliminiert wäre. Wenn das aber möglich wäre, wenn also der Gesetzgeber eine solche neue Steuer kreieren könnte, warum soll dann Selbiges nicht bereits im Rahmen des geltenden EStG zulässig sein? 2. Objektives Nettoprinzip als Unterprinzip des Leistungsfähigkeitsprinzips Wie gezeigt, sprechen indessen gute Gründe dafür, dass der Steuergesetzgeber bei der Auswahl des Besteuerungsgegenstandes nicht frei, sondern gebunden ist. Richtigerweise gilt bereits bei der Auswahl der Steuergegenstände das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Hieraus, aber auch aus dem Gebot der praktischen Vernunft, lässt sich sodann im Wege der wertenden Deduktion das objektive Nettoprinzip ableiten54. Wenn Steuern nur aus Liquidität oder zumindest aus Liquiditätspotentialen gezahlt werden können und die Besteuerung daher an der Fähigkeit ausgerichtet werden sollte, Cash zu generieren, dann müssen jedenfalls notwendige Erwerbsaufwendungen als negative Liquiditätspotentiale berücksichtigt werden. Der Einsatz, der für die Erzielung von positiven Liquiditätspotentialen notwendig ist, steht für eine Steuerzahlung nicht zur Verfügung. Wer 50 Euro ausgeben muss, um 200 Euro einzunehmen, der hat nur noch 150 Euro, die maximal für Steuerzahlungszwecke zur Verfügung stehen. An dieser Sachgesetzlichkeit kann auch der Fiskus nicht vorbei. Die steuerliche Leistungsfähigkeit im Beispiel mit 200 Euro anzusetzen, hieße, eine fiktive Größe zu unterstellen, die tatsächlich gar nicht zur Verfügung steht. Der Jubilar hat deshalb ganz zutreffend ausgeführt: „Ausdruck steuerlicher Leistungsfähigkeit sind niemals nur die erwirtschafteten Vermögenszugänge; steuerlich belastbar ist vielmehr nur das wirtschaftliche Ergebnis einer Erwerbstätigkeit“55. Insofern ist die Erkenntnis, dass

__________ 53 Oben II.2. 54 Vgl. z. B. Englisch, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 92 ff.; Hey, BB 2007, 1303 (1304); Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 109 (110); Jachmann, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 129 ff.; J. Lang, StuW 2007, 3 (8 ff.); Lehner, DStR 2009, 185 ff.; Tipke, StRO II2, S. 762 ff.; FS für Raupach, 2006, S. 177 ff.; JZ 2009, 533 (537 f.); Schlotter, Teilwertabschreibungen und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005, S. 223; Schön, FR 2001, 381 (382 f.); Schulze-Osterloh, FS für Raupach, 2006, S. 531 (532). Differenzierend Schneider, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 87 (90 f.): verfassungsrechtlich fundiert sei jedenfalls „das auf seine Kernaussage reduzierte objektive Nettoprinzip“, wonach mindestens „notwendige Erwerbsaufwendungen“, denen sich der Steuerpflichtige bei pflichtbestimmter Ausübung der Erwerbstätigkeit nicht entziehen kann, einnahmemindernd zu berücksichtigen sind. 55 J. Lang in Tipke/Lang, § 9 Rz. 54 m. w. N.; vgl. auch Tipke, JZ 2009, 533 (538).

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steuerlich relevantes Einkommen vernünftigerweise nur disponibles Einkommen sein kann, der Natur der Sache nach richtig. Was dabei „notwendige“ Erwerbsaufwendungen sind und damit indisponibles Einkommen ist, bestimmt sich danach, ob der Steuerpflichtige sich den Aufwendungen bei pflichtbestimmter Ausübung seiner Erwerbstätigkeit entziehen kann oder nicht56. In Grenzfällen entscheidet in der grundrechtlichen Werteordnung grds. der Bürger. In der freiheitlichen Grundordnung ist es dem Steuerbeamten nicht gestattet, besser zu wissen als der Bürger, was an Erwerbsaufwendungen erforderlich ist, beispielsweise was ein Unternehmen voranbringt57. Die Grundrechte, namentlich die Eigentums- und Berufsfreiheit, aber auch die Freiheit der Wohnortwahl und das Grundrecht auf Familienschutz, sichern das objektive Nettoprinzip auch freiheitsrechtlich ab. Das schließt zwar Typisierungen und Höhenbegrenzungen des Steuergesetzgebers nicht aus. Aber Durchbrechungen des objektiven Nettoprinzips stehen nicht zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers, sondern müssen stets gerechtfertigt sein. Ob das objektive Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht und damit das Verbot einer Brutto-Einkommensteuer sich zusätzlich aus Art. 106 GG ableiten lässt, wie Joachim Englisch meint58, erscheint mir allerdings zweifelhaft. Zwar ist zuzugeben, dass eine Brutto-Einkommensteuer Züge einer Umsatzsteuer hätte. Mit Klaus Tipke meine ich allerdings, dass Art. 106 GG insgesamt steuerrechtfertigungsneutral ist. Weder lässt sich aus Art. 106 GG etwas für die Legitimität der dort erwähnten Steuern herleiten59, noch ergibt sich daraus aber umgekehrt ein spezifischer, verfassungsrechtlich reservierter Inhalt der Einzelsteuern. Die inhaltliche Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers wird nicht durch Art. 106 GG begrenzt, sondern durch das Leistungsfähigkeitsprinzip und seine Unterprinzipien.

IV. Insbes.: Rückstellungen bei der steuerlichen Gewinnermittlung 1. Der Beschluss des BVerfG vom 12.5.2009 (2 BvL 1/00, Jubiläumsrückstellungen) Rückstellungen in der Steuerbilanz sind bereits seit längerem in der rechtspolitischen Diskussion. Das EStG dünnt die Passivseite der Steuerbilanz zunehmend aus. Manche Rückstellungen dürfen unter Durchbrechung des Grundsatzes der Maßgeblichkeit (§ 5 Abs. 1 EStG) in der Steuerbilanz erst gar nicht gebildet werden (vgl. insb. § 5 Abs. 4, 4a EStG). Die noch anzusetzenden Rück-

__________ 56 Schneider, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 87 (90 f.); a. A. z. B. Wernsmann, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 101 f., wonach die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen kein Kriterium sein soll. 57 Treffend Tipke, StRO II2, S. 772; ferner Englisch, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 92 (94 f.); Jachmann, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 129 (130 f.). 58 Vgl. Englisch, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 92 f.; ebenso Jachmann, ebda., S. 129 f. 59 So zutr. Tipke, StRO II2, S. 577.

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stellungen werden gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. e und f EStG (Gebot der Abzinsung trotz strikter Stichtagsbetrachtung) und gem. § 6a EStG (nicht realitätsgerechte Bewertung von Pensionsrückstellungen) systemwidrig unterbewertet. Andere fordern gar die völlige Abschaffung von Rückstellungen bei der steuerlichen Gewinnermittlung60. Die Größenordnung der Problematik wird daran ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei der Modernisierung des Handelsbilanzrechts durch das BilMoG, in dessen Zuge die HGB-Vorschriften zur Rückstellungsbewertung modernisiert und an internationale Maßstäbe angepasst wurden, allein bei den Pensionsrückstellungen mit Rückstellungszuführungen i. H. v. insgesamt 50 Mrd. Euro rechnet. Da diese Schätzung darauf beruht, dass die bisherigen Wertansätze in den Handelsbilanzen in Anwendung des § 6a EStG errechnet wurden, kann man davon ausgehen, dass die Wertansätze in den Steuerbilanzen um diesen Betrag (50 Mrd. Euro) zu niedrig angesetzt sind. Die Kritiker der Rückstellungen in der Steuerbilanz, allgemein die Kritiker des Maßgeblichkeitsgrundsatzes gem. § 5 Abs. 1 EStG, bekommen durch den jüngsten Beschluss des BVerfG vom 12.5.200961 zu den sog. Jubiläumsrückstellungen neuen Auftrieb. Nach dieser Entscheidung ist die Regelung des § 52 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG i. d. bis 1998 gültigen Fassung des Steuerreformgesetzes 199062, wonach die Bildung von Jubiläumsrückstellungen für die Veranlagungszeiträume 1988 bis 1992 untersagt war und schon gebildete Rückstellungen gewinnerhöhend aufzulösen waren, mit dem GG vereinbar. Zwar weiche die Regelung vom Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 Abs. 1 EStG ab. Diese Abweichung unterliege aber „jedenfalls bei Rückstellungen … lediglich den verfassungsrechtlich zurückhaltend zu kontrollierenden Anforderungen des Willkürverbots“63. Der Grundsatz der Maßgeblichkeit sei „nicht etwa … eine strikte, einmal getroffene Belastungsgrundentscheidung des Gesetzgebers, sondern … eine entwicklungsoffene Leitlinie“, der „seine Existenz seit jeher nicht primär Überlegungen zur gerechten Verteilung von Steuerlasten“ verdanke, sondern „in erster Linie – als Instrument zur Vermeidung einer sonst notwendigen zweifachen Rechnungslegung – auf Gründen der Praktikabilität der unternehmerischen Gewinnermittlung“ beruhe64. „Jedenfalls“ beträfen „Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Rückstellung ausschließlich den maßgeblichen Zeitpunkt der einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung eines gewinnmindernden Aufwands, also das Wann, nicht das Ob der Besteuerung“.

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60 Vgl. oben Fn. 52. 61 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 = BStBl. II 2009, 685 = FR 2009, 873 m. Anm. Buciek = NZG 2009, 836 = BB 2009, 1408. – Der Beschluss betrifft einen Einkommensteuerbescheid aus dem Jahr 1988 aufgrund einer Betriebsprüfung von 1990. Nachdem das Verfahren bereits bis zur Vorlage durch den BFH (BFH v. 10.11.1999 – X R 60/95, FR 2000, 261 m. Anm. Weber-Grellet = DStR 2000, 233) neun Jahre gedauert hat, ließ das BVerfG sich nochmals sage und schreibe 9 Jahre bis zu seinem Beschluss Zeit. Ein Steuerverfahren, das beinahe 20 Jahre dauert, ist rechtsstaatlich problematisch. 62 Gesetz v. 25.7.1988 (BGBl. I 1988, 1093). 63 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, FR 2009, 873 m. Anm. Buciek, Tz. 29. 64 Ebda., Tz. 34.

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Der maßgebliche Zeitpunkt lasse sich „aber nicht mit Hilfe des Maßstabs wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit oder des objektiven Nettoprinzips bestimmen“65. Dogmatische Strukturen zu entwickeln oder zu kontrollieren sei nicht Sache des BVerfG, sondern bleibe der Gesetzgebung und der Fachgerichtsbarkeit überlassen66. 2. Kritik a) Rückstellungen: Schulden der Periode Der Entscheidung ist zu widersprechen67. Rückstellungen sind in einem System der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich systemkonform68. Rückstellungen sind Schulden der Periode. Systemprägendes Kennzeichen der Gewinnermittlung durch Bilanzen ist die Periodisierung. Dem entspricht auf der Aktivseite der Ansatz von Vermögensgegenständen, auch wenn noch kein Zufluss erfolgt ist, korrespondierend konsequenterweise auf der Passivseite der Ansatz von Schulden, auch wenn noch kein Abfluss erfolgt ist. Verbindlichkeitsrückstellungen haben die Funktion, wirtschaftliche Lasten der Periode abzubilden und Ausgaben der Periode ihrer wirtschaftlichen Verursachung zuzuordnen69. In einer Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich ist der Ansatz von Rückstellungen deshalb folgerichtig. Rückstellungen bilden bei wirtschaftlicher Betrachtung (entgegen einem verbreiteten Missverständnis) auch nicht erst künftige, sondern durchaus aktuelle Lasten ab70. Das belegt ein gedanklicher „Teilwerttest“: Denn ein gedachter Erwerber des Betriebes würde Lasten, für die nach den GoB Rückstellungen zu bilden sind, als Abzugsposten berücksichtigen71. Daher mindern ungewisse, aber wahrscheinliche Verbindlichkeiten gegenüber Dritten, für die Rückstellungen allein gebildet werden dürfen, bereits aktuell das disponible Einkommen des Bilanzierenden72. Der Bürger kann die zur Deckung der Rückstellung benötigten Mittel nicht frei verteilen, sondern benötigt sie für die Begleichung der ungewissen Verbindlichkeit. Die zur Deckung der Rückstellung erforderlichen Mittel sind bei pflichtbestimmter Ausübung der Erwerbstätigkeit indisponibel und deshalb auch dem Steuerzugriff entzogen. Hinzu kommt, dass der Steuerzugriff sich nach dem Prinzip der Unternehmensschonung und des Übermaßverbotes nur auf hinreichend sicheres Vermögen

__________ 65 66 67 68 69 70 71 72

Ebda., Tz. 35. Ebda., Tz. 32. Berechtigte Kritik auch von Hey, DStR 2009, 2561 (2565 ff.); Schlotter, BB 2009, 1411 f. Vgl. Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (314 ff.); Prinz, FS für Raupach, 2006, S. 279 (291, 296); Schlotter, BB 2009, 1411 f.; Schulze-Osterloh, FS für Friauf, 1996, S. 833 (836 f.); Söffing, StbJb 1988/89, S. 121 (130 f.); Tipke, StRO II2, S. 693. Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (319) m. w. N. Vgl. auch Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Komm. zum EStG, § 2 Rn. A139. Zutr. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der ESt, 1981/88, S. 370. Ähnlich Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Komm. zum EStG, § 2 Rn. A139, A144: „materielle betriebliche Last“, die „als Minderung der Besteuerbarkeit zu beachten“ ist.

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stützen darf73. Pezzer hat mit Recht betont: „Ein mit Unwägbarkeiten und Zweifeln behafteter Vermögenszuwachs ist kein sicherer Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit […] Daraus folgt die Notwendigkeit, bei der Gewinnermittlung zweifelhaftes Vermögen zu eliminieren.“74 Eben das geschieht durch Rückstellungen75. Rückstellungen in der Steuerbilanz auszublenden heißt, zweifelhaftes Vermögen der Besteuerung zu unterwerfen. b) Rückstellungen vs. Überschusseinkünfte: Folgerichtigkeit im jeweiligen Subsystem Wenn das BVerfG dagegen meint, Rückstellungen bedürften wegen der durch sie erreichbaren Zins- und Liquiditätsvorteile und daraus resultierenden Steuerstundungseffekten „mit Blick auch auf die Überschusseinkünfte ihrerseits einer Rechtfertigung“76, so wechselt es argumentativ die Ebene und vermischt das Zuflussprinzip der Überschusseinkünfte mit dem ganz anders gearteten Periodisierungsprinzip der Bilanzierung. Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich, dann ist das Zuflussprinzip nicht der richtige Maßstab für die folgerichtige Umsetzung der Gewinnermittlungsmethode77. Folgerichtigkeit erfordert Stimmigkeit innerhalb des Subsystems78. Mehrungen und Minderungen des Vermögens des Steuerpflichtigen sind nach einheitlichen Prinzipien abzubilden, d. h. bei der Erfassung und Periodisierung von Aufwendungen und Erträgen sind im Grundsatz gleichartige Maßstäbe anzuwenden. Wenn das Gesetz die Einnahmen nach der Aktivierbarkeit erfasst und beispielsweise den Ansatz von Forderungen noch vor dem Zufluss vorschreibt, dann muss für die Ausgaben folgerichtig die Passivierbarkeit, d. h. der Ansatz von Schulden noch vor einem Zahlungsmittelabfluss entscheidend sein79. Die Steuerbilanz gleichsam zu halbieren und nur noch auf der Aktivseite zu periodisieren, Ausgaben aber nach dem Zuflussprinzip zu erfassen, ist systematisch unstimmig und beeinträchtigt die Folgerichtigkeit80. c) Rückstellungen, Maßgeblichkeit und objektives Nettoprinzip Das BVerfG sieht denn wohl auch selbst diese Inkonsequenz, will ihr aber dadurch ausweichen und die Problematik der Folgerichtigkeit beiseite schieben, indem es postuliert, es gehe bei dem in Rede stehenden Ansatzverbot für Rück-

__________ Tipke, StRO II2, S. 692. Pezzer, DStJG 14 (1991), S. 3 (24 f.). Hennrichs, DStJG 24 (2001), S. 301 (321); Prinz, FS für Raupach, 2006, S. 279 (291). BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, FR 2009, 873 m. Anm. Buciek Tz. 36. Zutr. Schlotter, BB 2009, 1411 f.; ferner Schön, StuW 1995, 366 (371); SchulzeOsterloh, FS für Friauf, 1996, S. 833 (843). 78 Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (310); Hey, DStR 2009, 2561 (2565); Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 12 (15 f.). 79 Schön, StuW 1995, 366 (371); Schulze-Osterloh, FS für Friauf, 1996, S. 833 (843); Söffing, StbJb 1988/89, S. 121 (130 f.). 80 Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (310 f.). 73 74 75 76 77

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stellungen gar nicht um die Abweichung von einer gesetzgeberischen Belastungsentscheidung (was Folgerichtigkeit verlangt), sondern nur um die Durchbrechung des einfachgesetzlichen Maßgeblichkeitsprinzips, das ohnehin nie wirklich durchgehalten worden sei. An diesem Argument ist bereits fragwürdig, dass das BVerfG damit einfachgesetzlicher Prinzipienlosigkeit Vorschub leistet – nach dem Motto, ein Prinzip muss nur lange und häufig genug durchbrochen werden, dann ist es nur noch eine Leitlinie, die bis zur Grenze der Willkür munter weiter durchbrochen werden darf! Richtigerweise darf aus Durchbrechungen eines Prinzips aber doch keine Prinzipienlosigkeit geschlussfolgert werden, sondern die Durchbrechungen sind umgekehrt auf ihre Rechtfertigung hin zu überprüfen. Zum anderen bleibt der Aspekt des Nettoprinzips unberücksichtigt. Rückstellungen bilden in einem System der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich Aufwand ab. Werden Rückstellungen in der Steuerbilanz nicht zugelassen, wird die Saldogröße verfälscht; das ist in dieser Periode eine Beeinträchtigung des Nettoprinzips81. d) Gerechtigkeit in der Zeit Das BVerfG meint hiergegen, der Ansatz von Rückstellungen betreffe „ausschließlich den maßgeblichen Zeitpunkt der einkommensteuerlichen Berücksichtigung des Aufwands, also das Wann, nicht das Ob“, und „der maßgebliche Zeitpunkt“ lasse „sich nicht mit Hilfe des Maßstabs der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit oder des objektiven Nettoprinzips bestimmen“82. Dem ist ebenfalls nicht zu folgen. Der erste Begründungsteil ist schon deshalb angreifbar, weil er den Faktor Zeit vernachlässigt. Zeit und Zins können beträchtliche Effekte haben, die aufgrund der Jährlichkeit der progressiven Einkommensbesteuerung sogar endgültig wirken können. Dass aus dem Leistungsfähigkeits- und dem objektiven Nettoprinzip sich nichts für den maßgebenden Zeitpunkt der Besteuerung gewinnen lasse, ist ebenfalls nicht ausgemacht. Wegen der Jährlichkeit der progressiven Einkommensbesteuerung und wegen der Einschränkungen bei der überperiodischen Verlustverrechnung ist im Gegenteil Gerechtigkeit in der Zeit zu fordern: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist zeitgerecht zu erfassen83. Dass steuerlicher Aufwand „irgendwann“ berücksichtigt wird, genügt nicht, es muss in der richtigen Zeit sein, d. h. zu dem Zeitpunkt, der in dem jeweiligen Subsystem der Einkünfteermittlung folgerichtig ist. Rückstellungen bringen eine im Veranlagungszeitraum entstandene betriebliche Last zur Geltung. Diese ist als Minderung des disponiblen Einkommens zu berücksichtigen84.

__________

81 Zutr. Söffing, StbJb 1988/89, S. 121 (130 ff.). 82 BVerfG, a. a. O., Tz. 35; in die gleiche Richtung BFH v. 9.5.2001 – XI B 151/00, BStBl. II 2001, 552 (554) = FR 2001, 777 m. Anm. Hallerbach wonach das objektive Nettoprinzip „von Verfassungs wegen nicht notwendigerweise in jedem einzelnen – aus rein erhebungstechnischen Gründen gewählten – Veranlagungszeitraum zu verwirklichen“ sein soll (unter Hinweis auf Lang in Tipke/Lang, a. a. O., § 9 Rz. 44). 83 Vgl. Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Komm. zum EStG, § 2 Rn. A136. 84 Ähnlich Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Komm. zum EStG, § 2 Rn. A139, A144.

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Im Übrigen müsste bei einem Ausschluss von Rückstellungen bei der steuerlichen Gewinnermittlung zumindest sichergestellt sein, dass eine spätere Realisierung der Aufwendungen sich steuerlich noch auswirkt85. Das ist nach den geltenden Vorschriften zur Verlustberücksichtigung aber nicht immer gewährleistet. Auch dieser Zusammenhang zeigt, dass die aufgeschobene Berücksichtigung von Aufwand mitunter endgültig wirken kann, was die Beeinträchtigung des objektiven Nettoprinzips offenbart. e) Reichweite des Gebots der Folgerichtigkeit Der Sache nach bedeutet der Beschluss des BVerfG zu den Jubiläumsrückstellungen eine partielle Zurücknahme des Gebots der Folgerichtigkeit „jedenfalls“ für den Bereich der Rückstellungen in der Steuerbilanz. Das überzeugt nicht86. Für das Gebot der Folgerichtigkeit gibt es richtigerweise keine Exklave. Es gilt als Ausfluss des Art. 3 GG und des Rechtsstaatsprinzips87 universell. Wertungswidersprüche zu vermeiden, ist eine vornehme Aufgabe des Rechts im Allgemeinen. Wenn aber das Prinzip der Folgerichtigkeit allgemein gilt, dann gilt es auch für das Steuerrecht als Ganzes und durchgängig88. Die Judikatur des BVerfG führt zu problematischen Ungleichheiten. Die „dogmatischen Streitfragen“, die das Gericht im Beschluss zu den Jubiläumsrückstellungen lieber nicht selbst entscheiden will, gehören zur steuerlichen Gewinnermittlung und damit zum Kernbereich der Bemessungsgrundlage. Sie sind ein wesentlicher Baustein des Steuertatbestandes. Steuerbilanzrechtsfragen sind aber ebenso wichtig wie Fragen der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Fahrtaufwendungen, Arbeitsmitteln oder Sonderausgaben. Wenn das BVerfG das Steuerbilanzrecht der Gestaltungsfreiheit des einfachen Gesetzgebers bis zur Willkürgrenze preis gibt, reduziert es die verfassungsrechtliche Kontrolle in einem praktisch besonders bedeutsamen Bereich des Steuertatbestandes. Eine auf die Anforderungen des Willkürverbots beschränkte Kontrolldichte für bestimmte, möglicherweise besonders schwierige Teile der Bemessungsgrundlage ist nicht akzeptabel. Die einzelnen Bausteine des Steuertatbestandes sind verfassungsrechtlich gleichwertig und verdienen alle dieselbe Aufmerksamkeit des BVerfG. Die Ermittlung der Einkünfte muss denselben verfassungsrechtlichen Grundsätzen genügen wie andere Elemente des Steuertatbestandes auch89. Eine Oase der bloßen Willkürkontrolle ist für kein Element des Steuertatbestandes angemessen. Das Gebot der Folgerichtigkeit bezieht sich entgegen der Auffassung des BVerfG im JubiläumsrückstellungsBeschluss nicht allein auf die „zentralen Fragen gerechter Belastungsvertei-

__________ 85 Vgl. z. B. Schön (o. Fn. 78), S. 88; Hey, BB 2007, 1303 (1305). 86 Ebenso Hey, DStR 2009, 2561 (2566 f.); Schlotter, BB 2009, 1411 f. 87 Zutr. Englisch, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 92 (100); ganz anders Lepsius, JZ 2009, 260, der das Folgerichtigkeitsprinzip als „richterrechtlich erfundenes Prinzip“ abtut. 88 Vgl. auch Tipke, JZ 2009, 533 (537). 89 Zutr. Schulze-Osterloh, FS für Friauf, 1996, S. 833 (834).

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lung“, sondern auch auf die system- und wertungskonsequente Tatbestandsausgestaltung einzelner Steuernormen90. Die vom BVerfG implizit befürwortete neue Zweiteilung, wonach bei einem – endgültigen Ausschluss der Aufwandsberücksichtigung eine Beeinträchtigung des objektiven Nettoprinzips vorliegt, dasselbe eine Grundentscheidung i. S. d. Prinzips der Folgerichtigkeit ist und Ausnahmen daher eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes bedürfen, wohingegen – ein nur zeitweilig wirkender Aufschub der Aufwandsberücksichtigung durch das Verbot des Ansatzes von Rückstellungen keine Beeinträchtigung des objektiven Nettoprinzips darstelle, sondern nur eine Abweichung vom Grundsatz der Maßgeblichkeit, der keine Grundentscheidung i. S. d. Folgerichtigkeitsanforderung markiere, weshalb die verfassungsgerichtliche Kontrolle hier auf eine Willkürkontrolle reduziert sei, ist abzulehnen. Richtigerweise ist das Verbot des Ansatzes von Rückstellungen bei der steuerlichen Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich ebenfalls am Gebot der Folgerichtigkeit zu messen. Schließlich ergibt sich im Fall des zeitweisen Verbots von Jubiläumsrückstellungen noch eine weitere gleichheitsrechtliche Problematik, auf die das BVerfG leider gar nicht eingeht: Rückstellungen für Jubiläumszuwendungen sind nur ein Anwendungsfall der allgemeinen Kategorie von Verbindlichkeitsrückstellungen. Warum aber die Passivierung gerade in diesem einen Fall ausgeschlossen ist, in anderen dagegen nicht, und warum der Ausschluss auch nur zeitweise gelten soll, all das ist begründungsbedürftig91. Einleuchtende Gründe für diese Eigentümlichkeiten sind nicht erkennbar.

V. Zusammenfassung in Thesen Der Gesetzgeber ist im Erfinden und Modellieren von Steuern nicht frei, sondern er hat bereits bei der Ausgangsentscheidung, welche Steuer erhoben werden soll, das Verfassungsprinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und das Gebot der Systembildung zu beachten. Einzelsteuergesetze müssen sich sinnvoll in eine als Ganzheit gedachte Steuerrechtsordnung einpassen. Das erfordert eine Abstimmung der Steuerarten untereinander. Das geltende Steuerrecht ist von diesem Ideal einer Steuerrechtsordnung noch weit entfernt. An der Entwicklung einer Steuerrechtsordnung mitzuwirken, ist eine gemeinsame Aufgabe von Gesetzgebung, Wissenschaft und BVerfG.

__________ 90 Zutr. Englisch, Beihefter zu DStR 2009, Heft 34, S. 92 (100). 91 Zutr. Schulze-Osterloh, FS für Friauf, 1996, S. 833 (843); Hey, DStR 2009, 2561 (2565).

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Das sog. objektive Nettoprinzip ist nach zutreffender Ansicht verfassungsrechtlich fundiert und steht nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Es steht beispielsweise einer Brutto-Einkommensteuer entgegen. Jüngere Entscheidungen des BVerfG zum Unternehmens- und Bilanzsteuerrecht, zuletzt der Beschluss des BVerfG vom 12.5.2009 zur Verfassungsmäßigkeit des zeitweisen Ansatzverbots für sog. Jubiläumsrückstellungen, lassen dem Gesetzgeber eine zu weitreichende Gestaltungsfreiheit und werden der Bedeutung dieser Teilgebiete des Steuerrechts nicht gerecht. Fragen des Unternehmens- und Bilanzsteuerrechts sind verfassungsrechtlich nicht weniger wichtig als Fragen der Familienbesteuerung, des Existenzminimums oder der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Es ist nicht konsequent, in den zuletzt genannten Feldern eine strenge verfassungsgerichtliche Kontrolle auszuüben, dem Gesetzgeber aber bei der Gestaltung des Unternehmens- und Bilanzsteuerrechts bis zur Grenze der Willkür freie Hand zu lassen. Eine Oase der bloßen Willkürkontrolle ist für kein Element des Steuertatbestandes angemessen, vielmehr gilt das Gebot der Folgerichtigkeit universell.

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Das Bundesverfassungsgericht und die Unternehmensbesteuerung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts für die verfassungsrechtliche Beurteilung steuerrechtlicher Vorschriften 1. Der Ausgangspunkt: das Leistungsfähigkeitsprinzip und das Gebot der Folgerichtigkeit 2. Ausnahme für den Sonderfall der Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten

III. Voraussetzungen für die sachgerechte Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots IV. Konsequenzen für die Anwendung des Gebots der Folgerichtigkeit auf Jubiläumsrückstellungen V. Fazit

I. Einleitung In der Festschrift für Arndt Raupach1 habe ich mich im Jahre 2006 zum Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zur Unternehmensbeteuerung geäußert. Die darin geschilderte Beobachtung, daß sich das Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Regelungen des Unternehmensteuerrechts sehr zurückhält, wird von anderen geteilt2. Es ist von einer geringeren Schutzwirkung des Verfassungsrechts gegenüber den Normen des Unternehmensteuerrechts die Rede3. Die seit dem Jahre 2006 ergangene weitere Rechtsprechung gibt nun Anlaß, erneut das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zur Unternehmensbesteuerung zu beleuchten. Neben dem Beschluß des Ersten Senats vom 15.1.20084, der nicht nur die Gewerbesteuer, sondern speziell auch die Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG für verfassungsgemäß gehalten hat5, ist in diesem Zusammenhang der Beschluß des Zweiten Senats vom 12.5.20096 zu Rückstel-

__________ 1 Kirchhof/Schmidt/Schön/Vogel (Hrsg.), Festschrift für Arndt Raupach zum 70. Geburtstag. Steuer- und Gesellschaftsrecht zwischen Unternehmerfreiheit und Gemeinwohl, 2006, S. 531 ff. 2 Drüen, Ubg 2009, 23; Hey, StbJb. 2007/2008, 19 (50). 3 Hey, DStR 2009, 2561 (2562). 4 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (24 ff., 43 ff.) = FR 2008, 818 m. Anm. Keß. 5 Dazu halte ich an meiner in FS Raupach, 2006, 531 (535 ff.) geäußerten Auffassung fest. 6 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 ff. = BStBl. II 2009, 685 ff. = DStRE 2009, 922 ff. = FR 2009, 873 ff. m. Anm. Buciek.

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lungen für Jubiläumszuwendungen von besonderer Bedeutung. § 52 Abs. 6 EStG i. d. F. des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25.7.19887 beschränkte den Ansatz solcher Rückstellungen auf Verpflichtungen des Unternehmers, die auf einer Zusage nach dem 31.12.1992 beruhten und schrieb weiterhin vor, daß schon gebildete Rückstellungen in den Bilanzen des nach dem 30.12.1988 endenden Wirtschaftsjahres und in den beiden folgenden mit mindestens je einem Drittel gewinnerhöhend aufzulösen seien. Der Zweite Senat hält diese Regelung für verfassungsgemäß. Die nachstehenden Überlegungen sind Joachim Lang gewidmet, der immer wieder eine mit den Grundsätzen unserer Verfassung im Einklang stehende Steuergesetzgebung angemahnt8 und durch sein umfangreiches rechtspolitisches Engagement9 sehr dazu beigetragen hat, Vorstellungen über ein verfassungsmäßiges Steuerrecht zu vermitteln.

II. Der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts für die verfassungsrechtliche Beurteilung steuerrechtlicher Vorschriften 1. Der Ausgangspunkt: das Leistungsfähigkeitsprinzip und das Gebot der Folgerichtigkeit In Anlehnung an frühere Entscheidungen10 begrenzt das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluß vom 12.5.2009 die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers durch das Leistungsfähigkeitsprinzip in Verbindung mit dem Gebot der Folgerichtigkeit11. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird insoweit durch das objektive und das subjektive Nettoprinzip verwirklicht, wobei unverändert offenbleibt, ob das objektive Nettoprinzip Verfassungsrang hat. Jedenfalls betont das Bundesverfassungsgericht, daß „Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen Belastungsentscheidung eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes“ bedürften12.

__________ 7 Art. 1 Nr. 73 Buchst. e, BGBl. I 1988, 1093 (1112). 8 Aus neuester Zeit Lang, Gleichheitswidrigkeit und gleichheitsrechtliche Ausgestaltung der erbschaftsteuerlichen Verschonung, FR 2010, 49 ff. 9 Mitglied der sog. Brühler Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung mit Darlegungen zu den Perspektiven der damals versuchten Unternehmensteuerreform, Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, 1999, Anhang Nr. 1; Vorsitzender der Lenkungsgruppe der Kommission „Steuergesetzbuch“ unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft; Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes. Münsteraner Symposion, Band II, 1985; Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer. Ziele, Chancen und Aufgaben einer Fundamentalreform, 1987; Lang u. a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005. 10 Rechtsprechungsnachweise bei Schulze-Osterloh, FS Gauweiler, 2009, 275 (278 Fn. 18), (280 Fn. 25, 26). 11 B I 1 b der Gründe (Fn. 6). 12 B I 1 c der Gründe (Fn. 6).

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Das Bundesverfassungsgericht und die Unternehmensbesteuerung

2. Ausnahme für den Sonderfall der Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten Dieser zunächst wiederholte Prüfungsmaßstab des besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes wird – so das Bundesverfassungsgericht unmittelbar anschließend13 – durch die Annahme eines bloßen Willkürverbotes ersetzt, soweit es sich um Abweichungen von den durch den Maßgeblichkeitsgrundsatz vorgegebenen Regeln für die Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten handelt14. Über die Gründe dieser Veränderung des Prüfungsmaßstabes ist gerätselt worden15.

III. Voraussetzungen für die sachgerechte Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots Sachgerechte Erwägungen zur Folgerichtigkeit einer Regelung erfordern, daß die Grundentscheidung des Gesetzgebers in ihren wesentlichen Elementen bekannt ist, so daß sich Aussagen darüber treffen lassen, ob und inwieweit die zu beurteilende Regelung von dieser Grundentscheidung abweicht16. So formuliert Tipke: Der „Anwender des Gleichheitssatzes muß auch die systemkonstituierenden Prinzipien des einschlägigen Rechtsgebiets sicher kennen“17. Im Falle von bilanzrechtlichen Normen ist daher die Kenntnis der Grundlagen der doppelten Buchführung unverzichtbar. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, bleibt nur die Flucht in eine bloße Willkürprüfung. Daß es an dieser erforderlichen Kenntnis fehlt, erschließt sich aus der Entscheidung an Hand einiger Indizien. Einleitend18 beschreibt der Zweite Senat die Aufgabe von Rückstellungen: „Rückstellungen haben die Aufgabe, künftige Aufwendungen, die am Bilanzstichtag dem Grunde oder der Höhe nach noch nicht ‚sicher‘ festzustellen sind, sondern erst in einer späteren Periode zu einer nach Bestand, Höhe und Fälligkeit feststehenden Ausgabe führen, der Periode ihrer wirtschaftlichen Verursachung zuzurechnen.“

Diese Aussage offenbart eine Reihe von Fehlvorstellungen, vor allem werden Aufwendungen und Ausgaben miteinander vermengt. Rückstellungen sind Passivposten, mit denen Verbindlichkeiten ausgewiesen werden, die sich von anderen Schulden nur dadurch unterscheiden, daß sie am Abschlußstichtag dem Grunde oder der Höhe nach ungewiß sind, wobei der Bestand oder das Entstehen der Verbindlichkeit hinreichend wahrscheinlich ist und der Bilanzierende trotz der Ungewißheit ernsthaft damit rechnen muß, aus dieser Ver-

__________ 13 B I 2 der Gründe (Fn. 6). 14 Diese grundlegende Wende verkennt Buciek, FR 2009, 877 f. 15 Drüen, JZ 2010, 91 (93); Hey, DStR 2009, 2561 (2565); kritisch auch Lempenau, DB 2009, Heft 28/29, S. I (Gastkommentar). 16 Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (834). 17 Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2. Aufl. 2000, § 7, 5.85, S. 320. 18 A I 1 a der Gründe (Fn. 6).

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bindlichkeit in Anspruch genommen zu werden19. Fehlt es an dieser ernsthaften Gefahr der Inanspruchnahme, kommt eine Rückstellung nicht in Betracht. Mit der Buchung einer solchen Rückstellung für eine ungewisse Verbindlichkeit wird im Geschäftsjahr der Buchung zugleich eine ihr entsprechende Aufwendung ausgewiesen. Die Rückstellung bringt also keine künftige, sondern eine gegenwärtige Aufwendung zum Ausdruck. Künftig ist allein der Mittelabfluß, also die Ausgabe, die aber nach § 252 Abs. 1 Nr. 5 HGB für die Ergebnisermittlung im Rahmen der doppelten Buchführung keine Rolle spielt20. Wird in einem späteren Geschäftsjahr tatsächlich gezahlt, mindert die Ausgabe zwar den Geldbestand, zugleich aber wird die Rückstellung aufgelöst, so daß sich Aktiv- und Passivseite der Bilanz gleichsinnig mindern. Eine für den Ergebnisausweis relevante Änderung des Vermögens des Bilanzierenden tritt nicht ein. Völlig unerheblich ist die in diesem Zusammenhang vom Bundesverfassungsgericht erwähnte „Fälligkeit“ der Ausgabe. Der Zeitpunkt des Mittelabflusses kann allenfalls bei der Bewertung der Rückstellung durch Abzinsung berücksichtigt werden, wie das für das Steuerrecht in § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e) EStG für Rückstellungen mit einer Restlaufzeit von einem Jahr und mehr und für das Handelsrecht in § 253 Abs. 2 Satz 1 HGB für Rückstellungen mit einer Restlaufzeit von mehr als einem Jahr vorgeschrieben ist. Des weiteren unterscheidet das Bundesverfassungsgericht nicht zwischen den Verbindlichkeitsrückstellungen, die in Gestalt der Rückstellung für Jubiläumszuwendungen allein Gegenstand des Verfahrens waren, und den Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften. Nur für diese sog. Verlustrückstellungen wird im Schrifttum kontrovers erörtert, ob ihr Ansatz auch eine aktuelle Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit bedeutet21. Und nur diese Frage betraf das Zitat22 unter B I 2 b bb der Gründe. Dagegen

__________ 19 BFH v. 2.10.1992 – III R 54/91, BFHE 169, 423 (425) = BStBl. II 1993, 153 (154) = FR 1993, 85; Hennrichs in Münchener Kommentar zum AktG, Band 5/1, 2. Aufl. 2003, § 249 HGB Rn. 18; Kleindiek in Staub, HGB, Band III/1, 4. Aufl. 2002, § 249 HGB Rn. 28, 30; Kozikowski/Schubert in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 7. Aufl. 2010, § 249 HGB Rn. 24, 42 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301, (321); Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (836); Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 67 (72). 20 Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (843). 21 Bejahend die wohl überwiegende Meinung Crezelius in Kirchhof, EStG KompaktKommentar. Einkommensteuergesetz, 9. Aufl. 2010, § 5 EStG Rn. 138: Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 17 Rn. 78, S. 766; Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, S. 370; Wiesbrock, Die Verlustrückstellung im Steuer- und Verfassungsrecht, 1999, 85 f.; Arndt/Wiesbrock, DStR 2000, 718 (719); Bordewin, FR 1998, 226 (231 ff.); Groh, DB 1999, 978 (980 f.); Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (319 ff.); Herzig/Rieck, BB 1998, 311 (313 ff.); Küting/Kessler, StuB 2000, 21 (26 f.); Moxter, DB 1997, 1477 f.; Moxter, DStR 1998, 509 (510). Verneinend Schreiber in Blümich, EStG, KStG, GewStG, Nebengesetze, § 5 EStG Rn. 883b (EL 95, Mai 2007); Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 67 (72 ff.); Siegel, StuB 1999, 195 (197); Siegel, StuB 2000, 29 (31 ff.); Weber-Grellet, DB 1997, 2233 (2235); zweifelnd Lambrecht in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 5 EStG Rn. Ea 22 (EL 86, Jan. 1999). 22 Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 67 (72 ff.).

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wird für Verbindlichkeitsrückstellungen – da sie Verbindlichkeiten gleichstehen23 – nirgends erwogen, daß sie nicht die steuerliche Leistungsfähigkeit minderten. Ihr Ausweis verstößt nicht gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip24. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich also für seine Zweifel an der Beeinträchtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit durch die Tatbestände, die zu Verbindlichkeitsrückstellungen führen, auf eine andere Fallgruppe, die der Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften. Schließlich verweist das Bundesverfassungsgericht für die zeitliche Berücksichtigung eines gewinnmindernden Aufwandes auf die Gewinnermittlung im Bereich der Überschußeinkünfte25. Insofern ist zutreffend erkannt, daß es bei diesen auf den Zufluß und Abfluß von Einnahmen und Ausgaben ankommt. Daraus ergibt sich jedoch nicht die Rechtfertigung, im Rahmen der Gewinneinkünfte die Berücksichtigung von Aufwendungen von einem entsprechenden Abfluß abhängig zu machen26. Das Bundesverfassungsgericht beachtet nämlich nicht, daß bei Gewinneinkünften auch die Berücksichtigung von Einnahmen in Gestalt von Erträgen vorgezogen wird27. Insofern besteht zwingend eine Symmetrie zwischen der Ertrags- und Aufwandsseite28. Weicht man hiervon ab, wird der grundsätzliche Unterschied zwischen der Gewinnermittlung durch Bilanzierung und durch Einnahmen-Überschuß-Rechnung verkannt29. Geht man von diesen einfachen Grundregeln der doppelten Buchführung und der Bilanzierung aus, so handelt es sich nicht um die Beurteilung „komplexer dogmatischer Streitfragen“30, deren verfassungsrechtliche Relevanz zweifelhaft sein mag. Vielmehr kann das Gebot der Folgerichtigkeit im überkommenen Sinne beachtet werden, nämlich in der Weise, daß Abweichungen von der Folgerichtigkeit eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes bedürfen. Als komplex und dogmatisch kann schließlich auch nicht die Frage angesehen werden, ob die Rückstellung für Jubiläumszuwendungen als eine Verbindlichkeitsrückstellung anzusehen ist. Die Jubiläumszuwendung gilt die Betriebstreue des Arbeitnehmers in den Jahren ab, auf die sie sich bezieht. Im Laufe der Zeit entsteht so ein jährlich anwachsender Erfüllungsrückstand des Arbeitgebers, also eine Verbindlichkeit, die zur Bildung der Rückstellung führt. Diese Auffassung hat der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung vom 5.2.199731

__________ 23 Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301 (321); Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (835 ff.); Schulze-Osterloh, DStJG 23 (2000), 67 (72). 24 Allgemein für Rückstellungen Lang, Reformentwurf (Fn. 9), S. 57 f. 25 B I 2 b bb der Gründe (Fn. 6). 26 Zutreffend Schlotter, BB 2009, 1411 (1412). 27 Hey, DStR 2009, 2561 (2565). 28 Schlotter, Teilwertabschreibung und Wertaufholung zwischen Steuerbilanz und Verfassungsrecht, 2005, S. 226; Schlotter FR 2007, 951 (953 f.); Schön, StuW 1995, 366 (371); Wiesbrock (Fn. 21), S. 135. 29 Dieser Einwand ist auch gegen Weber-Grellet, BB 2000, 1024 (1028) vorzubringen. 30 B I 2 b aa der Gründe (Fn. 6). 31 BFH v. 5.2.1997 – IV R 81/84, BFHE 149, 55 (56 ff.) = BStBl. II 1987, 845 (846 f.) = FR 1987, 225 (226 f.).

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mit Zustimmung des Schrifttums32 vertreten, und auch der Gesetzgeber hat dies anerkannt, indem er gemäß § 52 Abs. 6 Satz 1 EStG i. d. F. des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25.7.198833 für die Jahre ab 1993 den Ansatz einer solchen Rückstellung ausdrücklich zugelassen hat.

IV. Konsequenzen für die Anwendung des Gebots der Folgerichtigkeit auf Jubiläumsrückstellungen Im einzelnen ergibt sich aus diesem Ansatz folgendes: Verbindlichkeitsrückstellungen sind Posten echter Verbindlichkeiten, die allerdings die Besonderheit aufweisen, daß sie dem Grunde oder der Höhe nach ungewiß sind. Muß der Unternehmer trotz dieser Ungewißheit mit der Inanspruchnahme ernsthaft rechnen, erfordert das Vorsichtsprinzip die Passivierung mit der Folge, daß die Aufwendung, die der Verbindlichkeit entspricht, das Ergebnis des Geschäftsjahres der Passivierung mindert. Zu diesen Verbindlichkeitsrückstellungen gehören die Rückstellungen für Jubiläumszuwendungen. Das Bundesverfassungsgericht meint, der Steuergesetzgeber könne für die steuerliche Gewinnermittlung von dem handelsrechtlich fundierten Vorsichtsprinzip abweichen34. In dieser Allgemeinheit ist dem sicherlich zuzustimmen35. Problematisch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes und des Gebots der Folgerichtigkeit ist es aber, wenn aus der großen Zahl der in Betracht kommenden Verbindlichkeitsrückstellungen eine herausgegriffen und einer einschränkenden Regelung unterworfen wird36. So hat denn das Schrifttum zur Zeit des Gesetzgebungsverfahrens37 und danach38 diese Sonder-

__________ 32 IDW HFA, WPg 1994, 27; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 6, 6. Aufl. 1998, § 249 HGB Rn. 61; Crezelius (Fn. 21), § 5 EStG Rn. 136; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, § 4 VII 4 b, S. 148 f.; Kozikowski/Schubert (Fn. 19), § 249 HGB Rn. 100 „Jubiläumszuwendungen“; Lambrecht (Fn. 21), § 5 EStG Rn. E 18 (EL 105, Dez. 2000); Schreiber (Fn. 21), § 5 EStG Rn. 841 (EL 95, Mai 2007); Höfer/Reiners, BB 1988, 2064 (2067); Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (842 f.). 33 Fn. 7. 34 B I 2 b der Gründe (Fn. 6). 35 Hey, BB 2000, 1453 (1454 f.). 36 Hey, BB 2000, 1453 (1455); Schön, StuW 1995, 366 (369). 37 Zum ursprünglichen Entwurf (BT-Drucks. 11/2157, S. 5): Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, BB 1988, 1089 (1091 f.); Döllerer, BB 1988, 238 (240 f.); Knobbe-Keuk, BB 1988, 1086 (1087 ff.) „Verfall der Steuergesetzgebung“; zur später Gesetz gewordenen Fassung Höfer/Reiners, BB 1988, 2064 ff.; Küting/Weber, BB 1988, 2280 ff. 38 Knobbe-Keuk (Fn. 32), § 4 V 5 g cc, S. 134 f.; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 9 Rn. 350, S. 319; Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (840 ff.); Siegel, BB 1989, 182; Slomma, DStZ 1989, 277 f.; Söffing, StbJb. 1988/89, 121 (132 f.). Aus Anlaß des Vorlagebeschlusses des BFH: Loose in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, KStG, § 5 EStG Rn. 1831 (EL 203, Juli 2001); Hey, BB 2000, 1453 ff.

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regelung – mit Ausnahmen39 – deutlich kritisiert. Beanstandet wurde u. a., daß Rückstellungen für Jubiläumszuwendungen anders behandelt werden als vergleichbare andere Verbindlichkeitsrückstellungen40. Unverständlich ist, daß das Bundesverfassungsgericht auf diese grundsätzliche Diskussion, die der Bundesfinanzhof in seinem Vorlagebeschluß vom 10.11.1999 umfangreich nachweist41, mit keinem Wort eingeht. Selbst bei der auf Willkür beschränkten Kontrolle wäre das erforderlich gewesen, ergeben doch die genannten Beiträge durchaus Hinweise auf eine als willkürlich zu beurteilende Entscheidung des Gesetzgebers42. In der Sache halte ich an meiner im Jahre 1996 geäußerten Auffassung43 fest.

V. Fazit Gegenüber dem im Jahre 2006 beschriebenen Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Problemen der Unternehmensbesteuerung44 bedeutet die Entscheidung vom 12.5.2009 keine positiv zu beurteilende Entwicklung. Im Gegenteil: Es verstärkt sich der Eindruck, daß das Gericht dem Gesetzgeber einen nahezu unbeschränkten Entscheidungsspielraum im Bereich der Unternehmensbesteuerung einräumt45. Auf diese Weise muß ein wesentlicher Bereich des Steuerrechts einer wirksamen verfassungsgerichtlichen Kontrolle entraten, obwohl es insoweit „keine steuerverfassungsrechtsfreie Zone“46 geben darf. Nach Abschluss des Manuskripts ist der Beschluss des I. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17.11.200947 veröffentlicht worden, der die komplizierte Umgliederungsregelung des § 36 Abs. 3, 4 KStG für den Übergang vom Anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren als unvereinbar mit dem allgemeinen Gleichheitssatz ansieht. Der Senat analysiert eingehend die Wirkungen der Umgliederung für den Fall, daß einem erheblichen Bestand an EK 45 ein geringer oder gar negativer Bestand an EK 02 gegenübersteht. Durch die in § 36 Abs. 4 KStG angeordnete Verrechnung kann ein Verlust des Körperschaftsteuerminderungspotentials eintreten, den der Steuerpflichtige nach

__________ 39 Die Regelung billigend Lambrecht (Fn. 21), Rn. E 23 f. (EL 105, Dez. 2000); Schreiber (Fn. 21), § 5 EStG Rn. 842 (EL 95, Mai 2007); Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 5 EStG Rn. 409. 40 Knobbe-Keuk, BB 1988, 1086 (1089); ihr folgend Küting/Weber, BB 1988, 2280 (2281); ferner Schulze-Osterloh, FS Friauf, 1996, 833 (843); Slomma, DStZ 1989, 277 (278). 41 BFH v. 10.11.1999 – X R 60/95, BFHE 189, 479 (490) = BStBl. II 2000, 131 (136) = FR 2000, 261 (264 f.) m. Anm. Weber-Grellet. 42 So Knobbe-Keuk (Fn. 32), § 4 V 5 g cc, S. 134 f. 43 FS Friauf, 1996, 833 (840 ff.). 44 Schulze-Osterloh, FS Raupach, 2006, 531 ff. 45 Hennrichs, Ubg 2009, 533 (542); ähnlich Drüen, JZ 2010, 91 (92). 46 Hey, DStR 2009, 2561 (2568); ähnlich, aber hoffnungsvoll Drüen, Ubg 2009, 23 (29). 47 BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, BB 2010, 870 ff. mit Kommentar Balmes = DStR 2010, 434 ff. = FR 2010, 472 ff. = GmbHR 2010, 368 ff. mit Kommentar Prinz; dazu Bareis, FR 2010, 455 ff; Binneweis, AG 2010, 242 ff.; Binneweis, GmbHR 2010, 408 ff.; Drüen, DStR 2010, 513 ff.

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Maßgabe des Gleichheitssatzes nicht hinzunehmen braucht. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist, daß der I. Senat nicht davor zurückschreckt, sich mit den Einzelheiten des körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens und der Übergangsregelung zu befassen. Auf diese Weise hebt sich dieser Beschluß wohltuend von dem hier kritisierten Beschluß des II. Senats zu den Jubiläumsrückstellungen ab. Die Erklärung für diese unterschiedliche Vorgehensweise ergibt sich wohl aus Tz. 29 und 61 der Entscheidungsgründe. Nach Tz. 29 hat sich der Senat, wie in § 27a BVerfGG zugelassen, der Unterstützung eines sachkundigen Dritten bedient, nämlich Prof. Dr. B., wobei sich aus Tz. 61 ergibt, daß es sich dabei um Peter Bareis handelt. Offenbar mit dieser Hilfe war es dem I. Senat möglich, sich das erforderliche Verständnis für die angegriffene Regelung und die möglichen Alternativen zu verschaffen. Ein solches Verfahren48 könnte auch in dem bilanzrechtlich geprägten Unternehmensteuerrecht die Qualität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle verbessern.

__________ 48 Vgl. auch § 22 Abs. 5 der Geschäftsordnung des BVerfG.

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Leistungsfähigkeitsprinzip, Gleichheitssatz und Eigentumsgarantie* Inhaltsübersicht I. Frage nach dem Verhältnis des Leistungsfähigkeitsprinzips zur Eigentumsgarantie II. Die Eigentumsgarantie als Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips III. Die Bedeutung des einkommensteuerlichen Existenzminimums

IV. Eigentumsfreiheit und Leistungsfähigkeitsprinzip sind nicht gleichzusetzen V. Die Eigentumsgarantie als Besteuerungsgrenze VI. Philosophisch-politische Aspekte

I. Frage nach dem Verhältnis des Leistungsfähigkeitsprinzips zur Eigentumsgarantie Das Ziel dieses Aufsatzes ist es zu untersuchen, welche Beziehungen zwischen dem Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab für die Anwendung des Gleichheitssatzes und der Eigentumsgarantie bestehen. Die Studie ist also hauptsächlich rechtsdogmatischer Natur. Obwohl diese Untersuchung selbstverständlich aus der Perspektive eines spanischen Steuerrechtlers erfolgte, wurde dabei dem deutschen Schrifttum, das sich mit diesem Problemkreis ausführlich beschäftigt hat, große Beachtung geschenkt. Eine erste Andeutung zur Beziehung zwischen Leistungsfähigkeit und Eigentumsgarantie findet sich in der italienischen Lehre der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bei einigen Autoren, die sich gegen ein Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips als alleiniges nach der Methode der Begriffsjurisprudenz entfaltetes Gleichheitskriterium wandten. Hauptvertreter dieser Auffassung ist I. Manzoni1, dessen Werk die extremste Variante dieser Strömung darstellt2. Den mit dieser Auffassung verbundenen unlösbaren Schwierigkeiten versuchten die erwähnten Autoren zu begegnen, indem sie das Leistungsfähigkeitsprinzip vom Gleichheitssatz trennten. Unter diesen Autoren interessiert

__________ * Der Verfasser bedankt sich sehr herzlich bei seinem Kollegen und Freund Prof. Dr. Joachim Englisch für die sprachliche Verbesserung dieses Beitrags. 1 Manzoni, I., Il principio della capacità contributiva nell’ordinamento costituzionale italiano, Turin: Giappichelli, 1965. 2 Vgl. Palao Taboada, C., Apogeo y crisis del principio de capacidad contributiva, in: Estudios Jurídicos en Homenaje al Profesor Federico de Castro, Bd. II, Madrid: Tecnos, 1976, S. 375 ff. (391 ff.).

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uns hier insbesondere F. Gaffuri3, nach dessen Meinung dem Leistungsfähigkeitsprinzip die Funktion einer Besteuerungsgrenze zukommt, innerhalb derer andere Verfassungsprinzipien wirksam werden, unter ihnen der Gleichheitssatz. Das Leistungsfähigkeitsprinzip solle sicherstellen, dass Steuern nur auf einen „qualifizierten Reichtum“ erhoben werden dürfen; diese Begrenzung sei notwendig, um das Fortbestehen auch einer privaten Wirtschaftsordnung neben der öffentlichen Hand zu gewährleisten: Gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip wird verstoßen, wenn eine Steuer das Bestehen der Privatwirtschaft in Gefahr bringt4, was der Fall ist, wenn die „Produktionsquellen“ besteuert werden. So verstanden fällt das Leistungsfähigkeitsprinzip mit der Eigentumsgarantie fast völlig zusammen5. Es besteht eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen der Auffassung von Gaffuri und der Anschauung von Wendt6, die im folgenden Abschnitt zum Ausdruck kommt: „Die Versuche zur inhaltlichen Konkretisierung [des Leistungsfähigkeitsprinzips] werden allerdings bisher beherrscht vom Gedanken der steuerlichen Gleichheit, des für jeden – absolut, relativ oder marginal – gleichen Opfers an Nutzenentgang. Bei der zur Berücksichtigung der Anforderungen der Eigentumsgarantie erforderlich werdenden wertenden Bestimmung der steuerlichen Belastbarkeit geht es dagegen nicht um die Bestimmung des gleichen Opfers im interpersonellen Vergleich …, d. h. um die ‚horizontale‘ und ‚vertikale‘ Gleichbehandlung von Steuerpflichtigen gleicher und unterschiedlicher Leistungsfähigkeit. Hier erfolgt vielmehr eine wertende Abwägung des eigentumsgrundrechtlich geschützten privaten und des öffentlichen Interesses an einem potentiell beanspruchbaren Einkommens- bzw. Vermögensanteil. … Wird die individuelle Leistungsfähigkeit hier somit aufgrund einer Abwägung mit anderer Blickrichtung, anderen Polen und unterschiedlicher Struktur ermittelt, so kann dabei doch an die Ergebnisse der vom Postulat der Opfergleichheit im interpersonellen Vergleich geprägten Leistungsfähigkeitsdiskussion angeknüpft werden; denn Ziel beider Ansätze der inhaltlichen Konkretisierung ist die Bestimmung des verfassungsrechtlich zulässigen Vermögensentzugs“.

__________ 3 Gaffuri, F., L’attitudine alla contribuzione, Milan: Giuffrè, 1969. In einem neueren Aufsatz hält dieser Autor im Wesentlichen an seiner ursprünglichen Meinung fest: Gaffuri, Il senso della capacità contributiva, in L. Perrone/C. Berliri (Hrsg.), Diritto tributario e Corte costituzionale, Neapel: Edizioni Scientifiche Italiane, 2006, S. 25 ff. 4 Gaffuri (Fn. 3), S. 151. 5 Die Ansicht, dass der Gleichheitssatz seine Geltung innerhalb gewisser Grenzen entfaltet, findet man auch in der neueren deutschen Lehre: S. Ipsen, Besteuerung und Eigentum, in: Brenner, M. et al. (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes, FS für Peter Badura, Tübingen: Mohr, 2004, S. 201 ff. (209), nach dessen Meinung „die Tendenz, den Schutz des Einzelnen gegenüber der Auferlegung von Geldleistungspflichten in erster Linie dem Gleichheitssatz zuzuweisen, verfassungsrechtlich verfehlt [ist]: Wenn Steuern einen Eingriff darstellen, so muss sich zuallererst dieser Eingriff rechtfertigen lassen“. Papier, Steuerrecht im Wandel -verfassungsrechtliche Grenzen der Steuerpolitik, DStR 2007, 973 ff. (975), meint, „[d]ie Eigentumsgarantie … richtet also eine äußerste Verteidigungslinie gegen übermäßige Steuerbelastungen auf. Innerhalb dieser Grenze ist ihre materielle Wirkungskraft beschränkt und gewinnt – neben den einschlägigen Spezialgrundrechten – insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz besondere Stringenz“. 6 Wendt, R., Besteuerung und Eigentum, NJW 1980, 2111 ff. (2116).

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Leistungsfähigkeitsprinzip, Gleichheitssatz und Eigentumsgarantie

Die spanische Lehre verfolgte diesen Gedankengang nicht weiter. Sie interessierte sich für das Leistungsfähigkeitsprinzip nur als Konkretisierung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht. Dagegen findet die Eigentumsgarantie als Besteuerungsgrenze im spanischen Schrifttum im Allgemeinen7 nur geringe Beachtung, obwohl die Verfassung dessen Bedeutung besonders – wenn auch nicht namentlich – hervorhebt, indem sie die „konfiskatorische Besteuerung“ verbietet8. Indes hat diese Verfassungsbestimmung die Perspektive der spanischen Lehre eher verengt, indem sie sich hauptsächlich mit der Frage befasst, wann eine Steuer „konfiskatorisch“ ist9. Den Begriff der „konfiskatorischen Steuer“ kann man dem der „Erdrosselungssteuer“ gleichstellen, der vom deutschen BVerfG und von der deutschen Lehre benutzt wird. Von diesem Konzept hat W. Knies behauptet, es sei „ein Widerspruch in sich“10. Gemeinhin wird im deutschen Schrifttum angenommen, dass die eigentumsrechtliche Besteuerungsgrenze schon sehr viel eher einsetzt11. Demgegenüber hat sich das spanische Verfassungsgericht ausgehend vom Verfassungstext lediglich die Frage gestellt, ob eine Steuer konfiskatorisch wirke oder nicht, statt sie an dem – hiervon möglicherweise abweichenden – Maßstab der Eigentumsgarantie zu prüfen12. Unlängst hat Ruiz Almendral13 darauf aufmerksam gemacht, dass man Aussagen zur Steuergerechtigkeit letztlich nicht treffen könne, wenn man die öffentlichen Ausgaben aber insbesondere die Stellung der Eigentums-

__________

7 S. aber Palao Taboada, C., La protección constitucional de la propiedad privada como límite al poder tributario, in: Hacienda y Constitución, Madrid: Instituto de Estudios Fiscales, 1979, S. 277 ff. 8 Art. 31, Abs. 1 der Spanischen Verfassung lautet: „Alle tragen zur Bestreitung der öffentlichen Ausgaben bei, gemäß ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und mittels eines gerechten und auf den Grundsätzen der Gleichheit und der Progression beruhenden Steuersystems, das in keinem Fall konfiskatorischen Charakter haben darf“. 9 S. Martínez Lago, M. A., Función motivadora de la norma tributaria y prohibición de confiscatoriedad, Civitas, Revista Española de Derecho Financiero, 60, 1988, S. 605 ff.; Naveira de Casanova, G. J., El principio de no confiscatoriedad. Estudio en España y en Argentina, Madrid: McGraw-Hill, 1997; García Dorado, F., Prohibición constitucional de confiscatoriedad y deber de tributación, Madrid: Dykinson, 2002; López Espadafor, C. M., La no confiscatoriedad en la imposición sobre el consumo, Bologna: Publicaciones del Real Colegio de España, 2008; Escribano, F., La prohibición de alcance confiscatorio del sistema tributario en la Constitución española, Civitas, Revista Española de Derecho Financiero, 142, 2009, S. 403 ff. 10 Knies, W., Steuerzweck und Steuerbegriff, München: C. H. Beck, 1976, S. 70. 11 S. Ipsen (Fn. 5), S. 214 („Zwar ist jede ‚Erdrosselung‘ übermäßig, nicht aber setzt das Übermaßverbot erst bei der Erdrosselung ein“); J. Lang, Das verfassungsrechtliche Scheitern der Erbschaft- und Schenkungsteuer, StuW 2008, 189 ff. (191) („Das Problem besteht hier darin, die Grenze der Steuerbelastung im vorkonfiskatorischen Bereich zu bestimmen“). 12 S. zuletzt Beschluss (Auto) 71/2008, vom 26.2.2008, wo behauptet wird, dass „einmal festgestellt, dass der Steuertatbestand wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausdrückt, enthält die Verfassung keine weitere Grenze zur Steuerhöhe, ausgenommen das Konfiskationsverbot“. Es ist also zweifelhaft, ob das Gericht eine niedrigere, der Eigentumsgarantie (Art. 33 der Spanischen Verfassung) entnommene Grenze anerkennen würde. 13 Ruiz Almendral, V., ¿Tiene sentido un proyecto docente de Derecho Financiero y Tributario?, Cuadernos de Derecho Público, 32, 2007, S. 129 ff. (153 ff.).

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garantie im Steuersystem und ihren Einfluss auf das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht berücksichtige. Sie hat zu Recht moniert, dass dies gerade in Spanien bislang noch nicht in hinreichendem Maße geschehen sei.

II. Die Eigentumsgarantie als Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips Wenig Klärung ergibt sich nach Meinung des Verfassers aus den Ansichten, wonach die Eigentumsgarantie den Inhalt des Leistungsfähigkeitsprinzips ganz oder teilweise bestimmt14, letzteres in der Eigentumsgarantie begründet ist oder beide Garantien zur Konkretisierung des Gleichheitssatzes beitragen15. Mit Blick auf Art. 31.1 der Verfassung16 stellte das spanische Verfassungsgericht wiederholt fest, dass der steuerliche Gleichheitssatz untrennbar von den Grundsätzen der Allgemeinheit, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Progression sei17, und dass ihn dies vom allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 14 der Spanischen Verfassung unterscheide. Das Konfiskationsverbot wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Dies erlaubt den Schluss, dass das Gericht besagtes Verbot auf eine andere Ebene als die zuvor genannten Grundsätze stellt. Ähnliche Meinungen trifft man in der italienischen und spanischen Lehre18. Die von Teilen der Lehre befürwortete Kombination verschiedener Verfassungsprinzipien ist gleichbedeutend mit dem Verzicht darauf, den Inhalt der einzelnen Grundsätze je für sich genommen präzise zu definieren. Sie können des-

__________ 14 Im deutschen Schrifttum, P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 21 f.: „Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist ethisches Axiom, aber auch die Zusammenfassung von verfassungsrechtlichen Prinzipien und damit aus dem positiven Recht herleitbar. … Als Maßstab für die Gerechtigkeit einer positiven Rechtsordnung werden insbesondere die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, der Existenz-und Friedenssicherung genannt. Alle diese Grundsätze haben im Leistungsfähigkeitsprinzip eine steuerrechtliche Ausprägung gefunden. … Die Freiheit des Steuerpflichtigen in der Verfügungsgewalt über Wirtschaftsgüter ist in der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG gesichert“. Eine ähnliche Ansicht findet sich in: derselbe, Die freiheitsrechtliche Struktur der Steuerrechtsordnung, StuW 2006, 12: „Im Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit nimmt der Gleichheitssatz die Vorgaben der Freiheitsgarantie, insbesondere der Eigentumsgarantie, auf. Die Steuergleichheit meint die in der Eigentümerfreiheit und im Erbrecht (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) wurzelnden Unterschiede zwischen Arm und Reich“. 15 Nach Meinung von P. Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, Heidelberg: C. F. Müller, § 88 Rz. 114, „Der Gleichheitssatz verbindet sich mit dem Eigentumsschutz zum Grundprinzip einer Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit“. 16 Oben Fn. 8. 17 S. Rodríguez Bereijo, A., El sistema tributario en la Constitución. (Los límites del poder tributario en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional), Revista Española de Derecho Constitucional, 36, 1992, S. 9 ff., (45 f.). 18 Das italienische Schrifttum bis zur Hälfte der siebziger Jahre des 20. Jh. wurde, a. a. O., (Fn. 2) berücksichtigt. In der Spanisch sprechenden Lehre wird diese Anschauung exemplarisch von Martínez Lago (Fn. 9) vertreten.

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halb je nach der gewählten Zusammenstellung zu einem beliebigen Ergebnis führen19. Exemplarisch hierfür ist das gelegentliche Bemühen, den Inhalt des Gleichheitssatzes von einem streng positivistischen Standpunkt zu bestimmen, und zwar meist mit der Absicht, die Leibholz’sche Lehre vom Gleichheitssatz als bloßes Willkürverbot zu überwinden20. Diese streng positivistische Betrachtungsweise des Gleichheitssatzes, etwa als Verbot von Privilegien oder als Anwendung der vom Gesetzgeber selbst gewählten Grundsätze, mündet einfach in ein Kohärenzerfordernis bzw. Folgerichtigkeitsgebot ein21.

III. Die Bedeutung des einkommensteuerlichen Existenzminimums Das einkommensteuerrechtliche Existenzminimum stellt einen Berührungspunkt zwischen der Eigentumsgarantie und dem Leistungsfähigkeitsprinzip in dem Sinne dar, dass seine Grundlage in beiden Grundsätzen gesucht wird, entweder alternativ oder zusammengenommen. Die Eigentumsgarantie wird als eine der verfassungsrechtlichen Vorgaben erwähnt, aufgrund derer der für die Bestreitung des Existenzminimums benötigte Teil des Einkommens keine Leistungsfähigkeit indiziert: Sie gewährleistet dem Steuerpflichtigen die Freiheit, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten, und verbietet daher, das zu

__________ 19 Nach Meinung von Martínez Lago (Fn. 9), S. 613 und 617 f., ist das Prinzip wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit „elastisch“, indem es die übrigen Grundprinzipien der Finanzrechtsordnung einschließt und diesen ihren Sinn verleiht. Dazu zähle insbesondere der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit, aus dem eine wesentliche umverteilende Komponente des Finanzrechts hervorginge. Darüber hinaus sind außerfiskalische Zwecke der Besteuerung seiner Meinung nach im Begriff der Leistungsfähigkeit eingeschlossen (643). 20 Der Verfasser (Fn. 2), S. 412 ff., hat sich mit diesen Meinungen bis zum Publikationsdatum (1976) kritisch auseinandergesetzt. In Bezug auf die deutsche Literatur wurde darin besonders das Werk von F. Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, Köln: O. Schmidt, 1966, berücksichtigt. Der Verfasser schloss sich damals der Lehre von Leibholz an, die er noch als grundsätzlich gültig betrachtet: Palao Taboada, C., Nueva visita al principio de capacidad contributiva, Civitas, Revista Española de Derecho Financiero, 124, 2004, S. 767 ff. 21 S. Palao Taboada (Fn. 2), S. 413 f., mit Berücksichtigung insbesondere der italienischen Literatur bis 1976: Paladin, Il principio costituzionale d’eguaglianza, Milan: Giuffrè, 1965; Rossano, C., L’eguaglianza giudidica nell’ordinamento costituzionale, Neapel: Jovene, 1966; La Rosa, S., Eguaglianza tributaria ed esenzioni fiscali, Milan: Giuffrè, 1968. Das Gebot der Kohärenz oder Folgerichtigkeit wird von der neueren deutschen Lehre hervorgehoben: Seer, Die neue Erbschaftsteuer auf dem Prüfstand, StuW 1997, 285; Papier (Fn. 5), S. 975 („Aus dem Gebot der möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichtigen folgt für den Gesetzgeber indes keine Beschränkung in seinem Entscheidungsspielraum bei der Auswahl des Steuergegenstandes. Hat der Gesetzgeber jedoch in Ausübung seines weiten Entscheidungsspielraums den Steuergegenstand ausgewählt, so hat er die Entscheidung folgerichtig i. S. d. Belastungsgleichheit umzusetzen“); Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht – Eine Zwischenbilanz nach den jüngsten Entscheidungen des BFH und des BVerfG, DStR 2009, 881 („Der Grundsatz der Folgerichtigkeit öffnet dem Gesetzgeber auf der einen Seite neue Spielräume, da er ihn nicht auf übergreifende Regelungskonzeptionen festlegt, andererseits zwingt er den Gesetzgeber zum strukturellen Denken“).

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diesem Zweck benötigte Einkommen zu besteuern22. In diesem Sinne wird das Existenzminimum als Untergrenze der Besteuerung, die auf der Eigentumsgarantie basiert, dem Konfiskationsverbot als Obergrenze symmetrisch gleich geordnet: Beide Grenzen gründen gleichermaßen auf der individuellen ökonomischen Freiheit, die jenes Grundrecht gewährleistet23. Nach Meinung des Verfassers sind aber beide Grenzen verschiedenartig: Das Existenzminimum gründet auf der fundamentalen Wertung, dass lebensnotwendige Wirtschaftsgüter eine unverzichtbare Bedingung für ein menschenwürdiges Leben sind, wohingegen die Obergrenze der Besteuerung auf die Verfassungsentscheidung für ein marktwirtschaftliches System zurückzuführen ist. Daher ist der ethische Rang des Existenzminimums höher als derjenige der Obergrenze der Besteuerung, die sich aus der Eigentumsgarantie herleiten lässt. Deswegen ist der Ansicht zu folgen, wonach das Gebot der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums unmittelbar auf dem Leistungsfähigkeitsprinzip beruht24.

__________ 22 S. Söhn, H., Verfassungsrechtliche Aspekte der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht: Zum persönlichen Existenzminimum, FA n. F., 2/46, 1988, 154 ff. (162 ff.). Dass im Umfang des zur Abdeckung des Existenzminimums erforderlichen Betrages keine Leistungsfähigkeit vorliege, ergibt sich aber seiner Meinung nach erstens aus der Menschenwürde und hätte zweitens noch andere Gründe, wie das Übermaßverbot oder unmittelbar der Gleichheitssatz, auf dem die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit basiert. 23 S. P. Kirchhof, Die freiheitsrechtliche Struktur der Steuerrechtsordnung. Ein Verfassungstest für Steuerreformen, StuW 2006, 3 ff. (8). Dieser Grund des Existenzminimums stimmt insofern mit dem der Leistungsfähigkeit überein, als nach Meinung Kirchhof’s das Leistungsfähigkeitsprinzip auch auf der Eigentumsgarantie basiert. S. a. Papier (Fn. 5), S. 974: „Eine relativ klare Grenze für die Besteuerung von Einkommen ergibt sich aus Art. 14 GG insoweit, als nicht disponibles, d. h. für den Lebensunterhalt des Einkommenbeziehers und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen unerlässlich benötigtes Einkommen in keinem Fall einer Abgabenpflicht zum Wohle der Allgemeinheit‘ unterliegen kann“. Umgekehrt meint M. Jachmann, Sozialstaatliche Steuergesetzgebung im Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit: Belastungsgrenzen im Steuersystem, StuW 1996, 97 ff. (98), dass aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip sich auch eine Obergrenze für die Steuerbelastung ergibt. Ebenfalls in der italienischen Lehre G. Falsitta, L’imposta confiscatoria, Rivista di diritto tributario, 2008, S. 89 ff. (95, 111), der die Grundlage für das Verbot konfiskatorischer Steuern in Art. 53 der Italienischen Verfassung findet, welcher das Leistungsfähigkeitsprinzip aufstellt. Seiner Meinung nach schließt die Verneinung der Obergrenze der Besteuerung die der Untergrenze automatisch mit ein, somit stellt er beide Grenzen auf dieselbe Grundlage. Im spanischen Schrifttum begründet García Dorado, F. (Fn. 9), S. 137 ff., das Existenzminimum nicht nur anhand des Leistungsfähigkeitsprinzips, das er für diesen Zweck als unzureichend erachtet, sondern auch mit Blick auf den Grundsatz des Verbots konfiskatorischer Steuern, stellt somit diesen der Eigentumsgarantie implizit gleich. 24 Dies ist die herrschende Auffassung in der spanischen Lehre, die andererseits den Schutz des Existenzminimums zusätzlich auch auf andere Grundrechten wie die Menschenwürde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit zurückführt. S. MarínBarnuevo Fabo, D., La protección del mínimo existencial en el ámbito del IRPF, Madrid: Colex, 1996, S. 13 ff. und 24; Cencerrado Millán, E., El mínimo exento en el sistema tributario español, Madrid: Marcial Pons, 1999, S. 31 ff.; Herrera Molina, P. M., Capacidad económica y sistema fiscal, Madrid: Marcial Pons, 1998, S. 121 ff.; derselbe, Fundamento y configuración del mínimo personal y familiar, in: Martín Fernández, J. (Hrsg.), El mínimo personal y familiar en el Impuesto sobre la Renta de

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Leistungsfähigkeitsprinzip, Gleichheitssatz und Eigentumsgarantie

IV. Eigentumsfreiheit und Leistungsfähigkeitsprinzip sind nicht gleichzusetzen Die engsten Beziehungen zwischen der Eigentumsgarantie und dem Leistungsfähigkeitsprinzip bestehen nach jenen Auffassungen, die die Leistungsfähigkeit als Gleichheitskriterium durch die Eigentumsfreiheit ersetzen oder letztere als Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips betrachten. Diese These hat in der deutschen Lehre hauptsächlich P. Kirchhof in zahlreichen Schriften vertreten25, aber auch andere Autoren schließen sich ihr an26. Im Ergebnis kommen diese Theorien zur fast völligen Gleichsetzung beider Grundsätze27. Wenn

__________ las Personas Físicas, Madrid: Marcial Pons, 2000, S. 2 ff. Diese Kollektivarbeit ist Professor J. Lang gewidmet. In der brasilianischen Lehre, Horvath, E., O principio do nâo-confisco no direito tributário, Sâo Paulo: Dialética, 2002, S. 75, wird als Grundlage des Gebotes steuerlicher Verschonung des Existenzminimums sowohl das Leistungsfähigkeitsprinzip als auch der Grundsatz des Verbots konfiskatorischer Besteuerung angeführt. 25 In seinem grundlegenden Bericht zum Thema Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39, 1981, S. 213 ff. (277 f.), vertritt P. Kirchhof „[e]ine Unterscheidung der individuellen Belastbarkeit je nach Eigentum und Eigentümerverhalten“ und führt Folgendes aus: „Die allgemeine Frage nach Ähnlichkeit und Verschiedenheit belastbaren Vermögens gewinnt in der Eigentumsgarantie einen speziellen Maßstab für die Lastenverteilung: Vergleichsziel ist die finanzielle Belastbarkeit der Bürger in ihrem Eigentum …“. Er spricht von einem „eigentumsrechtlichen Gleichheitssatz“. Das Privateigentum sei das „steuerrechtsleitende Prinzip“ (269). Im oben a.O. (Fn. 15) unterscheidet P. Kirchhof drei Stufen im Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, „der persönlichkeitsbezogene Gleichheitssatz als Grundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG, der sachbereichsbezogene Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, der im Ergebnis der Garantie gleicher Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) nahekommt, und ein allgemeines Objektivitätsgebot (Willkürverbot) als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips“ (Rz. 106) und führt aus, „[d]er Gleichheitssatz verbindet sich mit dem Eigentumsschutz zum Grundprinzip einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“ (Rz. 114). Ähnlich in StuW 2006, 5.: „Im Sachbereich des Steuerrechts wird diese freiheitsrechtliche, auch den Gleichheitssatz bestimmende Verhältnismäßigkeit in dem Gebot der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit zu einem konkreten Maßstab. Das Erfordernis eines verhältnismäßigen Eingriffs findet sein Mass in der Garantie von Eigentum und Berufsfreiheit. Der Gleichheitssatz allein bietet nichts, das man vergleichen und messen könnte, setzt vielmehr ein sachgerechtes tertium comparationis voraus, das für das Steuerrecht im Leistungsfähigkeitsprinzip angelegt ist“. 26 H. H. v. Arnim führt in seinem Mitbericht, VVDStRL 39, S. 286 ff., aus, „der Grundsatz der steuerlichen Lastenausgleich ergibt sich ebenfalls aus Art. 14 GG“ (318). Seiner Meinung nach (322 ff.), „darf der Grundsatz der Lastengleichheit nicht als bloßes Willkürverbot verstanden werden“, was „einen gewissen Anachronismus“ darstelle, und fügt Folgendes hinzu: „Das Festmachen der steuerlichen Lastengleichheit an dem als Willkürverbot verstandenen Art. 3 Abs. 1 GG hat jedoch den dogmatischen Weg verbaut, der es erlaubt, mit diesem Postulat auch wirklich ernst zu machen. Dieser Weg ist mit der Unterstellung der Steuer unter Art. 14 GG eröffnet. Denn der Art. 14 GG zugrunde liegende Lastengleichheitssatz ist schon immer über das bloße Willkürverbot weit hinausgegangen“. S. a. Wendt (Fn. 6). 27 Dies merkte schon H.-W. Bayer in der Debatte der Tagung der Staatsrechtslehrer 1980 an, vgl. VVDStRL 1980 (365): „Mein Eindruck nach den Referaten von heute morgen ist der, dass sich der Begriff des Eigentums i. S. d. Art. 14 GG weithin mit dem Begriff der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit deckt, mit der weiteren Folge, dass als verfassungsrechtliche Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips sehr wohl

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Leistungsfähigkeitsgrundsatz und Eigentumsgarantie sich decken, so dass jeder Grundsatz die Funktion des Kriteriums für ein Gebot steuerlicher Gleichbzw. Ungleichbehandlung gleichermaßen erfüllen kann, dann kann man zum Schluss kommen, dass es sich grundsätzlich nur um eine terminologische Frage handelt28, oder um die Frage, auf welches Verfassungsgrundrecht sich die steuerliche Konkretisierung des Gleichheitssatzes stützt. Da die Verfassungsnormen, die als Grundlage in Betracht kommen, sich gegenseitig nicht ausschließen, ist letzteres Problem nicht übermäßig dringlich. Dass es sich in Spanien überhaupt nicht gestellt hat, ist auf die ausdrückliche Vorgabe des Leistungsfähigkeitsprinzips in der Verfassung zurückzuführen. Für die herrschende Lehre aber haben Leistungsfähigkeitsprinzip und Eigentumsgarantie verschiedenen Inhalt und sind deshalb je gesondert zu würdigen; sie sind tatsächlich komplementär. Die Leistungsfähigkeit dient immer als Hauptkriterium der steuerlichen Gleichheit, wohingegen der Eigentumsgarantie die Funktion zukommt, eine Obergrenze der Besteuerung festzulegen. In der Formulierung Vogels ist „der Gleichheitssatz … bedeutsam lediglich für die Verteilung, nicht für die Höhe der steuerlichen Belastung“29. J. Lang drückt dies wie folgt aus: „Freiheitsrechte und Gleichheitssatz ergänzen sich in einem verfassungskräftigen Konzept der Steuergerechtigkeit“30. Dabei kommt u. E. dem Gleichheitssatz die wichtigste Rolle zu. Der Meinung Kirchhofs, die Eigentumsgarantie sei die Magna Charta des Steuerpflichtigen31, hat u. E. Wernsmann32 zu Recht entgegengehalten, die Magna Charta des Steuerrechts seien nicht die Freiheitsrechte, sondern das allgemeine Gleichhandlungsgebot des Art. 3 I GG.

V. Die Eigentumsgarantie als Besteuerungsgrenze Bedeutung kommt der Eigentumsgarantie für die Besteuerung also hauptsächlich hinsichtlich einer möglichen Begrenzung der Steuerlast zu. Als verfassungsrechtliches Problem ist diese Frage relativ neu. Dem bürgerlich-liberalen

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neben Art. 3 auch Art. 14 GG zu denken sein könnte“. Dazu führte P. Kirchhof (374) u. a. aus, dass er „bewusst den Begriff der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit vermieden [habe], weil er nicht deutlich macht, ob sich diese Fähigkeit auf das Erwerben bezieht oder die in dem Erworbenen vermittelten Handlungsmöglichkeiten meint“. Zur Kirchhofschen „an Art. 14 GG orientierte Terminologie“ s. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, II, 2. A., Köln: O. Schmidt, 2000, S. 500. Klaus Vogel, Finanzverfassung und politisches Ermessen, Karlsruhe: C. F. Müller, 1972, S. 37. J. Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG – Der BFH bleibt an der Grenze konfiskatorischer Besteuerung, NJW 2000, 457 ff. (460); derselbe, Die gleichheitsrechtliche Verwirklichung der Steuerrechtsordnung, StuW 2006, 22 ff. (26): die Gleichheit „als ein die Freiheit ergänzendes Prinzip“ oder umgekehrt die Notwendigkeit „das Postulat gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit freiheitsrechtlich zu ergänzen“. P. Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, Frankfurt a. M.: Athenäum, 1973, S. 20. R. Wernsmann, Die Steuer als Eigentumsbeeinträchtigung?, NJW 2006, 1169 ff. (1173).

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Leistungsfähigkeitsprinzip, Gleichheitssatz und Eigentumsgarantie

Verfassungsdenken war die Idee vollkommen fremd, die Besteuerung könnte die Eigentumsgarantie beeinträchtigen, oder dass es nötig wäre, ihr eine verfassungsrechtliche Begrenzung entgegenzusetzen33. Wie Selmer dargerstellt hat, war der Grund dafür nicht, dass man die damals angewandten Steuersätze als bescheiden empfunden hätte: Sätze, die heute als sehr niedrig erachtet würden, wurden seinerzeit als enteignend angesehen. Vielmehr sah man das Erfordernis einer Zustimmung des Parlaments zu jeglicher Steuererhebung als hinreichende Absicherung gegenüber Staatseingriffen in die Eigentums- und Freiheitssphäre an34. Das Verlangen eines weiten Teils der modernen deutschen Lehre nach einer Grenzziehung der Besteuerung gründet demgegenüber in erster Linie auf der Annahme, im Angesicht der immer wachsenden Steuerbelastung und insbesondere der zunehmenden Instrumentalisierung der Steuern für außerfiskalische Zwecke35 tauge „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ nicht mehr dazu, die Steuerlast in Grenzen zu halten36. Als Grenze ist auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel in Beziehung zum Zwecke der Besteuerung nicht von Nutzen, weil nach dem Non-Affektationsprinzip aus dem Steueraufkommen undifferenziert sämtliche Staatsausgaben bestritten werden37.

__________ 33 S. K. H. Friauf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung durch Steuergesetze, Tübingen: Mohr, 1966, S. 41 f. 34 P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, Frankfurt a. M.: Athenäum, 1972, S. 295 ff. In seinem klassischen Werk, Progressive Taxation in Theory and Practice (zitiert hier nach der spanischen Übersetzung: El impuesto progresivo en la teoría y en la práctica, Madrid: Victoriano Suárez, 1913, S. 167), erwähnt E. R. A. Seligman die Verwerfung der progressiven Steuer durch John Stuart Mill als graduated robbery. 35 Friauf, Eigentumsgarantie und Steuerrecht, DöV 1980, 482, prognostizierte wie folgt: „Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen des staatlichen Steuerzugriffs wird eines – wohl nicht allzu fernen – Tages zu einer Schicksalsfrage des freiheitlichdemokratischen Verfassungsstaates werden“ (480), und fügt hinzu: „Das Volumen des Staatsbedarfs ebenso wie die in der Steuergesetzgebung virulenten sozialpolitischen Zielsetzungen lassen den steuerlichen Zugriff als potentiell unbeschränkt erscheinen“ (482). Ähnliche Betrachtungen stellt Papier, Besteuerung und Eigentum, DVBl. 1980, 788, an. 36 S. Friauf (Fn. 35), 483. Das Problem der Unzulänglichkeit des Legalitätsgrundsatzes zur Abwehr staatlicher Steuereingriffe stellte sich üblicherweise mit Bezug auf die Allgemeinheit der Staatsbürger. Ein anderer Gesichtspunkt begründet die Forderung zusätzlicher Grenzen dieser der Besteuerungsbefugnis mit Hinweis auf den rechtlichen Schutz der Minderheiten: Friauf, ibidem, deutet auf die Gefahr hin, „dass in die Rechte einzelner Gruppen, hinter denen kein großes Wählerpotential steht, unverhältnismäßig stark eingegriffen wird, um stimmenmächtigere Gruppen zu begünstigen“. In diesem Sinne auch J. Englisch, Eigentumsschonende Ertragsbesteuerung, StuW 2003, 237 ff. (239); H. Butzer, Der Halbteilungsgrundsatz und seine Ableitung aus dem Grundgesetz, StuW 1999, 227 (237). In der italienischen Lehre s. Falsitta (Fn. 23), S. 113 ff. 37 S. Papier (Fn. 35), S. 793: „Bezogen auf [den Eingriffszweck der Einnahmeerzielung] ist der Steuereingriff im allgemeinen geeignet und im konkreten Ausmaß auch erforderlich: Mit der Steuerbelastung des Bürgers wird der Einnahmeerzielungszweck regelmäßig erreicht. Im Hinblick auf jene Zweckrichtung gibt es auch kein dem Pflichtigen weniger belastendes, aber gleich wirksames Eingriffsmittel“. S. a. derselbe (Fn. 5), S. 974. P. Kirchhof, VVDStRL 39, S. 250 ff., weist darauf hin, dass Eigen-

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Die ursprüngliche Auffassung des BVerfG, Art. 14 GG schütze das Vermögen nicht vor Eingriffen in Form der Auferlegung öffentlich-rechtlicher Geldleistungspflichten, sah sich seitens der neueren Lehre38 heftiger Kritik ausgesetzt. Das BVerfG hatte angenommen, dass ein Verstoß gegen Art. 14 GG lediglich vorkommen könnte, wenn eine Steuer „Erdrosselungswirkung“ hat oder sie einer „Konfiskation“ gleichkommt. Diese Einschränkung wurde als widersprüchlich getadelt, weil es nicht vom Ausmaß des Eingriffs abhängen könne, ob die Eigentumsgarantie auch durch Besteuerung tangiert sei39. Die Ansicht, dass der Schutz des Art. 14 GG sich auch auf die Besteuerung erstrecke, wurde allmählich zur herrschenden Meinung in der deutschen Lehre40. Die Eigentumsgarantie bewahre das Vermögen als Freiheitsraum, der dem Eigentümer die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens ermögliche41. Deswegen wird sie zu den Freiheitsrechten gezählt42. Der Zweite Senat des BVerfG änderte bekanntlich seinen zuvor eingenommen Standpunkt mit seinem berühmten Vermögensteuerbeschluss vom 22.6.1995, der auch in Spanien Aufsehen erregte43. Dieser Beschluss, der den sog. „Halbteilungsgrundsatz“ aufstellte, lenkte wie ein „juristischer Paukenschlag“44 die Aufmerksamkeit der deutschen Lehre auf die Frage, ob der verfassungsrecht-

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tum die staatlichen Aufgaben und damit den Steuerbedarf nicht begrenzt. „Ein Grundrecht gibt dem Steuerpflichtigen nicht die Befugnis, dem Staat bestimmte Finanzierungsvorhaben zu verwehren, die Art der Haushaltswirtschaft vorzuschreiben oder der Haushaltsplanung Höchstsummen oder Anteilsquoten vorzugeben“. Neulich Tipke (Fn. 28), S. 418; Englisch (Fn. 36), 245; R. Wernsmann (Fn. 32), 1173 f.; Jachmann (Fn. 23), 99 (102). Friauf (Fn. 35), S. 486, datiert den Anfang der neuen Aufmerksamkeit der deutschen Lehre auf das Thema der Eigentumsgarantie gegenüber der Besteuerung auf das Jahr 1970; seitdem ist in seinen Worten „eine kaum noch überschaubare Flut von literarischen Stellungnahmen entstanden“. Das Zitat stammt aus dem Jahr 1980! So schon H. Spanner, Der Steuerbürger und das BVerfG, Berlin: E. Schmidt, 1967, S. 100. S. a., Friauf (Fn. 35), S. 484 f. Englisch (Fn. 36), 238 ff., die verschiedenen Fassungen dieser Grundhaltung eingehend darstellend. Dass Art. 14 GG das Vermögen insgesamt (den Vermögenswert) schütz, ist lediglich eine unter diesen Positionen. Anscheinend ist diese Frage noch offen in der deutschen Verfassungsrechtsprechung und Lehre: s. Ipsen (Fn. 5), S. 206 ff.; Wernsmann (Fn. 32), 1170. Schmidt-Bleibtreu/Schäfer, Besteuerung und Eigentum, DöV 1980, 489 ff. (494 f.). Einschränkend Papier (Fn. 35), S. 790, nach dessen Meinung der Vermögensschutz dem allgemeinen (Haupt-)Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, eher als dem Spezialgrundrecht des Art. 14 GG, zugeordnet werden soll. S. F. Kirchhof, Der Weg zur verfassungsgerechten Besteuerung – Bestand, Fortschritt, Zukunft, StuW 2002, 185 ff. (191 ff.); Englisch (Fn. 36), 237. Im spanischen Schrifttum betrachtet García Dorado (Fn. 9), S. 81, 101, 148 ff., das Konfiskationsverbot als Ausfluss der Freiheit im Bereich der Steuerpflicht. Herrera Molina, P. M., Una decisión audaz del Tribunal Constitucional Alemán: el conjunto de la carga tributaria del contribuyente no puede superar el 50 % de sus ingresos, Impuestos 1996, II, S. 1033 ff. Butzer (Fn. 36), S. 230. J. Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz … (Fn. 30), S. 457, spricht von einem „Quantensprung“ des BVerfG.

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lichen Eigentumsgarantie eine Grenze der Steuerlast zu entnehmen sei45, und löste sie aus der zuvor dominierenden Fokussierung auf die Gleichheitsproblematik46. Insbesondere der Halbteilungsgrundsatz, der bemerkenswerterweise als obiter dictum ausgesprochen wurde47, wurde von der deutschen Lehre einer kritischen Analyse unterzogen, als deren Ergebnis seine verfassungsrechtliche Begründung infrage gestellt wurde48. Der Halbteilungsgrundsatz wurde endlich vom BVerfG selbst aufgegeben49. Obwohl, wie es scheint, der Halbteilungsgrundsatz sich letztlich nicht hat durchsetzen können, ist die Frage in der deutschen Lehre immer offen geblieben, ob sich (juristisch) eine Grenze der Steuerbelastung aus dem Grundgesetz, insbesondere aus der Eigentumsgarantie, entnehmen lässt oder (rechtspolitisch) durch eine Verfassungsänderung eingeführt werden sollte. Über eine zahlenmäßige Grenze besteht kein Konsens im deutschen Schrifttum50, und

__________ 45 In den Worten von Butzer, ibidem, „Das Steuerrecht wird auf Grund dieser Neuorientierung nicht mehr vornehmlich am Maßstab gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit orientiert“. J. Lang (Fn. 30), S. 458, führt Folgendes aus: „Während die am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichtete Gleichheitsdogmatik akribisch ausgeforscht ist, wurde die völlige Ineffizienz der Freiheitsrechte im Steuerrecht immer wieder bitter beklagt, bis Kirchhof an das BVerfG berufen und die freiheitsrechtliche Gerechtigkeitslücke endlich zur Sache des BVerfG gemacht wurde“. Nach Meinung von Tipke (Fn. 28), S. 444, ist es „Kirchhofs besonderes Anliegen …, dem Gebot des Gleichmaßes der Besteuerung ein Verbot des Übermaßes der Besteuerung an die Seite zu stellen“. 46 Tipke (Fn. 28) drückt es malerisch aus: „So wie sich am Sternenhimmel Sternhaufen und weitgehend leere Räume beobachten lassen, so gibt es auch in der Staats- und Steuerrechtsliteratur offenbar Publikationskumulationen und Publikationsvakanzen. Warum das am Himmel so ist, wissen wir nicht. Warum das in der juristischen Literatur so ist, lässt sich immerhin vermuten. Sich durch den Literaturhaufen zum Thema ‚Art. 14 GG und Besteuerung‘ hindurchzuarbeiten, kostet den Studierenden je nach Lese- und Verarbeitungsgeschwindigkeit Wochen“. 47 S. J. Lang, Wider Halbteilungsgrundsatz … (Fn. 30), 457 ff.; H.-G. Dederer, Halbteilungsgrundsatz – woher, wohin?, StuW 2000, 91 ff. (92); Wernsmann (Fn. 32), 1169. Es wird darüber Auskunft gegeben, dass das BFH-Urt. v. 11.8.1999 dem Halbteilungsgrundsatz die Bindungswirkung absprach. Kritisch dazu Tipke (Fn. 28), S. 457. Für die Bindungswirkung des Halbteilungsdiktums Butzer (Fn. 36), S. 233; seiner Meinung nach ist aber der Halbteilungsgrundsatz ein Programmsatz, dessen Adressaten nicht die Finanzbehörden oder die Finanzgerichte sind, sondern einzig und allein die Legislative (232). 48 S. insbesondere Butzer (Fn. 36), S. 231 ff. S. a. Lang, NJW 2000, 459; Dederer (Fn. 47), 93 ff.; F. Kirchhof (Fn. 42), 192; Englisch (Fn. 36), 246. 49 Der Erste Senat des BVerfG hatte an der ursprünglichen Lehre festgehalten, die Steuerlast berühre nicht die Eigentumsgarantie: Butzer (Fn. 36), S. 228; F. Kirchhof (Fn. 42), S. 191. Mittlerweile hat der Zweite Senat in seinem Beschluss vom 18.1.2006 seine Meinung geändert oder zumindest entschieden beschränkt, wie die Kommentare zu dieser Entscheidung berichten: Wernsmann (Fn. 32), 1174; Papier (Fn. 5), 974; Lang (Fn. 11), 192; Birk (Fn. 21), 881. Nach Meinung Langs, „zeigt der Beschluss, dass sich das BVerfG offensichtlich schwer tut, eine verfassungsrechtliche Belastungsobergrenze im vorkonfiskatorischen Bereich festzulegen“. 50 F. Kirchhof (Fn. 42), 193, findet den Halbteilungsgrundsatz verfassungspolitisch „vorzüglich gelungen“, obwohl er dessen zwingenden Charakter bezweifelt, und schlägt vor, ihn bei der nächsten Revision der Finanzverfassung in das GG aufzunehmen. Im Gegensatz dazu erachtet H. Feldmann, Konstitutionelle Begrenzung der Steuerbelas-

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dass sie sich aus der Eigentumsgarantie nicht schließen lässt, wurde überzeugend dargestellt51. Darüber hinaus wäre eine konkrete Grenze praktisch kaum durchführbar: u. a. müssten solche Fragen beantwortet werden wie, ob bei der Berechnung der Grenze nur Steuern oder auch andere Abgaben (etwa Sozialversicherungsbeiträge), nur direkte oder auch indirekte Steuern mit einbezogen werden sollten52. Vorhergehend müsste darüber entschieden werden, ob die Grenze eine individuelle oder eine gesamtwirtschaftliche sein sollte53. Interessanterweise tauchen vergleichbare Fragen auf, wenn man versucht, das Leistungsfähigkeitsprinzip begrifflich-dogmatisch zu entfalten54: ob es für alle Abgaben oder lediglich für Steuern gelte; wenn letzteres, ob auch für die indirekten Steuern; ob das Prinzip auf die einzelnen Steuern oder auf die gesamte Steuerlast bzw. das gesamte Steuersystem anwendbar sei55. Dass eine Obergrenze der Steuerlast existiert ist logisch unbestreitbar, wie die reductio ad absurdum der gegenteiligen These beweist. Es ist auch klar, dass diese Grenze ihre juristische Grundlage in der verfassungsmäßigen Gewährleistung des Eigentums neben anderen Grundrechten hat. Aber die Bemühungen, diese Grenze näher zu bestimmen, können bisher nur bescheidene Erfolge vorweisen56. Dass die Eigentumsgarantie jedoch als Schranke gegen Steuern mit einem außerfiskalischen Zweck fruchtbar ist, die einem enteignenden Eingriff in konkrete Eigentumspositionen gleichstehen57, ist eine andere Sache. Es wird allgemein anerkannt, dass der Wesensgehalt des Eigentums als Grundelement einer freiheitlichen Rechtsordnung bewahrt werden muss58. Es wäre

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tung, StuW 1998, 114 ff. (118 f.), die 50 % Obergrenze als zu hoch angesetzt und rät, eine Vorschrift in die Verfassung in dem Sinne einzuführen, dass die Belastung mit direkten Steuern ein Drittel des verfügbaren Einkommens nicht übersteigen darf. U. H. Schneider, StuW 1994, 58, hatte seinerseits vorgeschlagen, eine ähnliche Norm in das Grundgesetz einzufügen, den genauen Prozentsatz aber nicht näher bestimmt. S. Tipke (Fn. 28), S. 452 ff.; Englisch (Fn. 36), 245 ff. Ausführlich L. Schemmel, Zur Annahme des Leistungsfähigkeitsprinzips und anderer Grenzen für den Steuerstaat in das Grundgesetz, StuW 1995, 39 ff. (54 ff.). S. a. Butzer (Fn. 36), S. 230; J. Lang, NJW 2000, 460; Wernsmann (Fn. 32), 1174. Vom Standpunkt der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, G. Rose, Überlegungen zur Realisierung des Halbteilungsgrundsatzes, StuW 1999, 12 ff. Ähnliche Probleme hat man auch in der spanischen Lehre diskutiert: s. Naveira (Fn. 9), S. 422 ff. S. Tipke (Fn. 28), S. 455 ff. In der spanischen Lehre s. Palao Taboada (Fn. 2), S. 396 ff. Dass das Leistungsfähigkeitsprinzip für die Gesamtheit des Steuersystems gilt, hat neulich das spanische VerfG im Beschluss (Auto) 71/2008, vom 26.2.2008 festgestellt. Ein Sondervotum bestritt diese Auffassung. Kritisch auch Rodríguez Bereijo, Una vuelta de tuerca al principio de capacidad económica, Revista Española de Derecho Financiero, 142, 2009, S. 379 ff. (386 ff.). S. Tipke (Fn. 28), S. 443. Das ist die These von Selmer (Fn. 34), S. 336 ff. Der Verfasser hat darüber dem Spanisch sprechenden Leserkreis im a. O. (Fn. 7), S. 303 ff. informiert. In der neueren deutschen Literatur wurde diese These im Wesentlichen von Englisch (Fn. 36), 347 f., wieder aufgenommen. In den Worten P. Kirchhofs (Fn. 31), S. 25, „zum Inhalt einer privatnützigen, nichtstaatlichen Eigentumsordnung [gehört], dass der Staat seinen Finanzbedarf grundsätzlich nicht durch Erwerb und Nutzung von Produktionseigentum, sondern durch Besteuerung privaten Eigentums deckt“. Auch derselbe, VVDStRL 39, S. 232: „Die

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aber u. E. übertrieben zu denken, dass die größte Gefahr für die Institution des privaten Eigentums von der Besteuerung ausgeht, wie es häufig wiederholte – und ideologisch aufgeladene – Phrasen wie etwa „Trojanisches Pferd des Sozialismus“ oder „offene Flanke des Rechtsstaats“ glauben machen wollen59. Bevor die Steuerlast einen derartigen Grad erreicht, dass die Institutsgarantie des Eigentums ausgehöhlt würde und eine juristische Grenze der Besteuerung zu aktivieren wäre, werden wahrscheinlich andere wirtschaftliche und politische Prozesse in Gang gesetzt, die eine solche Auswirkung verhindern würden. Eine demokratische Regierung, die wagte, eine so schwere Belastung ihren Bürgern zu beschließen, würde nicht lange im Amt bleiben60. Wirtschaftlich wäre eine Fiskalpolitik unsinnig, die die Henne schlachtet, die goldene Eier legt61. In Extremfällen könnten sich ein Fiskalwiderstand62 entwickeln und sogar Revolten ausbrechen, zu denen die Besteuerung in der Geschichte bekanntermaßen bereits mehrfach Anlass gegeben hat. Um das Eigentum als Institution im Grunde zu beeinträchtigen, sind also einschneidendere Maßnahmen als die Steuergesetzgebung vonnöten, die einem Umsturz der Verfassungsordnung gleichkommen würden. Im Angesicht der vorstehenden Erwägungen erscheint das Problem einer juristischen Grenze der gesamten Steuerlast eher als gewissermaßen künstlich. Darüber hinaus ist es nicht leicht einzusehen, wie eine solche Frage, die das gesamte Verfassungssystem betrifft, in ihrem vollen Umfang von einem Verfassungsgericht gewürdigt werden könnte, das nur über einzelne Gesetze judiziert.

VI. Philosophisch-politische Aspekte Wie oben angedeutet wurde (V.), entstammt die Suche nach einer Grenze der Steuerbelastung einer Sorge um das Wachstum der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben; es geht darum, sie einzudämmen. In vielen Fällen hat diese Einstellung ihre Wurzel in einer liberalen Denkweise. Diese philosophischpolitische Attitüde ist offensichtlich in den Schriften Paul Kirchhofs, Hauptbefürworter einer eigentumsrechtlich begründeten Grenze der Steuerlast. Charakteristisch für diese Grundeinstellung ist das Mistrauen gegenüber der

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Steuer ist … nicht Gegensatz, sondern (finanzstaatliche) Voraussetzung für privates Eigentum. Die Garantie des Privateigentums verbietet das Staatseigentum und fordert stattdessen die Steuer“. Tipke erwähnt diese Phrasen, a. a. O., (Fn. 28), S. 441. Der Verfasser hatte sie schon (Fn. 7), S. 289, registriert. Wenn die übermäßige Steuerlast mit Billigung der Parlamentsmehrheit die wohlhabende Minderheit diskriminierend treffen würde, würde eine solche Besteuerung gegen den Gleichheitssatz verstoßen. Vgl. Tipke (Fn. 28), S. 420. Dazu im spanischen Schrifttum, M. Pont Mestres, El problema de la resistencia fiscal, Barcelona: Bosch, 1972; J. J. Fernández Caínzos (Hrsg.), El Estado y los contribuyentes: la resistencia fiscal, Madrid: Instituto de Estudios Fiscales, 1986.

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Einflussnahme des Staates auf das soziale und wirtschaftliche Leben63, und infolgedessen gegenüber außerfiskalischen Zwecken der Steuern. Wenn der Pflichtige einmal seine (rein fiskalischen) Steuern entrichtet habe, müsse der Staat dessen „uneingeschränkte Verfügungsfreiheit“ als Eigentümer über sein Vermögen respektieren64. Tatsächlich tragen die Steuergesetze nach dieser Auffassung dazu bei, den Inhalt des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) zu bestimmen, aber nur jene mit fiskalischem Zweck, nicht aber umverteilende oder Lenkungsteuern65; „eine steuerrechtliche Inhaltsbestimmung [des Eigentums] ist nur zulässig, um den Staat mit den notwendigen Finanzmitteln auszustatten“.66 Umverteilende Steuern gründeten nicht auf der individuellen Leistungsfähigkeit (das Eigentum nach Annahme Kirchhofs), weil für diese die Ursachen für Vermögensunterschiede bedeutungslos seien67. Adäquates Instrument einer Verteilungspolitik seien allein die Staatsausgaben68; die Besteuerung müsse nicht die Eigentümerposition als Markterfolg antasten69: „Eigen-

__________ 63 S. P. Kirchhof (Fn. 31), S. 5: „Die Möglichkeiten des besteuernden Staates, durch Veränderung des Volumens privat verfügbarer Geldmittel auf die private Willensbildung einzuwirken sind so vielfältig, sie sind für eine rechtliche Begrenzung so wenig zugänglich, weil die Zwecke einer Besteuerung heute keineswegs auf die ‚Erzielung von Einkünften‘ beschränkt sind; das Zwangsmittel der Besteuerung dient vielmehr auch zur ‚Steuerung‘ privater Dispositionen, zur Teilhabe an Entscheidungen der Privatwirtschaft, zu regionaler und sektorialer Strukturpolitik, zur globalen Wirtschaftssteuerung und zur Veränderung der Eigentumsverteilung“. 64 P. Kirchhof, Erläuterungen zum Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes, DStR 2001, 913 ff. (914). Durch den Entwurf gewinne „[d]er Freiheitsberechtigte … wieder – durch das Steuerrecht nicht eingeschränkt – seine Freiheit, allein nach seinem Willen und seinen ökonomischen Einsichten über sein Einkommen zu verfügen“. 65 Ibidem, S. 40 f. 66 P. Kirchhof (Fn. 31), S. 26. 67 P. Kirchhof, VVDStRL 39, S. 247 f., drückt es wie folgt aus: „eine umverteilende Steuer [findet] im Eigentum keinen ausreichenden Belastungsgrund, solange sie die Ursachen für Vermögensunterschiede nicht zur Kenntnis nimmt und ihr insbesondere der Freiheitswert einer unökonomischen Betätigung, etwa der Muße oder des Vermögensgebrauchs, entgeht. Die Umverteilungsfrage lautet nicht beobachtend: Wem gehört was?, sondern sucht die individuellen Gründe für ein Eigentumsgefälle und prüft: Wem fehlt die Gesundheit, die berufliche Ausbildung, der Arbeitsplatz oder die Existenzgrundlage, um am privaten Verteilungsverfahren teilnehmen zu können?“. S. a. derselbe, Besteuerung im Verfassungsstaat (Fn. 14), S. 28. 68 VVDStRL 39, S. 249. 69 S. Besteuerung im Verfassungsstaat (Fn. 14), S. 53: „Freiheit heißt nämlich, sich von anderen unterscheiden zu dürfen. Wer dieses Freiheitsrecht in Anspruch genommen hat, um in Vergleich zu anderen höheres Einkommen zu erwerben, ein größeres Vermögen zu haben, eine herausragende Kaufkraft einzusetzen, kann vom Rechtsstaat nicht darauf verwiesen werden, sein freiheitlich erzielter Erfolg sei zu groß und müsse deshalb umverteilt werden. Das berechtigte Anliegen kluger Staatspolitik zielt zwar darauf, das Gefälle in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen nicht zu groß werden zu lassen. Diese sozialstaatlichen Interventionen setzen aber bei den Ursprüngen der Einkommensströme – der Ausbildung, der Vermittlung eines Arbeitsplatzes, der Gewährleistung von Gesundheit, der sozialstaatlichen Flankierung des Marktwettbewerbs – an, nicht am einzelnen Markterfolg“.

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Leistungsfähigkeitsprinzip, Gleichheitssatz und Eigentumsgarantie

tum wird als vorgefundenes Recht gewährleistet, nicht anhand der Gründe für sein Entstehen und seinen Fortbestand analysiert“70. Diese Auffassung, die auch bei anderen Autoren zu finden ist71, wurde nicht allgemein hingenommen: Nach Meinung Langs, „[hält] im Unterschied zu Paul Kirchhof und Ökonomen wie Friedrich A. von Hayek oder James M. Buchanan, die Steuersysteme in einer Verfassung der Freiheit‘ bestimmen, … Klaus Tipke an der herkömmlichen Schwäche der Freiheitsrechte im Steuerrecht fest; dies zeigt deutlich die Kritik des Halbteilungsgrundsatzes“.72 Die Einstellung, auf der das Verlangen nach einer Begrenzung der Steuerlast sich gründet, wurde von den amerikanischen Philosophen Liam Murphy und Thomas Nagel in ihrem Buch The Myth of Ownership73 einer grundlegenden Kritik unterzogen. Die Leitidee des ganzen Werkes ist die Zurückweisung der Ansicht, die sie als „libertarianism“ bezeichnen, nach der die Steuergerechtigkeit in Beziehung zu dem Grundzustand (baseline) der Eigentumspositionen bemessen werden soll, die als Ergebnis des Marktes hervorgehen und grundsätzlich als gerecht betrachtet werden74. Diese Ansicht ist mit der Aussage eng verbunden, Steuergerechtigkeit könne nicht isoliert von der Ausgabenseite betrachtet werden, müsse also auch mit einbeziehen, wie der Staat seine Steuereinnahmen ausgibt75. Murphy und Nagel verwerfen als inkohärent die Auffassung, dass die Ressourcenverteilung vor Steuern als Ergebnis des freien Marktes angesehen werden könne, solange der Staat keine Umverteilungspolitik betreibe: Es gibt keinen Markt ohne Staat und keinen Staat ohne Steuern. Ein Recht auf das gesamte Einkommen vor Steuern sei also eine logische Unmöglichkeit; daher könne

__________ 70 VVDStRL 39, S. 247. 71 Z. B. Friauf (Fn. 35), S. 482, spricht von den „virulenten sozialpolitischen Zielsetzungen“ in der Steuerpolitik; Butzer (Fn. 36), S. 239, äußert sich wie folgt: „Der Besteuerungsangriff [lässt sich] unter dem GG nicht von der Prämisse her konstruieren, das privatwirtschaftlich erzielte Einkommen stehe an sich der Allgemeinheit zu und werde lediglich vom Gesetzgeber zu einem gewissen Teil dem Bürger ‚vergönnungsweise‘ überlassen bzw. zurückgegeben. In der Verfassungsordnung des GG ist der Wertungszusammenhang genau umgekehrt: Einer Begründung bedarf nicht die Ausübung von Freiheit, sondern die Freiheitsbeschränkung. Nicht die Einkommenserzielung als (Ergebnis von) Freiheitsausübung, sondern die Besteuerung als Freiheitsbeschränkung ist rechtssystematisch die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme“. Diese Alternative ist aber insoweit unzutreffend, als die gegenteilige Ansicht, dass nämlich die Besteuerung keine Ausnahme von einem vermeintlichen Freiheitszustand sei, die Billigung der ersten Aussage nicht voraussetzt. 72 J. Lang, StuW 2006, 25, mit Hinweis auf Tipke, Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 449 ff. 73 Murphy, L./Nagel, T., The Myth of Ownership. Taxes and Justice, Oxford University Press, 2002. 74 Eine erste Zusammenfassung dieser Ansicht, die in zahlreichen Passagen des Werkes wiederkehrt, findet man auf S. 15. 75 A. a. O., S. 14. Die Ansicht einer getrennten Betrachtung der Steuergerechtigkeit wird von den Autoren als „myopisch“ bezeichnet. S. a. S. 25: „What matters is not whether taxes – considered in themselves – are justly imposed, but rather whether the totality of government’s treatment of its subjects, its expenditures along with its taxes, is just“.

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man die Gerechtigkeit der Steuern nicht sinnvoll in Bezug auf das VorsteuerEinkommen würdigen. Stattdessen müsse die Gerechtigkeit des Nachsteuereinkommens in Bezug auf die Gerechtigkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems, das es herstellt, beurteilt werden, einschließlich der Steuern selbst, die ein wesentlicher Teil dieses Systems sind. Murphy und Nagel weisen auch darauf hin, dass diese Sichtweise bei alltäglichen Auseinandersetzungen über Steuern häufig vergessen wird: Sie nennen dies „everyday libertarianism“ und bemerken, dass dies mit der verbreiteten Meinung zusammenhänge, es gäbe ein moralisches Recht auf das Vorsteuereinkommen, das in Wirklichkeit nicht existiere76. Die zitierten Autoren sind auch sehr kritisch gegenüber der Idee der Leistungsfähigkeit (ability to pay) in ihrer Konkretisierung durch verschiedene Versionen der Opfertheorie. Ihrer Meinung nach führten alle diese Theorien mit Ausnahme derjenigen des gleichen Opfers – d. h. das proportionale und das gleiche Randopfer – gemessen an der – hypothetisch gemäß der „libertarian theory“ – als gerecht betrachteten Marktverteilung zu einer Umverteilung. Zur Beurteilung von deren Gerechtigkeitsgehalt bestünden keine gültigen Kriterien, erst recht nicht die Leistungsfähigkeit, die „eine vage Idee“ sei77. Fast am Ende des Buches78 formulieren die Autoren diese Grundidee prägnant so: „Our main message throughout this book has been that societal fairness, rather than tax fairness, should be the value that guides tax policy, and that property rights are conventional: they are to a large extent the product of tax

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76 A. a. O., S. 31 ff. S. a. S. 58, 74, 103, 107, 164, usf. Murphy und Nagel führen wie folgt aus: „We all know that people have full legal right to their net (post-tax) income; subject to contractual or family obligations, their money is legally theirs to do with it as they wish. A legal property right to net income is obviously not an absolute moral property right to anything (let alone to pretax market returns), but in daily life it is hard to prevent the strong sense of legal rights from sliding into a sense of a much more fundamental right or entitlement“ (34). „[T]he confused idea that net income is what we are left with after the government has taken away some of what really belongs to us certainly helps explain the conviction that the pretax distribution of material welfare is presumptively just (how could a distribution that gives people precisely what they are morally entitled to be unjust?), and that the question of justice in taxation is therefore properly a question of determining what is a fair distribution of sacrifice as assessed from that baseline“ (35). 77 A. a. O., S. 24 ff. Auf S. 140 zitieren die Autoren den Ausspruch von Henry Simons, „that the criterion of ability to pay could justify any level of regression or progression that you liked“, und fügen dazu, „He was right because that criterion is empty; disagreements about what is a fair share of the tax burden turn on no genuine issue of moral principle; they are disagreements about nothing. But disagreements about social justice are not about nothing …“. In den Worten von Murphy und Nagel (30), „If … the idea of taxation in accordance with ability to pay is understood to mean that redistribution away from market returns is required by justice, then the goal of the vertical equity of taxation, considered apart from the justice of government expenditures, has been abandoned. And the vague idea of ‚ability to pay‘ will not help us when we move to the different question of what distributive aims a just government should have“. An dieser Stelle gibt es eine gewisse Übereinstimmung mit der Auffassung Kirchhofs, insofern er die Marktverteilung als gerecht einschätzt und jede hiervon abweichende Umverteilung ablehnt. 78 A. a. O., S. 173.

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policies that have to be evaluated by standards of social justice; so they cannot be used to determine what taxes are just“. Das Problem der Belastungsgrenzen – dies wäre das Fazit dieses Beitrags – ist, wie übrigens das öffentliche Finanzwesen im Allgemeinen, vor allem ein politisches Problem und in diesem Zusammenhang ist das Leistungsvermögen der Eigentumsgarantie und der übrigen Verfassungsgrundsätze (einschließlich des Leistungsfähigkeitsprinzips) eher bescheiden: Sie können bloß die schwersten Übertretungen abwehren. Dies erklärt gewissermaßen die unbefriedigenden Ergebnisse der Rechtsprechung und der Lehre.

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3. Gemeinwohlorientierung der Besteuerung Peter Fischer

Gemeinnützigkeitsrechtliche Förderung der Allgemeinheit in Deutschland und Europa Inhaltsübersicht I. Einleitung – Joachim Lang und das Spenden- und Gemeinnützigkeitsrecht II. Zur Rechtfertigung der steuerlichen Vergünstigung 1. Steuervergünstigung für die Idealkörperschaft 2. Der Streit um die Substitutionsthese III. „Förderung der Allgemeinheit“ 1. Abwehr von Individual- und Gruppennützigkeit 2. Förderung der Allgemeinheit am Beispiel des Breitensports

3. „Allgemeinheit der Steuerinländer“ und transnationale Förderzwecke IV. Gemeinnützigkeit in Europa 1. Gibt es eine „europäische Allgemeinheit“? 2. Förderung von Gemeinwohlzwecken in Europa 3. Ein Beispiel: Finanzierung der Forschungslandschaften in Europa 4. Zur Rechtsstellung inländischer Mittelbeschaffungskörperschaften V. Leistungserbringung im Zweckbetrieb (§§ 65 ff. AO)

I. Einleitung – Joachim Lang und das Spenden- und Gemeinnützigkeitsrecht Joachim Lang kann auf ein großes und vielfältiges wissenschaftliches Werk zurückblicken. Die Liste seiner Veröffentlichungen1 ist beeindruckend. Er hat als akademischer Lehrer viele prominente Schülerinnen und Schüler betreut und als Steuerreformer gewirkt. Am 29.7.1987 wurde er als Mitglied der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts berufen, die im März 1988 ihr Gutachten vorlegte.2 Er wirkte in der Kommission zusammen u. a. mit seinem Lehrer Klaus Tipke und weiteren höchst angesehenen Experten. Brigitte Knobbe-Keuk und Josef Isensee haben ein viel beachtetes Sondervotum erstattet. Gutachten und Sondervotum forderten nachdrücklich die Rückbesinnung des Gemeinnützigkeitsrechts auf seine altruistischen

__________ 1 http://steuerrecht.uni-koeln.de/203.html. 2 Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts v. 24.3.1988, Schriftenreihe des BMF, Heft 40 (1989).

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Grundlagen. Ihr Vorschlag, Freizeitaktivitäten wie den Sport vom Gemeinnützigkeitsstatus auszunehmen,3 rief einen „Sturm der Entrüstung“ hervor. Der Gesetzgeber ging den Weg in die Gegenrichtung: Trotz koalitionsvertraglichen Bekenntnisses zum Abbau von Steuervergünstigungen erweiterte eine größtmögliche Koalition der Vereinsmeier im Vereinsförderungsgesetz den Kreis der förderungswürdigen Freizeitbeschäftigungen um den Hundesport, den Karneval und den Modellflug. Klaus Tipke sah eine „deklassierte Gemeinnützigkeit“, die „geistig und sittlich auf den Hund gekommen“ sei.4 Der Steuerabteilungsleiter im BMF Adalbert Uelner nahm seinen Abschied aus der von Minister Gerhard Stoltenberg geleiteten Behörde, u. a. weil er mit diesem Gesetz nicht identifiziert werden wollte.5 Joachim Lang, aktiver Sportler und Segler, hielt rechtsystematischen Kurs. Seinem im Jahre 1987 veröffentlichten Aufsatz „Gemeinnützigkeitsabhängige Steuervergünstigungen“6 gab er den Untertitel „Ein Grundsatzthema zum Abbau von Steuersubventionen“. Vorgeschichte und Anlass des Gutachtens, die Konzeption der Kommission sowie seine persönliche Auffassung zu einer an Verfassungswerten orientierten Subventionsgesetzgebung umriss er im Steuerberater-Jahrbuch 1988/897 und in einem Artikel in der DStZ.8 Lesenswert ist noch heute das von ihm verfasste – wenn auch faktisch nur wenigen Nutzern zugängliche – Kapitel im WP-Handbuch der Unternehmensbesteuerung „Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht“.9 Nachfolgend soll versucht werden, der rechtswissenschaftlichen und auch rechtsethischen Quintessenz der Unabhängigen Sachverständigenkommission und ihres Mitglieds Joachim Lang nachzuspüren und Bewahrenswertes für die aktuelle Diskussion aufzubereiten.

II. Zur Rechtfertigung der steuerlichen Vergünstigung 1. Steuervergünstigung für die Idealkörperschaft Zur Rechtfertigung der (Steuer-)Vergünstigungen für gemeinnützige Körperschaften führt die Unabhängige Sachverständigenkommission aus:10 Steuern ermöglichen dem Gemeinwesen, die öffentlichen Aufgaben zu erfüllen. „Soweit ihnen solche Aufgaben entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip von privaten Körperschaften oder von den Kirchen abgenommen werden oder so-

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3 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2) S. 144. Allerdings empfahl die Unabhängige Sachverständigenkommission für Idealkörperschaften wie Sportvereinen eine generelle Steuerbefreiung; Gutachten, S. 277. 4 Tipke, Die deklassierte Gemeinnützigkeit, StuW 1989, 165. 5 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13496232.html: „Beamtenprotest“. 6 J. Lang, StuW 1987, 221. 7 J. Lang, Neuordnung der Vereinsbesteuerung?. StbJb 1988/89, S. 251; ferner Herrnkind, DStZ 1988, 547 (575). 8 J. Lang, Zur steuerlichen Förderung gemeinnütziger Körperschaften, DStZ 1988, 18. 9 J. Lang, WP-Handbuch der Unternehmensbesteuerung, 3. Aufl., Düsseldorf 2001, 10. Kapitel: Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht. 10 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 92 f., 274.

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Gemeinnützigkeitsrechtliche Förderung der Allgemeinheit

weit solche Körperschaften durch ihre Tätigkeit die Lebensgrundlagen des Staates oder der Kommunen festigen, sichern oder erhalten, ist es gerechtfertigt, auf Steuern ganz oder zum Teil zu verzichten.“ Und weiterhin heißt es: „Gewährt der Gesetzgeber Steuerpflichtigen, die an gemeinnützige Körperschaften spenden, Steuervergünstigungen, so ist es im Übrigen nicht sinnvoll, diese Spenden beim Spendenempfänger zu besteuern und das Spendenaufkommen auf diese Weise wieder zu reduzieren.“ Joachim Lang11 sieht in der Steuerbefreiung des § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG vor allem angesichts der Besteuerung wirtschaftlicher Geschäftsbetriebe eine verkappte Vereinfachungsnorm. 2. Der Streit um die Substitutionsthese Die Bundesrepublik ist nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes als Steuerstaat konzipiert. Dieser greift mit der Einkommensteuer nach Berücksichtigung erwerbsichernder und existenzsichernder Aufwendungen auf das Einkommen zu, das zu privatnützigen Zwecken verfügbar (disponibel) ist. Mit der Absenkung der Steuerbemessungsgrundlage durch das rechtstechnische Instrument12 des Sonderausgabenabzugs (§ 10b EStG) „belohnt“ der Staat die Befolgung der Verhaltensempfehlung, die nichtstaatlich organisierte Verfolgung konkurrierender und pluralistischer Gemeinwohlzwecke zu finanzieren. In diesem Sinne ist die steuerlich abziehbare Spende „eine fiskalische Alternative zur Steuerzahlung“ mit dem einzigen Unterschied, dass der Spender autonom über den Zweck verfügt. Die steuerlich abziehbare Spende ist ein „Steuersurrogat“,13 „eine fiskalische Alternative zur Steuerzahlung“. Die gemeindienliche Einkommensverwendung muss sich als altruistisches Vermögensopfer darstellen. Eigennütziger Aufwand einschließlich der Aufwendungen für die eigene Freizeitgestaltung ist aus dem versteuerten Einkommen aufzubringen. Wie beim Steuerzahlen bedarf es der Distanz zwischen dem geförderten Zweck und dem Finanzier. Das Institut der Gemeinnützigkeit durchbricht nicht die Grundregeln der Belastungsgerechtigkeit, sondern – so zutreffend Isensee14 – bestätigt sie. Dies ist der Kern der sog. Substitutionsthese.15

__________ 11 J. Lang, StuW 1987, 228. 12 Vgl. Tettinger, Verwaltungsrechtliche Instrumente des Sozialstaats, VVDStRL Bd. 74 (2005), S. 199 – Staatliche Förderung zur Stärkung der Pluralität der Leistungserbringung. 13 Statt vieler Kirchhof, Gemeinnützigkeit – Erfüllung staatsähnlicher Aufgaben durch selbstlose Einkommensverwendung, DStJG 26 (2003), 1 ff., 4 ff.; Seer, Gemeinwohlzwecke und steuerliche Entlastung, DStJG 26 (2003), 11 ff., 26, m. w. N. 14 So ausdrücklich Isensee, Gemeinnützigkeit und Europäisches Gemeinschaftsrecht, DStJG 26 (2003), 102: „Die Minderung der Steuerlast wird grundsätzlich aufgewogen durch Leistungen, die der Entlastete für das Gemeinwesen erbringt.“ 15 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 92 f.; J. Lang, StuW 1987, 222 f.: „Gerechtigkeitsidee“; ders. in WP-Handbuch (Fn. 9), Rz. 11 f.; Jachmann, Steuervergünstigungen für Nonprofit-Organisationen, in Hopt/von Hippel/Walz, Nonprofit-Organisationen in Recht, Wirtschaft und Gesellschaft, 2005, S. 323 ff., 366 ff.: dies., in Beermann/Gosch, AO, FGO, Kommentar, AO Vor §§ 51–68, Rz. 106 ff.: Zur Rechtfertigung der gemeinnützigkeitsbezogenen Steuervergünstigungen; P. Fischer, FR 2008, 752 (756 ff.).

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Die Tauglichkeit der Substitutionsthese wird neuestens u. a. von Jachmann/ Unger16 aus Gründen des Europarechts in Frage gestellt. Der normative Zusammenhang zwischen konkurrierenden und pluralistischen Staatsaufgaben17 und ihrer inhaltlichen Konkretisierung und Finanzierung auf der Grundlage des haushalts- und steuerrechtlichen Parlamentsvorbehalts18 scheint sich angesichts der mitgliedstaatliche Kompetenzen und Strukturen zerstörenden Kraft der „Freiheit des Kapitalverkehrs“ aufzulösen (unten V.). Die Gegenreaktion des Gesetzgebers ist rechtssystematisch desaströs und rechtspolitisch blamabel: Er hat in § 51 Abs. 2 AO i. d. F. des JStG 2008 einen strukturellen Inlandsbezug in der Weise normiert, dass zwecks Förderung steuerbegünstigter Zwecke im Ausland die zu fördernde „Allgemeinheit“ als deutsches Kollektiv19 fingiert wird bzw. dass – „neben (?) der Verwirklichung der steuerbegünstigten Zwecke“ – „auch (ein) Beitrag zum Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland“ vorausgesetzt wird.

III. „Förderung der Allgemeinheit“ 1. Abwehr von Individual- und Gruppennützigkeit Die Unabhängige Sachverständigenkommission20 hält zutreffend den Begriff „Förderung der Allgemeinheit“ insofern für „unangemessen“, als das Gesetz den Begriff der Allgemeinheit „mit einer größeren Personenzahl verknüpft“. Joachim Lang21, der sich engagiert gegen alle Erscheinungsformen des steuerlich geförderten materiellen Eigennutzes wendet, sieht den Normzweck des § 52 Abs. 1 Satz 2 AO ungeachtet der Wortlautfixierung auf den „Kreis der Personen, dem die Förderung zugute kommt“, darin, dass die Eigennützigkeit bei der Verfolgung wirtschaftlicher wie immaterieller Ziele und insb. bei der Freizeitgestaltung aus der Gemeinnützigkeit ausgeblendet wird. Joachim Lang weist zutreffend darauf hin, dass auch eine Körperschaft, die nur eine einzige Person fördert, die Allgemeinheit fördern kann. Er führt das Beispiel des Vereins zur Unterstützung des Dissidenten Sacharow an; dieser Verein fördert die Menschenrechte und ist „damit im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse tätig“. Die im Wortlaut des § 51 Abs. 2 AO angelegte negative Abgrenzung mittels Bezugnahme auf einen „Personenkreis“ „vermittelt keinerlei Wertungskonkretisierung“22. Die in der Rechtsprechung gebräuchliche Hilfskonstruktion vom „Ausschnitt aus der Allgemeinheit“ verfälscht den Norm-

__________ 16 Jachmann/Unger in Beermann/Gosch, AO, § 52 Rz. 78 ff. 17 Isensee/Knobbe-Keuk, Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 351 ff.; Seer (Fn. 13), 20 f. 18 Grundlegend Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973. 19 Michael Droege, Die steuerliche Gemeinnützigkeit zwischen Reform und Restauration, Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen, 2007, 65, 62 ff. 20 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 81 f., 276. 21 J. Lang, StuW 1987, 231 ff., 250 f.; ders., in WP-Handbuch (Fn. 9), Rz. 9 ff., 58 ff. 22 J. Lang, StuW 1987, 223.

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zweck, indem sie das Eindringen nicht förderungswürdiger Individualinteressen und schädlicher „Gruppeninteressenlagen“ vor allem zugunsten gruppennütziger Freizeitvereine begünstigt. Lang kritisiert zu Recht, dass nach h. M. bereits die potentielle Offenheit eines Vereins für jedermann ausreicht, eine „Förderung der Allgemeinheit“ anzunehmen. Demgegenüber geht es darum, die ‚Förderung der Allgemeinheit‘ auf ihren Sinngehalt zu begrenzen und nur der altruistisch tätigen Idealkörperschaft den Gemeinnützigkeitsstatus zu verleihen. Diesen Gedanken teilt § 52 Abs. 1 Satz 2 AO nicht mit. Richtigerweise muss die „Förderung im Interesse der Allgemeinheit“23 gegen Eigen- oder Gruppeninteressen abgegrenzt werden. Zu Recht führt Joachim Lang24 aus: „Verfassungskonforme Auslegung lässt es angezeigt erscheinen, die Förderung der Allgemeinheit als ‚Förderung des Gemeinwohls‘ aufzufassen.“ Dies bedeutet vor allem, dass die Förderung allgemein zugänglich sein muss.25 2. Förderung der Allgemeinheit am Beispiel des Breitensports Auf dieser gedanklichen Grundlage lässt sich das seit Jahrzehnten diskutierte Problem der steuerlichen Sportförderung26 m. E. befriedigend lösen. Dass Breitensport getrieben wird, liegt im allgemeinen Interesse. Will man einen Widerspruch zu zahlreichen Verfassungsbestimmungen und auch zu Art. 165 Abs. 2 des Lissaboner Vertrages über die Arbeitsweise der EU27 vermeiden, sollte auch der Breitensport als gemeinwohldienlich anerkannt werden, indes ein Korrektiv über den Ausschluss von Gruppennützigkeit gesucht werden. Die Erkenntnis, dass Sportvereine jedenfalls dann mitgliedernützig und damit nicht selbstlos sind, wenn sie ihre Mitglieder hochwertige Ressourcen nutzen lassen, beginnt sich durchzusetzen. Das Urteil des EuGH28 in der Rs. Kennemer Golf & Country Club zeigt aus umsatzsteuerrechtlicher Sicht einen reali-

__________ 23 P. Fischer, Überlegungen zur Fortentwicklung des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts, FR 2008, 752 (754) m. w. N. 24 J. Lang, StuW 1987, 231 ff.; ders., WP-Handbuch (Fn. 9), Rz. 52, m. w. N. 25 J. Lang, WP-Handbuch (Fn. 9), Rz. 53. 26 Sehr eng J. Lang, StuW 1987, 234 ff., 250 f.; ders., WP-Handbuch (Fn. 9), Rz. 70 ff. m. w. N.; ablehnend zuletzt Leisner-Egensberger; Verfassungsrecht der steuerlichen Gemeinnützigkeit, in FS Isensee, 2007, 895; differenzierend, indes gleichfalls den Eigennutz des Spendenabzugs eliminierend P. Fischer, Gemeinnutz und Eigennutz am Beispiel der steuerlichen Sportförderung, in FS Offerhaus, 1999, S. 597. 27 Art. 165 Abs. 2 EGV – Lissabon lautet: „Die Union trägt zur Förderung der europäischen Dimension des Sports bei und berücksichtigt dabei dessen besondere Merkmale, dessen auf freiwilligem Engagement basierende Strukturen sowie dessen soziale und pädagogische Funktion.“ 28 EuGH v. 21.3.2002 – Rs. C-174/00 – Kennemer Golf Club, EuGHE 2002, I-3293 = UR 2002, 320 = BFH/NV Beilage 2002, 95 = UVR 2002, 154: „… Die Leistungen des Vereins bestehen nämlich darin, dass er seinen Mitgliedern dauerhaft Sportanlagen und damit verbundene Vorteile zur Verfügung stellt, und nicht darin, dass er auf Verlangen seiner Mitglieder gezielte Leistungen erbringt. Somit besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Jahresbeiträgen der Mitglieder eines Sportvereins wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden und den von diesem Verein erbrachten Leistungen.“

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tätsgerechten Aspekt auf: Das Mitglied, das seinen Vereinsbeitrag entrichtet, erwartet als Gegenleistung die Möglichkeit einer Ressourcennutzung, für die ein gewerblicher Anbieter das Entgelt unter rauen Steuerbedingungen kalkulieren muss. 3. „Allgemeinheit der Steuerinländer“ und transnationale Förderzwecke Das wie dargelegt verquere Verständnis der „Allgemeinheit“ ist ursächlich für die in § 51 Abs. 2 AO zum Ausdruck kommende Auffassung, die Steuervergünstigung für eine Zweckverwirklichung im Ausland setze namentlich voraus, „dass natürliche Personen, die ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben, gefördert werden“. Mit dieser Personalisierung wird verkannt, dass es unzählige transnationale Gemeinwohlzwecke gibt, welche die Bundesrepublik auf verfassungs-, haushaltsund gemeinnützigkeitsrechtlicher Grundlage fördert. Das traditionell weltoffene Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht mehrt das Ansehen der Bundesrepublik, ohne dass man dies zum gesetzlichen Tatbestandsmerkmal erheben müsste. Der auch vom EuGH akzeptierte strukturelle Inlandsbezug muss eine andere Zielrichtung und Begrenzung haben.29 Einen Anhaltspunkt hierfür gibt § 23 BHO (und die entsprechenden Bestimmungen der Landeshaushaltsordnungen): Ausgaben „für Leistungen an Stellen außerhalb der Bundesverwaltung zur Erfüllung bestimmter Zwecke (Zuwendungen) dürfen nur veranschlagt werden, wenn der Bund an der Erfüllung durch solche Stellen ein erhebliches Interesse hat, das ohne die Zuwendungen nicht oder nicht im notwendigen Umfang befriedigt werden kann“. Dies bedeutet konkret: An der musikalischen Ausbildung von Schweizer Jungbürgern in Italien, wie sie in der vom EuGH30 entschiedenen Rs. Stauffer in Frage stand, ist hierzulande niemand interessiert; die Gesamtheit der deutschen Steuerzahler muss hierfür keine Finanzierungsverantwortung übernehmen. Die italienische Stauffer-Stiftung käme auch nicht auf die Idee, bei einer bundesdeutschen Gebietskörperschaft die Zuwendung von öffentlichen Mitteln zur Erfüllung ihrer satzungsmäßigen Zwecke zu beantragen. Deutsche Kommunen finanzieren – angesichts der aktuellen Finanznot der öffentlichen Hand rückläufig – „ihre“ Jugendmusikschulen vor Ort, aber nicht die in Cremona. Hingegen besteht an der Wahrung der Menschenrechte überall auf der Welt, an der von Deutschland ausgehenden und das „Ansehen der Bundesrepublik mehrenden“ Entwicklungshilfe ebenso wie auch am Schutz der Polkappen wie der Vielfalt des Regenwaldes ein elementares grenzüberschreitendes, keiner bestimmten Personengruppe als „Allgemeinheit“ zuzurechnendes besonderes Interesse.

__________ 29 Ausführlich P. Fischer (Fn. 23), 756 ff. 30 EuGH Urt. v. 14.9.2006 – Rs. C-386/04 – Centro di Musicologia Walter Stauffer, EuGHE 2006, I-8203 = FR 2007, 242.

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Gemeinnützigkeitsrechtliche Förderung der Allgemeinheit

IV. Gemeinnützigkeit in Europa 1. Gibt es eine „europäische Allgemeinheit“? Die Bundesrepublik hat seit jeher ein weltoffenes Gemeinnützigkeitsrecht. Nicht erst die Vollendung des Binnenmarktes hat es den gemeinnützigen Organisationen ermöglicht, die nationalen Grenzen zu überschreiten. Die tatbestandsmäßige Beschränkung auf Steuerinländer als Destinatäre der Förderung des Allgemeinwohls steht im Fokus grundfreiheitsrechtlich gegründeten Argwohns, und es wird bereits erörtert31 und auch befürwortet,32 ob bzw. dass die Kapitalverkehrsfreiheit auch den Sonderausgabenabzug für Spenden an Organisationen in Drittstaaten erfordert. Kapitalverkehrsfreiheitsrechtliche Allmachtphantasien erscheinen möglich, weil der EuGH die Ausübung von Freiheiten im Blick hat und nicht anerkennt, dass der Spendenabzug – ebenso wie z. B. der Abzug von Schulgeld oder die Steuerbefreiung für nebenamtliche Lehrtätigkeit – nationalstaatliche Instrumente zur Finanzierung konkurrierender und pluralistischer Gemeinwohlaufgaben und damit zum Funktionieren der innerstaatlichen Rechtsordnung unerlässlich sind. Dieses von der Bundesrepublik auch im Verfahren der Rs. Persche vorgebrachte Argument passt nicht in das Prokustesbett der vom EuGH anerkannten Rechtfertigungsgründe; die Argumente der Kohärenz, der Substitution und der „Achtung der grundlegenden Funktionen des Staates“ (vgl. Art. 4 Abs. 2 Satz 2 EGV – Lissabon) finden bei ihm kein Verständnis. Die verschiedentlich herbeigewünschte primärrechtliche Vorgabe, der Mitgliedstaat solle mit dem Verzicht auf Steueraufkommen auch den Yachtclub auf den Jungferninseln und die Altenpflege in Miami – möglichst ohne steuerverfahrensrechtliche Verifikation33 (unten 4.) – finanzieren, ist für weltläufige Europarechtler ein Traum, für andere vor allem angesichts der Missbrauchsgefahr34 ein Alptraum, auch weil nach dem bisherigen acquis communautaire solche steuerlichen Segnungen – anders als im Sozialrecht, wo die Gefährdung

__________ 31 Zum Problem von Proff zu Irnich, IStR 2009, 371; Fritsche, European Law Reporter 2009, 63. 32 Vgl. Thömmes, IWB 2009/4, Fach 11a, 1227. 33 J. Lang, StuW 1987, 252, hat vorgeschlagen, das (frühere) Bundesamt für Finanzen mit der „internationalen Überprüfung gemeinnütziger Organisationen“ zu betrauen wie auch generell die Administration des Gemeinnützigkeitsrechts dieser Behörde zu übertragen. Speziell zur – vom EuGH wohl wegen des unzureichenden Vortrags der deutschen Prozessvertreter verkannten – Bedeutung der Außenprüfung s. BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 = FR 2004, 470 m. Anm. Jacob/Vieten: „Lässt sich der Regelfall auf Grund einer Analyse der verfahrensrechtlichen Strukturen des Besteuerungsverfahrens und auf Grund von empirischen Erkenntnissen über die Veranlagungspraxis ausreichend zuverlässig so beschreiben, dass bestimmte Einkünfte materiell-rechtlich zutreffend nur bei einer qualifizierten Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen erfasst werden und ein Fehlverhalten bei der Erklärung ohne ein praktisch bedeutsames Entdeckungsrisiko möglich bleibt, dann liefert bereits dies hinreichende Grundlagen für die Feststellung einer im Gesetz strukturell angelegten Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung“. 34 S. OECD-Bericht v. 24.10.2009 „Report on Abuse of Charities for Money-Laundering and Tax Evasion“; http://www.oecd.org/dataoecd/30/20/42232037.pdf.

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des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit rechtlich relevant ist35 – nicht unter einem Vorbehalt der Finanzierbarkeit stehen würden. Im Sozialrecht und zunehmend im Steuerrecht36 wird beklagt, dass der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers mehr und mehr durch die Grundfreiheiten beschränkt wird. Der Gedanke, dass die Finanzierbarkeit und Administrierbarkeit europäisch definierter Aufgaben den Staat nicht überfordern darf, ist auch dem EU-Primärrecht nicht fremd; dies zeigt Art. 5 Satz 5 des Lissaboner Protokolls Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.37 Dieses Prinzip darf aus Verfassungsgründen um der Selbstbehauptung des finanzrechtlichen Parlamentsvorbehalts willen nicht aufgegeben werden. Es ist die ureigene Aufgabe jeden Staates, das Gemeinwohl auf seinem Gebiet zu generieren,38 natürlich einschließlich der transnationalen Gemeinwohlzwecke, die in seinem Interesse liegen. Daher trifft die bundesstaatlich inspirierte Vorstellung nicht zu, dass Spenden schon dann von der nationalen Steuerbemessungsgrundlage abgezogen werden können, wenn eine Empfängerkörperschaft in einem anderen Mitgliedstaat mit einer nationalen vergleichbar ist, „also wenn identische Interessen der Allgemeinheit gefördert werden“. Nationale und transnationale Gemeinwohlzwecke werden im Rahmen der Budgethoheit der Haushalts- und Steuergesetzgeber der Mitgliedstaaten innerhalb ihrer verfassungsmäßigen Ordnung definiert; die Ausgaben zur Finanzierung sind im Hinblick auf die in Art. 110 GG normierte Budgethoheit des Parlaments „in den Haushaltsplan einzustellen“. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes regelt damit – wie Joachim Wieland39 eindruckvoll formuliert und begründet hat – ein System geschlossener (Steuer-) Staatlichkeit. In diesem System „übt“ der Gesetzgeber Verteilungsgerechtigkeit und weist jedem Steuerbürger seine Finanzierungsverantwortlichkeit zu.

__________ 35 EuGH v. 28.4.1998 – Rs. C-158/96 – Kohll, EuGHE 1998, I-1931, Rz. 41, v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07: Eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit kann als solche einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine Beschränkung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen kann. S. ferner EuGH v. 19.4.2007 – Rs. C-444/05 – Stamatelaki, EuGHE 2007, I-3185, Rz. 30; v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07 – Kattner Stahlbau, DB 2009, 737; v. 14.1.2010 – Rs. C-343/08 – Kommission gegen Tschechische Republik, Rz. 61. 36 S. die von Johanna Hey betreute Dissertation von Andrea Kämper, Nationale Steuervergünstigungshoheit und Europarecht: Vereinbarkeit der Beschränkung von Steuervergünstigungen auf Inlandssachverhalte mit den Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2009. 37 „Die Entwürfe von Gesetzgebungsakten berücksichtigen dabei, dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Union, der nationalen Regierungen, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaftsteilnehmer und der Bürgerinnen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen.“ 38 Das Gemeinwohl ist das „allgemeinste“ aller Staatsziele; so Isensee in Kirchhof/ Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, S. 3 ff. 39 J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, in FS für M. Zuleeg, 2005, S. 492 ff.; s. auch Kube, IStR 2005, 469.

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Die Haushaltsverantwortlichkeit des nationalen Gesetzgebers wird nicht zuletzt von den sog. Maastricht-Kriterien vorausgesetzt und sanktioniert. Auch ansonsten existiert nach Gemeinschaftsrecht keine einheitliche Steuerhoheit, angesichts derer es unerheblich wäre, in welchem Staat Steuern anfallen und Steuergutschriften ausgezahlt werden.40 Das BVerfG41 hat in seinem Urteil v. 30.6.2009 zum Lissabon-Vertrag zur Gestaltungsfähigkeit des (Haushalts-)Gesetzgebers ausgeführt (Hervorhebungen vom Verf.): „Eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung des Budgetrechts des Bundestages läge vor, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde. Der Deutsche Bundestag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über die Summe der Belastungen der Bürger entscheiden. Entsprechendes gilt für wesentliche Ausgaben des Staates. In diesem Bereich obliegt gerade die sozialpolitische Verantwortung dem demokratischen Entscheidungsprozess, auf den die Bürger mit der freien und gleichen Wahl einwirken wollen. Die Hoheit über den Haushalt ist der Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den Zusammenhang von wirtschaftlichen Belastungen und staatlich gewährten Vergünstigungen. Deshalb wird die parlamentarische Aussprache über den Haushalt – einschließlich des Maßes der Verschuldung – als politische Generaldebatte verstanden.“

Allerdings hat das BVerfG hinzugefügt, dass nicht jede haushaltswirksame europäische oder internationale Verpflichtung die Gestaltungsfähigkeit des Bundestages als Haushaltsgesetzgeber gefährde. Im Rahmen der vom Grundgesetz erstrebten Öffnung der Rechts- und Sozialordnung und zur europäischen Integration müsse sich der Haushaltsgesetzgeber an Vorgaben und Bindungen anpassen und diese „als nicht unmittelbar beeinflussbare Faktoren in die eigene Planung einstellen“. Entscheidend sei aber, dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch im Deutschen Bundestag getroffen werden könne. Josef Isensee42 schreibt: „Das Gemeinwohl wird nicht spekulativ in den Sternen gesucht, sondern erdnah und geldnah in Voraussetzung und Verteilung der Finanzlasten.“ Es ist nichts Anstößiges an dem Gedanken, dass die Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung ihrer durch das primärrechtliche Subsidiaritätsprinzip gesteuerten Aufgaben für das im Rahmen ihrer nationalen Identität zu finanzierende „nationale Wohl“ zuständig sind.43 Die Folgerungen hieraus sind m. E. nicht ausdiskutiert. 2. Förderung von Gemeinwohlzwecken in Europa Nach dem Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon ist eine Öffnung des deutschen „Spendenmarktes“ für Rechtsträger in Europa und irgendwo auf dem

__________

40 J. Wieland (Fn. 39), S. 487. 41 BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267. 42 J. Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes, in FS Günter Dürig, 1990, S. 33 ff., 34. 43 Vgl. P. Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl? – eine Problemskizze, in FS Steinberger, 2001, S. 1153 ff.

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Globus dem Dictum des deutschen Gesetzgebers vorbehalten.44 Die sog. Europäisierung des Gemeinnützigkeitsrechts wirft Fragen der Rechtsetzungskompetenz und der Finanzierung auf, die nicht allein mittels schlichtjurisprudenziellen Durchdeklinierens der gängigen Dogmatik der EU-Grundfreiheiten beantwortet werden können. Nicht zuletzt auf der Grundlage des LissabonUrteils des BVerfG ist eine „verfassungswertorientierte“ Gesamtbetrachtung der europäischen Mehrebenen-Architektur, der Kompetenz- und Werteordnung des Grundgesetzes sowie der systematischen Grundlagen des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts erforderlich. 3. Ein Beispiel: Finanzierung der Forschungslandschaften in Europa Man wird Jachmann/Unger45 darin zustimmen können, dass z. B. die grenzüberschreitende Forschung unerlässlich ist: Die Schaffung eines „Europäischen Raums der Forschung“ ist erklärtes Ziel der EU (Art. 182 Abs. 5 EGV – Lissabon). Die „Tätigkeit der Gemeinschaft“ hat zum Ziel u. a. die „Mobilität von Lehrenden und Lernenden“ (Art. 165 Abs. 2, 2. Spiegelstrich EGV – Lissabon). Gleichwohl setzt auch das Lissaboner Primärrecht einen Wettbewerb der mitgliedstaatlichen Forschungslandschaften mit geteilter Regelungs- und Finanzierungszuständigkeit voraus, wobei die Union und die Mitgliedstaaten „ihre Tätigkeiten auf dem Gebiet der Forschung und der technologischen Entwicklung (koordinieren), um die Kohärenz der einzelstaatlichen Politiken (!) und der Politik der Union sicherzustellen (Art. 181 Abs. 1 EGV – Lissabon). Nach der „Erklärung zu Art. 163 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU wird „die Tätigkeit der Union auf dem Gebiet der Forschung und technologischen Entwicklung den grundsätzlichen Ausrichtungen und Entscheidungen in der Forschungspolitik der Mitgliedstaaten (!) angemessen Rechnung tragen“. In Art. 4 Abs. 3 EGV – Lissabon heißt es: „In den Bereichen Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt erstreckt sich die Zuständigkeit der Union darauf, Maßnahmen zu treffen, insbesondere Programme zu erstellen und durchzuführen, ohne dass die Ausübung dieser Zuständigkeit die Mitgliedstaaten (!) hindert, ihre Zuständigkeit auszuüben.“ Angesichts der Forschungsfreiheit insbesondere der Hochschulen bezieht sich die „Forschungspolitik der Mitgliedstaaten“ schwerpunktmäßig auf die Finanzierung der Forschung; auch hier bedarf es i. S. d. BVerfG einer „konzeptionellen politischen Entscheidung“ des nationalen Haushaltsgesetzgebers. Dies begründet einen Inlandsbezug der Forschungspolitik.46 Hinsichtlich der allgemeinen und beruflichen Bildung, der Kultur, der Gesundheits- und Bildungspolitik, der Raumfahrtprogramme und des Katastrophenschutzes sind die ausdrücklichen Harmonisierungsverbote zu beachten (Art. 166 Abs. 5, Art. 167 Abs. 5, Art. 168 Abs. 5, Art. 189 Abs. 2, Art. 196 Abs. 2 EGV – Lissabon). Diesbezügliche eigene Förderbeiträge kann

__________ 44 A. A. Hüttemann/Helios, Zum grenzüberschreitenden Spendenabzug in Europa nach dem EuGH-Urteil vom 27.1.2009, Persche, DB 2009, 701 ff. 45 Jachmann/Unger in Beermann/Gosch, AO, § 52 Rz. 78 ff. 46 P. Fischer, Überlegungen zur Fortentwicklung des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts, FR 2008, 752 ff.

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die EU in einem „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ beschließen. Sie kann aber keine zu Lasten der Mitgliedstaaten ausgabenwirksamen Programme beschließen. 4. Zur Rechtsstellung inländischer Mittelbeschaffungskörperschaften Immer wieder wird § 58 Nr. 1 AO als Beleg für eine „Durchbrechung der Substitutionsthese“ angeführt, in § 58 Nr. 1 AO sei die Beschaffung von Mitteln für die Verwirklichung der steuerbegünstigten Zwecke einer ausländischen Körperschaft begünstigt, ohne dass deren Tätigkeit einen Inlandsbezug aufweisen müsse.47 Nach dem Wortlaut des § 58 Nr. 1 AO sei nicht erforderlich, dass die ausländische Körperschaft die Voraussetzungen der §§ 51 bis 63 AO erfülle. Akzeptiere der Gesetzgeber eine solche Durchbrechung der Substitutionsthese, könne er sich im Zusammenhang mit § 51 Abs. 2 AO nicht widerspruchsfrei auf einen territorialen Konnex zwischen Steuerverzicht und Gemeinwohlverwirklichung berufen. Funktioniere die Steueraufsicht bei der Anwendung des § 58 Nr. 1 AO, sei kein Grund ersichtlich, warum solches in anderen Konstellationen nicht möglich sein sollte.48 Damit wird die Tragweite des § 58 Nr. 1 AO verkannt. Diese Vorschrift betrifft sog. Mittelbeschaffungskörperschaften, für welche die Grundsätze über die Zweckverfolgung und die Mittelverwendung gelten mit der Ausnahme, dass sie ideell gebundene Mittel anderen Körperschaften zur Verausgabung anvertrauen können. Eine nicht unbeschränkte steuerpflichtige ausländische Empfängerkörperschaft muss nicht selbst steuerbegünstigt sein. Ist der Empfänger einer Zuwendung eine inländische juristische Person des öffentlichen Rechts, eine inländische öffentliche Dienststelle oder ein inländischer amtlich anerkannter Verband der freien Wohlfahrtspflege einschließlich seiner Mitgliedsorganisationen, gibt die Verwaltung einen Vertrauensvorschuss und geht im Allgemeinen davon aus, dass die Zuwendungen für steuerbegünstigte Zwecke verwendet werden. Das gilt auch dann, wenn der Verwendungszweck im Ausland verwirklicht wird.49 Das Gesetz ermöglicht auf diese Weise mit Augenmaß eine grenzüberschreitende Verfolgung eigener Zwecke und Mittelverwendung inländischer Rechtsträger. Werden Mittel für nicht unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaften beschafft, müssen diese die Mittel „für der Art nach steuerbegünstigte Zwecke verwenden“. Die Verwendung der Mittel für die steuerbegünstigten Zwecke muss von der inländischen Körperschaft ausreichend nachgewiesen werden.50 Weil ein inländischer Gewährsträger vorhanden ist, sind die Interessen des Steuergläubigers gewahrt. Dies ist anders,

__________ 47 Hüttemann, Non profit yearbook 2007, 231, 244 f.; Hüttemann/Helios (Fn. 44). 48 Hüttemann/Helios (Fn. 44), S 704 f.; Frotscher, Europarechtliche Fragen des Rechts der steuerbegünstigten Zwecke, in Gedächtnisschrift W. Rainer Walz, 2008, S. 199 ff., 204; Jachmann/Unger in Gosch, § 51 Rz. 70 ff. 49 OFD Koblenz v. 16.2.2009 – S 2223/S 2751/G1425 A-St 33 1, StEK EStG § 10b Nr. 426, Tz. 6. 50 AEAO zu § 58 Nr. 1 Satz 6; ausführlich OFD Hannover v. 15.6.2001, StEK AO 1977 § 52 Nr. 143.

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wenn eine im Ausland ansässige Körperschaft im Inland weder einen Vertreter noch eine Geschäftsadresse hat.51 Die administrativen Probleme werden gänzlich unlösbar, falls auch ausländische Mittelbeschaffungskörperschaften anerkannt werden sollten. Zu Recht wird in der Literatur zunehmend anerkannt, dass eine grenzüberschreitende Administration des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts mangels rechtlicher und faktischer Möglichkeit zur Verifikation trotz Inanspruchnahme der Amtshilfe-Richtlinie nicht möglich ist.52

V. Leistungserbringung im Zweckbetrieb (§§ 65 ff. AO) Joachim Lang53 stellt zu Recht fest, dass die „schwierige“ bzw. de lege lata „verunglückte“ Zweckbetriebs-Definition (§ 65 AO) und die Zweckbetriebskasuistik der §§ 66 ff. AO das Gemeinnützigkeitsrecht in einem zentralen Punkt „undurchschaubar“ machen. Die drittschützende Wettbewerbsklausel des § 65 Nr. 3 AO, die die „fundamentale Grundlage für die Abwägung der Wettbewerbsbeeinträchtigung gegen das Gemeinwohl“ ist,54 ist die „am häufigsten kritisierte Bestimmung des Gemeinnützigkeitsrechts“55. Die Anreicherung des Begriffs „Zweckbetrieb“ mit einem klaren Entscheidungsmaßstab ist eine „zentrale Aufgabe des Gesetzgebers bei der Novellierung des Gemeinnützigkeitsrechts“.56 Auch bedarf das Verhältnis des § 65 AO als Grundnorm zum „Beispielskatalog“ der §§ 66 ff. AO einer grundsätzlichen Klärung.57

__________ 51 § 8 Abs. 4 GmbHG i. d. F. des MoMiG v. 23.10.2008 (BGBl. I 2008, 2026) bestimmt, dass bei der Anmeldung einer GmbH im Handelsregister eine inländische Geschäftsadresse angegeben sein muss. Dies aus dem Grund, dass Zustellungen an die Gesellschaft möglich sind, ansonsten kommt die öffentliche Zustellung in Betracht (hierzu BR-Drucks 354/07, S. 80 f.; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG, Kommentar, 17. Aufl. 2009, § 8 GmbHG Rz. 20); dies im Interesse des redlichen Geschäftsverkehrs und der Gläubiger (die sich ihren kontraktlichen Schuldner aussuchen können!). Die Ausübung von Freiheit grenzt an Libertinage, wenn dem Steuerstaat noch nicht einmal die formale Möglichkeit zugestanden wird, gegenüber ausländischen Rechtsträgern Steuerbescheide und andere Finanzbefehle zustellen zu können. 52 Ausführlich S. Neumann, Steuerliche Verbesserungen für das bürgerschaftliche Engagement und die Folgen aus der Stauffer-Entscheidung des EuGH für den Spendenabzug, FR 2008, 745; zuletzt Leisner-Egensperger, Verfassungsrecht der steuerlichen Gemeinnützigkeit, in FS Isensee, 2007, S. 895 ff. 53 J. Lang, StuW 1987, 224, 240 ff.; ders., WP-Handbuch (Fn. 9), Rz. 13; Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 156 ff. 54 J. Lang, StuW 1987, 240. 55 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 156 ff., 159, 166 ff.; P. Fischer, Gemeinwohl, Daseinsvorsorge und bürgerschaftliches Engagement – eine Gedankenskizze zum Zweckbetrieb, Gedächtnisschrift Trzaskalik, 2005, S. 49; ders., Die Regelbeispiele für die Gemeinnützigkeit und die Zweckbetriebe, Gemeinnützigkeitsrecht – Quo vadis? 2006, S. 183. 56 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 159 ff.: Es müsse ein klarer Entscheidungsmaßstab in das Gesetz aufgenommen werden. Das Gutachten (S. 284) schlägt vor, die Wettbewerbsklausel für Zweckbetriebe in der Weise zu vereinfachen, dass die im geltenden Recht vorgesehene, unpraktikable Abwägung überflüssig wird. 57 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 161.

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Die Grundaussage des § 65 AO wird in der aktuellen Diskussion verschliffen. Es wird danach gefragt, ob der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb „für die Verwirklichung der Vereinszwecke unerlässlich ist“. Die Rechtsprechung stellt damit eine unzutreffende Abwägungsrelation her zwischen dem steuerbegünstigten Vereinszweck und dem „zu seiner Erreichung unentbehrlichen und einzigen Mittel“. Mit dieser Relation werden „Hilfstätigkeiten“ – etwa der Betrieb einer Pferdepension durch einen gemeinnützigen Pferdesportverein – in die Förderung einbezogen.58 Der BFH hält es für denkbar, dass der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb – unabhängig von der Gemeinwohlrelevanz des Betriebs im Übrigen – ein „unentbehrliches Mittel“ bei der Verfolgung des ideellen Vereinszweckes ist und misst in diesem Zusammenhang der Satzung des Klägers eine entscheidende Bedeutung bei. Demgegenüber kann es nur darauf ankommen, ob es einen gleichheitsrechtlich triftigen Grund dafür gibt, dass der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb des Vereins auch mit seinen nur gegenüber den Mitgliedern erbrachten Leistungen im Verhältnis zu branchengleichen Wettbewerbern bevorzugt wird. Vergleichbares gilt für Idealvereine, die Tennishallen oder Skilifte59 für Mitglieder betreiben oder diesen Tanzstunden erteilen.60 Die Unabhängige Sachverständigenkommission61 will „wettbewerbende Geschäftsbetriebe“ aus der Vergünstigung durch § 65 AO ausschließen und stellt hierzu fest: „Soweit gewerbliche Unternehmen ein hinreichendes Güterangebot bereitzustellen in der Lage sind, besteht in einer auf individueller Handlungsfreiheit gegründeten Wirtschaftsordnung kein Grund, durch steuerliche Eingriffe zugunsten bestimmter Konkurrenten … einen Verdrängungswettbewerb auszulösen. Die Vergünstigung für wirtschaftliche Geschäftsbetriebe gemeinnütziger Körperschaften hat nur insoweit ihre Berechtigung, als diese Tätigkeit eine zusätzliche Förderung des Gemeinwohls darstellen kann. Das trifft dann zu, wenn die wirtschaftlichen Geschäftsbetriebe … im Verhältnis zu gewerblichen Anbietern ein quantitatives oder qualitatives Mehr an Gemeinwohl produzieren. Das ist namentlich dann der Fall, wenn sich das Angebot von Gütern und Leistungen wirtschaftlicher Geschäftsbetriebe wesentlich von denjenigen gewerblicher Anbieter unterscheidet. …“

Dem ist zuzustimmen. Die Monopolkommission hat in ihrem 12. Hauptgutachten 199862 die Existenzberechtigung des Rechtsinstituts „Zweckbetrieb“ in Frage gestellt und den Gesetzgeber aufgefordert, im Wege einer grundlegenden Erneuerung auch des Gemeinnützigkeitsrechts einen gemeinschaftsrechtlich kompatiblen ordnungspolitischen Rahmen für die Sozialsysteme einschließlich der Krankenhausdienstleistungen freigemeinnütziger Rechtsträger zu schaffen. Letztere werden darlegen müssen, welchen Mehrwert sie im Verhältnis zu

__________ 58 BFH v. 19.2.2004 – V R 38/02, BFH/NV 2004, 1298; zutreffend hingegen J. Lang, StuW 1987, 239, unter Bezugnahme auf BFH v. 2.10.1968 – I R 40/68, BStBl. II 1969, 43. 59 Zutreffend J. Lang, StuW 1987, 240 f. 60 A. A. BFH v. 27.4.2008 – V R 53/04, BStBl. II 2007, 16 = UR 2007, 70. 61 A. a. O. (Fn. 2), S. 172 ff. 62 BT-Drucks. 13/11291, 419 ff. Zu Krankenhäusern s. auch J. Lang, StuW 1987, 241.

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den gewerblichen Trägern von Krankenhausdienstleistungen generieren63, etwa durch die Einbindung des zivilgesellschaftlichen Engagements in Gestalt ehrenamtlicher Betätigung. Auf das Bestehen einer argumentativen Bringschuld des Dritten Sektors hat auch die Enquetekommission „Bürgerschaftliches Engagement“64 hingewiesen. Es erscheint unabdingbar, dass die Privilegien der Gemeinnützigkeit einfließen in eine besondere Qualität der Leistungserbringung. Nicht zuletzt das europäische Beihilfenrecht nötigt zu dieser rechtlichen Perspektive. Allerdings wird der Rechtsstatus der Daseinsvorsorge auf der Rechtsgrundlage des Art. 14 EGV (Lissabon) – über die „vordemokratischen“ und eindimensional wettbewerbsorientierten Regularien des sog. Monti-Pakets hinaus – in einem europäischen Gesetzgebungsverfahren zu normieren sein.65 Hierbei werden die von der Unabhängigen Sachverständigenkommission66 und von Joachim Lang67 avisierten „Zugeständnisse an das Sozialstaatsprinzip“ von Bedeutung sein. Zwar schlägt die Kommission eine „engere“ Fassung des Begriffs „Zweckbetrieb“ vor,68 will aber folgerichtig bei der Novellierung der §§ 66 ff. AO „aus sozialstaatlichen Gründen gewisse Ausnahmeregelungen von der Wettbewerbsklausel des § 65 Nr. 3 AO“ zulassen. Der BFH69 hat mit seinem Beschluss zu den Krankenfahrten70 die aktuelle Diskussion über das Verhältnis des Beispielkatalogs in §§ 66 bis 68 AO zur allgemeinen Definition des Zweckbetriebs (§ 65 AO) eröffnet. Wie im Krankenhauswesen gilt es auch zu fragen, aus welchen Gründen in einem regulierten Dienstleistungssektor, in dem landesgesetzlich sowohl die Investitions- als auch die Betriebskosten der Träger der Daseinsvorsorge letztlich vom Staat getragen werden,71 die gewerblichen Anbieter zusätzliche Privilegien zugunsten gemeinnütziger Rechtsträger wettbewerbsrechtlich hinnehmen müssen. Dass Medizinische Versorgungszentren Zweckbetriebe sein könnten,72 halte ich für ausgeschlossen.73

__________ 63 Es wird verwiesen auf das Memorandum der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege „Zivilgesellschaftlicher Mehrwert gemeinwohlorientierter sozialer Dienste“ (Mai 2004), http://www.bagfw.de/uploads/tx_twpublication/m00188_deu1 komplett.pdf. S. ferner Kuper, Wohlfahrtsverbände – Zivilgesellschaftliche Akteure im europäischen Gesellschafts- und Sozialmodell, NDV 2004, 83. 64 BT-Drucks. 14/8900, 279: Die Enquete-Kommission ist der Ansicht, dass es für die Zukunft bürgerschaftlichen Engagements eine Schlüsselrolle spielen wird, wie die Wohlfahrtsverbände und ihre Partner in Bund, Kommunen, Ländern und bei den Sozialkassen mit dieser Frage umgehen werden. 65 P. Fischer, Marktliberalismus vs. Europäisches Sozialmodell, FR 2009, 729 ff. 66 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 161 ff., 167, 175 ff., 189 ff. 67 J. Lang, StuW 1987, 241 ff. 68 Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 2), S. 278 f. 69 BFH v. 18.9.2007 – I R 30/06, BStBl. II 2009, 126 = FR 2008, 526; Nichtanwendungserlass BMF v. 20.1.2009 – IV C 4 - S 0185/08/10001 – DOK 2009/0012162, BStBl. I 2009, 339. 70 S. hierzu J. Lang, StuW 198, 251: Auch Taxiunternehmen können Krankenfahrten durchführen; anders freilich zum Rettungswesen mittels Notarztwagen und Hubschraubern. 71 Zusammenfassend P. Fischer, jurisPR-SteuerR 14/2008 Anm. 1. 72 A. A. Bayerisches Landesamt für Steuern v. 27.11.2006 – S 0185 - 1 St31N (KSt-Kartei Bayern § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG Karte 21.1). 73 Zu Dienstleistern des Gesundheitssystems J. Lang, StuW 1987, 241.

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Zivilgesellschaft und Steuern Inhaltsübersicht I. Das Thema II. Das Wesen der Zivilgesellschaft 1. Das Gemeinwohl in der Perspektive 2. Eingrenzung des Phänomens Zivilgesellschaft 3. Autonomie und Kommunikation als Wesen der Zivilgesellschaft 4. Werterelevanz in der Zivilgesellschaft 5. Parallelen zum Aufbau von Sozialkapital und zum Dritten Sektor III. Gemeinnützigkeit zwischen Staat und Markt 1. Unmittelbare Gemeinwohlförderung als Steuersubstitut

2. Finanzielle Gemeinwohlförderung IV. Die Rechtfertigung einer Steuerbegünstigung der Zivilgesellschaft 1. Zivilgesellschaft und gemeinnützige Zweckverfolgung – Widerspruch oder zwei sich überschneidende Kreise? a) Parallele Ziele bzw. Inhalte b) Unterschiedliche Umsetzung 2. Der zivilgesellschaftliche Aufbau von Sozialkapital als Grundlage einer Steuerbegünstigung der Zivilgesellschaft V. Fazit

I. Das Thema Joachim Langs ertragreiche Beiträge zu gemeinnützigen Körperschaften1 und deren gemeinwohlorientiertes Handeln sollen Anlass sein, darüber nachzudenken, wer in unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft dazu berufen ist, das Gemeinwohl hervorzubringen und inwieweit dies Steuerbegünstigungen rechtfertigt. „Gemeinwohl“ – auf dieses Ziel können sich wohl alle politischen Kräfte verständigen, es kann als Leitbild für Staat und Gesellschaft gelten, ohne dass man deren Relation zueinander klären müsste. Gleichwohl scheint gerade diese Relation an Brisanz zuzunehmen. Denn unser Wohlfahrtsund Sozialstaat leidet unter akuter Finanznot, verbunden mit einer immensen Verschuldung der Allgemeinheit zu Lasten künftiger Generationen. Dies zwingt zur Suche nach alternativen Formen der Wohlfahrtsproduktion; man stellt die Frage nach der sachlichen Rechtfertigung überkommener Strukturen

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1 Joachim Lang, Staatsloyalität kirchensteuerberechtigter Religionsgemeinschaften, in Kirche und Recht im sozialen Rechtsstaat, 2003, S. 497; J. Lang/Seer, Der Betriebsausgabenabzug im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs gemeinnütziger Körperschaften, FR 1994, 521; J. Lang/Seer, Die Besteuerung der Drittmittelforschung, BB 1993, 262; J. Lang, Neuordnung der Vereinsbesteuerung? – Zum Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeitsrechts, StbJb. 1988/89, 251; J. Lang, Zur steuerlichen Förderung gemeinnütziger Körperschaften, DStZ 1988, 18; J. Lang, Gemeinnützigkeitsabhängige Steuervergünstigungen – Ein Grundsatzthema zum Abbau von Steuersubventionen, StuW 1987, 221.

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staatlicher Gemeinwohlverwirklichung. Berufen zur Gemeinwohlrealisierung im freiheitlichen Gemeinwesen sind gleichberechtigt Staat und Bürger2. Vor diesem Hintergrund scheint sich – angesichts der schwindenden Präsenz familiärer und religiöser Verantwortungsgemeinschaften – die Lösung für eine positive gesellschaftliche Entwicklung wie auch Entlastung des Staates hinter dem Stichwort des sog. aktivierenden Staates3 zu verbergen, einhergehend mit einer sich emanzipierenden Zivilgesellschaft. Anstatt auf den – wankenden – allzuständigen Leistungsstaat setzen die Bürger zunehmend auf bürgerschaftliches Engagement4, um erkannten Bedürfnissen der Gesellschaft eigenverantwortlich nachzukommen und selbstgesetzte Gemeinwohlziele zu realisieren. Unter dem Leitbild der Zivilgesellschaft scheint so ein Weg in eine positive gesamtgesellschaftliche Zukunft zu führen. Dieses primär staatstheoretische und verfassungsrechtliche Szenario5 findet im Steuerrecht seine Parallele: Das gesellschaftliche Autonomiedenken führt zum Postulat einer Freiheit von staatlicher Steuererhebung, d. h. einer zivilgesellschaftlichen Steuerenklave. Denn Steuern finanzieren staatliches Handeln im staatlichen Verantwortungsraum, während die Zivilgesellschaft jenseits dessen agiert, eben nicht staatsvermittelte Verantwortung übernehmen will. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, mit welchem Selbstverständnis zivilgesellschaftliche Akteure das Gemeinwohl kreieren (s. u. sub. II.) und inwieweit dies – anknüpfend an die traditio-

__________ 2 Isensee, HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rz. 110 ff. und § 73 Rz. 12; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 22 m. w. N. 3 Der „aktivierende Staat“ setzt – das Subsidiaritätsprinzip (vgl. dazu nur Isensee, Fn. 2, § 73 Rz. 65 ff.; Subsidiaritätsprinzip und Verfassung, 2. Aufl. 2001) betonend – auf eine verstärkte gesellschaftsinitiierte Gemeinwohlfindung und -verwirklichung. Er fördert im Rahmen des Möglichen gesellschaftliche Verantwortung und orientiert sich bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben an dem Leitgedanken einer Stufung der Verantwortung zwischen Staat und Gesellschaft (zur Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft/verantwortungsübernehmender Zivilgesellschaft vgl. Schuppert in Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag [Hrsg.], Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft, 2002, S. 185, 187). „Die staatliche Aufgabenwahrnehmung muss die Anpassungs- und Selbstorganisationsfähigkeit einer experimentellen Gesellschaft unterstützen und dafür geeignete Formen finden.“ (Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, Zur Verteidigung der Rationalität der „Privatrechtsgesellschaft“, 2006, S. 390). Zur Neubelebung des Subsidiaritätsprinzips, d. h. dem Wandel vom allzuständigen Staat zu einem Staat, der die Gesellschaft aktiviert, Verhandlungen moderiert, Eigeninitiativen fördert und seine Bürger auffordert, sich selbst als Problemlöser in den existierenden Gestaltungsräumen zu engagieren, Behrens in von Allemann/Heinze/Wehrhöfer (Hrsg.), Bürgergesellschaft und Gemeinwohl, 1999, S. 47 (50 f.). 4 Zum bürgerschaftlichen Engagement als Rechtsbegriff und einer möglichen Definition anhand Freiwilligkeit, prinzipieller Unentgeltlichkeit und der objektiven Tendenz einer Gemeinwohlorientierung des Handelns vgl. Igl in Olk/Klein/Hartnuß (Hrsg.), Engagementpolitik, 2009, S. 175 f.; zur Korrespondenz von Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement vgl. Kocka in Jessen/Reichardt/Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte, 2004, S. 29, 31 f.; Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“, BT-Drucks. 14/8900, 45 f.; Fehren, Wer organisiert das Gemeinwesen?, 2008, S. 33. 5 Vgl. Heintzen, FR 2008, 737 (738).

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nelle Rechtfertigung des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts (s. u. sub. III.) bzw. jenseits dieser – eine Steuervergünstigung rechtfertigt (s. u. sub. IV.).

II. Das Wesen der Zivilgesellschaft 1. Das Gemeinwohl in der Perspektive Der Begriff Gemeinwohl erscheint vage und nicht abschließend definierbar6; er ist jedoch positiv besetzt, dies aus verschiedenen Perspektiven mit entsprechend unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Als allgemeinster Staatszweck ist das Gemeinwohl zunächst Rechtfertigung und Grenze aller Staatsgewalt7. Für Markt bzw. Wirtschaft erscheint es als Fernziel8, verfolgt – quasi nebenbei – über den „Umweg“ des individuellen Interesses am wirtschaftlichen Erfolg im Wettbewerb. Die Zivilgesellschaft bewegt sich in eher noch weniger klar fassbaren Strukturen. Als soziale Realität im Dienste einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft erscheint die Zivilgesellschaft in erster Linie als plurales Phänomen. Um ihr gemeinwohldienliches Handeln einzugrenzen, sind ihre grundlegenden Strukturen und Ziele herauszuarbeiten. 2. Eingrenzung des Phänomens Zivilgesellschaft Näher fassbar ist die Zivilgesellschaft aus organisatorischer (bereichslogischer), inhaltlicher (handlungslogischer) wie funktionaler Perspektive. Bereichslogisch9 betrachtet besteht die Zivilgesellschaft aus autonomen Organisationen (z. B. Vereine, Stiftungen), schließt aber Teile von Staat, Markt bzw. Wirtschaft und Familie (bzw. das persönliche Umfeld) ein, wobei die Grenzen fließend erscheinen. Unterschiedlich beurteilt wird, ob die Wirtschaft generell10 oder partiell11 auszuklammern ist bzw. keinerlei auf Gewinn ausgerich-

__________ 6 Isensee, Fn. 2, § 71 Rz. 3; Schuppert in Staatswissenschaft, 2003, S. 221 f. 7 Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7 (19). 8 Aus ökonomischer Sicht sind Märkte i. d. R. gerecht, förderlich für Freiheit und Demokratie; sie begünstigen ein rücksichtsvolles, kooperatives, ziviles und friedliches Verhalten; dies liege im Eigeninteresse der Marktteilnehmer (vgl. dazu Baur in Baur/ Korte/Löw/Schroer [Hrsg.], Handbuch Soziologie, 2008, S. 274). 9 Zum bereichslogischen Ansatz vgl. nur Priller in Kocka (Hrsg.), Zukunftsfähigkeit Deutschlands – Sozialwissenschaftliche Essays, WZB-Jahrbuch 2006, S. 339. 10 Vgl. dazu Priller in Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag (Hrsg.), Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft, 2002, S. 40 (43); vgl. auch Dahrendorf (in Michalski [Hrsg.], Europa und die Civil Society, Castel-Gandolfo-Gespräche 1989, 1991, S. 247 [262]), der hinsichtlich der Zivilgesellschaft nur auf autonome Organisationen abstellt und damit nur gegenüber dem Staat abgrenzt; später betont er, dass nur kleine und mittlere Unternehmen der zivilgesellschaftlichen Sphäre zuzuordnen seien (Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, 1994, S. 69). 11 Nur kleinere und mittlere Unternehmen als Bestandteil der Zivilgesellschaft (Dahrendorf [vgl. Fn. 10]).

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tete Organisation zur Zivilgesellschaft zählt12. Entsprechendes gilt für Familie und persönliches Umfeld13. In Abgrenzung zum Staat ist fraglich, ob politische Parteien Teil des Staates oder der Zivilgesellschaft sind14. Mitunter werden nur die Mitgliederbasen der Parteien als Teil der Zivilgesellschaft angesehen15. Ergänzt wird diese Beschreibung der Zivilgesellschaft durch eine sog. handlungslogische16 Komponente17. Danach dient die Zivilgesellschaft – neben möglichen partikularen Interessen – stets (auch) dem Gemeinwohl. Typisch für die Zivilgesellschaft aus handlungslogischer Sicht sind gewaltfreies18, tolerantes und freiwilliges Handeln19. Die Zivilgesellschaft greift gesellschaftliche Belange auf und erledigt sie selbst – sie wartet also nicht auf staatliches Eingreifen. Letztlich handelt die Zivilgesellschaft nach handlungslogischem Verständnis autonom20 – d. h. unabhängig von Staat und Markt21. Zudem artiku-

__________ 12 Vgl. Graf Strachwitz in Kohl/Kübler/Ott/Schmidt (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Walz, 2008, S. 725 (732); ähnlich Meyer in Bode/Evers/Klein (Hrsg.), Bürgergesellschaft als Projekt, 2009, S. 127 (128); zur „vermittelnden“ Auffassung, wonach Wirtschaftsunternehmen erst bei der ausschließlichen Verfolgung von Eigeninteressen aus der Zivilgesellschaft auszuschließen seien vgl. Pollack, Forschungsjournal NSB 2/2003, S. 46 (49); ähnlich Lauth in Zinecker (Hrsg.), Unvollendete Demokratisierung in Nichtmarktökonomien, 1999, S. 95 (97). 13 Vgl. dazu nur Bauerkämper in Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft, 2003, S. 7, 10 m. w. N. 14 Zum Ausschluss politischer Parteien aus der Zivilgesellschaft vgl. Thiery in Lexikon der Politikwissenschaft, Band 2, 3. Aufl. 2005, S. 1175; a. A. Dahrendorf in Michalski (Hrsg.), Europa und die Civil Society, Castel-Gandolfo-Gespräche 1989, 1991, S. 247 (262); allgemein zur Zivilgesellschaft als Thema parteipolitischer Programme vgl. Klein/Olk/Hartnuß in Klein/Olk/Hartnuß, Engagementpolitik, 2009, S. 24 (35 ff.). 15 Welzel in Lauth/Liebert (Hrsg.), Im Schatten demokratischer Legitimität 1999, S. 207 (210); nach Lauth (in Bauerkämper [Hrsg.], Die Praxis der Zivilgesellschaft, 2003, S. 31 [38]) sind politische Parteien Teil der Zivilgesellschaft, wenn sie nicht nach politischen Ämtern streben. 16 Zum handlungslogischen Ansatz vgl. nur Gosewinkel/Rucht/van den Daele/Kocka in Gosewinkel/Rucht/van den Daele/Kocka (Hrsg.), WZB Jahrbuch 2003, Zivilgesellschaft – national und transnational, 2004, S. 11. 17 Geißel/Kern/Klein/Berger in Geißel/Kern/Klein/Berger, Zivilgesellschaft und Sozialkapital, 2004, S. 7 (8). 18 Einschränkend Bauerkämper, Fn. 13, S. 18 f. m. w. N.; zur Zulässigkeit von zivilem Ungehorsam zivilgesellschaftlicher Akteure vgl. Hasenöhrl in Gosewinkel/Rucht/ van den Daele/Kocka (Hrsg.), WZB-Jahrbuch 2003, Zivilgesellschaft – national und transnational, 2003, S. 83; zum Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt vgl. Reichardt in Kocka/Nolte/Randeria/Reichardt (Hrsg.), Neues über Zivilgesellschaft aus historisch-sozialwissenschaftlichem Blickwinkel, 2001, S. 45 ff.; zur Zivilgesellschaft als „Konfliktgesellschaft“ vgl. Frankenberg, Universitas, 1/1992, S. 26 (27); zu Konflikten als Bestandteil einer zivilgesellschaftlichen Kultur vgl. Rucht in Jessen/ Reichardt/Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte, 2004, S. 135 ff. 19 Thiery, Lexikon der Politikwissenschaft, Band 2, 3. Aufl. 2005, S. 1175; Schmidt, Wörterbuch der Politik, Band 2, 3. Aufl. 2005, S. 817; zur Kritik am Kriterium „freiwillig“ vgl. Bode/Frantz in Bode/Evers/Klein (Hrsg.), Bürgergesellschaft als Projekt, 2009, S. 172. 20 Kneer in Kneer/Nassehi/Schroer (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 2. Aufl. 2000, S. 228 (235). 21 Gosewinkel/Rucht/van den Daele/Kocka in Gosewinkel/Rucht/van den Daele/Kocka (Hrsg.), WZB Jahrbuch 2003, Zivilgesellschaft – national und transnational, S. 11.

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liert die Zivilgesellschaft ihre Interessen öffentlich22 (sog. Handeln im öffentlichen Raum23). Die Zivilgesellschaft erweist sich so als Sphäre zwischen Markt, Staat und Privatsphäre24, in der die Individuen solidarisch und organisiert gleichberechtigt und unabhängig neben Staat und Markt die Leistungsschwäche der informellen Sphäre25 zu kompensieren suchen26. Dies führt zu einer funktionalen Sicht der Zivilgesellschaft27. In ihrer Schutzfunktion zielt die Zivilgesellschaft auf eine Wahrung der Privatsphäre des Bürgers bzw. der Gesellschaft gegenüber dem Staat28. Zugleich sollen die unabhängigen Organisationen der Zivilgesellschaft zwischen Staat und Gesellschaft vermitteln (Vermittlungsfunktion)29. In ihrer Sozialisierungsfunktion steht die Zivilgesellschaft gegen demokratischen Despotismus bzw. eine „Tyrannei der Mehrheit“ wie auch eine Überbetonung des Individualismus30. Dies führt zur sog. Gemeinschaftsfunktion der Zivilgesellschaft, fundiert v. a. durch den aus den USA stammenden Kommunitarismus. Die ausschließliche Verfolgung individueller Interessen löst danach gesellschaftliche Strukturen auf und schadet der demokratischen Selbstverwaltung. Individuelle Freiheiten und Gemeinschaft bedingen sich gegenseitig. Eigeninteressen und das Wohl der Ge-

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22 Vgl. zum Bereich des „Öffentlichen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht nur Bumke, Die öffentliche Aufgabe der Landesmedienanstalten, 1995, S. 68 ff. m. w. N.: „Konstruktion zur Erfassung des Schnittbereichs „zwischen“ Staat und Gesellschaft“. 23 Gosewinkel/Rucht/van den Daele/Kocka in Gosewinkel/Rucht/van den Daele/ Kocka (Hrsg.), WZB Jahrbuch 2003, Zivilgesellschaft – national und transnational, S. 11. 24 Zu einem überwiegend handlungslogischen Verständnis von Zivilgesellschaft vgl. Rucht in Frantz/Kolb (Hrsg.), Transnationale Zivilgesellschaft in Europa, 2009, S. 75, 80 ff. (sog. universelle Zivilgesellschaft): Die zivilgesellschaftlichen Werte seien für alle gesellschaftlichen Sphären bindend und damit auch für Politik und Wirtschaft (Rucht, a. a. O., S. 83; ähnlich Croissant/Lauth/Merkel in Merkel [Hrsg.], Systemwechsel 5, 2000, S. 9, 17). Vgl. auch Bauerkämper (in: Olk/Klein/Hartnuß [Hrsg.], Engagementpolitik, 2009, S. 97 [101]), der zwei Typen von Zivilgesellschaftskonzepten herausarbeitet: ein bereichslogisches, das auf freiwillig gegründeten Assoziationen zwischen Staat, Wirtschaft und dem privaten Bereich (Familie) basiert, die öffentlich und nicht profitorientiert das soziale und politische Handeln bestimmen, und einem handlungslogischem, das auf spezifische Werte ausgerichtet ist. 25 Zur „informellen Sphäre“, gleichgestellt mit den „privaten Haushalten“, vgl. nur Strob, Der vereins- und verbandsmäßig organisierte Sport: ein Zusammenschluss von (Wahl)Gemeinschaften?, 1999, S. 163 ff. m. w. N.; „informell“ meint allgemein „alles Spontane und Ungeplante, wenig organisierte und normierte im Interpersonalen“ (Reinhold/Lamnek/Recker [Hrsg.], Soziologie-Lexikon, 4. Aufl. 2000, S. 293). 26 Ähnlich Bauer in Bode/Evers/Klein (Hrsg.), Bürgergesellschaft als Projekt, 2009, S. 265, 267. 27 Zur funktionalen Betrachtung der Zivilgesellschaft vgl. Croissant/Lauth/Merkel in Merkel (Hrsg.), Systemwechsel 5, 2000, S. 9, 11 ff.; Lauth in Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft, 2003, S. 31, 35 ff. 28 Die Schutzfunktion geht auf John Locke (1632 bis 1704) zurück. Folglich erweist sich die Zivilgesellschaft als „Bollwerk“ gegen den Staat (dazu Rucht in Frantz/Kolb [Hrsg.], Transnationale Zivilgesellschaft in Europa, 2009, S. 75, 80). 29 Diese Funktion der Zivilgesellschaft wird auf Montesquieu (1689 bis 1755) zurückgeführt. 30 Mit dieser wird Alexis de Tocqueville (1805 bis 1859) in Verbindung gebracht.

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meinschaft müssen ausbalanciert werden31. Dem dient die Zivilgesellschaft. Dabei fungiert sie – betrachtet aus der Perspektive der deliberativen Demokratie – als Medium, das die gesellschaftlichen Probleme aufnimmt und an die politische Öffentlichkeit verstärkt weiter gibt32. Hier verbindet sich die liberale Auffassung des vor dem Staat geschützten öffentlichen Raums mit der republikanischen Vorstellung von aktiv am politischen Prozess beteiligten Bürgern33. 3. Autonomie und Kommunikation als Wesen der Zivilgesellschaft Die Zivilgesellschaft leistet sowohl aus handlungslogischer, als auch aus funktionaler Sicht (Gemeinschaftsfunktion) einen Gemeinwohlbeitrag und gründet sich insoweit auf Solidarität. Ihrem Wesen entsprechend geht sie dabei autonom und primär mittels Kommunikation vor34. Die Zivilgesellschaft fördert die Willensvermittlung35 zwischen Individuum und Entscheidungsträgern in den politischen Institutionen (z. B. Parlament, Behördenvertreter) und wirtschaftlichen Schlüsselpositionen (z. B. Vorstand oder Aufsichtsrat eines DaxKonzerns)36. Sie verbindet so den privaten Lebensbereich – via Öffentlichkeit – u. a. mit der politischen Sphäre37. Dabei agiert die Zivilgesellschaft autonom, d. h. unabhängig von Staat38 und Markt bzw. Wirtschaft. Zivilgesellschaftliche

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31 Vgl. nur Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, 1998. 32 Vgl. dazu Habermas, Faktizität und Geltung, 1994, S. 443 ff. 33 In diese Richtung Reichardt in Kocka/Nolte/Randeria/Reichardt (Hrsg.), Neues über Zivilgesellschaft aus historisch-sozialwissenschaftlichem Blickwinkel, 2001, S. 45 (62). 34 Sog. Kommunikationsfunktion als Element des funktionalen Ansatzes und zugleich ein Teil-Element des handlungslogischen Ansatzes (Zivilgesellschaft greift gesellschaftliche Belange selber auf und wartet nicht auf Eingreifen des Staates). Vgl. auch demnächst Liebl, Gemeinnützigkeit in der zivilgesellschaftlichen Perspektive. 35 Sog. Vermittlungsfunktion als Element des funktionalen Ansatzes. 36 Vgl. auch Droege (Gemeinnützigkeit im offenen Steuerstaat, Rohfassung 2008, S. 266 m. w. N.), wonach mit dem Konzept der Zivilgesellschaft der Versuch einhergeht, trotz zunehmender Differenzierung und Pluralisierung der Gesellschaft eine Antwort auf die Frage zu finden, welcher Kitt die Gesellschaft zusammenhält. Die Zivilgesellschaft als Kitt der Gesellschaft kann nach ihm durch ihre demokratische bzw. genauer ihre demokratieförderliche Komponente verdeutlicht werden. Die Vermittlung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (Staat, Markt/Wirtschaft) geht v. a. auf den bereichslogischen Ansatz zurück. Vgl. auch Roßteutscher/ Westle/Kunz (in Westle/Gabriel [Hrsg.], Sozialkapital, 2008, S. 11 [16]), wonach die Idee der Zivilgesellschaft auf einem starken Netz intermediärer Organisationen, „die zwischen der Makro-Ebene des Staates und der Wirtschaftsstruktur auf der einen Seite und der Mikro-Ebene des Individuums auf der anderen Seite vermitteln“, beruhe. 37 Van den Brink in Van den Brink/van Reijen (Hrsg.), Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, 1995, S. 7 (20). 38 Zur Abhängigkeit der (grds. autonomen) Zivilgesellschaft vom Staat vgl. Thiery, Lexikon der Politikwissenschaft, Band 2, 3. Aufl. 2005, S. 1175 – Gewährung und Gewährleistung insbesondere von Freiheits- und individuellen Bürgerrechten, z. B. Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit; allgemein zum Rechtsstaat als Bedingung für die Zivilgesellschaft vgl. Bauerkämper, Fn. 13, S. 7, 18 m. w. N. und Lauth in Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft, 2003, S. 31 (40). Allgemein zum ambivalenten Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft vgl. Bauerkämper in Olk/Klein/Hartnuß (Hrsg.), Bürgerengagement, 2009, S. 97 (102).

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Organisationen bündeln die Interessen der unter ihrem „Dach“ organisierten Individuen, kanalisieren sie und tragen sie an die entsprechenden Entscheidungsträger heran. So kann der jeweilige zivilgesellschaftliche Akteur gegenüber der Politik bessere Rahmenbedingungen fordern39 oder auf die Wirtschaft einwirken, damit diese etwa in einem Bereich verstärkt forscht40. Ihr kommunikatives Vorgehen macht die Zivilgesellschaft zu einem demokratischen Element41. – Jedoch: Dabei geht es nicht um den „Kern“ des Demokratieprinzips nach dem Grundgesetz. Danach müssen die für das Volk handelnden Staatsorgane ihre Legitimation unmittelbar oder mittelbar aus einem Willensakt des Volkes herleiten und freie Meinungsbildung muss möglich sein42. Der Zivilgesellschaft fehlt es angesichts ihres autonomen Selbstverständnisses an einer dem Staat vergleichbaren oder gesamtgesellschaftlichen demokratischen Legitimation43. 4. Werterelevanz in der Zivilgesellschaft Gleichwohl agiert die Zivilgesellschaft wertgebunden. Hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Grundausrichtung verbindet die Zivilgesellschaft plurale Ansätze, angesiedelt im Spannungsfeld zwischen liberalen Vorstellungen44 und republikanischen Idealen45. Z. T. wird die Zivilgesellschaft als demokratisches Projekt betrachtet, um politische Partizipation zu erreichen, z. T. als Ort der Umsetzung republikanischer Tugenden, etwa individuelle Verantwortungsübernahme, Gemeinwohlorientierung und Toleranz, z. T. als Medium, um

__________ 39 Z. B. die Herabsetzung der Medikamentenzuzahlung im Falle der Sterbebegleitung. 40 Z. B. die verbesserte Erforschung schmerzlindernder Medikamente mit verringerten Nebenwirkungen. 41 Insoweit wird in der Zivilgesellschaft auch ein utopisches Element gesehen (Adloff, Zivilgesellschaft, 2005, S. 9). Mit ihr wird die Vorstellung vom selbstregierten demokratischen Zusammenleben freier und gleicher Menschen (vgl. dazu Rödel/Frankenberg/Dubiel, Die demokratische Frage, 1989, S. 103 [126]), die zur Realisierung des Gemeinwohls zusammenkommen (wodurch gruppenspezifische Interessen der Zivilgesellschaft relativiert werden sollen [so Vogel in Bauerkämper [Hrsg.], Die Praxis der Zivilgesellschaft, 2003, S. 251, 252]) und aus der niemand ausgeschlossen werden kann, verbunden (Michalski in Michalski [Hrsg.], Castel-Gandolfo-Gespräche 1989, 1991, S. 7 [8]). Zu den dunklen Seiten real existierender Zivilgesellschaften vgl. Roth in Klein/Kern/Geißel/Berger (Hrsg.), Zivilgesellschaft und Sozialkapital, 2004, S. 41 ff. 42 Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, 5. Aufl. 2005, Art. 20 GG Rz. 83 f. m. w. N.; vgl. auch BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, NJW 2009, 2267 sub. C.I.1.b)aa). 43 Vgl. auch Böckenförde (in HStR II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rz. 29): Gruppen und Organisationen stehen trotz einer „Mittlerfunktion“ (Einwirkung auf Prozess politischer Meinungs- und Willensbildung) nicht für die Gesamtheit der Staatsbürger. 44 Zum (politischen) Liberalismus als Kombination aus negativen Abwehrrechten und positiven Freiheitsrechten (z. B. Versammlungs- und Meinungsfreiheit) vgl. Klein in Sprengel (Hrsg.), Philanthropie und Zivilgesellschaft, 2007, S. 197 (199). Zur Zivilgesellschaft als Raum „in dem die Menschen nicht nur um Güter, sondern auch um Lebensformen und Werte konkurrieren“ vgl. Fehren, Wer organisiert das Gemeinwesen?, 2008, S. 56. 45 Ebenso Klein in Sprengel (Hrsg.), Philanthropie und Zivilgesellschaft (Hrsg.), 2007, S. 197 (200).

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dem zunehmenden Werteverfall in der Gesellschaft zu begegnen46. Dabei wird allgemein erwartet, dass sich eine Zivilgesellschaft an bestimmte Normen hält (z. B. gewaltfrei, tolerant etc. agiert). So entstehen in der Zivilgesellschaft Wertvorgaben, an die sich die Mitglieder der Zivilgesellschaft – nach allgemeiner Meinung – halten sollen47. Die Geltung dieser Normen48 der Zivilgesellschaft ist jedoch angesichts der fehlenden gesamtgesellschaftlichen demokratischen Legitimation der Akteure nicht abgesichert, sondern fußt allein auf einem entsprechenden Selbstverständnis der Akteure. Insoweit bleibt unklar, wer nach welchen Maßstäben festlegt, welche normativen Vorgaben gelten sollen. Selbsternannte „Heilsbringer“, die für sich die Kenntnis des Gemeinwohls reklamieren, sind nicht strukturell ausgeschlossen. Dieses normative Defizit – verstanden in einem juristischen, auf Legitimation abstellenden Sinne – ist freilich unerheblich für die politische Ausrichtung der Zivilgesellschaft49: Die Zivilgesellschaft soll für soziale Integration sorgen, zur Wohlfahrtsproduktion beitragen und die Bevölkerung für politische Teilhabe mobilisieren. Dabei darf die Zivilgesellschaft jedoch – gerade weil sie nicht staatsgleich legitimiert ist – nicht als „Lückenfüller“ für ein vermindertes staatliches Engagement betrachtet werden50. Symbiotisch treffen sich aktivierender Staat und Zivilgesellschaft, indem ersterer gesellschaftliche Kräfte zu verstärktem Engagement anregen möchte – der Fokus ist dabei nicht auf einen Rückzug des Staates gerichtet, sondern auf Subsidiarität51. 5. Parallelen zum Aufbau von Sozialkapital und zum Dritten Sektor Im Gleichklang mit dem Konzept der Zivilgesellschaft erweist sich der Aufbau von Sozialkapital als mögliche Quelle einer gesellschaftlichen Gemeinwohlproduktion. Sozialkapital erwächst aus drei Komponenten52, nämlich erstens sozialen Beziehungen, wie sie vor allem aus Aktivitäten in Vereinen und anderen Typen von Netzwerken entstehen, zweitens aus einem grundsätzlichen Vertrauen des Einzelnen in seine Mitmenschen und schließlich aus bestimm-

__________ 46 Pollack, Forschungsjournal NSB 2/2003, S. 46. 47 Zur Normativität der Zivilgesellschaft vgl. nur Kocka in Jessen/Reichardt/Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte, 2004, S. 29 (31 f.). 48 Zur Normgeltung vgl. Jachmann, JA 2000, 336 (337). 49 Vgl. dazu Priller in Kocka (Hrsg.), Zukunftsfähigkeit Deutschlands – Sozialwissenschaftliche Essays, WZB-Jahrbuch 2006, S. 339 (341 f.) m. w. N. 50 Die Gefahr eines „Lückenfüllers“ ergibt sich insbesondere dann, wenn die Zivilgesellschaft vom Staat abhängig ist und der Staat diese Abhängigkeit nutzt, um der Zivilgesellschaft seine politische Agenda zu diktieren (zu bestehenden Bedenken, wonach die Zivilgesellschaft als staatlich finanzierter Bereich in staatl. Abhängigkeit gerät vgl. Mayer in Bode/Evers/Klein [Hrsg.], Bürgergesellschaft als Projekt, 2009, S. 127 [132] m. w. N.; gerade die Bereiche Soziales und Gesundheit werden überwiegend durch öffentliche Mittel finanziert, Reimer, Die Stärke der Zivilgesellschaft in Deutschland, 2006, S. 32 [53]). Die Zivilgesellschaft könnte nur noch als „Leistungsproduzent“ wahrgenommen werden (Dahme/Wohlfahrt, Forschungsjournal NSB 2/2009, S. 27 [34]). 51 Vgl. dazu Droege, Fn. 36, S. 264 f. 52 Westle/Gabriel (Hrsg.), Sozialkapital, 2008, S. 5.

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ten Werten und Normen, die solidarisches, auf die Gemeinschaft bezogenes Denken und Handeln unterstützen53. Obwohl dabei im Fokus der Betrachtung das Individuum steht – insbesondere die persönliche Karriere und das individuelle Ansehen in der Gesellschaft54 – beeinflusst Sozialkapital das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben55. Über Sozialkapital sind soziale Integration, Gesundheit, Wohlfahrt wie auch erfolgreiche demokratische Institutionen leichter zu erreichen56. Menschen unterschiedlicher Schichten werden zusammengeführt57. Zivilgesellschaft und Sozialkapital erscheinen so als zwei Seiten derselben Medaille58. Die Zivilgesellschaft fungiert als maßgeblicher gesellschaftlicher Träger des Aufbaus von Sozialkapital59; sie kann sich als Weg erweisen, um Sozialkapital aufzubauen. Während der Sozialkapitalansatz primär das Binnensystem der Zivilgesellschaft betrifft, steht diese, – verortet neben Staat und Markt – gerade sub specie Subsidiarität dem sog. Dritten Sektor60 bzw. Non-Profit-Sektor61 sehr nahe. Ähnlich wie die Zivilgesellschaft versteht sich der Dritte Sektor als Zusammenfassung von autonomen und auf freiwilliger Basis handelnden privaten Organisationen, die nicht gewinnorientiert vorgehen (insbesondere keine Gewinnausschüttung62 an Gesellschafter oder leitende Angestellte)63. Organisa-

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53 Mit Blick auf die drei Voraussetzungen wird auch von Partizipation, Vertrauen und Normen gesprochen (Evers in Sprengel [Hrsg.], Philanthropie und Zivilgesellschaft, 2007, S. 231 [233] unter Verweis auf Putnam). 54 Vgl. Roßteutscher/Westle/Kunz in Westle/Gabriel (Hrsg.), Sozialkapital, 2008, S. 11, 19 m. w. N.; allgemein zu einer differenzierten Betrachtung (auf welcher Ebene – Individuum, Gruppe, Gesamtgesellschaft – wirkt Sozialkapital?) vgl. Seubert, Forschungsjournal NSB 3/2009, S. 21 (23 ff.). 55 Vgl. nur Putnam, Making Democracy Work, 1993; Bowling Alone, 2000; zur Kritik vgl. nur Böhnke, Forschungsjournal NSB 3/2009, S. 55 m. w. N. 56 Roßteutscher/Westle/Kunz, Fn. 54, S. 32 unter Verweis auf Putnam; zu einem exkludierenden – und damit gerade gegenteiligen Effekt von Sozialkapital – vgl. Seubert, Fn. 54, S. 21 m. w. N. u. S. 26. 57 So Putnam (in Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag [Hrsg.], Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft, 2002, S. 257 [259 f.]), unter Verweis auf „brückenschlagendes“ Sozialkapital. 58 Vgl. aber auch Seubert (Fn. 54, S. 26) und Vogt (Forschungsjournal NSB, 3/2009, S. 66 f.) die von „schlechtem“ Sozialkapital (Seubert) bzw. den „dunklen Seiten“ des Sozialkapitals (Vogt) sprechen. 59 Vgl. Geißel/Kern/Klein/Berger (in: Geißel/Kern/Klein/Berger, Zivilgesellschaft und Sozialkapital, 2004, S. 7 [9]), wonach nach Putnam zivilgesellschaftliches Engagement zu Sozialkapital führe. 60 Zur sozialwissenschaftlichen Literatur und einem empirischen Vergleich des Dritten Sektors vgl. zusammenfassend Droege, Fn. 36, S. 252 ff., 257 ff. 61 Vgl. dazu nur Liebig/Rauschenbach in Olk/Klein/Hartnuß (Hrsg.), Engagementpolitik, 2009, S. 260. 62 Zu diesem Merkmal vgl. ausführlich Droege, Fn. 36, S. 255 f.; zum Gewinnausschüttungsverbot und dessen zivilistischer Dimension vgl. von Hippel, Grundprobleme von Nonprofit-Organisationen, 2007. 63 International gebräuchliche sog. strukturell-operative Definition (vgl. Salamon/ Anheier, Der Dritte Sektor, 1999, S. 9 und 40 ff.); zu alternativen Definitionen (z. B. Rückgriff auf juristische Definitionen [z. B. der steuerliche Status gemeinnütziger Körperschaften] oder Orientierung am Gemeinwohl) Salamon/Anheier in Bauer (Hrsg.), Intermediäre Nonprofit-Organisationen in einem neuen Europa, 1993, S. 1 ff.

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tionen des Dritten Sektors treten neben den klassischen Bereichen der Wohlfahrtspflege bzw. des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste u. a. in den Bereichen Kultur, Sport und Freizeit, Bildungswesen und Forschung, Umweltund Naturschutz, wirtschaftlicher Entwicklung und Wohnungswesen, Stiftungs- und Spendenwesen sowie allgemein ehrenamtlicher Arbeit und Religion auf64 – sämtlich auch mögliche Bereiche zivilgesellschaftlichen Engagements. Der Dritte Sektor wird so zum originären und identitätsstiftenden Ort des freiwilligen Engagements der Bürger65. Anders als die primär kommunikative Zivilgesellschaft wird der Dritte Sektor i. d. R. als Dienstleister wahr genommen66, dies im Sinne einer „institutionellen Alternative zu einer staatlichen Wohlfahrtsproduktion“67. Er soll betriebswirtschaftliche Effizienz und Gemeinwohlorientierung – und damit die positiven Seiten von Staat und Markt – miteinander verknüpfen68 und birgt dabei ein erhebliches Beschäftigungspotential69. Funktional betrachtet sind Organisationen des Dritten Sektors aber nicht nur Dienstleister, sondern auch Interessenvertreter, indem sie die Anliegen ihrer Mitglieder bündeln und gegenüber der Politik artikulieren – hier treffen sich Zivilgesellschaft und Dritter Sektor. Beide können etwa auch – wegen ihrer lokalen Verankerung (z. B. Sportverein vor Ort) – zur sozial-kulturellen Integration beitragen70. Auch die Organisationen des Dritten Sektors artikulieren ihre Interessen frei und öffentlich und leisten so einen Beitrag zur Belebung/Modernisierung demokratischer

__________ 64 Zimmer/Priller, Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel, 2. Aufl. 2007, S. 34 ff. 65 Liebig/Rauschenbach, Fn. 61, S. 261. 66 Vgl. dazu Anheier/Priller/Seibel/Zimmer (Hrsg.), Der Dritte Sektor in Deutschland, 1997; Eisen in Priller/Zimmer (Hrsg.), Der Dritte Sektor international, 2001, S. 277 (278). 67 Anheier/Priller/Zimmer in Klingemann/Neidhardt (Hrsg.), Zur Zukunft der Demokratie, 2000, S. 71 m. w. N. 68 Priller/Zimmer in Gosewinkel/Rucht/van den Daele/Kocka, (Hrsg.), WZB Jahrbuch 2003, Zivilgesellschaft – national und transnational, S. 105 (107) m. w. N.; ähnlich Pitzner, Versäulung – Vermarktung – Vernetzung, 2007, S. 115; „betriebswirtschaftliche Effizienz“ und „nicht gewinnorientiert“ widersprechen sich nicht. Bei der betriebswirtschaftlichen Effizienz geht es darum, ein Gut möglichst kostengünstig anzubieten. Dadurch profitiert der Abnehmer. 69 Vgl. statt vieler nur Birkhölzer in Birkhölzer/Klein/Priller/Zimmer (Hrsg.), Dritter Sektor/Drittes System, 2005, S. 71; zu einer differenzierteren Wahrnehmung des Beschäftigungspotentials des Dritten Sektors vgl. Dathe/Priller in Olk/Klein/Hartnuß (Hrsg.), Engagementpolitik, 2009, S. 525 ff.; allgemein zur volkswirtschaftlichen Relevanz des Dritten Sektors vgl. Priller/Zimmer, Der Dritte Sektor: Wachstum und Wandel, 2001. 70 Vgl. Zimmer/Priller, Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel, 2. Aufl. 2007, S. 20 ff.: sog. Multifunktionalität des Dritten Sektors (Dienstleistungserstellung, Interessenvertretung/Lobbying, Sozialintegration). Zur Inklusions-, Bildungs-, advokatorischen, Innovations-, Problemlösungs- und Rekrutierungsfunktion des Dritten Sektors vgl. Liebig/Rauschenbach, Fn. 61, S. 265 ff.

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Staatsformen71. Gerade in dieser Dimension erweist sich der Dritte Sektor deckungsgleich mit der Zivilgesellschaft, wird so zu ihrem klassischen Handlungsfeld. Der Dritte Sektor ist nicht nur Heimat staatsnaher bzw. vom Staat abhängiger Organisationen72, sondern auch Wirkungsbereich zivilgesellschaftlicher Akteure73. Die unterschiedlichen Dimensionen von Drittem Sektor und Zivilgesellschaft zeigen sich in erster Linie darin, dass sich der Dritte Sektor – anders als die Zivilgesellschaft74 – wesentlich durch ein Gewinnausschüttungsverbot konstituiert und einen stärkeren Institutionalisierungsgrad aufweist als zivilgesellschaftliches Handeln dies verlangt; zur Zivilgesellschaft zählen auch lose Zusammenschlüsse75 (z. B. Demonstrationen)76. Eine „normative Stoßrichtung“77 entsteht im Dritten Sektor erst aus dem Zusammenwirken mit der Zivilgesellschaft. In der Relation zu Staat und Markt steht der Dritte Sektor insoweit zwischen beiden, als er betriebswirtschaftliche Effizienz (Wirtschaft) mit direkter Gemeinwohlorientierung (Staat) verbindet, während sich die Zivilgesellschaft streng außerhalb von beiden versteht, primär geprägt durch bestimmte Handlungsweisen (gewaltfrei, tolerant, freiwillig, öffentlich). I. Ü. weist die Diskussion um die Zivilgesellschaft einen starken Bezug zu deren politischer Bedeutung auf (Vermittlungsfunktion), beim Dritten Sektor steht dagegen die ökonomische Relevanz tendenziell mehr im Vordergrund78. Die Zivilgesellschaft unterliegt typischerweise einer gesellschafts-

__________ 71 Anheier/Priller/Zimmer, Fn. 67, S. 72; zur europäischen Sicht, wonach sich der Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU und die Europäische Kommission auf die „organisierte Zivilgesellschaft“ berufen und damit letztlich auf den Dritten Sektor vgl. Birkhölzer/Klein/Priller/Zimmer in Birkhölzer/Klein/Priller/Zimmer (Hrsg.), Dritter Sektor/Drittes System, 2005, S. 9 (12); zur „Entdeckung“ der Freiwilligen durch „Europa“ vgl. Held in Olk/Klein/Hartnuß (Hrsg.), Engagementpolitik, 2009, S. 407 (431). 72 Vgl. dazu Bauer (in Schmals/Heinelt [Hrsg.], Zivile Gesellschaft, 1997, S. 133 [136 f., 140]), der mit Blick auf die Abhängigkeit vieler Organisationen des Dritten Sektors von staatlichen Zuwendungen insgesamt bezweifelt, dass der Dritte Sektor ein zivilgesellschaftliches Element besitzt. 73 Vgl. dazu Anheier in Graf Strachwitz (Hrsg.), Dritter Sektor – Drittes System, 1998, S. 351 [364]: Eine Mehrheit der Organisationen des Dritten Sektors ist nicht von staatlichen Einnahmen abhängig; folglich handelt es sich um zivilgesellschaftlich autonome – jedenfalls in Relation zum Staat – Organisationen. Zur Aufgabe des Begriffs „Dritter Sektor“ zugunsten des Begriffs Zivilgesellschaft bzw. „zivilgesellschaftlichen Organisationen“ vgl. Sprengel in Hopt/von Hippel/Walz (Hrsg.), Nonprofit-Organisationen in Recht, Wirtschaft und Gesellschaft, 2005, S. 283 (284 f.). 74 Diese wird, soweit erkennbar, nicht mit einem Gewinnausschüttungsverbot in Verbindung gebracht, sondern lediglich mit einem allgemeinen Gemeinwohlbezug. 75 Vgl. dazu Pollack, Forschungsjournal NSB 2/2003, S. 46 (49); Welzel in Lauth/Liebert (Hrsg.), Im Schatten demokratischer Legitimität, 1999, S. 207 (spontane öffentliche Organisationen). 76 Vgl. auch Droege, Fn. 36, S. 256; zur Bezeichnung der organisierten Formen der Zivilgesellschaft als deren „institutioneller Kern“ oder „Infrastruktur der Zivilgesellschaft“ und deren Zusammenfassung als „Dritter Sektor“ vgl. Dathe/Priller, Fn. 69, S. 525 m. w. N. 77 Dazu Zimmer, Forschungsjournal NSB 2/2003, S. 74 (76). 78 Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft, 2001, S. 261.

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theoretischen Betrachtung79, der Dritte Sektor einer empirischen und wirtschaftlichen80.

III. Gemeinnützigkeit zwischen Staat und Markt 1. Unmittelbare Gemeinwohlförderung als Steuersubstitut Während die Eingrenzung der zivilgesellschaftlichen Gemeinwohlförderung jenseits staatlicher Verantwortung nur typisierend gelingen kann, gibt das steuerliche Gemeinnützigkeitsrecht81 (§§ 51 ff. AO) hierzu ein klares System vor: Gemeinnützige Körperschaften (§ 51 Abs. 1 Satz 2 AO) erhalten für die ausschließliche (§ 56 AO), unmittelbare (§ 57 AO) und selbstlose (§ 55 AO) Verfolgung gemeinnütziger (§ 52 AO)82, mildtätiger (§ 53 AO) oder kirchlicher (§ 54 AO) Zwecke (sog. steuerbegünstigte Zwecke, § 51 Abs. 1 Satz 1 AO) diverse Steuervergünstigungen. Vom Status der Gemeinnützigkeit profitieren aber nicht nur die jeweiligen Körperschaften, sondern auch die sie fördernden Akteure83, indem insbesondere Zuwendungen (Spenden und Mitgliedsbeiträge) steuerlich (begrenzt) abziehbar sind (§ 10b EStG, § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG, § 8 Nr. 9, § 9 Nr. 5 GewStG) oder die Tätigkeit für eine gemeinnützige Körperschaft steuerfrei vergütet werden kann (§ 3 Nr. 26, 26a EStG)84. Derartige Steuervorteile wecken Begehrlichkeiten, die rechtfertigende Gemeinwohlförderung bejaht der Einzelne schnell für das eigene Tun, ohne Rücksicht darauf, dass er damit eine demokratisch zu legitimierende Entscheidung trifft. Entsprechend werden Rechtfertigung und Ausmaß der steuerlichen Gemeinnützigkeit traditionell wie aktuell – gerade mit Blick auf das Leitbild der sich emanzipierenden Zivilgesellschaft – kontrovers diskutiert. Geht es um die Rechtfertigung einer Steuerenklave, gilt es bei der Rechtfertigung der Steuererhebung überhaupt anzusetzen, finanziert doch die Steuerzahlung der Bürger die Gemeinwohlverwirklichung durch den Staat85. Das Grundgesetz geht von einer primären Steuerfinanzierung des staatlichen Finanz-

__________ 79 Vgl. dazu Droege, Fn. 36, S. 266: „Zivilgesellschaft ist also ein möglicher gesellschaftstheoretischer Überbau des Non-profit- oder des Dritten-Sektors“. 80 Zur Relation von Zivilgesellschaft und Drittem Sektor vgl. auch Liebig/Rauschenbach, Fn. 61, S. 262. 81 Zur historischen Entwicklung des Gemeinnützigkeitsrecht vgl. Droege, Fn. 36, S. 27 ff.; zur europäischen Dimension des Gemeinnützigkeitsrecht vgl. Jachmann in Beermann/Gosch, AO/FGO, Vor §§ 51 bis 68 AO Rz. 134 ff.; Droege, Fn. 36, S. 422 ff. m. w. N. 82 Gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 AO werden gemeinnützige Zwecke verfolgt, wenn eine Körperschaft die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem und sittlichem Gebiet selbstlos fördert. 83 Vgl. zum Ganzen stv. Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2008, § 1 Rz. 25 ff.; Jachmann/Liebl, Gemeinnützigkeit kompakt, 2009, S. 33 f. 84 Zu weiteren – nicht abgabenrechtlichen – Vergünstigungen, die das Gemeinnützigkeitsrecht vermittelt vgl. Droege, Fn. 36, S. 64 ff.; Jachmann in Beermann/Gosch, AO/FGO, Vor §§ 51–68 AO Rz. 7. 85 Vgl. dazu grundlegend Isensee, Fn. 2, § 71.

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bedarfs aus (Steuerstaatlichkeit)86, d. h. die staatliche Aufgabenerfüllung ist durch Steuern zu finanzieren. Im Interesse der staatlichen Allgemeinheit sind Steuern voraussetzungslos zur Finanzierung der staatlichen Aufgabenerfüllung zu erheben87. Als Ausfluss der Gemeinwohlverantwortung des einzelnen Bürgers88 ist das Steueraufkommen als Gemeinlast89 von der Allgemeinheit zu finanzieren. Jeder Bürger hat entsprechend seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gleichmäßig zur Finanzierung der allgemeinen staatlichen Aufgaben beizutragen90. So wird steuerliche Belastungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) gesichert. Weiter ist nach dem Belastungsgrund der Regelbesteuerung zu fragen. Einkommen- und Körperschaftsteuer schöpfen das Ergebnis wirtschaftlicher Ertragserzielung am Markt ab91. Schon dies zeigt, dass die Verfolgung des Gemeinwohls „nebenbei“ am Markt (s. o. sub. II.) nicht ausreichend sein kann für eine steuerliche Vergünstigung aus Gründen der Verfolgung des Gemeinwohls. Hierfür muss ein zusätzlicher – steuersubstituierender – Gemeinwohlbeitrag geleistet werden. Der weitergehende – Steuervergünstigungen rechtfertigende – Gemeinwohlbeitrag gemeinnütziger Körperschaften liegt zum einen in der Verfolgung von öffentlichen Aufgaben92, wie sie auch der Staat wahrnimmt93 (Staatsaufgaben)94. Zum anderen erfolgt die Aufgabenerfüllung in einer mit staatlichem

__________ 86 BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88, 2 BvR 1300/93, BVerfGE 93, 319 (342); v. 24.1.1995 – 1 BvL 18/93, 1 BvL 5/94, 1 BvL 6/94, 1 BvL 7/94, 1 BvR 403/94, 1 BvR 569/94, BVerfGE 92, 91 (113); v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159 (179 ff.); v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83, 2 BvL 20/83, 2 BvR 363/83, 2 BvR 491/83, BVerfGE 67, 256 (274 ff.) = FR 1984, 655; BVerfG, NVwZ 2000, 307 (308); Jachmann in v. Mangoldt/Klein/Starck, 5. Aufl. 2005, Art. 105 Rz. 2 m. w. N. 87 Jachmann, Fn. 86, Art. 105 Rz. 1; BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (269) = FR 1991, 375 m. Anm. Felix. 88 Vgl. statt vieler nur Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, Hamburger Schriften zum Finanz- und Steuerrecht, Band 1, 2003, S. 51 ff. 89 Vgl. stv. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (269) = FR 1991, 375 m. Anm. Felix: Steuern als Gemeinlast. 90 Vgl. nur Jachmann, Fn. 88, S. 52 m. w. N. 91 Dazu nur Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 8 Rz. 30 f.; Jachmann, DStJG 25 (2002), S. 195 (197 f.) m. w. N. 92 Öffentliche Aufgaben sind solche, deren Erledigung im Interesse des Gemeinwohls liegt (vgl. nur Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999, S. 32; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 22; Droege, Fn. 36, S. 290 f.) – auch als öffentliches Interesse bezeichnet (vgl. Häberle in Münkler/Fischer [Hrsg.], Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 2002, S. 99 (100): Das „öffentliche Interesse“ beschreibt das „Gemeinwohl“, indem diese Begriffe synonym verwendet werden können; ähnlich Masing in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 7 Rz. 24). 93 Betrachtet man das geltende Gemeinnützigkeitsrecht, ist dies hinsichtlich der sog. Freizeitzwecke (§ 52 Abs. 2 Nr. 23 AO) zweifelhaft (vgl. nur Jachmann in Beermann/ Gosch, AO/FGO, Vor §§ 51–68 AO Rz. 112 und § 52 AO Rz. 113 ff.). 94 Anders im Ansatz Droege (Fn. 36, S. 290), der entsprechend der Einordung des gesamten Gemeinnützigkeitsrechts als Steuersubvention (s. u. Fn. 101) allgemein auf öffentliche Aufgaben abstellt. Um eine Staatsaufgabe handelt es sich, wenn der Staat eine öffentlichen Aufgabe erfüllt (sog. formaler Staatsaufgabenbegriff, vgl. dazu

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Handeln vergleichbaren Art und Weise (ausschließliche, altruistische, d. h. selbstlose95, unmittelbare und zeitnahe Erfüllung der Gemeinwohlaufgaben)96. Das Handeln gemeinnütziger Körperschaften muss sich jenseits der Privatheit des Subjekts sowohl inhaltlich als auch qualitativ als ein Äquivalent staatlicher Aufgabenerfüllung (Staatsaufgaben) darstellen97 (sog. Staatssubstitution)98. Dadurch nehmen gemeinnützige Körperschaften ihre Gemeinwohl-

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BVerfGE 12, 205 [243] und Isensee, Fn. 2, § 73 Rz. 13). Zur Typologie der Staatsaufgaben (ausschließliche und konkurrierende) vgl. nur Isensee (a. a. O., Rz. 27), der im Hinblick auf das Gemeinnützigkeitsrecht und dessen Rechtfertigung zusätzlich von pluralistischen Gemeinwohlaufgaben spricht (Isensse in Maurer [Hrsg.], Das akzeptierte Grundgesetz, 1990, S. 33, 47 f.: Private nehmen ein spezielles religiöses oder kulturelles Engagement wahr, das dem Staat versagt ist; vgl. weiter Isensee/KnobbeKeuk, Sondervotum zum Mehrheitsgutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, BMF-Schriftenreihe Heft 40, 1988, S. 331 [351 ff., 356 ff.]). Eine öffentliche Aufgabe wird aber nicht schon zur Staatsaufgabe, indem der Gesetzgeber eine solche im Gemeinnützigkeitsrecht als steuerbegünstigten Zweck formuliert. Vielmehr muss die öffentliche Aufgabe vor der Anerkennung als steuerbegünstigter Zweck hinreichend klar als Staatsaufgabe in der Rechtsordnung vorgegeben sein. Leistet dies nicht bereits die Verfassung, ist dafür – unabhängig vom Gemeinnützigkeitsrecht – ein entsprechendes gesetzliches Regime erforderlich (Jachmann, Fn. 88, S. 177; in diese Richtung auch Bumke, Die öffentliche Aufgabe der Landesmedienanstalt, 1995, S. 63 f. m. w. N.). Grundsätzlich zur Selbstlosigkeit der staatlichen Gemeinwohlverwirklichung Isensee, Fn. 2, § 71 Rz. 40 ff.; Selbstlosigkeit u. Förderung des Gemeinwohls müssen freilich unterschieden werden (Isensee, Fn. 2, § 71 Rz. 118). Jachmann, Fn. 88, S. 175. Jachmann in Beermann/Gosch, AO/FGO, Vor §§ 51–68 AO Rz. 110; Jachmann in Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag (Hrsg.), Rechtliche Rahmenbedingungen bürgerschaftlichen Engagements, 2002, S. 73. Von einer etatistischen Vorstellung ausgehend das Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Spenden- und Gemeinnützigkeitsrechts, BMF-Schriftenreihe Heft 40, 1988, S. 93 f.; vgl. auch den wohlfahrtsökonomischen Ansatz des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF (vgl. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats, Die abgabenrechtliche Privilegierung gemeinnütziger Zwecke auf dem Prüfstand, BMF-Schriftenreihe, Band 80, 2006, S. 5 f., 14 ff., 52 ff.): Das Gemeinnützigkeitsrecht ist allokationspolitisch zu rechtfertigen – Private sind nur dann zu fördern, wenn diese Kollektivgüter bereit stellen und die Bereitstellung dieser Güter der Markt nicht hinreichend sicher stellt. Das Gutachten nennt Grundlagenforschung, die Pflege des kulturellen Erbes sowie Mildtätigkeit in einem eng verstandenen Sinne als klassische Beispiele kollektiver Güter. Vgl. dagegen die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“: Maßstab für die Verbesserung des Gemeinnützigkeitsrechts muss die Ermöglichung des bürgerschaftlichen Engagements in Vereinen und Organisationen sein (BT-Drucks. 14/8900, S. 297 ff.). Um dieses Ziel umzusetzen, hat die Enquete-Kommission eine Überarbeitung des Katalogs gemeinnütziger Zwecke (§ 52 Abs. 2 AO) vorgeschlagen (Differenzierung zwischen der Erbringung von Dienstleistungen, Themenanwaltschaft, der Selbsthilfe und der Vermittlung und Koordinierung). Dies hat nur teilweise im Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements (BGBl. I 2007, 2332) Niederschlag gefunden, das als gemeinnützigen Zweck lediglich zusätzlich die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in den Zweckkatalog aufgenommen hat (zur Kritik an diesem gem. Zweck vgl. Jachmann/Unger in Beermann/ Gosch, AO/FGO, § 52 AO Rz. 122; nach Auffassung der Finanzverwaltung begründet die Vorschrift keinen zusätzlichen gemeinnützigen Zweck [AEAO zu § 52 AO

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verantwortung nicht erst durch Steuerzahlung wahr (mittelbare Wahrnehmung der Gemeinwohlverantwortung), sondern bereits durch ihr unmittelbar gemeinwohldienliches Handeln (unmittelbare Wahrnehmung der Gemeinwohlverantwortung)99. Ein zusätzlicher Gemeinwohlbeitrag via Steuererhebung auf das grundsätzlich besteuerbare Einkommen einer gemeinnützigen Körperschaft ist nicht mehr erforderlich (sog. Steuersubstitution). In der Konsequenz ersetzt bzw. ergänzt die Tätigkeit gemeinnütziger Körperschaften staatliches Handeln100. Entsprechend handelt es sich bei den Steuerentlastungen für gemeinnützige Körperschaften grundsätzlich um eine systemimmanente Steuerentlastung für eine unmittelbare, steuersubstituierende Gemeinwohlförderung101, die eine gleichmäßige Besteuerung nach der Gemeinwohlverantwortung sichert102. Um zu gewährleisten, dass die steuerlich begünstigte Gemeinwohlverwirklichung tatsächlich steuer- und staatssubstituierend erfolgt (selbstlose, ausschließliche, unmittelbare und zeitnahe Aufgabenerfüllung), kann der Status der Gemeinnützigkeit nur Körperschaften offen stehen; bei natürlichen Personen – das Gleiche gilt grundsätzlich auch für Personengesellschaften103 – wäre

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Nr. 2.4]; a. A. Volkmann/Wittke, BB 2010, 859 (862 ff.) m. w. N.; Hüttemann, DB 2007, 2053 [2055]; Hüttemann in Hüttemann/Rawert/Schmidt/Weitemeyer [Hrsg.], Non-Profit-Law-Yearbook 2007, 2008, S. 231 [235]: die Vorschrift sei als weitere Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgebot [§ 57 AO] anzusehen). Jachmann, Fn. 88, S. 174; vgl. auch Hüttemann, Fn. 83, § 1 Rz. 84: Die steuerliche Entlastung gemeinnütziger Körperschaften rechtfertigt sich aus der Gleichwertigkeit von privater und staatlicher Gemeinwohlförderung; Kirchhof, DStJG 26 (2003), S. 1 (4 f.). Vgl. dazu auch Hüttemann, Fn. 83, § 1 Rz. 84. – Von der dargelegten Bedeutung der beschriebenen sog. Substitutionsthese als konzeptionelle Basis des nationalen Gemeinnützigkeitsrechts zu trennen ist die Frage, welche unionsrechtlichen Konsequenzen dieses nationale Regelungssystem hat. Als Rechtfertigungsgrund für eine Verletzung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten hat das Substitutionsargument keine Anerkennung gefunden (vgl. dazu nur Jachmann/Unger in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 51 AO Rz. 79). De lege lata dürfte die Einführung eines sog. strukturellen Inlandsbezugs (§ 51 Abs. 2 AO i. d. F. des JStG 2009, BGBl. I 2008, 2794) unionsrechtswidrig sein (vgl. nur Jachmann/Unger, a. a. O., Rz. 77 ff.). A. A. Droege (Fn. 36, S. 308 ff.), der das Gemeinnützigkeitsrecht nicht den Lastenausteilungsnormen zuordnet, sondern den Steuersubventionen (vgl. dazu auch nachfolgende Fn.). Jachmann, Fn. 88, S. 174; Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, BMF-Schriftenreihe Heft 40, 1988, S. 92 f.; Seer, DStJG 26 (2003), S. 11 (21 ff.); zust. auch aus volkswirtschaftlicher Sicht Paqué in Bertelsmann-Stiftung/Maecenata Institut für DritterSektor-Forschung (Hrsg.), Expertenkommission zur Reform des Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrechts, Materialien, 2. Aufl. 2000, S. 110 (113); anders der Ansatz, wonach das gesamte Gemeinnützigkeitsrecht als rechtfertigungsbedürftige Steuersubvention zu begreifen ist (so insbesondere Droege, Fn. 36, S. 486 ff.). FG Hamburg v. 16.12.1982 – II 353/82, EFG 1986, 418; Scholtz in Koch/Scholtz, 5. Aufl. 1995, Rz. 8 vor § 51 AO; Buchna, Gemeinnützigkeit im Steuerrecht, 9. Aufl. 2008, S. 13; zu verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich des Ausschlusses von Personenhandelsgesellschaften (OHG, KG) vom Gemeinnützigkeitsrecht vgl. LeisnerEgensperger in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 51 AO Rz. 28; Hüttemann, DStJG 26 (2003), S. 49 (53); Hüttemann, Fn. 83, § 2 Rz. 83; Stock, NZG 2001, 440 (444).

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ein ausschließlich selbstloses Handeln kaum zu gewährleisten; ihr Vorgehen ist regelmäßig von Eigennutzen geprägt104. Schließlich ist im Hinblick auf die rechtsstaatlich wie gleichheitsrechtlich gebotene Tatbestandsmäßigkeit der Steuererhebung eine gesetzgeberische Entscheidung über die Voraussetzungen von Steuererleichterungen erforderlich; die gemeinnützige Zweckverfolgung ist entsprechend gesetzlich vorzuzeichnen105. 2. Finanzielle Gemeinwohlförderung Dem dargestellten Rechtfertigungskonzept entspricht grundsätzlich auch das geltende Gemeinnützigkeitsrecht, dies auch sub specie einer wirtschaftlichen Tätigkeit gemeinnütziger Körperschaften (§§ 14, 64 AO). Entscheidend ist dabei nur, dass im Vordergrund jeglichen – auch wirtschaftlichen – Wirkens einer gemeinnützigen Körperschaft immer der von ihr verfolgte steuerbegünstigte Zweck steht (§ 56 AO, sog. Ausschließlichkeitsgebot106)107. Soweit eine gemeinnützige Körperschaft innerhalb der vom steuerlichen Gemeinnützigkeitsrecht im Einzelnen gesetzlich festgelegten Grenzen einen – sachlichen – Gemeinwohlbeitrag leistet (ideelle Sphäre, Zweckbetrieb, § 65 AO)108, ist dieser einer entsprechenden staatlichen Gemeinwohlverwirklichung gleichwertig; insoweit nehmen gemeinnützige Körperschaften – entsprechend der gleichheitsimmanenten Rechtfertigung des Gemeinnützigkeits-

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104 Jachmann, Fn. 88, S. 178 m. w. N.; RFH v. 14.12.1932 – III A 170/32, RStBl. 1933, 76 (selbstloses Handeln die Ausnahme, das Streben nach persönlichen Nutzen die Regel); zustimmend Kröger, DStZ 1986, 419 (426); vgl. auch Scholtz in Koch/Scholtz, 5. Aufl. 1995, Rz. 8 vor § 51 AO; Leisner-Egensperger, Fn. 103, § 51 AO Rz. 26; Buchna, Fn. 103, S. 13; FG Hannover v. 15.5.2003 – 5 K 6/01, EFG 2003, 1502 (1503). 105 Jachmann in Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag (Hrsg.), Rechtliche Rahmenbedingungen bürgerschaftlichen Engagements, 2002, S. 80. 106 Vgl. dazu BFH v. 4.4.2007 – I R 76/05, BStBl. II 2007, 631 = FR 2007, 963; v. 15.7. 1998 – I R 156/94, BStBl. II 2002, 162 = FR 1998, 1089; Jachmann/Liebl, Fn. 83, S. 46 ff. 107 Dies gilt unabhängig davon, in welcher „Sphäre“ der gemeinnützigen Körperschaft die Tätigkeit ausgeübt wird. Allgemein werden gemeinnützige Körperschaften wegen der gesetzlichen Vorgaben in vier sog. Tätigkeits-Sphären unterteilt (vgl. dazu Jachmann/Liebl, Fn. 83, S. 35 f.): Die ideelle Sphäre (gegenwärtige Verfolgung eines steuerbegünstigten Zwecks), der Zweckbetrieb (§ 65 AO = wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb [vgl. §§ 14, 64 AO], der zum einen notwendig ist, um einen steuerbegünstigten Zweck gegenwärtig zu verfolgen und zum andern den Wettbewerb nicht unverhältnismäßig stört; vgl. dazu ausführlich Droege, Fn. 36, S. 208 ff.), die Vermögensverwaltung (z. B. verzinsliche Anlage von Kapital oder Vermietung von Immobilien) und der (steuerpflichtige) wirtschaftliche Geschäftsbetrieb (vgl. §§ 14, 64 AO). Letztgenannter ist steuerlich nicht privilegiert, d. h. er unterliegt der regulären Besteuerung. Der Körperschaft- und Gewerbesteuer unterliegen Erträge aus einem steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb aber nur dann, wenn die Einnahmen aller von einer gemeinnützigen Körperschaft unterhaltenen steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetriebe (sog. einheitlicher wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb) die Grenze von 35.000 Euro übersteigen (§ 64 Abs. 2 und Abs. 3 AO). 108 Siehe dazu Fn. 107; zum sachlichen und finanziellen (vgl. dazu nachfolgend) Gemeinwohlbeitrag vgl. demnächst auch Liebl, Gemeinnützigkeit in der zivilgesellschaftlichen Perspektive.

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rechts – ihre Gemeinwohlverantwortung unmittelbar wahr. Demgegenüber ist die Verwendung von Gewinnen des steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs für den steuerbegünstigten Zweck – dies ist nach § 56 AO zwingend vorgeschrieben – noch nicht ausreichend für eine Steuervergünstigung (partielle Besteuerung wirtschaftlicher Geschäftsbetriebe, § 64 AO)109. Der bloß finanzielle Gemeinwohlbeitrag110 durch Erzielung von Erträgen, die zeitnah (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 5 AO) für steuerbegünstigte Zwecke eingesetzt werden sollen, rechtfertigt zwar – isoliert betrachtet – bereits die Steuerbegünstigung der erwirtschafteten Erträge. Denn auch insoweit liegt eine unmittelbare Wahrnehmung von Gemeinwohlverantwortung vor, so dass eine gleichheitsimmanente Rechtfertigung grundsätzlich zu bejahen wäre. Eine wirtschaftliche Tätigkeit – soweit dadurch nicht unmittelbar steuerbegünstigte Zwecke verfolgt werden (Zweckbetrieb) – darf nämlich nur aufgenommen und ausgeübt werden, wenn diese Tätigkeit Erträge erwarten lässt (§ 56 AO: ausschließliche Verfolgung steuerbegünstigter Zwecke)111, die anschließend für die Verfolgung steuerbegünstigter Zwecke (= sachlicher Gemeinwohlbeitrag) einzusetzen sind (sog. Mittelverwendungsgebot, § 55 Abs. 1 Nr. 1 AO)112. Die partielle Besteuerung des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs ist jedoch der Wettbewerbsgleichheit und Wettbewerbsfreiheit (Art. 3 Abs. 1, 12 GG)113 der anderen Marktteilnehmer geschuldet. Die Steuerbegünstigung der gemeinnützigen Körperschaften darf nicht den Wettbewerb nachhaltig stören. Hinsichtlich der Vermögensverwaltung114 geht das Gesetz typisierend davon aus, dass die Steuervergünstigungen regelmäßig nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führen115. Im Fall der Spende teilt sich das staats- und steuersubstituierende Handeln auf zwei Steuersubjekte auf: Die gemeinnützige Körperschaft handelt entsprechend den Vorgaben des Gemeinnützigkeitsrechts sowohl inhaltlich als auch qualitativ wie der Staat (Staatssubstitution), der Spender stellt die dafür notwendigen Mittel (zum Teil) zur Verfügung und nimmt auf diesem Wege bereits

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109 Vgl. dazu Fn. 107. 110 Vgl. allgemein zum Verhältnis von Gemeinnützigkeit und Wirtschaft Droege, Fn. 36, S. 189 ff. 111 Vgl. dazu ausführlich Jachmann/Liebl, Fn. 83, S. 47 f. 112 De lege lata (§ 56 AO) setzt die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit – jenseits von Zweckbetrieben und steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben, die nur deswegen keine Zweckbetriebe sind, weil sie nicht die sog. Wettbewerbsklausel (§ 65 Nr. 3 AO) einhalten – das Vorliegen eines subjektiven Vorbehalts voraus (der objektiv ermittelbar sein muss), wonach die wirtschaftliche Tätigkeit dafür vorgesehen sein muss, einen steuerbegünstigten Zweck zu fördern (vgl. dazu Jachmann/ Liebl, Fn. 83, S. 23, 47 f.). 113 Vgl. nur Jachmann/Liebl, Fn. 83, S. 41 m. w. N.; Hüttemann, Fn. 83, § 1 Rz. 94 m. w. N. (der zusätzlich auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 GG verweist); vgl. allgemein zur Grenzziehung zwischen der Verfolgung gemeinnütziger und wirtschaftlicher Zwecke anhand des Gedankens der Wettbewerbsneutralität und neuerer Ansätze, die eine partielle Besteuerung aus fiskalischen Interessen heraus (Sicherung des Steueraufkommens – es wird verhindert, dass Steuerzahler vom Markt verdrängt werden) begründen, Droege, Fn. 36, S. 193 ff. m. w. N. 114 Vgl. dazu Fn. 107. 115 Vgl. nur Jachmann/Liebl, Fn. 83, S. 37 m. w. N.

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seine Gemeinwohlverantwortung unmittelbar – finanziell – wahr (Steuersubstitution). Die Progressionswirksamkeit der Spende erklärt sich daraus, dass zur Finanzierung des Gemeinwesens mittels Steuer nur noch das Einkommen vorhanden ist, das nicht bereits für eine staatsähnliche Gemeinwohlverwirklichung (durch die gemeinnützige Körperschaft) verwendet wurde116.

IV. Die Rechtfertigung einer Steuerbegünstigung der Zivilgesellschaft Zu fragen bleibt, inwieweit die Akteure der Zivilgesellschaft nach Maßgabe des dargelegten Rechtfertigungskonzepts (s. o. sub. III.) für eine (partielle) Steuerbefreiung gemeinnütziger Zweckverfolgung systemkonform zu begünstigen sind. 1. Zivilgesellschaft und gemeinnützige Zweckverfolgung – Widerspruch oder zwei sich überschneidende Kreise? Die Ausgangssituation stellt sich insoweit für gemeinnützige Körperschaften einerseits und Akteure der Zivilgesellschaft andererseits durchaus differenziert dar. Anders als die gemeinnützigen Körperschaften, die im parlamentsgesetzlich vorgegebenen Raster des Gemeinnützigkeitsrechts steuer- und staatssubstituierend Gemeinwohl verwirklichen, verfolgt die Zivilgesellschaft autonom entwickelte Gemeinwohlziele bzw. nimmt autonom selbst gefundene Funktionen wahr. a) Parallele Ziele bzw. Inhalte Inhaltliche Parallelen zwischen zivilgesellschaftlichem Agieren und gemeinnütziger Zweckverfolgung de lege lata lassen sich gleichwohl finden, so v. a. unter dem Aspekt einer Stärkung der Demokratie: Der gemeinnützige Zweck der Förderung des demokratischen Staatswesens i. S. v. § 52 Abs. 2 Nr. 24 AO bezieht sich auf die demokratischen Grundprinzipien, insbesondere Meinungs-, Presse-, Informations- und Versammlungsfreiheit, einschließlich der „Toleranz gegenüber der Meinung des anders Denkenden und die Förderung der Mei-

__________ 116 Vgl. auch Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Spenden- und Gemeinnützigkeitsrechts, BMF-Schriftenreihe Heft 40, 1988, S. 228 f.; Thiel/Eversberg, DB 1991, 118 (119); P. Kirchhof, DStJG 26 (2003), S. 1 (5); Geserich, DStJG 26 (2003), S. 245 (246 ff.); Minderung der Leistungsfähigkeit durch Spenden an gemeinnützige Körperschaften; a. A. Seer, DStJG 26 (2003), S. 11 (41 ff.) m. w. N.; Trzaskalik, 63. DJT, 2000, Bd. I, E 86 ff.; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 20 Rz. 15; Hüttemann, Fn. 83, § 1 Rz. 69; Droege, Fn. 36, S. 362 (Abzug von der Steuerschuld); zu einer „gerechten“ Ausgestaltung des steuerlichen Spendenabzugs vgl. Auer/Kalusche in Walz/v. Auer/v. Hippel (Hrsg.), Spenden und Gemeinnützigkeitsrecht in Europa, 2007, S. 13 (27 f.); vgl. dazu auch Paquè, Philantropie und Steuerpolitik, 1986, S. 345 ff.; Paquè in Hüttemann/Rawert/Schmidt/ Weitemeyer (Hrsg.), Non Profit Law Yearbook 2007, 2008, S. 1 (17 f.).

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nungspluralität, sowie die Gewaltenteilung und Bildung der Bevölkerung“117. Ausgenommen sind etwa die Verfolgung von „Einzelinteressen staatsbürgerlicher Art“ (§ 52 Abs. 2 Nr. 24 Halbs. 2 AO)118. Indem in der Zivilgesellschaft zwischen Individuum und Entscheidungsträgern vermittelt oder mehr Partizipation ermöglicht wird, wird auch das demokratische Staatswesen i. S. v. § 52 Abs. 2 Nr. 24 AO gefördert119; das Individuum wird durch zivilgesellschaftliche Organisationen (erst oder besser) in die Lage versetzt, seine demokratischen Grundrechte zu nützen und zu verteidigen120. Auch wenn damit eine mögliche parallele Zweckverfolgung gemeinnütziger Körperschaften und zivilgesellschaftlicher Akteure ausgemacht werden kann, ist diese Parallele andererseits nicht durchgängig. Zwar richten – handlungslogisch gesehen – zivilgesellschaftliche Akteure ihr Handeln am Gemeinwohl aus, indem sie selbständig gesellschaftliche und damit öffentliche Aufgaben wahrnehmen121. Damit wird vielfach auch der staatliche Aufgabenbereich

__________ 117 König in Pahlke/König, 2. Aufl. 2009, § 52 AO Rz. 65; ähnlich Tipke in Tipke/ Kruse, AO/FGO, § 52 AO Rz. 50; Uterhark in Schwarz, AO, § 52 AO Rz. 41 (Aktivitäten zum Schutz und zur Förderung der Grundrechte). 118 Zur mangelnden Selbstlosigkeit bei der Verfolgung von Einzelinteressen (z. B. Förderung eigenwirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Vorteile [Tipke, Fn. 117, § 52 AO Rz. 51]) vgl. König, Fn. 117, § 52 AO Rz. 65; ähnlich Tipke, a. a. O., § 52 AO Rz. 51. 119 Zur Forderung nach verbesserter Transparenz – gerade angesichts der demokratischen Funktion – vgl. Piontkowski, NDV 2008, S. 420, 425. Es soll in der Öffentlichkeit deutlich sein, welche Interessen jeweils tatsächlich vertreten werden (vgl. dazu, dass z. B. NGO’s [sog. Nichtregierungsorganisationen], die als klassische zivilgesellschaftliche Organisationen gelten, in Deutschland nur den 9. von 14 Rängen bei der Bewertung sektorspezifischer Korruptionsanfälligkeit belegen – hinter den Finanzbehörden, der Polizei und dem Bildungswesen – Transparency International, Report on the Transparency International Global Corruption Barometer 2007, S. 22 [abrufbar unter http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/gcb/ 2007] [Internetabruf: Mai 2010]). 120 Vgl. auch BVerfG v. 15.11.1982 – 1 BvR 108/80, 1 BvR 438/80, 1 BvR 437/80, BVerfGE 62, 230 (247) m. w. N.; v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, BVerfGE 69, 315 (344 ff.) m. w. N.; v. 1.10.1987 – 2 BvR 1434/86, BVerfGE 77, 65, 74 m. w. N.; v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, BVerfGE 100, 214 (223): Das BVerfG weist auf die konstituierende Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte für die freiheitliche Demokratie hin (so Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 27). Vgl. auch demnächst Liebl, Gemeinnützigkeit in der zivilgesellschaftlichen Perspektive. 121 Öffentliche Aufgaben (vgl. dazu Fn. 92) können von staatlichen oder gesellschaftlichen Trägern erfüllt werden (Isensee, Fn. 2, § 73 Rz. 12; vgl. auch bereits Peters in Dietz/Hübner [Hrsg.], FS Nipperdey, Bd. 2, 1965, S. 878). Der Begriff der gesellschaftlichen Aufgabe meint, dass aus der Gesellschaft – durch Einzelpersonen, Vereine oder Wirtschaftsunternehmen – ohne staatliche Initiative eine im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe wahrgenommen wird. Von der Erfüllung einer gesellschaftlichen Aufgabe kann z. B. dann gesprochen werden, wenn Unternehmen die Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgen, Umweltschutzorganisationen (z. B. Greenpeace) über umweltschädliche Produkte aufklären (z. B. welche Unternehmen Regenwaldhölzer verwenden) oder Verbraucherschutzorganisationen in der Öffentlichkeit anprangern, dass Privatpersonen in einer als sittlich anstößig empfundenen Art und Weise mit Telefonwerbung belästigt werden.

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bzw. der Bereich steuerbegünstigter Zwecke berührt sein122. Allerdings liegen diese – sich quasi zufällig ergebenden – Berührungspunkte nicht in der von der Zivilgesellschaft intendierten Stoßrichtung. Deutlichere inhaltliche Parallelen als zwischen Zivilgesellschaft und Gemeinnützigkeitsrecht finden sich zwischen Drittem Sektor (s. o. sub. II.5.) und Gemeinnützigkeitsrecht, dies insbesondere wegen dessen zentraler Ausrichtung auf Wohlfahrt und Mildtätigkeit (§ 52 Abs. 2 Nr. 9 AO, § 53 AO)123. b) Unterschiedliche Umsetzung Selbst wenn aber zivilgesellschaftliche Akteure und gemeinnützige Körperschaften tatsächlich gleiche (Gemeinwohl-)Ziele mit der Qualität steuerbegünstigter Zwecke verfolgen, unterscheiden sie sich grundlegend in der Art ihrer Umsetzung: Zivilgesellschaftliche Akteure sind nach ihrem Selbstverständnis nicht darauf festgelegt, die von ihnen selbst gesetzten (Gemeinwohl-)Ziele ausschließlich, unmittelbar und in selbstloser Art und Weise zu verfolgen. Begreift man die Zivilgesellschaft in einem liberalen Sinn124, ist ihre Gemeinwohlverwirklichung – insoweit vergleichbar Markt und Wirtschaft – eher Nebenprodukt der Verfolgung eigener Interessen (s. o. sub. II.) bzw. autonom gesetzter eigener Ziele und damit jedenfalls nicht selbstlos im Sinne des Gemeinnützigkeitsrechts125. Bei einem republikanischen Verständnis126 tritt zwar eine inhaltsgebundene Gemeinwohlverwirklichung in den Vordergrund; die Zivilgesellschaft steht insoweit für die Verwirklichung einer freiheitlichen, am

__________ 122 Zwischen Staatsaufgaben und gesellschaftlichen Aufgaben gibt es jedenfalls Überschneidungen (vgl. dazu Neumann, Freiheitsgefährdung im kooperativen Sozialstaat, 1992, S. 38). Abweichungen ergeben sich insbesondere, wenn sich zivilgesellschaftliche Akteure privater Anliegen annehmen und diese gleichzeitig zur öffentlichen Frage und damit zu einem Gegenstand des öffentlichen Interesses (Gemeinwohl) machen (vgl. dazu Jachmann, Fn. 105, S. 79). 123 Zu weiteren Überschneidung vgl. etwa Kunst (§ 52 Abs. 2 Nr. 5 AO), Sport (§ 52 Abs. 2 Nr. 21 AO), Umwelt (§ 52 Abs. 2 Nr. 8 und Nr. 14) und Entwicklungshilfe/ -zusammenarbeit (§ 52 Abs. 2 Nr. 15 AO) (s. o. sub. II.5.). 124 Vgl. dazu auch Droege, Fn. 36, S. 266. 125 Vgl. aber zur liberalen Vorstellung einer (privaten) Kultivierung des Mitleids als Ergänzung zur (öffentlichen) Schaffung des Gemeinwohls durch Verfolgung partikularer Interessen auf dem Markt, Maaser in Olk/Klein/Hartnuß (Hrsg.), Engagementpolitik, 2009, S. 153, 156. 126 Republik im Sinne des Grundgesetzes ist nicht nur formal i. S. einer Nichtmonarchie zu verstehen (vgl. dazu nur Dreier in Dreier, Art. 20 GG (Demokratie), Rz. 17 ff.; kritisch gegenüber einer Verengung des Republikbegriffs auf einen bloßen Gegensatz zur Monarchie Gröschner [HStR II, 3. Aufl. 2004, § 23 Rz. 2]), sondern materiell als eine freiheitliche am Gemeinwohl orientierte politische Ordnung, dies freilich z. T. verbunden mit einer Einbuße an juristischer Trennschärfe (Dreier in Dreier, Art. 20 GG (Demokratie), Rz. 21; vgl. aber auch Sommermann [in v. Mangoldt/Klein/Starck, 5. Aufl. 2005, Art. 20 GG Rz. 14], wonach das republikanische Prinzip ein Bekenntnis zum Gemeinwesen enthalte und die Herrschaft das Gemeinwohl [im Sinne des öffentlichen Interesses] im Auge haben muss; ähnlich Isensee [Fn. 2, § 71 Rz. 23], wonach das „Gemeinwohl-Ethos“ die „bleibende Substanz“ des Prinzips der Republik bilde).

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Gemeinwohl orientierten politischen Ordnung127. Jedoch sind die Vertreter der Zivilgesellschaft frei, in welchem Zeitraum eine Realisierung der individuell gesetzten Ziele erfolgt. Auch ist eine körperschaftliche Verfasstheit für zivilgesellschaftliche Akteure irrelevant128. Letztlich erweisen sich der autonome Charakter und die autonome Funktionswahrnehmung (s. o. sub. II.2. u. 3.) der Zivilgesellschaft als nicht kompatibel mit den Anforderungen steuerlicher Gemeinnützigkeit – dies sowohl hinsichtlich der tatbestandlich vorgegebenen Inhalte wie auch der Art und Weise der Zweckverfolgung. Dieser Widerspruch ist schon wegen der rechtsstaatlich und gleichheitsrechtlich gebotenen Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung nicht zugunsten des Selbstverständnisses der Zivilgesellschaft aufzulösen. Die mangelnde tatbestandliche Erfassung zivilgesellschaftlicher Gemeinwohlverfolgung führt dazu, dass eine demokratische Rückkopplung der Zivilgesellschaft in ihrer Gesamtheit nicht sichergestellt werden kann. Der Zivilgesellschaft ist die Rückbindung an staatsdefinierte Gemeinwohlinhalte und deren staatsähnliche Realisierung fremd. Auch bei einer republikanischen Interpretation der Zivilgesellschaft bleibt offen, wer nach welchem Maßstab die Gemeinwohlinhalte und deren Umsetzung bestimmt. Damit ist eine pauschale steuerund staatssubstituierende Zweckverfolgung durch zivilgesellschaftliche Akteure ausgeschlossen. Zwar widersprechen sich gemeinnützige Zweckverfolgung im Rahmen ihrer traditionellen Rechtfertigung und (autonomes) zivilgesellschaftliches Vorgehen nicht per se. Auch zivilgesellschaftliche Akteure nehmen typischerweise freiwillig, d. h. unbeeinflusst vom Staat, in inhaltlicher Hinsicht bereits vom Staat erfüllte Aufgaben wahr und gehen dabei altruistisch, d. h. selbstlos, vor. Jedoch ist dies nicht gesichert, nicht strukturell in der Zivilgesellschaft angelegt. Zivilgesellschaftskonzeption und Gemeinnützigkeitsrecht erweisen sich danach nur als bedingt kompatibel. Zugleich zeigen sich die unterschiedlichen Dimensionen von Zivilgesellschaft und Drittem Sektor. Letzterer steht dem Gemeinnützigkeitsrecht gerade auch in der Vorgehensweise näher als die Zivilgesellschaft. Er soll Markt- und Staatsversagen kompensieren129 und definiert sich – parallel zu den Anforderungen des Gemeinnützigkeitsrechts (Selbstlosigkeit in Form des Mittelverwendungsgebots, § 55 Abs. 1 Nr. 1 AO) – wesentlich durch ein Gewinnausschüttungsverbot130. Obwohl dies nicht seiner primären Intention – autonome, freiwillige und uneigennützige (Gewinnausschüttungsverbot) Dienstleistungserbringung – entspricht, stellt der Dritte Sektor sowohl inhaltlich (z. B. Wohlfahrt) als auch qualitativ (Gewinnausschüttungsverbot) ein – zumindest teilweises – Äquivalent staatlicher Aufgaben-

__________ 127 Vgl. dazu auch die parallele Diskussion in Fn. 104 (Selbstlosigkeit die Ausnahme). 128 Zur Zugehörigkeit ungebundener Handlungsformen zur Zivilgesellschaft s. o. sub. II.5 und Fn. 75. 129 Zimmer, Vereine – Zivilgesellschaft konkret, 2. Aufl. 2007, S. 187. 130 Das Gemeinnützigkeitsrecht lässt u. a. eine Ausschüttung von Gewinnen an Mitglieder (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder ein unangemessen hohes Entgelt an Dritte (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 AO) nicht zu.

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erfüllung dar131. Auch die Tätigkeit des Dritten Sektors am Markt stört diese Parallele nicht. Ist es doch für den Gemeinnützigkeitsstatus einer Körperschaft grundsätzlich (s. o. sub. III.2.) unschädlich, wenn sie sich wirtschaftlich betätigt; die erwirtschafteten Gewinne müssen lediglich zeitnah für einen steuerbegünstigten Zweck eingesetzt werden132. 2. Der zivilgesellschaftliche Aufbau von Sozialkapital als Grundlage einer Steuerbegünstigung der Zivilgesellschaft Es hat sich gezeigt, dass sich zivilgesellschaftliches Agieren nicht systemkonform in das Konzept der traditionellen Rechtfertigung steuerlicher Gemeinnützigkeit einfügen lässt; die Zivilgesellschaft ist nicht schon allgemein, nach ihrer grundsätzlichen Ausrichtung unter das steuerliche Gemeinnützigkeitsrecht fassbar. Die traditionelle Rechtfertigung der Steuererleichterungen für gemeinnützige Zweckverfolgung passt nicht auf zivilgesellschaftliches Agieren, soweit es sich nicht „zufällig“ einer staatlichen Gemeinwohlverwirklichung adäquat erweist (ausschließlich, unmittelbar und selbstlos) – und so die Kriterien des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts erfüllt. Sollen jenseits dessen einzelne Akteure der Zivilgesellschaft insbesondere für ihre wirtschaftlich erzielten Erträge Steuererleichterungen bekommen, bleibt nur die Möglichkeit einer Steuersubvention der Zivilgesellschaft im Sinne einer Ausnahme von der Regelbesteuerung wegen außerhalb des Steuersystems liegender gesellschafts- bzw. sozialpolitischer Belange. Methodisch ansetzen könnte eine solche Steuersubventionierung insbesondere beim Aufbau von Sozialkapital unter zivilgesellschaftlicher Moderation (s. o. sub. II.5.), d. h. bei der Investition in ein zivilgesellschaftlich geschaffenes Sozialkapital als gesamtgesellschaftlichem Beitrag bzw. Gemeinwohlbeitrag133. Soll der zivilgesellschaftliche Aufbau von Sozialkapital steuerbegünstigt sein, kann dies aber nicht – analog dem Gemeinnützigkeitsrecht (s. o. sub. III.1.) – an seine Qualität als inhaltliches und qualitatives Äquivalent staatlicher Aufgabenerfüllung anknüpfen. Ausgehend vom Bild einer eigendynamischen Zivilgesellschaft geht es nicht darum, durch Steuervergünstigungen steuer- und staatssubstituierendes Handeln in der Verantwortungsgemeinschaft aller Bürger/Steuerzahler gleichheitsgerecht zu platzieren. Vielmehr sollen Ressourcen der Bürger für der Allgemeinheit förderliche Belange aktiviert werden. Der Fokus liegt nicht auf belastungsgleicher Verantwortungsteilung, sondern viel-

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131 Zur Vergleichbarkeit von Organisationen des Dritten Sektors und gemeinnützigen Körperschaften vgl. auch Droege, Fn. 36, S. 256. 132 Vgl. nur Jachmann/Liebl, Fn. 83, S. 46 ff. 133 Vgl. dazu auch demnächst Liebl, Gemeinnützigkeit in der zivilgesellschaftlichen Perspektive und Paqué (in Hüttemann/Rawert/Schmidt/Weitemeyer [Hrsg.], Non Profit Law Yearbook 2007, 2008, S. 1 [17]). Nach Paqué spricht vieles dafür, die Gemeinnützigkeit vom Aufbau eines sozialen Kapitals abhängig zu machen; allerdings verweist Paqué darauf, dass der von ihm verwendete Begriff Sozialkapital nicht so zu verstehen ist, wie ihn Putnam verwendet; vielmehr gehe es dabei „um Wissen und Fähigkeiten, die durch Bürgerengagement geschaffen und tradiert werden“ (Paqué, a. a. O., S. 19).

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mehr auf Motivationsbeeinflussung via Steuererleichterung. Der sachlichen Rechtfertigung einer solchen Steuersubvention steht nicht entgegen, dass der (gesamtgesellschaftliche) externe Nutzen beim Aufbau von Sozialkapital erst verzögert hervortritt. Denn schon nach dem traditionellen Rechtfertigungsansatz des Gemeinnützigkeitsrechts kommt es nicht entscheidend auf den sofort extern sichtbaren (gesamtgesellschaftlichen) Nutzen an134; gemeinnütziges Handeln besitzt stets eine Zeitdimension, hat vielfach investiven Charakter135. Der angestrebte externe Nutzen kann durchaus zeitversetzt eintreten. Auch der mit dem Aufbau von Sozialkapital verfolgte individuelle Nutzen steht einer Steuersubvention für zivilgesellschaftliches Agieren nicht entgegen. Denn selbst das Gemeinnützigkeitsrecht gestattet de lege lata einen ideellen Eigennutzen136 der Mitglieder am Handeln einer gemeinnützigen Körperschaft137. Aber auch unter den Vorzeichen einer Steuersubvention haben gemeinnützigkeitsfundierte Steuererleichterungen für zivilgesellschaftliches Agieren jedenfalls die rechtsstaatlichen und gleichheitsrechtlichen Anforderungen an Steuergesetze zu wahren. Dies bedeutet jenseits der Frage, ob zivilgesellschaftliches Handeln eine Abweichung von der Regelbesteuerung rechtfertigt, dessen tatbestandsmäßige Erfassung (Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung, s. o. sub. III.1.)138. Zu bedenken bleibt auch, dass dem Steuerstaat in der geltenden Verfassungsordnung keine umfassende Förderungsfreiheit zukommt; er darf nicht nach Belieben Steuererleichterungen einräumen139. Der Freiheits- und insbesondere Eigentumsschutz des Steuerbürgers (Art. 2 Abs. 1, 14 GG) gestattet

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134 In diese Richtung aber wohl der Wissenschaftliche Beirat beim BMF (vgl. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF, Die abgabenrechtliche Privilegierung gemeinnütziger Zwecke auf dem Prüfstand, BMF-Schriftenreihe, Band 80, 2006, S. 5 f., 14 ff.), wenn dieser den steuerbegünstigten Status der Gemeinnützigkeit davon abhängig machen möchte, dass durch Private öffentliche Güter bereit gestellt werden (hiergegen Paqué, Fn. 133, S. 1, 9 ff.; P. Fischer, FR 2007, 1001). Eine solche Sichtweise unterstellt z. B. für den Sportbereich, dass der aktive Vereinssport lediglich bei Jugendlichen hilft, eine Art soziales Kapital aufzubauen, von dem langfristig auch andere profitieren. Dies verkennt, dass der Jugendsport auf der Infrastruktur von Vereinen basiert, die durch Erwachsene vorgehalten wird. Allgemein wird im Konzept des Beirats die Möglichkeit externen Nutzens auf den sofort eintretenden, sofort sichtbaren externen Nutzen reduziert. Damit würde Gemeinnützigkeit fast immer nur auf die Fälle von Mildtätigkeit passen, die Menschen in aktueller Not unmittelbar hilft. 135 Paqué in Hüttemann/Rawert/Schmidt/Weitemeyer (Hrsg.), Non Profit Law Yearbook 2007, 2008, S. 1 (9 ff.). 136 Jachmann/Unger in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 55 AO Rz. 23. 137 Vgl. dazu nur Jachmann/Liebl (Fn. 83, S. 19 f.), wonach es auf eine Abwägung zwischen der Verfolgung eigenwirtschaftlicher Motive der gemeinnützigen Akteure und der Förderung der Allgemeinheit (§ 52 Abs. 1 AO) ankommt. 138 In diese Richtung auch Paqué, Fn. 133, S. 1 (19): Ob und wann Sozialkapital aufgebaut wird, könnte von einer Expertenkommission bestimmt werden, wobei aber den Gesetzgeber eine Letztentscheidungskompetenz treffe. Generell zur Kritik an einer reinen Sachverständigenlösung aus Gründen mangelnder demokratischer Legitimation Isensee, DStJG 26 (2003), S. 93 (99). 139 Leisner-Egensperger in Degenheuer/Heintzen/Jesteaedt/Axer (Hrsg.), FS für Isensee, 2007, S. 895 (897) m. w. N.

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keine schrankenlose Umverteilung, auch nicht via Steuerfreiheit140; freilich erwachsen hieraus nur äußerste Grenzen für den Steuergesetzgeber. Um zivilgesellschaftliches Agieren bzw. den Aufbau von Sozialkapital in einem steuergesetzlichen Gemeinnützigkeitstatbestand zu erfassen, muss der demokratisch legitimierte Gesetzgeber einen konkreten Tatbestand formulieren, bei dessen Einhaltung regelmäßig zu erwarten ist, dass es tatsächlich zum gemeinwohlförderlichen Aufbau von Sozialkapital kommt141. Hierfür müsste der Gesetzgeber ihm als förderungswürdig erscheinende Einzelaspekte zivilgesellschaftlicher Zwecksetzung aufgreifen. Eine entsprechende Auswahl kann schon angesichts der fehlenden gesamtgesellschaftlichen demokratischen Legitimation der Zivilgesellschaft (s. o. sub. II.3.) nicht von dieser selbst geleistet werden. Dieser Umstand erweist sich aber als Widerspruch zum autonomen Ansatz der Zivilgesellschaft, wonach sich der Staat gerade zurückhalten soll in der vergleichenden Bewertung dessen, was die Bürger zu freiwilliger Mitarbeit motiviert und was sich deshalb in Vereinen und Stiftungen herausbildet, um soziales Kapital aufzubauen142. Hier zeigt sich das Dilemma: Einerseits wäre die freiheitsschonende Variante der Steuerfreistellung als Förderungsweg für die Zivilgesellschaft optimal, andererseits konfligiert diese Steuerfreistellung – gelingt es nicht, sie inhaltsbezogen zu strukturieren – mit den Anforderungen der Gesetzmäßigkeit der Abgabenerhebung. Und gerade diese gegenstandsbezogene konkrete Beschreibung widerspricht der originären Ausrichtung der Zivilgesellschaft, dies wegen der gesetzlichen und damit sowohl staatsdominierten als auch statischen Festlegung. Auch wenn man sich darauf verständigen könnte, zivilgesellschaftliche Bereiche herauszugreifen, in denen altruistische Zwecke verfolgt werden – und so den Aufbau von Sozialkapital verbindlich zu definieren – so garantiert allein der Verzicht auf Eigennutzen noch nicht den allgemeinen Nutzen143, auf den sich auch eine subventionistische Ausnahme von der Regelbesteuerung stützen müsste.

V. Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass sich die Zivilgesellschaft – gerade auch sub specie eines Aufbaus von Sozialkapital – nicht schon allgemein, nach ihrer grundsätzlichen Ausrichtung unter das steuerliche Gemeinnützigkeitsrecht fassen lässt. Die traditionelle Rechtfertigung der Steuererleichterungen für gemeinnützige Zweckverfolgung einerseits und originär zivilgesellschaftliches Agieren andererseits sind nur insoweit kompatibel, als sich letztgenannte „zufällig“ einer staatlichen Gemeinwohlverwirklichung adäquat erweist (aus-

__________ 140 Jachmann/Steiner in Manssen/Jachmann/Gröpl (Hrsg.), FS Steiner, 2009, S. 362 (386). 141 Der Gesetzgeber könnte hier typisierend vorgehen. 142 Die Definition von Sozialkapital obliegt nicht dem Staat, sondern der Zivilgesellschaft. Sie erwächst aus dem Bürgerengagement als Entdeckungsverfahren, das auch neue Varianten von sozialem Kapital entwickelt (Jachmann/Steiner, Fn. 140, S. 383). 143 Isensee, Fn. 2, § 71 Rz. 118.

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schließlich, unmittelbar und selbstlos) – und so die Kriterien des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts erfüllt. Sollen die Akteure der Zivilgesellschaft darüber hinaus – für ihre wirtschaftlich erzielten Erträge – Steuererleichterungen bekommen, führt dies – insoweit – weg vom traditionellen Rechtfertigungsansatz einer Steuer- und Staatssubstitution hin zum steuerlichen Subventionsbereich. Damit wäre die Steuerbegünstigung für Ausschnitte zivilgesellschaftlichen Handelns – im Unterschied zum sonstigen Gemeinnützigkeitsrecht – nicht Systembestandteil einer belastungsgleichen Besteuerung, sondern durch außerhalb des Steuersystems liegende gesellschafts- bzw. sozialpolitische Belange zu rechtfertigende Ausnahmeregelung. Dabei ist allein das vom potentiellen zivilgesellschaftlichen Akteur selbst verliehene Prädikat eines gemeinwohldienlichen Handelns nicht hinreichend konkret für einen rechtfertigenden Grund. Dies gilt umso mehr, als die Zivilgesellschaft als offenes Konzept einem starken Wandel unterliegt. Aber auch eine Steuersubvention für Einzelaspekte zivilgesellschaftlichen Agierens, die ggf. über die gedankliche Brücke eines individuellen Aufbaus von Sozialkapital einzelnen – steuerpflichtigen – Akteuren zugeordnet werden können, müsste jedenfalls den Anforderungen an Bestimmtheit und Tatbestandsmäßigkeit von Steuergesetzen genügen144. In der konkreten Gesetzesfassung dürfte eine solche Ergänzung des steuersubstituierenden Kerns des Gemeinnützigkeitsrechts durch Steuersubventionen zugunsten eines spezifizierten zivilgesellschaftlichen Aufbaus von Sozialkapital zu ähnlichen Normen führen, wie sie auch das geltende Gemeinnützigkeitsrecht ausmachen, dies insbesondere mit Blick auf Besteuerungsgleichheit und Wettbewerbsschutz nicht begünstigter Wettbewerber. Genügt doch weder ein Gemeinwohlbeitrag „nebenbei“ in Form eines Tätigwerdens am Markt, um eine Begünstigung im Ertragsteuerrecht zu rechtfertigen, noch darf der steuerlich begünstigte Aufbau von Sozialkapital zu einer nachhaltigen Störung des Wettbewerbs führen. Insgesamt können Inhalt und Verfahrensstruktur des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts nicht dem Selbstverständnis der Zivilgesellschaft angepasst werden. Das steuerliche Gemeinnützigkeitsrecht begründet eine der Steuerrechtfertigung immanente Steuerentlastung für die steuersubstituierende unmittelbare – staatlichem Handeln adäquate – Gemeinwohlförderung. Demgegenüber spielt die Zivilgesellschaft auf einem originär nichtstaatlichen, eben vom Staatsgefüge losgelösten, autonom von Einzelakteuren abgesteckten gesellschaftsimmanenten Feld. Eine Einbindung in ein gesetzlich im Einzelnen klar und engmaschig abgestecktes „Steuerersatzrecht“, wie es das Gemeinnützigkeitsrecht ist, passt nicht zur Zivilgesellschaft. Zivilgesellschaft und Gemeinnützigkeitsrecht sollten nicht zwangsverehelicht werden.

__________ 144 Jachmann/Steiner, Fn. 140, S. 385 f.

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Der Steuerstatus der politischen Parteien Inhaltsübersicht I. Einführung II. Grundlagen 1. Rechtsentwicklung 2. Politische Parteien und Vereine als Adressaten steuerlicher Förderung 3. Direkte und indirekte steuerliche Förderung 4. Steuersystematische Einordnung der Vergünstigungen 5. Rechtfertigung 6. Verfassungsrechtliche Grenzen der steuerlichen Förderung III. Anforderungen an Satzung und tatsächliche Geschäftsführung 1. Verzicht auf besondere steuerliche Vorgaben 2. Politische Parteien a) Verweisung auf § 2 PartG b) Parteibegriff und materielle Anforderungen des Parteiengesetzes c) Tatsächliche Geschäftsführung und Mittelverwendung 3. Kommunale Wählervereinigungen und politische Vereine IV. Körperschaftsteuerbefreiung und partielle Steuerpflicht 1. Persönliche Steuerbefreiung

2. Partielle Steuerpflicht im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs 3. Kein steuerbegünstigter Zweckbetrieb 4. Steuerbefreiung im Bereich der Vermögensverwaltung und Steuerabzug bei Einkünften aus Kapitalvermögen V. Steuerliche Behandlung von Parteizuwendungen 1. Sonderausgabenabzug und Tarifermäßigung a) Rechtsentwicklung und verfassungsrechtliche Vorgaben b) Einzelfragen 2. Parteizuwendungen und Betriebsausgabenabzug 3. Verbot der „mittelbaren“ Parteienfinanzierung VI. Befreiung von der Erbschaft- und Schenkungsteuer VII. Umsatzbesteuerung der politischen Parteien VIII. Schlussbemerkung

I. Einführung Die politischen Parteien nehmen in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes einen besonderen Platz ein. Art. 21 GG weist ihnen bestimmte Funktionen für die demokratische Willensbildung zu und regelt wesentliche Grundlagen ihrer inneren Ordnung. Ihr rechtlicher Status wird durch das Parteiengesetz näher ausgestaltet. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 PartG sind Parteien „Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Um-

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Rainer Hüttemann fang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten“.

Als privatrechtliche Personenvereinigungen unterliegen politische Parteien den allgemeinen Steuergesetzen. Allerdings finden sich in einigen Einzelsteuergesetzen begünstigende Sonderregelungen, mit denen der Gesetzgeber die besondere Funktion der Parteien für die demokratische Willensbildung anerkennt und mit den Mitteln des Steuerrechts fördert. Dazu zählen neben den Befreiungsvorschriften in § 5 Abs. 1 Nr. 7 KStG, § 13 Abs. 1 Nr. 18 ErbStG und § 4 Nr. 18a UStG vor allem der Sonderausgabenabzug und die Steuerermäßigung für Zuwendungen an politische Parteien nach §§ 10b Abs. 2, 34g EStG. Der nachfolgende Beitrag setzt sich näher mit dem Steuerstatus der politischen Parteien und anderer begünstigter politischer Vereine auseinander. Er greift damit Rechtsfragen auf, mit denen sich auch der Jubilar eingehend beschäftigt hat1.

II. Grundlagen 1. Rechtsentwicklung Die Steuervergünstigungen für politische Parteien reichen zurück in die Anfangszeit der Weimarer Republik. Nachdem erstmals im Reichsnotopfergesetz 1919 politische Parteien befreit wurden, damit den Steuerbehörden „nicht das Recht zugestanden werden sollte, in die Finanzgebarung der politischen Parteien und Vereine Einsicht zu nehmen“,2 wurden in der Folgezeit in die meisten neuen Reichssteuergesetze begünstigende Regelungen eingefügt. So waren z. B. nach § 6 Nr. 10 KStG 1920 die „Einkünfte politischer Parteien und Vereinigungen, soweit sie nicht aus einem Gewerbebetrieb stammen“ von der Körperschaftsteuer befreit. Auch das VStG 1920 enthielt eine Steuerbefreiung für das sonstige Vermögen der Parteien. Zuwendungen an Parteien waren nach § 24 ErbStG 1922 von der Erbschaft- und Schenkungsteuer ausgenommen. Der einkommensteuerrechtliche Spendenabzug für Parteizuwendungen nahm seinen Anfang mit dem EStG 1920, wurde allerdings schon 1921 wieder abgeschafft3. Nachdem die Steuerbefreiungen im Rahmen der Steuerreform von 1934 gestrichen worden waren4, fanden sie erst in der Nachkriegszeit wieder Eingang in die verschiedenen Einzelsteuergesetze. Die weitere Entwicklung

__________ 1 Vgl. Joachim Lang, Der Steuerrechtsstatus der staatsbürgerlichen Vereinigung 1954 e. V. und die Steuerabzugsfähigkeit der von ihr vereinnahmten Spenden, 1983; Steuermindernde Parteienfinanzierung, StuW 1984, 15; Gemeinnützigkeitsabhängige Steuervergünstigungen, StuW 1987, 221; Zur steuerlichen Förderung gemeinnütziger Körperschaften, DStZ 1988, 18. 2 So Evers, KStG, 2. Aufl. 1927, § 11 Anm. 101. 3 Nachweise zur Rechtsentwicklung finden sich bei Geserich in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, Loseblatt, Stand Januar 2009, § 10b Rz. A 120 ff. 4 Der NSDAP war durch Reichsgesetz v. 1.12.1933 (RGBl. I 1933, 1016) der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen worden, so dass es z. B. im KStG 1934 einer besonderen Befreiungsregelung nicht mehr bedurfte.

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ist dann wesentlich durch das BVerfG beeinflusst worden, das in seiner Rechtsprechung zur Parteienfinanzierung dem Gesetzgeber deutliche Grenzen für die steuerliche Förderung von Parteien gesetzt hat, auf die im Weiteren noch näher einzugehen sein wird5. 2. Politische Parteien und Vereine als Adressaten steuerlicher Förderung Die steuerliche Förderung der politischen Willensbildung ist – ebenso wie z. B. die Förderung gemeinnützigen Engagements (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG) – „organisationsbezogen“ ausgestaltet. Nicht das politische Engagement des einzelnen Bürgers als solches wird gefördert, sondern das Fördersystem ist auf „politische Parteien und Vereinigungen“ und deren finanzielle Unterstützung bezogen. Ein solches „organisationsbezogenes“ Fördersystem6 hat verschiedene Vorteile. Zunächst kann eine steuerliche Förderung rechtlich verselbständigter Körperschaften zielgenauer ausgestaltet werden als handlungsbezogene Steuervorteile für natürliche Personen, weil die Begünstigung auf Körperschaften beschränkt werden kann, die – in den Worten des § 56 AO – ausschließlich bestimmte förderungswürdige Ziele verfolgen. Im Fall der politischen Parteien kommt hinzu, dass der Steuergesetzgeber nach der Verabschiedung des Parteiengesetzes im Jahr 19677 bei der Ausgestaltung der einzelnen Begünstigungstatbestände auf die Begriffsbestimmung in § 2 PartG verweisen konnte, es also – im Unterschied zur Steuerbefreiung für Berufsverbände (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG) oder gemeinnützige Organisationen (vgl. dazu § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG i. V. m. §§ 51 ff. AO) – keiner eigenständigen steuerlichen Definition der begünstigten Körperschaft mehr bedurfte. Schließlich unterliegen politische Parteien nach dem Parteiengesetz verschiedenen Rechnungslegungs- und Offenlegungspflichten (vgl. auch Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG, §§ 24 ff. PartG), die die steuerliche Kontrolle erleichtern. Das Parteiengesetz gilt allerdings nur für solche Vereinigungen, die „für den Bereich des Bundes oder eines Landes“ auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen wollen. Die nach 1967 in die meisten Einzelsteuergesetze eingefügte Verweisung auf § 2 PartG8 hatte deshalb zur Folge, dass insbesondere kommunale Wählervereinigungen von den steuerlichen Vorteilen ausgeschlossen wurden, obwohl sie auf Gemeinde- und Kreisebene mit den überregionalen Parteien um Wählerstimmen konkurrierten. Diese Ungleichbehandlung von miteinander im Wettbewerb stehenden politischen Vereinigungen hat das BVerfG zumindest dort als Verstoß gegen das Grundrecht der Parteien auf Chancengleichheit beanstandet, wo die Begünstigung geeignet ist, „die vorgegebene Wettbewerbslage in einer ernsthaft ins Gewicht fallenden Weise zu verändern“9. Diese Rechtsprechung hat dazu geführt, dass die meisten Ver-

__________ 5 6 7 8 9

Grundlegend BVerfG v. 14.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51; dazu näher unten II. 6. Vgl. dazu auch Hüttemann, DStJG 26 (2003), 49. BGBl. I 1967, 773. Am Anfang stand die Einfügung des § 10b Abs. 2 EStG durch § 34 Nr. 2 PartG 1967. Zuerst BVerfG v. 15.1.1985 – 2 BvR 1163/82, BVerfGE 69, 92; v. 21.6.1988 – 2 BvR 638/84, BVerfGE 78, 350; v. 29.9.1998 – 2 BvL 64/93, BVerfGE 99, 69.

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günstigungsnormen auf „kommunale Wählervereinigungen“ (so etwa § 5 Abs. 1 Nr. 7 KStG) bzw. auf politisch aktive „Vereine ohne Parteicharakter“ (so § 34g Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG, § 13 Abs. 1 Nr. 18 Buchst. b ErbStG) ausgedehnt worden sind10. Diese Erweiterungen erfolgten allerdings stets anlassbezogen, so dass eine übergreifende wortlautgleiche Regelung für politische „Vereine ohne Parteicharakter“ fehlt. 3. Direkte und indirekte steuerliche Förderung Bei den verschiedenen steuerlichen Begünstigungen zugunsten der politischen Parteien und anderer Vereinigungen ist steuersystematisch – wie z. B. bei gemeinnützigen Einrichtungen auch11 – zwischen direkten und indirekten Steuervergünstigungen zu unterscheiden. Zu den direkten Steuervorteilen zählen die persönliche Befreiung von der Körperschaftsteuer (§ 5 Abs. 1 Nr. 7 KStG), die Befreiung von Zuwendungen an politische Parteien (§ 13 Abs. 1 Nr. 18 ErbStG) und die Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nr. 18a UStG12. Direkte Steuervergünstigungen entlasten unmittelbar die politischen Parteien selbst. Demgegenüber richten sich die indirekten Steuervergünstigungen wie der Parteispendenabzug nach § 10b Abs. 2 EStG und die Steuerermäßigung nach § 34g EStG unmittelbar an natürliche Personen und kommen den politischen Parteien nur mittelbar zugute. Die indirekten Steuervergünstigungen haben eine komplementäre Funktion zur direkten steuerlichen Entlastung der politischen Parteien, weil sie die Bürger zur finanziellen13 Unterstützung der steuerbegünstigten politischen Parteien anregen sollen. 4. Steuersystematische Einordnung der Vergünstigungen Wie bei allen Steuerprivilegien stellt sich auch in Hinsicht auf die politischen Parteien die Frage, ob die Steuervergünstigungen konstitutiven oder deklaratorischen Charakter haben. Was die persönliche Befreiung von der Körperschaftsteuer anbetrifft, so ist ersteres zutreffend. Man wird nicht sagen können, dass politische Parteien und kommunale Wählervereinigungen bereits nach den allgemeinen Vorschriften – z. B. mangels einer Gewinn- oder Einkünfteerzielungsabsicht – nicht körperschaftsteuerpflichtig wären14. Politische Parteien erzielen aus der steuerfreien Vermögensverwaltung (z. B. aus Vermietung

__________

10 Lediglich der Sonderausgabenabzug nach § 10b Abs. 2 EStG ist weiterhin politischen Parteien i. S. d. § 2 PartG vorbehalten. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass das BVerfG im Urt. v. 15.1.1985 – 2 BvR 1163/82, BVerfGE 69, 92 (111 f.) einen auf 300 DM beschränkten Steuervorteil für unerheblich angesehen hat. 11 Dazu nur J. Lang, StuW 1987, 221 (224); Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2008, § 1 Rz. 25 ff. 12 Die Befreiung in § 3 Abs. 1 Nr. 10 VStG hat seit 1998 keine praktische Bedeutung mehr. 13 Ein Freibetrag für politische Nebentätigkeiten entsprechend § 3 Nr. 26 und 26a EStG gibt es (noch) nicht. 14 Zur vergleichbaren Diskussion bei gemeinnützigen Einrichtungen vgl. etwa Seer, DStJG 26 (2003), S. 33 ff. einerseits und Hüttemann (Fn. 11), § 1 Rz. 65 ff. andererseits.

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und Verpachtung oder aus Kapitalanlagen) erhebliche Erträge, so dass insoweit am Vorliegen einer Einkünfteerzielungsabsicht kein Zweifel bestehen kann. Eine Gewinnerzielungsabsicht wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Erträge aus der Vermögensverwaltung für parteipolitische Zwecke gebunden sind. Vielmehr ist strikt zwischen Einkommenserzielung und Einkommensverwendung zu unterscheiden15. Eine echte Sozialzwecknorm ist auch die Befreiung von Parteizuwendungen von der Erbschaft- und Schenkungsteuer nach § 13 Abs. 1 Nr. 18 Buchst. a ErbStG, da eine Partei durch Zuwendungen auch dann wirtschaftlich bereichert ist, wenn sie diese für die eigenen satzungsmäßigen Zwecke verwenden muss (vgl. § 1 Abs. 4 PartG). Die gleiche Beurteilung ist schließlich auch für den steuermindernden Abzug von Parteispenden geboten, denn derartige Zuwendungen sind als Maßnahme der freiwilligen Einkommensverwendung nach allgemeinen Maßstäben an sich im Rahmen der Einkommensermittlung beim Spender steuerlich unbeachtlich16. Der Parteispendenabzug hat mithin ebenfalls Subventionscharakter. Die für Spenden an gemeinnützige Einrichtungen im Schrifttum vertretene Überlegung, dass das „uneigennützige“ Vermögensopfer zugunsten der Allgemeinheit bereits die Leistungsfähigkeit des Zuwendenden mindere, so dass der Spendenabzug als Fiskalzwecknorm zu begreifen sei17, lässt sich auf den Parteispendenabzug nicht übertragen, da es insoweit an einer „altruistischen“ Zuwendung fehlt: Wer Parteien etwas zuwendet, will im Regelfall den Einfluss einer bestimmten politischen Richtung stärken und damit seine eigene politische Überzeugung durchsetzen18. 5. Rechtfertigung Versteht man die Vergünstigungen als Sozialzwecknormen, stellt sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung. Auch wenn die steuerliche Behandlung der politischen Parteien de lege lata scharf von derjenigen der Berufsverbände (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG) und gemeinnützigen Einrichtungen (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG) zu unterscheiden ist, lassen sich die Steuervergünstigungen für politische Parteien, Berufsverbände und gemeinnützige Einrichtungen doch auf einen gemeinsamen Leitgedanken zurückführen. Es geht im Kern um die steuerliche Förderung von Gemeinwohlinteressen. Diese bestehen bei gemeinnützigen Einrichtungen in der arbeitsteiligen Mitwirkung an der Erledigung von Gemein-

__________

15 Vgl. dazu Hüttemann, GS Walz, 2008, S. 269 (280); a. A. Walz, Non Profit Law Yearbook 2001, 197 (208). 16 Ebenso bereits J. Lang, StuW 1984, 15 (18 ff.). 17 Grundlegend Vogel, StuW 1977, 97; Kirchhof, DStJG 26 (2003), 5; eingehend Geserich, Privater, gemeinwohlwirksamer Aufwand im System der deutschen Einkommensteuer und des europäischen Rechts, 1999, S. 44 f.; DStJG 26 (2003), 245 ff. 18 So bereits BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51 (66): „Die politische Spende hat in der Regel politisch oder ökonomisch finalen Charakter im Gegensatz zu der Spende für mildtätige, religiöse oder wissenschaftliche Zwecke, die meist um der Sache willen aus Liberalität und ohne die Erwartung eines besonderen Vorteils für den Spender gegeben wird.“ Vgl. J. Lang, StuW 1984, 15 (25); auch Geserich (Fn. 3), § 10b Rz. A 253 lehnt eine Einordnung als Fiskalzwecknorm mangels Uneigennützigkeit ab.

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wohlaufgaben19. Bei Berufsverbänden geht es um die Wahrnehmung von wirtschaftlichen Allgemeininteressen20, die im Bereich der Tarifautonomie sogar verfassungsrechtlich gewährleistet sind (vgl. Art. 9 GG). Die steuerliche Privilegierung der politischen Parteien rechtfertigt sich durch ihre – auch in Art. 21 GG hervorgehobene – Funktion bei der demokratischen Willensbildung21. Als problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang hingegen der bei gemeinnützigen Einrichtungen vielfach bemühte Gedanke der Staatsentlastung22. Denn soweit es um die parteipolitische Betätigung der Parteien selbst geht, kann eine Entlastung nicht eintreten, weil es unter dem Grundgesetz „Staatsparteien“ ebenso wenig geben kann wie eine „Staatsreligion“23. Aber auch dann, wenn man den Gedanken der Staatsentlastung mit einer neueren Ansicht auf die Finanzierungsverantwortung des Staates bezieht24, hat etwa der steuerliche Spendenabzug zumindest bei politischen Parteien i. S. v. § 2 PartG keine staatsentlastende Wirkung, da die politischen Parteien z. B. nach § 18 Abs. 3 PartG für jeden Euro, den sie als Zuwendung erhalten haben, Anspruch auf 0,38 Euro staatliche Förderung haben. Ferner ist die Gesamthöhe der staatlichen Parteienfinanzierung gesetzlich fixiert (§ 18 Abs. 2 PartG) und der Finanzierungsanteil einer Partei an die Höhe der eigenen Einnahmen gebunden (§ 18 Abs. 5 PartG). Der Staat wird also durch die steuerlich geförderte Einwerbung von Spenden nicht finanziell entlastet, sondern umgekehrt eher stärker belastet. Der Rechtfertigungsgrund der steuerlichen Förderung der Parteien ist folglich woanders zu suchen. Er ergibt sich – wie auch das BVerfG festgestellt hat25 – aus der von der Verfassung geforderten Staatsfreiheit der Parteien: Durch die direkten und indirekten Steuervorteile sollen die Selbstfinanzierungskräfte der Parteien gestärkt und so die von Verfassungs wegen gebotene überwiegende Eigenfinanzierung der Parteien gefördert werden26. Darüber hinaus stehen die Steuervergünstigungen – z. B. im Bereich der Körperschaftsteuer – auch in einem Zusammenhang mit der staatlichen Parteienfinanzierung. Die finanzielle Wirkung der staatlichen Leistungen wäre gerin-

__________ 19 Vgl. näher Unabhängige Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, 1988, S. 92 ff.; Isensee, FS Dürig, 1990, 35; J. Lang, StuW 1987, 221; Hüttemann (Fn. 11), § 1 Rz. 80 ff.; eingehend nunmehr Droege, Gemeinnützigkeit im offenen Steuerstaat, 2010. 20 Zur Steuerbefreiung von Berufsverbänden eingehend Kühner, Die Steuerbefreiung der Berufsverbände, 2008, S. 123 ff. 21 Vgl. auch BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51 (63): „Da die Abhaltung von Wahlen eine öffentliche Aufgabe ist und den Parteien bei der Durchführung dieser öffentlichen Aufgabe von Verfassungs wegen eine entscheidende Rolle zukommt, muss es auch zulässig sein, nicht nur für die Wahlen selbst, sondern auch für die Wahlen tragenden Parteien finanzielle Mittel von Staats wegen zur Verfügung zu stellen.“ 22 Dazu eingehend Unabhängige Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, 1988, S. 92 ff. 23 Kritisch zur Staatsentlastung bei pluralistischen Gemeinwohlaufgaben Isensee/ Knobbe-Keuk, Unabhängige Sachverständigenkommission, 1988, S. 346 ff.; 356 ff. 24 Seer, DStJG 26 (2003), 25. 25 Vgl. BVerfG v. 9.4.1992 – 2 BvE 2/89, BVerfGE 85, 264 (287 ff., 290). 26 Ebenso Geserich (Fn. 3), § 10b Rz. A 258.

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ger, wenn z. B. das Einkommen aus einer Zwischenanlage dieser Mittel einer ungemilderten Besteuerung unterliegen würde. 6. Verfassungsrechtliche Grenzen der steuerlichen Förderung Die steuerliche Förderung politischer Parteien findet ihre verfassungsrechtliche Grenze zunächst – ebenso wie die Privilegierung von gemeinnützigen Körperschaften und Berufsverbänden – in der verfassungsrechtlich geschützten Wettbewerbsgleichheit sowie den Freiheitsrechten anderer nicht begünstigter privater Unternehmen27. Diesem Gesichtspunkt trägt das Gesetz bei allen steuerbegünstigten Körperschaften dadurch Rechnung, dass die wirtschaftliche Betätigung aus der steuerlichen Begünstigung ausgeklammert ist. So heißt es in § 5 Abs. 1 Nr. 7 S. 2 KStG: „Wird ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb unterhalten, so ist die Steuerbefreiung insoweit ausgeschlossen“. Bei der Ausgestaltung der Steuervergünstigungen für politische Parteien und Vereine muss der Gesetzgeber aber zusätzlich noch den besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen, die sich aus dem Gleichheitssatz in seiner durch das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) gebotenen strengen, formalen Auslegung ergeben. Dazu gehört nach der Rechtsprechung des BVerfG28 das Grundrecht der Parteien auf Chancengleichheit. Der Gesetzgeber darf daher weder einzelne Parteien oder Wählervereinigungen von direkten steuerlichen Vergünstigungen ausschließen noch eine schon bestehende Ungleichheit der Wettbewerbschancen der Parteien durch solche steuerliche Regelungen verschärfen. Nichts anderes gilt hinsichtlich der Ausgestaltung von indirekten steuerlichen Fördermaßnahmen wie z. B. den Parteispendenabzug. Denn auch der einzelne Bürger hat ein aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitetes Grundrecht auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung29. Auf diese spezifischen Anforderungen an ein steuerliches Fördersystem für politische Parteien wird im Zusammenhang mit den einzelnen Begünstigungen zurückzukommen sein.

III. Anforderungen an Satzung und tatsächliche Geschäftsführung 1. Verzicht auf besondere steuerliche Vorgaben Die Steuervergünstigung für politische Parteien und Vereine ist dadurch gekennzeichnet, dass der Steuergesetzgeber zwar den Adressat der Begünstigung durch Verweisung auf § 2 PartG oder durch eine eigene steuerliche Begriffsbestimmung (z. B. „kommunale Wählervereinigung“) näher bestimmt, aber auf weitere steuerliche Voraussetzungen verzichtet hat. Darin liegt ein Unter-

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27 Dazu statt vieler Unabhängige Sachverständigenkommission (Fn. 19), S. 151 ff.; Seer, DStJG 26 (2003), S. 11, 34 f.; Hüttemann (Fn. 11), § 1 Rz. 94 f.; Wirtschaftliche Betätigung und steuerliche Gemeinnützigkeit, 1991, S. 191 ff. 28 Vgl. dazu grundlegend BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51. 29 Vgl. BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51; v. 14.7.1986 – 2 BvE 2/84, 2 BvR 442/84, BVerfGE 73, 40 = FR 1986, 412; v. 9.4.1992 – 2 BvE 2/89, BVerfGE 85, 264.

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schied zu anderen „organisationsbezogenen“ Steuerbefreiungen. So finden sich in der Körperschaftsteuerbefreiung für Berufsverbände zugleich gewisse Anforderungen an die Mittelverwendung (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG). Für gemeinnützige Organisationen (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG) enthält die Abgabenordnung sogar einen eigenen Abschnitt mit Vorschriften über die satzungsmäßigen und tatsächlichen Voraussetzungen der Steuervergünstigung30. Fraglich ist, welche Konsequenzen dieser Verzicht auf eigenständige steuerliche Vorgaben bei der Förderung von Parteien hat. 2. Politische Parteien a) Verweisung auf § 2 PartG Nach dem Wortlaut der Einzelsteuergesetze setzt die Gewährung der Steuervergünstigungen an politische Parteien nur voraus, dass die betreffende Vereinigung im fraglichen Zeitraum als „politische Partei i. S. v. § 2 PartG“ anzusehen ist. Bei dieser Beurteilung ist die Finanzverwaltung zwar nicht rechtlich an die Entscheidung anderer Behörden gebunden, orientiert sich aber zumindest faktisch am Verzeichnis des Bundeswahlleiters nach § 6 Abs. 3 PartG31. Unstreitig ist auch, dass die Parteieigenschaft und damit die Steuervergünstigung ungeachtet der Hinterlegung der Unterlagen nach § 2 Abs. 2 PartG verloren gehen, wenn eine Vereinigung sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer Landtagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat. Im Übrigen ist zu beachten, dass die Hinterlegung von Unterlagen nach § 6 Abs. 3 nur eine „Registerfunktion“ erfüllt und deshalb keine zwingende Voraussetzung dafür bildet, dass eine Vereinigung als „politische Partei“ i. S. v. § 2 Abs. 1 PartG anzusehen ist32. Die Finanzverwaltung verlangt in diesem Fall allerdings, dass die Partei an einer Bundes- oder Landtagswahl teilgenommen hat, wobei die Begünstigung ab dem Zeitpunkt der Zulassung zur Wahl gewährt wird33. b) Parteibegriff und materielle Anforderungen des Parteiengesetzes Fraglich ist, ob die Anwendung der Steuervergünstigungen über die in § 2 PartG bestimmten Voraussetzungen hinaus auch davon abhängig ist, dass eine politische Partei die in anderen Regelungen des Parteiengesetzes bestimmten Verhaltenspflichten erfüllt. Dazu zählen etwa die Vorschriften betreffend die Aufgaben und die Mittelverwendung der Parteien (§ 1 Abs. 2 und 4 PartG), die Satzung und das Programm (§ 6 PartG), die innere Ordnung der Parteien (§§ 7 ff. PartG) sowie die besonderen Rechnungslegungs- und Offenlegungs-

__________ 30 Vgl. dazu die §§ 55 ff. AO. 31 Vgl. OFD Frankfurt v. 31.5.1995, StEK EStG, § 10b Nr. 279. 32 Ipsen in Ipsen, Parteiengesetz, 2008, § 6 Rz. 21; Augsberg in Kersten/Rixen, Parteiengesetz, 2009, § 6 Rz. 26 ff. 33 OFD Frankfurt v. 31.5.1995 (Fn. 31).

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pflichten (§§ 23 ff. PartG)34. Kann ein Finanzamt die Steuervergünstigung versagen, wenn eine Partei einen unrichtigen Rechenschaftsbericht vorlegt oder ihre Satzung nicht den Anforderungen des Parteiengesetzes entspricht? Dafür könnte die Überlegung sprechen, dass eine steuerliche Förderung nur angezeigt ist, wenn sich eine Partei gemäß den Verhaltensanforderungen des PartG – also „rechtstreu“ – verhält35. Der BFH hatte bisher nur einmal Gelegenheit, sich mit dem Steuerrechtsstatus der politischen Parteien näher auseinanderzusetzen. Dabei ging es um die Abzugsfähigkeit einer Spende an eine Partei, welche zwar den Anforderungen des § 2 PartG genügte, deren Satzung aber nicht die in § 6 Abs. 2 PartG bestimmten Voraussetzungen erfüllte. In seiner Entscheidung vom 7.12.199036 hat sich der X. Senat für ein – wie er es ausgedrückt hat – „strenges Gesetzesverständnis“ ausgesprochen. Der Parteibegriff des § 10b Abs. 2 EStG werde nicht allein durch die Grundnorm des § 2 PartG, sondern auch durch die in den nachfolgenden Vorschriften des PartG enthaltenen formellen Erfordernisse bestimmt. Dafür spreche auch, dass im Spendenabzugsverfahren ein „gewisses praktisches Bedürfnis für einen formalisierten, auch an äußeren Merkmalen messbaren Parteienbegriff“ bestände37. Das vom X. Senat gesehene „gewisse praktische Bedürfnis“ kann allerdings für sich genommen eine einschränkende Auslegung der Steuervergünstigung kaum rechtfertigen, da diese nur auf den Parteibegriff des § 2 PartG und nicht auch auf andere Regelungen des Parteiengesetzes verweist. Darüber hinaus hat der BFH nicht beachtet, dass der in § 6 Abs. 2 PartG geregelte Satzungsinhalt kein Definitionsmerkmal des Parteibegriffs darstellt. Zwar wird man in dem Fehlen einer schriftlichen Satzung ein Indiz dafür sehen können, dass eine Organisation den in § 2 Abs. 1 PartG formulierten Anforderungen nicht genügt, weil es an der „Ernsthaftigkeit“ der politischen Zielsetzung fehlt38. Dagegen führt das Fehlen einzelner der in § 6 Abs. 2 PartG vorgegebenen Satzungsbestimmungen noch nicht zum Verlust des Parteienstatus. Ähnliches gilt für das Vorhandensein von Gebietsverbänden. § 7 Abs. 1 Satz 3 PartG ist kein Tatbestandsmerkmal der politischen Partei, sondern begründet nur eine Vorgabe, die an den Status der politischen Partei anknüpft. Wollte man schließlich die Gewährung der Steuervergünstigung von der Einhaltung aller im Parteiengesetz enthaltenen Verhaltungsgebote abhängig machen, könnten erhebliche Wertungskonflikte entstehen. Verstößt z. B. eine Partei gegen die Rechnungslegungspflichten nach den §§ 23 ff. PartG, löst dies seit der Änderung des

__________ 34 Zur Rechnungslegung der Parteien vgl. eingehend Küstermann, Das Transparenzgebot des Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG und seine Ausgestaltung durch das Parteiengesetz, 2003. 35 So hat J. Lang, StuW 1984, 15 (19) vorgeschlagen, nur „rechtmäßige“ Parteispenden zum Abzug zuzulassen. 36 BFH v. 7.12.1990 – X R 1/85, BStBl. II 1991, 508 = FR 1991, 493. 37 Zustimmend Geserich (Fn. 3), § 10b Rz. C 21; a. A. wohl Jost in Dötsch/Eversberg/ Pung/Witt, KStG, Loseblatt, Stand Juli 2005, § 5 KStG n. F. Rz. 106. 38 Vgl. Ipsen (Fn. 32), § 6 Rz. 2; Augsberg (Fn. 32), § 6 Rz. 31.

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Parteiengesetzes im Jahr 200239 nur die in §§ 31a ff. PartG vorgesehenen besonderen Sanktionen aus. Würde man nun einen unrichtigen Rechenschaftsbericht zum Anlass nehmen, auch noch die Steuervergünstigung für den betreffenden Veranlagungszeitraum zu versagen, könnte dies – je nach steuerlicher Situation – zu unverhältnismäßig großen wirtschaftlichen Nachteilen führen, die zudem mit den in §§ 31a ff. PartG genau festgelegten Sanktionen nicht abgestimmt sind. Darüber hinaus ist zu beachten, dass eine einschränkende Auslegung des Parteibegriffs nach der Ausdehnung der meisten Steuervergünstigungen auf politische Vereine ohne Parteicharakter – abgesehen von § 10b Abs. 2 EStG40 – nur eine geringe praktische Bedeutung hätte, da politische Vereine „ohne Parteicharakter“ auch ohne Einhaltung der Regelungen des Parteiengesetzes begünstigt sind41. Für die weiteren Überlegungen ist deshalb daran festzuhalten, dass – entgegen der Ansicht des X. Senats – für die Anwendung der Steuervergünstigung allein auf die in § 2 PartG normierten Voraussetzungen abzustellen ist. c) Tatsächliche Geschäftsführung und Mittelverwendung Die Steuervergünstigungen für politische Vereine und Vereine ohne Parteicharakter sind – anders als z. B. die Begünstigung gemeinnütziger Körperschaften (vgl. §§ 55 ff. AO) – auch nicht an bestimmte Vorgaben hinsichtlich der tatsächlichen Geschäftsführung und Mittelverwendung geknüpft42. Fraglich ist, ob sich entsprechende Anforderungen zumindest aus teleologischen Gesichtspunkten oder unter Rückgriff auf das Parteiengesetz ableiten lassen43. So haben Parteien nach § 1 Abs. 4 PartG ihre Mittel „ausschließlich für die ihnen nach dem Grundgesetz und diesem Gesetz obliegenden Aufgaben“ zu verwenden. Diese Vorgabe des Parteiengesetzes hat aber schon deshalb eine begrenzte Aussagekraft, weil die Aufgaben der Parteien in § 1 Abs. 2 PartG nur relativ unbestimmt und zudem nicht abschließend geregelt sind. Deshalb bereitet die Feststellung einer „Fehlverwendung“ in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten. Dies zeigt ein Urteil des FG Baden-Württemberg44 vom 26.11.1987, das – im Ergebnis sicher zu Recht – in der Verwendung einer Parteispende für die (mildtätige) Spendenaktion „Polenhilfe“ keine Fehlverwendung erblicken konnte. Denn es sei „legitim, wenn eine Partei versucht, sich in der Öffentlichkeit darzustellen“45. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass das Parteiengesetz selbst keine Sanktionen für Mittelfehlverwendun-

__________ 39 Dazu etwa Ipsen, NJW 2002, 1909. 40 Die Entscheidung des BFH v. 7.12.1990 betraf die Auslegung des § 10b Abs. 2 EStG. 41 Für eine entsprechende Anwendung der Regelungen des Parteiengesetzes im Rahmen der steuerlichen Begünstigungsnormen fehlt jeder gesetzliche Anhaltspunkt. 42 Nach Gierlich, FR 1991, 518 (522) unterliegen zumindest Parteispenden keiner Mittelbindung, die von den Finanzämtern zu prüfen wäre; a. A. Geserich (Fn. 3), § 10b Rz. C 30. 43 Vgl. zu dieser Problematik bei Berufsverbänden eingehend Kühner, Die Steuerbefreiung der Berufsverbände, 2008. 44 Vgl. FG BW v. 26.11.1987 – III K 90/4, EFG 1988, 135. 45 FG BW v. 26.11.1987, a. a. O.

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gen vorsieht, so dass eine Versagung der Steuervergünstigung wegen einzelner Fehlverwendungen im Regelfall ganz unverhältnismäßig wäre. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der tatsächlichen Mittelverwendung für die Anwendung der Steuervergünstigung überhaupt keine Bedeutung zukommt. Denn bei einer nachhaltigen und fortgesetzten Mittelfehlverwendung wird man an der „Ernsthaftigkeit“ der politischen Zielsetzung der Vereinigung zweifeln müssen, was den Verlust der Parteieigenschaft nach § 2 Abs. 1 PartG zur Folge hat. Darüber hinaus gibt es aber – auch wegen des Selbstorganisationsrechts der Parteien – weder ein Gebot der „zeitnahen“ Mittelverwendung noch ein Unmittelbarkeitsgebot46. Im Rahmen der Rücklagen- und Vermögensbildung können Parteien schließlich – entgegen vereinzelter Ansicht im Schrifttum47 – ihre Mittel (einschließlich Parteispenden) auch in steuerpflichtige wirtschaftliche Geschäftsbetriebe investieren. Dafür spricht nicht nur, dass die Unterhaltung solcher Geschäftsbetriebe zur Mittelbeschaffung die Eigenfinanzierungskräfte der Parteien stärkt und somit auch der Erfüllung der parteipolitischen Arbeit zugute kommt. Vor allem ist zu beachten, dass viele steuerpflichtige wirtschaftliche Geschäftsbetriebe von Parteien zur unmittelbaren Erfüllung satzungsmäßiger Zwecke unterhalten werden („Zweckverwirklichungsbetriebe“), so dass ein Mitteleinsatz (selbst bei defizitären Tätigkeiten) zur Verfolgung parteipolitischer Zwecke sogar geboten sein wird. Dies gilt jedenfalls für die Herstellung und den Vertrieb von parteipolitisch ausgerichteten Druckschriften (vgl. § 24 Abs. 4 Nr. 7 PartG). 3. Kommunale Wählervereinigungen und politische Vereine Für „kommunale Wählervereinigungen“ (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 7 KStG) und politische „Vereine ohne Parteiencharakter“ (vgl. § 34g Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, § 13 Abs. 1 Nr. 18 Buchst. b ErbStG) stellt sich die Ausgangslage schon insoweit anders dar, als diese Vereinigungen nicht unter den Begriff der politischen Partei i. S. v. § 2 PartG fallen, so dass die formellen und materiellen Anforderungen des Parteiengesetzes für sie nicht gelten. Während der Gesetzgeber den Begriff der „kommunalen Wählervereinigung“ nicht näher definiert hat, sind „Vereine ohne Parteicharakter“ durch zwei Voraussetzungen gekennzeichnet: Sie verfolgen ausschließlich den Zweck, durch Teilnahme an Wahlen an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Ferner muss der Verein bei der jeweils letzten Wahl auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene wenigstens ein Mandat errungen oder der zuständigen Behörde die Teilnahme an der nächsten Wahl angezeigt haben. Weitere formale Anforderungen – z. B. eine Satzung mit einem bestimmten Mindestinhalt – bestehen nicht, auch wenn die Satzung neben der tatsächlichen Geschäftsführung die Haupterkenntnisquelle für die tatsächliche Feststellung sein dürfte, ob dem „Ausschließlichkeitsgebot“ genüge getan wird. Im Übrigen kann hinsichtlich der Mittelverwendung auf die Ausführungen zu den politischen Parteien verwiesen werden.

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46 So auch Kirchhof in Kirchhof, Kompaktkommentar EStG, 9. Aufl. 2010, § 10b Rz. 52. 47 Anders für den Spendenabzug (keine Verwendung für parteipolitische Zwecke) Geserich (Fn. 3), § 10b Rz. C 31.

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IV. Körperschaftsteuerbefreiung und partielle Steuerpflicht 1. Persönliche Steuerbefreiung Als privatrechtliche Personenvereinigungen, die sich in Deutschland traditionell in der Rechtsform des nicht rechtsfähigen Vereins organisieren, sind politische Parteien nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 KStG grundsätzlich unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig. § 5 Abs. 1 Nr. 7 KStG enthält insoweit eine konstitutive persönliche Steuerbefreiung48, die allerdings in zweifacher Weise eingeschränkt ist. Die Steuerbefreiung ist zum einen insoweit ausgeschlossen, als ein sog. wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb unterhalten wird (sog. partielle Körperschaftsteuerpflicht). Zum anderen gilt die Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG nicht für inländische Einkünfte, die dem Steuerabzug unterliegen (also z. B. Kapitaleinkünfte). Die heutige Rechtslage deckt sich also weitgehend mit der Situation vor dem KStG 1977, wo es nur eine sachliche Steuerbefreiung für bestimmte Einkommensbestandteile gab (vgl. zuletzt § 8 Abs. 2 KStG 1968). 2. Partielle Steuerpflicht im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs Die partielle Steuerpflicht der politischen Parteien im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs entspricht dem tradierten Besteuerungsmodell bei Berufsverbänden und gemeinnützigen Einrichtungen. Sie beruht auf dem Gedanken der Wettbewerbsneutralität der Besteuerung und zielt auf eine partielle Gleichbehandlung von steuerbegünstigten Körperschaften mit konkurrierenden erwerbswirtschaftlichen Unternehmen49. Steuersubjekt ist insoweit die Partei selbst, nicht der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb, so dass die Ergebnisse aus mehreren wiG einer Partei zu saldieren sind50. Der in § 14 AO definierte Begriff des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs weist eine gewisse Nähe zum Gewerbebetriebsbegriff auf (§ 15 Abs. 2 EStG), setzt aber keine Gewinnerzielungsabsicht voraus (§ 14 S. 2 AO). Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass die partielle Körperschaftsteuerpflicht auch das Einkommen aus solchen Tätigkeiten umfasst, die ohne Gewinn- bzw. Einkünfteerzielungsabsicht unternommen werden. Bei der partiellen Steuerpflicht handelt es sich nur um eine sachliche Einschränkung der persönlichen Steuerbefreiung, die keine Auswirkungen auf den Gegenstand der Körperschaftsbesteuerung hat51. Dies ergibt sich nicht nur aus systematischen52 und teleologischen

__________ 48 Das systematische Verständnis des § 5 Abs. 1 Nr. 7 KStG als (sachlich beschränkte) persönliche Steuerbefreiung ist nicht nur von theoretischem Interesse, sondern hatte z. B. auch für die Auslegung des § 21 Abs. 3 Nr. 2 UmwStG a. F. praktische Bedeutung, vgl. BFH v. 7.8.2002 – I R 84/01, FR 2003, 294 = DStRE 2003, 171. 49 Eingehend zur partiellen Steuerpflicht Hüttemann, (Fn. 27), S. 113 ff.; GS Walz, 2008, S. 269 (280). 50 Unstreitig, vgl. nur Heger in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 5 Rz. 18. 51 Vgl. dazu statt vieler nur Hüttemann (Fn. 27), S. 122 ff.; Heger (Fn. 50), § 5 Rz. 27. 52 Unterscheidung zwischen (persönlicher) Steuerpflicht (§§ 1 ff. KStG) und Einkommen (§§ 7 ff. KStG).

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Gründen53, sondern lässt sich seit dem JStG 2009 auch aus einem Umkehrschluss aus § 8 Abs. 1 S. 2 KStG ableiten54. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass eine partielle Körperschaftsteuerpflicht nur dort besteht, wo eine politische Partei in der Absicht tätig wird, einen Totalgewinn bzw. einen Überschuss zu erwirtschaften. Dies wird vor allem bei reinen Mittelbeschaffungsaktivitäten ohne Bezug zur parteipolitischen Tätigkeit der Fall sein (z. B. aus dem Betrieb einer Druckerei, eines Hotels oder eine Gaststätte). Dagegen ist die beitragsfinanzierte satzungsmäßige Tätigkeit von der Besteuerung ausgenommen (§ 8 Abs. 5 KStG). Für die Einkommensermittlung im wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gelten die allgemeinen Grundsätze. Die Rechnungslegungspflichten nach dem Parteiengesetz (§§ 23 ff. PartG) begründen dabei auch abgeleitete steuerliche Buchführungspflichten55, da sie i. S. v. § 140 AO auch „für die Besteuerung von Bedeutung sind“. Bei der Gewinnermittlung ist auch die Regelung des § 8 Abs. 3 S. 2 KStG zu beachten. Allerdings sind politische Parteien als nicht rechtsfähige Vereine nach zutreffender Ansicht der Rechtsprechung nicht zur Gewinnerzielung verpflichtet, so dass die Unterhaltung von „Non Profit Betrieben“ insoweit unbedenklich ist56. Eine verdeckte Gewinnausschüttung liegt nur dann vor, wenn die Partei im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs ihren Mitgliedern einen Vermögensvorteil zuwendet, den sie bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Vorstands einem Nichtmitglied nicht zugewandt hätte57. Das Einkommen aus wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben unterliegt neben dem Regelsteuersatz von derzeit 15 % (zzgl. SolZ) im Fall der Überführung aus der betrieblichen Sphäre in die „Privatsphäre“ der Partei einer weiteren Steuerbelastung mit Kapitalertragsteuer (vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b EStG) von gegenwärtig ebenfalls 15 %. 3. Kein steuerbegünstigter Zweckbetrieb Anders als bei gemeinnützigen Körperschaften kennt das Steuerrecht bei politischen Parteien und Wählervereinigungen nicht die Figur des „steuerbegünstigten Zweckbetriebs“ (vgl. dazu §§ 65 bis 68 AO). Eine partielle Steuerpflicht

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53 Die Wettbewerbsneutralität gebietet nur eine Gleichstellung mit anderen steuerpflichtigen Betrieben, aber keine Ausweitung der sachlichen Steuerpflicht bei steuerbegünstigten Körperschaften. 54 Darin wird das Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht nur für Betriebe gewerblicher Art aufgehoben. 55 So auch von Twickel in Blümich, EStG/KStG, Loseblatt, Stand 2005, § 5 Rz. 100; Herrmann/Eversberg/Wagner in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, Loseblatt, Stand 1986, § 5 Anm. 156; wegen der abweichenden Begrifflichkeiten des PartG wird aber regelmäßig noch eine steuerliche Buchführung (§ 141 AO) geboten sein, die u. U. auch in Form einer Nebenrechnung durchgeführt werden kann (vgl. Herrmann/ Eversberg/Wagner, a. a. O.). 56 BFH v. 19.8.1998 – I R 21/98, BStBl. II 1999, 99 = FR 1999, 162; vgl. auch BFH v. 11.10.1989 – I R 208/85, BStBl. II 1990, 88 = FR 1990, 229. 57 Vgl. BFH v. 19.8.1998 – I R 21/98, BStBl. II 1999, 99 (100) = FR 1999, 162; Heger (Fn. 50), § 5 Rz. 68.

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wird also nicht dadurch ausgeschlossen, dass durch einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zugleich unmittelbar parteipolitische Aufgaben erfüllt werden und die Unterhaltung des Geschäftsbetriebs zur Verwirklichung dieser Aufgaben notwendig ist. Diese Feststellung hat z. B. Bedeutung für die Herausgabe von Parteizeitschriften und anderen Druckschriften sowie die Durchführung von entgeltlichen Parteiveranstaltungen („Spendengalas“). Denn derartige wirtschaftliche Aktivitäten dienen zumeist weniger der Mittelbeschaffung, sondern in erster Linie der Verfolgung parteipolitischer Ziele. Daher wird man besonders sorgfältig zu prüfen haben, ob sie überhaupt mit Gewinn- bzw. Überschusserzielungsabsicht unternommen werden. Wird z. B. die Parteizeitung im Interesse einer höheren Auflage dauerhaft zu einem nicht kostendeckenden Entgelt vertrieben, fehlt es an der Gewinnerzielungsabsicht, so dass die Verluste aus dem Zeitungsbetrieb der körperschaftsteuerrechtlich unbeachtlichen „Liebhabereisphäre“ der Partei zuzuordnen sind. Sie können folglich auch nicht mit Gewinnen aus anderen steuerpflichtigen Tätigkeiten verrechnet werden. 4. Steuerbefreiung im Bereich der Vermögensverwaltung und Steuerabzug bei Einkünften aus Kapitalvermögen Wegen der partiellen Steuerpflicht im Bereich wirtschaftlicher Geschäftsbetriebe beschränkt sich die praktische Bedeutung der persönlichen Steuerbefreiung auf „passive“ Einkünfte im Rahmen der Vermögensverwaltung (vgl. § 14 S. 3 AO). Die Abgrenzung zwischen steuerpflichtigem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb und steuerfreier Vermögensverwaltung ist nach wie vor in den Einzelheiten umstritten58. Steuerbefreit sind jedenfalls Einkünfte aus der Vermietung und Verpachtung unbeweglichen Vermögens oder aus der verzinslichen Anlage von Kapital (vgl. auch § 14 S. 3 AO). Zur steuerbefreiten Vermögensverwaltung gehört auch das Halten von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften. Dies gilt aber nur dann, wenn die politische Partei keinen entscheidenden Einfluss auf die laufende Geschäftsführung des Beteiligungsunternehmens nimmt59. Diese Abgrenzung ist geboten, um eine Weitergabe des Steuervorteils an die Beteiligungsgesellschaft zu verhindern60. Die Körperschaftsteuerbefreiung im Bereich der Vermögensverwaltung führt nur dann zu einer vollständigen Steuerbefreiung, wenn die betreffenden Einkünfte nicht dem Steuerabzug unterliegen (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG). Kapitaleinkünfte von politischen Parteien sind daher mit einer definitiven Kapitalertragsteuer belastet, die nach § 44a Abs. 8 EStG derzeit 15 % beträgt. Eine Abstandnahme vom Kapitalertragsteuerabzug ist bei politischen Parteien – im

__________ 58 Eingehende Nachweise zum Meinungsstand bei Heger (Rz. 50), § 5 Rz. 36 ff.; ferner Hüttemann (Fn. 11), § 6 Rz. 115 ff. 59 Vgl. näher BFH v. 30.6.1971 – I R 57/70, BStBl. II 1971, 753; weitergehend Arnold, DStR 2005, 583. 60 Eingehend Hüttemann (Fn. 27), S. 148 ff.; ebenso – für das Beihilfenrecht – EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio, Slg. 2006, I-289 ff.; dazu Hüttemann, DB 2006, 914.

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Gegensatz zu gemeinnützigen Einrichtungen – nicht vorgesehen. Im Ergebnis liegt die steuerliche Belastung von Kapitaleinkünften aber immer noch unter derjenigen von Einkünften im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs, da eine Überführung von Gewinnen in die steuerfreie Sphäre zusätzlich noch Kapitalertragsteuer nach § 20 Abs. 1 Nr. 10b EStG auslöst. Was schließlich die verfassungsrechtlichen Vorgaben anbetrifft, so sind gegen die Körperschaftsteuerbefreiung im Bereich der Vermögensverwaltung unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit der Parteien keine Einwände zu erheben. Zwar kommt die Steuerbefreiung im Ergebnis nur solchen Parteien zugute, die über entsprechende Vermögenswerte verfügen, aus denen sie steuerbare Einkünfte beziehen. Solche Unterschiede sind aber verfassungsrechtlich unbedenklich, da es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nur verwehrt ist, eine bereits bestehende Ungleichheit noch zu verschärfen61. Dies ist aber wegen des proportionalen Körperschaftsteuersatzes nicht der Fall.

V. Steuerliche Behandlung von Parteizuwendungen 1. Sonderausgabenabzug und Tarifermäßigung a) Rechtsentwicklung und verfassungsrechtliche Vorgaben Der Sonderausgabenabzug von Parteispenden gehört – wenn man von den Jahren 1920/1921 absieht62 – erst seit der Nachkriegszeit zum Bestandteil des allgemeinen Spendenabzugs („Förderung staatspolitischer Zwecke“). Die 1954 eingeführten relativen Höchstgrenzen von 10 v. H. des Gesamtbetrags der Einkünfte bzw. 2 v.T. der Summe der Umsätze, Löhne und Gehälter führten allerdings dazu, dass Bezieher großer Einkommen bei einer Parteispende wegen des progressiven Steuertarifs einen absolut und relativ höheren Betrag an Steuern ersparten als Bezieher eines kleinen Einkommens. Damit verschärfte der Spendenabzug die ohnehin bestehende faktische Ungleichheit der Wettbewerbschancen der Parteien und verstieß – wie das BVerfG in seiner grundlegenden Entscheidung vom 24.6.1958 feststellte63 – nicht nur gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, sondern verletzte auch das Recht der Bürger auf gleiche Teilhabe am politischen Prozess. Diesen Gedanken hat das BVerfG in zwei weiteren Entscheidungen aus den Jahren 198664 und 199265 weiterentwickelt und dabei der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auf dem Gebiet des Parteispendenabzugs immer engere Grenzen gesetzt. In der Entscheidung vom 9.4.1992 ist dem Gesetzgeber nicht nur aufgegeben worden, die steuerliche Begünstigung von Parteispenden am Maßstab der durchschnittlichen Spendenfähigkeit auszurichten, sondern der Parteispendenabzug muss auf natürliche Personen beschränkt werden (kein Abzug bei der Körperschaftsteuer). Auf die-

__________ 61 62 63 64 65

Vgl. BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51. Vgl. § 13 Abs. 1 Nr. 7 EStG 1920. BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51. BVerfG v. 14.7.1986 – 2 BvE 2/84, 2 BvR 442/84, BVerfGE 73, 40 = FR 1986, 412. BVerfG v. 9.4.1992 – 2 BvE 2/89, BVerfGE 85, 264.

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ser Grundlage wurde 1994 die bis heute geltende Regelung geschaffen. Danach sind Parteispenden vorrangig im Rahmen der tariflichen Steuerermäßigung nach § 34g EStG steuermindernd zu berücksichtigen (hälftiger Abzug der Parteispende von der Steuerschuld bis zur Höhe von 1.650 Euro bzw. bei Zusammenveranlagung 3.300 Euro). Darüber hinaus sind Parteispenden in denselben absoluten Grenzen als Sonderausgaben nach § 10b Abs. 2 EStG abzugsfähig. Die Höhe der Abzugsgrenzen von insgesamt 3.300 Euro (bei Zusammenveranlagung 6.600 Euro) dürfte sich – wenn überhaupt – am oberen Rand des verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen bewegen66. Insoweit liegt der Verdacht nahe, dass der Gesetzgeber auch an die Interessen der Abgeordneten und Funktionäre, die einen Teil ihrer Bezüge als sog. „Mandatsträgerbeiträge“ abliefern müssen, gedacht hat67. b) Einzelfragen Die gesetzlichen Voraussetzungen der Tarifbegünstigung nach § 34g EStG und des Sonderausgabenabzugs nach § 10b Abs. 2 EStG sind – wenn man von der bereits behandelten Frage der begünstigten Empfängerkörperschaft absieht – dem allgemeinen Spendenabzug (§ 10b Abs. 1 EStG) nachgebildet. Dies gilt zunächst für den Begriff der Zuwendung, der neben Spenden auch den bei Parteien wichtigen Fall der Mitgliedsbeiträge umfasst. Ferner müssen die Zuwendungen freiwillig und uneigennützig erfolgen. Die Gewährung von Nutzungen und Leistungen ist steuerlich nicht begünstigt, auch wenn der parteienrechtliche Spendenbegriff aus Transparenzgründen auch geldwerte Zuwendungen wie Sach-, Werk- und Dienstleistungen aller Art umfasst (vgl. § 27 Abs. 1 S. 4 PartG)68. Unter den Voraussetzungen des § 10b Abs. 3 S. 5 und 6 EStG kommt allerdings ein steuerwirksamer Verzicht auf Aufwendungsersatz in Betracht. Dieser setzt aber voraus, dass zuvor ein Aufwendungsersatzanspruch des Verzichtenden wirksam begründet worden ist69. Fraglich ist, ob die steuerliche Abzugsfähigkeit einer Parteispende voraussetzt, dass die empfangende Partei bei der Entgegennahme und Verwendung der Spende nicht gegen Vorschriften des PartG verstoßen hat. Der Jubilar hat schon 1984 gefordert, dass nur solche Spenden abziehbar sein dürfen, die rechtmäßig erfolgen70. Eine direkte Verknüpfung des Sonderausgabenabzugs mit den Publizitätsregeln des Parteiengesetzes war von 1989 bis 1993 ausdrücklich in § 10b Abs. 2 EStG a. F. vorgesehen. Aus der Streichung der Regelung und den besonderen Sanktionen für Verstöße gegen die Rechenschaftspflicht nach §§ 31a ff. PartG wird man allerdings schließen können, dass der zutreffende Ausweis einer Spende im Rechenschaftsbericht heute keine Voraussetzung für die Abzugsfähigkeit mehr ist. Man könnte aber z. B. fragen, ob Verstöße gegen das Annahmeverbot für bestimmte Spenden nach § 25 Abs. 2

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66 67 68 69 70

Für Verfassungskonformität auch Geserich (Fn. 3), § 10b Rz. C 55. So auch Sendler, NJW 1994, 365. Vgl. dazu eingehend Küstermann (Fn. 34). Vgl. dazu auch BFH v. 9.7.2007 – XI R 23/06, BFH/NV 2007, 2251. J. Lang, StuW 1984, 15 (19).

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PartG steuerlich schädlich sind. Die praktische Bedeutung der Frage ist indes gering, weil in den meisten Fällen des § 25 Abs. 2 PartG (Spenden von Körperschaften des öffentlichen Rechts und gemeinnützigen Körperschaften, Auslandsspenden, Berufsverbands- und Unternehmensspenden, anonyme Spenden etc.) schon tatbestandsmäßig eine Tarifermäßigung bzw. ein Sonderausgabenabzug ausscheidet, weil die Spende nicht von natürlichen Personen stammt. Bei Spenden von natürlichen Personen, die „der Partei erkennbar in Erwartung oder als Gegenleistung eines bestimmten wirtschaftlichen oder politischen Vorteils gewährt werden“ (vgl. § 25 Abs. 2 Nr. 7 PartG), wird man den Spendenabzug ebenfalls schon aus rein steuerlichen Gründen mangels Unentgeltlichkeit versagen müssen. Damit bleibt die Begrenzung des „Werbeaufwands“ in § 25 Abs. 2 Nr. 8 PartG auf 25 % des Wertes der Spende übrig. Insoweit erscheint es vertretbar, die pauschale Wertung des Parteienrechts bei der Prüfung der tatsächlichen Verwendung der Spende für parteipolitische Zwecke heranzuziehen. Was schließlich die Spendenhaftung nach § 10b Abs. 4 EStG anbetrifft, so ist vorrangig an eine Ausstellerhaftung zu denken, wenn Zuwendungsbestätigungen ausgestellt werden, obwohl eine Spende nicht oder nicht in der bescheinigten Höhe erfolgt ist. Eine Haftung für „Fehlverwendung“ dürfte hingegen – wenn man von den Fällen eines überhöhten Spendenwerbeaufwands nach § 25 Abs. 2 Nr. 8 PartG absieht – nur dann in Betracht kommen, wenn die Partei eine Zuwendung für solche Zwecke verwendet, die keinerlei Bezug zu den gesetzlichen Aufgaben mehr erkennen lassen (vgl. § 1 Abs. 2 und 4 PartG). Angesichts des Selbstorganisationsrechts der Parteien und ihres weiten gesetzlichen Auftrags wird eine solche Fehlverwendung wohl nur in krassen Ausnahmefällen anzunehmen sein71. Die Verwendung von Spenden im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs ist Parteien hingegen nicht verboten72. 2. Parteizuwendungen und Betriebsausgabenabzug Angesichts der engen Grenzen, die der Gesetzgeber auf Druck des BVerfG für die ertragsteuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden bestimmt hat, stellt sich für Gewerbetreibende und Freiberufler die Frage, ob Zuwendungen an Parteien unter Umständen auch als Betriebsausgaben geltend gemacht werden können. Diese Problematik ist insbesondere im Rahmen der sog. Parteispendenaffäre eingehend und kontrovers diskutiert worden73. De lege lata besteht seit 1984 ein gesetzliches Abzugsverbot. § 4 Abs. 6 EStG lautet: „Aufwendungen zur Förderung staatspolitischer Zwecke (§ 10b Abs. 2) sind keine Betriebs-

__________ 71 Zu Recht großzügig auch FG BW v. 26.11.1987 – III K 90/4, EFG 1988, 135; noch weitergehend Gierlich, FR 1991, 518 (522): Keine Prüfungskompetenz der Finanzämter und folglich auch keine Spendenhaftung für Fehlverwendung. 72 A. A. Geserich (Fn. 3), § 10b Rz. C 31. 73 Vgl. nur die Beiträge von v. Wallis, DStZ 1983, 135; List, BB 1984, 460; DB 1985, 1710; Felix, 1985, 309; Birk, NJW 1985, 1943; Groh, NJW 1985, 993; Walz, StuW 1987, 164.

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ausgaben.“ Nach überwiegender und zutreffender Ansicht hat die Vorschrift nur deklaratorische Bedeutung. Wie insbesondere der Jubilar dargelegt hat, wäre ein Betriebsausgabenabzug von Parteispenden bereits nach anderen Vorschriften zu versagen74. Zum einen sind Parteizuwendungen – wie bereits der RFH zutreffend festgestellt hat75 – regelmäßig auch durch private Motive veranlasst, so dass das Abzugsverbot des § 12 Nr. 1 EStG eingreift. An dieser Beurteilung hat sich auch durch den aktuellen Beschluss des Großen Senats vom 21.9.200976 betreffend gemischt veranlasste Reisekosten nichts geändert. Denn Parteizuwendungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sich der private Veranlassungsanteil einer Feststellung anhand äußerer Umstände entzieht, so dass auch eine schätzweise Aufteilung nicht möglich ist. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Parteispenden als Schenkung dem Abzugsverbot nach § 4 Abs. 5 Nr. 1 EStG unterliegen würden. Schließlich sind auch dem Versuch, eine steuerwirksame Förderung politischer Parteien im Wege eines „Parteisponsorings“ zu gestalten, enge Grenzen gesetzt77. Zwar ist ein Betriebsausgabenabzug unproblematisch, wenn ein Unternehmen gegen Zahlung eines Entgeltes das Recht erhält, in einer Parteizeitung oder im Rahmen von Parteiveranstaltungen Werbung für die eigenen Produkte zu machen. Ein „echtes“ Sponsoring, bei dem die steuerliche Abzugsfähigkeit allein damit begründet wird, dass sich der Sponsor aus der öffentlichkeitswirksamen finanziellen Unterstützung des Gesponserten „kommunikative Vorteile“ für sein Unternehmen verspricht78, hat in der deutschen Unternehmenspraxis bisher keine Rolle gespielt. Dies dürfte nicht nur eine Nachwirkung der verschiedenen Parteispendenskandale sein, sondern auch in dem eher negativen Image des Politikbetriebs in der deutschen Bevölkerung begründet sein79. 3. Verbot der „mittelbaren“ Parteienfinanzierung In seinem grundlegenden Urteil v. 24.6.1958 hatte das BVerfG nur den Sonderausgabenabzug bei „unmittelbaren oder mittelbaren Zuwendungen an politische Parteien“ beanstandet, so dass Ausgaben zur Förderung allgemeiner „staatspolitischer Zwecke“ weiterhin abzugsfähig blieben (vgl. § 49 Abs. 1 EStDV 1959). In der Folgezeit wurden diese und andere „Umwege“ genutzt, um weiterhin die steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteizuwendungen zu ermöglichen. Neben Spenden für „staatspolitische Zwecke“, die man über Einrichtungen i. S. v. § 49 Abs. 1 EStDV wie die „Staatsbürgerliche Vereinigung 1954 e. V.“80 an politische Parteien weiterleitete, wurden auch Berufsverbände und gemeinnützige Einrichtungen als „Spendenwaschanlagen“ genutzt. Nach-

__________ 74 75 76 77 78

J. Lang, StuW 1984, 15 (16). RFH v. 20.3.1930 – VI A 147/30, RStBl. 1930, 671. BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. Dazu eingehend Hey, DB 2005, 1403. Zu steuerlichen Aspekten der Corporate Social Responsibility und des Sponsoring vgl. zuletzt Hüttemann, FS Schaumburg, 2009, 405 ff. 79 Ebenso Hey, DB 2005, 1403. 80 Dazu J. Lang, Der Steuerrechtsstatus der Staatsbürgerlichen Vereinigung 1954 e. V., 1983.

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dem diese Praxis Anfang der 80er Jahre im Rahmen der sog. „Parteispendenaffäre“81 der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, kam es 1984 zu verschiedenen gesetzlichen Änderungen, durch die solche „Umweggestaltungen“ künftig wirkungsvoller verhindert werden sollten. So waren zwar Vereinigungen zur „Förderung des demokratischen Staatswesens“ weiterhin nach § 52 Abs. 2 Nr. 3 AO als gemeinnützig anzuerkennen. Spenden und Mitgliedsbeiträge waren aber nicht mehr im Rahmen des Sonderausgabenabzugs steuerlich abzugsfähig. Ferner wurde die Steuerbefreiung der Berufsverbände und gemeinnützigen Einrichtungen davon abhängig gemacht, dass keine Mittel an politische Parteien weitergeleitet werden (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 5 S. 2 Buchst. b KStG, § 55 Abs. 1 Nr. 1 S. 3 AO). Diese klare Trennung zwischen Zuwendungen an politische Vereinigungen und an Berufsverbände und gemeinnützige Einrichtungen ist allerdings durch das „Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements“82 wieder relativiert worden. Denn seit 2007 sind Zuwendungen zur „allgemeinen Förderung des demokratischen Staatswesens“ (§ 52 Abs. 2 Nr. 24 AO) wieder im Rahmen des allgemeinen Spendenabzugs bis zur Höhe von 20 v. H. des Gesamtbetrags der Einkünfte bzw. 4 v.T. der Umsätze und Löhne und Gehälter steuerlich abzugsfähig83. Die Einbeziehung der früheren „staatspolitischen Zwecke“ in den Kreis der spendenbegünstigten Zwecke ist schlicht dadurch eingetreten, dass der Gesetzgeber die Unterscheidung zwischen steuerbegünstigten Zwecken (§§ 52 bis 54 AO) und spendenbegünstigten Zwecken (§ 10b EStG) aufgegeben hat. In der Gesetzesbegründung wird diese Änderung allerdings mit keinem Wort erwähnt84. Man wird sie angesichts des ausdrücklichen Mittelweiterleitungsgebots in § 55 Abs. 1 Nr. 1 S. 3 AO hinnehmen können. Auch die Finanzverwaltung legt den Begriff der „allgemeinen Förderung des demokratischen Staatswesens“ zu Recht eng aus85.

VI. Befreiung von der Erbschaft- und Schenkungsteuer Nach § 13 Abs. 1 Nr. 18 Buchst. a und b ErbStG sind Zuwendungen an politische Parteien und an politische „Vereine ohne Parteicharakter“ von der Erbschaft- und Schenkungsteuer befreit. Die Steuerbefreiung gilt nicht nur für freigebige Zuwendungen unter Lebenden, sondern auch für einen Erwerb von

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81 Vgl. dazu aus dem steuerrechtlichen Schrifttum nur J. Lang, StuW 1984, 15; Groh, NJW 1985, 993; eingehende Nachweise zu weiterer Literatur bei Jakob/Jüptner, Steuerfragen der mittelbaren Parteienfinanzierung über Organisationen, 1986. 82 Vgl. dazu Hüttemann, Non Profit Law Yearbook 2007 (2008), S. 231 ff. 83 Zuwendungen in das Vermögen einer Stiftung zur Förderung des demokratischen Staatswesens sind sogar darüber hinaus bis zur Höhe von 1.000.000 Euro begünstigt. 84 In der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/5400, 26) heißt es nur: „Die allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens … wird weiter als gemeinnützig anerkannt.“ 85 Dazu heißt es im Anwendungserlass zur AO Nr. 8 zu § 52: „Eine steuerbegünstigte allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens ist nur dann gegeben, wenn sich die Körperschaft umfassend mit den demokratischen Grundprinzipien befasst und diese objektiv und neutral würdigt.“

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Todes wegen. Begünstigt sind – ebenso wie im Rahmen des Spendenabzugs – nur Zuwendungen an eine politische Partei selbst86. Zuwendungen an einzelne Abgeordnete (z. B. zur Wahlkampffinanzierung) sind folglich nur dann befreit, wenn sie über eine Partei mit der Auflage geleistet werden, einen Abgeordneten zu unterstützen. Werden Zuwendungen über steuerlich selbständige Einrichtungen geleitet, ist zu unterscheiden: Sollen die Zuwendungen für politische Zwecke verwendet werden, führt diese Auflage zwar zum Wegfall der Bereicherung der Empfängereinrichtung. In diesem Fall entsteht aber eine Steuerpflicht nach §§ 1 Abs. 1 Nr. 3, 8 ErbStG (Zweckzuwendung). Ist die Zuwendung dazu bestimmt, an einen bestimmten Abgeordneten weitergeleitet zu werden, kommt es insoweit zu einer Steuerpflicht des Empfängers nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG. Die Befreiung von Parteizuwendungen wurde erstmals durch § 24 ErbStG 1922 eingeführt und war zunächst auf Zuwendungen bis zu einer bestimmten Höhe beschränkt. Seit der Anhebung des Freibetrags in der Steuerklasse III auf 20.000 Euro werden vor allem Großspenden begünstigt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die unterschiedslose Gewährung der Steuerbefreiung gegen die vom BVerfG aufgestellten Vorgaben verstößt. Dagegen spricht aber, dass der Steuertarif in der Steuerklasse III für Zuwendungen bis zur Höhe von 6.000.000 Euro einheitlich 30 v. H. beträgt, so dass eine unterschiedlich hohe Entlastung auf Grund von Progressionseffekten ausgeschlossen werden kann87.

VII. Umsatzbesteuerung der politischen Parteien Das Umsatzsteuergesetz kennt keine persönliche Steuerbefreiung der politischen Parteien und Vereine. Vielmehr ergibt sich im Umkehrschluss aus der sachlichen Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 18a UStG, dass politische Parteien nach den allgemeinen Vorschriften der Umsatzsteuer unterliegen. Ihre Unternehmereigenschaft hängt davon ab, ob sie nach § 2 Abs. 1 S. 1 UStG eine „gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausüben“. Diese Voraussetzung ist z. B. erfüllt, wenn eine Partei Druckschriften gegen Entgelt vertreibt (vgl. auch § 24 Abs. 4 Nr. 7 PartG)88. Da der Unternehmerbegriff keine Gewinnerzielungsabsicht voraussetzt, kann auch eine Tätigkeit umsatzsteuerbar sein, die nur gegen Unkostenerstattung ausgeübt wird. Soweit eine Partei aber im Rahmen ihres „politischen Kerngeschäfts“ durch Öffentlichkeitsarbeit, Informationstätigkeit, Veranstaltungen etc. an der politischen Willensbildung mitwirkt, fehlt es an einer unternehmerischen Tätigkeit. Dies kann man – wie es der EuGH unlängst in seiner Entscheidung betreffend die österreichische

__________ 86 Vgl. zum Folgenden nur Kapp/Ebeling, ErbStG, Loseblatt, Stand April 2009, § 13 Rz. 171 ff. 87 Der Steuersatz von 50 v. H. bei Zuwendungen über 6.000.000 Euro dürfte im Bereich der Parteienfinanzierung keine praktische Bedeutung haben. 88 Zur unternehmerischen Sphäre politischer Parteien vgl. näher BMF v. 1.3.1991 – IV A 2 - S 7104 - 6/91, UR 1991, 117.

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SPÖ getan hat89 – mit dem Fehlen einer „wirtschaftlichen“ Tätigkeit i. S. v. Art. 4 Abs. 1 und 2 der 6. MwSt-RL begründen. Regelmäßig wird es aber auch an einer „Leistung“ gegenüber einem individualisierbaren Leistungsempfänger fehlen, weil das eigentliche politische Wirken einer Partei nicht einzelnen Personen, sondern der Allgemeinheit zugute kommt. Aus diesem Grund ist auch die staatliche Parteienfinanzierung kein Entgelt für eine steuerbare Leistung. Soweit man in Hinsicht auf einzelne Tätigkeiten gegenüber den Parteimitgliedern einen individuellen Vorteil bejaht, war zwar insoweit (ggf. Aufteilung) nach den Grundsätzen des EuGH in der Rechtssache Kennemer Golf & Country Club90 eine „Entgeltlichkeit“ denkbar. Soweit aber steuerbare Leistungen gegenüber den Mitgliedern gegen ein satzungsmäßig festgelegtes Entgelt erbracht werden, greift zumindest die Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. l MwStSystRL ein. Danach sind Leistungen, „die Einrichtungen ohne Gewinnstreben, welche politische … Zwecke verfolgen, an ihre Mitglieder in deren gemeinsamen Interesse gegen einen satzungsmäßig festgelegten Beitrag erbringen“ von der Umsatzsteuer zu befreien. Nach § 4 Nr. 18a UStG sind steuerfrei die „Leistungen zwischen den selbständigen Gliederungen einer politischen Partei, soweit diese Leistungen im Rahmen der satzungsmäßigen Aufgaben gegen Kostenerstattung ausgeführt werden“. Diese Regelung ist 1992 in das UStG eingefügt worden. Sie ist mit Recht kritisiert worden, weil sie speziell und ausschließlich für politische Parteien eine Steuerbefreiung von Umsätzen zwischen selbständigen Gliederungen vorsieht, während entsprechende Vorgänge bei Großvereinen grundsätzlich steuerpflichtig sind91. Folgt man der Beurteilung des EuGH in der Entscheidung vom 6.10.2009, so ist die Befreiung deklaratorischer Natur, soweit es bei den satzungsmäßigen Aufgaben um Leistungen geht, die keine „wirtschaftliche“ Tätigkeit i. S. d. Art. 4 der MwStSystRL darstellen. Hingegen lässt sich die Steuerbefreiung zumindest nicht auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. l MwStSystRL stützen, da es an einer Leistung gegenüber den Mitgliedern „gegen einen satzungsmäßig festgelegten Beitrag“ fehlt92. Dies spricht für die Streichung der Regelung.

VIII. Schlussbemerkung Am Ende der Untersuchung steht die Frage, wie das gegenwärtige steuerliche Fördersystem für politische Parteien und Vereinigungen besser ausgestaltet werden könnte. Dabei ist zum einen auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die sich aus der steuerlichen Bezugnahme auf den zu engen Parteibegriff des § 2 PartG ergeben. Diese Anknüpfung an das Parteiengesetz führt nicht nur zu der

__________ 89 Vgl. EuGH v. 6.10.2009 – Rs. C-267/08 – SPÖ Landesorganisation Kärnten, UR 2009, 760. 90 EuGH v. 21.3.2002 – Rs. C-174/00 – Kennemer Golf & Country Club, Slg. 2002 I-3293 = UR 2002, 320 m. Anm. W. Widmann. 91 Vgl. dazu nur FR 1992, 187. 92 Zutreffend Kulmsee in Reiß/Kräusel/Langer/Wäger, UStG, Loseblatt, Stand Februar 2007, § 4 Nr. 18a Rz. 5 ff.; a. A. Widmann in Plückebaum/Malitzky, UStG, Loseblatt, Stand 1992, § 4 Nr. 18a Rz. 8.

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Notwendigkeit, aus Gründen der Chancengleichheit zumindest bei den wesentlichen Steuervergünstigungen auch kommunale Wählervereinigungen und bestimmte Vereine ohne Parteicharakter durch zusätzliche Regelungen einzubeziehen, so dass der regelungstechnische Vorteil einer Verweisung auf außersteuerliche Normen weitgehend verloren geht. Darüber hinaus führt die Verweisung zu einigen Unklarheiten bei der Frage, ob die Steuervergünstigungen auch an die Einhaltung bestimmter weiterer materieller Voraussetzungen des PartG (Satzung, tatsächliche Geschäftsführung etc.) geknüpft sind. Vor diesem Hintergrund sollte überlegt werden, eine eigenständige steuerliche Definition der begünstigten politischen Organisationen (z. B. im KStG) zu schaffen, auf die in den anderen Befreiungsregelungen Bezug genommen werden könnte. Im Rahmen einer solchen Definition könnten dann zugleich auch bestimmte formelle (Satzung etc.) und materielle Voraussetzungen (Ausschließlichkeitsgebot etc.) abschließend geregelt werden. Darüber hinaus sollte die im Jahr 2007 ohne Grund wieder eingeführte Abzugsfähigkeit von Spenden für die Förderung des demokratischen Staatswesens durch eine entsprechende Regelung in § 10b Abs. 1 EStG wieder aufgehoben werden. Schließlich ist die gemeinschaftswidrige Steuerbefreiung in § 4 Nr. 18a UStG zu streichen.

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Warum sind nur manche Steuern reformbedürftig und andere nicht? Inhaltsübersicht I. Steuerreformen: Seit Jahrzehnten dringlich? II. Die gute Nachricht: Die wichtigste Einkunftsart ist nicht reformbedürftig III. Kapitaleinkommen: das eigentliche Problem IV. Defizite der geltenden Besteuerung von Kapitaleinkommen V. Wie werden Kapitaleinkünfte in Europa besteuert? VI. Wie sollten Kapitaleinkommen besteuert werden?

VII. Wie wirkt die Abgeltungssteuer auf die Kapitalstruktur und die Thesaurierungspolitik? 1. Steuerbelastung der Finanzierung von Kapitalgesellschaften 2. Steuerbelastung der Finanzierung von Personengesellschaften 3. Steuerbelastung bei Ausschüttung und Thesaurierung von Kapitalgesellschaften 4. Steuerbelastung bei Ausschüttung und Thesaurierung von Personengesellschaften VIII. Warum wurde das Ziel der Finanzierungsneutralität verfehlt? IX. Schlussfolgerungen

I. Steuerreformen: Seit Jahrzehnten dringlich? Trotz zahlreicher Meinungsunterschiede über ideale Steuersysteme scheint weitgehende Übereinstimmung zumindest hinsichtlich der Auffassung zu bestehen, dass das deutsche Steuersystem reformbedürftig sei und radikal vereinfacht werden müsse1. Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum jahrzehntelange Reformbemühungen bislang erfolglos blieben und warum Politiker nach jeder Steuerreform feststellen, dass sie fehlgeschlagen sei, dass aber die nächste Steuerreform eine wirklich große Steuerreform werden müsse, die den Namen tatsächlich verdiene2. Warum ist es noch nie zu der angekündigten großen Reform gekommen? Im Folgenden wird eine einfache Erklärung hierfür vorgelegt: Es wurde deshalb keine große Steuerreform durchgeführt, weil sie für die wichtigsten Einkunftsarten überflüssig ist, weil der größte Teil des Steuersystems weitgehend intakt ist und eine grundlegende Reform weder nötig noch möglich ist. Da die Einkommensteuer in der Reformdiskussion am meisten umstritten ist, wird die Diskussion auf die Einkommensteuer beschränkt.

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1 Vgl. den Meinungsstand bei Merz, ifo Schnelldienst 1/2004, 8. 2 Vgl. zum Stand der steuerpolitischen Diskussion Tipke/Lang, Steuerrecht20, 2010, Vorwort S. VII.

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II. Die gute Nachricht: Die wichtigste Einkunftsart ist nicht reformbedürftig Die folgende Übersicht zeigt, wie sich die Summe der der Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte auf die einzelnen Einkunftsarten verteilt. Der Zeitvergleich der Jahre 1989–2001 zeigt, dass die Relationen im Zeitablauf nahezu konstant sind:

Abbildung 1: Anteile der Einkunftsarten an der Summe der Einkünfte 1989–2001. Quelle: Statistisches Bundesamt; Müller (2004).

Demnach haben Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit einen Anteil von über 80 % an der Summe aller Einkünfte. Zusammen mit den Einkünften aus selbständiger Arbeit machen Arbeitseinkünfte 87 % aller der Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte aus. Dass dies keine Momentaufnahme ist, zeigt sich daran, dass diese Prozentsätze sich über Jahre hinweg kaum geändert haben3. Warum ist gerade die Besteuerung des Arbeitseinkommens so robust? Arbeitseinkommen werden weltweit als Überschuss der Geldeinnahmen über die zur Einkommenserzielung notwendigen Geldausgaben bereits in der denkbar einfachsten Weise ermittelt; der Geldüberschuss stellt ein ideales Maß steuerlicher Leistungsfähigkeit dar, das deshalb niemand zu ändern beabsichtigt. Um dies zu begründen, muss nicht die Verfassung bemüht werden, denn es genügt eine schlichte menschliche Motivanalyse: Da es den meisten Menschen wichtig ist, Geld zu verdienen und anschließend für Konsumzwecke zu verwenden,

__________ 3 Müller, Das Aufkommen der Steuern vom Einkommen in Deutschland, 2004; Ausmaß der steuerlichen Verlustverrechnung. Eine empirische Analyse der Aufkommensund Verteilungswirkungen, Arqus Diskussionsbeitrag zur Quantitativen Steuerlehre Nr. 17, 2006.

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macht sich der Fiskus dieses in der Ökonomie diskursiv ausgefaltete Motiv des Menschen zunutze und besteuert mit der Einkommensteuer zunächst die Erzielung und mit der Umsatzsteuer anschließend die konsumtive Verwendung des Einkommens. Die meisten Menschen nehmen dies hin, da sie der Besteuerung nur durch Einkommens- und Konsumverzicht ausweichen könnten, wozu sie nicht bereit sind, weil sie sich hierdurch selbst schädigen würden4. Mit der Unausweichlichkeit der Besteuerung der ökonomischen Zielgrößen des Einkommens und Konsums ist ein wichtiger weiterer Effekt verbunden: Werden Zielgrößen besteuert, dann führt die Alternative mit dem höchsten Bruttoergebnis auch stets zum höchsten Netto-Ergebnis nach Steuern, sofern der Grenzsteuersatz unter 100 % bleibt5. Dies hat zur Folge, dass die Besteuerung der Überschüsse der Einnahmen über die Ausgaben bei Arbeitseinkünften neutral bleibt, weil sie die Rangfolge von Beschäftigungsalternativen nicht ändert. Die Neutralität der Besteuerung von Arbeitseinkünften darf als die ökonomisch wichtigste Eigenschaft ihrer Besteuerung gelten, weil sie nur geringe ökonomisch ineffiziente Anpassungshandlungen durch Konsumgüterproduktion im Haushalt auslöst, deren Steuerfreiheit der Fiskus aus erfassungstechnischen Gründen aber zu tolerieren bereit ist. Angesichts der Unvermeidlichkeit der seit langem bestehenden Besteuerung der Arbeitseinkünfte stellt sich die Frage, warum vor allem Arbeitnehmern als dem weit überwiegenden Anteil der Wähler vor Wahlen regelmäßig versprochen wird, dass sich ihre steuerlichen Verhältnisse durch radikale Reformen grundlegend ändern und damit bessern würden, obwohl die Besteuerung der Arbeitseinkünfte und damit die Besteuerung von weit über 80 % aller Einkünfte weder geändert, noch verbessert werden kann. Da den allermeisten Steuerpflichtigen auch in Zukunft nicht erspart bleiben wird, zunächst ihr Arbeitseinkommen zu versteuern und anschließend ihre Konsumausgaben der Umsatzsteuer zu unterwerfen, sichert gerade die Unausweichlichkeit dieser Perspektive die Stabilität des Steuersystems: eine Einsicht, die kaum ein Politiker Wählern offenbaren möchte. Einige strittige und schwierige Probleme der Besteuerung von Arbeitseinkünften sind nicht die Folge konzeptioneller Mängel der Besteuerung, sondern der Bestrebungen von Arbeitnehmern, der Besteuerung von Geldlohn durch Verlagerung auf Reallohn auszuweichen6. Anders als in zahlreichen Behauptungen häufig kolportiert wird, ist es keineswegs so, dass Steuerpflichtige klare gesetzliche Regeln schätzen und sie willig befolgen. Der Nachteil klarer Regeln ist nämlich, dass sie ebenso klare Grenzen haben und dass Steuerpflichtige versu-

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4 Wagner, Besteuerung in Bitz et al., Vahlens Kompendium der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 25, 2005, S. 418. 5 Wagner (Fn. 4), S. 417. 6 Vgl. hierzu Clotfelter, National Tax Journal 1977, 51; Nolan, National Tax Journal 1977, 359; Clotfelter, The American Economic Review 1983, 1053; Adamache/Sloan, National Tax Journal 1984, 47; Halperin, National Tax Journal 1984, 271; Katz/ Mankiw, National Tax Journal 1985, 37; Offerhaus in DStJG 9 (1986), S. 117 ff.; Lang in DStJG 9 (1986), S. 15 ff.; Turner, National Tax Journal 1989, 293; Albert, DB 2005, 2099; van Dülmen, DStR 2007, 9; Preising/Kiesel, DStR 2007, 1108.

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chen, ihr Einkommen außerhalb dieser Regelgrenzen zu erzielen. Im Gegensatz zu der verbreiteten Legende von der Vorliebe der Bürger für klare und einfache Steuern versuchen Steuerpflichtige, die Steuergesetzgebung durch Steuervermeidungsbestrebungen zu unterlaufen und erzwingen dadurch eine laufende Erweiterung des steuerlichen Regelwerkes, um durch Anpassung der Gesetzgebung steuerliche Ausweichmanöver in Schach zu halten. Steuerliche Ausweichmöglichkeiten entstehen für Arbeitnehmer und Geschäftspartner des Unternehmens durch „consumption on the job“-Gelegenheiten, sich anstelle des Barlohns Realleistungen in Form von „fringe benefits“ gewähren zu lassen, z. B. in Gestalt von in Urlaubsgegenden stattfindenden Fortbildungsseminaren in entspannter Atmosphäre, von üppigen Betriebsfeiern, von Einladungen des Managements und der Geschäftspartner in VIP-Logen und zu Kultur- und Musikevents, durch die Übernahme von Beiträgen für Golf- und Tennisklubs von Managern durch Firmen usw7. Viele dieser „Hospitality“-Leistungen bleiben entweder unbesteuert, oder sie werden seit 2007 nach § 37b EStG nur durch eine Pauschalsteuer von effektiv 23 % belastet, die immerhin für Zuwendungen bis zu 10.000 Euro jährlich gilt und daher einen beachtlichen tariflichen Entlastungseffekt erzeugt8. Zwar versuchen die Lohnsteuerrichtlinien, diese Einkommenselemente teilweise zu erfassen, doch ist der Fiskus gezwungen, auf den nie erlahmenden Erfindungsreichtum der Steuerzahler ständig erneut reagieren zu müssen. Deshalb ist es nicht allein der Wille des Gesetzgebers, der das Steuerrecht ständig umfangreicher und komplizierter macht, sondern die Steuerpflichtigen zwingen den Gesetzgeber und die Finanzgerichte, ihren Steuervermeidungsbestrebungen durch ständige Erweiterung der Rechtsnormen und Urteilssammlungen Schranken zu setzen. Auch Steuerpflichtigen können ihre Steuervermeidungsbestrebungen nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn sie handeln völlig rational, wenn sie den Nettonutzen ihrer Einkunftserzielung durch Auswahl besonders geeigneter Entlohnungselemente maximieren. Diesem andauernden unvermeidlichen Kleinkrieg zwischen Steuerpflichtigen und Fiskus ist gewiss nicht durch große Würfe und Jahrhundertreformen beizukommen, sondern nur durch minutiöse gesetzgeberische und judikative Feinarbeit. Hierbei muss der Fiskus die lückenlose Erfassung aller Einnahmen und den Nachweis aller Ausgaben gegen die hierfür notwendigen Erhebungskosten und die durch die lückenhafte Erfassung von Einkommenselementen und rohe Bemessungsgrundlagen ausgelösten Verzerrungen und Steuerausfälle abwägen9: Würde auch die kleinste Annehmlichkeit am Arbeitsplatz der Lohnsteuer unterworfen, so würde sich deren Erfassung kaum lohnen; wäre der Fiskus bei der Erfassung geldwerter Vorteile allzu großzügig, würde es zur Umwandlung von

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7 Ein informativer Überblick über die Fülle der Probleme findet sich bei Tipke/Lang (Fn. 2), S. 298 ff. 8 Kirstges, Marktanalyse Incentive Reisen in Deutschland: Umfang, Motive, Organisationsformen, 2000; Hamacher/Robak, DB 2008, 2747; Preising/Kiesel, DStR 2007, 1108; van Dülmen, DStR 2007, 9; Seifert, DStZ 2007, 102; Niermann, DB 2008, 1231; Albert, FR 2009, 857. 9 Vgl. als Literaturüberblick Tipke/Lang (Fn. 2), S. 298 ff., 305 ff.

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Geldlohn in Reallohn in großem Stil kommen. Deshalb gibt es für die optimale Regelungsdichte der Einkommensermittlung keine Patentlösung, und nichts ist illusorischer als der Wunsch nach Radikalität in einer Sache, in der vor allem Augenmaß gefordert ist. Wenn die Gesetzgebung das Steuersystem mit der Axt vereinfachen und z. B. den Abzug aller Werbungskosten streichen würde, wären schwerwiegende Verzerrungen und Steuerausweichhandlungen die Folge10. Solange keine grobe Brutto-Einnahmensteuer mit rohen Bemessungsgrundlagen, sondern eine zivilisierte, nach dem Nettoprinzip ermittelte Einkommensteuer erhoben werden soll, kann das Sammeln und die Kontrolle von Belegen weder dem Steuerpflichtigen noch dem Fiskus erspart bleiben. Deshalb kann das Steuerrecht nicht in der Weise reformiert werden, dass diese erfassungstechnischen Probleme zum Verschwinden gebracht werden. Wer dies mit Gewalt versucht, schafft neue Probleme an anderer Stelle. Da Arbeitseinkommen alle anderen Einkünfte bei weitem dominieren, erstaunt es, wenn gerade sie als Stiefkinder des Steuerrechts gelten und das Lohnsteuerrecht „nicht immer für voll genommen wurde“11. Das mangelnde Interesse an der Thematik kann aber insoweit als ein gutes Zeichen angesehen werden, als hierdurch deutlich wird, dass tiefgreifende Reformbestrebungen nicht für erforderlich gehalten werden und deshalb nur wenige Möglichkeiten für Wissenschaftler bestehen, sich durch Reformideen auszuzeichnen12.

III. Kapitaleinkommen: das eigentliche Problem Während die wichtigsten Meriten der Lohnsteuer darin bestehen, dass man ihr – abgesehen von den beschriebenen Problemen der Reallohnelemente – nicht ausweichen kann, ist dies anders bei Kapitaleinkommen: Im Gegensatz zur Überschussermittlung für Arbeitseinkommen, die einfach und auf der ganzen Welt in gleicher Weise erfolgt, gibt es weltweit eine nahezu unbegrenzte Anzahl von Spielarten des Vermögensvergleichs für Kapitaleinkommen, die Einkommen arithmetisch als virtuelle Vermögensmehrung unabhängig von dessen liquiditätsmäßiger Verfügbarkeit ermitteln und deshalb konzeptionelle Schwächen aufweisen. Im Laufe der letzten Zeit haben unter Wissenschaftlern die theoretischen Zweifel am Sinn der Besteuerung von Kapitaleinkommen und am Vermögensvergleich als deren Ermittlungsmethode erheblich zuge-

__________ 10 Als Überblick über die Steuervermeidungsmöglichkeiten bei Arbeitseinkünften vgl. Drenseck und Bergkemper, DB 2009, Beilage 3 zu Heft 13 sowie Woodbury, The American Economic Review 1983, 166; Turner, National Tax Journal 1987, 205; Gentry, Taxes and Fringe Benefits Offered by Employers, NBER Working Paper No. 4764, 1994; Bellmann/Frick, Umfang, Bestimmungsgründe und wirtschaftliche Folgen betrieblicher Zusatz- und Sozialleistungen, in Frick, Anreizwirkungen betrieblicher Zusatzleistungen, 1999, S. 95 ff.; Brooks, McGill Law Journal 2004, 255; Stickan in Bitz, Das Einkommensteuerrecht, 2009, S. 3390 (3395 ff.). 11 Offerhaus (Fn. 6), S. 117. 12 Vgl. zur Theorie der Besteuerung von Arbeitseinkommen Baldry, Australian Economic Papers 1998, 45; Richter, International Tax and Public Finance 2006, 685.

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nommen, wobei insbesondere der Dualismus der Einkommensermittlung von Arbeits- und Kapitaleinkommen Kritik erweckt13. Jede Diskussion über Gleichbehandlung und über die Abschaffung steuerlicher Ausnahmen verliert ihren Sinn, solange die größte Ausnahme, dass Kapitaleinkünfte generell anders als Arbeitseinkünfte ermittelt werden, bestehen bleibt14. Daher setzen ernsthafte Reformüberlegungen von Steuersystemen an der Unterscheidung von Arbeits- und Kapitaleinkommen an, wobei sich Kapitaleinkommen nicht nur auf Einkünfte aus Kapitalvermögen beschränken, sondern auch betriebliche Einkünfte, Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und Alterseinkünfte umfassen und neben der Einkommensteuer natürlich auch Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer. Das konzeptionell schwierigste Problem aller Steuersysteme der Welt ist, ob und wie Kapitaleinkommen besteuert werden sollen. Während in Deutschland in den 70er Jahren noch erwogen wurde, die „Belastbarkeit der Wirtschaft“ zu testen und „leistungslose Profite“ aus Kapitaleinkommen höher zu besteuern als Arbeitseinkommen, ist heute deutlich, dass Kapital einerseits infolge der Globalisierung mobil geworden ist und andererseits die Besteuerung von Kapitaleinkommen durch Flucht in den Konsum vermieden werden kann. Die Erfassung von Kapitaleinkommen erschließt sich der steuerrechtlichen Terminologie nur schwer und ist die ureigene Domäne der Ökonomie und der Finanzwirtschaft. Dem deutschen Steuergesetzgeber bereitet die Besteuerung von Finanzinnovationen erhebliche konzeptionelle Probleme, wie sich z. B. an der Hilflosigkeit der Gesetzgebung zu Zerobonds gezeigt hat, da die im Steuerrecht übliche Trennung von „Frucht“ und „Stammvermögen“ sich für Finanzinnovationen als kategorial unzureichend erwies15. Offenbar sind manche Staaten bei der Besteuerung von Kapitaleinkommen erfolgreicher als andere: Einzelne Steuersysteme haben verschiedene Auswirkungen auf Höhe und Art der Ersparnisbildung, auf Real- und Finanzinvestitionen, auf Eigen- und Fremdfinanzierung, auf Thesaurierung und Ausschüttung, allesamt ureigene betriebswirtschaftliche Themen. Wenn der Erfolg von Steuersystemen nach allgemeiner Übereinkunft in den ökonomischen Kategorien ihrer Wachstums- und Beschäftigungswirkungen gemessen wird, so müssen es ökonomische Wirkungsmechanismen sein, die ihr Design bestimmen. Deshalb wäre es ein Fehler, im Steuerrecht allgemein und speziell zu der Besteuerung von Kapitaleinkünften nur rechtliche Probleme zu sehen und ökonomische Wirkungsmechanismen hierbei zur Seite zu schieben, wenn es vor

__________ 13 Grundlegend Lang in DStJG 24 (2001), S. 49 ff.; Schreiber/Spengel, BFuP 2006, 275; Schreiber, ZfB 2006, 1163. 14 Wagner, DStR 1997, 517 ff. 15 Wagner/Wenger/Höflacher, Zero-Bonds – Optimale Investitions- und Verschuldungsstrategien, 1986; Rümmele/Haas, Steuerarbitrage bei Zerobonds, Tübinger Diskussionsbeitrag Nr. 107, 1997.

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allem ökonomischer Wohlstand ist, der von der Reform von Steuersystemen erwartet wird16.

IV. Defizite der geltenden Besteuerung von Kapitaleinkommen Das Grundsatzproblem der Besteuerung von Kapitaleinkünften kann am einfachsten an der Zinsbesteuerung erläutert werden, die sich auf das Kontensparen als der wichtigsten Form individueller Ersparnisbildung in Deutschland bezieht und die im deutschen Steuerrecht 2009 grundlegend durch eine Abgeltungssteuer reformiert wurde, die erstmals eine Tarifdifferenzierung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkünften einführte und in der eine „Bevorzugung der Kapitalerträge vor den Arbeitserträgen“ gesehen wurde17. Die Besteuerung von Zinsen stand zwar seit jeher im Einkommensteuergesetz, wurde allerdings von der Mehrzahl der Steuerpflichtigen schon immer abgelehnt und erst seit 1993 durch die Einführung der Zinsabschlagsteuer mit Nachdruck verfolgt. Es stellt sich die Frage, warum der Fiskus bei der Erhebung von Quellensteuern zur Sicherung der Zinsbesteuerung über Jahrzehnte so nachlässig war und warum die Bürger für die Notwendigkeit der Zinsbesteuerung so wenig Einsicht aufbringen, während an der Berechtigung der Lohnsteuer noch niemand gezweifelt hat. In jüngster Zeit wurde in deutschen Medien in großer Aufmachung über Vermögende berichtet, die sich der Besteuerung von Kapitaleinkünften durch Verlagerung ihrer Finanzanlagen ins Ausland entzogen haben, wobei die moralische Entrüstung über die Steuerhinterziehung hohe Wellen schlug18. Doch wie steht es mit der Moral des Gesetzgebers bei der Zinsbesteuerung? Wer eine sichere Bankeinlage tätigte, konnte 2008 maximal mit 4,2 % Zinsen rechnen, während die Inflationsrate bei 2,75 % lag. Eine Bankeinlage erbrachte nach Abzug von Spitzensteuersatz und Solidaritätszuschlag im Jahr 2008 nach Abzug von Steuern und Kaufkraftverlust eine Negativverzinsung von 0,4 %. Die Besteuerung nicht inflationsbereinigter Nominalzinsen hatte somit eine enteignungsgleiche Wirkung, die keine Momentaufnahme, sondern ein Dauerproblem darstellt, das über die Zeit hinweg zur Aushöhlung von Kapitalvermögen führt. Abbildung 2 zeigt, dass in den letzten zehn Jahren nach Subtraktion von Steuern auf Nominalzinsen und Inflationsrate häufig nur eine reale Negativverzinsung verblieb:

__________ 16 Dies wird deutlich im Vorwort bei Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs. Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 49, 1993. 17 Vgl. etwa P. Kirchhof, StuW 2006, 19. 18 Vgl. SPIEGEL ONLINE, Zumwinkel zu 24 Monaten auf Bewährung verurteilt, http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,603534,00.html, abgerufen am 1.5.2010.

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Abbildung 2: Umlaufrenditen und Inflationsraten 2000–2009. Quelle: Bundesbank. Umlaufrenditen inländischer Inhaberschuldverschreibungen Anleihen der öffentlichen Hand (Monatsdurchschnitte); Veränderungen des harmonisierten Verbraucherpreisindex im Vergleich zum Vorjahresmonat.

Gravierender als die Gerechtigkeitsdefizite einer vollen Besteuerung von Nominalzinsen sind deren ökonomische Folgen durch Flucht ins Ausland und den Konsum.

V. Wie werden Kapitaleinkünfte in Europa besteuert? Die Situation hat sich seit 2009 durch die Abgeltungssteuer geändert, die es in anderen europäischen Staaten schon lange gibt, denen gegenüber Deutschland in der Steuerpolitik kaum noch als Meinungsführer, sondern eher als Imitator auftritt. War die deutsche Steuerpolitik früher, z. B. bei der Einführung des Anrechnungsverfahrens noch selbstbewusst und ohne Minderwertigkeitskomplexe, schielt sie nun auf kleine europäische Nachbarländer wie Österreich, während es früher umgekehrt war19. Warum blickt Österreich bei Steuerreformen nicht mehr nach Deutschland, sondern seinerseits auf die Slowakei und andere osteuropäische Reformstaaten? Interessanterweise stellt sich heraus, dass in der Steuerpolitik gerade Osteuropa zum Lehrmeister für Westeuropa geworden ist20.

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19 Wagner, Deutschland bei Österreich in der Steuerlehre: Die falsche Lektion gelernt, in FS Loitlsberger, Zum Erkenntnisstand der Betriebswirtschaftslehre am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2001; Wagner/Wenger, Was wir von Österreich lernen können, Handelsblatt Nr. 67 vom 8.4.1999, S. 53. 20 Wagner, Deutschland muss von Osteuropa lernen, Handelsblatt Nr. 51 vom 14.3.2005, S. 9.

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Warum sind nur manche Steuern reformbedürftig und andere nicht?

Deutschland mit seinem einheitlichen Steuersatz für unterschiedlich ermittelte Arbeits- und Kapitaleinkünfte bildete bisher in Europa eine Ausnahme und hat jetzt mit der Abgeltungssteuer die anderswo längst vollzogene Reduzierung der Besteuerung von Kapitaleinkommen nachgeholt. Speziell Zinseinkommen werden in Osteuropa im Durchschnitt mit 10 % besteuert, während sie in Deutschland bislang dem regulären Höchststeuersatz für Arbeitseinkünfte unterliegen; auch in Westeuropa ist eine reduzierte Besteuerung von Zinseinkommen die Regel.

Abbildung 3: Durchschnittliche Höchststeuersätze für Zinsen in Europa. Quelle: BMF, Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2004–2008, eigene Berechnungen.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass in Osteuropa das Steuerniveau bei allen Steuern niedriger wäre, da die Mehrwertsteuersätze auf westlichem Niveau und teilweise noch darüber liegen, während in Deutschland der Konsum lange Zeit unterdurchschnittlich belastet wurde. Osteuropa ist also nicht generell Niedrigsteuerzone, sondern besteuert Kapitaleinkünfte tendenziell niedrig und den Konsum ebenso hoch wie Westeuropa.

Abbildung 4: Durchschnittliche Normaltarife der Umsatzsteuer in Europa Quelle: BMF, Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2004–2008, eigene Berechnungen.

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Franz W. Wagner

Warum werden Kapitaleinkommen in Osteuropa niedriger besteuert, und warum muss Deutschland mittlerweile bei osteuropäischen Staaten nach steuerlichen Konzepten Ausschau halten und dort in die Steuerlehre gehen? Liegt es daran, dass in Osteuropa mehr Ideen produziert werden oder nur daran, dass osteuropäische Politiker die Ideen, die ihre heimischen Wissenschaftler von den Universitäten des Westens importieren, leichter umsetzen konnten, als dies im Westen selbst möglich war21? Die Idee, zwischen Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen zu unterscheiden, ist nicht in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entwickelt worden, sondern in Deutschland bereits wesentlich früher, allerdings ohne dass sie in der deutschen Steuergesetzgebung umgesetzt worden wäre22.

VI. Wie sollten Kapitaleinkommen besteuert werden? Was wäre die richtige Besteuerung von Kapitaleinkommen, wenn ihre Diskriminierung beseitigt werden soll? In den letzten Jahren wurde immer häufiger die nachgelagerte Besteuerung von Kapitaleinkommen propagiert, bei der wie bei Arbeitseinkommen investive Ausgaben sofort abgezogen und Einnahmen voll besteuert werden23. Im Gegensatz zu den Arbeitseinkommen, deren Ermittlungsmethode unbestritten ist, sind es bei Kapitaleinkommen gerade die konzeptionellen Grundsatzprobleme, die der Literatur seit Jahrzehnten Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb liegt es nahe, die Besteuerungskonzeption für Arbeitseinkommen durch sofortigen Abzug der Ausgaben und volle Besteuerung der Einnahmen auf Kapitaleinkommen zu übertragen. Dies würde bedeuten, dass auch bei Kapitaleinkommen Investitionen voll abziehbar sind und Rückflüsse entsprechend voll zu versteuern sind. Die Methode kann am einfachsten für Zinsen dargestellt werden: Wenn Kapitaleinkommen wie Arbeitseinkünfte besteuert werden sollen, muss entweder durch Einführung einer Cashflow-Steuer die nachgelagerte Besteuerung auch für Kapitaleinkommen eingeführt werden, oder die Zinsen müssen durch eine Zinsbereinigung steuerfrei bleiben, wie folgende Überlegung zeigt. Wird ein Betrag von 100 investiert und ein Jahr lang mit dem Zinssatz i verzinst, so hat die Steuerersparnis bei Investition i. H. v. s · 100 den gleichen Barwert wie die Steuerlast auf den Kapitalrückfluss i. H. v. s · 100(1+i). Deshalb ist die Rendite nach Steuern is gleich der Rendite vor Steuern i24.

__________

21 Vgl. Rose/Lang/Wagner/Wenger, Recommendations on the Reform of Hungary’s Tax System, 1992; Lang (Fn. 16); zur Umsetzung Wagner/Wenger, Theoretische Konzeption und legislative Transformation eines marktwirtschaftlichen Steuersystems in der Republik Kroatien, in Sadowski et al., Regulierung und Unternehmenspolitik: Methoden und Ergebnisse der betriebswirtschaftlichen Rechtsanalyse, 1996, S. 399 ff.; Kiesewetter, StuW 1997, 24; Knoll, DBW 2001, 335. 22 Vgl. Wenger, FA 1983, 207. 23 Vgl. die konzeptionelle Fundierung bei Lang (Fn. 13), S. 83 ff. 24 Wagner/Schwinger, Der Einfluss einer Cash-flow-Steuer auf Finanzierung und Rechnungslegung, in Rose, Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, 1991, S. 495 ff.

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Warum sind nur manche Steuern reformbedürftig und andere nicht?

is =

-100(1-s) + 100(1+i) (1-s) 100(1-s)

=i

Deshalb können Zinseinkommen entweder wie Arbeitseinkommen auf Basis einer Überschussrechnung nachgelagert ermittelt werden oder steuerfrei bleiben. Im Gegensatz zu dem Missverständnis, dass Arbeits- und Kapitaleinkünfte hierdurch ungleich behandelt würden, ist der Sinn der aus erhebungstechnischen Gründen steuerfrei bleibenden Zinsen nicht die Ungleichheit, sondern die Gleichheit der Steuerbelastung von Arbeits- und Kapitaleinkommen, wie sich der vorstehenden Arithmetik leicht entnehmen lässt. Mit der auf dem Cashflow basierten Ermittlungsmethode ist auch eine neue materielle Zielsetzung der Besteuerung verbunden, da wegen des Abzugs des gesamten Kapitaleinsatzes von der Bemessungsgrundlage die Besteuerungsbasis von der Besteuerung des erzielten Einkommens auf die Besteuerung des konsumierten Einkommens verlagert und letztlich durch die Steuerfreiheit von Zinsen die Einkommensteuer in eine Konsumbesteuerung transformiert würde25. Wer gegenüber der nachgelagerten Besteuerung von Kapitaleinkommen skeptisch ist und tiefgreifende Umwälzungen befürchtet, sollte zur Kenntnis nehmen, dass mit der Reform der Besteuerung der gesetzlichen Renten die gesetzlich erzwungene Ersparnisbildung als wichtigste Sparform konzeptionell bereits auf die nachgelagerte Besteuerung umgestellt ist26: Im Jahr 2040 wird die Rentenbesteuerung vollständig auf der nachgelagerten Besteuerung basieren, was bedeutet, dass die Rentenbeiträge nach § 10 Abs. 3 EStG bis zum Höchstbetrag von Euro 20.000 abziehbar sein werden, der während der bis 2025 laufenden Übergangsphase nur teilweise gewährt wird. Nach Ende der Übergangsphase wird der Einstieg in die nachgelagerte Rentenbesteuerung vollständig vollzogen sein und damit faktisch die Steuerfreiheit der Verzinsung der Rentenbeiträge erreicht sein27. Je geringer die Verzinsung der Rentenbeiträge ist, umso größer wird der Vorteil der nachgelagerten Besteuerung für die gesetzlich Versicherten, da der Fiskus wegen des steuerlichen Abzugs der Vorsorgeaufwendungen einen Anteil an der Niedrigverzinsung der Rentenbeiträge übernimmt28. Infolge der Einführung der nachgelagerten Rentenbesteuerung leben diejenigen Steuerpflichtigen, die Arbeitseinkünfte beziehen und deren einzige Ersparnis in einer gesetzlichen Rente besteht, bereits vollständig in einer Welt der Konsumbesteuerung. Von der weittragenden Reform der Rentenbesteuerung, die bis jetzt noch kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt ist, geht ein Systemwechsel mit weittragenden Folgen aus29.

__________

25 Lang (Fn. 13), S. 76, Fehr/Wiegard, Abgeltungssteuer, duale Einkommensteuer und zinsbereinigte Einkommensteuer: Steuerreform aus einem Guss, in FS Wagner, 2004, S. 27 ff. 26 Vgl. Lang (Fn. 13), S. 84 ff., Fuest/Brügelmann, StuW 2003, 338. 27 Wiegard, ifo Schnelldienst 21, 2000, 8. 28 Wagner/Wiegard, Vorsicht bei der Rentenbesteuerung, Handelsblatt Nr. 1 vom 2.1.2001, S. 46. 29 Lang (Fn. 13), S. 84 ff.; Kiesewetter/Niemann, StuW 2003, 60.

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Wenn die freiwilligen Formen der individuellen Ersparnisbildung genauso behandelt werden sollen wie die Rentenversicherung als kollektive Form des Zwangssparens und die organisatorischen Probleme der steuerlichen Erfassung der Spar- und Entsparvorgänge vermieden werden sollen, so stellt die Steuerfreiheit von Zinsen eine belastungsäquivalente Alternative zur nachgelagerten Besteuerung von Kapitaleinkünften dar. Wenn damit die Erträge der gesetzlichen Rentenversicherung als der mit Abstand wichtigsten Sparform faktisch steuerfrei werden, wird sich die Frage stellen, warum die zwangsweise Bildung von Kollektivvermögen im Rentensystem besser behandelt werden soll als die freiwillige und eigenverantwortliche Bildung von Sparkapital und die landesübliche Verzinsung nicht generell steuerfrei gestellt werden sollte, um eine Gleichbehandlung aller Sparformen zu erreichen30. Aus dieser Sicht stellt die ermäßigte Abgeltungssteuer keine Geringbelastung gegenüber Arbeitseinkünften und Rentenversicherungen dar; vielmehr nimmt sie partielle, aber unzureichende Korrekturen der bestehenden Überbelastung vor. Dieser Idee folgen die reformierten Steuersysteme Osteuropas, die Kapitaleinkommen mehr oder minder stark entlasten, wodurch sich Osteuropa gegenüber den Staaten, die Kapitaleinkommen nach wie vor auf herkömmliche Weise überbelasten, als attraktiver Investitionsstandort erweist. Hierbei handelt es sich nicht um eine unlautere steuerliche Konkurrenz zu Westeuropa, sondern um eine theoretische Überlegenheit der osteuropäischen Besteuerungskonzeptionen, die die Entlastung von Kapitaleinkommen nicht über die nachgelagerte Besteuerung, sondern über den Tarif vornehmen. Die technische Durchführung der nachgelagerten Besteuerung von Unternehmen würde insbesondere bei Standortverlagerung und Wegzug schwierige erfassungstechnische Probleme aufwerfen und deshalb Unstetigkeit in das Steueraufkommen bringen. Um deutlichere Entlastungssignale an Investoren zu senden, haben die osteuropäischen Staaten deshalb eine steuerliche Marketingstrategie gewählt, die nicht über Bemessungsgrundlagen, sondern über den leichter als Signal wahrnehmbaren Tarif funktioniert. Deshalb muss auch die Abgeltungssteuer als kompromissbeladenes Eingeständnis einer konzeptionellen Schwäche der bisherigen Besteuerung von Kapitaleinkommen gewertet werden, die durch eine Tarifermäßigung teilweise beseitigt wird. Probleme ergeben sich allerdings dann, wenn eine isolierte steuerliche Entlastungsmaßnahme auf eine bestimmte Form der Einkommenserzielung beschränkt wird, da aus einer Insellösung der Steuerentlastung zahlreiche neue Probleme resultieren31.

__________ 30 Ebd. 31 Lang (Fn. 13), S. 88.

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Warum sind nur manche Steuern reformbedürftig und andere nicht?

VII. Wie wirkt die Abgeltungssteuer auf die Kapitalstruktur und die Thesaurierungspolitik?32 Um von einer Steuerreform erwartete ökonomische Wirkungen beim Design eines Steuersystems richtig einzuschätzen, muss sich der Finanzminister die gleiche Denkweise zueigen machen, die Investoren ihrer Beurteilung von Kapitalanlagen zugrunde legen33. Da davon auszugehen ist, dass Investoren Investitionen nach der Netto-Rendite bewerten, muss auch die Konzeption einer Unternehmenssteuerreform auf der gleichen gedanklichen Ordnung aufgebaut werden. Die Ermittlung der Nettorendite aller Formen der Kapitalanlage einschließlich ihrer Finanzierungswege stellt insoweit ein komplexes Problem dar, da die Steuerbelastung bei Kapitalgesellschaften zwei Belastungsebenen umfasst. Während die Besteuerung von Zinsen noch einfach erscheint, tritt bei der Besteuerung von Dividenden und Veräußerungsgewinnen von Kapitalanteilen die Gesellschafterebene zur Steuerbelastung der Gesellschaftsebene hinzu. Der Vergleich der Steuerbelastung einzelner Anlageformen aus der Sicht des Kapitalinvestors ist nur dann korrekt, wenn die Alternativen sachlich und zeitlich vollständig berechnet werden. D. h. dass sie zum einen sowohl die Steuern der Unternehmensebene als auch die der Anteilseigner erfassen müssen und zum anderen nicht nur die laufende Besteuerung, sondern auch die Besteuerung künftiger Perioden einbeziehen müssen, sofern diese in zwingender Weise mit der laufenden Besteuerung verknüpft ist. Z. B. wäre es ein Fehler, ausgeschüttete mit einbehaltenen Gewinnen zu vergleichen, wenn die Ausschüttung zwingend nachbelastet wird oder die Einkommenssteuerbelastung von Dividenden mit Zinsen zu vergleichen, wenn die Dividenden auf Unternehmensebene vorbelastet sind34. Wie reagieren Investoren auf die Regelung der 2009 eingeführten Abgeltungssteuer? Wie im Folgenden gezeigt wird, wurde das von der Unternehmenssteuerreform 2008/2009 verfolgte Ziel der Finanzierungsneutralität verfehlt, da aus der gesetzlichen Insellösung der auf private Kapitaleinkünfte beschränkten Abgeltungssteuer Steuerwirkungen resultieren, die in die steuerliche Belastungskonkurrenz alternativer Kapitalanlagen eingreifen. Obwohl mit der Unternehmenssteuerreform Finanzierungsneutralität angestrebt wurde, ist das Gegenteil erreicht worden, wie sich aus der folgenden Beispielrechnung ergibt, die ausgehend von einer Bruttorendite von 5 % die Nettorendite verschiedener Finanzierungsformen bei Kapital- und Personengesellschaften berechnet. Für Kapitalgesellschaften wird die Eigenfinanzierung bei Vollausschüttung und bei

__________ 32 Vgl. zum folgenden Scheffler, BB 2000, 2441; Haase/Diller, DB 2002, 229; Endres/ Spengel/Reister, WPg 2007, 478; Homburg, DStR 2007, 686 ff.; Homburg/Houben/ Maiterth, WPg 2008, 176; Müller/Houben, FB 2008, 237 ff.; Schreiber, Besteuerung der Unternehmen2, 2008, S. 639 ff. 33 Wagner, StuW 2000, 109; Schreiber (Fn. 32), S. 639 ff. 34 Schreiber (Fn. 32), S. 656.

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Thesaurierung und Anteilsveräußerung mit der Nettorendite fremdfinanzierter Investitionen verglichen35. 1. Steuerbelastung der Finanzierung von Kapitalgesellschaften Die Eigenfinanzierung einer Kapitalgesellschaft bei Annahme der Vollausschüttung der Gewinne wird in Formel (1) dargestellt, indem die Bruttorendite r auf Unternehmensebene um die Körperschaftsteuer sk inklusive des Solidaritätszuschlags sowie die Gewerbesteuer sge gekürzt wird. Die Ausschüttung unterliegt beim Anteilseigner nochmals der Besteuerung durch die Abgeltungssteuer sab inkl. des Solidaritätszuschlags. rs = r(1 - sunt) (1 - sab · 1,055) mit sunt = sk

(1)

· 1,055 + sge

Die Besteuerung auf Unternehmensebene verringert die Rendite um 1,49 Prozentpunkte, die Ausschüttungsbesteuerung um weitere 0,93 Prozentpunkte, so dass bei Eigenfinanzierung und Vollausschüttung eine Nettorendite i. H. v. 2,58 % resultiert. Werden die Gewinne nicht ausgeschüttet, sondern thesauriert, erhöht sich der Wert der Anteile, wobei in Formel (2) von einer Anteilsveräußerung nach einem Jahr ausgegangen wird. rs = r ((1 - sunt)(1 + r (1 - sunt)) · (1 - sab · 1,055)) · (1 - sab · 1,055) (1 + i (1 - sab))-1

(2)

Der thesaurierte Nettogewinn wird im Unternehmen angelegt und verzinst sich mit der internen Rendite r(1 - sunt), wodurch es zu einer Wertsteigerung kommt. In der bei Veräußerung um die Abgeltungssteuer zu kürzenden Wertsteigerung ist die Ausschüttungsbelastung des Käufers der Anteile bereits antizipiert, da sie dessen Grenzpreis beeinflusst. Zur Berechnung der Nettorendite ist die Alternativanlage um die Abgeltungssteuer zu kürzen; deshalb wird mit dem Nettozinssatz i(1 - sab) diskontiert. Aufgrund der Veräußerungsgewinnbesteuerung ist die Thesaurierung ungünstiger als die Vollausschüttung, wodurch sich die Nettorendite auf 1,90 % reduziert. Bei der Gesellschafterfremdfinanzierung kommt die Abgeltungssteuer nur zur Anwendung, wenn der Anteil unter 10 % beträgt, da andernfalls die Zinsen mit der tariflichen Einkommensteuer sek belastet werden. Zur Berechnung der Nettorendite muss zusätzlich die Gewerbesteuerhinzurechnung auf Unternehmensebene beachtet werden. Im Fall der unschädlichen Gesellschafterfremdfinanzierung gilt Formel (3) bei schädlicher Gesellschafterfremdfinanzierung Formel (4).

__________ 35 Schreiber (Fn. 32), S. 710.

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Warum sind nur manche Steuern reformbedürftig und andere nicht?

rs = r ((1 - 0,25sge) (1 - sab · 1,055))

(3)

rs = r (1 - 0,25sge (1 - sab · 1,055) – sek · 1,055)

(4)

Bei einer Bruttorendite i. H. v. 5 % des vereinbarten Darlehenszinses ergibt sich bei unschädlicher und schädlicher Gesellschafterfremdfinanzierung jeweils eine Nettorendite i. H. v. 3,51 % bzw. von 2,61 %. Die grafische Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt in Abb. 5:

Abbildung 5: Nettorenditen eigenkapital- und fremdkapitalfinanzierter Investitionen in Kapitalgesellschaften. Quelle: eigene Berechnungen.

2. Steuerbelastung der Finanzierung von Personengesellschaften Auch bei Personengesellschaften ist Fremdkapital vorzuziehen, abgesehen von der schädlichen Fremdfinanzierung. Zunächst sind eigenfinanzierte Gewinne auch bei Personengesellschaften mit Einkommensteuer und Gewerbesteuer belastet, wobei die Anrechnung nach § 35 EStG zu berücksichtigen ist. Die Berechnung der Nettorendite erfolgt in Formel (5) für den Gewerbesteuermessbetrag m: rs = r (1 - sge – (sek - min(3,8m ; sge))· 1,055)

(5)

Im Gegensatz zu Kapitalgesellschaften ist ebenfalls zwischen schädlicher und unschädlicher Fremdfinanzierung zu unterscheiden, wobei bei Personengesell359

Franz W. Wagner

schaften Gesellschafter als Darlehensgeber nicht in Betracht kommen, während der Darlehensnehmer ebenfalls die Gewerbesteuerhinzurechnung auf Fremdkapitalzinsen beachten muss, wobei auch hier die Anrechnung nach § 35 EStG zur Anwendung kommt. Beim Darlehensgeber wird die Abgeltungssteuer oder die tarifliche Einkommensteuer erhoben. Bei unschädlicher Fremdfinanzierung ergibt sich die Nettorendite als r (1 - 0,25(sge - min(3,8m ; sge) · 1,055) – sab · 1,055)

(6)

während sie bei schädlicher Fremdfinanzierung wie folgt berechnet wird: r (1 - 0,25(sge - min(3,8m ; sge) · 1,055) – sek · 1,055)

(7)

Die Übersicht über die Nettorenditen in Abb. 6 geht von einem Gewerbesteuerhebesatz von 400 % und einem Einkommensteuersatz von 42 % aus. Hierdurch ergibt sich für den Fall der Eigenfinanzierung eine Nettorendite i. H. v. 2,79 %, für unschädliche Fremdfinanzierung von 3,68 % und für schädliche Fremdfinanzierung von 2,78 %, wobei selbst im letzteren Fall die Steuerbelastung nicht höher als bei Eigenfinanzierung ist.

Abbildung 6: Nettorenditen eigenkapital- und fremdkapitalfinanzierter Investitionen in Personengesellschaften. Quelle: eigene Berechnungen.

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Warum sind nur manche Steuern reformbedürftig und andere nicht?

3. Steuerbelastung bei Ausschüttung und Thesaurierung von Kapitalgesellschaften Während das Anrechnungsverfahren seinerzeit noch das Schütt-aus-holzurück-Verfahren begünstigte, ist mit der Unternehmenssteuerreform nun das Gegenteil beabsichtigt worden, nämlich einen „lock in“-Effekt zu erzeugen, da unterstellt wird, dass im Unternehmen verbleibende Gewinne arbeitsplatzförderlich investiert werden36. Es zeigt sich jedoch, dass die Steuerbegünstigung der Thesaurierung misslungen ist, da dem Gesetzgeber offensichtlich entgangen ist, dass von der Abgeltungssteuer ein starker Ausschüttungsanreiz ausgeht37. Die Thesaurierung scheint günstiger zu sein, wenn die Nachversteuerung der Ausschüttung ignoriert wird. Da thesaurierte Gewinne letztlich doch ausgeschüttet werden müssen, wäre es ein Denkfehler, die Nachversteuerung thesaurierter Gewinne zu übersehen; in diesem Fall erweist sich die Thesaurierung als nachteilig, da die Wiederanlage thesaurierter Gewinne auf Unternehmensebene höher besteuert wird als die lediglich der Abgeltungssteuer unterliegende Wiederanlage von Ausschüttungen. Fasst man die arithmetischen Zusammenhänge zu der aussagekräftigen Vergleichsgröße des Endvermögens zusammen, so zeigt sich, dass der Gesetzgeber sein Ziel der Steuerbegünstigung einbehaltener Gewinne sowohl bei Personenals auch bei Kapitalgesellschaften verfehlt hat. Im Fall der Thesaurierung wird der Gewinn G abzgl. der Unternehmenssteuer intern angelegt und erst in der letzten Periode ausgeschüttet. Bei der Kapitalgesellschaft fällt auf die Zwischengewinne jeweils Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer an, die Ausschüttung am Ende wird mit Abgeltungssteuer belastet. Das Nettoendvermögen nach Steuern Vs berechnet sich folgendermaßen Vs = G (1 - sunt)(1 + r (1 - sunt))n (1 - sab · 1,055)

(8)

Bei Ausschüttung fällt die Abgeltungssteuer sofort an, wodurch ein Betrag i. H. v. G(1 - sunt)(1 - sab · 1,055) zum Zinssatz i angelegt werden kann, der um Abgeltungssteuer zu kürzen ist. Das Nettoendvermögen ergibt sich als Vs = G (1 - sunt) (1 - sab · 1,055)(1 + i (1 - sab))n

(9)

Die unterschiedliche Steuerbelastung wird in Abbildung 7 veranschaulicht. Ausgehend von einem Bruttogewinn i. H. v. 1000 zeigt die Grafik das Endver-

__________ 36 Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 66, 1999, S. 36. 37 Zum misslungenen „Lock-in“-Effekt des Halbeinkünfteverfahrens vgl. Hundsdoerfer, StuW 2001, 113; Elser 2001, DB 2001, 805 sowie zur Abgeltungssteuer Schreiber (Fn. 32), S. 664; arqus Stellungnahme zur notwendigen Reform der Abgeltungssteuer, DB 2008, 957.

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mögen nach einem Zeitraum von 10 Perioden. Aufgrund der höheren Steuerbelastung der Verzinsung auf Unternehmensebene infolge Körperschaft- und Gewerbesteuer im Vergleich zur Abgeltungssteuer bei privater Wiederanlage ist das Endvermögen bei Sofortausschüttung mit 741,67 höher als bei Thesaurierung (729,42).

Abbildung 7: Nettoendvermögen einer Kapitalgesellschaft bei Thesaurierung und Ausschüttung. Quelle: eigene Berechnungen.

4. Steuerbelastung bei Ausschüttung und Thesaurierung von Personengesellschaften Bei der Thesaurierung ist zusätzlich die Entscheidung über die Anwendung des § 34a EStG zu treffen, der es erlaubt, thesaurierte Gewinne mit einem ermäßigten Steuersatz sthes i. H. v. 28,25 % zu versteuern, wobei bei Entnahme die Nachversteuerung mit 25 % erfolgt. Wenn die Einkommen- und Gewerbesteuer vollständig aus dem Gewinn beglichen werden soll, so kann ein Betrag i. H. v. b=

1 - s Pers 1 + (s thes - s ek) · 1,055

(10)

mit sPers = sge + (sek - min(3,8m ; sge)) · 1,055 thesauriert werden, wobei sich als Nettoendvermögen ergibt: Vs = G · b · (1 + bi)n-1 · (1 - 0,25 · 1,055 · (1 - sthes · 1,055)) + G · b · (1 + bi)n-1 · i · (1 - sPers) (11) Bei der Thesaurierung ohne Anwendung des § 34a EStG werden alle Gewinne mit Gewerbesteuer und Einkommensteuer belastet. Das Nettoendvermögen beträgt: Vs = G(1 - sPers) (1 + r (1 - sPers))n 362

(12)

Warum sind nur manche Steuern reformbedürftig und andere nicht?

Im Zahlenbeispiel beträgt das Nettoendvermögen nach einem Thesaurierungszeitraum von 10 Perioden, bei einem Einkommensteuersatz von 42 % und einem Gewerbesteuerhebesatz bei Anwendung von § 34a EStG 733,02. Bei Verzicht auf die Anwendung der Thesaurierungsbegünstigung resultiert ein Nettoendvermögen von 733,44. Bei Sofortentnahme und privater Wiederanlage ergibt sich das Endvermögen als Vs = G(1 - sPers) (1 + i (1 - sab))n

(13)

Die Sofortentnahme wird bei einem Zinssatz von 5 % und bei denselben Steuersätzen der Thesaurierung vorgezogen. Das Nettoendvermögen beträgt 799,88.

Abbildung 8: Nettoendvermögen einer Personengesellschaft bei Thesaurierung und Ausschüttung. Quelle: eigene Berechnungen.

VIII. Warum wurde das Ziel der Finanzierungsneutralität verfehlt? Ausgangspunkt jeder gedanklichen Ordnung einer Steuerreform müssen die Interessen der Kapitalgeber sein, auf deren Steuerbelastung gedanklich ein Durchgriff vorgenommen werden muss, der in der Konzeption der Steuerreform offensichtlich nicht erfolgt ist38. Die Fehlkonzeption der Unternehmenssteuerreform dürfte dadurch zu erklären sein, dass die Gesetzgebung noch immer auf einem Verständnis „des Unternehmens an sich“ basiert, das Unternehmen als von den Kapitaleignern in der Willensbildung und der Steuerbelastung unabhängige Einheiten sieht, während Unternehmen aus der modernen Sicht der Finanzwirtschaft der Einkommenserzielung ihrer Kapitaleigner dienende Institutionen sind, die mit anderen Einkommensquellen der

__________ 38 Zu den konzeptionellen Grundlagen der Steuerlastberechnung vgl. Scholes/Wolfson, Taxes and Business Strategy – A Planning Approach3, 2005.

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Franz W. Wagner

Shareholder und deren Steuerbelastung konkurrieren39. Wenn der Gesetzgebung ein auf die Firmenebene beschränktes Unternehmensverständnis zugrunde liegt, während die letztlich die Kapitalanlageentscheidungen treffenden Kapitaleigner ein renditeorientiertes Unternehmensverständnis haben, können die auf Basis eines nicht der Realität entsprechenden Unternehmensverständnisses entworfenen Steuersysteme nicht die erwarteten Wirkungen erzeugen. Ein besonders markantes Beispiel für solche ungewollten Verhaltenswirkungen der Steuerpolitik war der dramatische Einbruch der Körperschaftsteuer im Jahre 2001, als die Umstellung vom Anrechnungsverfahren auf das Halbeinkünfteverfahren erfolgte, was zu einem Minusaufkommen der Körperschaftsteuer von 426 Mio. Euro führte. Obwohl die Regelung technisch korrekt konzipiert war, wurde der Einbruch der Körperschaftsteuer in der Öffentlichkeit seinerzeit darauf zurückgeführt, dass die damalige rot-grüne Koalition die Konzerne durch die Körperschaftsteuer-Erstattung habe subventionieren wollen. Tatsächlich handelte es sich aber nur um einen unbeabsichtigten Betriebsunfall der damaligen Finanzpolitik, da die Unternehmen seinerzeit die Steuerminderung auf Gesellschaftsebene durch Ausschüttung ihrer Bestände an EK40 nutzen und ihre Aktionäre in den unverzüglichen Genuss des Anrechnungsanspruchs bringen wollten. Die Regierung wurde von der Ausschüttungsaktion überrascht, denn sie traute den Unternehmen so großzügige Dividenden nicht zu, da sie glaubte, dass das Geld aus der Sicht der Unternehmen doch „weg“ gewesen sei. Die Regierung hatte übersehen, dass von den Finanzvorständen Dividenden längst nicht mehr als Unglück für die Unternehmen, sondern als notwendiger Wertbeitrag für die Aktionäre gesehen wurden. Daher tut die Steuergesetzgebung gut daran, sich ein Bild vom Corporate Governance-Verständnis zu machen, an dem die Finanzabteilungen der Unternehmen ihre Entscheidungen ausrichten. Wenn die Gesetzgebung alle Kapitalanlagen gleich behandeln will, muss sie die gleiche Perspektive annehmen, aus der Investoren ihre Renditeanforderungen an Investitionen ableiten und die Kapitalkosten im Sinne einer von Investitionen zu fordernden Mindestrendite bestimmen40. Wenn die Steuerbelastung der Alternativrendite sinkt, steigen damit die Kapitalkosten der Investitionen. Bei der Unternehmenssteuerreform hat der Gesetzgeber übersehen, dass es nicht nur auf steuerliche Abstimmung innerhalb der Einkunftsarten, sondern auf Gleichbehandlung aller Einkommensquellen ankommt. Daher reicht es nicht, die Einheitlichkeit der Abgeltungssteuer auf die Ebene der persönlichen Einkommensteuer zu beschränken und die steuerliche Vorbelastung auf der vorgeschalteten Unternehmensebene unberücksichtigt zu lassen, da in diesem Fall aus der angeblichen Gleichbehandlung der Kapitaleinkünfte eine Ungleichbehandlung der Finanzierungsformen wird.

__________ 39 Wagner, StuW 2000, 109. 40 Schreiber (Fn. 32), S. 642.

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IX. Schlussfolgerungen Es wurde gezeigt, dass vor Wahlen stets erneut angekündigte „große“ Steuerreformen deshalb ausbleiben mussten, weil die Arbeitseinkommen, die über 80 % aller Einkünfte ausmachen, weder reformbedürftig noch reformfähig sind. Da die Besteuerung von Arbeitseinkommen weltweit als neutrale CashflowSteuer konzipiert ist, besteht kein konzeptioneller Änderungsbedarf; hingegen wird auch in Zukunft unspektakuläre, rechtliche Feinarbeit bei der Einschränkung der Steuervermeidung zu leisten sein, die durch eine Substitution von Geldlohn durch Reallohn ermöglicht wird. Der konzeptionelle Reformbedarf beschränkt sich auf Kapitaleinkommen, deren Besteuerung gegenwärtig nicht auf die der Arbeitseinkommen abgestimmt ist. Mit der Einführung der Abgeltungssteuer wurde ein wichtiger Schritt zur Entlastung privater Kapitaleinkommen unternommen, der allerdings mit der Unternehmensbesteuerung nicht abgestimmt wurde. Von der isoliert geregelten Abgeltungssteuer gehen politisch ungewollte Einflüsse auf die Kapitalstruktur von Unternehmen und die Dividendenpolitik aus. Hierdurch wird Fremdkapital gegenüber Eigenkapital und Ausschüttung gegenüber der Thesaurierung begünstigt. Der nächste Schritt der Unternehmenssteuerreform sollte diese Mängel eliminieren, indem die Besteuerung unter Hinzuziehung ökonomischen Sachverstandes in die Perspektive der modernen finanzwirtschaftlichen Sicht von Unternehmen integriert wird.

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Friedrich Merz

Vom Bierdeckel zur Reform – der lange Weg zur Vereinfachung des Steuerrechts Inhaltsübersicht I. Spitzensteuersatz und Debatte um die Notwendigkeit einer Strukturreform II. Verstärkte Anstrengungen von Wissenschaft und Stiftungen

III. Ansprüche an ein modernes, wettbewerbsfähiges Steuerrecht IV. Reform der Gewerbesteuer

I. Spitzensteuersatz und Debatte um die Notwendigkeit einer Strukturreform Und wieder steht die Absicht in einem Koalitionsvertrag: Auch die im Herbst 2009 gewählte Koalition aus CDU/CSU und FDP will das Steuerrecht „spürbar vereinfachen und von unnötiger Bürokratie befreien“, die Einkommensteuer soll „einfach, niedrig und gerecht“ werden. Wie oft sind diese Worte schon gesprochen und geschrieben worden! Aber warum gelingt es seit Jahren nicht, dieses Ziel auch nur annähernd zu erreichen? Warum wird das Steuerrecht im Gegenteil von Jahr zu Jahr komplizierter, widersprüchlicher und undurchschaubarer? In den letzten 20 Jahren hat es eine Vielzahl von Anläufen gegeben, das Steuerrecht zu vereinfachen und die Steuerbelastung zu senken. Nicht alle blieben erfolglos, im Gegenteil, es hat durchaus kleinere Schritte in die richtige Richtung gegeben. Allerdings sind aus Gründen der tagespolitischen Opportunität und im Bemühen um höhere Steuereinnahmen auch immer wieder Entscheidungen getroffen worden, die dem Ziel der Vereinfachung diametral zuwiderliefen. Immer hat es dabei auch eine Debatte um Steuergerechtigkeit und die angemessene Belastungshöhe gegeben. Ergebnis der Gesetzgebung und Umfang der Vorarbeiten stehen seit langer Zeit in einem wenig befriedigenden Ergebnis zueinander. Die Diskussion um die Einkommensteuer hat sich bis heute grundsätzlich um zwei zentrale Fragen gedreht: Zum einen um den Spitzensteuersatz, da dieser sich wie keine andere steuerrechtliche Einzelposition zur breiten politischen Diskussion eignet; zum anderen um die Frage, ob überhaupt eine wirkliche Steuerstrukturreform nötig und möglich ist. Die politische Diskussion um den Spitzensteuersatz war bereits im Gang, als die erste Regierung Helmut Kohl eine Einkommensteuerreform in Kraft setzen und mit ihr den linear-progressiven Tarif der Einkommensteuer einführen wollte. Die Diskussion im Jahr 1988 wurde von der Forderung des CSU-Parteivorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß über367

Friedrich Merz

schattet, das Flugbenzin für Hobbypiloten von der Benzinsteuer zu befreien. Schon im Jahr zuvor hatten sich CDU-Generalsekretär Heiner Geißler und Arbeitsminister Norbert Blüm vehement gegen jede Absenkung des Spitzensteuersatzes gewehrt, der damals bei 56 % lag, und mit der FDP heftig um die ganze Reform gestritten (Wirtschaftminister Graf Lambsdorff: „Unsere Zahl heißt 48!“). Nach den Landtagswahlen in Hessen wurde der Spitzensteuersatz schließlich zum 1.1.1988 auf 53 % gesenkt, und er blieb dort, bis die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder ihn erst auf 45 % und dann auf 42 % absenkte. Mit dieser Entscheidung bestritt die SPD sogar den Bundestagswahlkampf 2005 („42 % Spitzensteuersatz – gut für die Menschen“). In der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD wurde dann aber die sog. „Reichensteuer“ (!) eingeführt, mit der der Spitzensteuersatz von 2007 an wieder auf 45 % angehoben wurde. Die Diskussion um eine große Steuerstrukturreform, die mehr umfasst als nur die Korrektur des Tarifverlaufes, begann Mitte der 1990er Jahre. Im November 1994 empfahl die „Bareis-Kommission“, eine von Bundesfinanzminister Theo Waigel eingesetzte Kommission aus Wissenschaftlern, Praktikern, Finanzrichtern und Verwaltungsbeamten, eine grundlegende Bereinigung des Einkommensteuerrechts durch Herausnahme von Lenkungsnormen, die Abschaffung von Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen sowie die – auch später vom BVerfG geforderte – Steuerfreistellung des Existenzminimums. Diese Forderung ging einzelnen Finanzpolitikern nicht weit genug: Im Jahr 1996 wurden erstmals konkrete Vorschläge zur Abschaffung des linear-progressiven Tarifs der Einkommensteuer und zur Einführung eines Stufentarifs unterbreitet. Der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion Hermann-Otto Solms schlug Steuersätze von 15, 25 und 35 % vor, der CDU-Politiker und wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion Gunnar Uldall unterbot ihn mit 8, 18 und 28 %. Die Idee eines Stufentarifs beschäftigt die steuerpolitische Diskussion bis heute. Eine Kommission unter dem Vorsitz von Bundesfinanzminister Theo Waigel erarbeitete schließlich die „Petersberger Steuervorschläge“, die im Januar 1997 veröffentlicht wurden. Nach Meinung der Kommission sollte der linear-progressive Tarifverlauf beibehalten werden und der Spitzensteuersatz auf 39 % sinken, vor allem aber sollten weitreichende Änderungen bei der Unternehmensbesteuerung vorgenommen werden. Auf der Grundlage dieser Steuervorschläge wurde ein Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, der schließlich nach zwei Verfahren im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat an der harten ablehnenden Haltung der SPD unter der Führung ihres neuen Vorsitzenden Oskar Lafontaine scheiterte. Im Herbst 1998 standen Bundestagswahlen an. Dynamik und Reformwille waren nach dem Regierungswechsel erst einmal erlahmt, zumal die erste Regierung Gerhard Schröder andere Wahlkampfversprechen einlösen wollte und musste. Zwar mahnte eine von Bundesfinanzminister Hans Eichel eingesetzte Expertenrunde in den „Brühler Empfehlungen“ an, dass die Steuersätze für alle Steuerpflichtigen gesenkt werden müssten. Doch die Idee einer grundlegenden Reform des Einkommen- und Körper368

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schaftsteuerrechts war erst einmal wieder vom Tisch. Die Steuerpolitik der rot-grünen Koalition führte eher zu noch größerer Unübersichtlichkeit und Kurzlebigkeit des Steuerrechts. So wurde vor allem das Einkommensteuergesetz so häufig geändert, dass neue Änderungen beschlossen wurden, bevor die vorangegangenen überhaupt im Bundesgesetzblatt standen. Privatpersonen und Unternehmen hatten immer größere Schwierigkeiten, den aktuellen Stand der Steuergesetzgebung noch zu verfolgen.

II. Verstärkte Anstrengungen von Wissenschaft und Stiftungen Diese Unstetigkeit der Steuerpolitik und zugleich der mangelnde Wille zu einer grundlegenden Reform motivierte die Wissenschaft und verschiedene Stiftungen umso mehr, sich des Themas anzunehmen. In keinem anderen Rechtsgebiet hat es jemals eine vergleichbare Zahl von Initiativen aus der Wissenschaft und aus der Praxis heraus mit so viel Substanz gegeben. Die Humanistische Stiftung mit Sitz in Frankfurt/M. lobte sogar einen Betrag von 450.000 Euro für ein ausformuliertes und umsetzbares neues Einkommensteuergesetz aus. Eröffnet wurde der Reigen der Reformideen aus der Wissenschaft von einer Expertengruppe um Professor Paul Kirchhof, die im Mai 2001 mit der Vorlage eines neugefassten, übersichtlichen Einkommensteuergesetzes mit Steuersätzen zwischen 15 und 35 % für Aufmerksamkeit sorgte. Der Stufentarif war im „Karlsruher Entwurf“ in eine umsetzbare Form gegossen worden und sorgte für viel Diskussionsstoff in einem politischen Umfeld, das den Stufentarif bisher vielfach als ein bloß fiktives Modell einiger Finanzpolitiker angesehen hatte. Der „Heidelberger Steuerkreis“ um Professor Manfred Rose stellte nur ein Jahr später das Konzept einer „Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland“ vor. Tragendes Prinzip dieses Reformvorschlags war die sog. Einfachsteuer. Der Einfachsteuer sollten nur zinsbereinigte Einkünfte unterliegen. Ziel dieses eher wirtschaftswissenschaftlichen Ansatzes sollte es ausdrücklich sein, das Wirtschaftswachstum zu fördern, die Renten zu sichern und Staatsschulden abzubauen. Der Steuersatz sollte einheitlich bei 25 % festgesetzt werden. Im Juli 2003 bereicherte Professor Joachim Mitschke mit seinem Entwurf für ein neues Einkommensteuergesetz die Diskussion und gewann mit seinem Reformvorschlag den oben genannten Wettbewerb der Humanistischen Stiftung. Bei natürlichen Personen sollten nach seinem Entwurf lediglich die konsumierten Teile des Einkommens zu besteuert werden. Die nicht verbrauchten Teile hingegen sollten erst am Lebensende versteuert werden. Bei Unternehmen und freien Berufen würden nur die Entnahmen und Gewinnausschüttungen besteuert (Steuersatz 30 %). Professor Michael Elicker legte Mitte 2004 das Konzept einer proportionalen Netto-Einkommensteuer vor, ein Konzept, das hinter dem Mitschke-Entwurf den zweiten Platz beim Wettbewerb der Humanistischen Stiftung gewann. 369

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Elicker hat sich vor allem mit der steuerlichen Bemessungsgrundlage befasst und Anleihen genommen bei der Umstellung der Mehrwertsteuer im Jahr 1967/68 von der Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer auf eine am Nettoprinzip orientierte „Mehrwert“steuer. Allen vorgenannten Reformvorschlägen aus der Wissenschaft war gemeinsam, dass von den Autoren jeweils ein radikaler Neuanfang des Einkommensteuerund Körperschaftsgesetzes verlangt wurde mit zum Teil vollkommen neuen Grundprinzipien der Besteuerung von Einkommen und Gewinnen. Dagegen orientierte sich der „Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes“, der im Februar 2005 von Joachim Lang und seiner Arbeitsgruppe an der Kölner Universität der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, an den bestehenden Grundstrukturen des Einkommensteuerrechts und forderte eine konsequente Rückbesinnung auf eben diese Grundstrukturen. Bereits ein Jahr zuvor war Joachim Lang – nicht zuletzt aufgrund seiner überragenden wissenschaftlichen Arbeiten zur Systematisierung des Steuerrechts und als Verfasser und Herausgeber der wohl umfangreichsten Literatur auf diesem Gebiet – zum Vorsitzenden der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft berufen worden. Paul Kirchhof hatte inzwischen den „Karlsruher Entwurf“ konkretisiert und um die Einführung der Rechtsfigur einer „Steuerjuristischen Person“ erweitert. Sein neues Einkommensteuergesetzbuch integrierte außerdem die Körperschaftsteuer in die Einkommensteuer. In seiner Konzeption gab es fortan auch keinen Stufentarif mehr, sondern nur noch einen linearen einheitlichen Steuersatz von 25 %. Progressionselemente sollten über Freibeträge sozial gerecht integriert werden. Dieses Konzept erreichte eine breite Öffentlichkeit auch deshalb, weil Paul Kirchhof im Bundestagswahlkampf 2005 als Anwärter auf das Amt des Bundesfinanzministers in das Wahlkampfteam der Kanzlerkandidatin der Union berufen wurde und seine steuerpolitischen Vorschläge daher einer besonderen Prüfung durch die Medien und vor allem durch die politische Konkurrenz unterzogen wurden. Im Mittelpunkt der Kritik stand dabei nicht der systematische Ansatz seines Konzepts, sondern vor allem die von ihm in bester Hayek’scher Tradition geforderte „flatrate“ von 25 %. Es gelang Kirchhof (dem „Professor aus Heidelberg“) und der Union nur teilweise, die darum geführte Gerechtigkeitsdebatte politisch zu gewinnen. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage hatte sich in die steuerpolitische Diskussion eingeschaltet und auf die Probleme im Steuerrecht in ungewöhnlich klarer Sprache („Steuerpolitik: Vom Chaos zum System“) hingewiesen. Im Herbstgutachten 2003 mahnte auch er eine grundlegende Neuordnung an und machte sich das Konzept einer Dualen Einkommensteuer zu Eigen. Die größte Aktualität aller Reformvorschläge – auch im Sinne einer fachlichen Beratung der Bundesregierung – dürfte bis heute der Entwurf eines Einkommensteuergesetzbuches der Stiftung Markwirtschaft besitzen. Die Stiftung Marktwirtschaft begann ihre Arbeiten in der „Kommission Steuergesetzbuch“ bereits im Juli 2004 und stellte das Ergebnis im Jahr 2008 vor. Joachim Lang war als Vorsitzender der Gesamtkommission zugleich Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Einkommensteuer und Abgabenordnung“. Aktive Politiker haben der 370

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Kommission nicht angehört, ihr gleichwohl in einem Beirat, bestehend aus je einem Vertreter der CDU, der CSU, der SPD, der FDP und der Grünen, mit Hinweisen zur politischen Praktikabilität und Durchsetzbarkeit zur Seite gestanden. Ich habe durch meine Mitwirkung in diesem Beirat und durch die Entwicklung der internationalen steuerpolitischen Diskussion gelernt, dass meine im Jahr 2003 von der CDU auf ihrem Bundesparteitag in Leipzig beschlossenen Steuerreformvorschläge in einem entscheidenden Merkmal heute nicht mehr realisierbar sein würden: Wir waren im Jahr 2003 noch davon ausgegangen, dass bei Fortbestand des Einkommensteuerrechts und des Körperschaftsteuerrechts in der bisherigen Form eine annähernde Belastungsgleichheit zwischen dem Steuersatz für persönliche Einkünfte aller Art und für die Gewinne der Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform erreichbar sei. Dies hat sich im Lichte der Entwicklung der letzten Jahre als unrealistisch erwiesen. Heute und für die Zukunft müssen deutliche Unterschiede gemacht werden zwischen der Besteuerung der persönlichen Einkünfte und der Gewinne aus unternehmerischer Tätigkeit, so schwierig im Einzelfall die Abgrenzung auch sein mag. Der Wettbewerb um Unternehmensstandorte ist zunehmend auch ein Wettbewerb um die besten steuerlichen Rahmenbedingungen. Belastungsgleichheit zwischen privaten Einkünften und Unternehmensgewinnen lässt sich heute nicht mehr erreichen, in Deutschland nicht, und auch andernorts nicht, zumal in sehr vielen Ländern der OECD bereits seit langem unterschiedliche Steuerregime für die persönlichen Einkünfte und für Unternehmensgewinne gelten.

III. Ansprüche an ein modernes, wettbewerbsfähiges Steuerrecht Damit wird klar, welchen Ansprüchen ein modernes und wettbewerbsfähiges Steuerrecht heute genügen muss: Es muss einfach und verständlich sein. Das geht nur, wenn es sich an grundlegenden Strukturprinzipien und nicht an dem Wunsch nach Einzelfallgerechtigkeit orientiert. Und es muss ein aufeinander abgestimmtes, aber trotzdem getrenntes Steuerrechtsregime für persönliche Einkünfte und für Unternehmensgewinne schaffen. Der Wunsch nach einem einfachen und verständlichen Steuerrecht, der vor allem von den steuerpflichtigen Bürgern, weniger von den Unternehmen geäußert wird, ist vollkommen verständlich. Allerdings gehört zur Redlichkeit dazu, keine Erwartungen über das objektiv mögliche Vereinfachungspotential hinaus zu wecken. Die CDU hatte in Leipzig ebenfalls einen Stufentarif von 12, 24 und 36 % beschlossen und damit den Vereinfachungsgedanken unterlegt. Die Steuererklärung sollte vor allem verfahrenstechnisch stark vereinfacht werden. Ich werde aus meiner Parteitagsrede in Leipzig überwiegend mit der Formulierung zitiert, das Steuerrecht müsse wieder so einfach werden, dass die „Steuerklärung auf einen Bierdeckel passt.“ So hat wohl auch Klaus Tipke meine Rede in Erinnerung, wenn er sie als „ebenso spektakulär wie unseriös“ kritisiert und mir schon damals gern einen Karnevalsorden dafür gegönnt hätte. Dabei hatte ich in Leipzig nicht mehr und nicht weniger von 371

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einer Steuerreform verlangt, als dass das Einkommensteuerrecht wieder so einfach werden müsse, dass der normale Steuerbürger seine „Steuerschuld auf einem Bierdeckel ausrechnen“ kann. Und genau darin liegt auch der Anspruch, den eine Steuerreform erfüllen muss. Denn die Bevölkerung möchte das Recht wieder verstehen und nachvollziehen können, sie möchte vor allem im Steuerrechtsverhältnis bei aller Unvermeidlichkeit der Belastung erkennen, wie hoch die Steuern sind, die der Staat von ihm erwartet, worin der Besteuerungsgrund liegt und dass der Staat zugleich das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung beachtet. Das kann die Metapher mit dem Bierdeckel eben populär ausdrücken. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt diese politische Rhetorik natürlich nicht, und das sollte sie auch nie. Der weiterreichende Reformimpuls des von der Stiftung Marktwirtschaft vorgelegten Steuergesetzbuches liegt darin, dass nunmehr erstmalig auf der Grundlage der bestehenden und bewährten Steuerstrukturprinzipien, wie z. B. des Zuflussprinzipes und des Nettoprinzipes, ein in Gesetzessprache ausformulierter und ausführlich begründeter Vorschlag vorgelegt wurde, der die Individualbesteuerung von der Unternehmensbesteuerung trennt. Ansonsten verzichtet die Stiftung auf durchgreifende Systemänderungen, sie schlägt weder eine zinsbereinigte Einkommensteuer noch die vom Sachverständigenrat einst bevorzugte Duale Einkommensteuer vor. Sie bleibt beim synthetischen Einkommensbegriff und knüpft an bestehendes Recht und die eingeführte Terminologie an. Der größte Vorteil des Stiftungsvorschlages allerdings liegt in der modularen Aufteilung in aufeinander abgestimmte Schritte, die auch zeitlich gestreckt umsetzbar bleiben.

IV. Reform der Gewerbesteuer Der entscheidende erste Schritt hin zu einer solchen Reform liegt in der Beseitigung der bisherigen Form der Gewerbesteuer. Die Gewerbesteuer blockiert jede Ertragsteuerreform, da schon kleine Änderungen sowohl des Körperschaftsteuerrechts als auch des Rechts der Einkommensteuer große Veränderungen im fein austarierten System der Belastung der Steuerpflichtigen und der Zahlungsströme zwischen den Gebietskörperschaften nach sich ziehen. Dieser Effekt liegt vor allen Dingen darin begründet, dass die Gewerbesteuer zum großen Teil von der Einkommensteuer abzugsfähig ist, und ihre Wirkung damit bei einkommensteuerpflichtigen Unternehmen gering ist. Bei körperschaftsteuerpflichtigen Unternehmen ist die Gewerbesteuerlast aber mittlerweile höher als die der Körperschaftsteuer, von der die Gewerbesteuer auch nicht abzugsfähig ist. Steuersystematisch hat die Gewerbesteuer damit eine vollkommen unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, ob es sich um ein einkommensteuerpflichtiges Personenunternehmen oder um eine körperschaftsteuerpflichtige Kapitalgesellschaft handelt. Das kann so nicht bleiben, wenn es einen weiteren, zielorientierten Versuch geben soll, das deutsche Ertragsteuerrecht insgesamt zu reformieren. „If you are in trouble, reduce complexity“ – diesem Grundsatz folgend schlägt die von Joachim Lang geführte Kommission Steuergesetzbuch daher zuvörderst 372

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eine Neuordnung der Kommunalfinanzen vor, mit der die Gewerbesteuer als die wichtigste, wenn auch unstetige und ungleichmäßig erhobene Steuer der Gemeinden ersetzt wird durch eine auf vier Säulen ruhende, stabile Struktur der kommunalen Steuereinnahmen, die zugleich die Selbstverwaltung der Gemeinden dauerhaft sichern. Diese vier Säulen sollen bestehen aus einer neuen Grundsteuer mit Hebesatzrecht, aus einer kommunalen Einkommensteuer als neuer Bürgersteuer und einer kommunalen Unternehmensteuer, beide ebenfalls mit Hebesatzrecht ausgestattet, sowie einer zusätzlichen Beteiligung der Gemeinden am Lohnsteueraufkommen. Dieses Konzept klingt umfassender und neuartiger als es in Wirklichkeit ist, denn schon bisher gibt es die Grundsteuer, und die Gemeinden sind auch heute schon an der Einkommensteuer i. H. v. 12,5 % des Aufkommens beteiligt. Die Ausgliederung des kommunalen Einkommensteueranteils aus dem Steuerverbund und die Zuweisung dieses Anteils an die Gemeinden mit eigenem Hebesatzrecht, das es konzeptionell ebenfalls bereits gibt und das in Art. 106 Abs. 5 GG auch verfassungsrechtlich schon vorgesehen ist, verlangt von den Gemeinden allerdings die Bereitschaft, kommunale Selbstverwaltung nicht nur auf der Ausgabenseite, sondern umfassend auch auf der steuerlichen Einnahmeseite allen Gemeindebürgern gegenüber wahrzunehmen. In dieser Bereitschaft liegt der Glaubwürdigkeitstest für die Gemeinen und ihre Verbände, wenn es darum geht, kommunale Selbstverwaltung auf Dauer zu sichern! Die Bundesregierung hat den Gedanken einer Reform der Kommunalfinanzen als erstem Baustein einer später weit umfassenderen Reform des gesamten Ertragsteuersystems nun nachvollzogen in der Einsetzung einer Kommission zur Neuordnung der Gemeindefinanzen. Diese Kommission hat Anfang März 2010 ihre Arbeit aufgenommen, sie soll schon bis zum Jahresende 2010 einen Abschlussbericht fertigstellen. Kritiker werden einwenden: Schon wieder eine Kommission und keine konkreten Ergebnisse! Aber eine solche Kritik erscheint in diesem Falle nicht gerechtfertigt. Wenn die Bundesregierung offenbar bereit ist, erstmals seit langer Zeit konkret über den Ersatz der Gewerbesteuer und eine neue, an den objektiven Notwendigkeiten orientierte Finanzausstattung der Gemeinden ernsthaft nachzudenken, dann ist der erste und vielleicht entscheidende Schritt unternommen. Es ist sicher zutreffend, dass Steuerreformen in Deutschland zu lange dauern und im Ergebnis fast immer halbherzig und unbefriedigend geblieben sind. Dies gilt insbesondere für den Anspruch, das Steuersystem zu vereinfachen. Aber die Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft hat gerade mit ihrem Verzicht auf den ganz großen Wurf und mit ihrem pragmatischen, auch in Schritten umsetzbaren Vorschlag die lösungsorientierte Politikberatung geleistet, die man sich von der Wissenschaft und von der Praxis wünschen darf. Vielleicht zahlen sich die Geduld der Autoren und Mitwirkenden der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft, insbesondere die des Vorsitzenden und jahrzehntelangen Streiters für Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung, jetzt wirklich aus. Es wäre vermutlich das schönste Geschenk zum 70. Geburtstag für Joachim Lang!

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Steuerrechtsordnung und Gesetzgebung – ein Widerspruch? Zu Politikberatung und Reformarbeit der Kommission „Steuergesetzbuch“

Inhaltsübersicht I. Steuersystem oder eher Steuerchaos? II. „Große Würfe“ und kleines Karo III. Von Reformhindernissen, Vetospielern und hilfreichen Krisen

IV. Ein erfahrungsbasierter neuer Anlauf: Die Kommission „Steuergesetzbuch“ V. 6 Jahre Kommissionsarbeit – ein erstes Fazit

I. Steuersystem oder eher Steuerchaos? 262 vor Christus sagte Senator Casparius zur Steuerreform des Finanzministers Scaefarius unter Kaiser Hadrian: „Zu loben ist diese deine Steuerreform vor allen Steuerreformen, die da waren, sind oder kommen werden. Sie ist modern, gerecht, erleichternd und kunstvoll. Modern, weil jede der alten Steuern einen neuen Namen trägt. Gerecht, weil sie alle Bürger des römischen Reiches gleich benachteiligt. Erleichternd, weil sie keinem Steuerzahler mehr einen vollen Beutel lässt. Kunstvoll, weil in vielen Worten versteckt wird, … dem Bürger zu nehmen, was des Bürgers ist.“ Von einer Ordnung des Steuerrechts oder der Steuerpraxis war bezeichnenderweise keine Rede. Umso deutlicher wird dagegen, dass ein Steuersystem oder im konkreten Fall eine Steuerreform aus der Sicht und den Interessen des Staates definiert wird. An beidem hat sich im unheiligen Steuerreich bundesdeutscher Komplexität so wenig geändert wie an dem Verständnis von politischer Kunstfertigkeit. Nur mit der Gerechtigkeit verhält es sich in der zweiten deutschen Republik anders als im römischen Reich: Gerechtigkeit scheint im 21. Jahrhundert das deutsche Staatsziel schlechthin zu sein – auch wenn jeder etwas anderes darunter versteht. „Gerechtigkeit“ soll mit dem Steuersystem erreicht werden, z. B. durch das insgesamt durchaus funktionierende Umverteilungsinstrument der Progression in der Einkommensteuer. Gerechtigkeit innerhalb des Steuersystems ist dagegen offensichtlich kaum ein Thema. Über Jahrzehnte hinweg hat sich in Deutschland eine Art Steuerordnung des 21. Jahrhunderts herausgebildet, die ungefähr so aussieht: Viele Gutverdiener und Vermögende haben Vertrauen in Rechtssicherheit und Schutz der Privatsphäre verloren, sie nutzen die Vorteile der Globalisierung und entziehen sich dem Zugriff des deutschen Staates. Dieser wiederum entlässt die vermeintlich „Kleinen“, nämlich 375

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immer größere Teile der Bevölkerung am unteren Rand der Einkommensskala, über höhere Freibeträge aus der Einkommen-Steuerpflicht. Das ist immer populär, und gewählt wird immer irgendwo. Die stete Ausweitung der Freibeträge führt aber auch dazu, dass viele Bürger den Staat nur noch als Goldesel wahrnehmen. Und wenn in Umfragen inzwischen über 50 % der repräsentativ Befragten Einkommensteuersenkungen ablehnen, kann das nicht überraschen, weil ja nur noch eine Minderheit der Deutschen überhaupt Einkommensteuer zahlt. Diese wird dann aber gleich richtig zur Kasse gebeten: Die Rede ist von den abhängig Beschäftigten aus der gesellschaftlichen Mitte mit höchst transparenten Einkommensverhältnissen, geringen Steuergestaltungsmöglichkeiten, ansehnlichem Brutto wie frustrierendem Netto, geschröpft noch durch die „kalte Progression“ und den vorschnell erreichten Spitzensteuersatz, aber chloroformiert durch das trügerisch gute Gefühl, irgendwo auch einen kleinen Steuervorteil zu haben – z. B. in Form der Pendlerpauschale. Wenn das für alle verständlich wäre, politisch so trotzdem mehrheitsfähig und im Verfahren effizient organisiert würde, beklagte sich indes kaum jemand. Leider sieht die Realität anders aus. Viele Ergebnisse des „Steuerns mit Steuern“ sind so unbefriedigend wie die unmittelbaren und mittelbaren Kosten hoch. Die Zahl der geführten Prozesse ist Legion, die Unübersichtlichkeit der Sonderregelungen im deutschen Steuerrecht fast legendär, der Verlust an Systematik und Transparenz nicht zu bestreiten: Niemand hat all dies eindrucksvoller verdeutlicht als Joachim Lang. Er blieb allerdings nicht bei der Diagnose stehen, sondern unterbreitete über Jahrzehnte hinweg unablässig konkrete Therapie-Vorschläge, von der Brühler Kommission in den 1990er Jahren bis zur Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft 2004–2010.

II. „Große Würfe“ und kleines Karo Auf einen ersten Eindruck hin scheint man mit solchen Vereinfachungsvorschlägen in Deutschland offene Türen einzurennen. Die stets kolportierte Angabe, dass 80 % der weltweiten Steuerrechtsliteratur in deutscher Sprache verfasst seien, ist zwar nicht zu belegen und auch fragwürdig, gleichwohl hat es ja einen guten Grund, wenn Deutsche, die beispielsweise das Stichwort „Bierdeckel“ vernehmen, weniger an den berauschenden Konsum profanen Alkohols denken als an die belebende Hoffnung auf Steuer-Vereinfachung! Dass insbesondere im Bereich der Einkommensteuer gleichwohl viele gute Anregungen zu Vereinfachung und zu Neuordnung, dass selbst in anderen Ländern erfolgreich aufgegriffene Konzepte Joachim Langs in Deutschland weitgehend ohne konkrete Folgen blieben, hat viel mit der Ängstlichkeit von Politik, viel mit ihrem Unwillen zu überzeugender Kommunikation und besonders viel mit einer gewissen Schizophrenie des deutschen Durchschnittsbürgers zu tun: Die Verärgerung über die Komplexität des Systems und die Wochenenden, die mit Zettelsammlungen und unverständlichen Formularen verbracht werden, mündet leicht in große Euphorie z. B. für „große Würfe“ wie Flat Tax und den „Bierdeckel“. Diese jedoch lässt schnell nach, wenn klar wird, dass im Gegen376

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zug Steuervergünstigungen entfallen sollen. Dabei ist eigentlich leicht nachzuvollziehen, dass beispielsweise die Pendlerpauschale, steuerfreie Sonn-, Nacht- und Feiertagszuschläge sowie die Übungsleiterpauschale und vieles andere mehr nicht auf einen Bierdeckel passen. Die letzte umfassende Steuerreform in Deutschland hatte Matthias Erzberger mit der Reichsabgabenordnung von 1919 und dem Einkommensteuergesetz von 1920 durchgesetzt. Zugrunde lagen klare Grundsätze: Steuergerechtigkeit bedeutete für Erzberger, „jeden nach seiner Leistungsfähigkeit“ zu erfassen. Der damalige Vorbildcharakter des deutschen Steuerrechts ist schon lange verloren: Die Systematik und Klarheit der Erzbergerschen Gesetze wurde immer weiter verwässert und konterkariert. In einem knappen Jahrhundert ist seitdem viel am deutschen Steuerrecht herumgebastelt worden – meist zum Schlechteren. Eine grundlegende Wende zum Besseren gelang nicht, obwohl es an erfolgversprechenden Versuchen wahrlich nicht mangelte. Nicht nur die Bemühungen der Brühler Kommission in den 1990er Jahren, auch die Ansätze von Manfred Rose, Paul Kirchhof, ein weiteres Mal Joachim Lang mit dem „Kölner Entwurf“ und der „Bierdeckel“ von Friedrich Merz, die alle in dieser Publikation an anderer Stelle eingehender beschrieben werden, kamen nicht ans Ziel. Für Entwürfe, die sich ganz auf strukturelle Verbesserungen konzentrierten, fehlte es an öffentlichem Interesse, weil nur breite Diskussionen auszulösen scheint, was „BILD-Zeitungsfähig“ ist: Also Zahlen und Tarife. Debatten über den Drei-Stufen-Tarif des Bundestagsabgeordneten Gunnar Uldall in den 1990er Jahren oder über die drei bis fünf Stufen der FDP 2009/2010 faszinieren, obwohl sich eigentlich herumgesprochen haben müsste, dass um Tariffragen zwar das laute Getöse gemacht wird, die Musik aber in der Bemessungsgrundlage spielt. Systematischer angelegte Entwürfe, die auch die von den Medien als Reibungspunkte geliebten Steuer-Sätze beinhalteten, scheiterten dann an anderen Hürden: Die Flat Tax stößt sich mit der in Deutschland mehrheitlich verbreiteten Auffassung von „Gerechtigkeit“, da hilft in einem immer kirchenferneren Land auch der Hinweis auf den biblischen Zehnten wenig. Der „Bierdeckel“ wiederum war so weitsichtig, präzise und eingängig wie – als Oppositionskonzept – politisch chancenlos. Das Exempel des Bundestagswahlkampfs 2005 bzw. die verkürzte Interpretation des Wahlausgangs hat zudem zumindest auf der bürgerlichen Seite des Parteienspektrums für ein Trauma und eine tief verankerte Aversion gegen Steuerstrukturreformen gesorgt. Die Zeit der „großen Würfe“ schien vorbei, ohne dass je einer davon die Chance bekommen hätte, seine Praxistauglichkeit unter Beweis zu stellen. Vielleicht aber gibt es doch noch Raum für den großen Wurf – als Sammlung kleinerer, behutsamer Schritte, die aber in die richtige Richtung führen und Teil eines Gesamtkonzepts sind. Vielleicht kann man sogar nur dann erfolgreich Steuerreformen zum Abschluss bringen, wenn sie jenseits der Tagespolitik und großer Aufgeregtheit konzipiert und durchgerechnet worden sind. Aus 377

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vielen abgebrochenen Bemühungen in der Geschichte der Bundesrepublik wie aus dem Verlauf und der Schnelligkeit der Erzbergerschen Reformen könnte durchaus, erstens, der Schluss gezogen werden, dass die Realisierungschancen von Reformvorschlägen umgekehrt proportional zur von ihnen erreichten öffentlichen Aufmerksamkeit steigen. Und, zweitens: Dass Krisenzeiten Reformzeiten sind. Matthias Erzberger verband fiskalische Ziele – im Gegensatz zu heutigen Diskussionen eher dasjenige der Einnahmeerhöhung – mit strukturellen Veränderungen und setzte seine Neuerungen vor der Drohkulisse zerrütteter Staatsfinanzen ins Werk. Ganz ohne Krieg und Reparationen ist dieser Zustand in der Bundesrepublik 2010 auch erreicht. Der fiskalische, aber vor allem der steuersystematische Leidensdruck bleibt groß und wächst weiter. So gehört Steuervereinfachung nach wie vor zum deklaratorischen Pflichtenheft eines jeden Wahlprogramms und jeder Koalitionsvereinbarung. Jede Bundesregierung seit den 1980er Jahren ist mit dem Anspruch der Steuervereinfachung gestartet. Jede hat am Ende ein insgesamt noch komplizierteres System hinterlassen. Was immer im deutschen Steuerrecht verändert wurde: Weitere Komplexität und Intransparenz sind die Folge der Überfrachtung des Steuerrechts mit politischen und ökonomischen Zielen – Steuern mit Steuern – wie überhoher Erwartungen an Einzelfallgerechtigkeit. Auch die Große Koalition mit ihrer erdrückenden Bundestagsmehrheit hat weniger ihre Gestaltungschancen auf breiter gesellschaftlicher Basis genutzt als vielmehr im Einkommensteuerrecht, bei der Unternehmensbesteuerung und bei der Gewerbesteuer die Komplexität sogar noch erhöht. Die Herangehensweise an die Unternehmensteuerreform 2008 sprach Bände: Definiert wurde diese weniger über systematische Kriterien oder strukturelle Erfordernisse als über die Summe, die dafür im Jahr aufgewendet werden durfte – 5 Mrd. Euro, genauso viel wie zwei Jahre später, wenigstens nur einmalig, für die sog. „Abwrackprämie“. Unterstrichen wurde mit diesem Vorgehen zugleich eine implizite Kapitulationserklärung der Politik: Steuerreformen, wird defensiv und in vorauseilender Selbstaufgabe angenommen, seien nur dann möglich, wenn sie mit Entlastungen, sprich, Geschenken verbunden seien. So einfach wird es sich keine Regierung in Zukunft mehr machen können: Den Satz weiter zu bejahen, hieße angesichts der Lage der öffentlichen Haushalte und der ab 2011 wirkenden „Schuldenbremse“, Steuerreformen jeder Art in Deutschland für strukturell unmöglich zu erklären. Ihre Zusagen hat die Große Koalition jedenfalls nicht eingehalten. Wörtlich hieß es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung aus Union und SPD 2005 bis 2009: „Wir stimmen darin überein, das Einkommensteuerrecht zu vereinfachen, um mehr Transparenz, Effizienz und Gerechtigkeit zu erreichen“. Schöner kann man kaum ausdrücken, dass Vereinfachung, Transparenz, Effizienz und Gerechtigkeit zusammenhängen. Oder umgekehrt: Verkomplizierung hat nichts mit Transparenz und Effizienz zu tun und auch wenig mit Gerechtigkeit: Vermeintlich beglückende steuerliche Sondertatbestände für jeweils einige führen am Ende zu unbefriedigenden Ergebnissen für alle.

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Steuerrechtsordnung und Gesetzgebung – ein Widerspruch?

Einen höchst unglücklichen Start hat trotz verbal klarer Vereinfachungsbeschwörungen 2009/2010 die neue christlich-liberale Bundesregierung hingelegt. Jenseits der Bekenntnisse in der Koalitionsvereinbarung war der erste Gesetzgebungs-Schritt der neuen Regierung das sog. „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ zum 1.1.2010 – dabei die Aufnahme der Hotels in den Katalog der vom ermäßigten Mehrwertsteuersatz Begünstigten. Dieser politisch unkluge, inhaltlich fragwürdige und zudem für den Bundeshaushalt belastende Beschluss müsste nicht über Gebühr bewertet werden, stünde er nicht für einen offensichtlich strukturell angelegten Widerspruch zwischen Gesetzgebung nach vermeintlichem Wählerinteresse und Steuerrechtsordnung. Wie will man in einer Wahlperiode Steuervereinfachung erreichen, wenn der Auftakt darin besteht, eine weitere Ausnahme zu beschließen? Was wohl wird jedem Versuch, Vergünstigungen abzubauen und zu pauschalieren, entgegengehalten werden? Dieser Schritt und noch mehr seine Begründung, nämlich der Verweis auf 22 von 27 EU-Ländern, die für Hotels einen gesenkten Mehrwertsteuersatz vorsehen, zeigt das ganze Elend der Debatte: Gedacht wird nicht vom System aus, sondern vom Einzelfall. Dies führt zum steuerpolitischen Rosinenpicken: Innerhalb jeder einzelnen Steuerart und für jedes betroffene Steuersubjekt lässt sich irgendwo auf der Welt ein Land oder auch mehrere davon finden, wo die jeweilige punktuelle Belastung geringer ausfällt. Damit werden dann entsprechende Forderungen begründet, die den Gesamtzusammenhang sowohl des Steuersystems, der Steuergerechtigkeit und auch der Belastung insgesamt übergehen.

III. Von Reformhindernissen, Vetospielern und hilfreichen Krisen Im Gegensatz zu Deutschland haben zahlreiche andere Demokratien westlichen Zuschnitts in den 1990er und 2000er Jahren umfassende Reformen und Modernisierungen erreicht, sowohl im Bereich der Besteuerung als auch in den sozialen Sicherungssystemen: Sie zahlen sich aus u. a. für die Vereinigten Staaten von Amerika, für Australien, Neuseeland, Großbritannien, die Niederlande und besonders die früher angeblich so beharrungsfreudigen skandinavischen Staaten. Süd-, mittel- und osteuropäische junge Demokratien haben den Schwung des Umbruchs nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und zum Teil auch den Rat von Joachim Lang genutzt. Das vereinte Deutschland hat dagegen neben vielem Guten auch einiges Überholte vom Westen auf den östlichen Teil übertragen. Und während andernorts Dynamik, Wachstum und neue Wohlfahrt durch schlüssige wie entschlossene Steuer-Reformschritte gefördert werden, vergibt Deutschland in diesem Bereich Chancen oder erschöpft sich gar in Verteidigungsschlachten um Besitzstände wie die steuerfreien Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschläge oder die Gewerbesteuer. Es gibt viele Gründe dafür, dass es in Deutschland besonders schwierig ist, Veränderungen in Strukturen zu erreichen – vor allem dann, wenn sie wie das Steuersystem viele Menschen betreffen:

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– Eine Art „Nationalcharakter“ und die politische Kultur sind in Deutschland durch das Streben nach Perfektion und Einzelfallgerechtigkeit gekennzeichnet. Beides zusammen führt zu der verhängnisvollen Mischung von quasireligiöser Sehnsucht nach großen Würfen und der perfekten Steuer-Welt auf der einen und der Blockade jedes konkreten kleineren Schrittes auf der anderen Seite. Typisierung und Pauschalierung beispielsweise als effektive Vereinfachungsmittel scheiden aus, wenn für jeden Einzelfall und jedes Einzelinteresse eine rundum passende Lösung gefunden werden soll. Dass aus dem Bestreben nach Einzelfallgerechtigkeit mittels vieler Ausnahmen, Sonderregelungen, Abgrenzungen am Ende Ungerechtigkeit für die meisten bei gleichzeitig überhohen Administrationskosten und Streuverlusten wird, beginnt sich erst langsam herumzusprechen. – 1948, als die „soziale Marktwirtschaft“ mit der Währungsreform ausgerufen wurde, lagen noch Städte und Betriebe in Trümmern und Menschen hungerten. Das Wort „Reform“ wurde mit Chance übersetzt – es konnte ja nur besser werden. In der saturierten Wohlstandsgesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts, in der selbst die relativ Ärmeren oder arm Gerechneten im internationalen Vergleich materiell nicht nur mit dem Lebensnotwendigen, sondern auch dem Nötigsten versorgt sind, geht die Veränderungsbereitschaft eher gegen Null. Angesichts des auch in den Mittelschichten verbreiteten Unkens, das Land habe seinen Zenit womöglich überschritten und die guten Jahre seien vorbei, erscheint der Begriff „Reform“ als Bedrohung, als Synonym für Kürzung, Abbau, Streichung, Flexibilisierung alias Unsicherheit. – Die Aversion gegen Veränderungen trägt zur Bewahrung von noch so offensichtlichem Unfug und Missbrauch bei, der sich nicht nur über sechs bundesrepublikanische Jahrzehnte im Steuersystem angesammelt hat. Ein Paradebeispiel dafür ist die 1940 von den Nationalsozialisten eingeführte Steuerfreiheit von Sonn-, Nacht und Feiertagszuschlägen. Als während des „Frankreich-Feldzugs“ viele Männer in Feldgrau steckten, viele Frauen aber aus Sicht der Machthaber wenig Enthusiasmus für die Kriegsproduktion an Wochenenden, Sonn- und Feiertagen zeigten, wurde dies mit der Steuerfreiheit für entsprechende Zuschläge versüßt. 65 Jahre nach Ende des Krieges, im Bundestagswahlkampf 2005, hatte sich die Waffenproduktion zum Glück erübrigt, scharf geschossen wurde gleichwohl: Der erbitterte Kampf um die Steuerfreiheit wurde geführt, als ginge es um das Leben aller Krankenschwestern und Drucker. Eine sachliche Debatte darüber, dass niemand den Krankenschwestern die höhere Vergütung z. B. der Wochenendarbeit nehmen wolle, dies aber der Arbeitgeber zu zahlen habe, war nicht möglich. Der Ausgang ist bekannt, die dramatisch geschrumpfte Neigung der Politik, dieses Thema endlich anzugehen, auch. – Die Mühle des Föderalismus zerschredddert noch jeden Veränderungsansatz. Schon für den Bundestag gilt das Strucksche Gesetz: Kein Gesetz verlässt das Parlament so, wie es als Entwurf eingespeist wurde. Das ist in demokratischer Hinsicht auch gut so. Anschließend folgt aber noch das Exe380

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kutivorgan Bundesrat, in dem Landesregierungen, eben nicht Landtage, sich oft weniger als Mitspieler in der Bundesgesetzgebung denn als Parteiinstrumente oder Regionalinteressenwahrer sehen. Da bekanntlich der Spaß und die Freundschaft aufhören, wenn es ums Geld geht, sind Mehrheiten für über den Tag hinausführende Lösungen nur schwer erreichbar. Im Zusammenspiel mit dem Bundesrat und bei dem Spiel über Bande von Bundestagsopposition, Bundesratsmitgliedern und jeweils veränderungsaversen Interessengruppen sind so viele Minenfelder und Schützengräben angelegt, dass selbst ein umsichtiger Reformer leicht auf die falsche Stelle tritt. – Und als ob dies nicht genug wäre, treten dann noch andere Vetospieler des Korporatismus dazu. Oft als Quelle sachdienlichen Know-hows, zuweilen auch erfolgreich in ihrer Bündelungsfunktion, legitim als Wahrer von Interessen, aber gelegentlich eben als Verfechter isolierter repräsentativer Gruppeninteressen über viele Ziele hinausschießend. Die deutsche, manchmal im Hinblick auf den sozialen Frieden vorteilhafte, oft aber lähmende Ausprägung des Korporatismus ist oft kritisiert worden. Sie wird vor allem dann und besonders im Fall von angestrebter Steuervereinfachung zum Problem, wenn kleine, aber schlagkräftige Funktionseliten ihre Interessen weniger öffentlich vertreten als Besitzstände oder neue Begünstigungen durch Intransparenz verschleiern. – Wer sich für eine Verbesserung oder Wiederherstellung der Steuerrechtsordnung einsetzt, hat, wie die Ordnungspolitik, generell einen schweren Stand. Viele Menschen haben verdrängt, was soziale Marktwirtschaft bedeutet. Nur langsam gerät wieder ins Blickfeld, dass das Wirtschaftwunder und der nachkriegsdeutsche Wohlstand neben dem Fleiß der Menschen und dem Einfallsreichtum von Unternehmern auch viel mit Ordnungspolitik zu tun hatte: Haftung und Risiko, starker Staat als Schiedsrichter, nicht als Mitspieler, ein transparentes Steuersystem, das Leistungsanreize setzt und ein Sozialsystem, das in Notfällen Hilfe möglichst zur Selbsthilfe garantiert. Unsere „soziale Marktwirtschaft“ gilt zu Recht als Exportartikel und wird im Ausland oft als Vorbild gesehen. In Deutschland scheint der Fokus dagegen einseitig ausgerichtet auf ihre Umverteilungs- und Befriedungsmechanismen, während die Leistungsseite und die Grundprinzipien eher außer Acht geraten sind. – Ordnungspolitik oder besser eine langfristige Ausrichtung bzw. Optimierung der Politik und des staatlichen Mitteleinsatzes, um das Modewort „Nachhaltigkeit“ nicht als erstes zu nennen, hat nur wenig Unterstützer in der Praxis. Der am Ende fast immer weit höhere Preis, der für die Verletzung von Ordnungsprinzipien zu zahlen ist, fällt in der Regel erst in ferner Zukunft an und bleibt in der Gegenwart intransparent. Der Nutzen ordnungspolitischer Sünden für die jeweilige Klientel dagegen ist schnell und konkret sichtbar – eine übergroße Versuchung für die Politik und ständige Gefahr für ein Steuer„system“, das seinen Namen verdient. Gleiches gilt für die Magie der „Zehn-Punkte-Programme“: Politik will immer etwas tun und vorweisen, dabei wäre es gerade im Steuersystem und im Interesse von 381

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Planbarkeit und Rechtssicherheit günstiger, einfach auch einmal nichts zu tun. – Erschwerend hinzu kommt eine gewisse allgemeine Besinnungslosigkeit, forciert durch das gewachsene Kommunikationstempo und den subjektiv empfundenen Kommunikations- und Handlungsdruck mit täglichen Umfragen, Mobiltelefonen, Politikern als Nachrichten- oder SMS-Junkies. Ein auf die jeweils nächsten fünf Minuten bzw. die Internetpräsenz der nächsten Stunde oder auf das Presse-Echo des Folgetages ausgerichtetes Regierungshandeln lässt kaum mehr Zeit zur Besinnung auf Ziele und zum Nachdenken über die Methoden: Die Verlautbarung kommt vor der Klärung. Nur mehr „auf Sicht fahren“ heißt schnell, sich im kleinen Kreis drehen: Der Weg wird dann zum Ziel verklärt. Dieser Trend ist beileibe nicht nur in der Politik zu beobachten – in der Wirtschaft sind die Quartalsberichte und der sie oft begleitende Aktionismus ein Musterbeispiel für Kurzfristigkeit. – So ist, um mit einer positiveren Anmerkung hier abzuschließen, als Reformhelfer etwas zu nennen, das sich eigentlich keiner wünschen kann: Die Krise. Wie in den 1920er Jahren sind Krisenzeiten Reformzeiten. Auf der einen Seite wächst der Handlungsdruck für die Politik, auf der anderen Seite wächst auch die Einsicht der Bürger in die Notwendigkeit von Veränderungen oder werden zumindest überhöhte Ansprüche relativiert. Das letzte Beispiel dafür war der Winter 2002/2003 mit einem Rekord-Anstieg der Arbeitslosen, einer Rekord-Zahl an Insolvenzen und maximal trüber Stimmung. Das Ergebnis: Gerhard Schröder rang sich zur Agenda 2010 durch, die Grünen propagierten „Grüne Marktwirtschaft“, die CDU schwang sich zu Leipzig empor und die FDP blieb sich einfach nur treu. 2006/2007 dagegen, als eine breite Reform-Mehrheit im Bundestag hätte gestalten können, brummte die Wirtschaft, redete Deutschland über soziale Ungerechtigkeit und neue Ausgaben, während die Bereitschaft zu Veränderungen stark sank. Was also passiert wohl während und unmittelbar nach der größten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik?

IV. Ein erfahrungsbasierter neuer Anlauf: Die Kommission „Steuergesetzbuch“ Die genannten Reformhindernisse waren zum größten Teil schon im Frühjahr 2004 ebenso offensichtlich wie die für jeden sichtbaren und nur von den jeweils Begünstigten bestrittenen Schwächen des Steuersystems. Gleiches galt für die Ablehnung von Flat Tax und „Bierdeckel“ durch die amtierende rotgrüne Bundesregierung. Diese war in gewisser Weise des Steuerthemas überdrüssig geworden, nachdem sie erst im Jahr 2000 umfassende Änderungen im Steuersystem – z. B. der Sprung vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren – und besonders bei den Steuertarifen vorgenommen hatte. In diesem Rahmen war es auch zu bedeutenden Entlastungen gekommen. Sie legten einen Grundstein für den späteren Aufschwung, hinterließen aber auch deut382

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liche Spuren in den öffentlichen Haushalten – und dämpften die Neigung der Bundesregierung, weitere Änderungen in Angriff zu nehmen. Zudem hatte die Bundesregierung im Bereich der Sozialgesetzgebung mit den Hartz-Gesetzen gerade beachtliche Veränderungen ins Werk gesetzt und darum Interesse an Ruhe an der „Steuer-Front“ bis zur anstehenden Bundestagswahl 2006. Dies bedeutete in der Konsequenz auch, dass das Bundesfinanzministerium und die Regierungsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen die konzeptionelle Denkarbeit weitgehend einstellten. Durchaus verständlich, da der Berliner Politik- und Medienbetrieb inhaltliche Arbeit jenseits tagespolitischer Erfordernisse und unmittelbar anstehender Entscheidungen für die Regierungsseite fast unmöglich macht: Entwurfspapiere mit möglichen neuen Ideen und Akzentverschiebungen pflegen schnell Füße zu bekommen, dann öffentlich der jeweils aktuellen Regierungsamtlichkeit gegenübergestellt und von betroffenen Interessengruppen im ungünstigen Fall mit Hilfe effizient organisierter Empörung möglichst schnell beerdigt zu werden. Grundlegende Gedanken und ein systematischer, in sich schlüssiger neuer Ansatz konnten daher nur von außen kommen. Schon zuvor war das Konzept von Paul Kirchhof ein entsprechender Versuch, ebenso auf Oppositionsseite die Vorschläge von Friedrich Merz, die im Herbst 2003 fast einstimmig vom Leipziger CDU-Parteitag zum Unionsprogramm erklärt wurden. Der frühere Vorsitzende der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag hatte bei den Vorarbeiten zu seinem Einkommensteuer-Reformkonzept viele renommierte Wissenschaftler einbezogen, u. a. die Professoren Paul Kirchhof, Stefan Homburg und Joachim Lang. Joachim Lang beeinflusste die Entstehung des Bierdeckels dabei in besonderem Maß, zudem hatte sich bei den Diskussionen im Vorfeld, die z. B. auch seine Schüler, die Professoren Johanna Hey und Roman Seer einbezogen, eine Art Nukleus weitergehender Reformarbeit gebildet. Es entstand die Basis eines Teams, das später vertrauensvoll und konstruktiv in der Kommission „Steuergesetzbuch“ unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft zusammenwirken sollte. Für den Verfasser, der schon als langjähriger Mitarbeiter von Friedrich Merz seine Schlussfolgerungen aus dem Höhenflug des Bierdeckels wie der dafür fehlenden politischen Mehrheit gezogen hatte, ergab sich durch den Wechsel zur Stiftung Marktwirtschaft die Chance, in der Sache einen neuen Schub zu erreichen: Der unabhängige, überparteiliche ThinkTank an der Schnittstelle von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik würde sich ideal als Dach für einen neuen Anlauf eignen. Das übergroße öffentliche Interesse für Pläne zur Reform des Einkommensteuerrechts 2003 und 2004 und die spürbar weitverbreitete Unzufriedenheit mit dem Steuersystem waren zudem starke Motivation, einen neuen ReformAnlauf zu unternehmen. Ein weiterer Grund lag in der wirtschaftlichen Situation 2003/2004: Im Bereich der Unternehmensbesteuerung entstand in den neuen EU-Mitgliedsstaaten ein spürbarer Sog, lag der Satz der Belastung von Unternehmensgewinnen in Deutschland zehn Prozentpunkte über dem des Durchschnitts der neuen EU-Staaten. Die deutsche Wirtschaftslage insgesamt, viele Pleiten und Arbeitslose, waren ebenso ein Signal zu Veränderungen. Und 383

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schließlich hatte sich in den Krisenjahren 2002 und 2003 die Gewerbesteuer einmal mehr als Schönwettersteuer erwiesen: Wenn es für die Kommunen darauf ankommt, können sie darauf nicht zählen. Der Versuch von Bundesfinanzminister Hans Eichel, als Konsequenz daraus die Kommunalfinanzierung auf die neue Grundlage einer Gemeindewirtschaftsteuer zu stellen, scheiterte gleichwohl. Insbesondere der Deutsche Städtetag bzw. seine westgroßstädtischen Wortführer argumentierten, die Gewerbesteuer sei bewährt und man werde sich diese nicht in einer Position der Schwäche nehmen lassen. Die geplante Gründung einer Kommission zur Ausarbeitung umfassender, in sich schlüssiger Entwürfe in allen Bereichen der Ertragsteuern konnte also nur Erfolg versprechen, wenn aus früheren, stecken gebliebenen Reformanläufen Lehren gezogen wurden. So zeigt sich beispielsweise nicht nur in der Politik immer wieder, dass die Form oft wichtiger ist als der Inhalt. Oder zumindest, dass auch noch so überzeugende Inhalte nur in der adäquaten Form an den Mann bzw. die Frau zu bringen sind. Die am 14.7.2004 konstituierte Kommission „Steuergesetzbuch“ stellte ihrer Arbeit darum im Verfahren fünf Maßgaben voran. Die erste Leitlinie war die der Überparteilichkeit, Unabhängigkeit und Breite. Dem „Bierdeckel“ konnte schon wegen der üblichen parlamentarischen Gesetzmäßigkeiten keine Gesetzeskraft beschieden sein: Was von der Opposition kommt, wird von der Mehrheit im Deutschen Bundestag grundsätzlich abgelehnt – und taucht im besten Fall einige Zeit später unter neuem Namen als Regierungsentwurf wieder auf. Das oder auch das Aufgreifen neuer Anstöße war beim Thema Steuerreform von der Bundesregierung indes aus den geschilderten Gründen nicht zu erwarten. Breitenwirkung und erhöhter öffentlicher Druck für eine umfassende Steuerreform konnte deshalb nur von einer entsprechend aufgestellten Kommission jenseits parteipolitischer oder korporatistischer Reflexe kommen. Diese wiederum sollte eine möglichst stimmige Gesamtkomposition erarbeiten und nicht Wunschkonzerte spielen, also keine Gruppeninteressen verfolgen. So sammelten sich in der größten deutschen Steuerreformkommission über 75 Experten aus Wissenschaft, Rechtsprechung, Verwaltung in Bund, Ländern und Kommunen, aus Unternehmen und Beratung. Da Überparteilichkeit nicht Politikferne bedeuten sollte, begleitete ein Politischer Beirat die Arbeit der Kommission, der sich aus Mitgliedern aller 2004 mit Fraktionen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien zusammensetzte: Für die CDU der Stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Friedrich Merz, für die SPD der rheinland-pfälzische Finanzminister Gernot Mittler, für die CSU der bayerische Staatsminister der Finanzen, Professor Dr. Kurt Faltlhauser, für die FDP deren stellvertretender Bundestagsfraktionsvorsitzender, Dr. Hermann Otto Solms, für die Grünen der Kämmerer der Stadt Wesel, Dr. Manfred Busch. Als Vorsitzender einer derart umfassend angelegten Reformkommission, die in sich schlüssige Vorschläge für die Bereiche Einkommensteuer, Unternehmensbesteuerung und Kommunalfinanzen machen sollte, kam nur ein fachlich füh384

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render, international renommierter und ausgewiesener, als Ideengeber profilierter und zugleich integrativer Experte in Frage, der nicht auf Hierarchien, Altersklassen und Fachrichtungen fixiert, sondern für jedes überzeugende Sachargument offen war. Die Wahl fiel geradezu logisch auf Joachim Lang. Zweitens: Die Kommission stellte ihre Arbeit unter das Motto „Vereinfachung vor Senkung und Strukturen vor Sätze“. Aus den Erfahrungen früherer Reformversuche zog sie den Schluss, dass populäre Diskussionen über Steuersätze den wichtigen Blick auf die Steuerstrukturen verschleiern und Problemlösungen erschweren. Unter bewusster Inkaufnahme der damit zu erwartenden geringeren Medienpräsenz wollte man sich darauf konzentrieren, das Steuerrecht auf seine Grundstrukturen zurückzuführen und zu vereinfachen. Entbehrliche und ordnungspolitisch fragwürdige Abgrenzungen, Steuervergünstigungen und Ausnahmebestimmungen sollten entfallen, Entscheidungen über Steuersätze und Tarifverlauf dem Gesetzgeber überlassen bleiben. Drittens und als Schlussfolgerung aus öffentlichen Debatten über „große Würfe“ galt die Maßgabe „Evolution vor Revolution“. Die Breite der Besetzung der Kommission und der starke Praxisbezug ihrer Diskussionen sowie die Einbeziehung der Politik hatten das klare Ziel, ordnungspolitische Grundüberzeugungen, wissenschaftliche Ansätze sowie praktische Erkenntnisse zusammenzuführen und eine realistische, administrierbare und politisch umsetzbare Entwicklungsperspektive zu eröffnen. Besonderer Wert wurde dabei auf saubere Verfahrensregelungen, auf ausreichend lange Übergangszeiträume und auf die Beachtung der Wechselwirkungen zu und der Schnittstellen mit den Sozialsystemen gelegt. Weil ihr ein umfassender Ansatz vor Punktualismus ging, wollte die Kommission ihre Vorschläge als ganzheitliches Angebot an die Politik sehen und doch zugleich als Module, die aufeinander abgestimmt, aber eben zeitlich gestreckt und voneinander unabhängig umsetzbar sind. Auch dies ein Erfahrungswert: Allzu schwere und allzu fest verschnürte Reformpakete mindern eher die Erfolgschancen. Eine umfassende Ertragsteuerreform wird nur in mehreren Schritten zu erreichen sein.

V. 6 Jahre Kommissionsarbeit – ein erstes Fazit In den folgenden Jahren, intensiv vor allem von 2004 bis 2006, arbeitete die Kommission „Steuergesetzbuch“ unter der Führung von Joachim Lang konzentriert, konstruktiv, vertrauensvoll und unaufgeregt eher jenseits der Medienwahrnehmung zusammen. Die meisten Kommissionsmitglieder verband über ihre Expertise, ihre steuersystematischen Grundüberzeugungen und ihren Veränderungswillen hinaus ihr großartiges ehrenamtliches Engagement in der Kommission und die Bereitschaft, im Sinne eines überzeugenden Gesamtergebnisses Kompromisse einzugehen und gelegentlich auch eigene Überzeugungen zurückzustellen. Aus Praktikabilitätsgründen wurden mehrere Unterarbeitsgruppen gebildet und die Bereiche Einkommensteuer von Professor Joachim Lang, Unternehmensbesteuerung von Professor Johanna Hey, Gewinnermittlung von Professor Norbert Herzig und Kommunalfinanzen von Professor Manfred Mössner leitend betreut. 385

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Insgesamt fanden annähernd 230 Arbeitsgruppensitzungen und Redaktionskonferenzen, daneben mehrere öffentliche Fachtagungen, Anhörungen und Plenarsitzungen der gesamten Kommission „Steuergesetzbuch“ statt. Die Kommission war daneben stets offen für Gespräche mit Vertretern interessierter und von möglichen Änderungen auch betroffener Institutionen und Organisationen, z. B. mit den Kirchen oder mit der Spitze des Deutschen Städtetags, mit den in die Kommissionsarbeit nicht fest eingebundenen Verbänden, für weiteren wissenschaftlichen Rat und zusätzliche Hinweise aus der Praxis. Von Anfang an haben Vertreter aus der die Kommissionsarbeit koordinierenden, wissenschaftlich besetzten Lenkungsgruppe, das Gespräch mit Politikern aller Parteien und auf allen föderalen Ebenen gesucht und geführt. Die breit abgestützten Anregungen stießen dort wie ungeachtet der selbst auferlegten Zurückhaltung auch in den Medien auf großes Interesse – insbesondere im Wahlkampfjahr 2005 wie in der Vorbereitung der dann von der Großen Koalition geplanten Unternehmensteuerreform 2006 und 2007. Die ursprünglich auf den Herbst 2006 zielende Arbeit der Kommission hatte im Frühjahr 2005 durch die Vorverlegung der Bundestagswahl auf den Herbst des gleichen Jahres zugleich eine Beschleunigung und Verzögerung erfahren. Ersteres galt vor allem für die Bereiche Unternehmensbesteuerung und Kommunalfinanzen, als mit der Bildung der Großen Koalition klar wurde, dass dort am ehesten Veränderungen Platz greifen könnten. Da aufgrund des Verlaufs des Bundestagswahlkampfs strukturelle Reformen im Feld der Einkommensteuer kurzfristig eher unwahrscheinlich wurden, wurde dieser Teil der inhaltlichen Arbeit nach hinten geschoben. So hat die Kommission „Steuergesetzbuch“ im Sommer 2005 ihre Vorschläge für eine Unternehmensteuerreform und für eine Neuordnung der Kommunalfinanzen vorgestellt und öffentlich diskutiert. Anfang 2006 wurde das „Steuerpolitische Programm“ als Gesamtperspektive veröffentlicht und in der Bundespressekonferenz präsentiert. 2007 erfolgte im Rahmen eines Symposiums im Deutschen Bundestag unter Ägide von Professor Dr. Norbert Herzig die Vorstellung des Entwurfs eines international kompatiblen Gewinnermittlungsgesetzes. Im Herbst 2008 wurde, ebenfalls im Deutschen Bundestag, der maßgeblich von Joachim Lang erarbeitete Gesetzentwurf für ein vollständiges Einkommensteuer- und Verfahrensrecht mit Begründungen vorgelegt und diskutiert. 2010 erschien eine Zusammenfassung und Aktualisierung aller Vorschläge der Kommission mitsamt Werkstattberichten und Gesetzentwürfen. Auch deshalb soll an dieser Stelle auf eine nähere inhaltliche Darstellung der Konzepte ebenso verzichtet werden wie auf umfassende Danksagungen. Aus gegebenem Anlass bzw. gegebener Publikation liegt dem Verfasser aber daran, den Vorsitzenden der Kommission „Steuergesetzbuch“, Professor Dr. Joachim Lang, hier besonders hervorzuheben. Arbeit, Ergebnisse und Erfolge der Kommission wären ohne ihn nicht möglich gewesen. Der Vorsitzende hat einen zentralen Beitrag dazu geleistet, unterschiedliche Ansichten und Charaktere zusammenzuführen, die Ergebnisse zu bündeln und die Mitglieder der Kommission zu ihrem intensiven Einsatz für ein gemeinsames Anliegen zu ermutigen. Sein einbindendes Vorgehen und seine Fähigkeit, zuzuhören und berech386

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tigte Anliegen aufzunehmen, war entscheidend auch für die positive Aufnahme der Reformvorschläge in der Öffentlichkeit und die Unterstützung von vielen Seiten. Was konnte die Kommission „Steuergesetzbuch“ erreichen, wo haben sich ihre Anlage und Ausrichtung sowie das Aufgreifen früherer Steuerreformerfahrungen bezahlt gemacht? – Nach dem Abebben medialer Aufmerksamkeit um „Bierdeckel“ und Flat Tax gelang es, wesentlich dazu beizutragen, das Bewusstsein über die Reformbedürftigkeit des deutschen Steuersystems in der Öffentlichkeit hochzuhalten und noch zu schärfen. Das Oberthema „Vereinfachung“ bleibt auf der Agenda und in den Köpfen, jeder konkrete Beschluss – ob im Deutschen Bundestag, in Zeitungskommentaren oder am „politischen Stammtisch“ – muss sich stärker als in früheren Jahren daran messen lassen. – Dass eine schwarz-rote Bundesregierung die im internationalen Vergleich zu hohe Belastung deutscher Unternehmen einräumt und im Rahmen einer Unternehmensteuerreform Abhilfe zumindest durch eine begrenzte Entlastung schafft, ist alles andere als selbstverständlich. Es basiert auch auf dem öffentlichen Werben und Druck der Kommission „Steuergesetzbuch“, das die Akzeptanz für die entsprechenden Beschlüsse erhöht, wenn nicht geschaffen hat. Insoweit kam der Kommission eine Katalysatorfunktion zu. Inhaltlich wurde – abgesehen von der Anregung der günstigeren Besteuerung von im Unternehmen verbleibenden Gewinnen – nur wenig aus den Vorschlägen der Kommission übernommen und die Gelegenheit auch zu einer strukturellen Reform eher verpasst. Zur Gegenfinanzierung wurden vielmehr neue Probleme geschaffen wie die erweiterte Hinzurechnung bei der Gewerbesteuer. Die Kommission konnte hier durch massiven Widerstand wenigstens erreichen, dass dies nicht auch noch – und genauso sachfremd wie unsystematisch – auf die Körperschaftsteuer übertragen wurde. – Die gefundene, schlüssige Lösung für eine allgemeine Unternehmensteuer und der entsprechende Gesetzentwurf von Professor Dr. Johanna Hey wurde noch nicht aufgegriffen, bleibt aber ein lohnendes Fernziel und der beste Weg, um echte Rechtsformneutralität bei der Unternehmensbesteuerung zu erreichen und das duale System der Besteuerung von Unternehmensgewinnen mit seinen Verwerfungen zu überwinden. – Auch das überzeugende Gesamtkonzept für eine im Sinne aller Betroffenen bessere Kommunalfinanzierung kam 2006 letztendlich doch nicht zum Zuge, aber gelangte weiter als jeder andere Ansatz zuvor. Die Quantifizierung bzw. Berechnungen im Bundesfinanzministerium wurden im Frühjahr im vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Forderungen westgroßstädtischer Wortführer im Deutschen Städtetag ohne Ergebnis abgebrochen. Diese argumentierten, die Gewerbesteuer sei bewährt und man werde sich diese nicht in einer Position der Stärke nehmen lassen. 2006 konnte man dies angesichts steigender Gewerbesteuereinnahmen so sehen, hätte umgekehrt aber auch eine gute Verhandlungsposition gehabt. Kurz und schlecht: Das Reformmomentum war damals nicht gegeben, der gute Vorschlag aber blieb 387

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und wurde weiter beworben. 2010 ist infolge des Einbruchs der Gewerbesteuer das Momentum da. Die von der christlich-liberalen Bundesregierung eingesetzte Gemeindefinanzkommission eröffnet Chancen. Neue Berechnungen 2010 des Vorschlags der Kommission „Steuergesetzbuch“ im badenwürttembergischen Finanzministerium zeigen: Das Konzept ist in doppeltem Sinne berechenbar und vor allem die von Professor Dr. Joachim Lang und dem rheinland-pfälzischen Finanzminister Mittler und seinem damaligen Staatssekretär Deubel 2005 erdachte Säule des Lohnsteueranteils als Verstetigungsbasis kommunaler Einnahmen funktioniert. – Im Zusammenspiel vor allem von Professor Dr. Norbert Herzig und der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung entstand ein Gewinnermittlungsgesetz, dessen moderne und internationale Ausrichtung auf große Beachtung stieß und – sozusagen als Exportartikel der Kommission „Steuergesetzbuch“ – insbesondere in der EU-Kommission zur Grundlage entsprechender Reformarbeiten und Harmonisierungsbemühungen wurde. – Auf der Basis des Kölner Entwurfs von Professor Dr. Joachim Lang wurde ein beispielhafter Einkommensteuergesetzentwurf erarbeitet, dessen Umsetzung die Reduktion des geltenden Einkommensteuertexts auf unter 20 % und deutliche Vereinfachung mit sich bringen würde. Wie bei allen anderen Entwürfen der Kommission wurden besonders die Schnittstellen zu anderen Themenfeldern sorgfältig abgestimmt und Wert auch auf lange Übergangszeiträume und saubere Verfahrensregeln gelegt. Der Gesetzentwurf, auch dies eine besondere Leistung, knüpft an bestehendes Recht an und senkt so die Hürden für eine mögliche Umsetzung entscheidend ab. – Auch die bis 2010 nicht aufgegriffenen Gesetzentwürfe sind von bleibendem Wert und ein entsprechendes Angebot an die Politik. Aus dem modulartigen Gesamtkonzept wurde ein Trumpf, der Verzicht auf die Forderung nach dem sofortigen großen Wurf ist eine Stärke des Gesamtkonzepts: je nach politischem Willen, politischen Rahmenbedingungen und gegebenem Reform-Momentum können die Module unabhängig voneinander und in Teilschritten aufgegriffen werden. – Im Verfahren hat sich durch die fruchtbare, fast freundschaftliche und von allen Beteiligten auf höchstem fachlichen Niveau vorangetriebene Zusammenarbeit in der Kommission eine „Steuerreform-Gemeinde“ mit guter Vernetzung untereinander und auf der Basis gewisser gemeinsamer Überzeugungen herausgebildet. Sie wird weiter, im jeweiligen beruflichen Umfeld das Thema beackern – und jeder vielleicht das Seine auch zur weiteren Werbung für Steuervereinfachung beitragen. Auch das Verständnis untereinander für die wechselseitigen Belange und Überzeugungen wuchs merklich durch den intensiven Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Beratung, Rechtsprechung und nicht zuletzt Politik. Die Stiftung Marktwirtschaft und die Kommission „Steuergesetzbuch“ werden mit fröhlicher Penetranz weiterkämpfen und ihr 2004 beschriebenes „magisches Viereck“ als Ziel verfolgen, ein Steuersystem nämlich, das

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1.) einfach und für Bürgerinnen und Bürger verständlich ist, als sozial ausgewogen akzeptiert wird und den Menschen so wenig Zeitaufwand wie möglich abverlangt, Rechts- und Planungssicherheit gewährleistet und damit Vertrauen schafft für Investitionen wie für Konsum, 2.) international wettbewerbsfähig ist und die Wettbewerbsposition der in Deutschland tätigen Unternehmen deutlich verbessert, sie nachhaltig und praxistauglich vor allem von Bürokratie entlastet, 3.) die kommunale Autonomie stärkt, indem es Städten und Gemeinden eine breitere Einnahmenbasis und ein stetigeres Aufkommen verschafft, 4.) in Bund und Ländern mittel- und langfristig zu kräftigen Wachstumsimpulsen beiträgt und damit mehr Steuereinnahmen ermöglicht. Anders als das „magische Viereck“ der Globalsteuerung Ende der 60er Jahre handelt es sich hier nicht um die Quadratur des Kreises. Es ist erreichbar. Steuervereinfachung ist ein noch unerfülltes, aber kein unerfüllbares Anliegen. Steuerrechtsordnung und Gesetzgebung müssen kein Widerspruch sein.

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Zum Bohren dicker Bretter Inhaltsübersicht I. Joachim Lang wird Mitherausgeber des Tipke/Lang II. Wissenschaft vs. steuerpolitische Praxis auf dem Münsteraner Symposium III. Musterentwurf für ein Steuergesetzbuch nach dem Mauerfall IV. Reform des Unternehmenssteuerrechts 2008

V. Reformentwürfe der „Kommission Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft VI. Lösung des Konflikts zwischen Wissenschaft und Steuerpolitik? 1. Die Erzbergerreformen 2. Das Alterseinkünftegesetz 3. Die Gesetzgebungsrealität VII. Ausblick

I. Joachim Lang wird Mitherausgeber des Tipke/Lang Tipkes „Steuerrecht“ war mit Doppelnamen erschienen: Tipke/Lang. So wurde ich auf Joachim Lang aufmerksam. Für einen Neuling im BMF, der sich nicht nur mit dem geltenden Recht zu befassen hatte, sondern zunehmend auch mit Steuerpolitik, war das Buch unverzichtbare erste Informationsquelle zu allen Fragen, brandaktuell, mit einer Fülle von weiterführenden Verweisen, mit Blick auf die Nachbarn, die Wettbewerber, die EU. Wer dort nachgelesen hatte, konnte hinreichend sachkundig in die erste Runde gehen. Der Autorenwechsel brachte keinen Bruch mit der grundsätzlichen Botschaft für die Steuerpolitik, verstärkte sie noch mit jedem neuen Beispiel und seiner kritischen Betrachtung: Auf die Bemessungsgrundlage kommt es an, der Tarif ist zweitrangig. Sie muss an Grundsätze und Ordnung gebunden sein. Gerechtigkeit und Einfachheit sind kein Widerspruch, sondern bedingen einander. Diese Botschaft stand und steht unverkennbar im Dauerkonflikt zur steuerpolitischen Praxis. Wie Joachim Lang sich als Kombattant in diesem Konflikt schlägt, habe ich mit großem Respekt und gelegentlich mit Mitgefühl beobachtet und will dazu berichten.

II. Wissenschaft vs. steuerpolitische Praxis auf dem Münsteraner Symposium Der Konflikt wurde leidenschaftlich thematisiert und diskutiert auf dem Münsteraner Symposium 1985: Die politische Praxis im BMF und im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages geriet angesichts der scharfen Kritik von Raupach, Tipke und Lang unter Rechtfertigungsdruck. Uelner, mein Chef im BMF, verteidigte unsere Arbeit unter Hinweis auf den Primat der Politik und 391

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den demokratischen Prozess. Die nachmittags anschließende Diskussion führte in eine unversöhnliche Frontstellung zwischen Wissenschaft und Gesetzgebung, die in jeder Anhörung des Finanzausschusses erneut aufbricht (die Position Uelners war übrigens der Rolle geschuldet; im BMF kannten wir ihn als streitbaren Verfechter einer wert- und prinzipienorientierten Steuerpolitik). Beim Nachvollzug des Symposions fiel mir die Rolle von Joachim Lang auf: Er hatte sich nicht auf ein kritisches Referat beschränkt, sondern handfest gleich dazugepackt, was er für die bessere Alternative hielt: Seinen Reformentwurf eines EStG als „konstruktiven Beitrag zur Kritik, nicht als Gegenstand eines Gesetzgebungsverfahrens“, wie er unter dem Eindruck des Symposions hinzufügte. Bei allen auftauchenden Änderungswünschen im Detail, der Entwurf gefiel mir, und allemal besser als das geltende Recht.

III. Musterentwurf für ein Steuergesetzbuch nach dem Mauerfall Vier Jahre später fiel die Mauer, die Sowjetunion zerbröselte. Die neuen Staaten orientierten sich nach Westen, blickten auf Nato und EU und erkannten ihren Anpassungsbedarf auch im Steuerwesen. Im BMF entstand die Idee, diesen Staaten einen Musterentwurf für ein europataugliches Steuergesetzbuch an die Hand zu geben. Aber wer könnte das verfassen? Ich nannte Joachim Lang. Er wurde gefragt, nahm an und machte sich an die Arbeit, und es war viel Arbeit; und er nahm sich auch noch die Zeit, mit mir zusammen für mehrere Wochen nach Moskau zu reisen mit einer russischen Übersetzung. Dort führten wir gute Gespräche in sehr bewegten Zeiten: Von unserem Hotel Ukraine aus hatten wir freien Blick auf Jelzins Weißes Haus mit den Spuren der Panzergranaten. Wir konnten mit gutem Rat helfen, stießen aber auch an unsere Grenzen. Wie erhebt man erfolgreich Steuern in einem so riesigen auseinander fallenden Land mit maroden Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen, mit Nomadenstämmen um Diamantenminen und einem – damals – völlig korrupten Bankensystem? Joachim Langs Steuergesetzbuch war hilfreich auch in etlichen anderen Staaten, in denen ich Beratungsgespräche führte. Viele der dortigen Kollegen fanden die ausformulierten Texte anschaulich und haben Versatzstücke übernommen. Aber meine heimliche Hoffnung – und vielleicht auch seine – hat sich nicht erfüllt. Im Deutschen Bundestag hat sich kein Interesse an einem aktuellen Steuergesetzbuch aus Expertenfeder gefunden. Nur die Autoren des – gescheiterten – „Petersberger Entwurfes“ haben sich gelegentlich bedient.

IV. Reform des Unternehmenssteuerrechts 2008 Nach der Bundestagswahl 1998 stand eine Reform des Unternehmenssteuerrechtes an. Wir mussten die Körperschaftsteuer europatauglich machen, d. h., das Anrechnungsverfahren abschaffen oder auf EU-Ausländer ausdehnen. Ich träumte von einer rechtsformneutralen Gewinnsteuer als eigenem Lernerfolg aus meinen Beratungsgesprächen in Osteuropa. Erneut stand Joachim Lang für 392

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die Mitarbeit in einer Kommission zur Verfügung. Diese Kommission erarbeitete zwar mit seiner Hilfe ein erfolgreiches europataugliches Unternehmensteuermodell, er war aber dennoch enttäuscht. Er war wohl zu oft auf interessengeleitete vorgefasste Standpunkte gestoßen; für einen Wissenschaftler, der gewohnt ist, der Kraft des guten Argumentes zu vertrauen, eine unerfreuliche Begegnung. Zur steuerpolitischen Debatte des Jahres 2004 trug er den Kölner Entwurf bei, der allerdings neben dem spektakulären Wahlkampfeinsatz von Paul Kirchhof zugunsten der CDU verblasste. Das wird Joachim Lang heute eher erleichtert sehen, denn Kirchhof musste eine subtile Diffamierungskampagne über sich ergehen lassen („der Professor aus Heidelberg“), die die wahlkämpfende CDUKandidatin nicht aushielt: sie ließ ihn schlicht fallen.

V. Reformentwürfe der „Kommission Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft Auch diese Beobachtung hat Joachim Lang nicht davon abgehalten, erneut in den Ring zu gehen. Im Auftrag der Stiftung Marktwirtschaft legte er erneut einen Entwurf für ein EStG vor, für den ich ihm viel Aufmerksamkeit und eine gute Diskussion wünsche. Der Entwurf enthält ein großes Vereinfachungspotential im klaren Aufbau, bei den Einkunftsarten, der Ermittlung des Einkommens und in Neuformulierungen nach bewährtem Stand der Rechtsprechung. Andere Fragen muss man sich genauer anschauen, auch mit etwas Misstrauen hinsichtlich der Interessenlage der Sponsorstiftung: Warum legt der Entwurf nach Jahrzehnten geringster Inflation soviel Gewicht auf das „Problem“ der Scheingewinnbesteuerung und lohnt das ein Zündeln im Heuschober mit Indexierung? Was hat Verlustrücktrag mit Leistungsfähigkeit zu tun? Sind die Gewichte der untergehenden Vergünstigungen verteilungspolitisch halbwegs akzeptabel? Amüsant ist die listige Idee, den Steuerpolitikern, der Interessenlobby und dem der Recherche entwöhnten Teil der Journalisten ihr Lieblingsspielzeug vorzuenthalten, den Tarif. Höchstes Lob für den Verfahrensteil. Ich hatte schon bei einigen Begegnungen mit Roman Seer Gelegenheit, für sein Interesse am Innenleben der Verwaltung zu danken. Wir waren uns einig, dass mit einer zentralen, lebenslangen IDNummer ein Schatz an Erleichterungen für den Bürger zu heben wäre. Nun haben wir die Nummer, nun steht der Weg zur „Steuererklärung per Mausklick“ technisch offen. Aber auch eine Warnung an Joachim Lang: Im letzten Absatz des Tagungsberichtes verkündet er, „es könne keine Steuerpolitik nach Aufkommensorientierung gemacht werden“. Wäre das so gemeint, wie es ein Finanzminister verstehen muss, bedeutete dieser Satz den frühen Tod des Entwurfs. Die erste Frage eines jeden Finanzministers zu einem steuerpolitischen Vorschlag muss lauten: Was kostet das? Denn es ist nun einmal seine erste und vornehmste Pflicht, für eine nachhaltige Finanzausstattung zu sorgen. 393

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Leider hält die jüngste Entwicklung in der Bundespolitik diesbezüglich erneut eine große Enttäuschung bereit. Der Entwurf wurde zwar bei der Präsentation am 13.11.2008 auch von zwei Finanzpolitikern begrüßt, die nach wie vor in Amt und Würden sind. Aber in der aktuellen steuerpolitischen Debatte kommt er nach meiner Wahrnehmung überhaupt nicht vor. Aktuell geht es unter der Überschrift „Steuerstruktur“ ausschließlich um einen Stufentarif und um viel Geld; falscher kann eine steuerpolitische Grundsatzdiskussion nicht starten, wenn man Joachim Langs Schriften gelesen hat.

VI. Lösung des Konflikts zwischen Wissenschaft und Steuerpolitik? Solche Erfahrungen führen zu der Frage des Münsteraner Symposiums: Sind wissenschaftliche Erkenntnisse zu einer gerechten und einfachen Steuerrechtsordnung und die politische Praxis des Steuergesetzgebers völlig unvereinbar, leben wir in getrennten Welten? Mit skeptischem Optimismus verneine ich die Frage und führe zwei Belege an: 1. Die Erzbergerreformen Matthias Erzberger, Volkschullehrer, Zentrumspolitiker und Reichsfinanzminister von Juni 1919 bis August 1921, legte in einem Aufwasch drei Gesetzespakete mit 16 Einzelgesetzen vor, die dem Reich die Gesetzgebung und die Verwaltung zuwiesen, die Ländergesetze ablösten und die einzelnen Steuern sowie das Verfahren regelten. Die Gesetzentwürfe waren theoretisch anspruchsvoll auf der Höhe der Zeit und klar formuliert. Das gesamte Reformwerk war binnen 9 Monaten realisiert. Erzberger hatte legendär gute Zuarbeiter und das Vertrauen des Reichspräsidenten und der Koalition. Das fiskalische Umfeld war niederschmetternd. Erzberger musste die Einnahmen des Reiches um 900 % steigern! 236 Mrd. Goldmark an Reparationen waren aufzubringen. Die Inflation galloppierte, die Wirtschaft lag darnieder, das Ruhrgebiet war besetzt. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass damals der Tarif der Einkommensteuer von 4 % auf 60 % angehoben wurde? Die zügige Umsetzung des Riesenwerkes erklärt sich auch aus dem ungeheuren fiskalischen und politischen Druck und dem einfacheren Verfahren. Eine ähnliche Situation kann ich allenfalls bei der Bewältigung der Finanzkrise erkennen. Eine Wiederholung kann man sich wahrlich nicht wünschen. 2. Das Alterseinkünftegesetz Das Gesetz war jahrelang wissenschaftlich vorbereitet mit einem fast einheitlichen Votum für die nachgelagerte Besteuerung und fiskalisch abgesichert. Mit der Riesterrente war der Gesetzesplan erprobt. Das BVerfG hatte einen kompatiblen Plan angeregt und damit dem Gesetzentwurf eine hohe Legitimation verliehen. Eine Sachverständigen-Kommission hatte den Plan im Detail ausgearbeitet. Der ganze Prozess erstreckte sich über reichlich 20 Jahre, ca. 394

Zum Bohren dicker Bretter

1 Jahr stand für die Ausarbeitung des Gesetzentwurfes zur Verfügung, eine große Ausnahme. 3. Die Gesetzgebungsrealität Der heute politisch geforderte und meist „unvermeidliche“ Zeitdruck hebelt regelmäßig das in den Anfängen der Bundesrepublik erdachte Verfahren aus, das auf breite Anhörungen und Abstimmungen Wert legt, auf dass der „Referentenentwurf“ Kabinettsreife erlange. Er soll mit den Ländern erörtert werden, um deren Sachkunde, vor allem ihre Verwaltungserfahrung, zu nutzen. Mit demselben Ziel sollen die betroffenen Verbände angehört werden, freilich auch, um die politische Debatte auszuloten. Die Verständlichkeit der Sprache und die Bürokratiekosten, neuerdings auch Genderfragen, sollen begutachtet werden. Dann folgt die Ressortabstimmung mit der unumgänglichen Rechtsförmlichkeitsprüfung, dem wichtigen Attest der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Danach erst ist Kabinettsreife erreicht. Von diesem Verfahren lässt der Zeitdruck wenig übrig. Die Länderabstimmung fällt aus und wird eventuell vor der Schlusssitzung des Finanzausschusses des Bundestages nachgeholt, um den Vermittlungsausschuss zu vermeiden. Falls die Verbände – sehr kurzfristig – angehört werden, empfinden sie dies als Farce mit entsprechender Stimmungslage. Der Rest bleibt in Formeln stecken. Ich habe selbst Rechtsförmlichkeitsprüfungen – mit kritischer Verfassungsfrage – am Telefon abends vor der Versendung ans Kabinett in bedrückender Erinnerung. Solche Mängel schlagen sich dann in „Kabinettsvorbehalten“ nieder: „Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wird noch geprüft …“ Kurz gesagt, viele Steuergesetzentwürfe haben nicht den Reifegrad, den Parlament und Bürger eigentlich erwarten. Das Parlament trägt aber selbst häufig zu dem Missstand bei. Zur Zeitersparnis bringen die Koalitionsfraktionen den Entwurf in derselben Woche auch im Bundestag ein, was eine Sitzung des Bundesrates einspart. Umso gieriger sind die Abgeordneten auf frühzeitige Information und Einflussnahme und versuchen, in den Tagen vor der Kabinettssitzung ihre Anliegen noch unterzubringen. Je nach Bedeutung des/der Abgeordneten ist diese Situation für einen Ministerialbeamten nicht mehr zu handhaben. Dieses mehr oder weniger chaotische Stück wird auf offener Bühne gespielt, denn jedenfalls zu meiner aktiven Zeit standen die Gesetzentwürfe 30 Minuten nach der Versendung ans Kabinett im Internet. Die Medien waren dankbar für die gepfefferten Interviews und Presseerklärungen, die dem folgten, und schon hatten Minister und Kanzler die einschlägigen Attribute auf dem Tisch: handwerkliche Mängel, Schlamperei, Nachbesserung. Keine Ermutigung zu großer Steuerpolitik und schon gar nicht, wenn zu erwarten war, dass das Gesetz im Bundesrat ohnehin keine Zustimmung finden werde. Im selben Stadium findet ein Paradigmenwechsel in der veröffentlichten Meinung statt. War das angekündigte Vorhaben noch verhalten als gerecht und sinnvoll kommentiert worden, so bricht nach Veröffentlichung des Entwurfes 395

Gerhard Juchum

ungehemmt der mediale Verteilungskampf aus. Wer gewinnt, wer verliert? Opposition, Interessengruppen, Verbände, unreflektiert verstärkt durch etliche Medien, dreschen auf den Entwurf ein, versuchen ihn zu fleddern, oftmals mit Erfolg. In dieser Phase erfahren wir z. B. regelmäßig, wieviele Arbeitsplätze in welcher Branche an einer Steuervergünstigung hängen (zählt man sie zusammen, haben wir offenbar Vollbeschäftigung, einschließlich Greisen und Kindern). Nur wenige Politiker halten eine solche Presse längere Zeit aus, die Interventionen nehmen zu. Zum Schluss brauchen fast alle Steuergesetze die Zustimmung des Bundesrates. Dort findet sich häufig eine andere Mehrheit als im Bundestag und sie wird gelegentlich eingesetzt, um dem politischen Gegner eine Schlappe beizubringen. Ob das dem Lande schadet oder nützt, gibt nur selten den Ausschlag. Die mildere Alternative, den Vermittlungsausschuss anzurufen, ist auch nicht immer eine Wohltat für das Steuerrecht.

VII. Ausblick Genug des Lamentierens, niemand wird ernsthaft erwägen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, einen Gesetzentwurf zur Verschlusssache zu erklären oder die Partizipation einzuschränken. Ohne Partizipation entstand kurz vor der Wahl 1998 die widerlichste Steuervergünstigung, die ich kenne: Die Tonnagesteuer mit Lohnsteuereinbehalt, verabredet von der „Küstengang“ quer durch die Parteien mit dem Reederverband, unauffällig ohne das beschriebene Verfahren mit diskreter Formulierungshilfe aus dem BMF ins Gesetz geschleust. Wo aber läge die Abhilfe? – Mehr Zeit für die Vorbereitung eines Gesetzentwurfes. Es könnte sich lohnen, die Debatte mit einem Weißbuch vorzubereiten und über das Weißbuch zu führen, erst danach ins Verfahren zu gehen. – Braucht der Finanzminister unabweisbar im nächsten Jahr Mehreinahmen, z. B. wegen Maastricht oder der Schuldenbremse, und will er dazu Steuervergünstigungen abbauen, so rate ich zu einer Zwischenfinanzierung über den Soli, um Zeit für einen ausgereiften Gesetzentwurf zu gewinnen. – Mindestens für die Zeit von der Ausarbeitung des Entwurfes bis zur Schlussabstimmung im Finanzausschuss bedarf es einer Verstärkung der Steuerabteilung und der Pressestelle für die notwendige Öffentlichkeitsarbeit, die nicht nur reagieren darf. – Kompetenz für Gesetzgebung und Verwaltung der Steuern allein beim Bund. Was ist von den Parteien zu erwarten? Die SPD wird allgemein den Besitzstand der Arbeitnehmer verteidigen, aus der aktuellen Debattenlage vor allem die „Zuschläge“, und z. B. die Übungsleiter. Sie hat einen schönen Erfolg erzielt mit der vereinfachten Arbeitnehmererklärung. Einen weitergehenden Drang zu grundsätzlichen Vereinfachungskonzep396

Zum Bohren dicker Bretter

ten sehe ich nicht, zumal sie – zu recht – befürchten muss, dass die einschlägigen Giftlisten schwere Schlagseite zu Lasten ihrer Wähler haben werden. Für die Grünen hat Christine Scheel, MdB, um 2000 herum ein für Vereinfachungsbemühte lesenswertes Buch veröffentlicht, das auch Joachim Lang gefallen dürfte. Das änderte nichts daran, dass ein Streichung z. B. des Schulgeldabzuges mit den Walldorfschülern unter den Grünen nicht zu machen war. In der Oppositionsrolle wird das Buch vielleicht wieder zitierfähig. Die regierende Koalition, zur Zeit getrieben von der FDP, führt mit großer Klarheit vor, wohin die Reise geht: Das Hotelprivileg und die geplante Ausweitung der Privilegien für Jahreswagen und Dienstwagen bringen unser Steuerrecht weiter vom Pfad der Tugend ab, zur Jahresmitte werden unvermeidlich erste Pläne zur Konsolidierung vorgelegt werden müssen. Auf den Listen werden wir z. B. die Sonderregelungen für die Landwirtschaft und die überzogenen Rückstellungen der Versicherer und der Kernkraftbetreiber vergeblich suchen. Wird gleichzeitig die Milliarden-Entlastung der Besserverdienenden (Verzeihung: der Leistungsträger) weiterverfolgt, landen wir im fiskalischen Chaos, ohne Gewinn für die Thematik, denn Frau Homburger, MdB, hat den Plan ja auf den Punkt gebracht: „… wir das Projekt einer Entrümpelung des Steuerrechts, einer Vereinfachung des Steuerrechts dringend auf den Weg bringen müssen. Und das alles steckt in dem Thema Stufentarif.“

Von den Parteien einen durchschlagenden Vorstoß zur Steuervereinfachung zu erwarten, ist also eine Spur zu optimistisch. Dabei ist jedenfalls SPD und CDU zugute zu halten, dass ihnen mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz (SPD) und mit Petersberg sowie dem Leipziger Parteitag und dem anschließenden Wahldesaster 2005 (CDU) jeweils schwerverdauliche Misserfolge in den Knochen stecken. Wo Joachim Lang für das Leistungsfähigkeitprinzip, einen folgerichtig angelegten Gesetzesplan und Vereinfachung wirbt, setzt sich nach so schmerzhaften Erfahrungen der alte Jean-Baptiste Colbert wieder durch, der ziemlich erfolgreiche Finanzminister unter Louis XIV: „Die Kunst der Steuererhebung besteht darin, die Gans so zu rupfen, dass man die größtmögliche Menge an Federn bei geringstmöglichem Zischen gewinnt.“ Heißt das nun Resignation, Rückzug in den Elfenbeinturm? Das würde Joachim Lang nicht einfallen und es wäre auch nicht mein Rat. Dazu ist er zu ausgeprägt zoon politikon, und denen hat Max Weber bekanntlich das beharrliche Bohren dicker Bretter aufgegeben. Das Camus-Gedenkjahr verleitet dazu, an ein viel verwegeneres Zitat zu erinnern: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“. Ich denke, der Jahrgang 1940 in Deutschland konnte dieser Lektüre gar nicht ausweichen. Mein Rat: Weitermachen und einmischen, aber nicht so fokussiert auf Politiker, sondern auch und mehr auf die Designer von Steuerpolitik und die Verfasser von Gesetzentwürfen in den Ministerien. Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen wären an Diskussionen und auch an regelmäßigem Gedanken397

Gerhard Juchum

austausch zur besseren Lösung interessiert. Nicht an einer Denkschrift, wenn ohnehin gerade die große Hektik ausgebrochen ist, sondern in ruhigerem Fahrwasser von workshops oder Seminaren. Den Anstoß könnten die Lehrstühle geben, die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, die Bundesfinanzakademie. Ich denke/hoffe, dass der BMF darauf eingehen würde. Schließlich ist offenkundig, dass Erzberger davon profitiert hat, dass viele seiner Zuarbeiter auch einen Fuß in der akademischen Welt hatten. Ich jedenfalls habe solche Kontakte – auch in internationalen Organisationen – gerne genutzt und viel davon profitiert. Aber niemand aus der Welt der Wissenschaft hat mir so viel Zeit zugewendet, so viele Anregungen und so guten Rat gegeben wie Joachim Lang. Herzlichen Dank!

398

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

Konsequenzen und Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Wesentliche Änderungen bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihren Anteilseignern in Deutschland zwischen 1990 und 2009 1. Unternehmensebene 2. Anteilseignerebene III. Quantitative Analyse der Belastungswirkungen 1. Methodik und Grundlagen der Steuerbelastungsvergleiche 2. Entwicklungen der Steuerbelastungen auf Unternehmensebene a) Betrachtung der Ausgangsunternehmen b) Auswirkungen einer Finanz- und Wirtschaftskrise

3. Entwicklungen der Steuerbelastungen auf Gesamtebene unter Einbeziehung der Anteilseigner IV. Ergebnisse der Untersuchung V. Folgerungen 1. Mittelfristige Maßnahmen a) Zinsschranke b) Gewerbesteuerliche Hinzurechnungsvorschriften c) Steuerliche Gewinnermittlung und Verlustabzug d) Korrekturen bei der Abgeltungsteuer 2. Langfristige Maßnahmen a) Integration der Unternehmenssteuern in die persönliche Einkommensteuer b) Umgestaltung der Gewerbesteuer

I. Einleitung Die Reformen der Unternehmensbesteuerung in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren sind durch gegenläufige Entwicklungen geprägt. Mit der Vermögensteuer und der Gewerbesteuer vom Kapital wurden die bedeutsamsten Substanzsteuern in Deutschland in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts abgeschafft und damit eine Abkehr von der Substanzbesteuerung eingeläutet. Gleichzeitig führte der internationale Steuerwettbewerb zu einer kontinuierlichen Absenkung der tariflichen Unternehmenssteuersätze. Die daraus resultierenden Einnahmeausfälle wurden zu einem Teil durch Einschränkungen bei der steuerlichen Gewinnermittlung finanziert. Zu einem anderen Teil wurden jüngst – zuletzt durch das Unternehmensteuerreformgesetz 20081 – vermehrt ertragsunabhängige Elemente zur Besteuerung herangezogen, indem der Abzug betrieblicher Aufwendungen teilweise oder vollständig versagt wurde und der Gewinn somit keine reine Nettogröße mehr dar-

__________ 1 Unternehmensteuerreformgesetz v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912.

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Christoph Spengel / Benedikt Zinn

stellt. Bedeutsame Regelungen, die zu einer sog. indirekten Substanzbesteuerung führen, sind beispielsweise die Mindestbesteuerung im Rahmen von Verlustvorträgen, die neuen Mantelkaufregelungen, die Zinsschranke und die gewerbesteuerlichen Hinzurechnungsvorschriften. Auf der Ebene der Anteilseigner ist schließlich festzustellen, dass steuerliche Entlastungen für Unternehmen durch Mehrbelastungen infolge des zunehmenden Definitivcharakters der Unternehmenssteuern kompensiert wurden. Auch dies ist Ausdruck des steuerlichen Standortwettbewerbs um die Ansiedlung von Investitionen, die sich international vor allem in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft vollziehen. Die besondere Problematik der direkten und indirekten Substanzbesteuerung auf Unternehmensebene besteht darin, dass im Falle einer schlechten Ertragslage die Steuerzahlung die Liquidität zusätzlich belastet oder die Steuer sogar aus der Vermögenssubstanz zu entrichten ist, falls mit dem der Besteuerung unterliegenden Vermögen keine oder nicht ausreichende Erträge erzielt werden. Rückwirkungen auf das Investitionsverhalten der Unternehmen entstehen zudem dadurch, dass sich der Fiskus mit zunehmender Substanzbesteuerung weniger am Investitionsrisiko der Unternehmen beteiligt. Dies kann dazu führen, dass risikobehaftete Investitionen nicht mehr durchgeführt werden. Verschärft wird dieses Problem durch die zunehmende Diskriminierung der Eigenkapitalfinanzierung auf Anteilseignerebene. Der Beitrag untersucht die wesentlichen Konsequenzen der Unternehmensteuerreformen in Deutschland in den Jahren 1990 bis 2009 in qualitativer und quantitativer Hinsicht. Die Untersuchung ist auf die Besteuerung nationaler Investitionen in Kapitalgesellschaften beschränkt, bezieht jedoch die Besteuerung der Anteilseigner ein. Zunächst wird ein kurzer Überblick über die relevanten Steueränderungen im Untersuchungszeitraum gegeben (Punkt II). Anschließend erfolgt auf der Basis der jeweils in den Jahren 1990, 1993, 1998, 2004 und 2009 geltenden Rechtsstände ein quantitativer Steuerbelastungsvergleich (Punkt III). Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse (Punkt IV) werden abschließend Überlegungen zur Weiterentwicklung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland abgeleitet (Punkt V).

II. Wesentliche Änderungen bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihren Anteilseignern in Deutschland zwischen 1990 und 2009 1. Unternehmensebene Kapitalgesellschaften wurden während des Untersuchungszeitraums zunächst im Rahmen der Gewerbekapital- und Vermögensteuer durch die Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung (verlängerte Maßgeblichkeit2) sowie durch eine deutliche Erhöhung der Freibeträge für Betriebsver-

__________ 2 Vgl. z. B. Rödder, Die Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung, DStR 1992, 965 ff.

400

Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren

mögen ab dem 1.1.1993 entlastet.3 Mit der Aussetzung der Vermögensteuer zum 1.1.19974 und der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1.1.19985 wurde schließlich eine grundlegende Abkehr von der direkten Substanzbesteuerung vollzogen. Flankiert wurden diese Entlastungen durch kontinuierliche Senkungen der körperschaftsteuerlichen Tarifbelastung zwischen 1990 und 2009 von anfänglich 50 % auf aktuell 15 %. Hinzu kommt allerdings der Solidaritätszuschlag, der zwischen dem 1.7.1991 und dem 30.6.1992 sowie in den Jahren 1995 bis 1997 7,5 % betragen hat und seit 1998 unverändert i. H. v. 5,5 % der festzusetzenden Körperschaftsteuer erhoben wird. Im Gegenzug wurden die ertragsteuerlichen Bemessungsgrundlagen verbreitert und vermehrt Elemente einer indirekten Substanzbesteuerung eingeführt. Tabelle 1 gibt für die Jahre 1990, 1993, 1998, 2004 und 2009 einen Überblick über die wesentlichen Veränderungen im Rahmen der Körperschaftsteuer. Bedeutsam sind insbesondere folgende Maßnahmen: Es besteht eine Tendenz zur Einschränkung des Verlustabzugs. Bis zum Jahr 1999 war ein zweijähriger, auf DM 10 Mio. (rund € 5,11 Mio.) begrenzter Verlustrücktrag sowie ein zeitlich und betragsmäßig unbeschränkter Verlustvortrag möglich. Heutzutage ist der Verlustrücktrag auf ein Jahr und maximal € 511.500 begrenzt; im Rahmen des Verlustvortrags ist die seit dem Jahr 2004 geltende Mindestbesteuerung6 zu beachten. Diesbezüglich7 sowie durch die Verschärfung der Mantelkaufregelungen8 im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 kommt es zu zunehmenden Verletzungen des objektiven Nettoprinzips. Hinzu kommen gravierende Einschnitte bei der bilanziellen Verlustvorsorge. Angesprochen sind das seit 1997 bestehende Verbot der Bildung von Drohverlustrückstellungen9, das seit 1999 geltende Verbot zur Vornahme von Teilwertabschreibungen im Fall vorübergehender Wertminderungen10, die im gleichen Jahr erfolgte Reduzierung der Ansatz- und Bewertungsspielräume bei Rückstellungen einschließlich der Pflicht zur Abzinsung langfristiger Verbindlichkeiten und Rückstellungen sowie die im Jahr 2001 vollzogene Verminderung der steuerlichen Regelabschreibungen für Gebäude und bewegliche Wirtschaftsgüter11 einschließlich der Verlängerung der steuerlichen Nutzungsdauern. Einschränkungen beim Verlustabzug und der bilanziellen Verlustvorsorge drängen das Vorsichtsprinzip bzw. das Imparitätsprinzip für steuerliche Zwecke in den Hintergrund. Dadurch kommt es zu Liquidi-

__________

3 Steueränderungsgesetz vom 25.2.1992, BGBl. I 1992, 297. 4 Vgl. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BStBl. II 1995, 655. 5 Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform v. 29.10.1997, BGBl. I 1997, 2590. 6 Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz v. 22.12.2003 (ProtErklG), BGBl. I 2003, 2840. 7 Vgl. Lang/Englisch, Zur Verfassungswidrigkeit der neuen Mindestbesteuerung, StuW 2005, 3 ff. 8 Vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., 452. 9 Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform v. 29.10.1997 (Fn. 5). 10 Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402. 11 Steuersenkungsgesetz vom 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433.

401

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

tätsnachteilen und zu einer systematischen Benachteiligung riskanter Investitionen. Beide Maßnahmen stehen in diametralem Gegensatz zueinander. Nur für den Fall, dass ein zeitlich und betragsmäßig unbeschränkter sowie verzinslicher Verlustabzug besteht, kann auf das Imparitätsprinzip für steuerliche Zwecke verzichtet werden.12 Versagt der Gesetzgeber dagegen den Steuerpflichtigen, künftige Verluste im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung zu berücksichtigen und somit eine bilanzielle Verlustvorsorge zu treffen, muss zunehmend gewährleistet sein, dass tatsächlich realisierte Verluste durch einen großzügigen Verlustabzug geltend gemacht werden können. Tabelle 1: Veränderungen im Rahmen der Körperschaftsteuer (1990–2009) 1990

1993

1998

2004

2009

Vollanrechnung mit gespaltenem Tarif

Vollanrechnung mit gespaltenem Tarif

Vollanrechnung mit gespaltenem Tarif

ShareholderRelief

ShareholderRelief

KSt – Satz (%) Thesaurierung

50

50

45

25

15

Ausschüttung

36

36

30









5,5

5,5

5,5

Abschreibungen Wirtschaftsgebäude

linear (25 Jahre)

linear (25 Jahre)

linear (25 Jahre)

linear (33 Jahre)

linear (33 Jahre)

Bewegliche Wirtschaftsgüter

linear/degressiv (max 30 %)

linear/degressiv (max 30 %)

linear/degressiv (max 30 %)

linear/degressiv (max 20 %)

linear/degressiv (max 25 %)

Immaterielle Wirtschaftsgüter

linear (bND)

linear (bND)

linear (bND)

linear (bND)

linear (bND)

Körperschaftsteuertarif- und system Körperschaftsteuersystem

Solidaritätszuschlag (%) Bemessungsgrundlage

Gesellschafterfremdfinanzierung

Abzugsbeschrän- Abzugsbeschrän- Abzugsbeschrän- Umqualifizierung kungen, falls die kungen, falls die kungen, falls die als vGA, wenn vereinbarte Ververeinbarte Ververeinbarte VerFremdkapitalzinsung nicht den zinsung nicht den zinsung nicht den vergütungen an Marktverhältnis- Marktverhältnis- Marktverhältniswesentlich besen entspricht. sen entspricht. sen entspricht. teiligte Gesellschafter Anwendung des § 8a KStG im Wesentlichen nur auf ausländische Anteilseigner.

Zinsschranke

(> 25 %) die Freigrenze von € 250.000 übersteigen. Fremdvergleich möglich. Safe haven

Verlustvortrag Jahre Betrag

unbegrenzt unbegrenzt

unbegrenzt unbegrenzt

unbegrenzt unbegrenzt

unbegrenzt € 1 Mio./60 % (Mindestbesteuerung)

unbegrenzt € 1 Mio./60 % (Mindestbesteuerung)

__________ 12 Vgl. Schreiber, Gewinnermittlung und Besteuerung der Einkommen, StuW 2002, 109.

402

Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren

Verlustrücktrag Jahre Betrag Untergang von Verlustvorträgen

Pensionsrückstellungen Rechnungszins (%) Eintrittsalter (Jahre) Abziehbare Steuern

1990

1993

1998

2004

2009

2 DM 10 Mio.

2 DM 10 Mio.

2 DM 10 Mio.

1 € 511.500

1 € 511.500

– mehr als 75 % der Anteile wechseln

– mehr als 75 % der Anteile wechseln

– mehr als 50 % der Anteile wechseln

– mehr als 50 % der Anteile wechseln

– überwiegend neues Betriebsvermögen, das nicht nur der Sanierung dient

– überwiegend neues Betriebsvermögen, das nicht nur der Sanierung dient

– überwiegend neues Betriebsvermögen, das nicht nur der Sanierung dient

– überwiegend neues Betriebsvermögen, das nicht nur der Sanierung dient

Qualifizierter Anteilseignerwechsel führt zum (teilw.) Wegfall des Verlustabzugs. Keine Sanierungsklausel

6 30

6 30

6 30

6 28

6 27 Grundsteuer

Grundsteuer

Grundsteuer

Grundsteuer

Grundsteuer

Gewerbesteuer vom Ertrag und Kapital

Gewerbesteuer vom Ertrag und Kapital

Gewerbesteuer vom Ertrag

Gewerbesteuer vom Ertrag

Über die Anknüpfung des Gewerbeertrags an den körperschaftsteuerlichen Gewinn strahlen die o. a. Maßnahmen im Bereich der Körperschaftsteuer auf die Gewerbesteuer aus. Die Ausweitung der gewerbesteuerlichen Hinzurechnungsvorschriften für Finanzierungsentgelte (zur Entlastung kleinerer und mittlerer Unternehmen gilt ein Freibetrag von € 100.000) sowie die Nichtberücksichtigung der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe im Rahmen der Unternehmenssteuerreform 200813 stärkten zusätzlich den Definitivcharakter der Gewerbesteuer. Diese Änderungen führen zu einem weiteren Auseinanderklaffen der Bemessungsgrundlage von Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer. Durch den Einbezug ertragsunabhängiger Elemente in die gewerbesteuerliche Bemessungsgrundlage kommt es zudem zu einer Ausweitung der Quellenbzw. Substanzbesteuerung. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die Hinzurechnung der Finanzierungsentgelte in bestimmten Fällen mit dem EU-Recht, namentlich der Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie14, kollidiert. Hier bleibt das Urteil des EuGH auf den Vorlagebeschluss des BFH abzuwarten.15 Innerhalb des Untersuchungszeitraums wurde schließlich der Abzug von Finanzierungsaufwendungen zunächst bezogen auf Gesellschafterdarlehen (§ 8a KStG zum 1.1.1994)16 sowie ab 200817 für sämtliche Darlehen durch die Zinsschranke (§ 4h EStG, § 8a KStG) eingeschränkt. Die Zinsschranke führt auch bei rein nationalen Sachverhalten zumindest zu temporären Doppelbesteuerungen, gilt als wenig praktikabel und kollidiert im Einzelfall mit dem Verfas-

__________ 13 14 15 16 17

Unternehmensteuerreformgesetz v. 14.8.2007 (Fn. 1). Richtlinie 2003/49/EG des Rates v. 3.6.2003. BFH v. 27.5.2009 – I R 30/08, IStR 2009, 780 = FR 2010, 139. Standortsicherungsgesetz v. 13.9.2003, BGBl. I 1993, 1569. Unternehmensteuerreformgesetz vom 14.8.2007 (Fn. 1).

403

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

sungsrecht, den Doppelbesteuerungsabkommen und dem EU-Recht.18 Darüber hinaus kommt es zu einer Ausweitung der Quellenbesteuerung, welche die o. a. Tendenzen im Bereich der Gewerbesteuer verstärkt und dem Steuerstandort Deutschland erheblichen Schaden zufügt. Bedingt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise wurden zum Ende des Untersuchungszeitraums mehrere punktuelle Steueränderungen beschlossen. Im Rahmen des sog. Konjukturpaketes I19 wurde für die in den Jahren 2009 und 2010 angeschafften beweglichen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens eine Wiedereinführung der degressiven Abschreibung i. H. v. 25 % beschlossen, deren konjunkturelle Wirkungen vermutlich verpuffen werden. Das Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung20 hat die Freigrenze im Rahmen der Zinsschranke befristet auf ein Jahr von € 1 Mio. auf € 3 Mio. erhöht und die Mantelkaufregelung des § 8c KStG um eine zeitlich befristete Sanierungsklausel ergänzt. Schließlich wurden durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz21 weitere Maßnahmen auf den Weg gebracht: – Zinsschranke: Dauerhafte Erhöhung der Freigrenze des § 4h Abs. 2 Nr. 1 EStG i. V. m. § 8a KStG auf € 3 Mio., Einführung eines Vortrags des im Rahmen der Zinsabzugsbeschränkungen nicht genutzten EBITDA für einen Zeitraum von jeweils fünf Jahren (EBITDA-Vortrag, § 4h Abs. 1 S. 3 EStG) sowie Erhöhung des Toleranzrahmens von 1 % auf 2 % beim Eigenkapitalquotenvergleich; – Mantelkaufregelung: Aufhebung der zeitlichen Begrenzung der Sanierungsklausel (§ 8c Abs. 1a KStG), Einführung einer Konzernklausel sowie Erhalt nicht genutzter Verluste in Höhe der stillen Reserven bei der übertragenen Gesellschaft (§ 8c Abs. 1 S. 5 KStG); – Gewerbesteuer: Senkung des Hinzurechnungssatzes des § 8 Nr. 1 Buchst. e GewStG für Immobilienmieten von 65 % auf 50 %. Während die Mantelkaufregelung dadurch deutlich entschärft wurde, können die Korrekturen bei der Zinsschranke und der Gewerbesteuer weder überzeugen noch die o. a. rechtlichen Zweifelsfragen ausräumen und die negativen ökonomischen Konsequenzen beseitigen. 2. Anteilseignerebene Für die Besteuerung der Anteilseigner (natürliche Personen) deutscher Kapitalgesellschaften ist zum einen die Nichterhebung der privaten Vermögensteuer

__________

18 Vgl. Hey, Verletzung fundamentaler Besteuerungsprinzipien durch die Gegenfinanzierungsmaßnahmen des Unternehmenssteuerreformgesetzes 2008, BB 2007, 1303 ff. 19 Gesetz zur Umsetzung steuerrechtlicher Regelungen des „Maßnahmenpakets Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“ v. 21.12.2008, BGBl. I 2008, 2896. 20 Gesetz zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung) v. 16.7.2009, BGBl. I 2009, 1959. 21 Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (Wachstumsbeschleunigungsgesetz) v. 20.12.2009, BGBl. I 2009, 3950. Dazu Herzig/Bohn, Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz als Umsetzung des Sofortprogramms der Koalitionsparteien zum Unternehmensteuerrecht, DStR 2009, 2341 ff.

404

Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren

zum 1.1.199722 bedeutsam. Zum anderen sind im Untersuchungszeitraum tarifliche Entlastungen im Rahmen der Einkommensteuer – vor allem durch eine kontinuierliche Reduktion des Eingangs- und des Spitzensteuersatzes sowie eine Erhöhung des Grundfreibetrags – zu verzeichnen. Schließlich kommen gravierende Änderungen im Rahmen der Einkommensbesteuerung von Dividenden und weiterer Kapitalerträge hinzu. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die wesentlichen Änderungen im Bereich der Einkommensteuer im Untersuchungszeitraum. Tabelle 2: Entwicklungen im Rahmen der Anteilseignerbesteuerung: Einkommensteuer 1990

1993

1998

2004

2009

DM 5.616

DM 5.616

DM 12.365

€ 7.664

Abgeltungsteuer/Teileinkünfteverfahren (€ 7.834)

19-53

19-53

25,9-45

16-45

25/14-45





5,5

5,5

5,5

Halbeinkünfteverfahren

Abgeltungsteuer/ Teileinkünfteverfahren

Steuertarif Grundfreibetrag

Grenzsteuersätze (%) Solidaritätszuschlag (%) Bemessungsgrundlage Beteiligungserträge

Bruttobardividen- Bruttobardividen- Bruttobardividende zzgl. der auf de zzgl. der auf de zzgl. der auf der Bruttobardivi- der Bruttobardivi- der Bruttobardividende lastenden dende lastenden dende lastenden KörperschaftKörperschaftKörperschaftsteuer i. H. v. steuer i. H. v. steuer i. H. v. 3/7. 9/16. Anrech9/16. AnrechnAnrechnungsnungsanspruch. ungsanspruch. anspruch.

Erträge aus sonstigen Kapitalforderungen

Steuerpflichtige Einkünfte aus Kapitalvermögen

Steuerpflichtige Einkünfte aus Kapitalvermögen

Steuerpflichtige Einkünfte aus Kapitalvermögen

Steuerpflichtige Einkünfte aus Kapitalvermögen

Abgeltungsteuer/ Normaltarif bei einer Mindestbeteiligung von 10 %

Werbungskostenpauschbetrag Einkünfte aus Kapitalvermögen

DM 100

DM 100

DM 100

€ 51

Sparerpauschbetrag i. H. v. € 801

Sparerfreibetrag

DM 600

DM 6.000

DM 6.000

€ 1.370

ja

ja

ja

ja

Splitting

ja

Die Senkung der Unternehmenssteuersätze wurde durch Reformen des Körperschaftsteuersystems flankiert. Markante Eckpunkte im Bereich der Dividendenbesteuerung sind die Abschaffung des 1977 eingeführten Vollanrechnungsverfahrens und dessen Ersatz durch das Halbeinkünfteverfahren im Jahr 200123 sowie der Ersatz des Halbeinkünfteverfahrens durch die 25 %ige Abgeltung-

__________ 22 Vgl. BVerfG (Fn. 4). 23 Steuersenkungsgesetz v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433.

405

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

steuer bzw. das Teileinkünfteverfahren zum 1.1.200924. Beide Reformen haben zur Konsequenz, dass Entlastungen auf Unternehmensebene durch Reduktionen des Satzes der Körperschaftsteuer – im Jahr 2001 von 45 % auf 25 % und im Jahr 2008 von 25 % auf 15 % – über einkommensteuerliche Mehrbelastungen beim Aktionär kompensiert wurden. Tabelle 3: Tarifliche Steuerbelastung von Kapitalgesellschaften und Anteilseignern (1990, 2004 und 2009, Anteile im Privatvermögen) 1990 Vollanrechnungsverfahren

2004 Halbeinkünfteverfahren

2009 AbgSt

45 % 50 %

25 % 50 %

45 % 25 %

25 % 25 %

25 % 15 %

100,00

100,00

100,00

100,00

100,00

-16,67 83,33 -41,66 41,67 58,33

-16,67 83,33 -41,66 41,67 58,33

-16,67 83,33 -20,83 62,50 37,50

-16,67 83,33 -20,83 62,50 37,50

-14,00 86,00 -15,00 71,00 29,00

Anteilseigner Dividende ESt Steuerbelastung Einkünfte nach Steuern

41,67 4,16 -4,16 45,83

41,67 20,83 -20,83 62,50

62,50 -14,06 14,06 48,44

62,50 -7,81 7,81 54,69

71,00 -17,75 17,75 53,25

Gesamtsteuerbelastung

54,17

37,50

51,56

45,31

46,75

ESt-Satz KSt-Satz Kapitalgesellschaft Gewinn vor Steuern GewSt (400 %) Gewinn nach GewSt KSt Gewinn nach Steuern Steuerbelastung

Tabelle 3 zeigt die Steuerbelastungen auf Dividenden für die Jahre 1990, 2004 und 2009. Aus Vergleichsgründen wurde beim Anteilseigner für die Jahre 1990 und 2004 ein einheitlicher Einkommensteuersatz von 45 % bzw. 25 % unterstellt. Der Satz von 25 % entspricht dem Satz der Abgeltungsteuer ab dem Jahr 2009. Deutlich wird, dass die Anteilseigner mit jedem Systemwechsel höher belastet wurden. Aus einer Körperschaftsteuererstattung von 4,16 (ESt-Satz 45 %) bzw. 20,83 (ESt-Satz 25 %) im Jahr 1990 wird eine Einkommensteuerzahlung von 17,75 im Jahr 2009. In Abhängigkeit des persönlichen Einkommensteuersatzes ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für die Höhe der Gesamtsteuerbelastung: Während die Gesamtsteuerbelastung bei hohen Einkommensteuersätzen (hier: 45 %) und damit gleichbedeutend hohen Einkünften von 54,17 auf 46,75 sinkt, steigt sie bei niedrigen Einkommensteuersätzen (hier: 25 %) von 37,50 auf 46,75.

__________ 24 Unternehmensteuerreformgesetz v. 14.8.2007 (Fn. 1).

406

Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren Tabelle 4: Steuerbelastung von Dividenden und festverzinslichen Wertpapieren

Dividenden (1)

Festverzinsliche Wertpapiere (2)

Differenz (1) – (2)

1990 ESt-Satz: 45 % ESt-Satz: 25 %

54,17 37,50

45,00 25,00

9,17 12,50

2004 ESt-Satz: 45 % ESt-Satz: 25 %

51,56 45,31

45,00 25,00

6,56 20,31

2009

46,25

25,00

21,25

Steuerbelastung

Erträge aus sonstigen Kapitalforderungen unterliegen der individuellen Einkommensteuer und seit 2009 der Abgeltungsteuer i. H. v. 25 %. Rationale Investoren sehen sich deshalb zunehmenden Anreizen ausgesetzt, ihr Geld anstatt in Aktien oder GmbH-Anteilen in risikoärmere festverzinsliche Wertpapiere anzulegen. Die daraus fließenden Zinsen unterliegen lediglich dem insoweit niedrigeren Satz der Einkommensteuer. Tabelle 4 verdeutlicht die zunehmende Vorteilhaftigkeit von Anlagen in festverzinsliche Wertpapiere gegenüber Unternehmensanteilen, die bei niedrigen Einkommensteuersätzen (hier: 25 %) besonders ausgeprägt ist. Insbesondere die seit 2009 greifende Abgeltungsteuer führt zu einer Verkomplizierung des Steuerrechts und verschlechtert die Finanzierungsneutralität der Besteuerung. Ausschlaggebend ist die fehlende Integration der Unternehmenssteuern in die persönliche Einkommensteuer in Folge des unkoordinierten Nebeneinanders von Unternehmenssteuern, persönlicher Einkommensteuer und Abgeltungsteuer. Es existieren drei Steuersätze: der progressive einkommensteuerliche Regeltarif von 14 % bis 45 %, die tarifliche Belastung der Unternehmensgewinne von etwa 30 % sowie der Satz der Abgeltungsteuer von 25 %. Im Ergebnis kommt es zu einer massiven Benachteiligung der Eigenfinanzierung. Die Kapitalkosten steigen an und es bestehen erhöhte Anreize, den Unternehmen Liquidität zu entziehen. Damit werden völlig falsche Signale für Investitionen gesetzt.

III. Quantitative Analyse der Belastungswirkungen 1. Methodik und Grundlagen der Steuerbelastungsvergleiche Die Konsequenzen der oben beschriebenen Maßnahmen für die effektiven Steuerbelastungen von Kapitalgesellschaften werden mit Hilfe des European Tax Analyzer quantifiziert. Kern des European Tax Analyzer25 ist ein Unter-

__________

25 Vgl. Jacobs/Spengel, European Tax Analyzer, 1996; sowie zuletzt Oestreicher/ Reister/Spengel, Common Corporate Tax Base (CCTB) and Effective Tax Burdens in the EU Member States, WTJ 2009, 48 ff. Zur konkreten Vorgehensweise bei der Ermittlung des Endvermögens am Planungshorizont vgl. ebenda.

407

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

nehmensmodell, das die effektive Steuerbelastung von Unternehmen unter Berücksichtigung der relevanten Steuerarten, Tarife und Bemessungsgrundlagen sowie Körperschaftsteuersysteme unter Einschluss der bedeutsamsten bilanziellen und steuerlichen Wahlrechte über einen Zeitraum von zehn Perioden berechnet. Im Einzelnen werden die Abschreibungsregelungen für Wirtschaftsgebäude, das bewegliche Sachanlagevermögen und immaterielle Wirtschaftsgüter (Methode, Abschreibungssätze, betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer) einbezogen, sowie die Vorratsbewertung (Herstellungskosten, Bewertungsvereinfachungsverfahren), die steuerliche Verlustverrechnung (Verlustrück- und -vortrag mit Ausnahme der Mantelkaufregelungen), die Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung (u. a. Zinsschranke), die Behandlung inund ausländischer Beteiligungserträge, die Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung (Ansatz und Bewertung von Pensionsrückstellungen) und die gewerbesteuerlichen Hinzurechnungs- und Kürzungsvorschriften (Entgelte für Sach- und Finanzkapital, Grundbesitz, in- und ausländische Schachtelbeteiligungen) berücksichtigt. Die jährlich anfallenden Steuerzahlungen werden im Rahmen einer Veranlagungssimulation berechnet, indem hinsichtlich ihrer ökonomischen Ausgangsausstattung identische Unternehmen in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft nach verschiedenen Steuerrechtsständen veranlagt werden. Maßgröße der effektiven Steuerbelastung ist die steuerbedingte Reduktion des Endvermögens, die das Unternehmen nach zehn Perioden aufweist. Neben den liquiditätswirksamen periodischen Steuerzahlungen werden somit auch die damit verbundenen Zinswirkungen vollständig erfasst. Da das Unternehmen als Kapitalgesellschaft firmiert, kann bei der Analyse der Steuerbelastung zwischen der Ebene des Unternehmens und der Gesamtebene unter Einbezug der Besteuerung der Anteilseigner unterschieden werden. Auf Anteilseignerebene finden dabei sowohl die persönlichen Verhältnisse als auch die gesellschafts- und schuldrechtlichen Beziehungen zwischen Gesellschafter und Gesellschaft Berücksichtigung. Tabelle 5: Erfolgs- und Bilanzkennzahlen der Modellunternehmen sowie Anteilseignerstruktur (Periode 6 von 10) Verarbeitendes Gewerbe (mittelgroßes Modellunternehmen)

Verarbeitendes Gewerbe (großes Modellunternehmen)

5.973.819 8.073.092 209.216 27,83 2,59 19,21 21,74 25,76 29,71

152.605.959 194.064.709 7.046.429 16,34 3,63 16,98 31,80 15,00 23,54

Unternehmenskennzahlen Bilanzsumme (EUR) Umsatzerlöse (EUR) Jahresüberschuss (EUR) Anlageintensität (in %) Umsatzrentabilität (in %) Eigenkapitalrentabilität (in %) Eigenkapitalquote (in %) Vorratsintensität (in %) Personalintensität (in %)

408

Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren Verarbeitendes Gewerbe (mittelgroßes Modellunternehmen)

Verarbeitendes Gewerbe (großes Modellunternehmen)

51 9 je 5 75.000

51 9 je 5 750.000

6

6

Anteilseignerstruktur Beteiligungsquote (in %) Anteilseigener #1 Anteilseigner #2 Anteilseigner #3-#10 Ausschüttung p. a. (€) Zinssatz Gesellschafterdarlehen (in %)

In einem ersten Schritt werden die Folgen der dargelegten Reformmaßnahmen für Kapitalgesellschaften mit repräsentativen Bilanz- und Erfolgsrelationen für Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes in Deutschland berechnet. Die Daten beruhen auf der Bilanzstatistik der Deutschen Bundesbank26, unterschieden wird zwischen mittelgroßen und großen Kapitalgesellschaften.27 Bezüglich der Anteilseignerstruktur wird von zehn natürlichen Personen ausgegangen, die jeweils eine Beteiligung zwischen 5 % und 51 % an der Kapitalgesellschaft halten. Die Einkünfte der Gesellschafter setzen sich wie folgt zusammen: Während des Planungszeitraums von zehn Jahren erfolgt eine jährliche Ausschüttung von € 75.000 (mittelgroße Kapitalgesellschaft) bzw. € 750.000 (große Kapitalgesellschaft), die jedem Gesellschafter entsprechend seiner Beteiligungsquote zufließt. Daneben bestehen mit dem Unternehmen Darlehensverträge i. H. v. € 720.000 (mittelgroße Kapitalgesellschaft) bzw. € 20.567.600 (große Kapitalgesellschaft), die sich ebenfalls nach der Beteiligungsquote auf die jeweiligen Anteilseigner aufteilen und mit einem festen Zinssatz i. H. v. 6 % verzinst werden. Zusätzlich werden sämtliche während des Planungszeitraums einbehaltenen Gewinne der Kapitalgesellschaft in Periode 10 an die Anteilseigner ausgekehrt. Tabelle 5 zeigt die Erfolgs- und Bilanzkennzahlen der Modellunternehmen in der Mitte des Simulationszeitraums sowie die Annahmen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Daten der Anteilseigner. Die durchschnittlichen Modellunternehmen liegen den quantitativen Analysen für sämtliche Steuerrechtsstände im Untersuchungszeitraum zugrunde. Damit ist zwar keine Repräsentativität der Unternehmensdaten für die jeweils betrachteten Jahre gegeben, allerdings ist die Zugrundelegung identischer Ausgangsdaten aus Gründen der Vergleichbarkeit erforderlich. Denn nur auf diese Weise lassen sich die rein steuerlich bedingten Belastungswirkungen isolieren.

__________ 26 Vgl. Deutsche Bundesbank, Verhältniszahlen aus Jahresabschlüssen deutscher Unternehmen von 1998 bis 2000. Statistische Sonderveröffentlichung, 2003. 27 Nach der Klassifizierung der Deutschen Bundesbank fallen unter mittelgroße Unternehmen solche mit Umsatzerlösen zwischen € 2,5 Mio. und € 50 Mio. Große Unternehmen weisen Umsatzerlöse von mehr als € 50 Mio. auf.

409

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

2. Entwicklungen der Steuerbelastungen auf Unternehmensebene a) Betrachtung der Ausgangsunternehmen Die Kapitalgesellschaften beider Größenklassen werden nach den geltenden Rechtsvorschriften der Jahre 1990, 1993, 1998, 2004 und 2009 veranlagt. Für das Jahr 2009 werden zusätzlich die o. a. Maßnahmen des sog. Konjunkturpakets I sowie des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes berücksichtigt. Tabelle 6 zeigt den Verlauf der effektiven Steuerbelastungen sowie das relative Gewicht der einzelnen Steuerarten an der Gesamtsteuerbelastung. Tabelle 6: Effektive Steuerbelastungen und Bedeutung der einzelnen Steuerarten auf Unternehmensebene über den Untersuchungszeitraum 1990–2009 Verarbeitendes Gewerbe (mittelgroßes Modellunternehmen)

Rechtsstand

Bedeutung der einzelnen Steuerarten in % der Gesamtbelastung Effektive SteuerbelasKörperSolidaritätsGewerbe- Grundsteuer GewerbeVermögentung in EUR schaftsteuer zuschlag steuer vom steuer vom steuer (Abw. zu 2009 Ertrag Kapital in %)

1990

2.306.320 (53,58)

74,89 %

0%

20,18 %

0,66 %

2,12 %

2,15 %

1993

2.184.523 (45,47)

74,96 %

0%

22,19 %

0,80 %

1,22 %

0,83 %

1998

2.042.852 (36,04)

67,77 %

4,81 %

26,35 %

1,07 %





2004

1.853.487 (23,43)

62,02 %

3,29 %

33,32 %

1,37 %





2009

1.501.683

46,45 %

2,50 %

48,97 %

2,08 %





Wachstumsbeschleunigungsgesetz

1.500.897 (-0,05)

46,46 %

2,50 %

48,96 %

2,08 %





Rechtsstand

Verarbeitendes Gewerbe (großes Modellunternehmen) Bedeutung der einzelnen Steuerarten in % der Gesamtbelastung Effektive SteuerbelasKörperSolidaritätsGewerbe- Grundsteuer GewerbeVermögentung in EUR schaftsteuer zuschlag steuer vom steuer vom steuer (Abw. zu 2009 Ertrag Kapital in %)

1990

52.204.370 (48,75)

76,02 %

0%

20,22 %

0,31 %

1,82 %

1,62 %

1993

49.453.262 (40,91)

75,17 %

0%

22,24 %

0,38 %

1,21 %

1%

1998

46.135.110 (31,46)

68,12 %

4,97 %

26,40 %

0,51 %





2004

41.537.368 (18,36)

62,49 %

3,33 %

33,53 %

0,65 %





2009

35.094.998

44,59 %

2,43 %

51,93 %

1,05 %





Wachstumsbeschleunigungsgesetz

34.887.045 (-0,88)

44,59 %

2,43 %

51,93 %

1,05 %





410

Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren

Für beide Modellunternehmen ist über den Untersuchungszeitraum eine Reduktion der Effektivbelastungen zu erkennen. Bei einem den Berechnungen zugrunde gelegten bundesdurchschnittlichen Gewerbesteuerhebesatz von 432 % für den Rechtsstand 200928 zeigt sich zudem, dass sich das Gewicht der einzelnen Steuerarten tendenziell von der Körperschaftsteuer auf die Gewerbesteuer vom Ertrag verschoben hat. Ursächlich hierfür ist neben den verschärften Hinzurechnungstatbeständen des § 8 Nr. 1 GewStG insbesondere die Stärkung des Definitivcharakters der Gewerbesteuer durch ihre Nichtberücksichtigung als Betriebsausgabe. Insgesamt verringert sich die Steuerbelastung der mittelgroßen Kapitalgesellschaft von € 2.306.320, wenn das Unternehmen nach dem Rechtsstand 1990 veranlagt wird, um € 804.637 (entspricht bezogen auf den Rechtsstand 2009 einer Reduktion um 53,58 %) auf € 1.501.683 nach dem Rechtsstand 2009. Ausschlaggebend für diese Entlastung ist in erster Linie die Reduzierung der Tarifbelastung für thesaurierte und ausgeschüttete Gewinne von 50 % bzw. 36 % im Jahr 1990 auf den aktuell geltenden einheitlichen Steuersatz i. H. v. 15 %. Weitere Entlastungen ergeben sich infolge der Abkehr von den direkten Substanzsteuern. Konkret wurde die Belastung der Unternehmen mit Gewerbekapital- und Vermögensteuer zunächst durch die Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung sowie durch die Erhöhung des Freibetrags für das Betriebsvermögen ab dem 1.1.1993 von € 98.480 nach dem Rechtsstand 1990 auf € 44.783 im Jahr 1993 reduziert. Die grundlegende Abkehr von der direkten Substanzbesteuerung durch die Aussetzung der Vermögensteuer sowie der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer brachte zusätzliche Entlastungen. Gleichzeitig wirken sich die Gegenfinanzierungsmaßnahmen zur Verbreiterung der ertragssteuerlichen Bemessungsgrundlage für die mittelständische Kapitalgesellschaft nach dem Rechtsstand 2009 wenig belastend aus. Während die Zinsschranke und die Mindestbesteuerung des § 10d EStG nicht greifen, führen die Änderungen im Bereich der gewerbesteuerlichen Hinzurechnungsvorschriften für Finanzierungsaufwendungen aufgrund des Freibetrags des § 8 Nr. 1 GewStG i. H. v. € 100.000 lediglich zu geringen Mehrbelastungen. Dementsprechend sind die Entlastungswirkungen der untersuchten Maßnahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes für Unternehmen dieser Größenklasse mit 0,05 % kaum spürbar. Im Vergleich zum mittelgroßen Unternehmen fallen die relativen Entlastungen für die große Kapitalgesellschaft mit 48,75 % insgesamt geringer aus. Ursächlich hierfür ist, dass die Reduzierung der Tarifbelastung in höherem Ausmaß durch Gegenfinanzierungsmaßnahmen kompensiert wird. Dies gilt im Besonderen für die Regelungen zur Beschränkung des Zinsabzugs im Rahmen der Unternehmenssteuerreform 2008: Verglichen mit den übrigen untersuch-

__________ 28 Vgl. Institut „Finanzen und Steuern“ e.V. (Hrsg.), IFSt-Schrift Nr. 458, 2009, 40. Für die übrigen Rechtsstände beträgt dieser bundesdurchschnittliche Hebesatz 407 % (1990), 403 % (1993), 426 % (1998) bzw. 432 % (2004).

411

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

ten Rechtsständen wirkt die Neufassung der gewerbesteuerlichen Hinzurechnungsvorschriften des § 8 Nr. 1 GewStG sowie die Einführung der Zinsschranke deutlich belastend. Die Entlastungen der Maßnahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes fallen folglich höher aus als beim mittelgroßen Unternehmen, machen sich im Modell aber kaum bemerkbar. Für das große Musterunternehmen greift aufgrund des hohen Nettozinsaufwandes die dauerhafte Erhöhung der Freigrenze nach § 4h Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht. Des Weiteren fallen die Entlastungen infolge des EBITDA-Vortrages sowie der Änderung der gewerbesteuerlichen Hinzurechnungsvorschrift für Immobilienmieten moderat aus. b) Auswirkungen einer Finanz- und Wirtschaftskrise Die Unternehmenssteuerreform 2008 gilt gemeinhin als „Reform für Siegertypen“. Gemeint ist damit, dass von der Finanz- und Wirtschaftskrise besonders betroffene Unternehmen eher be- als entlastet werden. In der Krise kommt es vor allem zu einem Einbruch des operativen Betriebsergebnisses, einem Rückgang der Investitionen und einer Verteuerung von Krediten. Mit anderen Worten sinkt das steuerliche EBITDA, womit die krisenverschärfenden steuerlichen Regelungen offenkundig werden: Einführung der Zinsschranke, verschärfte Hinzurechnungen bei der Gewerbesteuer sowie Verlustabzugsbeschränkungen im Rahmen der Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer.29 Die Konsequenzen dieser krisenverschärfenden Regelungen auf die effektiven Steuerbelastungen des mittelgroßen und des großen Modellunternehmens werden nachfolgend untersucht. Zur Simulation der realwirtschaftlichen Krise wird ein einmaliger Ertragsrückgang unterstellt. Dazu werden die Erträge der Kapitalgesellschaft in der Mitte des Simulationszeitraums (Periode 6 von 10) schrittweise reduziert. Da Unternehmen in Zeiten rückläufiger Ergebnisentwicklungen vermehrt Fremdkapital aufnehmen müssen und dieses Kapital bedingt durch die Entwicklungen an den Finanzmärkten momentan sehr hoch zu verzinsen ist, werden gleichzeitig die Zinssätze für kurz- und langfristige Verbindlichkeiten ab Simulationsperiode 6 um vier Prozentpunkte erhöht.

__________ 29 Vgl. Prinz, Unternehmenssteuerrecht in der Krise, Status:Recht 2009, 155.

412

Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren Tabelle 7: Auswirkungen einer Finanzkrise auf die effektive Steuerbelastung auf Unternehmensebene Auswirkungen einer Finanzkrise auf die effektive Steuerbelastung I. Verarbeitendes Gewerbe (mittelgroßes, konzernzugehöriges Modellunternehmen)

Rechtsstand

Ausgangsfall

Anstieg der kurzfristigen Sollzinsen von 7 % auf 11 % und der langfristigen Sollzinsen von 6 % auf 10 % und Rückgang der Erträge in Periode 6 von 10 um (Anteil an den Umsatzerlösen in Periode 6 von 10 in %): - € 500.000 (6,19 %)

- € 1.000.000 (12,38 %)

- € 1.500.000 (18,58 %)

EUR (Abw. in %)

EUR (Abw. in %)

EUR (Abw. in %)

EUR (Abw. in %)

1990

2.306.320 (53,58)

1.632.486 (46,76)

1.348.067 (42,92)

997.846 (39,04)

1993

2.184.523 (45,47)

1.542.533 (38,67)

1.263.858 (33,99)

934.230 (30,17)

1998

2.042.852 (36,04)

1.446.643 (30,05)

1.185.495 (25,68)

872.255 (21,54)

2004

1.853.487 (23,43)

1.324.527 (19,07)

1.124.865 (16,25)

910.268 (26,83)

2009

1.501.683

1.112.354

943.260

717.679

Wachstumsbeschleunigungsgesetz

1.500.897 (-0,05)

1.111.765 (0,05)

942.754 (0,05)

716.998 (0,09)

II. Verarbeitendes Gewerbe (großes, konzernzugehöriges Modellunternehmen)

Rechtsstand

Ausgangsfall

Anstieg der kurzfristigen Sollzinsen von 7 % auf 11 % und der langfristigen Sollzinsen von 6 % auf 10 % und Rückgang der Erträge in Periode 6 von 10 um (Anteil an den Umsatzerlösen in Periode 6 von 10 in %): - € 5.000.000 (2,58 %)

- € 10.000.000 (5,16 %)

- € 20.000.000 (10,32 %)

Euro (Abw. in %)

EUR (Abw. in %)

EUR (Abw. in %)

EUR (Abw. in %)

1990

52.204.370 (48,75)

38.336.819 (29,00)

35.383.381 (25,25)

29.283.487 (13,90)

1993

49.453.262 (40,91)

36.252.201 (21,99)

33.428.344 (18,33)

27.581.100 (7,28)

1998

46.135.110 (31,46)

33.945.042 (14,23)

31.341.015 (10,94)

25.867.395 (0,61)

2004

41.537.368 (18,36)

30.877.550 (3,90)

28.512.920 (-0,93)

24.043.682 (-6,48)

2009

35.094.998

29.717.405

28.250.648

25.710.260

Wachstumsbeschleunigungsgesetz

34.887.045 (-0,88)

29.017.345 (-2,36)

27.499.815 (-2,66)

24.860.478 (-3,31)

Die Ergebnisse in Tabelle 7 zeigen für die Unternehmen beider Größenklassen, dass sich der Belastungsvorteil des Rechtsstandes 2009 bei abnehmender Ertragslage und steigendem Fremdkapitalaufwand deutlich verringert. In extremen Situationen ergeben sich im Vergleich zu vorherigen Rechtsständen für das große Modellunternehmen sogar Mehrbelastungen.

413

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

Für das mittelgroße Modellunternehmen ergeben sich für die Rechtsstände 2004 und 2009 negative Effekte aus der Einführung der Mindestbesteuerung und der zeitlichen und betragsmäßigen Beschränkung des Verlustrücktrages: Während die in Simulationsperiode 6 entstehenden Verluste nach den Rechtsständen 1990 bis 1998 weitestgehend mit Gewinnen der beiden Vorperioden verrechnet werden können, müssen diese für die Rechtsstände 2004 und 2009 zum großen Teil vorgetragen werden. Neben negativen Liquiditäts- und Zinseffekten steigt somit die Gefahr eines vollständigen Verlustuntergangs im Rahmen der Mantelkaufregelungen des § 8c KStG bei notwendigen Sanierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen. Die Aufhebung der zeitlichen Beschränkung der im Rahmen des Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung eingeführten Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG sowie die Einführung einer Konzernklausel (§ 8c Abs. 1 S. 5 KStG) durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz sind daher positiv zu bewerten. Für das große Modellunternehmen führt insbesondere die Einschränkung der vollständigen Verrechnung des Zinsaufwands im Rahmen der Zinsschranke zu einer deutlichen Verschlechterung des Rechtsstandes 2009 gegenüber allen anderen Rechtsständen. Insgesamt verursachen die Einschränkungen des Abzugs von Finanzierungsaufwendungen unter Zugrundelegung eines einmaligen Ertragseinbruches i. H. v. € 20.000.000 (entspricht 10,32 % der Umsatzerlöse) eine steuerliche Mehrbelastung i. H. v. € 8.440.557 (entspricht 32,83 % der Gesamtsteuerbelastung). Durch die Entkopplung der Steuerbelastung von der tatsächlichen Ertragssituation der Unternehmen kommt es zudem zu Eingriffen in die Unternehmenssubstanz und einem Entzug dringend benötigter Liquidität. Für Unternehmen, die in wirtschaftlich turbulenten Zeiten mit sinkenden Erträgen, ansteigenden Zinsaufwendungen und Liquiditätsproblemen konfrontiert sind, erweisen sich die ertragsunabhängigen Besteuerungselemente somit eindeutig krisenverschärfend. Der durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz eingeführte EBITDA-Vortrag führt in Kombination mit den gewerbesteuerlichen Entlastungen im betrachteten Extremfall zu einer Gesamtentlastung der Kapitalgesellschaft um 3,31 % und einer deutlich verbesserten Liquidität der Musterkapitalgesellschaft in Simulationsperiode 6. Der EBITDA-Vortrag nutzt Unternehmen, die in Wirtschaftsjahren vor der Krise ausreichend positive Ergebnisse erwirtschaftet haben, und ist vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftslage vieler Unternehmen in kurzfristiger Hinsicht somit durchaus positiv zu bewerten. Mittelfristig können jedoch sowohl die Maßnahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes als auch des Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung eine grundlegende Überarbeitung der krisenverschärfenden oder -ignorierenden Elemente im Ertragssteuerecht nicht ersetzen. 3. Entwicklungen der Steuerbelastungen auf Gesamtebene unter Einbeziehung der Anteilseigner Die bisherigen Analysen betrachteten ausschließlich die Ebene der Kapitalgesellschaft. Bei den in Tabelle 8 aufgezeigten effektiven Steuerbelastungen 414

Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren

auf Gesamtebene treten zur Unternehmensebene die Belastungen auf der Ebene der Gesellschafter aus der Besteuerung der Gewinnausschüttungen sowie der Zinsen aus Gesellschafterdarlehen hinzu. Über den Betrachtungszeitraum von zehn Perioden verringert sich die effektive Steuerbelastung des mittelgroßen Modellunternehmens zwischen 1990 und 2009 um € 409.285 (entspricht 16,91 %). Im Vergleich zur ausschließlichen Betrachtung der Unternehmensebene fällt die Gesamtentlastung somit um € 395.452 geringer aus. Ein Teil der Entlastungen auf Unternehmensebene wird durch eine steuerliche Mehrbelastung der Anteilseigner kompensiert. Dies gilt für das konkret betrachtete Musterunternehmen insbesondere für den durch die Unternehmenssteuerreform 2008 eingeführten Ersatz des Halbeinkünfteverfahrens und der progressiven Besteuerung der relevanten Kapitaleinkünfte durch die Abgeltungsteuer und das Teileinkünfteverfahren sowie für den Wechsel vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren im Rahmen der Unternehmenssteuerreform 1999/2000/2002. Zusätzlich macht sich für kleine und mittelständische Unternehmen die stetige Reduktion der gewährten Sparerfreibeträge von bis zu DM 6.000 nach den Rechtständen 1993 und 1998 auf den aktuell gültigen Sparerpauschbetrag i. H. v. € 801 (§ 20 Abs. 9 EStG) deutlich bemerkbar. Die steuerlichen Konsequenzen der Erhebung einer privaten Vermögensteuer nach dem Rechtsstand 1990 bzw. 1993 sind aufgrund der Entlastungswirkungen der gewährten Freibeträge i. H. v. DM 70.000 (§ 6 Abs. 1 VStG) insgesamt gering. Ihr Anteil an der Gesamtbelastung beträgt 3,21 % bzw. 2,71 %. Tabelle 8: Effektive Steuerbelastung im Betrachtungszeitraum 1990–2009 (Gesamtebene) Effektive Gesamtsteuerbelastung Rechtsstand

Verarbeitendes Gewerbe (mittelständisches Modellunternehmen)

Verarbeitendes Gewerbe (großes Modellunternehmen)

Effektive Steuerbelastung in EUR

Abweichung im Vergleich zum Rechtsstand 2009

Effektive Steuerbelastung in EUR

Abweichung im Vergleich zum Rechtsstand 2009

1990

2.829.469

16,91 %

77.322.557

34,03 %

1993

2.531.059

4,58 %

75.029.760

30,05 %

1998

2.552.875

5,48 %

73.383.644

27,20 %

2004

2.466.650

1,92 %

63.076.788

9,34 %

2009

2.420.184



57.690.956



Wachstumsbeschleunigungsgesetz

2.419.619

- 0,02 %

57.495.246

- 0,34 %

Für das große Modellunternehmen verringert sich die effektive Steuerbelastung auf der Gesamtebene vom Jahr 1990 bis zum Jahr 2009 um € 19.631.601 (entspricht 34,03 %). Die Gesamtentlastung fällt somit im Vergleich zur Unternehmensebene höher aus, sodass sich der relative Belastungsvorteil des Rechtsstandes 2009 im Vergleich zum mittelgroßen Modellunternehmen weniger stark reduziert. Ursächlich hierfür sind zwei Effekte: Zum einen wirkt sich die private Vermögensteuer für die Rechtsstände 1990 und 1993 stärker 415

Christoph Spengel / Benedikt Zinn

aus als im Falle des mittelgroßen Unternehmens. Zum anderen verursachen die sich bei steigendem Einkommensniveau ergebenden negativen Progressionseffekte für den Fall des großen Modellunternehmens deutliche Mehrbelastungen für die Anteilseigner nach den untersuchten Rechtsständen 1990 bis 2004.

IV. Ergebnisse der Untersuchung Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bzw. Investitionsbedingungen von Unternehmen und der Standortattraktivität Deutschlands sowie die Stärkung von Rechtsform- und Finanzierungsneutralität bilden wesentliche Ziele der ab 1990 in Deutschland vollzogenen Steuerreformen.30 Von den im Untersuchungszeitraum umgesetzten Maßnahmen waren die durchgängige Senkung der tariflichen Steuersätze für Kapitalgesellschaften sowie die Abschaffung der Gewerbesteuer vom Kapital und der Vermögensteuer zielführend. Zudem wurde die im Rahmen der Unternehmenssteuerreform 2008 deutlich verschärfte Mantelkaufregelung zwischenzeitlich vor allem durch die Einführung einer Sanierungsklausel im Rahmen des Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung sowie einer Konzernklausel im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes deutlich entschärft, sodass für betriebswirtschaftlich sinnvolle Umstrukturierungen nunmehr ein erweiterter Rahmen besteht. Dagegen widersprechen die mehrfachen Einschränkungen beim Verlustabzug und bei der bilanziellen Verlustvorsorge diesen Zielvorgaben. Besonders problematisch sind die im Rahmen der Unternehmenssteuerreform 2008 vollzogene Stärkung der Gewerbesteuer vom Ertrag, die Einführung der Zinsschranke sowie die mangelnde Integration der Abgeltungsteuer in die Einkommens- und Unternehmensbesteuerung. Diese Regelungen führen zu einer indirekten Substanzbesteuerung und wirken gleichzeitig krisenverschärfend. Das gegenwärtige Unternehmenssteuerrecht benachteiligt in der Krise vor allem große, konzernzugehörige Kapitalgesellschaften, die von der Zinsschranke getroffen werden. Durch die zunehmende Bedeutung der Gewerbesteuer sowie die Belastungswirkungen der Zinsschranke steigt schließlich die definitive Belastung mit deutschen Unternehmenssteuern. Diese unilaterale Ausweitung der Quellenbesteuerung führt zu unvermeidbaren Doppelbesteuerungen, die dem Steuerstandort Deutschland erheblichen Schaden zufügen.

__________ 30 Vgl. Jacobs/Spengel in Dichtl (Hrsg.), Standort Bundesrepublik Deutschland. Die Wettbewerbsbedingungen auf dem Prüfstand, 1994, 220; Jacobs et al., Stellungnahme zur Steuerreform 1999/2000/2002, ZEW-Dokumentation 98-10, 1998, 1; Jacobs et al., Stellungnahme zum Steuersenkungsgesetz, ZEW-Dokumentation 00-04, 2000, 1; Jacobs et al., Stellungnahme zum Steuervergünstigungsabbaugesetz und zu weiteren steuerlichen Maßnahmen, ZEW-Dokumentation 03-01, 2003, 1; Spengel/Reister, Schriftliche Stellungnahme des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) für die öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf 16/4841 und weiteren Anträgen am Mittwoch, 25.4.2007, 2007.

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Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren

V. Folgerungen Die ökonomischen Ziele der vergangenen Steuerreformen haben uneingeschränkt Gültigkeit. Um den selbst gesteckten Zielen gerecht zu werden, ist die Reform der Unternehmensbesteuerung in Deutschland weiter voranzutreiben. Dabei ist zwischen mittel- und langfristigen Maßnahmen zu unterscheiden. Allerdings ist der finanzielle Spielraum für Senkungen bei den Unternehmenssteuern äußerst begrenzt, wenn man nicht die Umsatzsteuer erhöhen möchte.31 Mittelfristig sind die Zinsschranke, die gewerbesteuerlichen Hinzurechnungsvorschriften für Finanzierungsentgelte, die steuerliche Gewinnermittlung bzw. der Verlustabzug sowie die Abgeltungsteuer grundlegend zu überarbeiten. Langfristig geht es darum, die Investitionsbedingungen weiter zu verbessern, wozu die Finanzierungs- und Rechtsformneutralität der Besteuerung zu stärken ist. 1. Mittelfristige Maßnahmen a) Zinsschranke Bei der Zinsschranke und ihrer Vorgängerregelung (§ 8a KStG 1994–2007) geht es im Grundsatz um die Sicherstellung von Steuersubstrat in Deutschland. Einer übermäßigen Fremdfinanzierung durch Steuerausländer soll Einhalt geboten werden.32 Eine Abzugsbeschränkung auch bei reinen Inlandsfällen, wie sie derzeit besteht, schießt folglich über das Ziel der Aufkommenssicherung hinaus. Auch die im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vollzogenen Änderungen können die ökonomische und rechtliche Problematik der Zinsschranke lediglich abmildern. Alternativmodelle einer Zinsabzugsbeschränkung,33 die etwa am Verschuldungsgrad oder an Aktivagrenzen anknüpfen, sind ebenfalls nicht zielführend, solange das Doppelbesteuerungsproblem vor allem im Inland bestehen bleibt. Die Zielsetzung der Aufkommenssicherung lässt sich am besten durch eine internationale Vereinbarung zur Besteuerung grenzüberschreitender Zinszahlungen innerhalb der EU und OECD verwirklichen, indem den Quellenstaaten ein vorrangiges, der Höhe nach begrenztes Besteuerungsrecht eingeräumt wird.34 Der Ausgang eines solchen Prozesses ist allerdings äußerst ungewiss. Dem deutschen Gesetzgeber steht jedoch die Möglichkeit offen, Zinsabzugsbeschränkungen auf Auslandssachverhalte zu begrenzen. Eine Regelung zur Begrenzung der Gesellschafter-Fremdfinanzierung ausschließlich zu Lasten im Ausland ansässiger Gesellschafter erscheint EU-rechtlich unbedenklich, so-

__________ 31 Vgl. Fuest, Aktuelles zur Wirtschaftskrise, WPg 2010, 9 ff.; Schneider, Steuerpolitik in der Wirtschaftskrise, Gastkommentar zu DB 2010, Heft 9, 1. 32 Vgl. Spengel/Golücke, Gesellschafter-Fremdfinanzierung – Implikationen der EGRechtswidrigkeit von § 8a KStG für die Praxis und den Gesetzgeber, RIW 2003, 335 f. 33 Vgl. Herzig/Bohn/Fritz, Alternativmodelle zur Zinsschranke, Beihefter zu DStR 29/2009, 1656 ff. 34 Vgl. Spengel in Rädler (Hrsg.), Tax Science Fiction. Wie sieht unser Steuerrecht in 25 Jahren aus?, 2008, 47 ff. mit weiteren Nachweisen.

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Christoph Spengel / Benedikt Zinn

weit sie sich auf Missbrauchsfälle beschränkt.35 Eine solche Regelung würde gleichzeitig dem Ziel der Aufkommenssicherung in Deutschland dienen, da vor allem Gesellschafter-Darlehen im Konzern für Gewinnverlagerungen genutzt werden.36 b) Gewerbesteuerliche Hinzurechnungsvorschriften Bei der Gewerbesteuer sind die Hinzurechnungsvorschriften für Finanzierungsentgelte zu überarbeiten. Die Hinzurechnung der pauschalierten Finanzierungsentgelte beim Zahlungsverpflichteten ohne eine korrespondierende Kürzung beim Zahlungsempfänger führt zu einer Doppelerfassung der Entgelte und verstößt gegen den Objektcharakter der Gewerbesteuer. Hinzu kommen Kollisionen mit dem EU-Recht. Die im Wachstumsbeschleunigungsgesetz vollzogene Absenkung der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung von Finanzierungsentgelten bei Immobilien von 65 % auf 50 % und somit von effektiv (in Höhe des Hinzurechnungsanteils von 25 %) 16,25 % auf 12,5 % greift eindeutig zu kurz. c) Steuerliche Gewinnermittlung und Verlustabzug Die Verlustvorsorge im Bilanzsteuerrecht wurde in der Vergangenheit mehrfach durch Einschränkungen bei Rückstellungen und Teilwertabschreibungen sowie der Bildung stiller Reserven beschränkt. Gleichzeitig wurde der Verlustabzug zeitlich und betragsmäßig eingeschränkt. Beide Maßnahmen widersprechen sich diametral. Bleibt es bei den Begrenzungen der bilanziellen Verlustvorsorge, sind die Mindestbesteuerung im Rahmen des Verlustvortrags (§ 10d EStG) – auch mit Wirkung für die Gewerbesteuer – zu beseitigen und die zeitlichen und betragsmäßigen Beschränkungen des Verlustrücktrags zu lockern. Diese Maßnahme wäre die wünschenswerte Option. Bleibt es dagegen bei den Begrenzungen des Verlustabzugs, ist das Imparitätsprinzip im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung zu stärken bzw. zu reaktivieren. Die von der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft skizzierten Überlegungen (z. B. Zulässigkeit von Drohverlustrückstellungen) sind diesbezüglich zielführend.37 Gleichwohl könnte entgegen diesen Überlegungen an einer „modifizierten“ Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz festgehalten werden.38

__________ 35 Zu einem Gesetzesvorschlag: Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, 888. 36 Vgl. Overesch/Wamser, Corporate Tax Planning and Thin-Capitalization Rules: Evidence from a Quasi-Experiment, Applied Economics 2010, 563 ff. 37 Stiftung Marktwirtschaft Kommission Steuergesetzbuch, Steuerpolitisches Programm: Einfacher, gerechter, sozialer. Eine umfassende Ertragsteuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung, 2006, 31 ff. 38 Vgl. Spengel, Bilanzrechtsmodernisierung – Zukunft der Steuerbilanz, FR 2009, 101 ff.

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Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren

d) Korrekturen bei der Abgeltungsteuer Die Entscheidung für die Abgeltungsteuer sollte nicht revidiert werden. Allerdings ist die Diskriminierung der Eigenkapitalfinanzierung abzubauen, die aus der Vorbelastung von Dividenden und Veräußerungsgewinnen mit Unternehmenssteuern resultiert. Gerade in Krisenzeiten steigen die Fremdkapitalbeschaffungskosten und Eigenkapital wird dringend als existenzsichernder Verlustpuffer benötigt. Eine weitere Absenkung des Satzes der Abgeltungsteuer würde das Problem noch weiter verschärfen, da hierdurch Zinsen noch stärker begünstigt wären. Vielmehr sind bei einem einheitlichen Satz der Abgeltungsteuer Dividenden und Veräußerungsgewinne zu entlasten, indem diese Kapitaleinkünfte im Gegensatz zu Zinsen nur in Höhe eines festzulegenden Prozentsatzes in die Bemessungsgrundlage der Abgeltungsteuer einbezogen werden. Der andere Teil bleibt steuerfrei. 2. Langfristige Maßnahmen a) Integration der Unternehmenssteuern in die persönliche Einkommensteuer Der langfristig dringendste Handlungsbedarf zur Fortentwicklung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland besteht bei der Integration der Unternehmenssteuern in die persönliche Einkommensteuer. Hierzu liegen mit der Allgemeinen Unternehmenssteuer der Stiftung Marktwirtschaft,39 die durch maßgebende Vorarbeiten von Joachim Lang zur modifizierten Betriebsteuer40 bzw. zur Inhabersteuer41 geprägt wurde, und der Dualen Einkommensteuer42 nach dem Vorbild von Sachverständigenrat, Max-Planck-Institut München und ZEW zwei Alternativmodelle vor. Die Allgemeine Unternehmenssteuer stellt die Rechtsformneutralität der Besteuerung in den Vordergrund. Einbehaltene Gewinne unterliegen danach rechtsformübergreifend – die Abgrenzung des begünstigten Unternehmens orientiert sich am umsatzsteuerlichen Unternehmerbegriff – einer niedrigen Thesaurierungsbelastung. Ausschüttungen werden derart nachbelastet, dass diese wie nicht begünstigte Einkünfte – hierunter fallen etwa die Einkünfte aus Kapitalvermögen – letztlich dem persönlichen Einkommensteuersatz des Gesellschafters unterliegen. Rechtsformneutralität der Besteuerung wird somit auf eine – relativ zu anderen Einkünften – niedrigere Besteuerung einbehalte-

__________ 39 Vgl. Stiftung Marktwirtschaft Kommission Steuergesetzbuch (Fn. 37), 16 ff. 40 Vgl. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung, StuW 1989, 3 ff.; Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg zum europäischen Binnenmarkt und zur deutschen Einheit, StuW 1990, 107 ff. 41 Die Inhabersteuer wurde im Zusammenhang mit den Brühler Empfehlungen entwickelt. Vgl. Brühler Empfehlungen, Schriftenreihe des BMF, Bd. 66. 42 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung/ Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht/Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, 2006.

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ner Gewinne reduziert (Thesaurierungsneutralität) und Ausschüttungen bzw. Entnahmen einer insoweit „rechtsformneutralen“ Nachbelastung mit dem Regeltarif der Einkommensteuer unterworfen. Die ökonomischen Wirkungen einer so verstandenen rechtsformneutralen Besteuerung sind indes fragwürdig, da eine Nachbelastung von Ausschüttungen die Beteiligungs- gegenüber der Selbstfinanzierung diskriminiert und zudem die Eigen- gegenüber der Fremdkapitalfinanzierung je nach Höhe der Belastung der Zinsen entweder benachteiligt oder begünstigt. Im Ergebnis werden Fehlallokationen beim Kapitaleinsatz und eine Beeinträchtigung der Investitionstätigkeit sowie zur Komplizierung des Steuerrechts beitragende Arbitragehandlungen nicht verhindert.43 Auch die Abgeltungsteuer ist mit der Allgemeinen Unternehmenssteuer nicht verträglich. In ökonomischen Kategorien erfährt Rechtsformneutralität in Verbindung mit Finanzierungsneutralität der Besteuerung eine Konkretisierung. Denn die Finanzierungsquellen von Unternehmen sind genauso wenig wie die Rechtsform beliebig austauschbar. Bei der Finanzierung zusätzlicher Investitionen kommt dem Eigenkapital eine herausragende Bedeutung zu. Empirischen Untersuchungen zufolge werden zwischen 70 % und 90 % der Investitionen mit einbehaltenen Gewinnen, zwischen 10 % und 30 % mit Fremdkapital und etwa 2 % über die Ausgabe neuer Gesellschaftsanteile finanziert.44 Trotz dieser Zahlen ist die Beteiligungsfinanzierung keinesfalls bedeutungslos, da die Möglichkeiten zur Selbstfinanzierung entscheidend vom Alter des Unternehmens abhängen. Während diese bei lange existierenden, reifen Unternehmen relevant ist, hat die Beteiligungsfinanzierung bei Neugründungen eine herausragende Bedeutung. Eine Diskriminierung der Beteiligungsfinanzierung würde deshalb insbesondere riskante Investitionen sowie dynamisch wachsende und neu gegründete Unternehmen mit begrenztem Zugang zum Kapitalmarkt treffen und somit die Investitionstätigkeit nachhaltig beeinträchtigen.45 Finanzierungsneutralität soll eine steuerliche Gleichbehandlung der unterschiedlichen Finanzierungsformen – Selbst-, Beteiligungs- und Fremdfinanzierung – gewährleisten. Ihre Umsetzung erfordert eine unterschiedslose und einmalige Besteuerung von einbehaltenen und ausgeschütteten bzw. entnommenen Gewinnen, von Gewinnen aus Anteilsveräußerungen sowie von Zinsen. Damit ist gleichzeitig die Rechtsformneutralität gewährleistet, weshalb diese Teil der umfassenden Finanzierungsneutralität der Besteuerung ist.46 Bei wirtschaftlicher Betrachtung ist dieses Ergebnis nicht weiter überraschend, da verschiedene Unternehmensrechtsformen nichts anderes darstellen als unterschiedliche institutionelle Formen der Eigenkapitalüberlassung.

__________ 43 Vgl. Jacobs, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform, 4. Aufl., 112 ff. 44 Vgl. Nachweise bei Spengel, Internationale Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union, 2003, 79 ff. 45 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung JG 2003/04, Tz. 527. 46 Vgl. Schreiber/Spengel, Allgemeine Unternehmensteuer und Duale Einkommensteuer, BFuP 2006, 275 ff.

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Folgerungen aus den Unternehmenssteuerreformen in den letzten 20 Jahren

Die Duale Einkommensteuer besteuert Kapitaleinkommen – worunter in Erweiterung zu den begünstigten Einkünften im Rahmen der Allgemeinen Unternehmenssteuer auch Einkünfte aus Kapitalvermögen fallen – proportional und Arbeitseinkommen progressiv. Für die Grenzinvestition, d. h. für Kapitaleinkommen in Höhe des Kapitalmarktzinses, wird Finanzierungs- und damit auch Rechtsformneutralität der Besteuerung vollständig gewährleistet, für profitable Investitionen wird die Finanzierungs- und Rechtsformneutralität annähernd erreicht. Aus diesem Grund wird der Dualen Einkommensteuer der Vorzug gegenüber der Allgemeinen Unternehmenssteuer gegeben. Gleichzeitig wird aber auch eingeräumt, dass die Duale Einkommensteuer kompliziert zu administrieren ist und die Tarifdifferenzierung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen verfassungsrechtlich umstritten ist.47 b) Umgestaltung der Gewerbesteuer Die Gewerbesteuer verschlechtert die steuerliche Standortattraktivität Deutschlands und hemmt die Investitionsbereitschaft, da alternative Kapitalmarktinvestitionen im Vergleich zu Sachinvestitionen begünstigt sind. Zudem verhindert sie Finanzierungs- und Rechtsformneutralität, da sie Gewinne von Kapitalgesellschaften voll trifft, die Gewinne von Personenunternehmen wegen der pauschalen Anrechnung auf die Einkommensteuer jedoch weitgehend verschont und Zinsen zu einem Viertel belastet. Darüber hinaus führt das Betriebsausgabenabzugsverbot bei rückläufigen Erträgen zu einer indirekten Substanzbesteuerung. Bei einer Beibehaltung der Gewerbesteuer lassen sich diese Mängel nicht beheben. Die Gewerbesteuer sollte deshalb abgeschafft und in die Einkommen- und Körperschaftsteuer integriert werden. Dafür liegt ein schlüssiges Konzept der Stiftung Marktwirtschaft zur Neuordnung der Kommunalfinanzen vor, das neben einer Bürgersteuer eine kommunale Unternehmenssteuer vorsieht.48 Auch die Duale Einkommensteuer wäre mit diesem Konzept kompatibel.

__________ 47 Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Dualen Einkommensteuer vgl. Englisch, Die Duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland?, IFSt-Schrift Nr. 432, 2005, 93 ff.; Söhn, Der Dualismus der Einkunftsarten im geltenden Recht, DStJG 2007, 34 ff. 48 Stiftung Marktwirtschaft Kommission Steuergesetzbuch (Fn. 37), 43 ff.

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Ingolf Deubel

Durch mehr kommunale Selbstverwaltung aus der Krise – Den Art. 28 GG wirklich mit Leben füllen –

Inhaltsübersicht I. Zur aktuellen Krise der kommunalen Finanzen II. Beschränkungen der Selbstverwaltung im kommunalen Steuersystem III. Das schlummernde Potential der Grundsteuer IV. Reformoptionen der Gewerbesteuer

V. Weiterentwicklung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer zur Bürgersteuer VI. Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer und Gewerbesteuerumlage VII. Zusammenfassung

I. Zur aktuellen Krise der kommunalen Finanzen Durch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise wird in aller Klarheit deutlich, dass die zunehmenden Probleme der kommunalen Finanzen nicht mehr nur auf einige Bundesländer beschränkt bleiben, sondern fast flächendeckend zu beobachten sind. Während die Kommunen in Deutschland im Jahr 2008 noch einen positiven Finanzierungssaldo von rd. 7,6 Mrd. Euro aufwiesen, entstand im Jahr 2009 schon ein negativer Wert von ca. 7,2 Mrd. Euro und im lfd. Jahr 2010 wird aktuell sogar ein negativer Saldo von über 15 Mrd. Euro erwartet1. Dabei ist außerdem zu berücksichtigen, dass die kommunalen Bruttoinvestitionen seit den siebziger Jahren von damals noch ca. 3 % bis zum Jahr 2009 auf 0,91 % des BIP bzw. 21,99 Mrd. Euro zurückgegangen sind. Da die kommunalen Abschreibungen im Jahr 2009 bei 0,98 % des BIP bzw. 23,7 Mrd. Euro lagen, haben die Kommunen im vergangenen Jahr bundesweit im Ergebnis Sachvermögen im Umfang von 1,7 Mrd. Euro abgebaut2. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die kommunale Investitionstätigkeit in den Jahren vor 2009 noch stärker hinter den Abschreibungen zurückblieb. Im bisher schlechtesten Jahr 2005 lagen die Investitionen mit 17 Mrd. Euro sogar um 3,9 Mrd. Euro unter den Abschreibungen von 20,9 Mrd. Euro. Bereits seit dem Jahr 2003 übertreffen die kommunalen Abschreibungen die Bruttoinvestitionen. Seither ist das kommunale Sachvermögen insgesamt bereits um 18,4 Mrd. Euro geschrumpft.

__________ 1 Vgl. die Prognose der kommunalen Spitzenverbände vom 2.2.2010. 2 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.4, Tabelle 3.4.3.1, Wiesbaden 2010.

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Ingolf Deubel

Da die Summe der eigenfinanzierten Sachinvestitionen (kommunale Sachinvestitionen abzgl. der Investitionszuschüsse von Bund und Ländern) im laufenden Jahr 2010 mit rd. 12 Mrd. Euro (mit weiter abnehmender Tendenz) um 3 Mrd. Euro unter dem (negativen) Finanzierungssaldo liegt, bedeutet dies, dass der eigenfinanzierte Anteil der Bruttoinvestitionen vollständig durch Kredite finanziert wird und damit die Kommunen (insgesamt gesehen) im Jahr 2010 einen Vermögensverzehr in Höhe von insgesamt rd. 27 Mrd. Euro erwirtschaften, der sich nur durch die Investitionszuschüsse von Bund und Ländern auf ca. 15 Mrd. Euro reduziert3. Oder anders ausgedrückt: Um die Ergebnishaushalte im Durchschnitt auszugleichen, müssten entweder die laufenden Ausgaben um 27 Mrd. Euro reduziert oder die laufenden Einnahmen um 27 Mrd. Euro erhöht werden, wobei Ausgabensenkungen und Einnahmeerhöhungen natürlich auch kombinierbar sind. Dabei gibt es zwischen den Bundesländern allerdings erhebliche Unterschiede. Wenn die durchschnittlichen kommunalen Sachinvestitionen in Deutschland im Jahr 2008 von 272 Euro je Einwohner gleich 100 % gesetzt werden, konnten die Kommunen in Bayern mit 145 %, Baden-Württemberg mit 129 %, Brandenburg mit 123 %, Thüringen mit 111 % und Sachsen mit 110 % überdurchschnittlich investieren, während die Kommunen in Mecklenburg-Vorpommern mit einem Anteil von 90 %, Sachsen-Anhalt mit 87 %, Niedersachsen mit 75 %, im Saarland mit 70 % und in Nordrhein-Westfalen mit nur noch 60 % des Bundesdurchschnitts sich auf einem weit unterdurchschnittlichen Niveau bewegten und im Ergebnis immer stärkere Substanzverluste erleiden4. Die obigen Befunde gelten natürlich nur im bundesweiten Durchschnitt bzw. im Durchschnitt des jeweiligen Landes. Es gibt allerdings in allen Ländern Kommunen, die zum Teil schon seit vielen Jahren ihren laufenden Ausgabeverpflichtungen nicht mehr nachkommen können. Die zum Stopfen der entstandenen Löcher in den vergangenen Jahren (zum Teil sogar schon Jahrzehnten) aufgenommenen Kassenkredite haben Ende 2009 bereits einen Betrag von 34,9 Mrd. Euro erreicht5 und werden nach Einschätzung des Deutschen Städtetages im Jahr 2010 noch weiter auf 41,6 Mrd. Euro steigen6. Von diesem Wert entfällt (Stand: 2009) mehr als die Hälfte auf Kommunen in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Hessen und dem Saarland. Die Kommunen dieser fünf Länder verantworten zusammen genommen mehr als 90 % der bundesweiten Kassenkredite, wobei Ende 2009 je Einwohner das Saarland mit 1.350 Euro, Rheinland-Pfalz mit 1.133 Euro und Nordrhein-Westfalen mit 964 Euro die höchsten Werte aufwiesen7.

__________ 3 Vgl. Prognose der kommunalen Spitzenverbände vom 2.2.2010 und eigene Berechnungen. 4 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Eckdaten zur Entwicklung und Struktur der Kommunalfinanzen 1999 bis 2008, Stand: Januar 2010, S. 24. 5 Quelle: Statistisches Bundesamt. 6 Quelle: Deutscher Städtetag. 7 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, a. a. O., Fn. 4, S. 26 f.

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Durch mehr kommunale Selbstverwaltung aus der Krise

Besonders dramatisch ist dabei in Nordrhein-Westfalen die Situation in den kreisfreien Städten und kreisangehörigen Gemeinden des Ruhrgebiets sowie den kreisfreien Städten im Bergischen Land, in Rheinland-Pfalz in fast allen kreisfreien Städten und im Saarland vor allem in Saarbrücken. In Niedersachsen dagegen liegen die Schwerpunkte eher im kreisangehörigen Bereich, wobei hier nicht nur die Gemeinden, sondern erstaunlicherweise auch die Kreise selbst betroffen sind. Das gleiche Phänomen, nämlich hohe Kassenkredite in etlichen Kreishaushalten, ist auch in Hessen und in Rheinland-Pfalz zu beobachten8. Hieran wird sehr deutlich erkennbar, dass die Kommunalaufsicht hinsichtlich der Kreisebene in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich agiert. Steigt man noch tiefer in die Statistik ein, wird jedoch gerade in der aktuellen Situation sehr deutlich, dass auch innerhalb der einzelnen Länder zwischen gleichartigen Gemeinden mit vergleichbarer Finanzausstattung teilweise beträchtliche Unterschiede feststellbar sind. Gemeinden, deren Leistungsangebote sich (schon immer) an ihren finanziellen Möglichkeiten orientierten oder die ihre Aufgaben besonders effizient wahrnehmen, können zumindest mittelfristig wieder einen Haushaltsausgleich erwarten, während Gemeinden, die schon in besseren Jahren keinen Ausgleich mehr schafften, nunmehr in eine hoffnungslos erscheinende Lage geraten sind. Der Blick der kommunalen Spitzenverbände richtet sich dabei wieder einmal zunächst auf den Bund und die Länder. Denn die Kommunen müssen zur Zeit relativ ohnmächtig zusehen, wie trotz riesiger Haushaltslöcher die Steuern weiter abgesenkt werden und statt einer Entlastung von Aufgaben weitere Finanzierungsverpflichtungen entstehen. Von daher sind die verzweifelten Blicke nach Berlin und in die Landeshauptstädte auch durchaus nachvollziehbar. Die damit verbundenen Hoffnungen der kommunalen Spitzenverbände, dass der Bund oder die Länder alsbald im Gegenzug höhere Zuweisungen an die Kommunen leisten, erscheinen allerdings bei realistischer Betrachtung vor dem Hintergrund der (im Vergleich zu den Gemeinden) noch katastrophaleren Finanzsituation von Bund und Ländern und der Einführung der sog. Schuldenbremse mit der Pflicht zum Abbau der jährlichen (strukturellen) Neuverschuldung beim Bund bis zum Jahr 2016 auf maximal 0,35 % des BIP bzw. rd. 10 Mrd. Euro und bei allen Ländern bis zum Jahr 2020 sogar auf einen Wert von Null fast ein wenig naiv. Es dürfte auf Grund der vom Bund und den Ländern durch die neuen verfassungsrechtlichen Vorgaben ab dem Jahr 2011 zu beachtenden Konsolidierungspfade völlig ausgeschlossen sein, dass es in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu einer flächendeckenden – über symbolische Maßnahmen hinausgehenden – finanziellen Umverteilung zugunsten der kommunalen Ebene kommen kann. Auf der anderen Seite sollte man allerdings zumindest erwarten, dass der Bund und die Länder sich darüber im Klaren sind, dass sehr viele Kommunen sich

__________ 8 Quelle: Statistisches Bundesamt.

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bei den gegebenen Rahmenbedingungen kaum noch aus eigener Kraft finanziell sanieren können. Die nicht mehr weiter aufschiebbare Aufgabe von Bund und Ländern besteht deshalb darin, die Rahmenbedingungen der Kommunen auf der Ausgabe- und der Einnahmeseite so zu ändern, dass auch für die besonders betroffenen Gemeinden eine eigenverantwortliche Sanierung im Rahmen des im Art. 28 GG garantierten Rechts zur kommunalen Selbstverwaltung wieder möglich erscheint. Grundsätzlich kann dabei sowohl auf der Ausgabe- als auch auf der Einnahmeseite angesetzt werden. Es erscheint allerdings sehr zweifelhaft, dass zwischen Bund und Ländern tatsächlich eine Einigung über eine substantielle Entlastung der Gemeinden auf der Ausgabeseite erzielbar ist oder in einem ausreichenden Maße Abweichungsrechte eingeräumt werden. Die Diskussionen um die frühkindliche Bildung und Betreuung zeigen vielmehr in aller Deutlichkeit, dass auch in den nächsten Jahren eher weitere Belastungen als mögliche Entlastungen zu erwarten sind. Wenn dies aber so ist und eine Umverteilung von Einnahmen zugunsten der Kommunen auf kürzere und mittlere Sicht aufgrund der Finanzsituation des Bundes und der Länder ausgeschlossen erscheint, verbleibt als kurz- und mittelfristige Lösungsmöglichkeit nur eine Erhöhung des kommunalen Selbstverwaltungsspielraums auf der Einnahmeseite. Prinzipiell kommen hier auf der einen Seite Gebühren und Beiträge und auf der anderen Seite die kommunalen Steuereinnahmen infrage. Aufgrund europarechtlicher Vorgaben, der sehr restriktiven Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte und vieler Festlegungen durch den Bund und die Länder bestehen bei Gebühren und Beiträgen allerdings in den meisten Gemeinden kaum noch finanziell relevante Spielräume. Echte Selbstverwaltungsspielräume auf der Einnahmeseite bestehen deshalb in den meisten Gemeinden allenfalls noch bei den Steuereinnahmen. Ob diese Spielräume ausreichen, ob die vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten tatsächlich bereits ausgeschöpft sind, ob zusätzliche Selbstverwaltungsspielräume geboten erscheinen und wie diese aussehen könnten, sind für die Zukunftsfähigkeit vieler Kommunen äußerst relevante Fragestellungen. Die folgenden Überlegungen sollen deshalb einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen liefern.

II. Beschränkungen der Selbstverwaltung im kommunalen Steuersystem Die Anforderungen an ein selbstverwaltungsfreundliches und ökonomisch rationales kommunales Steuersystem sind relativ unstrittig. Aus der Sicht der Kommunen muss ein solches System ausreichend ergiebig sein, die Bemessungsgrundlagen sollten sich wachstumsproportional entwickeln und möglichst wenig konjunkturabhängig sein, ihre Verteilung sollte den unterschiedlichen Aufgaben und Belastungen der Gemeinden entsprechen, und die Kriterien der gruppenmäßigen Äquivalenz sollten beachtet werden. 426

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Um zusätzliche lokale Selbstverwaltungsspielräume zu eröffnen, sollte die Steuerbelastung durch die Kommunen für die Steuerpflichtigen transparent und fühlbar sein und den Gemeinden weitgehende Hebesatzrechte eingeräumt werden, bei deren Ausübung aber ebenfalls das Prinzip der gruppenmäßigen Äquivalenz zu beachten ist. Aus der Sicht der Steuerpflichtigen sind die Postulate der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, der Willkürfreiheit und der Einfachheit zu beachten. Bei einem Abgleich dieser Anforderungen mit dem real existierenden kommunalen Steuersystem in der Bundesrepublik Deutschland werden die Mängel des geltenden Systems sehr deutlich. Das aktuelle Gemeindesteuersystem aus der Gewerbesteuer (abzgl. Gewerbesteuerumlage), dem Gemeindeanteil an der Einkommensteuer, der Grundsteuer B und dem Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer (auf eine Einbeziehung der sonstigen und finanziell relativ unbedeutenden kleineren Gemeindesteuern wird hier verzichtet) weist so schwerwiegende Mängel auf, dass es den allgemein akzeptierten Anforderungen an ein rationales kommunales Steuersystem bei weitem nicht genügt. Die Mängelliste fängt mit der massiven Konjunkturabhängigkeit an. Mit einem geschätztem Gesamtaufkommen von rd. 69 Mrd. Euro für das Jahr 2010 liegen die Steuereinnahmen der Gemeinden aktuell um über 14 % niedriger als noch im Jahr 2008, in dem das Steueraufkommen bei gut 80 Mrd. Euro lag. Dies zeigt, dass vor allem wegen der Gewerbesteuer (-20,7 % von 37,7 Mrd. Euro auf 29,9 Mrd. Euro), aber auch des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer (-14,7 % von 27,8 Mrd. Euro auf 23,7 Mrd. Euro), das Gemeindesteuersystem viel zu konjunkturabhängig ist und damit eklatant gegen das Gebot der Stetigkeit verstößt. Stabile Elemente sind nur die Grundsteuer mit einem Aufkommen von rd. 11 Mrd. Euro und der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer mit ca. 3,5 Mrd. Euro. Auch die sonstigen Steuereinnahmen sind bei einem Aufkommen von rd. 0,7 Mrd. Euro relativ stabil, aber quantitativ unbedeutend. Auch gegen das Gebot der gruppenmäßigen Äquivalenz wird (bundesweit gesehen) erkennbar verstoßen, denn sogar noch im Jahr 2010, das durch den extremen Rückgang der Gewerbesteuer deutlich verzerrt ist, entfallen auf die wirtschaftsbezogenen Anteile der Gemeindesteuern (Nettogewerbesteuer, Grundsteuer A und B auf Betriebsgrundstücke, Umsatzsteueranteil, Automatensteuer etc.) rd. 55 % des Steueraufkommens und dementsprechend lediglich rd. 45 % auf die einwohnerbezogenen Anteile (vor allem Gemeindeanteil an der Einkommensteuer sowie die Grundsteuer B auf Wohngrundstücke). Da die einwohnerbezogenen Anteile an den Steuereinnahmen in den meisten Gemeinden bei weitem nicht ausreichen, die einwohnerbezogenen kommunalen Ausgaben zu finanzieren, findet in allen Bundesländern im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs eine massive Umverteilung von gewerblich geprägten Gemeinden zu reinen Wohngemeinden statt.

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Daraus folgt, dass eine mangelnde Ergiebigkeit (oder vielleicht auch nur ein mangelndes Ausüben des Hebesatzrechts bei der Grundsteuer) zunächst einmal vor allem im Bereich der einwohnerbezogenen Steuereinnahmen feststellbar ist. Die Gewerbesteuer selbst als wichtigste wirtschaftsbezogene Steuer ist viel zu konjunkturabhängig, genügt (wegen der Ausklammerung erheblicher Anteile des lokalen Wirtschaftsgeschehens) bei weitem nicht den Anforderungen einer gruppenmäßigen Äquivalenz und wird von der Wirtschaft (wegen ihrer ertragsunabhängigen Anteile und als angebliche Sondersteuer) schon seit Jahrzehnten (überwiegend erfolgreich) bekämpft und ist immer weiter ausgehöhlt worden. Auch bei der aktuellen Diskussion in der Kommission zur Neuordnung der Gemeindefinanzen hat die Bundesregierung (wieder einmal) einen möglichen Ersatz der Gewerbesteuer (durch einen höheren Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer oder Zuschlagsrechte auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer) auf die Tagesordnung gesetzt. Im Vergleich zur Gewerbesteuer wird der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer von den Steuerpflichtigen kaum kritisiert. Das dürfte allerdings vor allem daran liegen, dass nur den wenigsten Einwohnern bekannt ist, dass es diesen Gemeindeanteil überhaupt gibt und auf welch verschlungenen Pfaden die tatsächliche Verteilung auf die Gemeinden erfolgt. Die Einführung einer kommunalen Bürgersteuer könnte diese Situation schlagartig verändern, ob zum Besseren oder zum Schlechteren, darüber gibt es allerdings sehr geteilte Meinungen. Wer die kommunale Demokratie und Selbstverwaltung in den Vordergrund rückt (wie der Autor dieses Aufsatzes), wird ein Anhänger der Bürgersteuer sein. Wer sich lieber hinter der Steuerpolitik von Bund und Ländern verschanzt und die offene Diskussion um eine notwendige lokale Finanzierung der kommunalen Aufgaben scheut, wird eher gegen lokale Besteuerungsrechte im Bereich der Einkommen der Wohnbevölkerung sein. Auch die Grundsteuer B wird kaum kritisiert. Als rein lokale Steuer mit Hebesatzrecht belastet sie sowohl die Wohnbevölkerung als auch die Unternehmen und erfüllt zumindest im Grundsatz die Kriterien der Fühlbarkeit und der gruppenmäßigen Äquivalenz. Der einzige, allerdings sehr gravierende Kritikpunkt liegt in den völlig veralteten Bemessungsgrundlagen in Form der Einheitswerte aus dem Jahr 1964 in den alten Ländern und sogar aus dem Jahr 1935 in den neuen Ländern. Hier ist ein dringender Aktualisierungs- und Vereinfachungsbedarf gegeben. Im Gegensatz zur Grundsteuer erfüllt der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer bis auf die Gebote der stetigen Entwicklung und Wachstumsproportionalität keine einzige Anforderung an ein rationales kommunales Steuersystem. Das Fehlen eines Hebesatzrechtes sowie der Fühlbarkeit und die Verteilung nach einem wenig überzeugenden Schlüssel führen dazu, dass es sich faktisch um eine Zuweisung handelt. Mit einem selbstverwalteten kommunalen Steuersystem weist der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer praktisch keine Schnittmenge auf. 428

Durch mehr kommunale Selbstverwaltung aus der Krise

III. Das schlummernde Potential der Grundsteuer Grundsätzlich erfüllt die Grundsteuer B alle Anforderungen an eine gute Kommunalsteuer. Sie belastet als Sollertragsteuer alle Einwohner und (fast) alle Betriebe. Sie kann (bei Indexierung der Bemessungsgrundlagen) wachstumsproportional gestaltet werden, ist nicht konjunkturreagibel, erfüllt das Kriterium der gruppenmäßigen Äquivalenz und ist mit einem uneingeschränkten Hebesatzrecht ausgestattet. Dass die Grundsteuer B dennoch bisher nur eine untergeordnete Rolle spielt, beruht vor allem auf zwei Gründen. Zum ersten grenzt die (innergemeindliche) Streuung der Bemessungsgrundlagen aufgrund der völlig veralteten und intransparenten Einheitswerte aus dem Jahr 1964 (in den alten Ländern) und sogar dem Jahr 1935 (in den neuen Ländern) schon fast an Willkür und beschränkt von daher zur Zeit immer noch die Einsatzmöglichkeiten der Grundsteuer. Zum zweiten allerdings scheuen viele Kommunen auch deshalb vor einer stärkeren Ausschöpfung der Hebesätze zurück, weil eine Erhöhung der Grundsteuer als politisch sehr brisant gilt. Denn anders als bei der Gewerbesteuer, bei der nur Steuersätze für eine zahlenmäßige Minderheit festgelegt werden, sind bei der Grundsteuer alle Wahlberechtigten betroffen. Um den ersten Grund beiseite zu räumen, sollten sich der Bund und die Länder endlich einmal zu der schon mehrfach angekündigten Aktualisierung und Vereinfachung dieser Steuer durchringen, z. B. auf der Basis des zwischen den Ländern immer noch weitgehend unstrittigen Vorschlags von Bayern und Rheinland-Pfalz aus dem Jahr 2004. Nach der vollzogenen Reform der Erbschaftsteuer scheitert die Umsetzung jedenfalls nicht mehr an personellen Engpässen in den Finanzministerien des Bundes und der Länder. Es bliebe dann nämlich nur noch der zweite Grund im Raum stehen, der zwar emotional verständlich, rational jedoch in keiner Weise nachvollziehbar ist. Wer mehr kommunale Selbstverwaltung und Demokratie fordert und das kommunale Leistungsangebot mit Überzeugung vertreten kann, wird sich auch der Aufgabe stellen können, die Einwohner von den zur Finanzierung notwendigen Hebesätzen der Grundsteuer (oder auch einer Bürgersteuer) zu überzeugen. Denn nach Angaben des Deutschen Mieterbundes lag die Grundsteuer B bei Mietwohnungen im Abrechnungsjahr 2007 bundesweit im Durchschnitt gerade einmal bei monatlich 0,19 Euro pro qm. Bei einer durchschnittlichen Wohnfläche von 42 qm pro Person entsprach und entspricht dies rd. 8 Euro pro Person und Monat. Mit diesem sehr bescheidenen Anteil von nicht einmal 2,7 % der durchschnittlich 305 Euro Gesamtwohnkosten pro Person und Monat in der Bundesrepublik Deutschland9 ist mit Sicherheit die Grenze der individuellen Zumutbarkeit bei weitem noch nicht überschritten, zumal bei sozial Schwächeren eine Mehrbelastung durch eine erhöhte Grundsteuer B (als Bestandteil der Neben-

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9 Quelle zur durchschnittlichen Wohnfläche und den durchschnittlichen Gesamtwohnkosten: Statistisches Bundesamt und eigene Berechnungen.

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kosten bei Mietern) durch höhere Sozialtransfers ganz oder teilweise ausgeglichen wird10 und ein nicht unerheblicher Teil der Grundsteuer B gar nicht die privaten Haushalte trifft, sondern auf Nichtwohngebäude entfällt. Selbst wenn die kompletten im Haushaltsjahr 2010 in den Ergebnishaushalten der Kommunen voraussichtlich fehlenden 27 Mrd. Euro (bei einer Durchschnittsbetrachtung) durch eine Erhöhung der Grundsteuer erzielt werden müssten, würde dies nur zu einer zusätzlichen monatlichen Belastung von 0,49 Euro pro qm bzw. einer durchschnittlichen Erhöhung der Gesamtwohnkosten um 6,8 % führen. Natürlich sollte eine solch deutliche Erhöhung nicht klein geredet werden, aber vor dem Hintergrund des (gerade nach dem Winter 2009/10) auch im öffentlichen Bewusstsein immer schlechter werdenden Zustands der kommunalen Infrastruktur und der notwendigen Einschränkungen des kommunalen Leistungsangebots würde ein solcher Weg nicht nur politische Risiken mit sich bringen, sondern mindestens ebenso großen Chancen eröffnen. Eine breite Zustimmung der Bürgerschaft für Steuererhöhungen dürfte allerdings nur dann zu erwarten sein, wenn hinreichend glaubhaft gemacht werden kann, dass die offensichtlichen Mängel am Zustand der kommunalen Infrastruktur nach einer Hebesatzanhebung auch wirklich beseitigt werden.

IV. Reformoptionen der Gewerbesteuer Die bei weitem schwierigste Aufgabe bei der Weiterentwicklung des kommunalen Steuersystems stellt sich immer noch mit der Gewerbesteuer. Ohne Frage weist die Gewerbesteuer in der jetzigen Ausgestaltung nicht nur aus dem Blickwinkel der Wirtschaft, sondern vor allem aus kommunaler Sicht schwerwiegende Defizite auf. Sie ist extrem konjunkturabhängig, trifft nur einen kleinen Teil der wertschöpfenden Betriebe, erfüllt wegen des starken Übergewichts der Gewinnkomponenten das Kriterium der gruppenmäßigen Äquivalenz nur sehr unzureichend und findet bei den Steuerpflichtigen kaum Akzeptanz. Dazu kommt die extreme Streuung der Bemessungsgrundlagen zwischen gleichartigen Gemeinden, die auf längere Sicht sehr schnell zum Glücksspiel werden kann. Die kommunalen Spitzenverbände (insbesondere natürlich Städtetag und Städteund Gemeindebund) halten an dieser Steuer nur deshalb fest, weil kommunalfreundlichere Alternativen (z. B. eine stärker an der Wertschöpfung orientierte Steuer) keine ernsthafte Chance auf eine Umsetzung haben und die von der Wirtschaft präferierten Alternativen (höherer Umsatzsteueranteil oder Zuschlagsrechte bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer) aus kommunaler Sicht noch problematischer erscheinen als die jetzige Gewerbesteuer. Hinzu

__________ 10 Vgl. hierzu auch die überzeugende Argumentation bei Janbernd Oebbecke, Rechtliche Vorgaben für den Haushaltsausgleich und ihre Durchsetzung, in Der Gemeindehaushalt 2009, 241 ff.

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kommt, dass im Art. 28 Abs. 2 GG den Gemeinden eine wirtschaftskraftbezogene Steuer (mit Hebesatzrecht) garantiert wird. Von daher blockieren sich die Interessengegensätze bereits seit vielen Jahrzehnten, wobei es der Wirtschaft immer wieder gelungen ist, Bund und Länder zu einer weiteren Aushöhlung der Gewerbesteuer zu veranlassen. Dabei ist die Argumentation der Wirtschaftsverbände, die sich gegen jede Art von ertragsunabhängigen Komponenten bei der Gewerbesteuer wenden (Zurechnungen bei Mieten, Zinsen, Pachten, Leasingraten, Zahlungen für Konzessionen und Lizenzen sowie evtl. noch verschärfte Zurechnungen von Zinsen im Rahmen der sog. Zinsschranke bei der körperschaftsteuerlichen Gewinnermittlung), aus der Sicht der Unternehmen auch durchaus nachvollziehbar. Denn natürlich sind gewinnunabhängige Komponenten mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip kaum zu vereinbaren und können sich bei fehlenden Gewinnen sehr schnell zu einer ernsthaften Bedrohung der Unternehmen entwickeln. Aus kommunaler Sicht hingegen stellt sich eine alle in der Gemeinde tätigen (wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen) Unternehmen treffende Steuer auf die lokale Wertschöpfung als mit der gruppenmäßigen Äquivalenz besonders gut vereinbar dar. Da die kommunalen Leistungen und die Infrastruktur nicht nur von der Wohn-, sondern gerade auch von der Wirtschaftsbevölkerung und den ortsansässigen Betrieben und Betriebsstätten (sowohl mit als auch ohne Erwerbscharakter) in Anspruch genommen werden, stellt die lokale Wertschöpfung nach wie vor den (theoretisch) besten Ansatzpunkt für eine wirtschaftskraftbezogene Steuer dar. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, sondern spätestens seit dem entsprechenden Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen aus dem Jahr 1982 weitgehender Konsens unter Finanzwissenschaftlern11. Da allerdings rd. 2/3 der Wertschöpfung in Form der Bruttolohnsumme auf den Faktor Arbeit und nur 1/3 in Form von Gewinnen, Zinsen, Mieten, Pachten etc. auf den Faktor Kapital entfallen, finden sich in vielen Lagern Gegner einer Besteuerung der Wertschöpfung. Die Hauptgegenargumente sind die Zusatzbelastungen des Faktors Arbeit und der Fremdkapitalkosten. Allerdings gelten (fast) die gleichen Gegenargumente auch für die Umsatzsteuer. Unterschiede bestehen nämlich im Ergebnis nur bei der Behandlung der Exporte, der Importe und der Investitionen. Exporte sind Wertschöpfung, aber von der Umsatzsteuer befreit, Importe sind keine (inländische) Wertschöpfung, aber mit der (Einfuhr-)Umsatzsteuer belastet und bei Investitionen (von umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen) wird die Vorsteuer vollumfänglich erstattet.

__________ 11 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern, Bonn 1982.

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Deswegen erstaunt es schon ein wenig, dass die Wirtschaftsverbände Anhänger einer (notfalls auch erhöhten) Umsatzsteuer, aber Gegner einer Wertschöpfungsteuer sind. Dies mag aber auch daran liegen, dass bei der Wertschöpfungsteuer das Hebesatzrecht wegen der lokalen Erfassbarkeit der Bemessungsgrundlagen nicht nur möglich, sondern integraler Bestandteil des Konzepts ist, während bei der Umsatzsteuer ein Hebesatzrecht schon rein theoretisch nicht eingeräumt werden kann. Zusammenfassend muss deshalb auch im Jahr 2010, wie schon in allen 28 vorausgegangenen Jahren, ganz nüchtern konstatiert werden, dass für die Umsetzung einer sehr kommunalfreundlichen wirtschaftskraftbezogenen Wertschöpfungsteuer oder wesentlicher Elemente einer solchen Steuer weder im Bundestag noch im Bundesrat Mehrheiten vorhanden sind. Deshalb sollte erneut die Frage gestellt werden, ob nicht ein geeigneter Kompromiss möglich ist, bei dem die Gemeinden genauso gestellt werden wie bei einer Wertschöpfungsteuer mit Hebesatzrecht und die Unternehmen dennoch im Ergebnis von ertragsunabhängigen Zusatzbelastungen (abgesehen von der Grundsteuer sowie Gebühren und Beiträgen) weitestgehend verschont bleiben. Es sind nämlich sehr wohl Verfahren vorstellbar, die analog zu der ja bereits erfolgreich praktizierten Verrechnung der Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer für Personenunternehmer konstruiert sind. Diese Verrechnung im Rahmen des § 35 EStG hat bei Personenunternehmen bzw. Personenunternehmern zur Folge, dass die Betriebsgemeinden die vollständigen Einnahmen aus der Gewerbesteuer erhalten, während die Gewerbesteuerpflichtigen bis zu einem Hebesatz von 400,9 % ihre Gewerbesteuerbelastung vollständig mit ihrer Einkommensteuerschuld (allerdings nur soweit vorhanden) verrechnen können. Häufig findet sich (vor allem bei vielen Internet-Darstellungen der Wirtschaftsverbände) allerdings auch die unzutreffende Behauptung, dass eine vollständige Kompensation nur bis zu einem Hebesatz von 380 % erfolge. Hier wird dann nämlich nicht berücksichtigt, dass aufgrund der reduzierten Einkommensteuer auch der ansonsten zu zahlende Solidaritätszuschlag von 5,5 % entfällt. Daraus ergibt sich nämlich, dass der maximale voll kompensierte Hebesatz bei 380 % x 1,055 = 400,9 % liegt und damit sogar noch den durchschnittlichen bundesweiten Hebesatz der Gewerbesteuer von 388 % im Jahr 2008 übertrifft12. Diese für Personenunternehmen schon jetzt geltende Verrechnungsmöglichkeit könnte prinzipiell auch für Kapitalgesellschaften eingeführt werden. Durch eine entsprechende Verrechnung der Gewerbesteuerschuld mit der Körperschaftsteuerschuld, der Umsatzsteuerschuld (soweit mit Europarecht vereinbar) oder der im Quellensteuerverfahren abzuführenden Lohnsteuer, könnten die Belastungen aus der Gewerbesteuer auf die rein hebesatzbedingten Differenzen gegenüber einem festgelegten Standardsatz von z. B. 388 % reduziert werden.

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12 Quelle: Statistisches Bundesamt.

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Damit eine Verrechnung in jedem Fall sichergestellt werden kann, dürfte die Lohnsteuer als Verrechnungssteuer besonders geeignet sind, weil sie praktisch immer höhere Werte aufweisen dürfte als die Gewerbesteuer, während die Körperschaftsteuer bei schlechter Ertragslage auch schnell einen Wert von Null erreichen kann. Das Gleiche gilt auch für die Umsatzsteuerschuld, die in größeren Investitionsphasen oder bei exportorientierten Unternehmen wegen der vollständigen Erstattung der Vorsteuer häufig negative Werte aufweist. Bei einer Einführung eines Verrechnungsmodells auch für Kapitalgesellschaften wäre allerdings darauf zu achten, dass die Gemeinden unterhalb des Referenzsatzes keine Fehlanreize zur Anhebung von Hebesätzen auf Kosten von Bund und Ländern erhalten. Solche Fehlanreize entstehen nämlich dann, wenn die Verrechnung auf die Höhe des tatsächlichen Hebesatzes beschränkt wird. Eine solche (ökonomisch bedenkliche) Beschränkung der Verrechnung erfolgt bereits bei Personenunternehmern im Rahmen der Regelungen des § 35 EStG. Dass dieser Fehlanreiz bis jetzt noch nicht bei allen Gemeinden zu einer Anhebung ihrer Hebesätze auf 400,9 % geführt hat, ist nur darauf zurück zu führen, dass die Kapitalgesellschaften (bisher) ihre Gewerbesteuerschuld nicht verrechnen können. Zur Kompensation der Mindereinnahmen durch eine Ausweitung der Verrechnungsmöglichkeiten auf Kapitalgesellschaften wäre natürlich im Gegenzug eine entsprechende Mehrbelastung der Unternehmenserträge notwendig. Diese wäre am einfachsten durch eine Anhebung des Körperschaftsteuersatzes realisierbar. Die anschließend notwendige ergebnisneutrale Neujustierung der Steuereinnahmen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wäre technisch gesehen relativ einfach. Die Vorteile eines solchen Verfahrens liegen auf der Hand. Aus der Sicht der die Gewerbesteuer erhebenden Betriebsgemeinden würde sich praktisch nichts verändern. Für die Unternehmen dagegen würde sich die tatsächliche Belastung durch die ertragsunabhängigen Steuerkomponenten massiv verringern, dafür aber die ertragsabhängige Belastung entsprechend zunehmen. Natürlich würde eine solche Verrechnung ein Stück zu Lasten der eigentlich erwünschten unmittelbaren Fühlbarkeit und Transparenz der Steuer gehen. Dies gilt allerdings nur für die Grundbelastung, nicht jedoch für die besonders relevanten kommunalpolitischen Entscheidungen über die Höhe des Hebesatzes, denn hier bliebe der direkte Zusammenhang vollumfänglich erhalten. Im Ergebnis würde sich bei einem solchen Verrechnungsmodell die Steuerbelastung der Kapitalgesellschaften gegenüber der Ausgangssituation bei schlechter Konjunktur oder Gewinnlage verringern und bei guter Konjunktur oder Gewinnlage entsprechend erhöhen, während bei Bund und Ländern natürlich genau die spiegelbildlich entgegengesetzten Wirkungen auftreten würden. Dies wäre nicht nur konjunkturpolitisch aufgrund einer Verstärkung der sog. automatischen Stabilisatoren positiv zu beurteilen, sondern könnte vielleicht auch dazu führen, bei schlechter Konjunktur oder Gewinnlage die eine oder andere Insolvenz zu vermeiden. 433

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Wenn sich beim Bund und den Ländern die grundsätzliche Bereitschaft zu einem solchen Verrechnungssystem erzielen ließe, könnte auch die Diskussion über die Einführung einer an der Wertschöpfung orientierten Steuer auf eine völlig neue Basis gestellt werden. Denn die aus der Sicht der Wirtschaft formulierten Bedenken gegen eine solche Steuer wären dann ebenfalls bis auf die hebesatzbedingten relativ geringfügigen ertragsunabhängigen Be- oder Entlastungen beseitigt. Auch diese Überlegung ist nicht völlig neu, sondern von Scherf bereits im Jahr 2001 vorgeschlagen worden13. In etwas anderer Form findet sich diese Überlegung auch im Vier-SäulenModell der von Prof. Joachim Lang geleiteten Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft, allerdings unter Verzicht auf ein Hebesatzrecht bei der Einführung einer sog. Betriebslohnsteuer. Bei dieser erhält die Gemeinde von allen Betrieben und Verwaltungen ein Steueraufkommen, das als (bundeseinheitlicher) Prozentsatz der jeweiligen Lohnsumme bestimmt wird. Die Unternehmen könnten nach dem Vorschlag der Stiftung Marktwirtschaft diese Steuer vollständig mit der abzuführenden Lohnsteuer verrechnen14. Wie von Kennern der kommunalen Selbstverwaltung im Rahmen der vorlaufenden internen Diskussion der Stiftung Marktwirtschaft frühzeitig prognostiziert, haben die kommunalen Spitzenverbände diesen Vorschlag wegen des fehlenden Hebesatzrechts erwartungsgemäß in Bausch und Bogen abgelehnt, so dass seitens der Politik eine ernsthafte Diskussion über dieses ansonsten sehr kommunalfreundliche Modell leider gar nicht erst stattgefunden hatte15. Diese (m. E. überflüssige) Auseinandersetzung um das Hebesatzrecht war auch der wesentliche Grund dafür, dass die Vorschläge der Stiftung Marktwirtschaft bei der anschließenden Reform der Unternehmensbesteuerung in Deutschland praktisch keine Rolle gespielt haben. Der Versuch, das Modell der Stiftung Marktwirtschaft dadurch kommunalfreundlicher zu gestalten, dass auch für die vorgeschlagene Betriebslohnsteuer ein Hebesatzrecht eingeräumt wird, konnte die kommunalen Spitzenverbände vor dem Hintergrund der zum damaligen Zeitpunkt bereits wieder rasant ansteigenden Gewerbesteuereinnahmen dann leider auch nicht mehr von ihrer grundsätzlichen Ablehnung abbringen16. Da in den Jahren 2004 bis 2007 die Gewerbesteuereinnahmen wieder einmal geradezu explodierten, verstummte (aus kommunaler Sicht) sehr rasch die vorherige Kritik an der Gewerbesteuer. Nach dem neuerlichen und keineswegs

__________ 13 Vgl. W. Scherf, Perspektiven der kommunalen Besteuerung, in N. Andel (Hrsg.), Probleme der Kommunalfinanzen, Berlin 2001, S. 32 ff. 14 Vgl. Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft, Bericht der Arbeitsgruppe Kommunalfinanzen, Berlin 2006, S. 10 ff. 15 Vgl. z. B. H. Karrenberg, Das Vier-Säulen-Modell der Stiftung Marktwirtschaft aus städtischer Sicht, in Der Gemeindehaushalt 2/2006, S. 25 ff. 16 Vgl. zu diesem Vorschlag I. Deubel, Reform des Gemeindesteuersystems – Zurück zur kommunalen Selbstverwaltung, in Wirtschaftsdienst 2006, 37 ff.

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überraschenden Absturz der Gewerbesteuereinnahmen in den Jahren 2009 und 2010 wird nunmehr allerdings auch wieder in vielen Kommunen beklagt, dass die Gewerbesteuer in ihrer jetzigen Form eben doch keine gute Gemeindesteuer sei. Von daher ist es durchaus vorstellbar, dass bei Einführung eines Verrechnungsmodells auch für Kapitalgesellschaften eine Wertschöpfungsteuer (soweit mit europäischem Recht vereinbar) oder zumindest eine die wesentlichen Wertschöpfungskomponenten umfassende Steuer mit Hebesatzrecht (analog Deubel 2006) erneut in die Diskussion eingebracht werden könnte. Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission zur Neuordnung der Gemeindefinanzen böte für diese Überlegungen eine geeignete Plattform.

V. Weiterentwicklung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer zur Bürgersteuer Aus der Sicht der lokalen Demokratie und einem wünschenswerten unmittelbaren Zusammenhang zwischen kommunalen Leistungen und der lokalen Steuerbelastung der Einkommen der Bürgerinnen und Bürger stellt der jetzige Gemeindeanteil an der Einkommensteuer keine wirklich befriedigende Lösung dar. Es fehlen nämlich die Fühlbarkeit, die Transparenz sowie die lokalen Diskussionen und Entscheidungen über die Steuerhöhe. Ein Steuerbescheid der Kommune, auch wenn er aus technischen Gründen im staatlichen Finanzamt erstellt würde, könnte die kommunalpolitische Diskussion ganz erheblich bereichern und das Interesse an der Kommunalpolitik auch bei denen fördern, denen bisher gar nicht bewusst ist, dass rd. 60 % aller öffentlichen Investitionen in Deutschland durch die Kommunen getätigt werden. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Diskussion über Zuschläge bei der Einkommensteuer häufig genau von den Gruppen geführt werden, die hauptsächlich an der Beseitigung der Gewerbesteuer arbeiten. Von daher ist das Misstrauen der kommunalen Spitzenverbände gegenüber Zuschlagsrechten bei der Einkommensteuer nur zu gut nachvollziehbar. Und zu bedenken ist auch, dass die Einführung einer lokalen Einkommensteuer bzw. Bürgersteuer nicht ohne einen erheblichen Zusatzaufwand möglich sein dürfte. Allerdings dürfte sich dieser Zusatzaufwand nach der Einführung der einheitlichen Identifikationsnummer und der elektronischen Steuerkarte deutlich reduzieren lassen, aber natürlich nur dann, wenn für die Bürgersteuer im Prinzip das gleiche Erhebungsverfahren wie bei der Lohn- und Einkommensteuer eingesetzt würde. Um die hier aufgezeigten Klippen zu umschiffen, spricht deshalb vieles dafür, die Einführung einer Bürgersteuer nicht an den Anfang, sondern an das Ende eines Reformprozesses des kommunalen Steuersystems zu setzen. Von daher geht es hier auch (noch) nicht um Detailfragen, sondern nur um die prinzipielle Ausrichtung. Aus vielerlei Gründen erscheint es sinnvoll, kein lokales Zuschlagsrecht auf die (progressive) Einkommensteuer einzuführen, 435

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sondern vielmehr eine proportionale Steuer auf das zu versteuernde Einkommen (nach Abzug der Grundfreibeträge) zu erheben. Der durchschnittliche Steuersatz zur Wahrung der Aufkommensneutralität gegenüber dem bisherigen Gemeindeanteil von 15 % an der Einkommensteuer müsste dann bei etwa vier Prozent liegen. Im Gegenzug könnten die Steuersätze der verbleibenden Einkommensteuer über den gesamten Tarifverlauf hinweg um diese vier Punkte abgesenkt werden. Zur Entschärfung der Stadt-Umland-Problematik sollte zumindest erwogen werden, das eigenständige Steuerrecht der Gemeinden auf Sockelbeträge zu beschränken. Für den Teil der Bemessungsgrundlage, der oberhalb der Sockelbeträge läge, würde dann der bundesweite Durchschnittssatz erhoben und das so entstehende Aufkommen proportional zu den (mit dem Durchschnittssteuersatz normierten) Anteilen unterhalb der Sockelbeträge an die Gemeinden verteilt. Zweifelsohne ließe sich das Interessenband zwischen den Gemeinden und ihren Bürgerinnen und Bürgern durch die Einführung einer solchen Bürgersteuer deutlich stärken.

VI. Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer und Gewerbesteuerumlage Auf der einen Seite beteiligen sich die Gemeinden im Jahr 2010 (nach der November-Steuerschätzung des Jahres 2009) über diverse Gewerbesteuerumlagen mit einem Umfang von rd. 5,5 Mrd. Euro an der Finanzierung des Bundes und der Länder, auf der anderen Seite erhalten sie einen Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer von rd. 3,6 Mrd. Euro. Selbst Experten können zumeist nicht mehr auf Anhieb erklären, warum es neben der allgemeinen Gewerbesteuerumlage auch noch die Sonderumlagen für die Neuordnung des (Länder-)Finanzausgleichs und den Fonds „Deutsche Einheit“ gibt, von den Bürgerinnen und Bürgern ganz zu schweigen. Eine vernünftige kommunalpolitische Begründung lässt sich aus heutiger Sicht jedenfalls nicht mehr geben. Es spricht deshalb vieles dafür, spätestens bei der nächsten größeren Reform der Gemeindesteuern diese intransparenten und kommunalpolitisch verfehlten Elemente eines Mischsteuersystems zu eliminieren. Dies ließe sich (den guten Willen aller Beteiligten unterstellt) relativ problemlos und zwischen den Ebenen und den Ländern auch weitestgehend verteilungsneutral umsetzen. Soweit es dabei innerhalb der Länder zu korrekturbedürftigen Verschiebungen kommen sollte, wären die kommunalen Finanzausgleiche der Flächenländer die richtige Stelle für eventuell notwendig erscheinende Nachjustierungen.

VII. Zusammenfassung Die Gemeinden befinden sich inmitten einer außerordentlich schweren finanziellen Krise. Da die Haushalte von Bund und Ländern in den nächsten fünf bis 436

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zehn Jahren aufgrund ihrer eigenen katastrophalen finanziellen Lage und der Einführung der Schuldenbremse allerdings keinerlei Spielräume für eine Umverteilung zugunsten der Kommunen aufweisen dürften und eine substantielle Entlastung der Kommunen bei den von ihnen wahrzunehmenden Aufgaben ebenfalls nicht zu erwarten ist, sind die Gemeinden bei der Konsolidierung ihrer Haushalte weitgehend auf sich selbst angewiesen. Elementarer Bestandteil einer leistungsfähigen kommunalen Selbstverwaltung ist ein funktionsfähiges kommunales Steuersystem. Das den Gemeinden tatsächlich zur Verfügung stehende System erfüllt die Anforderungen an ein solches System nur sehr unzureichend. Die vier Hauptsäulen des kommunalen Steuersystems, die Gewerbesteuer, der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer, die Grundsteuer und der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer weisen in der jetzigen Ausgestaltung mehr oder weniger große Defizite auf. Die Grundsteuer B lässt sich dabei am einfachsten korrigieren. Der einzige (allerdings gravierende) Nachteil liegt in den schon fast willkürlich anmutenden völlig überholten Einheitswerten aus den Jahren 1964 in den alten und 1935 in den neuen Bundesländern. Eine dringend erforderliche Aktualisierung und Modernisierung der Bemessungsgrundlagen ist deshalb seit vielen Jahren überfällig. Obwohl sich die Länder schon im Jahr 2004 im Grundsatz auf das von Bayern und Rheinland-Pfalz damals vorgelegte Modell geeinigt hatten, schiebt der Bund die notwendige Reform immer noch vor sich her. Aber auch in der jetzigen Form eröffnet die Grundsteuer bereits einen sehr großen Selbstverwaltungsspielraum, der in vielen Gemeinden bei weitem nicht ausgeschöpft erscheint. Es erscheint ziemlich unverständlich, dass defizitäre Gemeinden dieses Instrument nicht auch jetzt schon sehr viel stärker zum Haushaltsausgleich nutzen. Ein steuerpolitischer Dauerbrenner ist die Gewerbesteuer. In ihrer heutigen Struktur erscheint sie nicht zukunftsfähig. Sie weist sowohl aus kommunaler, als auch aus der Sicht der Wirtschaft, schwerwiegende Defizite auf. Während die Kommunen zur Erfüllung ihrer Aufgaben eine die lokale Wertschöpfung abbildende, breit angelegte, wachstumsproportionale und konjunkturunempfindliche Steuer auf die lokale Wirtschaftskraft benötigen, lehnt die Wirtschaft (aus ihrer Sicht durchaus begründet) jede Art von ertragsunabhängiger Besteuerung ab. Beim Streit um diesen Grundwiderspruch hat sich bisher fast immer die Wirtschaft durchgesetzt. Der Grundwiderspruch ließe sich wohl nur dann auflösen, wenn die Belastung durch die Gewerbesteuer (oder besser noch einer sich weitgehend an der Wertschöpfung orientierenden Steuer) auch bei Kapitalgesellschaften (wie jetzt schon bei Personenunternehmern im Rahmen des § 35 EStG) weitgehend mit einer anderen Steuer verrechnet werden könnte. „Weitgehend“ bedeutend dabei, dass die Steuerlast, die sich bei einem Standardhebesatz ergeben würde, der sich am bundesweiten Durchschnitt orientieren sollte, vollständig verrechnet werden könnte, während hebesatzbedingte Ab437

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weichungen von dieser Standardbelastung (nach oben oder unten) ebenso vollständig vom Unternehmen zu tragen wären bzw. sogar zu einer Entlastung führen könnten. Zur Gegenfinanzierung der durch eine solche Verrechnung entstehenden Steuerausfälle müsste natürlich eine andere Unternehmenssteuer (z. B. die Körperschaftsteuer) entsprechend erhöht werden. Der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer wird von der Wohnbevölkerung bisher in keiner Weise als Gemeindesteuer empfunden. Dies würde sich sofort ändern, wenn die der Gemeinde zukommenden Anteile am Einkommen ihrer Bürgerinnen und Bürger auch kommunal festgelegt werden könnten. Eine auf dieser Grundüberlegung basierende Bürgersteuer darf nicht mit einem lokalen Zuschlagsrecht auf die (progressive) Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer verwechselt werden. Den Befürwortern eines solchen Zuschlagrechts geht es nämlich im Regelfall nicht um die Schaffung einer wohnortbezogenen Bürgersteuer, sondern lediglich um die Abschaffung der ungeliebten Gewerbesteuer. Von daher spricht vieles dafür, das Thema „Bürgersteuer“ erst dann auf die Tagesordnung zu setzen, wenn für die wirtschaftskraftbezogene Steuer i. S. d. Art. 28 GG eine als zukunftsträchtig empfundene Lösung umgesetzt ist. Die diversen Gewerbesteuerumlagen und der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer sind mit den Grundsätzen eines ökonomisch rationalen kommunalen Steuersystems kaum zu vereinbaren und sollten baldmöglichst beseitigt werden. Für den Bund, die Länder und die Gemeinden lässt sich dafür relativ problemlos eine weitestgehend verteilungsneutrale Alternative entwickeln. Als korrekturbedürftig angesehene verbleibende Verschiebungen zwischen den Gemeinden innerhalb eines Landes ließen sich im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs auffangen. Insgesamt gesehen erscheint es sehr wohl möglich, auch ohne zusätzliche finanzielle Belastungen für den Bund und die Länder das kommunale Steuersystem so umzubauen und fort zu entwickeln, dass auch auf der Einnahmeseite der Gemeinden von einer echten Selbstverwaltung i. S. d. Art. 28 GG gesprochen werden kann. Bund und Länder müssten dafür allerdings endlich erkennen, dass der Weg aus der kommunalen Finanzkrise sich nicht durch eine Einschränkung, sondern nur durch eine Ausweitung der kommunalen Selbstverwaltung finden lässt.

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Die Ersetzung der Gewerbesteuer – (K)eine unüberwindbare Hürde für eine große Steuerreform? Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Gewerbesteuer heute: unzulänglich in vielerlei Hinsicht 1. Historische Belastungsentscheidung – längst überholt 2. Doppelbelastung durch die Gewerbesteuer – nur mehr ein bürokratisches Problem?

3. Eine schlechte Kommunalsteuer? III. Nur eine einzige Alternative? IV. Schluss

Die Arbeiten von Joachim Lang waren mir in mehr als dreißig Jahren Steuerpolitik immer eine wertvolle Quelle. Besonders sein Einsatz für eine Systematisierung und Vereinfachung des Steuerrechts zeigte auch in der Steuerpolitik Wirkung. Die von ihm maßgeblich mitentwickelten „Brühler Empfehlungen“ haben zwar nur zum Teil Eingang in die Steuerpolitik gefunden – aber das politische Bewusstsein für die Wichtigkeit einer rechtsformneutralen Besteuerung auf international wettbewerbsfähigem Niveau langfristig geschärft. Im Hinblick auf die Zukunft der Gewerbesteuer haben die „Brühler Empfehlungen“ die rechtlichen und ökonomischen Unzulänglichkeiten klar benannt – mussten aber auch den politischen Widerstand gegen die notwendigen Änderungen anerkennen. Als unermüdlicher Reformer hat Joachim Lang dann einige Jahre später als Vorsitzender der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft ein eigenes Modell zur Reform der Kommunalfinanzen vorlegen können, das nun die anstehende Arbeit in der Regierungskommission zur Reform der Gemeindefinanzen beeinflussen kann.

I. Einführung Fast schon seit Bestehen der Bundesrepublik steht die Gewerbesteuer in der Kritik. Die Angriffe kommen aus allen Richtungen: Es wird steuerjuristisch argumentiert und fiskalpolitisch, Steuerreformer und -vereinfacher sehen sich an der Verwirklichung ihrer Vorstellungen gehindert, während sich Beobachter des internationalen Steuerwettbewerbs ob dieser deutschen Ausnahmesteuer wundern. Umso erstaunlicher ist es, dass die Gewerbesteuer immer noch ihren festen Platz in der Steuerrechtsordnung hat. Die christlich-liberale Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag am 27.10.2009 verabredet, eine Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen zur Neuordnung der Gemeindefinan439

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zierung einzusetzen. Diese soll auch den Ersatz der Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer mit eigenem Hebesatz prüfen. Die Kommission hat ein gewaltiges Stück Arbeit vor sich, denn an der Frage der Ersetzung der Gewerbesteuer sind schon einige Kommissionen und Regierungen gescheitert. Die letzte Kommission Gemeindefinanzreform tagte unter Vorsitz von Bundesfinanzminister Hans Eichel vom 23.5.2002 bis zum 3.7.2003. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD und den Grünen1 beschrieb folgendes politisches Ziel für die Arbeit der Kommission: „Wir werden – ausgehend von dem Ergebnis der Kommission Gemeindefinanzreform – die Finanzkraft der Kommunen stärken und auf eine breite und solide Basis stellen. Wir wollen das Band zwischen örtlicher Wirtschaft und Gemeinde festigen. Deshalb wollen wir im Konsens aller Beteiligten eine tragfähige Gewerbesteuerreform als wesentliches Element der Gemeindefinanzreform umsetzen.“ Die Regierungsvorlage nach Abschluss der Kommissionsarbeit sah dann die Umgestaltung der Gewerbesteuer in eine Gemeindewirtschaftsteuer vor, was nichts anderes als die zusätzliche Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuer gewesen wäre. Im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat wurde die groß angelegte Gemeindefinanzreform zu einer bloßen Gewerbesteuernovelle2 degradiert: Kleine Änderungen am geltenden Recht ohne langfristig nachhaltige Perspektive. Die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte sich im Koalitionsvertrag3 vorgenommen: „Die Fortentwicklung der Gewerbesteuer ist im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Fortentwicklung der Unternehmensbesteuerung zu entscheiden. Unser Ziel ist eine wirtschaftskraftbezogene kommunale Unternehmensbesteuerung mit Hebesatzrecht, die administrativ handhabbar ist, den Kommunen insgesamt ein stetiges Aufkommen sichert, die interkommunale Gerechtigkeit wahrt und keine Verschiebung der Finanzierung zu Lasten der Arbeitnehmer vorsieht. Wir werden die Gewerbesteuer nur ersetzen, wenn für eine Alternative hinreichend genaue Kenntnisse über die Verteilungsfolgen vorliegen.“ Im Ergebnis wurden mit der Unternehmenssteuerreform 20084 die Hinzurechnungsvorschriften des § 8 GewStG ausgeweitet, die Abzugsfähigkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer gestrichen und im Gegenzug die Steuermesszahl für den Gewerbeertrag von 5 Prozent auf 3,5 Prozent vermindert. Auch hier ist im Ergebnis des politischen Prozesses nicht mal der Ansatz einer Reform zu erkennen. Deshalb ist es nur zu begrüßen, wenn Bundesfinanzminister Schäuble sich ausdrücklich zur Arbeit der Kommission bekennt. Schließlich ist aktuell der Reformbedarf besonders drängend:

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http://www.nrwspd.de/db/docs/doc_576_20021016121535.pdf. Gesetz vom 23.12.2003, BGBl. I 2003, 2922. http://www.cducsu.de/upload/koavertrag0509.pdf. Gesetz vom 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912.

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Die Gewerbesteuer ist für die Gemeinden eine besonders wichtige und für viele Gemeinden die Haupteinnahmequelle. Im Jahr 2009 betrug das Gewerbesteueraufkommen – nach Abzug der Gewerbesteuerumlage – 25 Mrd. Euro5. Die Gewerbsteuereinnahmen sind im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise in vielen Gemeinden um mehr als 60 Prozent eingebrochen, bei anderen Gemeinden fällt die Gewerbesteuer ganz aus und wieder andere müssen einen erheblichen Teil der Gewerbesteuervorauszahlungen zurückzahlen. Im Bundesdurchschnitt sind die Gewerbesteuereinnahmen 19,7 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor, im dritten Quartal 2009 betrug der Rückgang sogar minus 36,6 Prozent. Viele Gemeinden stehen buchstäblich mit leeren Händen da. Vielleicht aber hilft der Druck der leeren Kassen, Bewegung in die ziemlich festgefahrene Diskussion um die Abschaffung der Gewerbesteuer zu bringen.

II. Die Gewerbesteuer heute: unzulänglich in vielerlei Hinsicht Gegen die Gewerbesteuer in ihrer heutigen Ausprägung lassen sich viele Argumente vorbringen: – Der historische Belastungszweck ist überholt. – Die Doppelbelastung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb mit Einkommenund Körperschaftsteuer als auch mit Gewerbesteuer ist steuersystematisch nicht zu vertreten und verfassungsrechtlich bedenklich. – Die Gewerbesteuer behindert eine Reform der Unternehmensbesteuerung hin zu einem rechtsform- und finanzierungsneutralen Steuerrecht. – Die Gewerbesteuer verursacht vielfältige Wettbewerbsverzerrungen zwischen unterschiedlich großen Unternehmen, zwischen Gewerbebetrieben und nichtgewerblicher Wertschöpfung, zwischen Eigen- und Fremdfinanzierung, zwischen in- und ausländischen Unternehmen. – Ihr stark zyklisches Aufkommen bietet den Gemeinden keine stabile Finanzierungsgrundlage. – Das demokratische Element, das Finanzbeziehungen zwischen dem Staat und seinen Mitgliedern zukommt, ist auf kommunaler Ebene kaum noch erkennbar. 1. Historische Belastungsentscheidung – längst überholt Historisch wird die Gewerbesteuer als Objekt- oder Realsteuer6 verstanden und in langer Rechtstradition das sog. Äquivalenzprinzip zur Rechtfertigung der Gewerbesteuer bemüht7. Zu den Realsteuern werden in Deutschland nach

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5 Statistisches Bundesamt, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/ Internet/DE/Presse/pm/2010/03/PD10__114__71137,templateId=renderPrint.psml. 6 So auch das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, zuletzt BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, FR 2008, 818 m. Anm. Keß Rz. 4. 7 Jachmann, Ansätze zu einer gleichheitsgerechten Ersetzung der Gewerbesteuer, BB 2000, 1432 (1434); BVerfG v. 25.10.1977 – 1 BvR 15/75, BStBl. II 1978, 125 Rz. 26.

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§ 3 Abs. 2 AO die Grundsteuer und Gewerbesteuer gezählt. Was genau eine Objektsteuer definiert, versucht die steuerjuristische Fachwelt seit langem zu klären8. Der Minimalkonsens scheint darin zu liegen, dass zu einer Objektsteuer keine subjektiven Besteuerungselemente passen. Bereits in der ersten Fassung des Grundgesetzes9 waren „die Realsteuern“ ausdrücklich erwähnt10. Die Gewerbesteuer wurde unter den verfassungsrechtlichen Begriff der Realsteuer subsumiert11. Im Zuge der Reform der Finanzverfassung12 durch die erste große Koalition wurde auch die Gewerbesteuer selbst – und nicht nur der Oberbegriff „Realsteuern“ – erstmals ausdrücklich im GG erwähnt13. Objekt der Gewerbesteuer ist nach § 2 Abs. 1 Satz 1 GewStG der stehende Gewerbebetrieb. Die Gewerbesteuer soll den Gemeinden einen finanziellen Ausgleich für die erhöhten Ausgaben z. B. für Infrastruktur bieten, den Betriebe der Industrie, des Handels und des Handwerks im Gemeindegebiet verursachen. Diese aus dem Äquivalenzprinzip hergeleitete Rechtfertigung mag im Industriezeitalter nachvollziehbar gewesen sein. In heutiger Zeit aber wird bei einer Betrachtung der tatsächlichen Situation in den Gemeinden klar: Die „schmutzigen“ Gewerbebetriebe werden immer weniger. Selbst die „klassische“ gemeindliche Infrastruktur wird von Gewerbetreibenden, aber auch von Dienstleistern, Händlern und den Bürgern immer gleichmäßiger (ab-)genutzt. Längst aber stellen die Gemeinden nicht mehr nur Straßen, Müll- und Abwasserentsorgung bereit. Sie unterhalten Schwimmbäder, Bibliotheken und Kindergärten. Vielerorts macht der Sozialetat, aus dem beispielsweise die Kosten der Unterkunft für die Bezieher von Leistungen nach dem SGB II bestritten werden, den wesentlichen Teil des gemeindlichen Haushalts aus. Dazu kommt: Die Gemeinden empfinden die Ansiedlung von Gewerbebetrieben nicht als Belastung. Die Kommunen werben doch um die Ansiedlung neuer Betriebe und betreiben – neben umfangreichen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen – über die Gewerbesteuerhebesätze einen interkommunalen Steuerwettbewerb. Neue Gewerbebetriebe schaffen Arbeitsplätze im Gemeindegebiet und gerade das wollen die Kommunen. Denn nur mit ausreichenden Arbeitsplätzen bleiben Gemeinden für die Bürger attraktiv. Und ausgerechnet ein positives Ergebnis gemeindlicher Bemühungen wird dann mit einer Sondersteuer belegt. Man könnte auch die Frage stellen, wie eine Steuer ohne subjektiven Leistungsbezug zur „Bezahlung“ bestimmter staatlicher Leistungen überhaupt in das Steuersystem einer sozialen Marktwirtschaft passt. Denn Steuern sind „Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstel-

__________ 8 Rainer Hartmann, Bestandsschutz für die Gewerbesteuer, BB 2008, 2490 (2492) m. w. N.; Wosnitza, Konsequenzen der BVerfG, Beschl. v. 22.6.1995 für die Diskussion um die Reform der Gewerbeertragsteuer, BB 1996, 1465 (1466). 9 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23.5.1949, BGBl. I 1949, 1. 10 Art. 105 Abs. 2 Nr. 3 sowie Art. 106 Abs. 2 GG. 11 BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 Rz. 44. 12 21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Finanzreformgesetz) v. 12.5.1969, BGBl. I 1969, 359. 13 Art. 106 Abs. 6 Satz 4 GG.

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len“14. Das Äquivalenzprinzip vermag die Erhebung von Gebühren und Beiträgen rechtfertigen, nicht aber die von Steuern. Steuern im Verfassungsstaat der sozialen Marktwirtschaft sollen die staatliche Teilhabe am Erwerbserfolg privaten Wirtschaftens sichern. Objektcharakter und Äquivalenzprinzip vertragen sich damit wohl kaum. Diese Bedenken können aber dahingestellt bleiben: Vielleicht war die Gewerbesteuer bis zum Jahr 1978 tatsächlich eine Objektsteuer15. Mit Abschaffung der beiden statischen und damit ertragsunabhängigen Größen „Lohnsumme“16 und „Gewerbekapital“17 ist die Gewerbesteuer zu einer ertragsabhängigen Steuer geworden – für die allerdings wichtige verfassungsrechtliche Grundsätze nicht gelten sollen18. 2. Doppelbelastung durch die Gewerbesteuer – nur mehr ein bürokratisches Problem? Rein wirtschaftlich betrachtet scheint die Gewerbesteuer für viele Unternehmen keine echte Zusatzbelastung mehr zu sein. Seit Einführung der Verrechnungsmöglichkeit des § 35 EStG durch das Steuersenkungsgesetz 2000 können Personenunternehmen ihre Gewerbesteuerschuld mit ihrer Einkommensteuer verrechnen19. Kapitalgesellschaften haben seit Absenkung der Körperschaftsteuer auf 15 Prozent selbst mit Gewerbesteuer eine Steuerbelastung von um die 30 Prozent20. Auf den ersten Blick scheint deshalb die Doppelbelastung der Gewerbebetriebe nur noch auf dem Papier zu bestehen. Könnte man, wenn schon die steuerpolitische Ideallösung nicht zu erreichen ist, mit dieser „Second-Best-Lösung“ nicht zufrieden sein? Ein genauerer Blick zeigt aber etwas anderes: Die Gewerbesteuer trifft weiter ausgewählte Unternehmen als Zusatzertragsteuer. Obwohl, „ausgewählt“ suggeriert eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung im Hinblick auf die Zusatzbelastung. Davon kann sicher nicht gesprochen werden. Stattdessen hängt der tatsächliche Eintritt von vielerlei Umständen ab: Rechtsform, Unternehmenszweck, Finanzierungsform, Höhe des jeweiligen Hebesatzes, Gewinnsituation. Diese (unvollständige) Auflistung macht deutlich, dass die Gewerbesteuer weiter ein wichtiger Faktor bei steuerlichen Gestaltungsüberlegungen in Unternehmen ist. Die Entscheidung für oder gegen eine Rechtsform wird auch unter dem Gesichtspunkt getroffen, ob eine Gewerbesteuerpflicht droht. Die Frage, ob ein bestimmtes wirtschaftliches Handeln Gewerbesteuer auslöst, beschäftigt nicht nur die FG in massiver Dichte und führt zu kaum noch überschaubarer Judika-

__________ 14 15 16 17 18 19 20

§ 3 Abs. 1 AO. Jachmann, BB 2000, 1432 (1433). BGBl. I 1978, 1849 (1855). BGBl. I 1997, 2590 (2592). BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, FR 2008, 818 m. Anm. Keß Rz. 4. BGBl. I 2000, 1433. Gesetz v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912.

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tur21. Es kann steuerpolitisch doch nicht richtig sein, wenn ein Unternehmer am Beginn seiner Tätigkeit nicht mal die Anzeige seiner Tätigkeitsaufnahme ohne Zuhilfenahme eines Steuerberaters fertigen kann. Aber manchmal hilft auch keine noch so gute Beratung, die Gewerbsteuerpflicht besteht. Welche absurden Ergebnisse dann drohen, hat die Veränderung bei den Hinzurechnungsbestimmungen durch die Unternehmensteuerreform 2008 gezeigt: Die Finanzierungsanteile von Mieten und Pachten unterlagen danach zu 25 Prozent der Hinzurechnung. Das führte beispielsweise bei Filialunternehmen des Einzelhandels zu einem erheblichen Anstieg der Gewerbesteuerlast. In Verlustjahren drohte die Substanzbesteuerung. Einen Ausweg gab es nicht: Schließlich können die Einzelhandelsfilialisten ihre Ladenräume nicht kaufen. Der gesetzgeberische Gedanke hinter der neuen Hinzurechnungsregel führte sich selbst ad absurdum: Eigenkapital ist gut, Fremdkapital ist schlecht. Ein Unternehmen, das mietet statt zu kaufen, will nur seine Steuerlast mindern. Jeder Student der Betriebswirtschaft im ersten Semester weiß, dass das blanker Unsinn ist. Aber es dient dem Gesetzgeber zur Rechtfertigung. Und die Tatsache, dass die Gewerbesteuer höchstrichterlich bestätigt überhaupt Hinzurechnungsvorschriften kennt, bietet ein leicht zu nehmendes Einfallstor. Die Anrechnungsmöglichkeit für Personenunternehmen vermag der Gewerbesteuer ebenfalls keinen steuerpolitischen Freibrief zu erteilen. Zum einen handelt es sich um eine typisierende Anrechnung, die bei hohen Gewerbesteuerhebesätzen ab ca. 360 Prozent nicht mehr funktioniert, d. h. die Kompensation gelingt dann nicht. Zum anderen setzt sie eine verrechenbare Einkommensteuerschuld voraus. Unternehmen, die keine Einkommensteuer zahlen, weil sie keine Gewinne vorweisen können, bleiben außen vor. Keine Kompensation und das gerade in einer wirtschaftlichen schwierigen Situation – steuerpolitisch keine akzeptable Lösung. Es ist auch sicher kein Beitrag zur Steuervereinfachung, wenn erst eine Steuerschuld auf kompliziertem Weg berechnet wird, um sie anschließend wieder zu verrechnen. Die vorgenannten Argumente sind vielleicht steuerpolitischer Art, haben aber auch eine verfassungspolitische Komponente. Das BVerfG gewährt der Gewerbesteuer Bestandsschutz22. Allerdings darf das den Gesetzgeber nicht hindern, einen (steuer-)politisch unerwünschten Zustand zu beseitigen. Dazu möchte ich Wolfgang Schön zitieren23: „Während man in Kreisen der Steuerwissenschaft häufig glaubte, dass alles, was vernünftig erscheint, auch verfassungs-

__________ 21 Schon der Reichsfinanzhof musste über die Frage nach der Gewerbesteuerpflicht bestimmter Tätigkeiten entscheiden RFH v. 25.1.1939 – VI 41/39, RStBl. 1939, 354. Bei der Betrachtung der Rechtsprechung zur Gewerbesteuerpflicht vermag man beinahe ein Abbild der gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen. Frühe Urteile befassen sich mit Fleischbeschauern (RFH v. 2.5.1935 – IV A 309/33, RStBl. 1935, 1154), Berufssportlern (BFH v. 16.3.1951 – IV 197/50 U, BStBl. III 1951, 97) oder Schaufenstergestaltern (BFH v. 26.5.1955 – IV 608/53 U, BStBl. III 1955, 225); neuere mit Softwarentwicklern (FG Münster v. 22.8.2008 – 12 K 3696/05 G, EFG 2009, 351) und Insolvenzverwaltern (FG Düsseldorf v. 21.1.2010 – 14 K 575/08 G Zerl., ZIP 2010, 533). 22 Zuletzt BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, FR 2008, 818 m. Anm. Keß. 23 Wolfgang Schön, Beihefter zu DStR 17/2008, 10 (14).

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rechtlich geboten ist, glaubte man in der Steuerpolitik, dass eine Regelung, die vom BVerfG noch akzeptiert wird, auch in der Sache überzeugt. Das ist nicht richtig. Es gibt auch steuerpolitische Torheiten unterhalb der Grenze zum Verfassungsbruch, und es wäre ein erheblicher Gewinn für den steuerpolitischen Diskurs, wenn die Bereitschaft zum Dialog über steuerliche Prinzipien auch ohne die Keule des Verfassungsrechts hergestellt werden könnte.“ In diesem Sinne wäre die Überwindung der Gewerbesteuer steuerpolitisch ein wesentlicher Schritt hin zu einer echten Reform der Unternehmensbesteuerung. 3. Eine schlechte Kommunalsteuer? Was ist eine gute Kommunalsteuer? Zur Beantwortung dieser Frage hilft es, verschiedene Blickwinkel einzunehmen. Für den Gemeindehaushalt ist eine gute Steuer die, die verlässlich fließt. Für die Sicherung des Rechts auf kommunale Selbstverwaltung zählt, dass die Gemeinde die Höhe der Steuer selbst bestimmen kann und sich so auch finanzielle Autonomie sichert. Interkommunaler Wettbewerb bei den Steuersätzen sorgt für die Verbesserung der Standortbedingungen und hält die Steuerhöhe im Rahmen. Für das Funktionieren des Gemeinwesens wäre es am besten, wenn die gemeindliche Wertschöpfung möglichst breit erfasst wird und viele Mitglieder der Gemeinde sich an ihrer Finanzierung beteiligen. Der Zusammenhang zwischen der Bereitstellung kommunaler Leistungen und der Notwendigkeit ihrer Finanzierung wird transparent. Das stärkt das demokratische Bewusstsein vor Ort. Die Gewerbesteuer wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Allenfalls der Steuerwettbewerb um gewerbliche Ansiedlungen ist durch die Möglichkeit unterschiedlicher Hebesätze eröffnet. Sonst bleibt nicht viel: Die Gewerbesteuer ist im Aufkommen stark zyklisch. Selbst wenn alle Blütenträume in Bezug auf neue Hinzurechnungen reifen, werden die Erträge schwankend bleiben. Das ist schließlich das bei einer Ertragsteuer gewünschte Ergebnis: Kein Ertrag – keine Steuer. Die Wiedereinführung von Lohnsummen und Gewerbekapitalsteuer fordern wegen der negativen Effekte auf die Beschäftigung nicht einmal eingefleischte Gewerbesteuerbefürworter. Es ist auch zu bezweifeln, ob die Gemeinden die erhaltene Kompensation wieder hergeben möchten24. Zur Sicherung des „demokratischen Bands“ zwischen Bürgern und Gemeinden kann die Gewerbesteuer nichts beitragen. Inhaber großer Gewerbebetriebe mögen ein Druckmittel gegen die Gemeindeväter und -mütter haben, demokratisch ist das sicher nicht. Transparenz besteht nicht. Welcher Bürger weiß schon, dass 15 Prozent seiner Einkommensteuer an die Gemeinde fließen? Es ist für sie ja auch nicht wichtig, denn die Höhe der Steuer hängt nicht von der Wohnsitzgemeinde ab. Die Gemeinden haben keine Möglichkeit, von ihren

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24 Im Zuge der Abschaffung der Lohnsummensteuer im Jahre 1980 wurde der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer auf 15 % erhöht. Für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer erhielten die Gemeinden eine 2,2 %ige Beteiligung an der Umsatzsteuer.

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Einwohnern höhere oder niedrigere Steuern zu verlangen. Die Steuereinnahme kommt wie eine Finanzzuweisung bei den Gemeinden an. Mit der Gewerbesteuerumlage fließen allerdings fast ein Fünftel der Gewerbesteuereinnahmen in die andere Richtung, an Bund und Länder. Die Gewerbesteuer ist keine gute Basis für solide Kommunalfinanzen. Warum aber klammern sich Verbandsvertreter und auch viele Gemeinden und insbesondere die großen wirtschaftlich starken Städte dann so sehr an ihren Erhalt? Es mangelt, jedenfalls der Zahl nach, schließlich nicht an Gegenkonzepten. Als Schlagworte aus den letzten dreißig Jahren Steuerpolitik seien nur genannt: Kommunale Wirtschaftsteuer25, kommunale Unternehmensteuer26, Wertschöpfungsteuer27, Gemeindewirtschaftsteuer28, Vier-Säulen-Modell29, Zwei-Säulen-Modell30.

III. Nur eine einzige Alternative? Aus der Sicht des liberalen Steuerpolitikers sollte jegliche Alternative zum gegenwärtigen Gemeindefinanzsystem sich an zwei grundlegenden Feststellungen orientieren. Erstens: Im deutschen Steuersystem ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit das entscheidende Kriterium für maßgebliche Steuern. Das gilt auch für das Gemeindefinanzsystem. Eine gute Kommunalsteuer, die unabhängig von der Ertragslage eines Unternehmens gezahlt werden muss, gibt es nicht. Zweitens: Die Finanzbeziehungen zwischen den Bürgern und ihrem Staat müssen neu geordnet werden. Es ist für das Gelingen von Demokratie entscheidend, dass den Bürgern klar ist, dass alles, was verteilt wird, erst einmal erwirtschaftet werden muss. Es muss auch transparent sein, wer für welche Aufgaben und für die Finanzierung dieser Aufgaben zuständig ist. Eine gute Kommunalsteuer, die die Bürger einer Gemeinde nicht zahlen, gibt es nicht. Die FDP schlägt deshalb ein Zwei-Säulen-Modell vor31. In der ersten Säule erhalten die Gemeinden einen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer in gleicher Höhe mit eigenem Hebesatzrecht. „Zuschlag“ beschreibt dabei die Technik der Steuererhebung. „Zuschlag“ bedeutet nicht, dass die Gemeinden auf Zuweisung eines bestimmten Bundes- oder Landesanteils angewiesen sind. Um es bildlich deutlich zu machen: Den Gemeinden steht ein eigenes Stück vom Steuerkuchen zu, dessen Größe sie durch Anwendung des

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25 http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-F764F574-D8442B8D/bst/xcm s_bst_dms_20136_20137_2.pdf. 26 http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/download/ziffer/z408_419j05.pdf. 27 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten zur Reform der Gemeindesteuern in der Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Band 31, Bonn 1982. 28 Gesetzentwurf BT-Drucks. 15/1517. 29 http://stiftung-marktwirtschaft/fileadmin/user_upload/Steuern/Bericht_der_AG_Kom munalfinanzen_ Kommission_Steuergesetzbuch.pdf. 30 Entwurf eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern, BT-Drucks. 16/679. 31 Fn. 30.

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selbst festgelegten Hebesatzes selbst bestimmen. Zur Herstellung von Belastungsgleichheit zwischen Kapital- und Personenunternehmen müsste die Körperschaftsteuer angehoben werden. Diese erste Säule sichert die kommunale Finanzautonomie und intensiviert den interkommunalen Wettbewerb, weil die Gemeinde auch den heute pauschal abgeführten Einkommensteueranteil für nicht gewerbliche Einkünfte mit einem Hebesatz belegen kann. Die Bürger sehen auf ihrem Lohnsteuerbescheid schwarz auf weiß, mit welcher Summe sie ihre Gemeinde finanzieren. Wahlentscheidungen können sie bewusst danach treffen, welche kommunale Entscheidung sie für sinnvoller erachten. Wollen sie bestimmte kommunale Pläne – wie z. B. die Eröffnung einer Schwimmhalle oder die Verkehrsberuhigung von Wohnstraßen – unterstützen und entsprechend hohe Steuern zahlen oder auf die Verwirklichung lieber verzichten und weniger Steuern zahlen. Das Interesse der Bürger an Kommunalpolitik wird wieder zunehmen. Und auch umgekehrt ist eine stärkere Bürgerorientierung der Kommunalpolitik zu erhoffen. Die häufig vorgebrachten Einwände gegen Transparenz und Hebesatzrecht beim Zuschlag auf die kommunale Einkommensteuer lassen sich entkräften. Um unerwünschte Ergebnisse des Steuerwettbewerbs um gutverdienende Bürger zu vermeiden, könnte man (vielleicht zeitlich befristet) einen Korridor zulässiger Hebesätze vorgeben. Der administrative Aufwand bei der Berechnung der Lohnsteuer sollte im Computerzeitalter gut händelbar sein. Die Lohnbuchhaltungen berücksichtigen viele persönliche Merkmale, die Gemeindeangehörigkeit wird nur eine davon sein. In der zweiten Säule wird der kommunale Anteil der Umsatzsteuer von heute 2,2 Prozent deutlich erhöht. Dies ist zum Ausgleich der Schwankungen im Zuschlagssystem unbedingt erforderlich. Auf ein eigenes Hebesatzrecht soll wegen EU-rechtlicher Schwierigkeiten und der unnötigen Verkomplizierung des Steuerrechts verzichtet werden. Man könnte aber überlegen, den auf die Gemeinde entfallenden Umsatzsteuerbetrag offen zu nennen. Andere Gemeindesteuern wie die Grundsteuer bleiben bestehen. Die Stiftung Marktwirtschaft mit ihrer Steuerreformkommission unter Vorsitz von Joachim Lang schlägt ein Vier-Säulen-Modell aus Grundsteuer, Bürgersteuer, kommunaler Unternehmensteuer und Beteiligung am Lohnsteueraufkommen vor32. Gemeindliche Hebesatzrechte bestehen in den Säulen Grundsteuer, Bürgersteuer und kommunaler Unternehmensteuer. Bei der Grundsteuer sollen die Einheitswerte durch eine realitätsgerechte Bewertung ersetzt werden. Die Bürgersteuer soll den bereits bestehenden Anteil der Kommunen an der Einkommensteuer für den Bürger erkennbar ausweisen und mit einem Hebesatzrecht kombiniert werden. Steuersubjekte sind alle Einwohner einer Gemeinde. Die Bemessungsgrundlage der Bürgersteuer entspricht der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer. Die Kommunale Unternehmensteuer mit Hebesatzkorridor knüpft an die Allgemeine Unternehmensteuer an: Gleiche Steuersubjekte, gleiche Bemessungsgrundlage. Alle Wirtschaftenden (auch

__________ 32 Fn. 29.

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Freiberufler) tragen zur Kommunalfinanzierung bei, die nominale Belastung aus Allgemeiner und Kommunaler Unternehmensteuer soll zwischen 25 und 30 Prozent liegen. Kalkuliert wird mit einem Satz von 6 bis 8 Prozent für die Kommunale Unternehmensteuer. Daneben besteht als Element des Finanzausgleichs ein Anteil der Kommunen am Lohnsteueraufkommen in der Betriebstättengemeinde, 2 Prozent berechnet anhand der Lohnhöhen (für alle wirtschaftlich und nicht-wirtschaftlich tätigen Arbeitgeber). Mit diesem Element erfolgt keine Belastung der Unternehmen, weil diese die Zahlung mit der Lohnsteuerschuld (an Bund und Länder) vollständig verrechnen können.

IV. Schluss An wissenschaftlicher Expertise und konkreten Konzepten besteht kein Mangel. Es wird Hauptaufgabe der Gemeindefinanzkommission sein, die unterschiedlichen Alternativen auf Praxistauglichkeit zu untersuchen. Das bedeutet vor allem, die finanziellen Verschiebungen zu quantifizieren. Vielleicht müssen auch für einen Übergangszeitraum weitere Ausgleichsmechanismen greifen, um die Stadt-Umland-Problematik zu entschärfen. Fakt ist: Gegen die Kommunen wird keine Reform funktionieren. Selbst bei aller Unzulänglichkeit des gegenwärtigen Systems werden sich die Kommunen an die Gewerbesteuer klammern, wenn sie sich nicht vom neuen System in der Mehrzahl Vorteile versprechen.

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1. Einkommensteuerrecht Paul Kirchhof

Leistungsfähigkeit und Erwerbseinkommen – Zur Rechtfertigung und gerechtfertigten Anwendung des Einkommensteuergesetzes – Inhaltsübersicht I. Das wissenschaftliche Kernanliegen von Joachim Lang II. Methodische Grundlagen 1. Das Denken in Prinzipien 2. Die Steuergleichheit a) Sachgerechtigkeit b) Folgerichtigkeit 3. Die freiheitsgerechte Steuer a) Die maßvolle Last b) Belastung des Eigentümers c) Freiheitsgerechte Zugriffsstellen III. Die gesetzlichen Prinzipien 1. Eigenständige Ordnung des EStG 2. Auslegung und Fortbildung des EStG IV. Der rechtfertigende Grund der Einkommensteuer 1. Das Leistungsfähigkeitsprinzip

2. Das Erwerbseinkommen 3. Die gesetzesdirigierende Aussage des § 2 EStG a) Die Erwerbsgrundlage b) Die Erwerbsnutzung c) Der Erwerbserfolg V. Strukturelle Konsequenzen 1. Das System der verschiedenen Steuerarten 2. § 2 EStG als gesetzesdirigierende Norm a) Besteuerung des Erwerbserfolges b) Auslegungshilfe bei der Anwendung des gesamten EStG 3. Erwerbs- und Privatsphäre 4. Das Welteinkommensprinzip 5. Gegenwartsnahe Besteuerung

I. Das wissenschaftliche Kernanliegen von Joachim Lang Joachim Lang ist ein Steuerrechtswissenschaftler, der sich schon in jungen Jahren den großen Fragen der Rechtswissenschaft gewidmet hat. Seine Habilitationsschrift1 sucht die systematische Struktur des Einkommensteuerrechts so sichtbar zu machen, dass aus ihr eine folgerichtige Entwicklung des Einkommensteuerrechts und ein Entscheidungsmaßstab für die Lösung der Einzelfälle erwachsen kann. Dabei geht es nicht um eine abstrakte Prinzipienbildung, sondern um ein Verstehen des geltenden Einkommensteuergesetzes, um Erkenntnisse für dessen Reform und für dessen Anwendung zu gewinnen. Dieses Ziel einer wertebewussten Dogmatik – einer Systembildung unter der

__________ 1 Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/1988.

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Autorität des Einkommensteuergesetzes und des dieses Gesetz prägenden Verfassungsrechts – verfolgt Joachim Lang seitdem beharrlich und unbeirrt.2 Joachim Lang versteht die Steuerrechtsordnung als Gerechtigkeitsordnung, die ihre ethischen Grundlagen erkennen lassen müsse, sich nicht in einem „Labyrinth textlich aufgeblähter Paragraphen“ verstecken dürfe, sich gegen den Einfluss von Sonderinteressen und Umverteilungsanliegen abzuschirmen habe. Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung seien nicht gegenläufige Zielsetzungen, sondern bedingten sich gegenseitig. Das Steuerrecht leide auch daran, dass es in seiner historischen Entwicklung nicht auf klare, stetig entfaltete Prinzipien zurückgeführt werden könne, vielmehr teilweise gegen seine Entwicklung – zerfurcht durch rechtswissenschaftlich unkontrollierten Pragmatismus, tagespolitische Zugeständnisse und Interessenkompromisse, konservierte Besitzstandspositionen, eilfertige Abwehrmaßnahmen gegen Steuerumgehung –3 erneuert werden müsse. Dabei setzt Joachim Lang seine Hoffnung insbesondere auf die Verfassungsrechtsprechung und die Wissenschaft.4 In diesem Grundanliegen und dieser Erwartung, auch im stetigen wissenschaftlich-literarischen Bemühen um mehr Steuergerechtigkeit insbesondere durch Steuervereinfachung, ebenso im Einsatz für die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft – wir beide waren deren Vorsitzender – weiß ich mich Joachim Lang persönlich und kollegial verbunden. Die nachfolgenden Überlegungen sollen diese Übereinstimmungen sichtbar machen, die von der je eigenen Sicht des Beobachters Licht auf denselben Gegenstand werfen. Sie wollen aber auch den Dialog fortsetzen, der das Fundament unseres Rechtsgebietes immer wieder neu befestigt, dabei gelegentlich auch unterschiedliche Pläne und Materialien zum Bau des gemeinsamen Hauses zu erwägen gibt. Die Joachim Lang gewidmeten Gedanken sollen zeigen, dass verfassungsrechtlich fundierte (zu II.), aber in der eigenständigen Ordnung des EStG entstandene Prinzipien (zu III.) über das Prinzip der Leistungsfähigkeit hinaus zum Prinzip des Erwerbseinkommens führen (zu IV.) und erhebliche strukturelle Konsequenzen fordern (zu V.).

II. Methodische Grundlagen 1. Das Denken in Prinzipien Joachim Lang versteht das Recht als ein Wertsystem, das sich nicht in Gesetzesbegrifflichkeiten verliert, insbesondere nicht in einer sprachlich unausgereiften Tagesgesetzgebung seine Grundorientierung einbüßt, vielmehr den Zweck des Gesetzes klärt und dabei die systemtragenden Prinzipien des

__________ 2 Joachim Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, 1985; Joachim Lang, Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, in FS für Klaus Tipke, 1995, S. 3; Joachim Lang in Klaus Tipke/Joachim Lang, Steuerrecht, nunmehr 20. Aufl. 2010, S. 69 f. und passim. 3 Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/1988, S. 9. 4 A. a. O. S. 5.

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Steuerrechts aufdeckt.5 In diesem Beharren auf dem System gewinnt das Steuerrecht eine innere Systematik, schafft Distanz zu Interessenten und Privilegienanliegen, deutet das Steuerrecht als klassisches staatliches Eingriffsrecht, als eine Bewährungsprobe für das Verfassungsrecht, befähigt den Steuerrechtslehrer, dem jungen Juristen das Steuerrecht als prinzipiengeprägtes, systematisch erklärbares Rechtsgebiet zu vermitteln. Die Steuerrechtsordnung empfange unter der Herrschaft des Grundgesetzes die systemtragende Konkretisierung durch das Wertsystem der Verfassung.6 Das Leistungsfähigkeitsprinzip als rechtssystematische Grundlage des Steuerrechts sei zwar – anders als in Art. 134 Weimarer Reichsverfassung – im Grundgesetz nicht ausdrücklich gewährleistet, aber ein im Gleichheitssatz verankertes Rechtsprinzip.7 Die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sei eine „Sachgesetzlichkeit“, die auch den Steuergesetzgeber binde. 2. Die Steuergleichheit a) Sachgerechtigkeit Diese gleichheitsrechtliche Grundlage insbesondere der Einkommensteuer lässt sich heute auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG weiter verdeutlichen. Der Gleichheitssatz sichert jedem Inländer zunächst eine Statusgleichheit, die im Einkommensteuerrecht die steuerliche Verschonung eines realitätsgerecht bemessenen Existenzminimums fordert.8 Er verlangt im Prinzip der Sachgerechtigkeit, dass der Steuergesetzgeber die vorgefundenen Verschiedenheiten individueller Belastbarkeit vollständig und unverfälscht aufnimmt und als tatsächliche Grundlage der Besteuerbarkeit würdigt. Die steuerliche Bemessungsgrundlage muss deshalb den jeweiligen Belastungsgrund realitätsgerecht erfassen.9 Die Bewertung von Steuergütern hat den tatsächlichen Vermögenswert wirklichkeitsnah abzubilden.10 Hat sich die Wirklichkeit nach Erlass des Steuergesetzes verändert, muss der Gesetzgeber diese Entwicklung aufnehmen und seine Regelung den tatsächlichen Verhältnissen anpassen.11

__________ 5 A. a. O. S. 12 f.; Joachim Lang in Tipke/Lang, a. a. O., S. 69 f. und passim. 6 A. a. O. S. 14 im Anschluss an Klaus Tipke, Steuerrecht, damals 6. Aufl. 1978, S. 25 f., 27 f., 39 f. 7 A. a. O. S. 15. 8 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = FR 1992, 810 (172) – Grundfreibetrag; v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216 (293) = FR 1999, 150 m. Anm. Kanzler – Kinderbetreuungskosten; v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126) = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer – Rentenbesteuerung. 9 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136) – Vermögensteuer; v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290) = FR 1999, 254 – Zulage Ost; v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93, BVerfGE 105, 17 (46) = FR 2002, 1011 m. Anm. Kanzler – Sozialpfandbriefe. 10 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (142) – Vermögensteuer; v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (173) – Erbschaftsteuer. 11 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136, 142 f.) – Vermögensteuer; v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 (173, 176) – Erbschaftsteuer.

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In dieser Verpflichtung zur Sachgerechtigkeit ist das Einkommensteuerrecht vor allem am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit des Steuerschuldners ausgerichtet.12 Der Gesetzgeber wird insbesondere die Belastungsunterschiede beachten, die im Einkommen, im Vermögen und in der Vermögensverwendung angelegt sind, aber auch die Verschiedenheit der Familien, des existenzsichernden und erwerbssichernden Aufwandes, des Betriebsvermögens und des Privatvermögens, von verfügbarem und nicht verfügbarem Geld.13 Dieses Erfordernis der Sachgerechtigkeit ist strenger als das Objektivitätsgebot („Willkürverbot“), nach dem gesetzliche Entscheidungen nur zu beanstanden sind, wenn sie „bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind“.14 Dieses Willkürverbot wird „sachbereichsbezogen“,15 also steuerspezifisch angewandt, gewinnt dort die Dichte eines Grundprinzips der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit,16 begegnet sich in diesem Konkretisierungsgrund insbesondere auch mit der Garantie des Privateigentums, das alle rechtlich ausgeformten vermögenswerten Rechtspositionen schützt, die der Berechtigte durch Leistung erworben hat und nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben kann.17 Es mäßigt damit auch den steuerlichen Zugriff auf das Einkommen, die Kaufkraft oder – ehemals – das Gesamtvermögen.18

__________ 12 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (125 f.) = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer – Rentenbesteuerung; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (46) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – Doppelte Haushaltsführung. 13 Vgl. BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (49) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – Doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) = FR 2005, 759 – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten. 14 BVerfG v. 1.7.1954 – 1 BvR 361/52, BVerfGE 4, 1 (6 f.) – Bindung durch Rechtsinstanz; v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, BVerfGE 75, 108 (157) – Künstlersozialversicherungsgesetz; v. 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, BVerfGE 76, 256 (329) – Beamtenversorgung. 15 BVerfGE a. a. O. 16 Grundlegend Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd I, 2. Aufl. 2000, S. 479 ff.; Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999, Rz. 516 ff.; Dieter Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1993, S. 6 ff.; Joachim Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, 2001, S. 94 ff.; Rudolf Mellinghoff, Verfassungsgebundenheit des Steuergesetzgebers, in FS für Peter Bareis, 2005, S. 171 (177 ff.). 17 BVerfG v. 8.6.1977 – 2 BvR 499/74, 2 BvR 1042/75, BVerfGE 45, 142 (179) – Kaufpreisanspruch; v. 22.5.1979 – 1 BvL 9/75, BVerfGE 51, 193 (216 ff.) – Warenzeichen; v. 8.10.1985 – 1 BvL 17/83, 1 BvL 19/83, BVerfGE 70, 278 (286) – steuerlicher Erstattungsanspruch; v. 8.3.1988 – 1 BvR 1092/84, BVerfGE 78, 58 (71) – Ausstattungsschutz; v. 30.11.1988 – 1 BvR 1301/84, BVerfGE 79, 174 (191) – Erbbaurecht; v. 9.1.1991 – 1 BvR 929/89, BVerfGE 83, 201 (209) – Vorkaufsrecht; v. 26.5.1993 – 1 BvR 208/93, BVerfGE 89, 1 (6) – Mieterrecht; vgl. auch BVerfG v. 19.6.1985 – 1 BvL 57/79, BVerfGE 70, 191 (199) – Fischereirechte; st. Rspr. 18 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (137) – Vermögensteuer; v. 31.3.1998 – 2 BvR 1877/97, 2 BvR 50/98, BVerfGE 97, 350 (370) – Euro; v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (111) = FR 2006, 635 – Gesamtbelastung durch Einkommen- und Gewerbesteuer; Paul Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), S. 215 (226 ff.); Hans-Jürgen Papier in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rz. 165 ff.; Monika Jachmann, Besteuerung von Unternehmen als Gleichheitsprob-

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b) Folgerichtigkeit In einem dritten Teilinhalt fordert der Gleichheitssatz, dass der Steuergesetzgeber den von ihm begründeten Belastungsgrundgedanken – für die Dauer seiner Geltung – folgerichtig weiterführt und in eine Bemessungsgrundlage umsetzt. Hat der Gesetzgeber die Grundentscheidung für die Besteuerung des Einkommens getroffen, fordert der Gleichheitssatz, diese einmal getroffene Belastungsentscheidung so in den Einzelregelungen der Bemessungsgrundlage, des Steuerpflichtigen, der Zurechnung, der Bewertung und der Steuerperiode umzusetzen, dass die Detailregelung aus dem Grundsatz folgt, die Ausführung in der Ausgangsentscheidung ihren rechtfertigenden Grund findet.19 Belastungsunterschieden, die einander widersprechen, fehlt der rechtfertigende Grund; sie sind deshalb gleichheitswidrig. Zugleich verstoßen sie gegen die Freiheitsgarantien, insbesondere des Art. 12 Abs. 1 und des Art. 14 Abs. 1 GG, wenn die fehlende Folgerichtigkeit der Freiheitsbeschränkung die Einsichtigkeit nimmt. Das BVerfG hat aus diesen Maßstäben für das Steuerrecht wiederholt praktische Folgerungen gezogen: Besteuert der Gesetzgeber grundsätzlich die Erwerbseinnahmen, sieht er aber dennoch eine Steuerfreiheit für Stellenzulagen als Lohnbestandteil (§ 3 Nr. 12 S. 1 EStG) vor, so ist diese Steuerfreiheit nicht mit dem gesetzlichen Belastungsprinzip vereinbar und schafft bereits grundsätzlich ein gleichheitswidriges Steuerprivileg.20 Im Dienst der verfassungsrechtlich gebotenen Lastengleichheit muss der Einkommensteuergesetzgeber seine Regelung darauf ausrichten, „dass Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch besteuert werden („horizontale“ Steuergerechtigkeit), während (in „vertikaler“ Richtung) die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedriger Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot genügen muss“.21 Hat sich der Gesetzgeber für einen progressiven Steuertarif entschieden, muss dieser „in folgerichtig gestalteten Übergängen“

__________ lem, DStJG 23 (2000), S. 9 (16 ff.); Moris Lehner, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Verlustberücksichtigung in Moris Lehner (Hrsg.), Verluste im nationalen und internationalen Steuerrecht, 2004, S. 1 (6 ff.). 19 BVerfG v. 24.4.1991 – 1 BvR 1341/90, BVerfGE 84, 153 (179) – Zinsurteil; v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (112) = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer – Rentenbesteuerung; BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93, BVerfGE 105, 17 (47) = FR 2002, 1011 m. Anm. Kanzler – Sozialpfandbriefe; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (33) = FR 2007, 338 – Erbschaftsteuer; st. Rspr. 20 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 = FR 1999, 254 (295) – Zulage Ost. 21 Vgl. BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 (89) = FR 1990, 449 – Kindergeld, steuerfreies Existenzminimum; v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (260) = FR 1999, 139 – Kinderexistenzminimum; v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (125 f.) = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer – Rentenbesteuerung; BVerfG v. 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 414 (433) – Teilkindergeld; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (279) = FR 2005, 759 – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten.

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bemessen werden.22 Hat eine Steuersubvention im Rahmen einer progressiven Besteuerung zur Folge, dass die Bezieher hoher Einkommen höhere Subventionen als die Bezieher niedriger Einkommen erhalten, weil die Subvention durch Abzug von der Bemessungsgrundlage angeboten wird, so ist diese Regelung gleichheitswidrig.23 Fordert das Einkommensteuergesetz eine Besteuerung von Zinsen24 oder privaten Spekulationsgewinnen bei Wertpapieren,25 verhindert aber eine strukturell gegenläufige Erhebungsregel – das „Bankgeheimnis“ – die Wirksamkeit dieser Regel, so verletzt dieses widersprüchliche, auf „Ineffizienz angelegte Recht“ die Gleichheit im Belastungserfolg.26 3. Die freiheitsgerechte Steuer Die gleichheitsrechtliche Bindung des Steuergesetzgebers muss allerdings durch das freiheitsrechtliche Maß der Steuerbelastung ergänzt, teilweise auch ersetzt werden. Wäre allein der Gleichheitssatz das Maß der Besteuerung, wäre eine gleiche Belastung durch eine erdrosselnde, eine konfiskatorische Steuer nicht verfassungswidrig. Doch der Schutz des Eigentums fordert eine maßvolle Steuer, die sich aus der Grundentscheidung der Verfassung für das privatnützige Eigentum, also gegen das Staatsunternehmertum rechtfertigt, damit eine staatliche Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens besteht. Diese Teilnahme ist so auszugestalten, dass sie die Privatnützigkeit des Erwerbs und des Erworbenen nicht gefährdet. a) Die maßvolle Last Die Eigentumsgarantie schützt insbesondere gegen die klassischen Eingriffe staatlicher Polizei- und Finanzgewalt.27 Hier liegt der historische Ursprung für

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22 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 = FR 1991, 375 m. Anm. Felix (271) – Zinsurteil; v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (137) – Vermögensteuer; v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (290) = FR 1999, 139 – Familienlastenausgleich. 23 Vom BVerfG bisher nur für die streng formale Gleichheit der politischen Parteien untereinander entschieden, BVerfG v. 9.4.1992 – 2 BvE 2/89, BVerfGE 85, 264 (315 f.) – Parteienfinanzierung. 24 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 = FR 1991, 375 m. Anm. Felix (268 ff.) – Zinsurteil. 25 BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (112 ff.) = FR 2004, 470 m. Anm. Jacob/Vieten – Spekulationssteuer; vgl. auch BVerfG v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01, BVerfGE 108, 52 (73 ff.) = FR 2003, 1035 m. Anm. Greite – Barunterhalt für Kinder. 26 BVerfGE, a. a. O.; vgl. auch Rolf Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 527 ff.; Brun-Otto Bryde, Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem, 1993, S. 20 f.; zum Folgerichtigkeitsgebot im Übrigen BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (137) – Vermögensteuer; v. 7.5.1998 – 2 BvR 1876/91, 2 BvR 1083/92, 2 BvR 2188/92, 2 BvR 2200/92, 2 BvR 2624/94, BVerfGE 98, 83 (100) – Landesrechtliche Abfallabgaben; v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (125 f.) – Kommunale Verpackungssteuer; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 = FR 2007, 338 – Bewertung im Erbschaftsteuerrecht. 27 Otto Meyer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band I, 1895, S. 245 ff.; BVerfGE 115, 97 (111) – Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer.

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die Formel für den Eingriff in Freiheit und Eigentum, der dem Gesetz vorbehalten ist.28 Das BVerfG betont von Anfang an, dass die Eigentumsgarantie zwar nicht vor der Auferlegung von Abgaben schütze – die Steuer ist der Preis der Freiheit –, den Steuerpflichtigen aber vor einem erdrosselndem Eingriff und einer grundlegenden Veränderung seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse durch die Steuer bewahre.29 Die Rechtsprechung beginnt mit der Frage nach der enteignenden Wirkung einer Steuer,30 hebt dann die prinzipielle Vereinbarkeit von Eigentumsschutz und Steuerrecht hervor31 und anerkennt, dass die Besteuerung im Ergebnis nicht zu einer – auch nur schrittweisen – Konfiskation führen dürfe.32 Heute müssen wir uns bewusst machen, dass diese anfangs vorsichtige, später deutlichere Rechtsprechung des BVerfG zum Eigentumsschutz vor Steuern durch die besonderen Bedingungen der Nachkriegszeit veranlasst ist – die existenzielle Not, die den Staat zur Gewährleistung der Existenzbedingungen für Jedermann drängte, insoweit die Entwicklung einer Verfassungskultur vorerst behinderte. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war zudem in zwei Interessentengruppen geteilt: Ein Teil hatte durch Vertreibung und Kriegsschäden ihr Vermögen verloren, ein anderer Teil konnte wesentliche Teile ihres Vermögens bewahren.33 Vor allem hatten die Alliierten für das deutsche Steuerrecht angeordnet, dass der Einkommensteuer-

__________ 28 BVerfG v. 28.10.1975 – 2 BvR 883/73, 2 BvR 379/74, 2 BvR 497/74, 2 BvR 526/74, BVerfGE 40, 237 (249) – Rechtschutzverfahren im Strafvollzug; v. 21.12.1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75, BVerfGE 47, 46 (78 f.) – Sexualkundeunterricht); v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (111) – Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer. 29 BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7 (12) – Investitionshilfe; v. 27.7. 1962 – 2 BvL 15, 16/61, BVerfGE 14, 221 (241) – Fremdrenten; v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159 (190) – Absatzfonds; st. Rspr.; zur konfiskatorischen Steuer: Reinhard Mußgnug, Verfassungsrechtlicher und gesetzlicher Schutz vor konfiskatorischen Steuern, JZ 1991, S. 993. 30 BVerfG v. BVerfGE 2, 237 (241) – Gebäudeentschuldungssteuer; v. 27.10.1959 – 2 BvL 5/56, BVerfGE 10, 141 (177) – Feuerversicherungsabgabe; BVerfGE 16, 147 (187) – Werkfernverkehr. 31 BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7 (17) – Investitionshilfe; v. 5.3.1957 – 1 BvR 109/52, 1 BvR 303/54, BVerfGE 6, 290 (298) – Ersatzvermögensabgabe; v. 12.11.1958 – 2 BvL 4/56, 2 BvL 26/56, 2 BvL 40/56, 2 BvL 1/57, 2 BvL 7/57, BVerfGE 8, 274 (330) – Preisgesetz; v. 29.7.1959 – 1 BvR 394/58, BVerfGE 10, 89 (116) – Erft-Verband; v. 25.2.1960 – 1 BvR 239/52, BVerfGE 10, 354 (371) – Bayerische Ärzteversorgung. 32 BVerfG v. 27.7.1962 – 2 BvL 15, 16/61, BVerfGE 14, 221 (241) – Fremdrenten; v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 (129) – Couponsteuer; v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159 (190) – Absatzfonds; v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (32?) = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer – Sozialpfandbriefe; st. Rspr. 33 Folge war die Lastenausgleichsabgabe, wonach 50 % des für den Stichtag des 21.6. 1948 registrierten Vermögens an einen Lastenausgleichsfonds abzuführen waren, Gesetz über den Lastenausgleich, BGBl. I 1952, 446; Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, 2000, S. 362.

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spitzensatz 95 % betragen müsse.34 Der Vorschlag bei den Beratungen zum Grundgesetz, die Eigentumsgarantie steuerbezogen zu modifizieren,35 blieb ohne Wirkung. Auch ein späterer Versuch, das Steuererhebungsrecht im Text der Finanzverfassung an den Maßstab einer relativen Dringlichkeit des Bedarfs zu binden, ist für das Grundgesetz bisher gescheitert.36 Der Auftrag, „eine Überbelastung der Steuerpflichtigen“ zu vermeiden (Art. 106 Abs. 6 Satz 4 Nr. 2 GG), betrifft die Verteilung der Umsatzsteuer, nicht die Bemessung der Steuerlast. Dennoch entspricht es einer gefestigten Tradition deutscher Staatsphilosophie, dem Staat auch in Zeiten dringlichen Finanzbedarfs niemals den Zugriff auf mehr als die Hälfte des privaten Einkommens zu gestatten.37 Das BVerfG hat deshalb seine Rechtsprechung zum Schutz des Privateigentums vor Besteuerungsgewalt in den Stichworten von Übermaßverbot, Angemessenheit, Erdrosselungsgrenze, Erhaltung eines Kernbestandes des privatnützigen Erfolges eigener Betätigung und der grundsätzlichen Privatnützigkeit – alles Ausdrucksformen des freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips – in Zahlen ausgedrückt, um diesen Verfassungsgrundsatz auch im Steuerrecht kraftvoll zur Wirkung zu bringen.38 Diese Quantifizierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist allerdings später wieder gelockert,39 die Schutzfunktion des Art. 14 GG gegenüber der Besteuerungsgewalt dabei jedoch eher verstärkt worden.40 Jedenfalls für den Bestand des Hinzuerworbenen, insbesondere die Erhöhung der individuellen Leistungsfähigkeit durch Erwerb von Eigentum,41 fordere der eigentumsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein hinreichendes Maß an Rationalität (Eignung und Erforderlichkeit der Beeinträchtigung, eine Abgewogenheit beim Ausgleich zwischen individuellen Belangen und denen der Allgemeinheit – Art. 14 Abs. 2).42 Das Gericht anerkennt auch ausdrücklich – unter Hinweis auf Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG – den Auftrag, eine Überbelastung des Steuerpflichtigen zu vermeiden.43

__________ 34 Kontrollratsgesetz Nr. 12 vom 11.2.1946 in Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland 1946 sowie Gesetz vom 29.4.1950, BGBl. I 1950, 95; Gesetz vom 28.12.1950, BGBl. I 1951, 20; Peter Bareis, Die Reform der Einkommensteuer vor dem Hintergrund der Tarifentwicklung seit 1934, in FS für Klaus Offerhaus, 1999, S. 1053 (1058). 35 Richard Thoma, Kritische Würdigung des Grundrechtskatalogs in Parlamentarischer Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Band V/1, S. 361 ff. 36 Vgl. Reg.-Entwurf zum Finanzverfassungsgesetz 1955 in den Formulierungen des Bundestags- und Gesamtausschusses, BT-Drucks. II/960, 3; die Neufassung scheiterte an der Ablehnung des Bundesrates, 132. Sitzung v. 3.12.1954, Sten. Protokoll, S. 336 f. 37 Friedrich der Große, Die politischen Testamente der Hohenzollern, bearbeitet von Richard Dietrich, 1986, S. 499. 38 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (138) – Vermögensteuer. 39 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115) – Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer. 40 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE a. a. O. 41 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (112) – Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer. 42 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (113) – Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer. 43 BVerfGE a. a. O.

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Leistungsfähigkeit und Erwerbseinkommen

b) Belastung des Eigentümers Die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) wehrt im Steuerrecht zunächst nicht staatliche Eingriffe ab, sondern lenkt in der Sozialpflichtigkeit des Eigentums die Besteuerung auf den Eigentümer. Nicht wer beruflich erwerben kann (Art. 12 GG), sondern wer erworben hat (Art. 14 GG), verfügt über steuerbare Leistungsfähigkeit. Der Gesetzgeber wendet sich deshalb immer mehr von den Sollertragssteuern ab. Die Gewerbeertragsteuer ist entfallen, die Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben,44 die Grundsteuer verliert an Bedeutung. Auch wenn der Gesetzgeber gegenwärtig versucht, einem Übermaß von Steuergestaltungen durch eine Besteuerung der erwarteten Erträge zu wehren,45 so wäre der bei steuerjuristischer Betrachtungsweise mögliche, realitätsgerechte Zugriff auf den tatsächlichen Sachverhalt richtiger als die gesetzliche Unterstellung geringerer Aufwendungen. Eine Sollbesteuerung ist nicht schlechthin verfassungswidrig; auch die Berufsausübung ist sozialverpflichtet. Sollertragsteuern wie die Vermögensteuer (Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 GG), die Grundsteuer und die Gewerbesteuer (Art. 106 Abs. 6 GG) werden im Grundgesetz anlässlich der bundesstaatlichen Regelung der Ertragshoheit als eine Ertragsquelle genannt. Deshalb sind sie nicht schlechthin verfassungswidrig, selbstverständlich aber für eine freiheitsgerechte Erneuerung des gesamten Steuersystems zugänglich. c) Freiheitsgerechte Zugriffsstellen Wenn der grundrechtliche Freiheitsschutz die Besteuerung eher auf den Eigentümer und weniger auf den Berufstätigen lenkt, nimmt das Steuerrecht diese Vorgabe auf und besteuert im Schwerpunkt das erworbene Einkommen und die im Umsatz eingesetzte Kaufkraft. Diese steuerlichen Zugriffsstellen entsprechen dem freiheitlichen Rechtsstaat in besonderer Weise, fordern dann aber die freiheitsgerechte, maßvolle Last, die das Eigentum prinzipiell als privatnützig versteht und in dieser Qualifikation vom Steuerrecht bestätigt werden muss. Wenn der Einkommensteuergesetzgeber etwa – bei gänzlich vereinfachter Bemessungsgrundlage und gleichheitsgerechter, fast unausweichlicher

__________ 44 Das VStG wird seit dem 1.1.1997 wegen Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr erhoben, BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (122, 148 f.) – Vermögensteuer. Das VStG wird aber weiterhin im BGBl. veröffentlicht, übt damit – gleichsam als Steuer mit dem Steuersatz 0 – die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 2 GG gegenüber den Ländern aus; zutreffend bejaht Joachim Lang trotz des strengen Erforderlichkeitsprinzips des Art. 105 Abs. 2 i. V. m. Art. 72 Abs. 2 GG (BVerfG v. 27.7. 2004 – 2 BvF 2/02, BVerfGE 111, 226 – Juniorprofessur; v. 26.1.2005 – 2 BvF 1/03, BVerfGE 112, 226 – Studiengebühren; v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02, BVerfGE 111, 10 – Ladenschluss) die Bundeskompetenz für eine Neukonzeption des VStG, in Tipke/ Lang, 20. Aufl. 2010, § 32 Rz. 42. 45 Vgl. § 4h, § 8a Abs. 1 KStG (Zinsschranke), § 15b EStG (Verlustverrechnungsverbot), zum Problem und zur Entwicklung der Mindestbesteuerung insgesamt Joachim Lang in Tipke/Lang, a. a. O., § 9 Rz. 65 f., § 8c KStG (Mantelkauf), weitere Beispiele bei Lang, a. a. O., § 4 Rz. 79, § 9 Rz. 55; vgl. aber auch BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182) = FR 2006, 766 – zu § 32c EStG.

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Steuerlast – das steuerbare Einkommen mit 25 % belastet, garantiert er zugleich 75 % dieses Einkommens in seiner Privatnützigkeit. In dieser freiheitlichen Vorgabe ist dann auch eine griffige, abgestufte Gleichheit angelegt.

III. Die gesetzlichen Prinzipien 1. Eigenständige Ordnung des EStG Joachim Lang leitet die systemtragenden Prinzipien des Steuerrechts nur in einer ersten Konkretisierungsstufe aus dem Verfassungsrecht ab,46 erfasst aber die konkreten Prinzipien aus der gesetzlichen Steuerrechtsordnung, die eine verfassungsmäßige Ordnung sein muss. Die zweite Konkretisierungsstufe der System- und Prinzipienbildung leistet das Steuergesetz, das diese Prinzipien objektiviert zum Ausdruck bringt oder zumindest andeutet.47 Zu diesen gesetzlichen Prinzipien gehört im Einkommensteuerrecht die Besteuerung des Einkommens, das objektiv-erwerbsbezogene und das subjektiv-personenbezogene Nettoprinzip, das Prinzip der gegenwartsnahen Besteuerung (Jährlichkeitsprinzip), das Nominalwertprinzip, die Steuerbilanzprinzipien. In einer dritten Konkretisierungsstufe greift der Rechtsanwender auf die richterrechtliche System- und Prinzipienbildung zurück,48 die aus der praktischen Erfahrung mit der Gesetzesanwendung, dem Judiz des Einzelfalls, Regeln bildet. Ähnliches gilt für die Verwaltungsvorschriften, die insbesondere als Ermessensrichtlinien und als normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften für besonders weite und daher besonders auslegungsbedürftige Gesetzesbegriffe auch eine Außen- und Bindungswirkung entfalten.49 2. Auslegung und Fortbildung des EStG Die Auslegung und Fortbildung des Steuerrechts gehört zu den anerkannten Aufgaben und Befugnissen der Gerichte.50 Der BFH hat nach § 11 Abs. 4, 115

__________

46 Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage, a. a. O., S. 12 f.: Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, das Sozialstaatsprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, das Verbot der Benachteiligung von Ehe und Familie, das Prinzip der freien Berufswahl und freien Berufsausübung, das Prinzip des Enteignungsverbots, das Prinzip des Steuergeheimnisses. 47 A. a. O. S. 20 f. 48 A. a. O. S. 21 f. 49 Fritz Ossenbühl, Die Verwaltungsvorschrift in Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2007, § 104 Rz. 71 f.; Klaus-Dieter Drüen in Klaus Tipke/Heinrich-Wilhelm Kruse, Abgabenordnung, § 4 Rz. 25.; zur Zuständigkeit von Bundesregierung oder des Bundesfinanzministers in Kooperation mit den Landesverwaltungsbehörden vgl. Eckehard Schmidt, Die Rolle der Länderfinanzministerien im Zusammenspiel untereinander und im Verhältnis zum Bund, FR 7/2008, 317 (318); Michael Schmitt, Steuervollzug im föderalen Staat, DStJG 31 (2008), 101 (111 f.); zur vermittelnden Lösung des § 21a FVG vgl. kritisch Roman Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, § 21a FVG Rz. 3. 50 BVerfG v. 24.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (287 f.) – Soraya; v. 11.10.1978 – 1 BvR 84/74, BVerfGE 49, 304 (318 f.) – Sachverständigenhaftung; v. 14.1.1986 – 1 BvR 209/79, 1 BvR 221/79, BVerfGE 71, 354 (362 f.) – Studienreferendarin.

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Abs. 2 FGO die Aufgabe, Recht fortzubilden und eine einheitliche Gesetzesanwendung zu sichern. Deshalb veröffentlicht der BFH die tragenden Gründe seiner Rechtsprechung oft in gesetzesähnlichen Formulierungen (Leitsätzen). Der Bundesminister der Finanzen publiziert Urteile des BFH im Bundessteuerblatt, weist damit die Finanzbehörden an, in gleich gelagerten Fällen deren Rechtsgrundsätze anzuwenden.51 Der gegenseitige Respekt der Staatsgewalten untereinander, die vom Gleichheitssatz geforderte Rechtsanwendungsgleichheit, Gründe der Rechtssicherheit und Planbarkeit des Steuerrechts, auch der Wille der Beteiligten und ihrer Verbände zu einer konfliktschlichtenden Autorität bestärken diese strukturierende, Grundsätze entwickelnde Rechtsprechung. Allerdings ist damit nicht eine Praxis gemeint, die zunächst experimentierend Erfahrung mit dem Gesetz zu gewinnen sucht, dann vom Richter erwartet, er möge nach Jahren die Streitfragen entscheiden, dabei Besteuerungsprinzipien entwickeln und Vollzugsgleichheit und Freiheitsschutz gewähren. Die Steuer steht unter Gesetzesvorbehalt, nicht unter Richtervorbehalt. Der Steuerpflichtige muss sich mit Inkrafttreten des Gesetzes auf dessen Regeln einstellen, erwartet von Anfang an eine klare und unausweichliche Belastungsentscheidung des Gesetzgebers, soll nicht in einer normativen Unsicherheit handeln, die erst später durch die rechtsprechende Gewalt geklärt wird. Die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgeber und Richter ist eine andere. Recht setzen und Recht durchsetzen ist Wahrnehmung sprachlicher Gewalt. Der Gesetzgeber spricht das erste Wort. Er „verkündet“ im Wort“laut“ des Gesetzes die allgemeine, in die Zukunft vorgreifende Regel. Doch wenn das Gesetz verkündet ist, der Gesetzgeber seine Regeln aus der Hand gegeben hat, er sie nicht mehr deuten, interpretieren, auch nicht durch die Gesten des Sprechens beeinflussen kann, wird der Rechtsstaat dadurch nicht sprachlos. Er bietet dem Bürger vielmehr eine eigene, die recht„sprechende“ Gewalt an, die mit dem Bürger über das ihn betreffende Gesetz spricht. Der Richter entscheidet über An„spruch“ oder Frei„spruch“, erwägt bei zu kurz greifender Gesetzgebung eine ent„sprechende“ Anwendung des Gesetzes, gewährt in öffentlicher Verhandlung rechtliches Gehör, entscheidet nach Ein„spruch“ auf „Klage“ und „Berufung“. Dieses ergänzende Sprechen macht deutlich, dass das entscheidende Wort zur Belastung des Steuerpflichtigen beim Gesetzgeber liegt, der Richter seine Autorität aus dem Gesetz ableitet, er das im Gesetz angelegte System und Prinzip bewusst macht und verdeutlicht, aber nicht berufen ist, Prinzipien außerhalb des Gesetzes – des Einkommensteuergesetzes und des Grundgesetzes – zu entwickeln.

__________ 51 Zum Problem der sog. Nichtanwendungserlasse vgl. Wolfgang Spindler, Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht, DStR 2007, 1061 (1064 f.); Heinz-Jürgen Pezzer, Finanzgerichtsbarkeit im gewaltengeteilten Verfassungsstaat, DStR 2004, 525 (530).

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Die praktische Bedeutung der Rechtsprechung für die tatsächliche Belastung des Steuerpflichtigen ist allgemein bewusst. Die Steuerpraxis erlebt sie insbesondere bei einem Prinzipienwechsel der Rechtsprechung, die den BFH bei der Änderung seiner Rechtsprechung zur Vererblichkeit des Verlustabzugs52 veranlasst hat, für den Übergang von der alten zur neuen Rechtsprechung, Regeln ähnlich den Prinzipien für eine rückwirkende Gesetzgebung anzuwenden. Bei der Grundsatzänderung zur Aufteilung gemischter Aufwendungen53 hat er eher einen Klarstellungs- und Typisierungsauftrag an den Gesetzgeber formuliert.

IV. Der rechtfertigende Grund der Einkommensteuer 1. Das Leistungsfähigkeitsprinzip Die Einkommensteuer rechtfertigt sich aus ihrer Bemessungsgrundlage, die verlässlich die steuerliche Leistungsfähigkeit des Pflichtigen tatbestandlich erfasst, die für den einzelnen Grundrechtsträger individuell geeignete, erforderliche und angemessene Last zuteilt.54 Diese sachgerechte Bemessung des Zugriffsgegenstandes genügt aber nicht, um die Einkommensteuer in ihrer gesetzlichen Ausgestaltung zu rechtfertigen und insbesondere von einer allgemeinen Leistungsfähigkeitssteuer abzuheben. Leistungsfähig ist auch derjenige, der sich selbst ein Haus errichtet oder einen Schrank gebaut hat, der im Lotto gewonnen oder eine Erbschaft gemacht hat, der einen Schatz gefunden oder Privatvermögen erfolgreich veräußert hat. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist ein wichtiger, insbesondere die Einkommensteuer tragender Ausgangsgedanke, der allerdings weitergedacht und vertieft werden muss. 2. Das Erwerbseinkommen Einen weiteren Schritt zur Rechtfertigung und prägnanteren Definition des gesetzlichen Einkommensbegriffs vollzieht die These des Erwerbseinkom-

__________ 52 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 = FR 2008, 457. 53 BFH v. 21.9.2009 – 1 GrS 1/06, FR 2010, 225 m Anm. Kempermann. 54 Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage, a. a. O., S. 167 ff. („alle Bürger“ müssen „ihr gesamtes disponibles Einkommen“ versteuern); Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 2. Aufl. 2003, S. 614 f., 619 f.; Joachim Lang in Tipke/Lang, a. a. O., § 4 Rz. 81 f.; Dieter Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983; Paul Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, StuW 1985, 319; Wolfgang Schön, Die zivilrechtlichen Voraussetzungen steuerlicher Leistungsfähigkeit, StuW 2005, 248 f.; BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (67) – Haushaltsbesteuerung; v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, 1 BvR 1335/78, 1 BvR 1104/79, 1 BvR 363/80, BVerfGE 61, 319 (343 f.) – Ehegattensplitting; v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223) = FR 1984, 340 – Unterhaltsaufwendungen; BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 = FR 1990, 449 (86 f.) – Familienexistenzminimum.

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mens.55 Joachim Lang sagt: „Die Einkommensteuer belastet das Einkommen, das der Bürger durch Teilnahme am Wirtschaftsleben erworben hat.“56 Steuerbar ist nur das in der Rechtsgemeinschaft erwirtschaftete Einkommen. Dieses Erwerbseinkommen erfasst den vom EStG entwickelten Grundgedanken schärfer. Es besteuert nicht jeden Zuwachs an Leistungsfähigkeit, sondern die in dieser Rechtsgemeinschaft erworbene Leistungsfähigkeit. In der Mitwirkung der Rechtsgemeinschaft am individuellen Einkommen liegen ein rechtfertigender Gedanke und eine Präzisierung des gesetzlichen Belastungsprinzips. Der rechtfertigende Gedanke erklärt die Steuer aus dem Zusammenwirken von Einkommensbezieher und Rechtsgemeinschaft. Selbstverständlich ist das Einkommen Ausdruck der individuellen Leistung dessen, der es durch Arbeit oder Kapitaleinsatz erzielt hat.57 Ebenso selbstverständlich ist aber auch, dass Einkommen ohne die Rahmenbedingungen von Staat, Recht und Markt nicht möglich wäre. Wer Einkommen erzielt, nutzt den staatlich garantierten inneren und äußeren Frieden, nimmt das Privatrecht in Anspruch, um Verträge zu schließen, vereinbart in Euro einen Preis oder bewahrt Werte auf, bedient sich der in staatlichen Schulen und Hochschulen gut ausgebildeten Arbeitskräfte, beansprucht das Bank- und Finanzsystem, findet vor allem im Nachfrager einen Partner, der seine Leistung zu entgelten bereit ist. Wer diese von Staat, Recht und Markt gestützten Erwerbsmöglichkeiten erfolgreich nutzt, soll einen – maßvollen – Teil dieses Erfolges der Allgemeinheit überlassen, damit diese Rahmenbedingungen auch für die Zukunft erhalten werden. Mit dieser Rechtfertigung der Einkommensteuer wird nicht an historische Assekuranztheorien erinnert, in der die Steuern als Preis für die staatlich gewährte Sicherheit verstanden und daraus Bindungen für die Verwendung des Steueraufkommens und den Status der Steuerzahler abgeleitet worden sind. Der Verfassungsstaat macht den polizeilichen Schutz nicht von der Zahlungsfähigkeit des Gestörten abhängig, verkauft nicht Genehmigungen und Berechtigungen, leistet Sozialhilfe den Bedürftigen. Die Trennung von Steuerrecht und Haushaltsrecht ist ein wesentliches Element rechtsstaatlicher Demokratie. Die Einkommensteuer würde auch geschuldet, wenn der Staat Frieden vorübergehend nicht garantieren könnte, das Recht als Ordnung der Freiheit zeitweilig scheitern würde, der Markt zeitweilig zusammenbräche. Der Ge-

__________ 55 Paul Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 1986 f., § 2 (1987) Rz. A 111, A 117 f.; Paul Kirchhof, Einkommensteuergesetzbuch, Ein Vorschlag zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, 2004, § 2 Abs. 2 und 3, Erläuterung zu § 2 Rz. 17 f.; Hans-Georg Ruppe in Hermann/Heuer/Raupach, Einkommensteuergesetz, Kommentar, Einführung EStG, Anmerkung 17; Joachim Lang in Tipke/Lang, a. a. O., § 9 Rz. 52. 56 Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage, a. a. O., S. 33 f.; Zitat S. 659. 57 Der Verfasser hat sich für diesen Gedanken nachdrücklich eingesetzt, um das Einkommen gegenüber der Besteuerungsgewalt dem Schutz des Art. 14 GG zuzuordnen, vgl. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271) = FR 1991, 375 m. Anm. Felix – Zinsbesteuerung; v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = FR 1992, 810 – Grundfreibetrag; v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer; v. 31.3.1998 – 2 BvR 1877/97, 2 BvR 50/98, BVerfGE 97, 350 (370) – Euro.

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danke an den Erwerbszusammenhang zwischen Anbieter und Nachfrager, zwischen Erwerbsanstrengung und Recht, zwischen Leistungsbereitschaft und Markt, rechtfertigt nicht die individuelle Steuerlast und das persönliche Steuerschuldverhältnis, sondern das Konzept der Einkommensteuer. Der Gedanke von Erwerb und Gegenseitigkeit fügt dem Leistungsfähigkeitsprinzip den letztlich rechtfertigenden Gedanken hinzu: Allein der individuelle Zuwachs an Leistungsfähigkeit begründet noch nicht die steuerliche Teilhabe des Staates. In einem freien Staat darf sich jeder in Wahrnehmung seiner Freiheit vom anderen unterscheiden, auch in Nutzung seiner Berufs- und Eigentümerfreiheit mehr Einkommen erzielen als der andere. Wenn allein die unterschiedlichen Einkommen – die unterschiedliche Leistungsfähigkeit – die staatliche Wegnahme von Eigenem und die Umverteilung rechtfertigten, wäre die rechtfertigende Kraft der Freiheit in Frage gestellt. Die bloße Beobachtung, jemand sei vermehrt leistungsfähig geworden, erlaubt dem Staat noch keine angleichende Intervention. Vielmehr baut die freiheitliche Verfassungsordnung gerade darauf, dass die Menschen sich in ihrer Begabung, ihrer Gesundheit, ihrem Vermögen, ihrem Einkommen, ihrem Beruf, ihrer Ehe und Familie, ihren Mächtigkeiten – ihrem Lebensglück – unterscheiden. Am Anfang der freiheitlichen Verfassung steht das Recht, das eigene Glück zu definieren und anzustreben.58 Zu diesem je eigenen Glück gehören auch verschiedene Einkommen. Allein der Zuwachs an finanzieller Leistungsfähigkeit rechtfertigt keine Besteuerung. Erst wenn der Staat durch den von ihm gewährleisteten Rahmen zu individuellem Einkommenserwerb beiträgt, rechtfertigt sich eine staatliche Teilhabe. 3. Die gesetzesdirigierende Aussage des § 2 EStG Der Grundgedanke des Erwerbseinkommens verdeutlicht und klärt auch die Grundsatzentscheidung des § 2 EStG, die den Zugriffsgegenstand, die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, definiert. § 2 belastet das Erwerbseinkommen, nicht den Zuwachs an Leistungsfähigkeit. a) Die Erwerbsgrundlage § 2 Abs. 1 Satz 1 regelt die einzelnen Einkünfte zunächst im Typus ihrer sieben Erwerbsgrundlagen, die jeweils den Zugang zu den Erwerbsmöglichkeiten des Steuerpflichtigen erschließen. Die Erwerbsgrundlage der Land- und Forstwirtschaft, des Gewerbebetriebs, der Praxis des Selbständigen, des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers, des Kapitalvermögens, der vermieteten und verpachteten Sach- und Realvermögen erfasst die Vorkehrungen, in denen der Steuerpflichtige dem Erwerbsleben – in der Regel stetig – begegnet, um aus der Nut-

__________ 58 Vgl. Declaration of Independence vom 4. Juli 1776, abgedruckt in Melvin I. Urofsky/ Paul Finkelman (Hrsg.), Documents of American Constitutional and Legal History, Band I, 2. Aufl. 2002, S. 55, übersetzt in Dieter Gosewinkel/Johannes Masing (Hrsg.), Die Verfassung in Europa 1789–1949, 2006, S. 136.

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zung der Erwerbsgrundlagen den Erfolg eines Gewinns oder Überschusses zu erzielen. Die Bewährungsprobe dieses Zustandstatbestandes sind die „sonstigen Einkünfte“ i. S. d. § 22 (§ 2 Abs. 1 Nr. 7). Die Erwerbsgrundlage bei wiederkehrenden Bezügen – die erworbene Anwartschaft –, bei privaten Veräußerungsgeschäften – meist das Grundstück oder bisher ein Wertpapier – sind ebenfalls gefestigte Vorkehrungen, die in der Regel einen Erwerb ermöglichen. Gleiches gilt für das Mandat, aus dem Abgeordnetenbezüge erwachsen. Bei den „Einkünften aus Leistungen“ (§ 32 Nr. 3) bedarf es jedoch einer Prüfung an dem allgemeinen Prinzip, das den Einkommenserwerb dem allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr zuordnet und von der Privatsphäre ausnimmt.59 Der BFH versteht unter „sonstiger Leistung“ jedes Tun, Dulden, Unterlassen, das Gegenstand eines entgeltlichen Vertrages sein kann und das eine Gegenleistung auslöst,60 betont dabei aber auch, dass die sonstige Leistung nur das Ergebnis einer Erwerbstätigkeit oder Vermögensnutzung meint, also die allgemeinen Merkmale des Erzielens von Einkünften (§ 2) voraussetzt.61 Deswegen setzen auch die „sonstigen Einkünfte“ den Zustandstatbestand der Erwerbsgrundlage, ersichtliche Vorkehrungen zur Einkünfteerzielung, voraus. Damit genügt nicht ein bloßes entgeltbares Tun, Dulden, Unterlassen. Vorausgesetzt ist vielmehr eine objektive Vorkehrung, die einen Erwerb ermöglicht. Wer einmal einen Vertrag vermittelt, einmal eine Sache oder ein Recht entgeltlich überlässt, die selbstgezogenen Gartenfrüchte dem Nachbarn verkauft, hat keine Erwerbsgrundlage und damit kein Erwerbseinkommen. Er empfängt ein Gelegenheitsentgelt. Auch die private Lebenshilfe62 begründet keine steuerbaren „sonstigen Einkünfte“, auch wenn sie innerhalb der Familie entgolten wird. Es fehlen die ersichtlichen Vorkehrungen zur Einkünfteerzielung, die Erwerbsgrundlage. b) Die Erwerbsnutzung § 2 Abs. 1 Satz 1 setzt sodann neben dem Zustandstatbestand der Erwerbsgrundlage den Handlungstatbestand der Erwerbsnutzung voraus. Steuerpflichtig sind die Einkünfte, die der Steuerpflichtige „aus“ einer der sieben Erwerbsgrundlagen „erzielt“. Dieser Handlungstatbestand der Erwerbsnutzung hat die Aufgabe, dem handelnden Subjekt die Erwerbseinnahmen zuzurechnen, also das Steuersubjekt zu bestimmen, den Aufwand tatbestandlich zuzuordnen, die steuererhebliche Erwerbssphäre von der Privatsphäre nach dem typischen Tätigkeitsbild abzugrenzen,63 die erzielten Einkünfte zeitlich und räumlich (§ 1 EStG,

__________ 59 BFH v. 16.12.1998 – X R 125/97, BFH/NV 1999, 917. 60 BFH v. 24.8.2006 – IX R 32/04, BStBl. II 2007, 44 = FR 2007, 201; v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469 = FR 2008, 637 m. Anm. Bode; v. 25.2.2009 – IX R 33/07, BFH/NV 2009, 1253. 61 BFH v. 24.8.2006 – IX R 32/04, BStBl. II 2007, 44 = FR 2007, 201. 62 BFH v. 14.9.1999 – IX R 88/95, BStBl. II 1999, 776 = FR 1999, 1379 m. Anm. Fischer. 63 BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617 (619) = FR 1995, 649; v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (292) = FR 2002, 452 m. Anm. Kempermann.

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§ 1 KStG, § 8 f. AO) zuzuordnen. Joachim Lang empfiehlt, das Wort „erzielt“ durch „erwirtschaftet“ zu ersetzen.64 Einkommensteuerbar ist deswegen nur das Erwerbseinkommen, das durch die Nutzung der sieben Erwerbsgrundlagen erzielt worden ist. Die Wertschöpfung in der Privatsphäre, das Eigenverbrauchseinkommen65, wird nicht vom allgemeinen Markt abgeleitet und ist deshalb, obwohl es die Leistungsfähigkeit erhöht, nicht einkommensteuerbar. Nicht einkommensteuerbar sind insbesondere die Nutzung der eigenen Wohnung oder des eigenen Hauses; eine Entschädigung des Straßenbauamtes für die Wertminderung eines Grundstücks wegen Verkehrslärms;66 die Pflege eines Angehörigen in der familiären Lebensgemeinschaft;67 die private Wertschöpfung durch eigene Arbeitskraft, z. B der Bau des eigenen Hauses durch den Maurer; Erlöse aus der Veräußerung von Gegenständen des Privatvermögens, soweit nicht Erwerbsgrundlagen (§§ 17, 20 Abs. 2, 23) veräußert werden; Schadensersatzleistungen für private Schäden;68 Ehrenpreise, die für das Lebenswerk oder eine bestimmte Grundhaltung, nicht für eine einzelne im Wettbewerb ausgelobte Leistung69 zugesprochen worden sind.70 Nicht einkommensteuerbar sind auch Gewinne aus Rennwetten und Glücksspiel, weil der Spieler nicht eine eigene Erwerbsgrundlage nutzt, sondern eine Chance kauft.71 Einen Grenzfall bildet das Preisgeld für die erfolgreiche Teilnahme eines Kandidaten einer Fernsehshow, der sich zwar aktiv gestaltend seinen Preis durch Wissen oder Geschick verdient, sich aber nicht eine eigene Erwerbsgrundlage für einen (einmaligen) Erwerb geschaffen hat.72 Nebenleistungen sollten grundsätzlich das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Deswegen sollten Verzugs- und Prozesszinsen je nach Sachzusammenhang mit der Qualifikation der Hauptforderung als Erwerbsoder Privatanspruch qualifiziert werden.73 Erstattete Rückzahlungszinsen zur Investitionszulage sind trotz Nichtsteuerbarkeit der Zulage Betriebseinnahmen; sie sind nicht durch die Zulage, sondern durch die Nutzung der Erwerbsgrundlage des Betriebskapitals veranlasst.74 Das Reuegeld nutzt keine Erwerbsgrundlage, sondern hat Entschädigungscharakter;75 es enthält eine bloße Folgevereinbarung beim Rücktritt von einem Kaufvertrag, der in die Sphäre der

__________ 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage, a. a. O., S. 48. Joachim Lang, a. a. O., S. 251. FG München v. 3.3.2004 – 9 K 2400/03, EFG 2004, 1120. BFH v. 14.9.1999 – IX R 88/95, BStBl. II 1999, 776 = FR 1999, 1379 m. Anm. Fischer. BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BStBl. II 1995, 121 = FR 1995, 59 (123 ff.). Vgl. BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469 = FR 2008, 637 m. Anm. Bode. BFH v. 9.5.1985 – IV R 184/82, BStBl. II 1985, 427 f. = FR 1985, 540. Im Ergebnis ebenso BFH v. 19.7.1990 – IV R 82/89, BStBl. II 1991, 333; v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469 = FR 2008, 637 m. Anm. Bode. Für eine Steuerbarkeit BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469 = FR 2008, 637 m. Anm. Bode. Für eine prinzipielle Steuerbarkeit wegen eines Zuwachses an finanzieller Leistungsfähigkeit BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 = FR 1984, 619; v. 30.6. 2009 – VIII B 8/09, BFH/NV 2009, 1977. BFH v. 1.9.2008 – IV B 131/07, BFH/NV 2009, 133. BFH v. 24.8.2006 – IX R 32/04, BStBl. II 2007, 44 = FR 2007, 201.

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nicht steuerbaren Vermögensumschichtung gehört.76 Keine steuerbaren Einkünfte sind Erbschaften und Schenkungen;77 Kapitalanfälle aus privaten Lebensversicherungen, Aussteuern und Almosen sowie die Weiterleitung einer Provision des Versicherungsvertreters an den Versicherungsnehmer.78 Der Handlungstatbestand der Erwerbsnutzung klärt auch die Einkünfte mehrerer Nutzer. Erzielen mehrere Personen gemeinsam Einkünfte aus einer Erwerbsgrundlage, so werden ihnen die Einkünfte je nach ihrem Anteil an der Leistungserbringung zugerechnet. Bei der Personengesellschaft nutzen die Erwerbsgrundlage die jeweiligen Gesellschafter, nicht die Gesellschaft, die nach § 1 kein Einkommensteuersubjekt, nach § 1 bis 3 KStG kein Körperschaftsteuersubjekt ist. Allerdings ist die Personengesellschaft zivilrechtlich und wirtschaftlich eine verselbständigte Wirkungs- und Handlungseinheit. Sie ist Zurechnungssubjekt, partielles Steuersubjekt.79 Die Gewinne werden jedoch aus dieser Erwerbsgrundlage durch jeden Gesellschafter entsprechend seinem Anteil „erzielt“. Sodann wird der Mitunternehmer nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 dem Einzelunternehmer angenähert. Wenn die durch Nutzung der Erwerbsgrundlage „Gewerbebetrieb“ erzielten Einkünfte durch ihre Erwerbsgrundlage auch beim Gesellschafter qualifiziert werden, die von den Gesellschaftern eingesetzten Wirtschaftsgüter als Erwerbsgrundlage des Gewerbebetriebs dienen, deswegen zum Betriebsvermögen werden, dort aber gesondert dem Gesellschafter zugerechnet werden, so wird dieser Sinnzusammenhang wieder aus der Nutzung einer Erwerbsgrundlage verständlich. Gleiches gilt für die Erwerbsgemeinschaft der Ehe, die in der Regel Zugewinngemeinschaft ist und insoweit die Zusammenveranlagung (§ 26, § 26b) zur Folge hat.80 Werden Einkünfte von einem auf den anderen – etwa von dem Vater auf den Sohn – übertragen, ist dies für die Einkommensteuerpflicht unerheblich. Nur wenn die Erwerbsgrundlagen – das Grundstück, die Aktie, die Gesellschaftsbeteiligung – auf einen neuen Rechtsträger übertragen sind und dieser nunmehr seine neue Erwerbsgrundlage nutzt, so werden künftige Erwerbseinnahmen und Erwerbsausgaben dem neuen Rechtsträger zugerechnet. Die bloße Übertragung der aus dieser Erwerbsgrundlage fließenden Einkünfte81 oder die Übertragung von Verlusten durch einen Erbfall82 hingegen bleibt einkommensteuerlich unerheblich, weil das rechtfertigende bindende Glied zwischen

__________ 76 BFH, a. a. O.; anders bei der Bestellung eines Vorkaufsrecht BFH v. 26.4.1977 – VIII R 2/75, BStBl. III 1977, 631. 77 Vgl. § 1 Abs. 1 ErbStG. 78 BFH v. 2.3.2004 – IX R 62/02, BFH/NV 2004, 952. 79 BFH v. 9.5.2000 – VIII R 41/99, BStBl. II 2000, 686 (689) = FR 2000, 1081 m. Anm. Weber-Grellet; v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691 (692 f.) = FR 1991, 253 = FR 1991, 270 m. Anm. Schwichtenberg; v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617 = FR 1995, 649 (618 f.). 80 BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/78, 1 BvR 1335/78, 1 BvR 1104/79, 1 BvR 363/80, BVerfGE 61, 319 (347) – Ehegattensplitting. 81 Vgl. BFH v. 16.5.2001 – I R 76/99, BStBl. II 2002, 487 (490) = FR 2001, 1051; v. 13.5.1980 – VIII R 128/78, BStBl. II 1981, 299 = FR 1980, 517. 82 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 = FR 2008, 457.

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dem Handlungstatbestand der Erwerbsnutzung und dem Zustandstatbestand der Erwerbsgrundlage in der Person des Steuerpflichtigen fehlt. Der Handlungstatbestand der Erwerbsnutzung bewährt sich auch beim Drittaufwand, bei dem ein Dritter die Kosten trägt, die durch die Nutzungshandlung der Steuerpflichtigen veranlasst sind. Aufwand ist grundsätzlich der Einsatz eigener Mittel in der eigenen Erwerbsgrundlage. Dieser Eigenaufwand ist steuerlich abziehbar. Ein Drittaufwand hingegen kann steuerrechtlich grundsätzlich nicht geltend gemacht werden.83 Die Erwerbsgrundlage, in die aufgewendet wird, und die Erwerbshandlung, die den Aufwendenden belastet, betreffen nicht dieselbe Person. Etwas anderes gilt, wenn der Steuerpflichtige Erwerbsaufwendungen zwar einem Dritten – z. B. seinem Ehegatten im Zusammenhang mit dem Eigentumserwerb eines Wirtschaftsgutes – leistet, diese Leistung jedoch dem Erwerb des Aufwendenden in seiner Erwerbsgrundlage dient.84 Ersetzt der Steuerpflichtige einem anderen – auch seinem Ehegatten – Aufwendungen für eine Bürgschaft, die dieser im Erwerbsinteresse des Steuerpflichtigen – zugunsten von dessen Kapitalgesellschaft – übernommen hat, erbringt der Steuerpflichtige Aufwendungen für die eigene Erwerbsgrundlage; sein Nutzungsaufwand dient den eigenen Erwerbsvorkehrungen und dem eigenen Erwerbserfolg. c) Der Erwerbserfolg § 2 Abs. 1 und 2 EStG setzen als Drittes den Erfolgstatbestand – Gewinn und Überschuss – voraus. Die Einkommensteuer ist keine Bereicherungssteuer, die jeden Zuwachs an Leistungsfähigkeit belastet, sondern vermittelt dem Staat nur eine Teilhabe am Erfolg individuellen Erwerbsstrebens durch Nutzung einer Erwerbsgrundlage. Ist diese Erwerbsgrundlage nicht auf Vermögensmehrung angelegt oder zielt die Nutzung dieser Erwerbsgrundlage nicht auf das Erwirtschaften eines Vermögenszuwachses, so dienen diese Vorkehrungen und Tätigkeiten nicht der Einkünfteerzielung, sondern anderen Zwecken, in der Regel der Gestaltung des persönlichen Lebens.85 Die nicht auf Erwerb, nicht auf den Erfolg eines Erwerbseinkommens angelegte Tätigkeit ist einkommensteuerrechtlich unerheblich. Wenn dabei die Rechtsprechung zu Recht die Prognose einer auf einen Totalerfolg angelegten Erwerbstätigkeit fordert86 und

__________

83 BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (784 f.) = FR 1999, 1173 m. Anm. Fischer; v. 23.8.1999 – GrS 5/97, BStBl. II 1999, 774 (776) = FR 1999, 1180 m. Anm. Fischer; v. 23.8.1999 – GrS 1/97, BStBl. II 1999, 778 (779 ff.) = FR 1999, 1167 m. Anm. Fischer; v. 23.8.1999 – GrS 3/97, BStBl. II 1999, 787 (788) = FR 1999, 1179 m. Anm. Fischer; v. 15.1.2008 – IX R 45/07, DStR 2008, 495; v. 25.6.2008 – X R 36/05, FR 2009, 391 = DStR 2008, 2204. 84 BFH v. 15.1.2008 – IX R 45/07, DStR 2008, 495; v. 25.6.2008 – X R 36/05, FR 2009, 391 = DStR 2008, 2204. 85 Der Begriff „Liebhaberei“ ist etwas unglücklich, bezeichnet aber den richtigen Gedanken, vgl. BFH v. 23.10.1992 – VI R 59/91, BStBl. II 1993, 303 (304) = FR 1993, 401; v. 17.5.2000 – X R 87/98, BStBl. II 2000, 667 (670 f.) = FR 2000, 1221. 86 BFH v. 15.12.1999 – X R 23/95, BStBl. II 2000, 267 (270) = FR 2000, 462; v. 9.7.2002 – IX R 57/00, FR 2002, 1182 = DStR 2002, 1609 (1610); v. 12.9.2002 – IV R 60/01, FR 2003, 135 = DStR 2002, 2161 (2162).

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prüft, ob eine verlustbringende Tätigkeit typischerweise bestimmt und geeignet ist, persönliche Neigungen zu befriedigen oder wirtschaftliche Vorteile außerhalb der Erwerbssphäre zu erlangen,87 so bemisst sich dieser Erfolg nicht nach einer subjektivierenden „Gewinnerzielungsabsicht“, sondern nach den objektiven Vorkehrungen des Erwerbenden, die auf einen Erwerbserfolg, nicht auf einen nur aus Gründen der persönlichen Lebensführung erklärbaren wirtschaftlichen Misserfolg ausgerichtet sind. Der Erfolgstatbestand ist der Schlusspunkt eines einheitlichen Erwerbsgeschehens. Unterhalb dieses Besteuerungsprinzips mögen dann der Dualismus der Einkunftsarten und einkunftsspezifische Besonderheiten Differenzierungen rechtfertigen:88 Ein Totalgewinn entsteht, wenn neue Wirtschaftsgüter erwirtschaftet werden oder bestehende an Wert gewinnen. Veräußerungsgewinne werden grundsätzlich berücksichtigt. Ein Totalüberschuss entsteht, wenn Einnahmen zugeflossen und Werbungskosten abgeflossen sind. Veräußerungsgewinne sind nur erheblich, soweit Erwerbsgrundlagen veräußert werden (§§ 17, 20 Abs. 2, 22 Nr. 2 i. V. m. § 23 Abs. 1 Satz 1).

V. Strukturelle Konsequenzen Das im Einkommensteuergesetz angelegte, vom Grundgesetz gestützte Prinzip, den Erwerbserfolg zu besteuern, hat erhebliche Bedeutung für das Grundverständnis der Steuer, damit für die Gesetzesentwicklung und den Gesetzesvollzug im Einzelfall. Die Steuer ist weniger ein Instrument der Umverteilung,

__________ 87 Zur neueren Rspr. vgl. BFH v. 25.11.2004 – IV R 8/03, BFH/NV 2005, 854; v. 14.7.2003 – IV B 81/01, BStBl. II 2003, 804 = FR 2003, 1094 m. Anm. Kanzler; v. 24.8.2000 – IV R 46/99, BStBl. II 2000, 674 = FR 2000, 1364 m. Anm. Kanzler – Weinbaubetrieb; v. 7.11.2001 – I R 14/01, FR 2002, 634 m. Anm. Kempermann = DStR 2002, 667 – Turnierteilnahme; v. 27.3.2001 – X B 60/00, BFH/NV 2001, 1381 – Erfindertätigkeit; v. 30.1.1996 – IX R 80/90, BStBl. II 1997, 23 = FR 1996, 418 m. Anm. Drenseck – Hausgarten; v. 16.4.2002 – X B 102/01, BFH/NV 2002, 1045 – Solarium; v. 31.5.2001 – IV R 81/99, BStBl. II 2002, 276 = Fr 2001, 1008 – Steuerberater; v. 15.7.1996 – IV R 70/95, BFH/NV 1997, 115 – Universitätsassistent; v. 27.1.2000 – IV R 33/99, BStBl. II 2000, 227 = FR 2000, 621 m. Anm. Fischer – Pferdezucht; v. 2.8.1994 – VIII R 55/93, BFH/NV 1995, 866 – Tennishalle; v. 29.8.2002 – V R 8/02, DStR 2002, 1949; v. 15.2.2005 – IX R 53/03, BFH/NV 2005, 1059 – Ferienwohnung; v. 10.4.2002 – III B 73/01, BFH/NV 2002, 1025 – Bootvercharterung; v. 23.10.1992 – VI R 59/91, BStBl. II 1993, 303 = FR 1993, 401; v. 27.12.2004 – IV B 16/03, BFH/NV 2005, 1078 – Sport; v. 26.3.1993 – III S 42/92, BStBl. II 1993, 723; v. 1.3.2005 – IX B 170/04, BFH/NV 2005, 1066 – Segeljacht; v. 2.7.1993 – III R 70/92, BStBl. II 1994, 102 = FR 1994, 91 – Segelsportservice; v. 18.5.1995 – IV R 31/94, BStBl. II 1995, 718 = FR 1995, 748 – Tanzschule; v. 13.4.2000 – XI B 17/99, XI B 18/99, XI B 19/99, BFH/NV 2000, 1200 – Schriftsteller; v. 14.9.1994 – IX R 71/93, BStBl. II 1995, 116 = FR 1995, 57 – Mietkaufmodell; v. 26.1.2000 – IX R 77/98, BFH/NV 2000, 1081 – Motorboot; v. 23.8.2000 – X R 106/97, BFH/NV 2001, 160 – Versicherungsagentur; v. 12.9.2002 – IV R 60/01, FR 2003, 135 = DStR 2002, 2161 – Architekt; v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455 = FR 2004, 648 – Arztpraxis; v. 20.1.2005 – IV R 6/03, BFH/NV 2005, 1511 – Forstbetrieb; vgl. insb. K/S/M § 2 Rz. B 400 mit detaillierten Einzelnachweisen. 88 BFH v. 29.3.2001 – IV R 88/99, FR 2001, 729 = BB 2001, 1337.

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das lediglich beobachtet, ob und inwieweit jemand leistungsfähig ist und allein deshalb an den Staat abzugeben hat. Die Steuer achtet vielmehr das Prinzip individueller Freiheit, das Recht des Einzelnen, sich im Einkommen, im Vermögen, in der Kaufkraft von anderen unterscheiden zu dürfen. In einem freiheitlichen Verfassungsstaat ist die Verschiedenheit individueller Finanzkraft gerechtfertigt, für sich genommen noch nicht Anlass und Grund für eine steuerliche Wegnahme. Erst wenn im Tatbestand des Erwerbs gewährleistet ist, dass der Einkommensbezieher seinen Erwerbserfolg auch der Rechtsgemeinschaft verdankt, erwächst aus dieser Voraussetzung der Anspruch des Staates, an diesem Erwerbserfolg teilzuhaben, um mit dem Steuerertrag nach parlamentarischer Budgetentscheidung die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen dieser Freiheitsordnung erhalten und entwickeln zu können. 1. Das System der verschiedenen Steuerarten Dieses Grundverständnis richtet den Steuerzugriff auf die Erwerbserfolge des Einkommens und der eingesetzten Kaufkraft (Umsatz), lässt hingegen die Leistungsfähigkeit des bloßen Vermögensbestandes als Besteuerungsgegenstand eher zurücktreten. Das gesetzlich begründete, verfassungsrechtlich gestützte Prinzip besagt damit nicht, dass eine Vermögensteuer, eine Gewerbekapitalsteuer, eine Grundsteuer, eine örtliche Aufwandsteuer unzulässig wäre. Die Steuer ist der Preis der Freiheit, die insbesondere in der Berufs- und Eigentümerfreiheit sichert, dass die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit in privater Hand bleiben, der Staat sich also nicht durch Staatsunternehmen finanziert, vielmehr am Erfolg privaten Wirtschaftens teilhaben, also Steuern erheben soll. Dieser Rechtsfertigungsgrund für Steuern gilt auch für das Vermögen, für Grundbesitz und Gewerbekapital, für das Innehaben von Jachten und Yachten, für den Erbanfall. Auch hier wirkt der Staat insbesondere mit seiner Friedens- und Rechtsordnung an Geltung und Wirkkraft dieser Rechtspositionen und Wirtschaftsgüter mit, darf sie deshalb auch zum Belastungsgrund einer Besteuerung wählen. Der strukturelle Unterschied einer Besteuerung des Erwerbseinkommens, des Vermögens oder der Vermögensverwendung wird aber jedem bewusst, der gedanklich einmal die Steuersätze dieser verschiedenen Steuern austauschen würde. Würden wir das Einkommen mit 1 %89 belasten, das Vermögen hingegen mit einer progressiven Steuer von 15 % bis 45 %, so wäre diese Belastung in der Konzeption gegenwärtiger Steuergesetzgebung ersichtlich unangemessen. Die Belastungsintensität bemisst sich nach dem rechtfertigenden Grund der Steuer.

__________ 89 § 10 Vermögensteuergesetz (VStG) ab Kalenderjahr 1995, vorher 0,5 %.

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2. § 2 EStG als gesetzesdirigierende Norm a) Besteuerung des Erwerbserfolges Das in § 2 EStG angelegt Verständnis der Einkommensteuer als Belastung des Erwerbserfolges enthält eine Vorgabe für die widerspruchsfreie gesetzliche Fortentwicklung und die gesetzesvollziehende Anwendung des Einkommensteuergesetzes. Der Gesetzgeber hat im § 2 gesetzesdirigierende Grundentscheidungen getroffen, die – für die Dauer ihrer Geltung – von Verfassungs wegen folgerichtig und widerspruchsfrei90 weiterzuentwickeln und zu vollziehen sind. Der Gedanke einer Belastung der Erwerbseinnahmen gilt für alle sieben Einkunftsarten (Abs. 1), die keine Belastungsunterschiede rechtfertigen,91 die § 2 Abs. 3 vielmehr in der Summierung der Einkünfte miteinander vermischt und ihrer Eigenständigkeit beraubt. Die Einkunftsarten definieren lediglich typisierend die Zugangstatbestände für einen einheitlichen Belastungsgrund. Arbeits- und Kapitaleinkünfte sind gleichermaßen steuerbar. Dieses systemprägende Prinzip macht bewusst, dass Abs. 5b in der Abgeltungssteuer für private Kapitalerträge mit einer vereinfachten Bemessungsgrundlage und einem Einheitssteuersatz von grundsätzlich 25 % (§ 32d Abs. 1, § 43 Abs. 5) ein System durchbricht, im Erfordernis eines vereinfachten Quellenabzugsverfahrens im internationalen Finanzmarkt Verständnis finden mag, materiell aber vor dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht zu rechtfertigen ist. Wenn § 2 Abs. 2 im Dualismus der Einkunftsarten Gewinn und Überschuss einheitlich der Zwischengröße „Einkünfte“ zuordnet, bleibt die Einkünfteermittlung dennoch in der Gemeinsamkeit der Erwerbseinnahmen abzgl. der Erwerbsaufwendungen ein einheitliches Konzept. Folgerichtig überwindet der BFH diesen Dualismus im Tatbestand der Betriebsausgaben und Werbungskosten trotz unterschiedlicher – kausaler (§ 4 Abs. 4) und finaler (§ 9 Abs. 1 Satz 1) – Gesetzesformulierung.92 § 2 Abs. 1 rechnet Einnahmen, Aufwendungen und sonstige Abzugstatbestände demjenigen zu, der die Erwerbsgrundlage nutzt, aus ihr „Einkünfte erzielt“. Dieser Nutzungstatbestand bestimmt den Gesamtplan bei der Beurteilung des Totalerfolges,93 damit die Zuordnung zum steuererheblichen Erwerb oder zur steuerunerheblichen privaten Lebensführung.

__________ 90 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 = FR 1991, 375 m. Anm. Felix (271) – Kapitalertragsteuer; v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 (170) = FR 1992, 810 – Grundfreibetrag; v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136) – Einheitswerte II; v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (118) – Kommunale Verpackungsteuer, ständige Rechtsprechung. 91 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 167 (181) = FR 2006, 766 – Tarifbegrenzung gewerblicher Einkünfte. 92 BFH v. 29.4.1999 – IV R 40/97, BStBl. II 1999, 828 (832) = FR 1999, 896 m. Anm. Paus. 93 BFH, BStBl. II 2002, 1348; v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455 (457) = FR 2004, 648.

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Der objektive Tatbestand von Erwerbsgrundlage, Nutzungshandlung und Erwerbserfolg löst die steuerbegründenden Tatbestände des EStG auch – trotz teilweise subjektivierender Formulierung des Gesetzestextes – vom Willen, insbesondere der „Gewinnerzielungsabsicht“ des Steuerpflichtigen. Auch das willenlose Kind, das Mietzinserträge erzielt, das Wertpapier, das seinem Inhaber noch eine Rendite bringt, obwohl er den Verkauf des Papieres angeordnet hatte, begründen steuerbare Einkünfte. Auch ein ungewollter Aufwand – z. B. aus einem Betriebsunfall – ist steuererheblich. Das Verständnis der Einkommensteuer als Belastung des Erwerbserfolges macht hier bewusst, dass die Besteuerung vom tatsächlichen Erwerb – den Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen –, nicht vom Willen für oder gegen den Erwerb abhängt. Das Steuergesetz belastet den Erwerbserfolg, nicht den Erwerbswillen.94 b) Auslegungshilfe bei der Anwendung des gesamten EStG § 2 EStG bietet somit eine die gesamte Einkommensbesteuerung prägende Auslegungshilfe, die insbesondere eine Missbrauchskorrektur nach § 42 AO erübrigt. § 2 gibt dem einkommensteuergesetzlichen Schuldverhältnis ein Profil, das die unausweichliche, gleichheitsgerechte Steuerlast von der in Vertragsfreiheit gewählten Sachverhaltsgestaltung unterscheidet. Selbstverständlich darf jeder Steuerpflichtige seine Erwerbs- und Wirtschaftsverhältnisse im Rahmen der Vertragsfreiheit nach Belieben gestalten, sich dabei auch bemühen, Steuerlasten zu vermeiden oder zu vermindern. Doch wenn er einen steuererheblichen Tatbestand verwirklicht – eine Erwerbsgrundlage eingerichtet, sie genutzt und daraus einen Erwerbserfolg erzielt hat –, wird die Steuerlast durch das Gesetz zugeteilt, unterliegt das nicht der Disposition des Steuerpflichtigen. Zivilrecht und Steuerrecht stimmen darin überein, eine private Vereinbarung zu Lasten Dritter95 – der öffentlichen Hand – nicht anzuerkennen. Der BGH96 beurteilt Unterhaltsvereinbarungen als sittenwidrig, wenn die Unterhaltsabrede bewirkt, dass der unterhaltspflichtige Ehegatte nicht mehr in der Lage ist, seine eigene Existenz zu sichern und deswegen staatlicher Sozialleistungen bedarf. „Eine solche sich zum Nachteil Dritter auswirkende vertragliche Gestaltung verstößt … gegen die guten Sitten“.97 Wenn ein Steuerpflichtiger einen Erwerbserfolg erzielt, ist jede dabei getroffene vertragliche Abrede unwirksam, die objektiv darauf angelegt ist, durch vertragliche Gestaltung den Steuerstaat – die übrigen Steuerzahler – zugunsten der Vertragspartner zu be-

__________ 94 Paul Kirchhof, Subjektive Merkmale für die Erzielung von Einkünften, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39, 11 ff. 95 Paul Kirchhof, Der Vertrag als Ausdruck grundrechtlicher Freiheit, in FS für Ulmer, 2003, S. 1211 (1223 f.); Paul Kirchhof, Der Vertrag – ein Instrument zur Begründung steuerlicher Ungleichheit?, in FS für Röhricht, 2005, S. 917 (927 f.) und sogleich Rz. 39 ff. 96 BGH v. 8.12.1982 – IVb ZR 333/81, BGHZ 86, 82 (90) – Eheunterhalt; v. 25.10.2006 – XII ZR 144/04, FamRZ 2007, 197 (198 f.) – eheliche Familienlasten; v. 5.11.2008 – XII ZR 157/06, Rz. 35 ff. 97 BGH a. a. O.

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lasten. Soweit die vertragliche Gestaltung steuergesetzliche Lenkungs- und Gestaltungsangebote annimmt, ist diese Gestaltung durch das gesetzliche Angebot gerechtfertigt. Ist der Vertrag aber auf Vermeidung der Regelbelastung angelegt, muss das Steuerrecht diesen Vertrag unbeachtet lassen und den tatsächlich erzielten Erwerbserfolg besteuern. Das Grundverständnis der Einkommensteuer als eine Belastung des Erwerbserfolges hilft dem Gesetzesanwender, das Vereinbarte vom Nichtvereinbarten, das Ausweichliche vom Unausweichlichen zu trennen. Dabei wirken Zivilrecht und Steuerrecht in der Rechtsfolge parallell: Der vereinbarte Leistungstausch hat die Entgeltpflicht und die Steuerpflicht zur Folge. Sie unterscheiden sich in der Vermeidbarkeit dieser Rechtsfolgen. Die Entgeltfolge entfällt, wenn die Vertragspartner einverstanden sind. Die Steuerrechtsfolge wird nur vermieden, wenn der Steuerpflichtige den Belastungsgrund – den Erwerbserfolg – vermeidet. § 2 bietet dem Anwender des EStG deswegen mehr Maßstäbe zur Verdeutlichung der dort geregelten Einzeltatbestände, als dies die Missbrauchsformel des § 42 AO vermöchte. Für die Einkommensteuer entscheidend ist, ob der Steuerpflichtige über eine Erwerbsgrundlage verfügt, diese genutzt und daraus den Erfolg des Einkommens erzielt hat. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist die Einkommensteuerrechtsfolge unausweichlich. Fehlt es an diesen Voraussetzungen, besteht keine Einkommensteuerschuld.98 § 2 fordert eine von den Prinzipien des Einkommensteuergesetzes bestimmte, steuerjuristische Betrachtungsweise, dient dabei insbesondere auch der Verständlichkeit, Systematisierung und Vereinfachung des Einkommensteuerrechts. Wenn wir gegenwärtig – etwa bei den Finanzprodukten, bei Organisationsformen für Kapitalgesellschaften, bei Basisgesellschaften, bei Hin- und Rückerwerb – auf komplexe Sachverhalte treffen, die weder der Anlageberater noch der Vorstand und schon gar nicht der Aufsichtsrat einer Gesellschaft verstehen, deswegen auch nicht verantworten können, gerät das Einkommensteuergesetz an die Grenze rechtsstaatlicher Vertretbarkeit. Die Steuerpflichtigen können ihre Steuererklärung nur abgeben, weil sie gut beraten sind, können durch ihre Unterschrift aber nicht bestätigen, dass das, was der Steuerberater ihnen aufgeschrieben hat, auch sachlich richtig sei. Steuererklärungen und ebenso Vertragserklärungen, ohne Kenntnis und Verständnis ihrer Voraussetzungen und Wirkungen, höhlen die Rationalität der Vertragsfreiheit und des Steuerrechts aus, gefährden also die Rechtlichkeit des Staatswesens und des Wirtschaftens. Hier bietet § 2 eine wesentliche Erklärens- und Verstehenshilfe. Er begründet keine eigene Methodenlehre für die Auslegung des EStG, regelt aber dessen verbindlichen Grundgedanken, wird damit auch zum lex specialis gegenüber § 42 AO bei Anwendung des Einkommensteuergesetzes.

__________ 98 Paul Kirchhof, Legalität, Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit als Grundlagen der Besteuerung, in DStJG 33 (2010), 9 ff.

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3. Erwerbs- und Privatsphäre Eines der wesentlichen gesetzesdirigierenden Prinzipien des § 2 unterscheidet zwischen Betriebs- und Privatsphäre. Das EStG trifft die Grundentscheidung, dass die Kosten persönlicher Lebensführung grundsätzlich steuerlich unerheblich sind (§ 12), sie nur im Grundfreibetrag (§ 32a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1), bei bestimmten Sonderausgaben (§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 2–5, 7–9), bei den Altersvorsorgebeträgen (§ 10a), bei den außergewöhnlichen Belastungen (§§ 33–33b) sowie bei den erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten (§ 4f) zu berücksichtigen sind. Erwerbsausgaben hingegen mindern grundsätzlich in der tatsächlich entstandenen, vom Willen des Steuerpflichtigen bestimmten Höhe die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage. Die Unterscheidung zwischen Betriebs- und Privatsphäre ist auch deshalb erheblich, weil die Gewinnermittlung den Erwerbserfolg in der Entwicklung des Betriebsvermögens erfasst, die Überschussermittlung hingegen lediglich die Einnahmen und Werbungskosten berücksichtigt, die aus der Nutzung der Erwerbsgrundlage, nicht in dieser selbst entstehen. Bei der Gewinnermittlung gibt es deshalb Veräußerungsgewinne aus der Veräußerung des Betriebsvermögens, werden die Wertbewegungen und insbesondere auch der Wertverzehr (AfA) im Betriebsvermögen berücksichtigt, sind Einlagen und Entnahmen steuererheblich. In diesem Dualismus bahnen sich gegenwärtig Annäherungen beider Arten der Einkünfteermittlung an. Wenn bei der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften die Beteiligungsgrenze des § 17 Abs. 1 Satz 1 von ursprünglich 25 % auf 10 %, jetzt auf 1 % gesenkt worden ist – eine Tendenz in Richtung 0 % ist unverkennbar –, wenn § 20 Abs. 2 nunmehr auch Veräußerungsgewinne aus der Veräußerung von privaten Kapitalvermögen für steuererheblich erklärt und damit von den Fristen des § 23 unabhängig macht, wenn § 22 Nr. 2 i. V. m. § 23 die Fristen für die Steuerbarkeit von Erfolgen aus privaten Veräußerungsgeschäften verkürzt, deutet sich eine neue Grundlinie der Gesetzgebung an, die Erfolg aus privaten Veräußerungsgeschäften dann besteuert, wenn die Erwerbsgrundlage veräußert wird. Wenn zudem auch der Wertverzehr in der Erwerbsgrundlage bei Überschusseinkünften vermehrt Beachtung findet, erklären sich diese Entwicklungen aus dem Grundgedanken einer Besteuerung des Erwerbseinkommens. Sowohl Gewinn- wie auch Überschusseinkünfte bedürfen einer Erwerbsgrundlage. Diese ist steuerlich erheblich. 4. Das Welteinkommensprinzip Das Prinzip des Erwerbseinkommens begrenzt die rechtfertigende Kraft der Einkommensteuer auf den Rechtskreis, in dem das Einkommen erworben worden ist. Gegenwärtig besteuern die meisten Staaten neben inländischen Wirtschaftsvorgängen auch ausländische, wenn deren Ergebnisse inländischen Personen zugute kommen. Der Wohnsitzinländer muss sein Welteinkommen versteuern. Gleichzeitig werden im Inland erzielte Einkommen nach dem Quellenprinzip auch dann vom Inlandsstaat besteuert, wenn sie Nichtansässi474

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gen zufließen. Einzelne Staaten besteuern ihre Staatsangehörigen in ihrem Welteinkommen auch dann, wenn sie ihren Sitz im Gebiet eines anderen Staates haben. Diese Besteuerung desselben Einkommens durch verschiedene Staaten macht bewusst, dass nicht jeder der steuerlich zugreifenden Staaten auch ein Zugriffsrecht hat. Doppelbesteuerungsabkommen suchen deshalb diese übermäßige, im Doppelzugriff nicht gerechtfertigte Steuerbelastung zu vermeiden oder zu mäßigen. Das Prinzip des Erwerbseinkommens rechtfertigt von vornherein nur eine Besteuerung durch die Rechtsgemeinschaft, die am individuellen Erwerb des Einkommens mitgewirkt hat. Sie bietet der Staatengemeinschaft deshalb einen Maßstab, ihren Steuerzugriff auf das Einkommen so zu begrenzen, dass Doppelbesteuerungen von vornherein vermieden werden. Jeder Staat ist nicht berechtigt, seine Sitzinländer oder auch seine Staatsangehörigen in ihrem Welteinkommen zu besteuern, zugleich aber das im Inland erwirtschaftete Einkommen der Nichtansässigen nach dem Quellenprinzip zu belasten, um dann die ersichtliche Überlast in völkerrechtlichen Verträgen gegenüber anderen Staaten zurückzunehmen. Das Maß angemessener Besteuerung ist nicht die Verständigung zwischen Staaten, sondern die rechtstaatliche Kultur eines Verfassungsstaates und insbesondere der Grundrechtsschutz gegenüber dem steuerlich betroffenen Grundrechtsträger. Der Belastungsgrund des in einer Rechtsgemeinschaft erworbenen Einkommens erlaubt einem Staat strukturell den Steuerzugriff nur auf das Einkommen, das in seinem Gebiet und unter Wirkung seiner Rechts- und Finanzordnung im Inland erzielt worden ist. Für die räumliche Zuordnung zum Inland ist dann weniger der Wohnsitz oder der Firmensitz maßgeblich, sondern die Belegenheit von Grundstück, Gewerbebetrieb, freiberuflicher Praxis, von Arbeitsplatz und Mietsache. Bei grenzüberschreitenden Unternehmen wird eine Feinsteuerung nach dem Betriebsstättenprinzip, auch nach den Erfahrungen eines Zerlegungsgesetzes notwendig sein. Das Problem der Verrechnungspreise wird durch das Prinzip des Erwerbseinkommens vereinfacht, aber nicht vollständig gelöst. Bei Einkommen insbesondere aus dem Finanzmarkt, die sich räumlich nur schwer einer bestimmten Quelle zuordnen lassen, mag das Sitzprinzip die Besteuerungshoheit des jeweiligen Staates begründen. 5. Gegenwartsnahe Besteuerung Nach § 2 Abs. 7 ist die Einkommensteuer eine Jahressteuer. Ihre Grundlagen sind nach Abs. 7 Satz 2 für ein Kalenderjahr oder für ein abweichendes Wirtschaftsjahr (§ 4a) zu ermitteln. Erst mit dieser Bemessung in Zeiteinheiten werden die Regeln der Einkommensbesteuerung handhabbar.99 Dieses Prinzip gegenwartsnaher Besteuerung ist ein materielles Prinzip: Wer heute in der Rechtsgemeinschaft ein Einkommen erzielen konnte, soll den gegenwärtigen staatlichen Finanzbedarf anteilig mitfinanzieren. Das Einkommen befriedigt

__________

99 BFH v. 24.10.2001 – X R 153/97, BStBl. II 2002, 75 = FR 2002, 209.

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den Finanzbedarf des Einkommensbeziehers in der Gegenwart seines Erwerbs. Die Einkommensteuer deckt den staatlichen Finanzbedarf des Staates in seinem gegenwärtigen und im nachfolgenden Jahresbudget. Würde das Jahreseinkommen von heute auch mit Einkommensteuer mehrerer vorausgehender oder nachfolgender Jahre belastet, so wäre diese Steuerkumulation offensichtlich übermäßig und verfassungswidrig. Als Besteuerungsgegenstand gänzlich ungeeignet wäre das Lebenseinkommen. Es bezeichnet einen Erwerbserfolg, der im Zeitpunkt des steuerlichen Zugriffs am Ende des Lebens nicht mehr verfügbar zu sein braucht, vielmehr vom jeweiligen Konsum- und Sparverhalten des Steuerpflichtigen und seinem Dispositionsgeschick abhängt. Zudem würde die kumulative Belastung des noch unversteuerten Gesamteinkommens – der Vermögenssubstanz – mit Einkommensteuer und Erbschaftsteuer die Struktur des Privateigentums zerschlagen. Die Belastung des Einkommens nahe der jeweiligen Erwerbsgegenwart ist damit eine Zentralforderung materieller Steuergerechtigkeit. Auch diese Besteuerung in der Zeit ist im Prinzip des Erwerbseinkommens angelegt. Der Zustandstatbestand der Erwerbsgrundlage bezeichnet in der Regel einen periodenübergreifenden Sachverhalt. Doch die Nutzung dieser Erwerbsgrundlage begründet einen Handlungstatbestand, der einer bestimmten Periode zugeordnet werden kann. Der durch Nutzung erzielte Erwerbserfolg definiert sodann die Bemessungsgrundlage, die im jeweiligen Veranlagungszeitraum zu ermitteln ist. Diese Bemessungsgrundlage wird bei den Überschusseinkünften nach dem Zuflussprinzip (§ 11) zugeordnet. Das Zuflussprinzip berücksichtigt im Zahlungsvorgang den Tatbestand der Erwerbsnutzung. Bei der Gewinnermittlung durch Vermögensvergleich (§ 4 Abs. 1, 5) allerdings gilt das Realisationsprinzip. Dabei wird nicht die bloße Wertsteigerung ruhender Vermögensgegenstände erfasst, sondern die Realisation von Wertsteigerung oder Wertverlust ermittelt. Dieses Realisationsprinzip ist nichts anderes als der Tatbestand des Erwerbserfolges: Wenn der Unternehmer seine Leistung erbracht hat und deshalb seine Forderung geltend machen kann, ist sein Vermögen gewachsen. Ein Aufwand ist erst realisiert, wenn er sich nicht in einem Wirtschaftsgut wiederfindet. Nur Aufwendungen, die keinen greifbaren bleibenden Wert hervorbringen, z. B. Mieten oder Zinsen, mindern den Gewinn im Zeitpunkt der Aufwendung. Nicht die Aufwendungshandlung, sondern die Nutzung ist steuererheblich. Im Ergebnis verdient das Verständnis der Einkommensteuer als Belastung des in einer Rechtsgemeinschaft erworbenen Einkommens einen vertieften Dialog, der immer wieder die Begegnung mit Joachim Lang und seiner These von der Steuerbarkeit des „durch Teilnahme am Wirtschaftsleben erworbenen“ Einkommens suchen wird. Der rechtstaatliche Aufbruch des deutschen Steuerrechts in Wissenschaft und Rechtsprechung in den vergangenen Jahrzehnten könnte in dieser Rechtfertigung der Einkommensteuer eine seiner schönsten Früchte ernten.

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Ist Werbungskostenersatz Arbeitslohn? Inhaltsübersicht I. Der Einfluss Joachim Langs auf die Entwicklung des Lohnsteuerrechts II. Kausalrechtliche Symmetrie der Einnahmen und Werbungskosten 1. Joachim Lang auf der Tagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft in Bad Ems 2. Die Rechtsprechung des BFH a) Kreta-Fall b) Portugal-Fall c) Aufgabe des Aufteilungsverbots durch den Großen Senat des BFH III. Das Merkmal des überwiegend eigenbetrieblichen Interesses 1. Die Rechtsprechung des BFH seit 1982

2. Gemeinsamkeiten der bisher entschieden Fallgestaltungen 3. Die Rechtsprechung des BFH seit 2007 IV. Zuwendungen des Arbeitgebers in die Berufssphäre des Arbeitnehmers – Werbungskostenersatz 1. Enttäuschte Erwartungen 2. Gegenwärtige Rechtslage nach der Rechtsprechung des BFH aus den Jahren ab 2007 3. Ist der Werbungskostenersatz Lohn? V. Ausblick

I. Der Einfluss Joachim Langs auf die Entwicklung des Lohnsteuerrechts Joachim Lang hat die Rechtsprechung des Lohnsteuersenats des BFH stets mit Interesse begleitet und zahlreiche grundlegende Beiträge zur Arbeitnehmerbesteuerung verfasst1. Sein geschriebenes Wort fand bei den senatsinternen Diskussionen und Beratungen des VI. Senats des BFH Beachtung und hat dessen Rechtsprechung beeinflusst, wie ich aufgrund meiner 23-jährigen Mitgliedschaft in diesem Senat durchaus beurteilen kann. Auch sein grundlegender Beitrag zum objektiven Nettoprinzip2 hat mit der Besteuerung der Arbeitnehmer zu tun, denn von den Eingriffen in das objektive Nettoprinzip, die durch das Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und weiterer Gesetze vom 21.7.20043 und das Steueränderungsgesetz 2007 vom 19.7.

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1 J. Lang, Das neue Lohnsteuerrecht, StuW 1975, 113; Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer – Rechtssystematische Grundlagen steuerrechtlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht (Habilitationsschrift), 1981/88, S. 470– 473, 481–491; Die Einkünfte des Arbeitnehmers – Steuerrechtssystematische Grundlegung, DStJG 9 (1986), S. 15; Arbeitsrecht und Steuerrecht, RdA 1999, 64; Sachbezüge im Lohnsteuerrecht, FS für Klaus Offerhaus, Köln 1999, S. 433. 2 J. Lang, Der Stellenwert des objektiven Nettoprinzips im deutschen Einkommensteuerrecht, StuW 2007, 3. 3 BGBl. I 2004, 1753; BStBl. I 2005, 343; Einführung des § 12 Nr. 5 EStG.

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20064 vollzogen worden sind, sind in erster Linie Arbeitnehmer betroffen. Es ist eine realistische Einschätzung, dass sein Beitrag und auch die „Aufrufe“ von Klaus Tipke5 ihre Wirkung auf die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Entfernungspauschale6 nicht verfehlt haben. Dies gilt auch für den Einfluss auf die Vorlage des FG Münster an das BVerfG zum häuslichen Arbeitszimmer7 und auf die erste höchstrichterliche Entscheidung des BFH zur Einschränkung des Abzugs von Berufsausbildungskosten mit seiner verfassungskonformen Auslegung des Begriffs des Erststudiums i. S. d. § 12 Nr. 5 EStG8.

II. Kausalrechtliche Symmetrie der Einnahmen und Werbungskosten 1. Joachim Lang auf der Tagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft in Bad Ems Besondere Schwierigkeiten hat der Rechtsprechung seit jeher die Bestimmung des Arbeitslohnbegriffs bereitet9. Dies ist u. a. die Folge des Charakters des Lohnsteuerrechts als Massenfallrecht. Im Wirtschaftsleben werden ständig neue Entlohnungsformen kreiert, die eine Überprüfung und Weiterentwicklung des Lohnbegriffs und der damit verbundenen Zuflussfragen erfordern10. Joachim Lang war stets darum bemüht, feste dogmatische Grundlagen zu entwickeln. Ein besonderes Anliegen war ihm, darauf hinzuweisen, dass die Einnahmen (Arbeitslohn) und die Werbungskosten einheitlich nach dem Veranlassungsprinzip zu bestimmen sind. Dazu hat er auf der Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft im September 1985 folgendes ausgeführt, das sich lohnt, im Wortlaut wiedergegeben zu werden, um zu zeigen, wie einfach und zugleich zwingend man argumentieren kann11:

__________ 4 BGBl. I 2006, 1652; BStBl. I 2006, 432; Einschränkungen beim Abzug von Arbeitszimmerkosten und Regelungen zur Entfernungspauschale. 5 K. Tipke, Hütet das Nettoprinzip, FS für Arndt Raupach, Köln 2006, S. 311; Das Nettoprinzip – Angriff und Abwehr, dargestellt am Beispiel des Werkstorprinzips, BB 2007, 1525; Verteidigung des Nettoprinzips, DB 2008, 263. 6 Urteil des BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 = FR 2009, 74 m. Anm. Greite = DStR 2008, 2460. Erstaunlich ist, dass das Bundesministerium der Finanzen dieses wichtige Urteil noch immer nicht im BStBl. II veröffentlicht hat. 7 Vorlagebeschluss des FG Münster v. 8.5.2009 – 1 K 2872/08 E, EFG 2009, 1224; Az. des BVerfG: 2 BvL 13/09; s. dazu auch W. Drenseck, Die Neuregelung der Abziehbarkeit von Arbeitszimmerkosten in der Rechtsprechung der Finanzgerichte, DStR 2009, 1877. 8 BFH v. 18.6.2009 – VI R 14/07, DStR 2009, 1952; s. auch Schmidt/Drenseck, EStG, 29. Aufl., § 12 Rz. 56 ff., 59 f.; W. Drenseck, Die steuerliche Berücksichtigung der Kosten für Ausbildung und Fortbildung, RdJB 4/2009, S. 446. 9 W. Lang, Arbeitslohn in der neueren Rechtsprechung des BFH, DB 2006, Beilage Nr. 6 zu Heft Nr. 39, S. 16. 10 S. z. B. die Entlohnung durch Aktienoptionen; dazu Schmidt/Drenseck (Fn. 8); § 19 Rz. 50 „Ankaufsrecht“. 11 J. Lang, Die Einkünfte des Arbeitnehmers (Fn. 1), S. 50; J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 213 ff.

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„Die Ermittlung des Unterschiedsbetrages zwischen zugeflossenen Einnahmen und geleisteten Werbungskosten wird im Weiteren kausalrechtlich abgegrenzt, indem nach § 8 Abs. 1 EStG die Einnahmen anzusetzen sind, die dem Steuerpflichtigen im Rahmen der Einkunftsart des § 19 EStG zufließen, und indem nach § 9 Abs. 1 Satz 2 EStG die Werbungskosten bei der Einkunftsart abzuziehen sind, bei der sie erwachsen sind.“ Diese kausalrechtlichen Bestimmungen sind rechtsdogmatisch einheitlich zu interpretieren. Das bedeutet, dass der kausaltheoretische Ansatz des Veranlassungsprinzips bei der einkommensteuerrechtlichen Qualifikation von Werbungskosten und Einnahmen gleichermaßen zu entfalten ist. Kausalitätsprinzipien lassen sich nicht beliebig handhaben. Sie sind nämlich in jedem Rechtsgebiet die Kristallisationskerne einer terminologisch widerspruchsfrei strukturierenden Dogmatik. Mithin impliziert der Begriff der Einkünfte rechtsdogmatisch zwingend folgende kausalrechtliche Symmetrie des Begriffspaars der Einnahmen und Werbungskosten: Die Einkünfte „aus nichtselbständiger Arbeit“ bestehen aus dem Unterschiedsbetrag – aller Einnahmen, die durch die nichtselbständige Erwerbstätigkeit veranlasst sind (Einnahmen i. S. d. §§ 8 Abs. 1; 19 EStG) und – aller Aufwendungen, die durch die nichtselbständiger Erwerbstätigkeit (berufliche Tätigkeit des Arbeitnehmers) veranlasst sind (Werbungskosten i. S. d. §§ 9 Abs. 1 Satz 2; 19 EStG).“ Dies ist seitdem im steuerrechtlichen Schrifttum unbestritten12. 2. Die Rechtsprechung des BFH Auch die Rechtsprechung des BFH hat diesen Grundsatz im Kern nicht angezweifelt, sah sich allerdings letztlich wegen des auf der Ausgabenseite aus § 12 Nr. 1 EStG abgeleiteten damals geltenden Aufteilungsverbots nicht in der Lage, diesen Grundsatz voll umzusetzen; dabei musste der VI. Senat des BFH allerdings eine Kehrtwende in seiner Rechtsprechung vollziehen. a) Kreta-Fall Durch Urteil v. 9.8.1996 – VI R 88/9313 hatte er eine Mitarbeitertagung zu beurteilen, die ein Arbeitgeber für seine Außendienstmitarbeiter auf Kreta durchgeführt hatte. Von den sechs Aufenthaltstagen waren nach den unbestrittenen Feststellungen des FG vier Tage mit betrieblichen Veranstaltungen ausgefüllt, während zwei Tage den Mitarbeitern zur freien Verfügung standen. Der Arbeitgeber hatte die Reisekosten getragen, sie aber nicht der Lohnsteuer unterworfen. Das FG Rheinland-Pfalz14 hatte für diesen Fall der mit einem Reise-

__________ 12 Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 19 Rz. 25 m. w. N. 13 BFH v. 9.8.1996 – VI R 88/93, BStBl. II 1997, 97 = FR 1996, 830 = FR 1996, 812. 14 FG Rh.-Pf. v. 10.9.1993 – 3 K 2571/92, EFG 1994, 245.

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teil im Sinne einer Zuwendung gekoppelten Dienstreise eine Aufteilung im Schätzungswege in einen Lohnanteil (Kosten der zwei Tage) und einen NichtLohnanteil (Kosten der vier Arbeitstage) vorgenommen (Arbeitslohn demgemäß ein Drittel der Gesamtkosten). Der VI. Senat hob die Vorentscheidung auf und entschied mit folgenden Gründen, dass die Kosten der gesamten Reise als Lohn anzusetzen sein: Das Ergebnis der durchzuführenden Gesamtwürdigung sei regelmäßig ein einheitliches in dem Sinne, dass die Zuwendungen im ganzen entweder Arbeitslohn darstellten oder im betrieblichen Eigeninteresse erfolgt seien. Eine Aufteilung dahingehend, dass nur ein Teil als Arbeitslohn zu werten sei, komme im Regelfall nicht in Betracht. Dies folge nicht etwa aus dem Aufteilungsverbot des § 12 Nr. 1 EStG, da diese Vorschrift nur für die Ausgaben- und nicht für die Einnahmenseite gelte, sondern es ergebe sich aus dem Umstand, dass bei einer einheitlichen Zuwendung grundsätzlich kein Maßstab für eine quantitative Abgrenzung zwischen Arbeitslohn und NichtArbeitslohn vorhanden sei. b) Portugal-Fall Die Grundsätze des Kreta-Falls sind auf Ablehnung gestoßen15 und hatten nur bis zum Jahre 2005 Bestand. Wenn Rechtsprechung kaschiert und nicht offen argumentiert, kann sie sich nicht auf Dauer halten. Die Ausführungen des BFH im Kreta-Fall, das Ergebnis folge nicht etwa aus dem Aufteilungsverbot des § 12 Nr. 1 EStG, war nicht glaubwürdig. Es handelte sich um eine versteckte analoge Anwendung der Grundsätze des § 12 Nr. 1 EStG auf der Einnahmenseite. Offenbar befürchtete der BFH (zu Recht), dass bei einer Zulassung der Schätzung auf der Einnahmenseite auch das Aufteilungsverbot des § 12 Nr. 1 EStG nicht mehr zu halten sein würde. Joachim Lang hat übrigens den Kreta-Fall so verstanden, dass der BFH den „zu § 12 Nr. 1 EStG entwickelten Grundgedanken“ aufgegriffen hat16. Durch Urteil v. 18.8.2005 – VI R 32/0317 hat der VI. Senat im Portugal-Fall die Rechtsprechung aus dem Kreta-Fall aufgegeben. Der Arbeitgeber hatte seine Mitarbeiter zu einer Tagung unter dem Motto „Wettbewerbsvorteile durch Kundenmanagement – vom Produktspezialisten zum Marketingspezialisten“ nach Portugal beordert. Nach den Feststellungen des FG wurde vormittags gearbeitet, der Nachmittag konnte am Strand verbracht werden, abends gab es gesellige Zusammentreffen. Der BFH entschied, bei gemischt veranlassten Reisen (Dienstreise mit Incentiveteilen) sei die Zuwendung regelmäßig nach objektiven Gesichtspunkten aufzuteilen. Zunächst müssten Kostenbestandteile, die eindeutig betriebsfunktional (z. B. Kosten für Referenten, Tagungsräume und Tagungsunterlagen) seien (insoweit von vornherein kein Lohn), und Kostenteile, die eindeutig Entlohnungscharakter hätten (z. B. touristisches Programm,

__________ 15 Schmidt/Drenseck, EStG, 23. Aufl., § 19 Rz. 25. 16 J. Lang, Sachbezüge im Lohnsteuerrecht (Fn. 1), S. 443. 17 BFH v. 18.8.2005 – VI R 32/03, BStBl. II 2006, 30 = FR 2006, 33.

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Sportprogramm; insoweit von vornherein Lohn), vorab den Bereichen des NichtLohns bzw. des Lohns zugeordnet werden. Sodann seien restliche gemischte Kostenbestandteile (z. B. für An- und Abreise, Hotel, Verpflegung, allgemeine Betreuung, Organisation) im Wege sachgerechter Schätzung aufzuteilen – regelmäßig gelte das Verhältnis der Zeitanteile für Dienstreise- bzw. Incentiveteile18. c) Aufgabe des Aufteilungsverbots durch den Großen Senat des BFH Der Portugal-Fall war der Anfang vom Ende des dem § 12 Nr. 1 EStG unterstellten Aufteilungsverbots; der VI. Senat des BFH hatte gezeigt, wie sachgerecht eine Aufteilung in Nicht-Lohn und Lohn durchgeführt werden konnte. Bereits durch Beschluss v. 20.7.2006 – VI R 94/0119 hat der VI. Senat dem Großen Senat die Frage zur Beantwortung vorgelegt, ob Aufwendungen für die Hin- und Rückreise bei gemischt beruflich (betrieblich) und privat veranlassten Reisen in abziehbare Werbungskosten (Betriebsausgaben) und nicht abziehbaren Aufwendungen für die private Lebensführung nach Maßgabe der beruflich (betrieblich) und privat veranlassten Zeitanteile der Reise aufgeteilt werden können, wenn die beruflich (betrieblich) veranlassten Zeitanteile feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung sind. Der Große Senat des BFH hat seine jahrzehntealte, stets umstrittene Rechtsprechung aufgegeben, wonach § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG ein Aufteilungsverbot für solche Aufwendungen enthalten sollte, die sowohl betrieblich/beruflich als auch durch die Lebensführung veranlasst sind (gemischte Aufwendungen), mit der Folge, dass auch der betrieblich/beruflich veranlasste Teil der Aufwendungen nicht abziehbar war. Der Große Senat hat ausführlich und überzeugend entschieden, dass weder der Wortlaut der Vorschrift, noch die steuerliche Gerechtigkeit oder Verifikationsprobleme, noch Gesichtspunkte der Praktikabilität erlauben, aus der Vorschrift ein allgemeines Aufteilungsverbot abzuleiten20. Entsprechend der Entstehungsgeschichte der Vorschrift21 besteht ein Abzugsverbot nur dann, wenn private und berufliche Gründe so zusammenwirken, dass eine Trennung nicht möglich (sondern schlichtweg willkürlich) ist. Damit steht der von Joachim Lang geforderten kausalrechtlichen Symmetrie der Einnahmen und Werbungskosten nichts mehr im Wege.

__________ 18 Weitere Einzelheiten s. Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 19 Rz. 50 „Prämien“. 19 BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121 = FR 2006, 1079 m. Anm. Bergkemper; Las-Vegas-Fall: Messebesuch mit vorangehendem oder nachfolgendem Urlaub. 20 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann = DStR 2010, 101; dazu Pezzer, Das Aufteilungsverbot ist aufgegeben; wie geht es weiter?, DStR 2010, 93. 21 Gesetzesbegründung in RStBl. 1935, 41.

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III. Das Merkmal des überwiegend eigenbetrieblichen Interesses 1. Die Rechtsprechung des BFH seit 1982 Aufbauend auf dem Grundsatzurteil des BFH vom 17.9.1982 – VI R 75/7922, in dem für die Bestimmung des Arbeitslohns der im Werbungskostenbereich entwickelte Veranlassungsgrundsatz herangezogen wurde, nimmt die Rechtsprechung des BFH dann Arbeitslohn an, wenn Bezüge oder geldwerte Vorteile durch das individuelle Dienstverhältnis veranlasst sind, also „für“ eine Beschäftigung und somit als Gegenleistung für die Zurverfügungstellung der individuellen Arbeitskraft gewährt werden. Die Einnahmen müssen dem Arbeitnehmer mit Rücksicht auf das Dienstverhältnis zufließen, sich als Ertrag der nichtselbständigen Arbeit darstellen, also Entlohnungscharakter haben23. Anknüpfend an die bisherige frühere Rechtsprechung24 rückt der BFH bei der Bestimmung einer Zuwendung als Arbeitslohn das überwiegend eigenbetriebliche Interesse des Arbeitgebers an der betreffenden Zuwendung in den Vordergrund und kommt zu dem Ergebnis, dass eine vom Arbeitgeber veranlasste unentgeltliche Vorsorgeuntersuchung seiner leitenden Angestellten dann nicht zu einem steuerpflichtigen Arbeitslohn führt, wenn sie im ganz überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers durchgeführt wird25, 26. Joachim Lang hat dieses durch die Rechtsprechung entwickelte Kriterium des eigenbetrieblichen Interesses zutreffend als Kausalitätsmerkmal bezeichnet, das den Gegensatz zum Entlohnungsinteresse bildet27. Das Merkmal des überwiegend eigenbetrieblichen Interesses wurde in der Folgezeit weiter angereichert durch die Bewertung der Wechselwirkung zwischen Intensität des eigenbetrieblichen Interesses des Arbeitgebers und dem Ausmaß der Bereicherung des Arbeitnehmers durch die zusätzliche Zuwendung und mündete in die Formel: Je höher aus der Sicht der Arbeitnehmer die Bereicherung anzusetzen ist, desto geringer zählt das aus der Sicht des Arbeitgebers vorhandene eigenbetriebliche Interesse28. Ferner verweist der BFH darauf, dass

__________ 22 BFH v. 17.9.1982 – VI R 75/79, BStBl. II 1983, 39 = FR 1983, 99 Vorsorgeuntersuchung. 23 S. auch W. Lang, Arbeitslohn in der neueren Rechtsprechung des BFH (Fn. 9), S. 16. 24 BFH v. 22.10.1976 – VI R 26/74, BStBl. II 1977, 99, unter IV.1.b der Gründe, m. w. N. 25 Die Neubestimmung der Rechtsprechung beruht auf den Beitrag von Klaus Offerhaus, Was gehört zum Arbeitslohn?, BB 1982, 1061 (1062 ff.). 26 In der Folgezeit hat der BFH unter Hinweis auf das eigenbetriebliche Interesse des Arbeitgebers Zuwendungen an die Belegschaft für eine Betriebsveranstaltung (Betriebsfest, Betriebsausflug) nicht als Arbeitslohn bewertet; s. BFH v. 22.3.1985 – VI R 170/82 und VI R 82/83, BStBl. II 1985, 529 (532) = FR 1985, 511; weitere Hinweise zu dieser Rechtsprechung und der Folgerechtsprechung s. Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 19 Rz. 50 „Betriebsveranstaltung“. 27 J. Lang, Sachbezüge im Lohnsteuerrecht (Fn. 1), S. 443. 28 BFH v. 11.3.1988 – VI R 106/84, BStBl. II 1988, 726 = FR 1988, 507 Prämien aus einem Sicherheitswettbewerb als Arbeitslohn; hier weist der BFH noch darauf hin, dass die Arbeitnehmer die Prämie zur freien Verwendung außerhalb des Betriebes erhalten haben; BFH v. 31.10.1986 – VI R 73/83, BStBl. II 1987, 142, = FR 1987, 98 vom Arbeitgeber getragene Kurkosten für ältere Arbeitnehmer als Arbeitslohn.

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Arbeitslohn bei solchen Vorteilen ausscheiden kann, die sich bei objektiver Würdigung aller Umstände als notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen erweisen29. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass zwar die verbilligte Gewährung von Mahlzeiten zu Arbeitslohn führt, nicht hingegen aber gewisse Vorteile aus der Ausgestaltung des Arbeitsplatzes oder der Kantinenräume30. 2. Gemeinsamkeiten der bisher entschieden Fallgestaltungen Den zuvor genannten Fallgestaltungen ist zum einen gemeinsam, dass nicht Barzuwendungen, sondern Sachzuwendungen zu beurteilen waren. Bei Barzuwendungen stellen sich keine Abgrenzungsprobleme; denn Geld, das dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zur freien Verfügung zugewendet wird, ist stets Lohn, es sei denn, die Zuwendung hat keinen Bezug zum Arbeitsverhältnis, sondern beruht auf einer davon unabhängigen gesonderten Rechtsbeziehung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber31. Zum anderen waren Sachzuwendungen zu beurteilen, die in den Konsumbereich des Arbeitnehmers flossen. Bei derartigen Zuwendungen spricht zunächst alles dafür, Arbeitslohn anzunehmen. Eine Ausnahme kann aber dann gegeben sein, wenn der Arbeitgeber die Zuwendung gewährt hat, weil er dadurch überwiegend eigenbetriebliche Zwecke verwirklichen wollte. Dies kann nur im Wege wertender Beurteilung entschieden werden. Dabei ist auch die Verfügbarkeit der Zuwendung für den Arbeitnehmer ein wesentliches Merkmal. Daher sind Sachzuwendungen, die der Arbeitnehmer nur so, wie vom Arbeitgeber angeboten, entgegennehmen und nicht außerhalb des betrieblichen Bereichs verwerten kann (also keine oder nur geringe Verfügbarkeit), bei Vorliegen gewichtiger eigenbetrieblicher Gründe des Arbeitgebers eher kein Arbeitslohn (z. B. Gemeinschaftszuwendung in Form von Betriebsveranstaltungen; aufgedrängte Bereicherungen, die der Arbeitnehmer sonst nicht selbst getätigt hätte; Vorteile als lediglich notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen). Arbeitslohn ist hingegen zu bejahen, wenn die Sachzuwendungen für den Arbeitnehmer im eigenen privaten Bereich eingesetzt werden können (z. B. Rabattgewährung; verbilligte Überlassung von Jahreswagen; verbilligte Überlassung hochwertiger Markenkleidung an Führungspersonal32 im Gegensatz zu während der Arbeitszeit zu tragender Einheitskleidung33).

__________ 29 BFH v. 4.6.1993 – VI R 95/92, BStBl. II 1993, 687 = FR 1993, 604 unter 2.a, aa, Rabattgewährung im Kfz-Handel als Arbeitslohn. 30 BFH v. 7.12.1984 – VI R 164/79, BStBl. II 1985, 164 = FR 1985, 249. 31 S. dazu auch das zu Prämien aus einem Sicherheitswettbewerb ergangenen BFH, Urt. v. 11.3.1988 – VI R 106/84, BStBl. II 1988, 507 = FR 1988, 507. 32 BFH v. 11.4.2006 – VI R 60/02, BStBl. II 2006, 691 = FR 2006, 839 m. Anm. Bergkemper. 33 BFH v. 22.6.2006 – VI R 21/05, BStBl. II 2006, 915 = FR 2007, 54.

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Das Merkmal des überwiegend eigenbetrieblichen Interesses, dies sollte nicht in Vergessenheit geraten, ist entwickelt worden zur Beurteilung von Sachzuwendungen des Arbeitgebers in den Konsumbereich des Arbeitnehmers. Hätte der Arbeitnehmer derartige Leistungen selbst finanziert, so würde ein Werbungskostenabzug ausscheiden, weil es sich um Kosten der allgemeinen Lebensführung handelte; deshalb ist die Annahme von Arbeitslohn gerechtfertigt. Hätte der Arbeitnehmer die zugewendeten Sachleistungen nicht auf eigene Kosten angeschafft, so spricht dies dafür, Arbeitslohn zu verneinen34. 3. Die Rechtsprechung des BFH seit 2007 Durch Urt. v. 26.7.2007 – VI R 64/0635 hat der VI. Senat des BFH entschieden, dass die vom Arbeitgeber für eine angestellte Rechtsanwältin übernommenen Beiträge zur Berufshaftpflichtversicherung zu Arbeitslohn führen. Zur Begründung hat er ausgeführt, kein Arbeitslohn seien solche Vorteile, die sich bei objektiver Würdigung aller Umstände nicht als Entlohnung, sondern lediglich als notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzung erwiesen. Ein Vorteil werde dann aus ganz überwiegend eigenbetrieblichem Interesse gewährt, wenn im Rahmen einer Gesamtwürdigung aus den Begleitumständen zu schließen sei, dass der jeweils verfolgte betriebliche Zweck im Vordergrund stehe. In diesem Fall des „ganz überwiegend“ eigenbetrieblichen Interesses könne ein damit einhergehendes eigenes Interesse des Arbeitnehmers, den betreffenden Vorteil zu erlangen, vernachlässigt werden. Trete das Interesse des Arbeitnehmers gegenüber dem des Arbeitgebers in den Hintergrund, könne eine Lohnzuwendung zu verneinen sein. Sei aber – neben dem eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers – ein nicht unerhebliches Interesse des Arbeitnehmers gegeben, so liege die Vorteilsgewährung nicht im ganz überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers und führe zur Lohnzuwendung. Das nicht unerhebliche Interesse der angestellten Rechtsanwältin an dem Abschluss der Berufshaftpflichtversicherung hat der BFH daraus abgeleitet, dass ohne den Abschluss dieser Versicherung die Ausübung des Berufs eines (angestellten) Rechtsanwalts nicht erlaubt sei. Unter Bezugnahme auf die vorgenannte Entscheidung hat der BFH sodann durch Urt. v. 17.1.2008 – VI R 26/0636 die Übernahme der Beiträge zu den Berufskammern für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer für die Geschäftsführer einer Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft durch den Arbeitgeber wegen der gesetzlich angeordneten Pflichtmitgliedschaft als Arbeitslohn gewertet und diese Grundsätze durch weiteres Urt. v. 12.2.2009 – VI R 32/0837 auf den Fall der Übernahme der Beiträge durch den Arbeitgeber für die Mitgliedschaft einer angestellten Rechtsanwältin im Deutschen Anwaltsverein übertragen.

__________ 34 35 36 37

S. auch Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 19 Rz. 30 ff. BFH v. 26.7.2007 – VI R 64/06, BStBl. II 2007, 892 = FR 2008, 143. BFH v. 17.1.2008 – VI R 26/06, BStBl. II 2008, 378 = FR 2008, 677 m. Anm. Bergkemper. BFH v. 12.2.2009 – VI R 32/08, BStBl. II 2009, 462 = FR 2009, 822.

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Für die Annahme einer Lohnzuwendung hat sich der BFH auf sein früheres Urt. v. 11.4.2006 – VI R 60/0238 berufen, das die Beurteilung der kostenlosen oder verbilligten Überlassung hochwertiger Bekleidungsstücke durch den Arbeitgeber an seine Führungskräfte zum Gegenstand hatte. Der BFH hat entweder nicht erkannt oder es für unerheblich gehalten, dass im Fall VI R 60/02 eine Zuwendung des Arbeitgebers in den Konsumbereich des Arbeitnehmers zu beurteilen war, während es sich in den Fällen der Jahre 2007–2009 um Zuwendungen des Arbeitgebers in den beruflichen Bereich der Arbeitnehmer handelte. Die Anschaffung von Kleidungsstücken durch den Arbeitnehmer selbst ist als Aufwendung für die private Lebensführung steuerrechtlich irrelevant; sie eröffnet keinen Werbungskostenabzug. Die kostenlose oder verbilligte Überlassung von Kleidungsstücken durch den Arbeitgeber an die Arbeitnehmer ist daher als ein privat konsumierter Vorteil zu Recht als Arbeitslohn zu bewerten. Demgegenüber führt die Zahlung von Mitgliedsbeiträgen an die Berufskammern durch die Arbeitnehmer selbst bei diesen zum Werbungskostenabzug; daher hätte es sich gelohnt, vertiefend nachzufragen, ob es tatsächlich gerechtfertigt ist, die Übernahme der Kammerbeiträge durch den Arbeitgeber als Arbeitslohn zu qualifizieren; denn hier wird nicht ein privat konsumierter Vorteil zugewendet.

IV. Zuwendungen des Arbeitgebers in die Berufssphäre des Arbeitnehmers – Werbungskostenersatz 1. Enttäuschte Erwartungen Joachim Lang hat – ausgehend von seiner Prämisse, die steuerliche Bestimmung von Sachbezügen diene dem Zweck, die aus der Berufssphäre in die private Konsumsphäre fließenden Vorteile zu besteuern – die Frage aufgeworfen, ob bei der Besteuerung des Arbeitslohns die Steuergleichheit nicht verbessert werden könnte, wenn grundsätzlich alle vom Arbeitgeber in die Berufssphäre des Arbeitnehmers getragenen Aufwendungen aus dem Begriff des Arbeitslohns ausgeschieden würden. Kontrollüberlegung war dabei, ob sich bei Kostentragung durch den Arbeitnehmer für diesen ein Werbungskostenabzug ergeben würde (dann ist Übernahme der Kosten durch den Arbeitgeber kein Arbeitslohn) oder ob wegen der Konsumorientiertheit der Aufwendungen ein Werbungskostenabzug des Arbeitnehmers zu verneinen sei (dann läge bei Übernahme der Kosten durch den Arbeitgeber Arbeitslohn vor). Als Beispiel erwähnt Joachim Lang die vom Arbeitgeber für seinen Arbeitnehmer abgeschlossene Unfallversicherung: Soweit die Versicherung berufsbezogen sei, liege kein Arbeitslohn vor. Soweit die Versicherung dagegen Risiken der privaten Sphäre abdecke, habe der Arbeitnehmer die vom Arbeitgeber entrichteten Prämien als Arbeitslohn zu versteuern. Aus der Sicht des Jahres 1999 war seine Prognose durchaus richtig, zutreffend entwickele sich die Rechtsprechung in die Rich-

__________ 38 BFH v. 11.4.2006 – VI R 60/02, BStBl. II 2006, 691 = FR 2006, 839 m. Anm. Bergkemper.

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tung, Arbeitslohn grundsätzlich nur dort anzunehmen, wo die Vorteile in der privaten Konsumsphäre des Arbeitnehmers verwertet würden39. Allerdings bedeutet die oben unter III. 3. beschriebene Rechtsprechung des VI. Senats des BFH einen Rückschlag für das berechtigte Anliegen Joachim Langs. Auch zu der vom Arbeitgeber für den Arbeitnehmer abgeschlossenen Unfallversicherung geht der BFH in seiner jüngsten Rechtsprechung davon aus, dass nicht nur der auf das Risiko privater Unfälle entfallende Teil der Versicherungsprämie Arbeitslohn ist, sondern auch der auf das Risiko beruflicher Unfälle entfallende Teil der Versicherungsprämie als steuerpflichtiger Werbungskostenersatz zu Arbeitslohn führt, dem insoweit aber (erst) bei der Einkommensteuerveranlagung ein fiktiver Werbungskostenabzug gegenübersteht40, 41. 2. Gegenwärtige Rechtslage nach der Rechtsprechung des BFH aus den Jahren ab 2007 Am Beispiel der vom Arbeitgeber für den Arbeitnehmer abgeschlossenen Unfallversicherung soll die gegenwärtige Rechtslage beschrieben werden; dabei soll der Arbeitnehmer bei Eintritt des Versicherungsfalls aus der Unfallversicherung direkt und sofort berechtigt sein, also die Rechte aus der Versicherung selbst geltend machen können42: Die Zahlung der Versicherungsprämien durch den Arbeitgeber für seinen Arbeitnehmer ist eine Sachzuwendung in Form eines unentgeltlichen Versicherungsschutzes. Soweit die Unfallversicherung auch private Risiken abdeckt, ist der auf diesen Bereich entfallende und gegebenenfalls im Schätzungswege zu ermittelnde Prämienanteil als Arbeitslohn zu qualifizieren. Dies ist wegen der insoweit die private Lebensführung des Arbeitnehmers betreffenden Bereicherung folgerichtig; hätte der Arbeitnehmer die Unfallversicherung selbst abgeschlossen, stände ihm insoweit für die Versicherungsprämien kein Werbungskostenabzug zu. Hinsichtlich des Prämienanteils, der auf das versicherte berufliche Risiko entfällt (Sachzuwendung des Arbeitgebers aus dem Dienstverhältnis in die Berufssphäre des Arbeitnehmers), geht der BFH von einem Lohnzufluss im Zeitpunkt der Prämienzahlung durch den Arbeitgeber aus, dem in der nämlichen „juristischen Sekunde“ in gleicher Höhe ein fiktiver Werbungskostenabzug gegenübersteht. Dennoch ist nach Auffassung des BFH der in der

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39 J. Lang, Sachbezüge im Lohnsteuerrecht (Fn. 1), S. 443 ff. 40 Ausführlich BFH v. 11.12.2008 – VI R 9/05, BStBl. II 2009, 385 = FR 2009, 674 m. Anm. Bergkemper = FR 2009, 770 m. Anm. Bode; zu dieser Rechtsprechung s. auch Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 19 Rz. 50 „Unfallversicherung“, m. w. N. 41 Dabei erstaunt, dass der BFH die Auffassung Joachim Langs nicht zur Kenntnis genommen hat, obwohl diese seit dem Jahre 2000 einem breiteren steuerrechtlichen Publikum zugänglich gemacht worden ist (s. Schmidt/Drenseck, EStG, 19. Aufl., § 19 Rz. 23). 42 Ist der Arbeitnehmer nicht selbst berechtigt, kommt es nicht bei Zahlung der Versicherungsprämie, sondern erst im Schadensfall zu Lohnauswirkungen; feststehende Rechtsprechung seit dem BFH, Urt. v. 16.4.1999 – VI R 60/96, BStBl. II 2000, 406 = FR 1999, 909.

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Prämienzahlung liegende Arbeitslohn in Form eines steuerpflichtigen Werbungskostenersatzes dem Lohnsteuerabzug zu unterwerfen; erst im Veranlagungsverfahren soll der fiktive Werbungskostenabzug zum Tragen kommen. Die in der Prämienzahlung liegende Sachzuwendung ist nach Ansicht des BFH Arbeitslohn, da der Arbeitnehmer wegen der bei ihm eingetretenen Bereicherung ein eigenes Interesse an der Unfallversicherung hat und dieses eigene Interesse gegenüber dem eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers nicht unerheblich ist. Der BFH beachtet nicht, dass das Merkmal des überwiegend eigenbetrieblichen Interesses des Arbeitgebers für Fälle des Transfers von Vorteilen aus der Berufssphäre in die private Konsumsphäre entwickelt worden ist. Der Arbeitgeber wird damit zum Lohnsteuerabzug für eine Lohnzuwendung verpflichtet, bei der feststeht, dass sich – bezogen auf diese Sachzuwendung – keine Einkommensteuer ergibt. Dies führt zu einer unzulässigen Überinanspruchnahme des Arbeitgebers als dem Lohnsteuerabzugsverpflichteten43. Dieser Gesichtspunkt ist nicht etwa zu vernachlässigen. Die unzulässige Inanspruchnahme kommt nicht nur bei Sachleistungen in Gestalt des Versicherungsschutzes vor, sondern ebenso bei Übernahme der Beiträge zu Berufskammern bzw. zum Deutschen Anwaltsverein44, in Fällen der Kraftfahrzeuggestellung45, bei betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen, bei den Directors & Officers (D&O)-Versicherungen sowie bei Outplacement-Beratungen, und zwar mit z. T. erheblichen finanziellen Auswirkungen. Dass die Finanzverwaltung im Einzelfall unter besonderen von ihr aufgestellten, zum Teil zweifelhaften Voraussetzungen in einigen der vorgenannten Fälle von einem Lohnsteuerabzug absieht, ist für die Arbeitgeber nur eine unzureichende Erleichterung, da sie letztlich weiterhin mit schwierigen Abgrenzungsproblemen bei kostspieliger Rechtsberatung und mit einem erheblichen Haftungsrisiko konfrontiert bleiben46. Zu Gunsten der Rechtsprechung kann auch nicht eingewendet werden, der Arbeitnehmer-Pauschbetrag erfordere den fiktiven Werbungskostenabzug bei der Veranlagung, da nur dadurch eine unberechtigte Inanspruchnahme des Arbeitnehmerpauschbetrages vermieden werden könnte, wenn dem Arbeitnehmer ansonsten keine Werbungskosten bis zur Höhe des ArbeitnehmerPauschbetrages zuständen. Zum einen kann man davon ausgehen, dass der großen Mehrzahl der Arbeitnehmer auch ohne einen fiktiven Abzug Werbungskosten in Höhe des Arbeitnehmer-Pauschbetrages erwächst, zumal die Kosten für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte wieder zum Werbungskostenabzug führen. Daher können bei einem Arbeitnehmer-Pauschbetrag i. H. v. 920 Euro bei pauschalierender Betrachtung gewisse Verwerfungen in Kauf genommen werden. Zum anderen haben Arbeitgeber bereits jetzt Barlohn und Sachlohn im Lohnkonto aufzuzeichnen, wobei die Sachbezüge einzelnen be-

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43 Klaus-Dieter Drüen, Inanspruchnahme Dritter für den Steuervollzug, DStJG 31 (2008), 167 (189 ff.). 44 S. oben unter III. c). 45 Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 8 Rz. 41. 46 Einzelheiten bei Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 19 Rz. 50 „Betriebliche Weiterbildung“, „Directors & Officers-Versicherungen“ und „Outplacement-Beratung“.

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sonders zu bezeichnen sind (§ 41 Abs. 2 Nr. 3 LStDV); ebenso wie die nach § 3 Nr. 13 und 16 EStG steuerfrei gezahlten Verpflegungszuschüsse und Vergütungen bei doppelter Haushaltsführung könnte angeordnet werden, auch die als Werbungskostenersatz zu behandelnden Sachzuwendungen in die elektronische Lohnsteuerbescheinigung aufzunehmen. Dadurch ließen sich Verwerfungen beim Arbeitnehmer-Pauschbetrag vermeiden. 3. Ist der Werbungskostenersatz Lohn? Der Werbungskostenersatz ist – anders als der Auslagenersatz (§ 3 Nr. 50 EStG) – gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Durchlaufende Gelder und Auslagenersatz werden von § 3 Nr. 50 EStG als steuerfrei bezeichnet. Es fehlt aber bereits an der Steuerbarkeit. Denn es handelt sich um Beträge, die der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber erhält, um sie für ihn auszugeben (durchlaufende Gelder); diese Beträge gelangen nicht ins Vermögen des Arbeitnehmers. Oder es sind Beträge, durch die Auslagen des Arbeitnehmers für den Arbeitgeber ersetzt werden, die dieser zivilrechtlich zu tragen hat (Auslagenersatz). Der Arbeitnehmer handelt für Rechnung des Arbeitgebers. Werbungskostenersatz dagegen betrifft Aufwendungen, die der Arbeitnehmer nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen selbst zu tragen hat, die aber dennoch vom Arbeitgeber ersetzt werden. Für die Abgrenzung des Werbungskostenersatzes und des Auslagenersatzes fehlen eindeutige Kriterien, da die Rechtsprechung sich mit diesen Fragen bisher kaum beschäftigen musste47. Dies liegt daran, dass bis 1989 der Werbungskostenersatz allgemein als steuerfrei behandelt worden ist, also in der Praxis nicht problematisch war. Ab 1990 soll der Werbungskostenersatz nur noch in den im Gesetz geregelten Fällen steuerfrei sein48. Werbungskostenersatz kann als Barzuwendung oder als Sachzuwendung geleistet werden. Bei der Barzuwendung sind zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden: (1) Der Arbeitnehmer trägt zunächst Aufwendungen für seine Berufstätigkeit, was bei ihm zu Werbungskosten führt; diese Aufwendungen werden ihm später vom Arbeitgeber ersetzt. Der Geldersatz durch den Arbeitgeber gleicht die Werbungskosten aus und ist als Arbeitslohn zu qualifizieren. (2) Der Arbeitnehmer erhält von seinem Arbeitgeber einen Geldbetrag, mit dem er später anfallende Ausgaben, die zu Werbungskosten führen, begleichen kann. Auch wenn das hingegebene Geld zur Bezahlung von beruflichen Ausgaben dienen soll, gehört es zum Vermögen des Arbeitnehmers und ist zunächst für ihn frei verfügbar; es handelt sich daher um Arbeitslohn. Die spätere Verausgabung für berufliche Zwecke führt zum Werbungskostenabzug. In beiden Fallgestaltungen ist von Arbeitslohn auszugehen.

__________ 47 W. Lang, Arbeitslohn in der neueren Rechtsprechung des BFH (Fn. 9), S. 22. 48 Zur Rechtsentwicklung und zu einer Neubestimmung der Abgrenzung zwischen Werbungskostenersatz und Auslagenersatz s. Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 19 Rz. 23.

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Erhält der Arbeitnehmer Sachbezüge, die zu einem privat konsumierten Vorteil führen, so liegt Arbeitslohn vor. Dies ist allgemeine Meinung. Fließen die Sachbezüge hingegen in die Berufssphäre und verbrauchen sie sich für die Berufstätigkeit, so ergibt sich für den Arbeitnehmer kein privat konsumierter Vorteil, so dass die Annahme von Arbeitslohn ausscheidet. Dagegen kann nicht eingewendet werden, der Vorteil aus der Sachzuwendung bereicherte den Arbeitnehmer; dies sei als Arbeitslohn zu erfassen. Dass der Arbeitnehmer bereichert ist, wenn er eine Sachzuwendung erhält, ist nicht zu bestreiten. Die Bereicherung des Arbeitnehmers führt auch zu einer Einkommensteuer; denn der übrige Arbeitslohn wird nicht durch einen Werbungskostenabzug gemindert, weil nicht der Arbeitnehmer sondern der Arbeitgeber die Aufwendungen getragen hat. Es stellt sich dasselbe Ergebnis ein wie bei Annahme von Arbeitslohn und dem Ansatz eines fiktiven Werbungskostenabzugs. Eine Sachzuwendung, die sich ausschließlich im beruflichen Bereich des Arbeitnehmers auswirkt, führt daher nicht zu Arbeitslohn. Eine Ausnahme ist nur dann gerechtfertigt, wenn sich die Sachzuwendung im beruflichen Bereich nicht sofort verbraucht, wie es bei der kostenlosen Überlassung eines beruflich genutzten Wirtschaftsguts (z. B. einer Maschine) durch den Arbeitgeber an den Arbeitnehmer der Fall ist. Hier ist die Sachzuwendung als Arbeitslohn zu erfassen, der im Wege der Absetzung für Abnutzung zum Werbungskostenabzug führt49. Damit ist der Auffassung von Joachim Lang zu folgen, wonach vom Arbeitgeber in die Berufssphäre des Arbeitnehmers getragene Sachzuwendungen aus dem Begriff des Arbeitslohns auszuscheiden sind. Werbungskostenersatz in Form von Sachzuwendungen ist kein Arbeitslohn.

V. Ausblick Im Lohnsteuerrecht erweist sich wegen des Massenanfalls gleich oder ähnlich gelagerten Fallgestaltungen sehr bald, ob Rechtsprechung praxistauglich ist. Nachdem der BFH den Arbeitslohncharakter des Werbungskostenersatzes bejaht hat, wird diese Frage weiterhin auf der Tagesordnung bleiben, denn die Rechtsprechung des BFH überzeugt bisher nicht. Der BFH wird sich der Ansicht von Joachim Lang stellen und sich mit ihr auseinandersetzen müssen. Sie wird sich letztlich durchsetzen.

__________ 49 Schmidt/Drenseck (Fn. 8), § 19 Rz. 23.

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Die Besteuerung der freien Berufe gem. § 18 EStG – eine der abenteuerlichsten Kletterwände des Einkommensteuerrechts Inhaltsübersicht I. Problemlage

b) Freiberuflereigenschaft jedes Gesellschafters erforderlich c) Kapitalgesellschaft als Gesellschafter d) Interprofessionelle FreiberuflerGbR e) Doppelstöckige Freiberufler-GbR mit berufsfremdem Gesellschafter 2. Abgrenzung der freiberuflichen von der gewerblichen Tätigkeit a) Grundsätzlich Aufteilung der Einkünfte geboten b) Berufe rund um die moderne Informationstechnologie c) Rechtsanwälte als Berufsbetreuer d) Rechtsanwälte als Insolvenzverwalter

II. Reformbedarf 1. Historische Wurzeln der Besteuerung freier Berufe 2. Reformdebatte in Deutschland 3. Reform in Österreich III. Verfassungsrechtliche Fragestellungen 1. Vorlagebeschlüsse des Niedersächsischen FG 2. Folgerungen aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04 a) Differenzierung zwischen Gewerbetreibenden und freien Berufen b) Zur Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG IV. Ausgewählte Problemfelder 1. Freiberufler-Personengesellschaft a) Einkauf in eine Einzelpraxis

V. Schlussbemerkung

I. Problemlage Das Hauptproblem der Besteuerung der freien Berufe besteht in der Abgrenzung zur gewerblichen Tätigkeit: Dabei geht es in erster Linie um die Belastung mit Gewerbesteuer, von der die freien Berufe verschont werden. Dadurch ergeben sich rechtfertigungsbedürftige Belastungsunterschiede. Diese Unterschiede sind zwar für Personenunternehmen zunächst durch § 32c EStG, sodann ab 2001 durch die Steuerermäßigung nach § 35 EStG deutlich gemildert worden. Beseitigt ist das Problem dadurch aber noch nicht. In Ballungsgebieten mit hohen Gewerbesteuer-Hebesätzen (über 380 v. H.) ergibt sich trotz § 35 EStG nach wie vor eine Mehrbelastung für Gewerbebetriebe. Eine solche Mehrbelastung entsteht auch dann, wenn die Gewerbesteuerlast durch die Hinzurechnungen nach § 8 GewStG entsteht, ohne dass ein einkommensteuerrechtlicher Gewinn aus Gewerbebetrieb vorhanden ist1.

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1 Schmidt/Glanegger, EStG, 29. Aufl., § 35 Rz. 3.

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Im Vorwort seiner 1981 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln angenommenen und 1988 im Druck erschienenen Habilitationsschrift2 schreibt Joachim Lang, wie er auch heute noch mit ebensolcher Berechtigung schreiben könnte: „(Die) unaufhaltsam erscheinende weitere Zerklüftung und Verkomplizierung des Rechts im Bereich der Einkommensteuerbemessungsgrundlage verschafft der vorliegenden Schrift insofern Aktualität, als mehr denn je über die rechtsdogmatische Substanz des Einkommensteuerrechts nachgedacht werden muss, um den Weg zu einer einfacheren und zugleich gerechteren Einkommensteuer beschreiten zu können3.“

Und im Rahmen seiner Analyse des real existierenden Einkünftepluralismus führt er aus: „Durch die Annexbesteuerung (mit Gewerbesteuer) rückt die schedula der gewerblichen Einkünfte unangefochten an die Spitze der mit Einkommensteuern belasteten Einkünfte4.“

In dem von Klaus Tipke begründeten Standardwerk „Steuerrecht“5 unterzieht Joachim Lang die Besteuerung der freien Berufe gem. § 18 EStG schließlich einer harschen Kritik6: Dem Gesetz lasse sich kein Kriterium entnehmen, das es rechtfertigen würde, Freiberufler anders zu besteuern als Gewerbetreibende, besonders im Hinblick auf die Gewerbesteuer. Es könne weder auf ein historisches Verständnis von „artes liberales“7 zurückgegriffen werden, das für eine Differenzierung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip oder dem Äquivalenzprinzip untauglich sei, noch auf berufsrechtliche Rahmenbedingungen. Mit Recht wirft Joachim Lang die Frage auf, wie lange es der Rechtsprechung noch zugemutet werden solle, sich mit steuerrechtsfremden Themen zu befassen, weil das Gesetz gewerbliche und freiberufliche Unternehmer ungleich behandele und damit den Gleichheitssatz evident verletze8. Der enorme Rechtsprechungsaufwand diene nicht der Steuergerechtigkeit; vielmehr zwinge das Ge-

__________ 2 J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Rechtssystematische Grundlagen steuerlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht, Köln 1981/88, VII. 3 J. Lang, a. a. O., (Fn. 2), VIII. 4 J. Lang, a. a. O., (Fn. 2), 227. Dieser Befund gilt trotz der zur Milderung eingeführten Steuerermäßigung nach § 35 EStG im Grundsatz auch heute noch, jedenfalls in Ballungsgebieten, weil bei hohen Gewerbesteuerhebesätzen immer noch eine Zusatzbelastung mit Gewerbesteuer bestehen bleibt. Demgegenüber kann sich im ländlichen Raum durch die Steuerermäßigung gem. § 35 EStG eine Privilegierung gewerblicher Einkünfte ergeben. 5 Tipke/Lang, Steuerrecht, inzwischen erschienen in der 20. Aufl., Köln 2010. 6 J. Lang, a. a. O., (Fn. 5), § 9 Rz. 426. 7 Dazu H. Hermann, Die freien Berufe, Frankfurt 1971, 36 ff.; W. Hummes, Die rechtliche Sonderstellung der freien Berufe im Vergleich zum Gewerbe, Göttingen 1979, 31 ff.; A. Caspers, Die Besteuerung freiberuflicher Einkünfte, Diss., Köln 1999, 14 f., 49 f., 53 f. 8 J. Lang, a. a. O., (Fn. 5), § 9 Rz. 427.

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Die Besteuerung der freien Berufe

setz den Richter dazu, seine intellektuelle Kapazität für Steuerungleichheit zu verschwenden9. Diese zutreffende schonungslose Analyse mündete schon früh in die de lege ferenda erhobene Forderung, den gesetzlichen Einkünftekatalog von sieben auf drei Einkunftsarten zusammenzustreichen10. Damit würden die drei betrieblichen Einkunftsarten zu einer Einkunftsart „Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit“ zusammengeführt11; die unsäglichen Glasperlenspiele zur Differenzierung zwischen gewerblicher und freiberuflicher Tätigkeit könnten entfallen. Dieser Gedanke wurde sodann im Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes12 und dem daraus entwickelten Entwurf eines Einkommensteuergesetzes der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft13 – wiederum unter Federführung von Joachim Lang – aufgegriffen und fortentwickelt. Der Entwurf eines Einkommensteuergesetzes der Stiftung Marktwirtschaft reiht in § 4 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb, freiberuflicher Tätigkeit und Land- und Forstwirtschaft gemeinsam in die Einkunftsart „Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit“ ein; es gibt insoweit also nur noch eine Einkunftsart. Und die Gewerbesteuer soll nach diesem Konzept durch ein Vier-SäulenModell ersetzt werden (eine kommunale Unternehmensteuer und eine kommunale Einkommensteuer, beide mit Hebesatzrecht, einen kommunalen Anteil an der örtlichen Lohnsteuer und die Weiterentwicklung der Grundsteuer). Eine solche Regelung würde in der Tat die Abgrenzung von gewerblicher und freiberuflicher oder künstlerischer Tätigkeit entbehrlich machen, den Steuerpflichtigen zahlreiche Prozesse mit höchst unsicherem Ausgang ersparen und die Finanzverwaltung und die Finanzgerichte nicht länger dazu zwingen, ihre Arbeitskraft für sinnentleerte begriffliche Haarspaltereien zu verschwenden. Ein fast schon satirisch anmutendes Beispiel einer solchen Haarspalterei bietet etwa das Holzschnitzer-Urteil14 des BFH: Danach ist ein Holzschnitzer gewerblich tätig, wenn er Wappen schnitzt; schnitzt er jedoch Darstellungen von Heiligen, dann ist er künstlerisch tätig.

__________ 9 J. Lang, a. a. O., (Fn. 5), § 9 Rz. 428 a. E. Wie allzu berechtigt dieses Monitum ist, zeigt die nachfolgende Darstellung weiter unten an ausgewählten Problemfeldern aus der Rechtsprechung auf. 10 J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, Münsteraner Symposion Band II, Köln 1985, 35 ff. 11 J. Lang, a. a. O., (Fn. 10), 37. 12 J. Lang (Sprecher)/N. Herzig/J. Hey/H.-G. Horlemann/J. Pelka/H.-J. Pezzer/R. Seer/ K. Tipke (beratend), Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, Köln 2005, 91 ff. 13 Im Internet abrufbar unter www.Stiftung-Marktwirtschaft.de/Kommission Steuergesetzbuch. 14 BFH, Urt. v. 11.7.1991 – IV R 15/90, BFHE 165, 216 = BStBl. II 1991, 889 = FR 1992, 23.

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II. Reformbedarf 1. Historische Wurzeln der Besteuerung freier Berufe Wie unbefriedigend die Gesetzeslage ist, wie schwer das Rechtfertigungsdefizit tatsächlich wiegt, zeigt schon ein kurzer Blick in die Steuerhistorie. Eine Gewerbesteuer wird in Deutschland seit Anfang des 19. Jahrhunderts erhoben. Dabei wurde die Einbeziehung der freien Berufe in die Gewerbesteuer in den Ländern des Deutschen Reiches uneinheitlich gehandhabt. In den Jahren 1930 und 1931 waren die freien Berufe in fast allen Deutschen Ländern in die Gewerbesteuer einbezogen15. Dies bezeichnete die Gesetzesbegründung zum Gewerbesteuergesetz vom 1.12.1936 als „eine der anfechtbarsten finanzpolitischen Entscheidungen“ jener Zeit. Deshalb wurden damals – als Neuregelung – die freien Berufe wieder von der Gewerbesteuer ausgenommen. Die insoweit auch heute noch gültige Regelung wurde seinerzeit wie folgt gerechtfertigt: „Die Grundsätze des Nationalsozialismus erfordern eine Herausnahme der freien Berufe aus der Gewerbesteuer“16. Das Gesetz ist dann – in diesem Punkt unverändert – durch die Steuergesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland fortgeführt worden. Das sind die normativen Grundlagen, welche die Abgrenzung der freien Berufe von den Gewerbetreibenden determinieren. Dies sollte für die im Rechtsstaat des Grundgesetzes für die Steuergesetzgebung Verantwortlichen Anlass genug bieten, herkömmliche festgefügte Auffassungen zu überdenken. 2. Reformdebatte in Deutschland Dass die Gesetzeslage unbefriedigend ist und dringend einer Reform bedarf, wird seit Jahrzehnten immer wieder betont. Die Diskussion und die verschiedensten Reformvorschläge füllen inzwischen Regalwände17, ohne dass Aussicht auf eine grundlegende Remedur bestünde. Auch der bereits erwähnte Vorschlag der Stiftung Marktwirtschaft18, hat bei realistischer Einschätzung wohl keine Realisierungschance. Die Politik scheint das Interesse an diesem Entwurf verloren zu haben, ganz im Gegensatz zu den ursprünglichen vollmundigen Ankündigungen im Zusammenhang mit der Konstituierung der Kommission Steuergesetzbuch und ihres aus allen demokratischen Parteien besetzten politischen Beirats. Immerhin ist im Koalitionsvertrag vereinbart, eine Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung einzusetzen. Diese soll auch den Ersatz der Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen-

__________ 15 Begründung zum Gewerbesteuergesetz 1936, RStBl. 1937, 694. 16 A. a. O. (Fn. 15). 17 Vgl. die Nachweise bei J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 5), § 8 Rz. 96 ff.; § 9 Rz. 428 a. E.; H. Montag in Tipke/Lang (Fn. 5), § 12 Rz. 2. 18 S. Fn. 13.

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und Körperschaftsteuer mit eigenem Hebesatz prüfen19. Das ist aller Ehren Wert. Nach den bisherigen Erfahrungen ist aber zu bezweifeln, dass dabei am Ende etwas Sinnvolles herauskommen kann. Bisher hat sich die Blockadehaltung der Gemeindevertreter, die im Deutschen Städtetag perfekt organisiert und in allen Parteien politisch vernetzt sind, jedes Mal als unüberwindlich erwiesen. Noch bevor die vom Bundesfinanzminister eingesetzte Kommission überhaupt ihren ersten Atemzug getan hat, sind in der Tagespresse bereits entsprechende reflexhafte Äußerungen zu finden, die nichts Gutes erwarten lassen: So hat die Präsidentin des Deutschen Städtetages, Petra Roth, ausgeführt: „Bislang ist es niemandem gelungen, eine tragfähige Alternative zur Gewerbesteuer zu finden“20. Und der Vizepräsident Christian Ude meint: „Die Gewerbesteuer ist unverzichtbar für die Handlungsfähigkeit der Kommunen“21. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist unbestreitbar, dass die Gemeinden finanziell ausreichend ausgestattet sein müssen und dass die Gewährleistung der gemeindlichen Selbstverwaltung gem. Art. 28 Abs. 2 GG eine eigenständige Steuerquelle der Gemeinden voraussetzt. Aber dass es gerade die Gewerbesteuer in ihrer heutigen Form sein muss und dass die durch sie verursachten Belastungsverzerrungen unveränderlich sein sollen, vermag nicht zu überzeugen. Auch erscheint es merkwürdig, dass unter den drei Arten von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, die den Staatsaufbau ausmachen, nämlich Bund, Länder und Gemeinden, die Gemeinden als einzige eine spezielle Steuer nur von den gewerblichen Unternehmen erheben, während die anderen staatlichen Körperschaften (Bund und Länder) ihren Finanzbedarf durch die steuerliche Belastung aller Bürger decken. Diese verfahrene Gesetzeslage ist allerdings rechtspolitisch überaus schwierig zu bereinigen, weil es nicht ausreicht, nur eine sachgerechte Gemeindebesteuerung zu konzipieren, sondern das gesamte System der Verteilung des Steueraufkommens einschließlich des Finanzausgleichs auf den Prüfstand gehoben werden müsste. Das ist eine Sisyphus-Aufgabe, für die die erforderliche politische Energie in Deutschland nicht aufzubringen sein wird. 3. Reform in Österreich Österreich hat in diesem Punkt deutlich mehr steuerrechtspolitische Gestaltungskraft gezeigt als Deutschland. Bekanntlich hat Österreich das deutsche Steuerrecht 1938 zwangsweise übernehmen müssen, aber nach dem zweiten Weltkrieg freiwillig fortgeführt. Deshalb ist auch der dortige einkommensteuerrechtliche Einkünftekatalog mit dem deutschen kompatibel. So definiert § 22 öEStG die Einkünfte aus selbständiger Arbeit ähnlich wie in Deutschland, nämlich u. a. als Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit und sonstiger selbständiger Arbeit. Auch dort ist noch eine Abgrenzung zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb erforderlich, sie hat aber praktisch nur noch marginale Bedeu-

__________ 19 DStR 2009, Heft 44, VI. 20 SZ v. 25.2.2010. 21 Welt-Kompakt v. 25.2.2010; ferner SZ v. 2.3.2010.

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tung (z. B. für die gesetzliche Buchführungspflicht nach § 125 BAO, in Deutschland § 141 AO), weil seit 1994 die Gewerbesteuer durch eine Kommunalsteuer ersetzt worden ist, die auch Land- und Forstwirte und freie Berufe mit einbezieht22. Auch wenn diese österreichische Regelung nicht das Ideal einer Kommunalsteuerreform sein mag, so könnte man dennoch als deutscher Steuerjurist angesichts solcher Reformkraft vor Neid erblassen.

III. Verfassungsrechtliche Fragestellungen 1. Vorlagebeschlüsse des Niedersächsischen FG Die Willkürlichkeit der Unterscheidung von freien Berufen und Gewerbetreibenden zeigt sich ohne weiteres schon bei unbefangener Lektüre des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Das dort aufgelistete Sammelsurium von Berufen ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Warum ist etwa der Lotse im Katalog der freien Berufe enthalten, der staatlich geprüfte Bergführer hingegen nicht? Und wie ist die spitzfindige Unterscheidung zwischen einem „beratenden“ Betriebswirt und einem in sonstiger Weise selbständig tätigen Betriebswirt zu rechtfertigen? Wie sind solche Unterscheidungen mit dem Gebot gleichmäßiger Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vereinbar? Das wirft die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Regelung auf. Das Niedersächsische FG hat insoweit in verdienstvollem Beharrungsvermögen in drei aufeinander aufbauenden Vorlagebeschlüssen23 das BVerfG zu einer vertieften Prüfung in der Sache veranlasst24. Wie wir wissen, ist diese Prüfung im Ergebnis negativ ausgegangen. Gleichwohl sind die Ausführungen des Niedersächsischen FG, insbesondere im dritten, nochmals ergänzten Vorlagebeschluss25 das Beste, was jemals zu diesem Thema geschrieben worden ist. Und das Niedersächsische FG hat dem BVerfG eine Entscheidung gleichsam abgerungen, die, obwohl sie das geltende Recht als verfassungskonform bestätigt hat, den Rechtsanwender keineswegs in völliger verfassungsrechtlicher Hoffnungslosigkeit zurücklässt. Um dies darzustellen, ist ein kurzer Blick auf die Kernsätze des BVerfG erforderlich.

__________ 22 Dazu Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts, Band I, Wien 2007, 36, 542 ff. 23 Vorlagebeschluss – Einzelrichter – FG Nds. v. 23.7.1997 – IV 317/91, FR 1997, 864 = EFG 1997, 1456, als unzulässig verworfen durch Kammerbeschluss des BVerfG v. 5.5.1998 – 1 BvL 23/97, HFR 1998, 680; Vorlagebeschluss FG Nds. v. 24.6.1998 – IV 317/91, FR 1998, 1041, als unzulässig verworfen durch Kammerbeschluss des BVerfG v. 17.11.1998 – 1 BvL 10/98, BStBl. II 1999, 509 = FR 1999, 528 m. Anm. Paus; schließlich Vorlagebeschluss FG Nds. v. 21.4.2004 – 4 K 317/91, EFG 2004, 1065, ergänzt durch Beschluss FG Nds. v. 14.4.2005 – 4 K 317/91, EFG 2005, 1417, dazu Sachentscheidung durch Beschluss des BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 = FR 2008, 818 m. Anm. Keß. 24 Beschluss des BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 = FR 2008, 818 m. Anm. Keß. 25 Vorlagebeschluss FG Nds. v. 21.4.2004 – 4 K 317/91, FR 2004, 907 = EFG 2004, 1065, ergänzt durch Beschluss FG Nds. v. 14.4.2005 – 4 K 317/91, EFG 2005, 1417.

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2. Folgerungen aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04 a) Differenzierung zwischen Gewerbetreibenden und freien Berufen Im Grundsatz hat das BVerfG26 die Differenzierung zwischen Gewerbetreibenden und freien Berufen als nicht willkürlich angesehen. Gleichwohl enthalten die Ausführungen Anknüpfungspunkte für eine verfassungskonforme Rechtsanwendung in der Zukunft27. aa) Nach Aussage des BVerfG folgt nicht schon aus der Erwähnung der Gewerbesteuer in Art. 106 Abs. 6 GG, dass die Differenzierung zwischen Gewerbetreibenden und freien Berufen ohne weiteres mit dem Gleichheitssatz in Einklang steht. Die Vereinbarkeit der Gewerbesteuer mit dem Gleichheitssatz hängt vielmehr von ihrer konkreten Ausgestaltung, aber auch von der Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse bei den unterschiedlich behandelten Berufsgruppen ab. Weder aus dem Wortlaut der Grundgesetznorm noch aus deren systematischem Zusammenhang oder der Entstehungsgeschichte ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass die Gewerbesteuer auch insoweit verfassungsunmittelbar gerechtfertigt sein sollte, als sie nur Gewerbetreibende, nicht aber auch freie Berufe, sonstige Selbständige und Land- und Forstwirte erfasst. Daraus ist abzuleiten: Grundsätzlich ist die Ausgestaltung der Gewerbesteuer und damit auch der Tatbestand des § 18 EStG in allen seinen Merkmalen am Gleichheitssatz zu messen. Das kann in Grenzfällen Ansporn sein, im Wege der Gesetzesinterpretation den Versuch zu wagen, zur Verringerung der ungleichen Besteuerung im Binnenbereich des § 18 EStG beizutragen, soweit dies möglich ist. bb) Des Weiteren darf der Gesetzgeber nach Aussage des BVerfG an der Differenzierung zwischen Gewerbetreibenden und freien Berufen so lange festhalten, bis offen zutage tritt, dass im Hinblick auf den Steuergegenstand und die wesentlichen Besteuerungsmerkmale keine tragfähigen Unterschiede mehr zwischen diesen Berufsgruppen bestehen. Hierbei kommt es nicht auf Entwicklungen und Veränderungen bei einzelnen Berufsbildern oder zunehmende Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen bestimmten freien Berufen und insbesondere neuartigen Berufen steuerpflichtiger Gewerbetreibender an, sondern darauf, ob der Typus des freien Berufs sich dem der übrigen Gewerbetreibenden so angenähert hat und damit die traditionellen Unterschiede so weit eingeebnet sind, dass sich die unterschiedliche steuerliche Behandlung als willkürlich erweist. Für den Zeitpunkt des im Vorlagerechtsstreit maßgeblichen Veranlagungszeitraums 1988 lag nach Auffassung des BVerfG eine so weitgehende Angleichung

__________ 26 Beschluss des BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04 BVerfGE 120, 1 = FR 2008, 818 m. Anm. Keß. 27 Die Lage erscheint insoweit verfassungsrechtlich weniger hoffnungslos als im rechtspolitischen Bereich.

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der Berufsbilder von Gewerbetreibenden und freien Berufen (noch) nicht offen zutage und war auch für die Folgezeit nicht erkennbar. Damit ist indes nicht gesagt, dass dies für alle Zeiten unabänderlich so bleiben muss. Wenn die tatsächliche Konvergenz der gewerblichen und freiberuflichen Berufsbilder in Zukunft fortschreitet (und sich empirisch untermauern lässt), erscheint langfristig eine andere Beurteilung durchaus möglich. cc) Die vom BVerfG als Rechtfertigung für die typisierende Unterscheidung herausgestellten Merkmale der freien Berufe (insbesondere: die besondere Qualifikation oder schöpferische Begabung, die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung der Arbeit, verbunden mit einem häufig höchstpersönlichen Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber, wenig personalund produktionsmittelintensive Tätigkeit) können möglicherweise in Grenzfällen zur Abgrenzung zwischen freien Berufen und Gewerbetreibenden nutzbar gemacht werden. b) Zur Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG Das BVerfG hat zwar erkannt, dass das Gewicht der mit der Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG einhergehenden Ungleichbehandlung der Personengesellschaften erheblich ist, es hat die Regelung aber gleichwohl für „verfassungsrechtlich vertretbar“ gehalten. Einer der Rechtfertigungsgründe hierfür bestand darin, dass – so das BVerfG – die Belastung durch eine restriktive Interpretation der Vorschrift durch den BFH gemildert werde28. Das liest sich so, als habe der BFH den § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG in ständiger Rechtsprechung durchgängig einschränkend ausgelegt. Tatsächlich handelte es sich indes bisher im Wesentlichen um Einzelfallentscheidungen, insbesondere in Bagatellfällen, in denen nur ein äußerst geringfügiger Anteil an gewerblicher Betätigung festzustellen war. Immerhin hat das BVerfG nun diese einschränkende Auslegung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG durch den BFH gleichsam verfassungsrechtlich geadelt. Das sollte ein Ansporn für den BFH sein, diese einschränkende Rechtsprechung fortzusetzen und weiter auszubauen. Im Übrigen scheint die Rechtsprechung des BFH zu § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG mindestens partiell durchaus von schlechtem Gewissen gegenüber den Steuerpflichtigen umgetrieben zu werden. Dies zeigt sich daran, dass der BFH in ständiger Rechtsprechung die passende Umgehungsgestaltung gleich mitliefert. Danach können sich die Gesellschafter der Rechtsfolge der Abfärberegelung durch entsprechende gesellschaftsrechtliche Gestaltung, insbesondere durch die Gründung einer zweiten personenidentischen Gesellschaft, ohne

__________ 28 Unter Hinweis auf BFH, Urt. v. 6.10.2004 – IX R 53/01, BFHE 207, 466 = BStBl. II 2005, 383 = FR 2005, 144; v. 28.6.2006 – XI R 31/05, BFHE 214, 302 = BStBl. II 2007, 378 = FR 2007, 79 m. Anm. Wendt; v. 30.8.2001 – IV R 43/00, BFHE 196, 511 = BStBl. II 2002, 152 = FR 2002, 282; v. 11.8.1999 – XI R 12/98, BFHE 189, 419 = BStBl. II 2000, 229 = FR 1999, 1182 m. Anm. Wendt; v. 29.11.2001 – IV R 91/99, BFHE 197, 400 = BStBl. II 2002, 221 = FR 2002, 536.

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Weiteres entziehen29. Das ist schon recht merkwürdig. Üblicherweise tut sich der BFH nicht dadurch hervor, dass er Umgehungsgestaltungen anpreist. Und man könnte, wenn man von der Unbedenklichkeit des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG ausgeht, sogar die Frage aufwerfen, ob eine Gestaltung, bei der dieselben Steuerpflichtigen, die die Freiberufler-Gesellschaft betreiben, sich unter derselben Adresse in denselben Räumen und mit denselben Mitarbeitern zu einer parallel gewerblich tätigen Personengesellschaft zusammenschließen, um den Rechtsfolgen der Abfärbung zu entgehen, nicht einen gekünstelten Umweg darstellt, der als missbräuchliche Umgehung i. S. v. § 42 AO angesehen werden kann. Diese Frage wird jedoch durchweg verneint, ein Zeichen, dass der BFH durchaus bestrebt ist, die recht grobschlächtige Fiktion des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG abzumildern. Diesen Weg sollte der BFH im Interesse einer am Leistungsfähigkeitsprinzip orientierten gleichmäßigen Besteuerung möglichst weiter verfolgen. In diesem Zusammenhang ist noch auf ein Argument einzugehen, dass immer wieder zu lesen und zu hören ist: Die freien Berufe seien steuerrechtlich privilegiert, daher seien die Merkmale der freiberuflichen Tätigkeit möglichst eng auszulegen, um das Steuerprivileg nicht ausufern zu lassen. Das kann man indes so nur sagen, wenn man mit einer Art Tunnelblick allein Gewerbetreibende und freie Berufe miteinander vergleicht. Natürlich gibt es deutlich mehr Gewerbetreibende als Freiberufler, und so gesehen haben Freiberufler eine Sonderstellung. Ohne einen derartigen Tunnelblick stellt sich die Situation dagegen gänzlich anders dar: Es gibt sieben Einkunftsarten im EStG, aber nur eine einzige Einkunftsart, nämlich die Einkünfte aus Gewerbebetrieb, werden zur Finanzierung der Gemeinden mit einer zusätzlichen Steuer belastet. Bei Licht besehen kann daher von einer steuerlichen Privilegierung der freien Berufe keine Rede sein.

IV. Ausgewählte Problemfelder 1. Freiberufler-Personengesellschaft a) Einkauf in eine Einzelpraxis Die Freiberufler-Personengesellschaft wirft immer wieder bisher noch unentschiedene Fragen auf, obwohl es oft um recht einfache, fast alltägliche Sachverhalte geht: Wie ist die AfA-Berechtigung bei der Aufnahme eines Gesellschafters in eine freiberufliche Einzelpraxis gegen Zuzahlung in das Privatvermögen des aufnehmenden Gesellschafters zu beurteilen? Dazu hat der VIII. Senat entschieden30: Bei der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG sind die

__________ 29 BFH v. 10.11.1983 – IV R 86/80, BFHE 140, 44 = BStBl. II 1984, 152 = FR 1984, 261; v. 10.8.1994 – I R 133/93, BFHE 175, 357 = BStBl. II 1995, 171 = FR 1995, 20 m. Anm. Kempermann; v. 13.11.1997 – IV R 67/96, BFHE 184, 512 = BStBl. II 1998, 254 = FR 1998, 316; v. 19.2.1998 – IV R 11/97, BFHE 186, 37 = BStBl. II 1998, 603 = FR 1998, 890; v. 29.11.2001 – IV R 91/99, BFHE 197, 400 = BStBl. II 2002, 221 = FR 2002, 536. 30 BFH, Urt. v. 24.6.2009 – VIII R 13/07, BFHE 225, 402 = FR 2010, 26 m. Anm. Kanzler.

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Anschaffungskosten eines Gesellschafters für den Erwerb seiner mitunternehmerischen Beteiligung in einer steuerlichen Ergänzungsrechnung nach Maßgabe der Grundsätze über die Aufstellung von Ergänzungsbilanzen zu erfassen, wenn sie in der Überschussrechnung der Gesamthand nicht berücksichtigt werden können. Und ein zu Anschaffungskosten führender entgeltlicher Erwerb einer mitunternehmerischen Beteiligung, der zur Aufstellung einer Ergänzungsrechnung führen kann, liegt aus der Sicht des Erwerbers auch vor, wenn der bisherige Einzelinhaber seinen freiberuflichen Betrieb in eine neu gegründete GbR einbringt und der andere Gesellschafter für seinen zukünftigen Anteil an der Gesellschaft eine Zuzahlung in das Privatvermögen des ehemaligen Einzelinhabers erbringt. Ein Mitunternehmeranteil wird im Regelfall (bei bestehender Personengesellschaft) von einem ausscheidenden Gesellschafter erworben. Ein entgeltlicher Erwerb einer mitunternehmerischen Beteiligung, der zur Aufstellung einer Ergänzungsbilanz führen kann, liegt aus der Sicht des Erwerbers jedoch auch vor, wenn der bisherige Einzelinhaber seinen freiberuflichen Betrieb in eine neu gegründete GbR einbringt und der andere Gesellschafter für seinen Anteil an der Gesellschaft eine Zuzahlung in das Privatvermögen des ehemaligen Einzelinhabers erbringt. Steuerrechtlich werden bei einer Einbringung gegen Zuzahlung in das Privatvermögen des Einbringenden die Tatbestände der Veräußerung und der Einbringung von Betriebsvermögen miteinander verbunden. Soweit der künftige Mitgesellschafter für die Einbringung ein Entgelt an den Einbringenden zahlt, stellt sich der Vorgang im Verhältnis der Gesellschafter zueinander als Veräußerung dar31. Diese steuerrechtliche Wertung hat nicht nur für die Besteuerung des Veräußerers Bedeutung (bei der es sich – wie der Große Senat 1999 entschieden hat32 – nicht um eine begünstigte Veräußerung handelt). Die entsprechende steuerrechtliche Beurteilung ist vielmehr auch der Besteuerung des Erwerbers zugrunde zu legen. Der die Zuzahlung erbringende Gesellschafter erstrebt eine mitunternehmerische Beteiligung an der zu Erwerbszwecken gegründeten Gesellschaft. Dafür erbringt er die vereinbarte Zahlung. Sie ist mithin darauf gerichtet, einen im Wege der Einbringung vom anderen Partner noch zu schaffenden Mitunternehmeranteil entgeltlich zu erwerben. Der die Zuzahlung Leistende erwirbt dadurch von dem zur Einbringung verpflichteten Gesellschafter bei wirtschaftlicher Betrachtung des Vorgangs letztlich gegen Entgelt einen von dessen Betrieb oder Mitunternehmeranteil „abgespaltenen“ Mitunternehmeranteil33. Letztlich erwirbt der die Zuzahlung leistende Gesellschafter aufgrund der Einbringung unmittelbar anteiliges Gesamthandseigentum an den zum Gesellschaftsvermögen gehörenden Wirtschaftsgütern. Das hat zur Folge, dass die Aufwendungen des Erwerbers, soweit sie als Anschaf-

__________

31 Vgl. BFH v. 23.6.1981 – VIII R 138/80, BFHE 135, 551, BStBl. II 1982, 622 = FR 1982, 357 und BFH v. 8.12.1994 – IV R 82/92, BFHE 176, 392, BStBl. II 1995, 599 = FR 1995, 385. 32 BFH v. 18.10.1999 – GrS 2/98, BFHE 189, 465 = BStBl. II 2000, 123 = FR 2000, 143 m. Anm. Kempermann. 33 So bereits M. Groh, DB 2001, 2162.

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fungskosten für die Anteile an den Wirtschaftsgütern des (bilanzierten und des nicht bilanzierten) Gesellschaftsvermögens anzusehen sind, in einer steuerlichen Ergänzungsbilanz zu aktivieren sind, soweit sie den Betrag der auf den Erwerber übergehenden Buchwerte übersteigen34. Die für die Aufstellung von Ergänzungsbilanzen in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze sind nach der Entscheidung des VIII. Senats35 entsprechend anzuwenden, wenn die Personengesellschaft ihren Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG durch Einnahmen-Überschussrechnung ermittelt. Die Anschaffungskosten für einen entgeltlich erworbenen Mitunternehmeranteil sind dann in einer steuerlichen Ergänzungsrechnung zu erfassen, soweit sie in der Überschussrechnung der Gesamthand nicht berücksichtigt werden können36. An die Stelle des Kapitalkontos treten die anteilig im Umfang der erworbenen Beteiligung auf den Gesellschafter entfallenden Buchwerte derjenigen Wirtschaftsgüter, die nach den auch für die Einnahmen-Überschussrechnung geltenden Vorschriften über AfA oder Substanzverringerung von der Gesellschaft zu erfassen sind (§ 4 Abs. 3 Satz 3 EStG i. V. m. §§ 7 ff. EStG). Auffällig an dieser Entscheidung ist, welch blumige, durchaus auf Phantasie hindeutende Formulierung („abgespaltener Mitunternehmeranteil“) der BFH zu verwenden gezwungen ist, um den wirtschaftlichen Gehalt des Vorgangs steuerrechtlich hinsichtlich der AfA-Befugnis zutreffend abzubilden. Formallogisch ist diese Beurteilung indes durchaus nicht zweifelsfrei. Denn beim Eintritt in eine bestehende Praxis gegen Zahlung an den bisherigen Alleininhaber besteht streng genommen noch kein Mitunternehmeranteil, der veräußert oder erworben werden könnte. Der Mitunternehmeranteil wird durch den Gründungsakt der GbR erst zur Entstehung gebracht. b) Freiberuflereigenschaft jedes Gesellschafters erforderlich Nach der auf einer langen Tradition beruhenden ständigen Rechtsprechung entfaltet eine Personengesellschaft nur dann eine Tätigkeit, die die Ausübung eines freien Berufes i. S. v. § 18 EStG darstellt, wenn sämtliche Gesellschafter die Merkmale eines freien Berufes erfüllen37. Das beruht auf der besonderen Charakteristik der freiberuflichen Tätigkeit. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Freiberuflichkeit können nicht von der Personengesellschaft selbst, sondern nur von den natürlichen Personen erfüllt werden. Für eine selbständige Arbeit i. S. v. § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ist die persönliche Berufsqualifikation und eine berufsbezogene Tätigkeit des Steuerpflichtigen prägend. Um die Merkmale eines freien Berufes zu erfüllen, müssen die Gesellschafter zu-

__________ 34 Vgl. BFH v. 18.2.1993 – IV R 40/92, BFHE 171, 422 = BStBl. II 1994, 224 = FR 1993, 839. 35 BFH v. 24.6.2009 – VIII R 13/07, BFHE 225, 402 = FR 2010, 26 m. Anm. Kanzler. 36 Ebenso Ley, Kölner Steuerdialog 9/2001, 12982 (12983); Reiß in Kirchhof, EStG, 9. Aufl. 2010, § 15 Rz. 244 . 37 BFH v. 4.7.2007 – VIII R 77/05, BFH/NV 2008, 53; v. 15.5.1997 – IV R 33/95, BFH/NV 1997, 751, m. w. N.; v. 11.6.1985 – VIII R 254/80, BFHE 144, 62 = BStBl. II 1985, 584 = FR 1985, 568.

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mindest in ihrem Bereich leitend und eigenverantwortlich tätig sein38. Darin unterscheiden sich die Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit von allen anderen Einkunftsarten, bei denen es keinerlei Probleme verursacht, wenn der Steuerpflichtige die betreffende erwerbswirtschaftliche Tätigkeit nicht persönlich ausübt, sondern durch Mitarbeiter, Vertreter oder Subunternehmer ausüben lässt. Demgegenüber erfordert § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG die höchstpersönliche freiberufliche Tätigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen. Deshalb ist es bei einer Freiberufler-GbR auch ausgeschlossen, die Einkunftsart auf der Gesellschaftsebene anders zu bestimmen als auf der Ebene des Gesellschafters und insoweit nach den Grundsätzen der Zebra-Gesellschaft zu verfahren. Wenn ein Gesellschafter in seiner Person nicht die Voraussetzungen einer freiberuflichen Tätigkeit erfüllt, dann kann auch die GbR, an der er mitunternehmerisch beteiligt ist, keine Einkünfte aus selbständiger Arbeit nach § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG mehr erzielen. Aus diesem Grundsatz können sich für die Betroffenen steuerrechtliche Rechtsfolgen ergeben, die man in manchen Fallkonstellationen nur als fatal bezeichnen kann. Einige Beispiele dazu sollen im Folgenden dargestellt werden. c) Kapitalgesellschaft als Gesellschafter Eine nach den eben skizzierten Grundsätzen schlüssige Rechtsfolge ergibt sich allerdings dann, wenn eine Kapitalgesellschaft, deren Anteilseigner sämtlich Freiberufler sind, sich mitunternehmerisch an einer Freiberufler-GbR beteiligt. Dann erzielt die Personengesellschaft insgesamt gewerbliche Einkünfte39. Dies liegt wiederum an der Besonderheit der Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit, die durch die persönliche Qualifikation des Steuerpflichtigen geprägt sind. Eine Kapitalgesellschaft erzielt kraft Gesetzes nur Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 8 Abs. 2 KStG). Sie kann selbst nicht freiberuflich tätig sein, etwa als Rechtsanwalt Rechtsrat erteilen oder als Zahnarzt den Bohrer einsetzen. Das können nur die hinter der Kapitalgesellschaft stehenden natürlichen Personen. Auch eine GmbH, die ausschließlich von Rechtsanwälten betrieben wird, erzielt daher gewerbliche Einkünfte. Andernfalls würde man für die Bestimmung der Einkunftsart durch die GmbH durchgreifen, was nicht nur im Zivilrecht, sondern gerade auch im Steuerrecht grundsätzlich ausscheidet. Folglich handelt es sich bei der von Freiberuflern beherrschten GmbH, die als Mitunternehmer an einer Freiberufler-GbR beteiligt ist, um einen nicht nach § 18 EStG tätigen, sondern einen gewerblich tätigen Gesellschafter, eine berufsfremde Person. Das führt dazu, dass die GbR die Voraussetzungen der freiberuflichen Tätigkeit nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG insgesamt nicht zu erfüllen vermag. Der Anwendung der Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG, die in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert wird, und zwar auch vom

__________

38 BFH v. 23.11.2000 – IV R 48/99, BFHE 193, 482 = BStBl. II 2001, 241 = FR 2001, 303 m. Anm. Kempermann; in BFH v. 4.7.2007 – VIII R 77/05, BFH/NV 2008, 53. 39 BFH v. 8.4.2008 – VIII R 73/05, BFHE 221, 238 = BStBl. II 2008, 681, mit kritischer Anmerkung Th. Keß, FR 2008, 1021; ferner M. Wendt, EStB 2008, 245; ebenso BFH v. 20.4.2007 – IV R 70/05, BFHE 219, 86 = BStBl. II 2008, 265 = FR 2008, 275.

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BFH, bedarf es für diese Rechtsfolge in Wahrheit nicht. Der Schlüssel liegt vielmehr in den allein auf natürliche Personen zugeschnittenen Merkmalen der Freiberuflichkeit gem. § 18 EStG. Nichts anderes folgt im Übrigen daraus, dass neuerdings Berufsträger der steuer- und rechtsberatenden Berufe Gesellschafter einer Personen- oder Kapitalgesellschaft sein dürfen. Nun ist also eine GmbH & Co. KG berufsrechtlich zulässig, deren Kommanditisten sowie die Gesellschafter der Komplementär-GmbH Berufsträger sind. Auch mehrstöckige Gebilde solcher Gesellschaften sind erlaubt. Es ergibt sich aber schon aus der Entstehungsgeschichte der neuen berufsrechtlichen Regelung des § 50 Abs. 1 StBerG, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine Steuerberatungs-GmbH & Co. KG gewerbliche Einkünfte erzielt40. d) Interprofessionelle Freiberufler-GbR Die Regelung des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG setzt indes nicht voraus, dass die Gesellschafter einer Freiberufler-GbR sämtlich demselben Typ von freiem Beruf angehören. Grundsätzlich ist, so hat es der IV. Senat des BFH schon im Jahr 2000 entschieden, eine Personengesellschaft aus verschiedenen freien Berufen zulässig41. Danach ist es für die Freiberuflichkeit nicht erforderlich, dass jeder Gesellschafter in allen Unternehmensbereichen leitend tätig ist und an jedem Auftrag mitarbeitet. Vielmehr reicht es aus, dass die Berufsträger die mit einem übernommenen Auftrag verbundenen Aufgaben untereinander aufteilen und jeder den ihm zugewiesenen Aufgabenbereich aufgrund seiner Sachkenntnis eigenverantwortlich leitet42. Nach der Entscheidung des IV. Senats43 wird eine gewerbliche Tätigkeit auch dann nicht ausgeübt, wenn jeder der unterschiedlichen Gesellschafter nur auf dem Gebiet (leitend) tätig ist, für das er seine fachliche Qualifikation nachgewiesen hat und für das er eine entsprechende Zulassung besitzt. Wie weit in derartigen Fällen die Arbeitsteilung reichen darf, ohne dass steuerrechtliche Risiken entstehen, ist indes noch nicht abschließend geklärt. Ein solches Risiko könnte etwa entstehen, wenn ein Gesellschafter die Arbeitsteilung so weit treibt, dass er auf dem Fachgebiet eines anderen Gesellschafters tätig wird, für das er nicht die berufliche Qualifikation besitzt. Schließen sich etwa ein Arzt und ein Rechtsanwalt in einer GbR zusammen, um gemeinsam auf dem Gebiet ärztlicher Kunstfehler als Berater und Gutachter tätig zu werden, so könnte es heikel werden, wenn der Arzt Rechtsrat erteilt oder der Rechtsanwalt medizinische Fragen abhandelt. Die hier liegenden steuerlichen Untiefen sind noch nicht ausgelotet.

__________ 40 BT-Drucks. 16/7077, 36; ebenso Schmidt-Keßeler, DStR 2008, 525; M. Wendt, EStB 2008, 245. 41 BFH v. 23.11.2000 – IV R 48/99, BFHE 193, 482 = BStBl. II 2001, 241 = FR 2001, 303 m. Anm. Kempermann. 42 So bereits BFH v. 16.7.1964 – IV 372/62, StRK EStG bis 1974, § 18, Rechtsspruch 336, und BFH v. 20.4.1989 – IV R 299/83, BFHE 157, 106 = BStBl. II 1989, 727 = FR 1990, 26. 43 S. Fn. 41.

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e) Doppelstöckige Freiberufler-GbR mit berufsfremdem Gesellschafter Einen weiteren Fall eines heiklen interprofessionellen Zusammenschlusses, diesmal aber mit fatalen Rechtsfolgen, bildet die Freiberufler-Personengesellschaft zwischen einem Diplom-Kaufmann und Ingenieuren44. An einer großen GbR aus zahlreichen Ingenieuren, die Großprojekte durchführte, war auch ein Diplom-Kaufmann mit einem Zwerganteil von rund 3 v. H. (mittelbar) beteiligt. Er war für die betriebswirtschaftlichen Leitungs- und Steuerungsaufgaben der Gesamtgesellschaft zuständig. Der BFH nahm deshalb gewerbliche Einkünfte der gesamtem Ingenieur-GbR an: Eine sog. interprofessionelle Freiberufler-Personengesellschaft zwischen einem Diplom-Kaufmann und Ingenieuren ist danach nur dann anzuerkennen, wenn auch der Kaufmann-Gesellschafter die Merkmale eines freien Berufs in eigener Person erfüllt. Der Kaufmann-Gesellschafter ist aber weder als beratender Betriebswirt noch sonst freiberuflich tätig, wenn er lediglich kaufmännische Leitungsaufgaben und sonstige Managementaufgaben innerhalb des Unternehmens, an dem er beteiligt ist, wahrnimmt und die Ingenieur-Gesellschafter von diesen Aufgaben entlastet. Dieser Fall ist deshalb so brisant, weil die oben erwähnten, vom BVerfG herausgestellten typischen Merkmale der Freiberuflichkeit, welche die ungleiche Belastung im Vergleich zu den Gewerbetreibenden rechtfertigen sollen, sämtlich erfüllt sind: Sämtliche Gesellschafter, auch der beteiligte Diplom-Kaufmann, verfügten über eine besondere, hier sogar akademische Qualifikation, nahmen ihre Aufgaben persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig wahr und übten eine wenig personal- und produktionsmittelintensive Tätigkeit aus. So gesehen sprach einiges für eine arbeitsteilig organisierte interprofessionelle Freiberufler-GbR. Der für diesen Fall zunächst zuständige IV. Senat hatte im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durchaus in diese Richtung gedacht und mit der Begründung die Vollziehung ausgesetzt, der Streitfall unterscheide sich von den bisher entschiedenen Fällen, in denen ein Gesellschafter originär gewerbliche Tätigkeiten ausgeübt oder nicht über die Qualifikation oder Zulassung verfügt habe, die für die von ihm im Rahmen der Gesellschaft ausgeübte Beratungstätigkeit erforderlich gewesen wäre45. Im anschließenden Revisionsverfahren hat der VIII. Senat es jedoch nicht vermocht, diesen gedanklichen Ansatz weiter zu entfalten. Dies deshalb, weil im Text des § 18 unter den freien Berufen ausdrücklich nur der „beratende“ Betriebswirt aufgeführt ist. Da das eher zufällig wirkende Sammelsurium der dort aufgezählten Berufe keinen gemeinsamen Nenner und keinen nachvollziehbaren Gesetzeszweck erkennen lässt und die Vorschrift auch ansonsten in ihrem Binnenbereich keinerlei Systematik aufweist, ist eine teleologische Interpretation hier nicht möglich. Deshalb ist die Rechtsprechung hier auf eine mehr oder weniger schlichte, um nicht zu sagen einfallslose Wortlautinterpretation zurückgeworfen. Und da in § 18 eben nur „beratende“ Betriebswirte genannt

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44 BFH v. 28.10.2008 – VIII R 69/06, BFHE 223, 206 = BStBl. II 2009, 642 = FR 2009, 667 m. Anm. Kanzler. 45 BFH v. 20.12.2006 – IV S 16/06, BFH/NV 2007, 445.

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sind, die betriebliche Lenkungstätigkeit des Kaufmann-Gesellschafters auch bei gutem Willen nicht als „Beratung“ anzusehen war, hat der VIII. Senat die Voraussetzungen der Freiberuflichkeit verneint. Auch die Tatsache, dass die Beteiligung des Kaufmann-Gesellschafters nur 3 v. H. betrug, hat den BFH nicht zu einer anderen Beurteilung bewogen. Das Erfordernis, dass jeder Gesellschafter für sich Freiberufler sein muss, gilt unabhängig vom Umfang der Beteiligung. Es handelte sich in diesem Fall um eine doppelstöckige Ingenieur-GbR, die konzernartig strukturiert war. Auch die Holding als Obergesellschaft legte Revision zum BFH ein, um der Gewerbesteuerpflicht zu entgehen. Auch sie blieb indes erfolglos46, und zwar deshalb, weil die Wahrnehmung geschäftsleitender Funktionen innerhalb einer Gruppe von Unternehmen keine Ausübung eines freien Berufs i. S. v. § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG darstellt. Dies alles zeigt jedenfalls auch, dass die steuerrechtlichen Risiken der Freiberufler-Personengesellschaft umso deutlicher hervortreten, je größer und komplizierter strukturiert die Gesellschaft ist, und je ausgeprägter die Gesellschafter ihre Aufgaben arbeitsteilig organisieren. 2. Abgrenzung der freiberuflichen von der gewerblichen Tätigkeit a) Grundsätzlich Aufteilung der Einkünfte geboten Für Einzelunternehmer, die sowohl freiberuflich als auch gewerblich tätig sind, gibt es keine Vorschrift, die zur Abfärbung oder Infektion von Einkünften zwingt. Deshalb sind, wenn ein Steuerpflichtiger die Merkmale beider Einkunftsarten erfüllt, die Einkünfte so weit wie möglich, notfalls sogar durch Schätzung aufzuteilen. Der VIII. Senat hat diesen Grundsatz 2008 in einem Fall umgesetzt47, in dem zwei Ingenieure ein Ingenieurbüro betrieben, der zweite Ingenieur aber nicht, wie zunächst angenommen Mitunternehmer, sondern faktisch Angestellter des ersten Ingenieurs war. Da beide Ingenieure jeweils einzelne Aufträge und Projekte eigenverantwortlich und leitend betreut hatten, war trotz der gleichartigen Tätigkeit eine – ggf. im Schätzungswege vorzunehmende – Aufteilung der Einkünfte nicht ausgeschlossen mit der Folge, dass die vom Unternehmensinhaber selbst betreuten Aufträge und Projekte der freiberuflichen Tätigkeit zuzuordnen waren, und nur die von dem Angestellten betreuten Aufträge und Projekte zu gewerblichen Einkünften führten. b) Berufe rund um die moderne Informationstechnologie Von gleichermaßen dogmatischer Brisanz wie auch praktischer Bedeutung sind drei Urteile vom 22.9.2009 zu den neuartigen Berufsbildern rund um die moderne Informationstechnologie.

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46 BFH v. 28.10.2008 – VIII R 73/06, BFHE 223, 218 = BStBl. II 2009, 647 = FR 2009, 663 m. Anm. Kanzler. 47 BFH v. 8.10.2008 – VIII R 53/07, BFHE 223, 272 = BStBl. II 2009, 143 = FR 2009, 429.

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In der Leitentscheidung hat der VIII. Senat entschieden, dass ein als Systemadministrator tätiger Diplom-Ingenieur für technische Informatik einen freien Beruf ausüben kann48. Hier stand der Senat vor der Frage, was ist ein „Ingenieur“ i. S. v. § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG? Durch die Aufnahme in die Regelung des § 18 EStG wird der Begriff des Ingenieurs ein Terminus des Steuerrechts. Er ist aber im EStG oder anderen Steuergesetzen nicht definiert, er lässt sich auch nicht aus steuerrechtlichen Sachgesetzlichkeiten oder Steuerrechtsprinzipien ableiten. Vielmehr kann dieser Begriff nur durch die Anschauungen außerhalb des Steuerrechts, der Verkehrsanschauung, sozusagen aus dem wirklichen Leben heraus, konkretisiert werden. Für den Richter, ist das eine ungewohnte Aufgabenstellung. Er muss seinen Elfenbeinturm vorübergehend verlassen und die Außenwelt studieren. Die Rechtsprechung greift hier traditionell auf zwei Prüfparameter zurück: Ingenieur i. S. v. § 18 EStG ist, wer über die erforderliche Berufsqualifikation verfügt und wer eine Ingenieurtätigkeit tatsächlich ausübt. Über die Qualifikation eines Ingenieurs verfügt, wer aufgrund seiner Ausbildung an einer wissenschaftlichen Hochschule, einer Fachhochschule, einer Bergschule oder – wie hier erstmals entschieden – an einer staatlichen Berufsakademie nach den Ingenieurgesetzen der Länder die Berufsbezeichnung Ingenieur führen darf. Das ist jeweils ohne größeren Aufwand eindeutig festzustellen. Schwieriger ist der zweite Teil der Prüfung: Ein Ingenieur fällt nur dann in den Anwendungsbereich des § 18 EStG, wenn er eine Tätigkeit ausübt, die von für den Ingenieurberuf typischen Aufgaben geprägt ist. Was ingenieurtypisch ist, bestimmt sich nach der Verkehrsanschauung also danach, was vernünftige Leute gewöhnlich so meinen (oder was der Richter nach seiner Wahrnehmung der Außenwelt für allgemein akzeptiert hält). Diese Wahrnehmung wandelt sich naturgemäß im Lauf der Zeit. Deshalb läuft der Richter ständig Gefahr, sich in einer logischen Endlosschleife zu verfangen. Hielte er sich nur an die überkommenen Präjudizien und Lehrmeinungen, so stünde heute das Verständnis dessen, was ein Ingenieur ist, womöglich noch am Wendepunkt vom 19. zum 20. Jahrhundert. Danach könnte ein Ingenieur nur konstruieren oder bauen, was es damals schon gab, etwa Maschinen, Bergwerke, Häuser, Fabriken, Lokomotiven und Fuhrwerke, aber keine Autos, Flugzeuge oder Raketen und erst Recht keine Computer, denn so etwas gab es damals noch nicht. Was ingenieurtypische Aufgaben sind, muss der Richter also jeweils anhand der aktuellen Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik zu verstehen versuchen. Das wird umso schwerer, je komplizierter die Materie ist und je schneller sich die Entwicklung vollzieht. Rund um die moderne Informationstechnologie entstehen neue berufliche Aufgabenfelder heute so schnell, dass die Justiz Mühe hat, Schritt zu halten. Ursprünglich hatte der BFH entschieden, dass auf dem Gebiet der EDV und Informationstechnik die „Entwicklung und Konstruktion von Hard- und Software“ zu den Ingenieurtätigkeiten ge-

__________ 48 BFH v. 22.9.2009 – VIII R 31/07, DStR 2010, 214.

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hören. „Entwicklung und Konstruktion“, das klingt auf den ersten Blick noch recht traditionell, wie eine Reminiszenz aus der Dampfmaschinenzeit. Der BFH hatte damit indes durchaus nicht entschieden, dass nur oder ausschließlich „Entwicklung und Konstruktion“ von Hard- und Software freiberuflich sein könnten. So eng war die BFH-Rechtsprechung nicht gemeint, aber sie ist zum Teil von den Finanzgerichten so verstanden worden. Nunmehr hat der VIII. Senat des BFH klargestellt, dass die ingenieurtypischen Tätigkeiten im IT-Bereich deutlich weiter reichen, also u. a. auch die Entwicklung und Anpassung von Betriebssystemen, den Aufbau und die Verwaltung von Netzwerken und vieles mehr umfassen. Zur Begründung hat der Senat insoweit die Internetseite der Bundesagentur für Arbeit herangezogen in der Hoffnung, damit eine gleichermaßen kompetente wie aktuelle Erkenntnisquelle zur Ermittlung er „Verkehrsanschauung“ gefunden zu haben. Zur ingenieurähnlichen Tätigkeit im Bereich der IT-Berufe sind die beiden anderen Urteile vom 22.9.2009 ergangen49. Danach kann auch ein Autodidakt auf dem Gebiet der Informationstechnologie freiberuflich tätig sein. Erforderlich ist zunächst, dass er über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die in Breite und Tiefe denen eines Diplom-Informatikers entsprechen. Diese Kenntnisse müssen durch das FG als Tatsacheninstanz ermittelt werden, notfalls durch Sachverständigengutachten. Unter dieser Voraussetzung kann ein Autodidakt einen ingenieurähnlichen und damit freien Beruf ausüben, wenn er komplexe IT-Projekte leitet oder Betriebs- und Datenübertragungssysteme einrichtet und betreut. Auch wenn der VIII. Senat des BFH hier die Rechtsprechung ein Stück weit fortentwickelt und die Hürden für die Anerkennung der Freiberuflichkeit etwas gesenkt hat, so zeigt sich doch, wie geradezu grotesk sich diese Dauerbaustelle des Steuerrechts entwickelt hat: Die Steuerpflichtigen sind je nach Sachlage gezwungen, vor dem FG ein zusätzliches Examen abzulegen, und da das FG in der Regel von dem bestreffenden Fachgebiet nichts versteht und auch gar nichts verstehen kann, liegt die letzte Entscheidung faktisch in der Hand des vom Gericht bestellten Sachverständigen, der eine Art Examensprüfer für steuerrechtliche Zwecke ist. Hier zeigt sich erneut und besonders plastisch die von Joachim Lang zu Recht angeprangerte Verschwendung richterlicher Arbeitskraft für sinnentleerte, geradezu bizarre Abgrenzungsfragen50. c) Rechtsanwälte als Berufsbetreuer Ein weiteres ungelöstes Problemfeld betrifft die Tätigkeit von Rechtsanwälten als Berufsbetreuer. Der IV. Senat des BFH hat im Jahr 2004 entschieden, dass ein berufsmäßiger Betreuer Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt51. Kläger in jenem Verfahren war ein ausgebildeter Diplom-Pädagoge und Gestalttherapeut.

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49 BFH v. 22.9.2009 – VIII R 79/06, BFH/NV 2010, 499, und BFH v. 22.9.2009 – VIII R 63/06, BFH/NV 2010, 497. 50 J. Lang, a. a. O., (Fn. 5), § 9 Rz. 428 a. E. 51 BFH v. 4.11.2004 – IV R 26/03, BFHE 208, 280 = BStBl. II 2005, 288 = FR 2005, 491.

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Auch diese Entscheidung lässt sich durchaus hinterfragen. Sie soll aber hier als Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen zugrunde gelegt werden. Denn es geht hier darum, ob die rechtlichen Maßstäbe dieser Entscheidung auch dann gelten, wenn ein Rechtsanwalt die Betreuungstätigkeit ausübt, so dass er dann gewerblich tätig ist, oder aber ob die berufliche Betreuung vom Berufsbild des Rechtsanwalts mit umfasst wird und damit freiberuflich ist. Rechtsprechung des BFH gibt es dazu noch nicht, aber einige interessante finanzgerichtliche Entscheidungen. So hat das FG Hamburg in einem rechtskräftigen Urteil entschieden52: Ein berufsmäßiger Betreuer i. S. d. §§ 1896 ff. BGB erzielt aus dieser Tätigkeit auch dann Einkünfte aus Gewerbebetrieb, wenn er Rechtsanwalt ist. Das FG Hamburg hat also die vom IV. Senat des BFH für den Gestalttherapeuten entwickelte Argumentationsschiene auf den Rechtsanwalt übertragen. Das ist für den konkret entschiedenen Fall noch einigermaßen nachvollziehbar. Die Einkünfte des Klägers als Betreuer beliefen sich in jenem Fall nämlich auf rd. 23.000 Euro, seine Einkünfte als Rechtsanwalt aber nur auf rd. 2.800 Euro. Anders ist das Bild indessen in einem vom FG Münster entschiedenen Fall53. Hier ging es um eine Anwaltssozietät, deren Tätigkeitsfeld zu 80 v. H. aus Berufsbetreuung bestand. Dazu hat das FG Münster entschieden: Die von den Gesellschaftern einer Anwaltssozietät ausgeübte berufsmäßige Betreuungstätigkeit ist eine gewerbliche Tätigkeit i. S. d. § 15 EStG. Und da es um eine Sozietät geht, kommt auch hier wieder die Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG ins Spiel: Konsequenterweise hat das FG Münster entschieden, dass die Anwaltssozietät, die aufgrund der Anwaltstätigkeit zu ca. 80 v. H. als Berufsbetreuer und damit gewerblich tätig ist, insgesamt gewerbliche Einkünfte erzielt. Der Fall hat den VIII. Senat veranlasst, die Revision zuzulassen54, weil dieses Problemfeld einer gründlichen Prüfung bedarf. Wäre es richtig, die Rechtsprechung des IV. Senats zum Gestalttherapeuten als Berufsbetreuer55 ohne Einschränkung auf Rechtsanwälte zu übertragen, so drohte folgendes Szenario: Man stelle sich eine große Anwaltssozietät mit 50 Partnern vor. Ein seit Jahren der Sozietät verbundener Mandant hat einen Familienangehörigen, der auf die alten Tage wunderlich und hilflos wird und deshalb der Betreuung bedarf. Der Mandant bitte die Sozietät, die Betreuung zu übernehmen, daraufhin wird der jüngste Sozius mit dieser Aufgabe betraut. Nach dem Argumentationsmuster des FG Münster wären nun mit einem Schlag alle Einkünfte der aus 50 Anwälten bestehenden Sozietät als Einkünfte aus Gewerbebetrieb zu beurteilen. Dieses Szenario verdeutlicht, dass die ihm zugrunde liegenden rechtlichen Prämissen überprüfungsbedürftig sind. Es bedarf einer vertieften Diskussion, ob es tatsächlich richtig ist, die Betreuungstätigkeit von Rechtsanwälten als gewerbliche Tätigkeit einzustufen. Es lässt sich nämlich mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass die Be-

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FG Hamburg v. 17.11.2008 – 6 K 159/06, EFG 2009, 412. FG Münster v. 17.6.2008 – 1 K 5087/06 G, EFG 2008, 1729. Az. VIII R 10/09. S. Fn. 51.

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treuung nach den §§ 1896 ff. BGB durchaus in das typische Berufsbild des Rechtsanwalts passt. Bei der Betreuung handelt es sich um eine vom Vormundschaftsgericht zugewiesene Aufgabe, die nach bestimmten gesetzlichen Regeln abläuft und die rechtlich determinierte fremdnützige Interessenvertretung für den betreuten Menschen umfasst56. Das ist keine dem Rechtsanwaltsberuf wesensfremde Tätigkeit57. Dagegen spricht nicht, dass auch andere Berufsgruppen als Berufsbetreuer tätig sein können. Es gibt nämlich zahlreiche Tätigkeiten, die üblicherweise zum Berufsbild des Rechtsanwalts gehören, aber auch von anderen Personen ausgeübt werden können. So gibt es zahlreiche Prozessarten, in denen kein Anwaltszwang besteht und auch andere Vertreter auftreten können, so etwa auch Mietervereine in Mietstreitigkeiten, Lohnsteuer-Hilfevereine im Finanzgerichtsprozess und dgl. mehr. Die rechtstatsächliche Dimension des Problems hat eine informelle telefonische Erkundigung beim Vormundschaftsgericht in München verdeutlicht58. Danach werden Rechtsanwälte in etwa 20 % aller Fälle zu Betreuern bestellt, also durchaus nicht selten. Der Richter ist bei der Auswahl des Betreuers frei. Er soll Rechtsanwälte bestellen – und tut dies in der Praxis auch –, wenn der Fall rechtlich kompliziert ist, insbesondere wenn sehr große Vermögen zu betreuen sind, Streitigkeiten in Bezug auf diese großen Vermögen bestehen oder wenn bereits aktuelle Prozesse laufen. Wenn Rechtsanwälte komplizierte, aber wegen der niedrigen Vergütungssätze finanziell unattraktive Betreuungsfälle übernehmen, erhalten sie zum Ausgleich dafür auch leichtere Betreuungen. Wenn Rechtsanwalt-Betreuer laufende Prozesse führen, erhalten sie neben der Betreuervergütung die normalen Gebühren nach der BRAGO. Es gibt Rechtsanwälte und auch ganze Kanzleien, die sich auf Betreuung spezialisiert haben. Sie beschäftigen häufig zur Erledigung des Tagesgeschäfts in den Betreuungsfällen zahlreiche Mitarbeiter. d) Rechtsanwälte als Insolvenzverwalter Eine weitere durchaus spannende Fragestellung betrifft die Tätigkeit von Rechtsanwälten als Insolvenzverwalter59. Dazu sind im VIII. Senat mehrere Revisionen anhängig60. Auch hier stellt sich zunächst die Frage, ob diese Tätigkeit nicht zum anwaltlichen Berufsbild gehört. Auch hier handelt es sich um eine durch gerichtliche Entscheidung zugewiesene Sachwaltertätigkeit, die nach bestimmten gesetzlichen Regeln auszuüben ist und die rechtlich determinierte Funktion als Partei kraft Amtes anstelle des Insolvenzschuldners um-

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56 W. Arens, DStR 2010, 33. 57 Es gibt ältere Rechtsprechung, die die hier vertretene Auffassung stützt: BFH, Urt. v. 4.12.1980 – V R 27/76, BFHE 132, 136 = BStBl. II 1981, 193 = UR 1981, 76. 58 Dabei ist natürlich in Rechnung zu stellen, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ und auch nicht gerichtsförmig verwertbar sind. Die gewonnenen Informationen sind aber als Bausteine für die Diskussion durchaus aufschlussreich. 59 Dazu K. Siemon, ZInsO 2009, 1526; BB 2009, 1836. 60 FG Köln v. 28.5.2008 – 12 K 3735/05, EFG 2008, 1876 – Rev. VIII R 29/08; FG Hamburg v. 27.5.2009 – 2 K 72/07, EFG 2009, 1651 – Rev. VIII R 37/09; FG Nds. v. 18.8.2009 – 13 K 47/06 – Revision VIII R 50/09.

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fasst. Auch das sollte keine für einen Rechtsanwalt wesensfremde Tätigkeit sein. Beurteilt man diese Frage anders, so kommt man zur vermögensverwaltenden Tätigkeit i. S. v. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG. Dann stellt sich allerdings die weitere Frage, inwieweit der Einsatz von Hilfskräften aufgrund der schon vom RFH61 entwickelten sog. Vervielfältigungstheorie schädlich ist. Dazu ist zu bemerken, dass die Vervielfältigungstheorie nicht im Gesetz steht, sondern auf einer uralten Rechtsprechungstradition beruht62. Gegenüber von Gerichten erdachten Theorien, die sich nicht oder nur schwer aus dem Gesetz ableiten lassen, sollte man immer einen Rest Misstrauen bewahren. Dies gilt umso mehr, als der Gesetzgeber selbst ab 1960 durch die Regelung in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG Abhilfe geschaffen hat, weil die Vervielfältigungstheorie für Freiberufler als überzogen erschien. Freiberufler sind ja durch eine besondere Ausbildung und eine besondere persönliche Qualifikation herausgehoben. Es soll eben nur der Zahnarzt selbst den Bohrer ansetzen und niemand sonst. Wenn der Einsatz von Hilfskräften aber für Freiberufler aufgrund des Eingreifens des Gesetzgebers seit 1960 grundsätzlich zulässig ist, muss dann nicht mit einem argumentum a maiore ad minus, der Einsatz von Hilfskräften erst recht bei solchen Steuerpflichtigen zugelassen werden, die eine sonstige selbständige Arbeit gem. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG ausüben, für die gerade keine besondere Qualifikation erforderlich ist? Wo liegt nach der Gesetzesänderung noch die Rechtfertigung dafür, allein für diese nicht sonderlich qualifizierten Tätigkeiten den Einsatz von Hilfskräften als steuerschädlich anzusehen?

V. Schlussbemerkung Der Beitrag sollte zeigen, wie sehr Joachim Lang mit seiner Kritik Recht hat: In der Tat ist die Abgrenzung zwischen gewerblicher und freiberuflicher Tätigkeit weitgehend willkürlich, die Belastungsunterschiede verletzen evident den Gleichheitssatz. Die Gerichte verwenden ihre Ressourcen für sinnwidrige Haarspaltereien. Vom Steuergesetzgeber ist insoweit nicht ernsthaft eine Remedur zu erwarten. Das BVerfG hat es ebenfalls nicht vermocht, hier Grenzen zu ziehen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass sich die verfassungsrechtliche Beurteilung dereinst ändert. Aber das werden weder der Jubilar noch die Autoren dieser Festschrift noch erleben dürfen. Insoweit bleibt nur übrig, auf die nächste Forscher- und Richtergeneration zu setzen und darauf zu hoffen, dass wenigstens dort die Kraft der Argumentation Joachim Langs sich durchsetzen wird.

__________ 61 Vgl. RFH v. 3.2.1943 – VI 264/42, RFHE 53, 101. 62 Nun gibt es natürlich Theorien, die unangreifbar sind, etwa die Relativitätstheorie von Albert Einstein oder die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Eine solche „Theorie“ ist die „Vervielfältigungstheorie“ des RFH sicherlich nicht. Es scheint eine Eigenart der Juristen zu sein, jede Idee gleich als „Theorie“ zu verkaufen.

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The Taxation of Housing in the United States Table of contents I. Introduction II. The U.S. Federal Income Tax: General Characteristics 1. Application of General Federal Income Tax Principles to Gains, Losses, and Expenses of Housing 2. Non-Realized Gains; Deferral of Tax 3. Imputed Income 4. Basis Step-Ups III. U.S. Federal Income Tax Rules Specifically Designated for Housing 1. Gains Realized Upon Sale; I.R.C. § 121 2. Deduction for Home Mortgage Interest; I.R.C. § 163 (h)(3) 3. § 163(h); Statutory Rules 4. Deduction for State Real Property Taxes on Owner-Occupied Housing; I.R.C. § 164 (a)(1) 5. Losses: Market vs. Casualty/Disaster 6. Casualty Loss Rules and Their Application When a Home is Destroyed 7. Insured Losses to Residences Due to Presidentially-Declared Disaster 8. Other Special Rules a) Municipal Bond Interest b) Insurance proceeds – Presidentially-declared desaster IV. The Taxation of Rental Housing in the U.S. 1. Federal Income Tax; General

2. Gains and Losses on the Sale of Rental Housing Property 3. Depreciation of Residential Rental Property 4. Depreciation Recapture 5. Home Offices 6. Expenses Connected with the Rental of a Home by an Individual Taxpayer 7. The Low Income Housing Tax Credit 8. State Taxation V. State and Local Taxation of Owneroccupied Housing in the U.S. 1. Introduction 2. Tax Computation 3. Fiscal Role of Real Property Taxes VI. The Taxation of Residential Housing in the U.S.; Federal Income Tax; Policy, Evaluation, Reform 1. Reform and Policy Issues 2. Revenue Losses 3. Effects of Tax Rules 4. Reform Proposals 5. President’s Advisory Panel-2005 6. A Few Tentative Concluding Thoughts 7. Conclusions and Recommendations VII. Appendix Purchasing or Renting a Home – Tax Considerations VIII. Some References on U.S. Taxation of Housing

It is both an honor and a pleasure for me to contribute a paper to this celebration of the academic career of Professor Joachim Lang, a much admired friend since we first met in Köln in 1977 when I was on sabbatical leave and a visitor at Professor Klaus Tipke’s Tax Law Institute at the University. Joachim and his family were my friendly and generous hosts later when I visited the 511

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Institute while Professor Lang was the Director (again on sabbatical, in 1992, and at other times). Happily he visited at Berkeley in the 1990’s, and we have seen each other in Cologne and elsewhere on other occasions. The Tipke-Lang book has been a much admired prime reference source at Berkeley for decades, and Professor Lang’s other writings compose an excellent and distinguished body of scholarly work. The research and analysis for this paper was done in 2006–2007, and it discusses the fundamental tax rules that apply to owner-occupied housing in the United States. (They remain in effect in 2009, essentially unchanged.) But the paper does not attempt to deal with the economic crisis and housing market collapse of 2008–2009, or with the few housing-related tax law economic “stimulus” provisions (such as Federal and state temporary home-buyer tax credits* and Federal temporary relief from taxation of discharge of indebtedness income when it arises from “qualified principal residence indebtedness”** enacted as a result. The favorable tax treatment in the law described herein almost certainly played some causal role in the housing market changes in 2008. Thus this description of the basic income tax rules applicable to owneroccupied residential housing in the United States may provide some background and context for the housing market crisis in 2008–2009.***

I. Introduction The tax laws applicable to “housing” in the United States exert very powerful economic, social and demographic influences on U.S. society. They strongly influence the volume of personal investment in residences, the choice between owning and renting a home, urban and suburban populations, sales and retention incentives for homeowners, public finance decisions by governments and other financial and social structuring. “Housing” in the United States includes, of course, “owner-occupied” housing, such as detached, single-family houses or condominium apartments (and trailers or mobile homes or floating barges or sailboats on which some people live). It also includes rental properties (houses, apartments, mobile homes and boats, etc.) that are occupied by tenants who pay rent to the owner of the property. I will emphasize owner-occupied housing because of the special nature of the income tax allowances the U.S. has given it, but will also briefly

__________ *

The (temporary) First-time homebuyer tax credit is to be found in I.R.C. § 36, and has been expanded to some repeat homebuyers. ** See § 108(a)(1)(e) and (h). *** The paper has been published in Japanese, in Vol. 5 of the Journal of Taxation Studies published by the Japan Tax law Association, pp. 95–123 (May, 2007), thanks to the translation by Prof. Takeshi Fujitani of Hokkaido University of Law. I am also grateful to Mr. Isaac Zaur, Boalt class of 2007, who – as my research assistant – helped me find some valuable sources and statistics.

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describe U.S. taxation of rental/investment housing. (As of our last census, in 2000, 69.8 million American households were owners of their own homes.) “Taxation” in the U.S. includes Federal (national) taxation, such as by the Federal Income Tax (and other Federal taxes, such as Excise Taxes, the Estate and Gift Tax, Social Security payroll taxes and others) and also state and local (city, county, etc.) taxation in the fifty states (plus the District of Columbia), which may take the form of income or property taxes or retail sales or excise taxes or wealth taxes, documentary transfer stamp taxes, inheritance taxes, franchise taxes, motor vehicle taxes, or others. (We do not have a national Value Added Tax (VAT) in the United States.) I will emphasize Federal Income Taxation (often mirrored in the forty-plus states that have their own income tax systems) and State “real property” taxes (on land and buildings) as they apply to owner-occupied and rental housing in the U.S.A.

II. The U.S. Federal Income Tax: General Characteristics The U.S. Federal Income Tax contains some general characteristics or rules (both “explicit” and “implicit”) that have very important consequences for housing, often as subsidies or “tax expenditures”, and also are very costly as revenue losses in the national budget. The U.S. Federal Income Tax generally uses a “global” definition of income and attempts to tax, annually, “all income from whatever source derived” [See I.R.C. § 61(a)]”1. Consequently, it is fairly broad in coverage, with some explicit exclusions and deductions (for business or investment costs and for some personal expenses). Hence it basically taxes “net income”, or profit or gain, or increases in ability to consume or save. 1. Application of General Federal Income Tax Principles to Gains, Losses, and Expenses of Housing In accordance with the general principle of comprehensive taxation of income, and the “global” definition of gross income in I.R.C. § 61, the U.S. Federal Income Tax imposes itself on gains realized from selling or exchanging all property, even “personal-use” property such as an owner-occupied house or condominium. In other words, gains in a taxpayer’s “private sphere” are taxable and includable in income (often at (lower) capital gains rates), along with business or investment gains and even unusual accretions to income such as gambling winnings or found treasure trove or a Nobel Prize cash award. In contrast, personal expenses or costs, unlike costs of a business or investment, are not deductible. So, rental payments by a lessee to a landlord for a

__________ 1 Citations to “I.R.C.” are to sections of the U.S. Internal Revenue Code of 1986, as amended.

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personal residence (apartment, house, etc.) are not deductible from income; they are treated as personal consumption expenditures. If a taxpayer makes a personal expenditure to acquire an asset such as a house or an automobile, the expenditure is to be “capitalized” however, and treated as the cost basis of the property. If and when the property, such as a home occupied by the taxpayer and his family, is sold, taxable gains will be computed by subtracting the (adjusted) cost basis of the property from the “amount realized” on its sale (the sale price), and the gain will be taxable. If there is a loss, however, because the sale price is less than the taxpayer’s cost basis, adjusted for capital improvements etc., the difference – the loss – will not be deductible, because it is deemed to be or to represent an item of personal consumption, consisting of the reduction in value due to the family’s occupancy of the home. (This asymmetrical treatment may seem odd, but in fact it is quite logical.) Of course, if the house constituted investment property, perhaps held for rental to other persons or only for profitable sale due to market gains, any loss actually realized would be deductible, just as would be the loss in any other investment or business asset. The Federal Income Tax uses the “realization principle”, so that unrealized appreciation (such as the increases in value of real or moveable or intangible property that has not been sold or otherwise disposed of by its owner) is not taxed until realization by sale or other disposition. Furthermore not all dispositions are events of realization or “recognition” of gain or loss; the making of a gift or bequest, for example, is not. Similarly, unrealized diminution or reduction in value is not taxed (deductible as a loss) annually or at all until loss has been realized – in other words, until the property has been sold or otherwise disposed of. Realized market losses generally are deductible on business or investment assets only, not on personal-use or consumption property. Losses of value or personal-use property, or personal consumption expenses in general, are not deductible. Consequently, the income tax can be said to be imposed on “realized net gains”. An “implicit” or “unstated” exclusion exists for what is sometimes called “imputed income”, that is the economic benefit from owning property or rendering services for oneself, such as when a person owns a house and lives in it with his family (rather than renting it out for cash income) or performs legal or medical services for himself or family members. Although most personal or consumption expenditures are not in general allowed as deductions from income, some are permitted (within some limits). Examples include charitable contributions, extraordinary medical expenses, and interest paid on loans to acquire an owner-occupied personal residence (home-mortgage interest) and some casualty or theft losses of personal-use property. In addition, deductions are allowed for some expenditures with a “mixed” character, such as payment of state property or income taxes, theft losses or bad debts, etc.

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2. Non-Realized Gains; Deferral of Tax The Federal income taxation of housing in the U.S. is characterized (and benefitted) by some of these general, structural characteristics (and also by some special rules). For an example of the general principle of “non-realization”, consider a family – such as a husband and wife and their three minor children – that buys a separate free-standing house (or an attached “townhouse” or a condominium apartment) to live in as their primary (or only) personal residence. The family can enjoy watching the value of the house increase from their cost, perhaps of $500,000, to a greater value, perhaps of $900,000 after six years, without having to pay income tax each year on the annual increase in value. (When and if they sell it, e.g. for $900,000, as a general principle they will be taxable on the $400,000 gain, except for a special exclusion in I.R.C. § 121, to be described below.) This is “unrealized appreciation”, of the same kind as that consisting of gain in the value of their stock and bond portfolio. If the $500,000 purchase price had been placed in an interest-bearing bank account or in ordinary dividendpaying stocks, earning $50,000 per year for example, the annual income or gain would be taxable to the family each year. Deferral of tax makes the house – viewed as investment – much more valuable. (Of course, unrealized gain in stocks or bonds or other investments also is not taxed – until sale or other disposition of the property.) 3. Imputed Income Also, the “imputed income” (or “benefit”) from living in the house and hence not having to pay rent (or, having to pay tax on interest earned from investments whose yield could be used to pay rent) goes untaxed. Under a theoretically comprehensive individual income tax based on the von Schanz-Haig-Simons definition of income, the income tax base would include imputed net rent for owner-occupied homes. Both Robert Murray Haig and Henry Simons were very explicit that imputed income would be included and that imputed rent on owner-occupied homes is an important imputed income item. Housing and other durable consumer goods provide services over a period of years. Consumers have a choice between purchasing financial assets that provide periodic taxable monetary income or of purchasing homes (or other consumer durables) that provide untaxed services over time. The latter enjoys a tax benefit that the former does not. (Simons pointed out that consumers’ capital is not a uniform percentage of income for persons in the same income class, nor is it constant between different income classes; thus the omission of such income causes both horizontal and vertical inequities.) If homeowners’ imputed net rent were taxable, it would obviously be necessary to calculate the amount of taxable “net rent”. Generally this would be obtained by estimating a gross rent equal to the rent the housing unit would bring on the market and deducting the actual expenses, including mortgage 515

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interest, property taxes, maintenance expenses, insurance, and depreciation. This net rent amount would be included in the homeowner’s adjusted gross income. Under current tax treatment all U.S. homeowners, whether they take the standard deduction for tax purposes or itemize deductions, benefit from the exclusion of imputed net rent in calculating their income. Further, homeowners who itemize deductions may deduct mortgage interest and real estate taxes to reduce their taxable income, even though the rental value against which these constitute productive expenses has not been included. Taxpayers who are tenants are permitted no comparable deductions. 4. Basis Step-Ups Another general rule of the Federal Income Tax is that the “basis” of any asset owned by the taxpayer at his or her death is reset to the fair market value of the property at death for purposes of determining gain or loss in the hands of an heir or of the probate estate itself. This can mean a “step-up” or a “stepdown” in basis, a “fresh start” in either event. (See I.R.C. § 1014.) This rule often provides large benefits to residential homeowners who, perhaps, have watched their homes increase in value (without taxation if no “realization” of this gain), due to inflation or market factors or other causes, perhaps have paid off most or all of the mortgage, and who continue to own the house at death (whether or not it is still their principal or personal residence). The unrealized gain will not be taxed to them, or to anyone at or after their death, because death itself is not treated as a taxable realization of the gain and their estate or heirs will take a basis equal to the highly increased market value of the property at the date of death (or “alternate valuation date”). So the heirs can sell the property for that price without incurring any Federal Income Tax on the prior increase in value. [One rationale for this rule is that possible susceptibility to Federal Estate Tax at death, on the full value of the property – if the total estate rises above applicable exemptions and exclusions – warrants escape from the income tax on unrealized gain. Although there is no necessary or systemic correspondence between the estate tax application or rates and the income tax rule, it is true that this fresh-start basis at death rule of I.R.C. § 1014 is scheduled to be repealed if/when the Federal Estate Tax is repealed in 2010.] Note, the general rule of § 1014 applies to all property owned at death, not just (or “especially”) to residential housing. And it does not apply to lifetime gifts. A lifetime gift of any property, including housing, is governed by I.R.C. § 1015, which imposes a carryover basis rule upon the recipient, who thus will have to take the decedent’s (possibly low) basis in the house as his or her basis for income tax purposes. Also note that if property has diminished in value at death, the fresh start basis rule of § 1014 may mean that loss in value will never be deductible. But since a loss in market value of an owner-occupied house would not have been 516

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deductible by the decedent if he had sold it, the low, fair-market value basis (fresh start) taken by the heirs will not deprive the family of an otherwise available loss deduction. Therefore, as to personal real property such as owneroccupied housing, the fresh-start basis rule of § 1014 is generally favorable, and not ever unfavorable, to the family. If property that was used as a personal residence is converted to another use, such as being held for rental or exclusively for business use, the conversion is not a taxable event (or a realization/recognition of gain or loss event), but the change in character of the property means that the rules for residential property will no longer apply – for exclusion of gain on sale, deduction of personal interest or real property taxes – and different (but possibly similar or parallel) rules will apply. Special basis rules may apply in the event of such a conversion, or to a later reversal and return to residential use. [There are separate rules applicable to rental by an owner to a tenant of part of a primary residence (§ 280A), to cooperative housing corporations, to condominiums, to a “vacation home” rented by its owner, to shared-equity financing, to subletting of a residence, to a residence partly used as a “home office”, and to home energy efficiency credits. (See Robinson.)]

III. U.S. Federal Income Tax Rules Specifically Designated for Housing The Federal Income Tax includes some special rules applicable to income or costs associated with owner-occupied residential housing. The three most important are: (a) special exclusions for some realized gains, (b) deductions for some interest paid on debt incurred to acquire or improve a home, and (c) deductions for state and local real property taxes imposed on residential housing. 1. Gains Realized Upon Sale; I.R.C. § 121 For example, applicable to the family, described earlier, who purchased a home which they occupied and saw its value rise by several hundred thousand dollars in a few years, the gain untaxed due to the rule of realization, there is a special rule providing important tax benefits when and if they do sell the house and realize the gain. Under a special rule for “gain on a principal residence”, if the family does sell the house at a profit after living in it for two or more years and meeting other requirements, up to $500,000 of gain on the sale will be excluded permanently from their “gross income” and hence entirely exempted from tax. See I.R.C. § 121. Section 121 completely excludes from gross income gain realized from the sale or exchange of property if the taxpayer had used the property as his principal residence for at least two of the past five years. The exclusion is limited to $250,000 for individuals and $500,000 for spouses filing jointly, provided that they meet the requirements of I.R.C. § 121(b). [Benefits of the exclusion are prorated in some instances in which the basic requirements have 517

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not fully been met. See § 121(c). Generally, the exclusion is available for one sale or exchange every two years. It is sometimes available on a prorated basis for occupancy of less than two years. See I.R.C. § 121(c).] In 1995, taxpayers received $20.4 billion in tax savings (lost revenue) by excluding most gain realized on sale of a principal residence. (See Snider, p. 159.) Perhaps the reason for this rule is partly because of the likelihood that the family will “have to” (or want to) buy a similar house in a new place of work or other situation and that the price of an equivalent home there is likely also to have risen and be equally high. But the rule applies even if they do not move or buy another house or buy a much cheaper (smaller) one2. The (§ 121) exclusion of some gain realized on the sale of principal residences also can be supported as an encouragement of saving, and there are many other Federal Income Tax benefits so targeted. Personal saving by home ownership and appreciation is one of the primary means by which Americans accumulate wealth, which can help fund retirement, education, medical expenses and socially desirable uses, as well as help support and stabilize communities and American democratic values. The (limited) exclusion also helps families who have to move for job changes or upsize or downsize for family or financial reasons that are not entirely voluntary. The limits on § 121 exclusion mean that the wealthy are not fully insulated from tax on (gain) realized from sale of their homes. This personal (new) § 121 exclusion for up to $500,000 of gain does not apply to any property other than an owner-occupied, personal residence – not to stocks and bonds, not to farmland, not to business assets, not to houses or apartments rented out to others or otherwise not occupied as personal residences by their owners3. Loss on the sale of an owner-occupied personal residence is not deductible, being viewed as a personal, non-profit-seeking loss or consumption cost.

__________ 2 In 1997, Congress repealed former I.R.C. § 1034. This section allowed a taxpayer who sold his or her principal residence at a gain and within two years bought or built a new home to avoid paying tax at the time, but only to the extent that he or she invested an amount equal to the sales price of the old house in a new one. The taxpayer’s basis in the new house was reduced by the amount of the unrecognized gain, so that on later sale of the second house, gain on the first house, as well as on the second one, if any, would be taxed. (This basis rule, resulting from § 1034 “rollovers”, will remain important for years to come to compute gain or loss when those houses are sold or exchanged.) Former I.R.C. § 1034 allowed deferral, not permanent exclusion, of recognition of the gain on such a sale, but without dollar limits. At the same time, the predecessor of present § 121 did allow a permanent exclusion of up to $125,000 of gain, but only if the selling taxpayer was over the age of 55 (and therefore possibly retiring or renting a new home or buying a much smaller home because the children had grown up or there had been some other reduction in the size of the family, by death, divorce or otherwise). 3 See generally Hausman, T., The Tax Consequences of Home Ownership, 13 The Practical Tax Lawyer No. 3, p. 25 (1999).

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2. Deduction for Home Mortgage Interest; I.R.C. § 163 (h)(3) Another very important rule that benefits owners of personal residences is that of I.R.C. § 163 allowing them to deduct (some) interest they pay on loans secured by a mortgage on the property if those proceeds are used to acquire or improve the home4. This is an exception to the general rule in effect for the last 20 years which does not allow a deduction for interest paid on loans taken for purposes of personal consumption (i.e. other than business, profit-seeking or reinvestment). The interest paid on an individual’s residential mortgage may be deducted only from adjusted gross income, § 62, § 161, and therefore an individual who does not itemize deductions but uses the tax table (standard deduction) may not claim a separate deduction for such interest. [For purposes of the “regular” Federal Income Tax, the homeowner may deduct “qualified residence interest”, as defined in the statute. However, if the homeowner is subject to the Alternative Minimum Tax (AMT), he or she may only deduct “qualified housing interest”, as defined in the AMT. This “redefinition” may substantially reduce the amount of home mortgage interest that is deductible. See § 56(c)(11). For example, for AMT purposes, interest paid on a refinanced debt will qualify only to the extent it does not exceed the amount of the refinanced debt immediately before the refinancing. See § 56(e)(1). An exception is made for an increased amount used to acquire, construct or substantially improve a principal residence or a qualified residence. Similarly, for AMT purposes, interest is not deductible to the extent that the home mortgage proceeds are not used for the home, even though such interest may be deductible for regular income tax purposes. See § 56 (e).] Justifications for deduction of home mortgage interest include views that the purchase of a primary residential home (or vacation home) is an investment (but then, some would argue, all yield and gain should be taxable or the deduction limited to the net investment income of the taxpayer as in § 163 (d)(1)). Alternatively, and in terms of “tax logic”, if a borrower is compared to a capital holder who purchases a home out of his/her wealth without borrowing (and is not taxed on the imputed income from his capital so used), the borrower arguably should be allowed a deduction as a counterpart to the implicit exclusion enjoyed by the capital holder. The § 163 allowance reduces the after-tax cost of homeownership and thus encourages and subsidizes home ownership, which is generally regarded as correlated with socially desirable civic behaviors and values. The so-called “upside down” nature of the deduction – a $100 deduction saves more in tax to a high-income and high-bracket taxpayer than to a low-income,

__________

4 The Federal Income Tax has allowed homeowners to deduct residential mortgage interest ever since its enactment in 1913; originally merely as part of the general deduction for all interest payments, whether personal or business. (See Mann.) Mortgage debt for home acquisition is the largest segment of consumer debt; in 1995 it was 67.3 % of all consumer debt.

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low-bracket taxpayer – can be seen simply as a natural (and fair) consequence of using graduated rates for progressive taxation. If a taxpayer’s total income is determined to have been effectively decreased and a deduction (or exclusion) is granted, then the rate effect is perfectly proper. However, the home mortgage deduction has been sharply criticized as unfair and not good “tax logic”, and as encouraging suburban sprawl and urban decay, entailing heavy environmental costs and contributing to wealth and class divisions in the U.S. (See Mann.) Before 1987, I.R.C. § 163 allowed as a deduction “all interest paid or accrued within the taxable year on indebtedness”. Interestingly enough, § 163 did not then restrict the deduction to business interest, i.e., interest incurred on borrowings to finance income-producing activity. Accordingly, interest on personal loans (to buy a TV set or a vacation trip or a personal residence) was just as deductible as interest on a debt incurred to provide working capital in a business, to purchase a factory, or to pay wages. The 1986 Tax Reform Act (TRA) eliminated the § 163 deduction for interest on most “personal” loans, with a big exception for qualified residence interest (on home mortgages). See § 163(h). Consequently, only business or profitrelated interest expense is deductible now, except for the specific exceptions in § 163(h). 3. § 163(h); Statutory Rules The major exception to post-1986 nondeductibility of personal interest allows a deduction for “qualified residence interest”. See § 163(h)(2)(D) and Temp. Regs. § 1. 163-10T. “Qualified residence interest” is interest on a debt secured by the principal residence of the taxpayer (and one other residence selected by the taxpayer and used as a residence, for the greater of 14 days or 10 % of the number of days it was rented; however, if the taxpayer does not rent or use the selected property at all during the year, it will still be considered a qualified residence). The amount of interest on a debt secured by a qualified residence that can constitute deductible qualified residence interest is subject to several limitations. A taxpayer may deduct interest only on “acquisition indebtedness” and “home-equity indebtedness”. I.R.C. § 163(h)(3). Acquisition indebtedness is defined as debt “incurred to acquire, construct, or substantially rehabilitate the taxpayer’s principal or secondary residence”. The total amount of acquisition indebtedness that can give rise to deductible residence interest is $1 million. This debt is reduced as the principal amount is paid off. The only way to increase acquisition debt is to make substantial improvements in the residence. The other category of qualified residence interest, home-equity indebtedness, is interest incurred on borrowing such as a on a “second mortgage”. Home equity indebtedness cannot exceed the difference between the taxpayer’s total acquisition debt and the home’s fair market value. Home equity debt is also 520

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limited to $100,000. A taxpayer’s overall debt on both a principal and second home thus cannot exceed a total of $1,100,000 (home equity plus acquisition indebtedness). To illustrate acquisition and home equity indebtedness, suppose a taxpayer bought a home 15 years ago for $100,000, and has completely paid off her mortgage. The home is now worth $200,000. In 2004 the taxpayer obtains a $150,000 home loan, and uses $130,000 to make home improvements and $20,000 to buy a car. Interest on the entire loan is deductible, since $130,000 is acquisition indebtedness, and the remaining $20,000 qualifies as home equity indebtedness5. Overall, the fact that personal interest remains deductible for “qualified residence” indebtedness proves enormously important to many homeowners who borrow on a mortgage or “deed of trust” to buy a home. Deducting the interest (which often amounts to a large share of each monthly payment to the lender) makes home ownership much cheaper than it otherwise would be and perhaps cheaper than renting equivalent accommodations. [Interest need not be denominated as such to be deductible. “Points” paid by a home purchaser on mortgage financing (a fee equal to one or more percentage points of the principal amount of the mortgage) are deductible. See I.RC. § 461(g)(2). So is a prepayment charge when a mortgage loan is paid off before maturity.] The income tax revenue lost by the U.S. Federal Government as a consequence of allowing the deduction for personal homeowners’ home mortgage indebtedness is very large, amounting to $69.4 billion (estimated, see Joint Committee on Taxation (JCT) 2006) for the Year 20066. Presumably the deduction has a large effect on the extent of owner-occupied home ownership and related financing in the U.S.

__________ 5 Under § 163(h)(3)(C)(i), interest paid on “home equity indebtedness”, that is debt secured by a qualified residence, not exceeding the difference between the total acquisition indebtedness and the fair market value of the house, up to a ceiling of $100,000, may be deducted – regardless of the uses to which the borrowed funds are put. (They need not be used for acquisition or improvement of the property. Often such debt takes the form of a “second mortgage”.) (A qualified residence may be either the taxpayer’s “principal residence” or one other residence of the taxpayer selected by the taxpayer for this exception for the taxable year, such as a “vacation” or “second” home.) So the total residential debt whose interest may be deducted by the owner amounts to $1.1 million as an overall limitation. There are rules for qualifying stock in a cooperative housing corporation as giving rise to deductible “interest” (rent). The Alternative Minimum Tax (AMT) allows a deduction for home mortgage interest only if it is “qualified housing interest”, whose definition may reduce some homeowners’ deductible interest by ruling out interest paid on loan proceeds used for personal purposes. I.R.C. § 56(e). 6 In 1995, over $200 billion in home mortgage interest deductions were taken by homeowners, making it by far the largest itemized deduction, (see Snider, p. 159) and producing a revenue loss of $53.5 billion.

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4. Deduction for State Real Property Taxes on Owner-Occupied Housing; I.R.C. § 164 (a)(1) Homeowners also benefit from the deduction allowed for state and local taxes paid on their residential property7. See I.R.C. § 164. This is not a narrow or special rule for owner-occupied residences, but part of a broader provision. Yet it is something that renters (tenants) cannot directly use, and so it seems to provide another benefit that encourages or subsidizes home ownership. Arguments for deductibility of state and local property taxes can be rested on the taxpayers’ reduced ability-to-pay (ignoring benefits received, in the form of schools, parks, roads, police and fire protection, as a result of paying the taxes) and therefore as an appropriate adjustment of the Federal Income Tax base, to avoid a “tax on a tax” (each of which is somewhat redistributive), and also to facilitate fiscal coordination in the U.S. federal system, or as a Federal “subsidy” to jurisdictions that use high taxes to provide income-redistributive and other benefits that reduce the need for expenditures by the Federal government. Also, real property taxes generate a lot of positive externalities that benefit people who are not subject to the taxes that fund them. Perhaps they can partly be likened to (deductible) charitable contributions; income so paid over does not (entirely) add to the consumption or saving of the paying taxpayer. Deductibility may reduce “out-migration” from high-tax localities, or a “race to the bottom” accompanied by decreasing public services and costs. (See Snider.) Until 1986, I.R.C. § 164 allowed a deduction for all state and local taxes a taxpayer was obliged to pay and did pay or accrue. Now, § 164 limits the deduction to the many broad classes of taxes there listed (e.g. state and local real and personal property taxes, state and local income taxes, etc.) and defined in § 164(b). Despite this change, § 164 allows the deduction of most state and local taxes. The principal category of state and local taxes not deductible under § 164 is personal sales taxes, although recent legislation allows a taxpayer to deduct such sales taxes in lieu of state and local income taxes. See § 164(b)(5). [Also, all state, local and foreign taxes paid or accrued in carrying on a § 162 trade or business or a § 212 profit-seeking activity are deductible.] Several reasons may be suggested for the I.R.C. § 164 deduction for state and local taxes. First, Constitutional shadows having to do with federalism (and “taxation of the States” by the Federal Government) may have fallen over suggestions that such taxes did not have to be allowed as deductions, as in the days when government salaries were exempted from tax for Constitutional reasons. Secondly, many taxes amount to costs of producing income, such as when a business taxpayer pays real estate and sales taxes. Thirdly, and more importantly, the Federal deduction for payment of state taxes clearly assists states in raising revenue – at the expense of the Federal Treasury – by reducing

__________ 7 In 1995 deductions for taxes amounted to $189 billion, a large part of which was for state and local real property taxes, producing a $13.7 billion revenue loss. (See Snider, p. 159.)

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the after-Federal-Tax cost of paying deductible state income taxes. Fourthly, especially back in the days when Federal Income Tax rates went into the 90 % range, state income taxes could possibly have extended the combined Federalstate marginal income tax rate over 100 % were it not for the deduction. And, lastly, payment of state taxes does reduce the taxpayer’s “ability to pay” the Federal Income Tax, whether in the business/investment or in the personal context. State property taxes paid on a personal residence are deductible (though rent paid to occupy such premises is not), and this deduction seems to afford another important tax advantage of home ownership (over renting). However, a landlord’s ability to deduct his/her/its property taxes on rental property may serve to reduce the rent charged in the market for residential rental accommodations8. Other usual costs of owner-occupied home ownership are not deductible, including casualty or liability insurance, utilities such as gas, oil, electricity and water, repairs, maintenance, etc. Unlike routine “repairs”, the costs of “capital” additions, such as added rooms or floors or a garage, can be added to “basis”, which will serve to reduce taxable gain when the property is sold. 5. Losses: Market vs. Casualty/Disaster Section § 165(a) states, as a general rule, that a deduction shall be allowed for any loss sustained during the taxable year and not compensated for by insurance or otherwise. Business and investment losses are deductible as part of the logic of taxing “net income”. To earn income, one must incur the risk, and therefore sometimes the actuality, of loss. It is a cost of doing business or investing. Against this background must be reported the substantial inroads made by I.R.C. § 165(c) upon the general rule of § 165(a). Subsection (c) decrees that in the case of an individual taxpayer (not a corporation), a loss may be deductible only if it is (a) incurred in a trade or business, (b) incurred in a transaction entered into for profit, or (c) if it is a property loss (not connected with a trade or business or a transaction entered into for profit) that arises from fire, storm, shipwreck, or other casualty, or from theft. Thus, for an individual taxpayer, losses that are incurred in a trade or business or in profit-seeking activity are deductible; losses arising in his personal life are deductible only if caused by casualty or theft – and then only for the excess above $100, and only if aggregating in excess of 10 % of adjusted gross income (and only if the taxpayer elects to itemize deductions). See I.R.C. § 165(h)(2). Hence most personal losses cannot be deducted. A taxpayer who sells a personal automobile or

__________ 8 When a home or other real property is sold, I.R.C. § 164(d) requires an apportionment of taxes on real property between seller and purchaser (based on the customary allocation in an escrow statement) for time of occupancy. Section 1001(b) makes appropriate adjustments in the sale calculations for taxes imposed on the purchaser. Section 1012 makes similarly appropriate basis adjustments for the same taxes.

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home or camera or painting at a loss will realize a loss, but the loss will not be deductible under § 165. 6. Casualty Loss Rules and Their Application When a Home is Destroyed As stated above, business losses, of almost any origin, are deductible against income. Personal losses, as a general rule, are not. However, the Code provides for the deductibility of non-business losses due to “fire, storm, shipwreck, or other casualty, or from theft”9. The deductibility of such losses is subject to two thresholds. Personal losses are deductible only to the extent that each item of loss exceeds $100 and the aggregate of all losses for the taxable year exceeds 10 % of adjusted gross income10. Cases and regulations interpreting the “other casualty” clause of Section 165 have generally held that only sudden and unexpected losses may be deducted. This generates a notoriously difficult line-drawing problem, as well as occasionally tragic-comic results. For instance, the loss of a valuable antique vase when an epileptic domestic cat knocked it off a shelf was held to be foreseeable and thus not deductible under Section 16511. The Service contends that damage to a home owing to termites is insufficiently sudden to qualify for deductibility. Some jurisdictions will permit a deduction for diamond rings accidentally thrown away; others will not12. [Section 165 contains a special provision for homes in federally-declared disaster areas. The loss of a disaster-area home may be deducted under this section if it is deliberately destroyed by order of the authorities13. The value of a home rendered unsafe by a federally-declared disaster may similarly be deducted.] The amount of any casualty deduction taken by a taxpayer reduces his or her basis in the property damaged by casualty14. The taxpayer’s basis also represents the maximum amount of casualty loss the taxpayer may deduct. Again, deductibility of casualty losses due to damage to or loss of a home represents an exception to the general rule against deductibility of capital losses on an owner-occupied home15. It’s important to note that casualty-loss property may be insured, often for an amount greater than a taxpayer’s basis. In such a case, a taxpayer may have casualty gains that are taxable as capital income. Imagine a home is insured

__________ 9 10 11 12

IRC § 165(c). IRC § 165(h)(1)-(3). Dyer v. Commissioner, 20 T.C.M. (CCH) 705 (1961). Compare, e.g., Keenan v. Bowers, 91 F. Supp. 771 (E.D.S.C. 1950) (no deduction for two rings mistakenly thrown away in a wad of toilet paper) with Carpenter v. Commissioner, 25 T.C.M. (CCH) 1186 (1966) (deduction allowed for a ring destroyed in a garbage disposal). 13 IRC § 165(k). 14 Reg. § 1.165-1(c)(1). See also IRC § 165(h). 15 See, e.g., Rev. Rul. 54-95 (“Any losses sustained on the sale of a personal residence are not deductible”).

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against fire for one million dollars (assuming no co-pay and no deductible). The taxpayer’s basis in the home is $400,000. If the home is totally destroyed by fire and the insurance pays him $1 million, the taxpayer will have casualty gains of $600,000, taxable as capital gains unless 1) they are offset by other casualty or capital losses, or 2) the involuntary conversion rules under § 1033 apply. In broad terms, § 1033 applies where the proceeds of an involuntary conversion are timely reinvested in similar property devoted to a similar use. 7. Insured Losses to Residences Due to Presidentially-Declared Disaster Special Federal Income Tax relief is provided for damage to a taxpayer’s principal residence if it is damaged by a presidentially declared disaster, such as Hurricane Katrina in New Orleans in 2005. This takes the form of special rules for the treatment of insurance proceeds received on account of damage to a residence and/or its contents. Insurance proceeds for unscheduled personal property escape income tax completely; i.e. no gain has to be recognized. Insurance proceeds received for the residence and scheduled property escape tax if there is a “qualifying replacement”. These are special rules that are part of the more general involuntary conversion provisions in I.R.C. § 1033. See esp. § 1033 (h)(3). The regular three-year replacement period for involuntary conversions is extended to four years. Consequently recognition of gain (amount of insurance proceeds received in excess of taxpayer’s adjusted cost basis in the property that was damaged or destroyed) can be entirely avoided in most cases. [See Robinson, Federal Taxation of Real Estate, W.G.& L. (2006).] This rule is part of the general provision for involuntary conversions. It even applies to a rented principal residence. 8. Other Special Rules The Federal Internal Revenue Code (income tax) does contain a few other special rules for owner-occupied residences. For example, deductions for business use of part of the taxpayer’s home, the “home-office deduction”, are allowed but strictly limited (the “exclusive use test”, etc.) and can include depreciation and maintenance expenses. See I.R.C. § 280A. And see IV. 5. below. a) Municipal Bond Interest In the Federal Income Tax, an exemption/exclusion is given for interest paid to taxpayer-lenders by States and local Governments on state and municipal bonds (§ 103). This reduces the costs to state and local governments of borrowing by issuing bonds in the private securities market, and may also act as a subsidy from taxpayers in less-indebted states to those in more heavily-indebted states. In the 1970s, many local government agencies raised capital by local bond issues and used that capital to make local home-mortgage loans, often by contracting with private banks to administer the mortgages. Revenue costs of this activity threatened to become very great, the tax-exempt bond 525

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market and interest rates could be over-stimulated and the ability of local governments to fund more traditional projects such as roads and bridges could be limited. So, in 1981 and 1986 Congress enacted restrictive private-activity rules to limit the use of private-activity bonds to fund private mortgages, to emphasize their use for socially desirable construction, such a subsidized lowincome housing. See I.R.C. §§ 141, 143, 103(b). b) Insurance proceeds – Presidentially-declared desaster The Federal Internal Revenue Code (income tax) does contain a few other special rules for owner-occupied residences. One is that giving favorable treatment for insurance proceeds received on account of damage to a residence (and its contents) as a result of a hurricane, flood, fire or earthquake that has been named a “Presidentially-declared disaster”. Insurance proceeds for the residence and for “scheduled property” escape tax if there is a “qualifying replacement” of the lost residence, and insurance proceeds for unscheduled personal property escape tax altogether. See I.R.C. § 1033(h)(1), (2), (3). (See “Westlaw”, WGL –Gerald Robinson.)

IV. The Taxation of Rental Housing in the U.S. 1. Federal Income Tax; General Builders, developers and owners of rental housing are treated largely under basic income tax principles applicable to taxpayers “engaged in the trade or businesses” or “investing” in rental housing. These general principles of income inclusion, deduction of business and investment costs (including depreciation) and losses, etc. cannot and will not be reviewed extensively here. Most are not controversial or especially so when applied to rental housing. 2. Gains and Losses on the Sale of Rental Housing Property Tax consequences on the sale or disposition of property vary according to the type of property sold. Rental housing held as investment property is accorded very favorable tax treatment on disposition under I.R.C. § 1231. More specifically, any net gains on the sale of appreciated § 1231 property in a given taxable year are taxed as capital gains, while any losses from the sale of § 1231 property which has fallen in value may be deducted against ordinary income16. Since capital gains have been taxed at lower rates than ordinary income for almost the entire history of the Federal Income Tax, this is generous treatment indeed.

__________ 16 § 1231 gains and losses are netted against each other in each taxable year, so it is not possible to have capital gains from the sale of one § 1231 asset and ordinary losses from the sale of another such asset in a single year. Moreover, special anti-abuse rules restrict loss deductions attributable to depreciated § 1231 property sold in the taxable year immediately following the sale of appreciated § 1231 property.

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Investment rental housing shares an important feature with most other § 1231 property: its purchase cost may be depreciated over a fixed term, generating deductions against ordinary income over a specified period. The next section discusses depreciation in (just slightly) more detail. 3. Depreciation of Residential Rental Property Businesses and individuals who choose to invest in residential rental property are not permitted to immediately deduct from ordinary income the cost of acquiring such property. Instead, they must “capitalize” the expense and gradually take deductions equal to the total cost of purchase over a period of years. The taxpayer’s basis in the property is reduced as these deductions are taken, leading to a basis of zero when the depreciation period is completed. These deductions may be taken against ordinary income. Accelerated depreciation rules provide an incentive to construct or purchase rental housing as an investment, particularly if they allow deductions in excess of real economic depreciation or loss in value. See I.R.C. §§ 167–168, § 179. However, the 1986 legislation lengthened these periods compared with prior rules. This change, and the anti-tax-shelter rules (passive-activity loss rules and at-risk rules) diverted funds from investment in the housing sector in subsequent years. Under the Modified Accelerated Cost Recovery System (MACRS), the period over which the cost of an asset such as rental property may be depreciated is considerably and deliberately shorter than the asset’s actual useful life. Different classes of assets are depreciated over different terms. Residential rental property is depreciated over 27.5 years17. Such property is depreciated using the so-called straight-line method, which permits deduction of a flat percentage of the taxpayer’s basis each year, leading to full depreciation (i.e. exhaustion of basis) after 27 and one-half years. The depreciation deduction for any given year is thus 100/27.5 or 3.64 %. The depreciation deduction may be taken beginning with the taxable year in which the property is “placed in service” – not necessarily the year in which it is purchased or constructed. It is also important to note that while rental residential structures may be depreciated, the land upon which they stand may not, since – for income tax purposes – land is not “used up”. This means that a taxpayer must allocate her basis between buildings and land, and may depreciate only the basis allocated to the structure. 4. Depreciation Recapture Because depreciation deductions may be taken against ordinary income, while any gains on the sale of depreciable property are generally capital in nature, a distortion can arise if property is sold for an amount greater than its depreciated basis. Under these circumstances the economic unreality of the deprecia-

__________

17 IRC § 168(c).

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tion period will become evident, and the Treasury will be unhappy that taxpayers are essentially swapping later capital gains for earlier ordinary losses. A mechanism known as “recapture” has been invented to remediate this situation. Recapture operates differently for different kinds of property. For personal property, Section 1245 stipulates that any and all gains owing to prior depreciation (the so-called recapture amount) be taken as ordinary income. The rule is far more generous for real property. The recapture amount with respect to real property is the difference between actual depreciation deductions taken by the taxpayer over the life of the property and such deductions as would have been taken on the straight-line depreciation method. See § 1250. Straight-line depreciation has been the only available method for real property since 1986, so for rental property placed in service after that time no part of the sale price will be taxed as ordinary income. [However, the seller of depreciated rental real estate will not entirely escape the sting of recapture, since IRC § 1(h)(6) provides for a special (higher) capital gains rate of 25 % on gains attributable to prior depreciation deductions.] More generous depreciation methods were available before 1986. Thus, for rental property placed in service prior to that time, the § 1250 recapture rule will itself have bite, and any excess of actual depreciation deductions over deductions that would have been available under the straight-line method is potentially taxable as ordinary income. There are a few special rules. I.R.C. § 42 provides a low-income housing credit, a credit designed to reduce after-tax cost of constructing and placing in service qualified low-income buildings. The credit rates range from about 4 % to 9 %, with many limits, reductions, restrictions and special rules. Also there are some scattered small benefits for such investors, such as the exception from passive activity loss rules for $25,000 of rental loss (§ 469(i)), an exclusion of interest on owner-occupied mortgage subsidy bonds, deferral of income on post-1987 installment sales, an exception to the at-risk rules for “qualified non-recourse financing” involved in holding real property [§ 465 (b)(6)(B)], and additional depreciation on rental housing. (See Carasso et al.). 5. Home Offices Expenses related to a taxpayer’s trade or business are normally deductible; expenses related to personal consumption are normally not. Space within a taxpayer’s home which is used as an office thus lies at the boundary between two distinct tax regimes, and a fair amount of litigation and uncertainty have arisen on the subject of whether and to what extent taxpayers may deduct home-office expenses. IRC § 280A controls this subject18.

__________

18 A few paragraphs are really not enough to capture the complexity and controversy of this subject. What is set forth here is the basic framework in the Code, but even a cursory reading of the relevant cases suggests that these provisions are basically safeharbor rules, and that a good deal of uncertainty still reigns. See, e.g., Popov v. Com-

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Section 280A provides that a taxpayer may not take a deduction for any use of his or her dwelling unless a specific exception applies. The exceptions cover cases where a home office is used exclusively for business purposes AND one of the following three conditions is met: 1) the home office is the principal place of business, 2) the home office is used to meet with customers or clients, or 3) the home office is contained in a separate structure not attached to the taxpayer’s home. If the taxpayer is an employee, his or her home office qualifies for deductibility only if its use is for the convenience of the employer, which basically means that the employer does not provide an adequate office elsewhere19. Section 280A(c)(5) limits the deductibility of home-office expenses to the amount of income (less certain other deductions) generated by business conducted there. 6. Expenses Connected with the Rental of a Home by an Individual Taxpayer Section 280A also controls the deductibility of expenses connected with rental of personal residential property. If a taxpayer holds residential property for rental purposes, he may deduct all expenses associated with that property so long as neither he nor any family member occupies the property during the taxable year in which the expenses occur20. A taxpayer is considered to “occupy” property if he lives in it himself, if any family member (or anyone else) lives in it without paying fair market rent, or if any tenant’s occupancy of it entitles the taxpayer to occupy another home (as in the case of housing exchanges). A taxpayer does not “occupy” his rental property for purposes of § 280A if he stays there only for purposes of completing maintenance or repair work on the unit. Even if a taxpayer occupies residential property (such as a vacation home) for some part of a taxable year, he may still deduct a portion of the expenses associated with the property. He may deduct in full the expenses (such as home mortgage interest and property taxes) which would be deductible even if he were the full-time occupant21. He may also deduct a fraction of other expenses proportionate to the amount of time the unit was occupied by a rent-paying

__________ missioner, 246 F.3d 1190 (9th Cir. 2001) (deduction allowed for 40 % of professional violinist’s rent and 20 % of her heating bill to account for her use of the living room in her small apartment as a practice area). The most recent Supreme Court case in this area is apparently Commissioner v. Soliman, 506 U.S. 168 (1993) (no deduction for anesthesiologist who delivered services in local hospitals but used a spare bedroom for billing and other administrative purposes). The result in Soliman, however, was reversed by amendment to Section 280A(c)(1) (flush language) (home office counts as a principal place of business if used exclusively and regularly to conduct substantial administrative activities and the taxpayer does not conduct substantial administrative activities elsewhere). 19 IRC § 280A(c)(1). 20 IRC §§ 280A(c)(3) and 280A(e). 21 If, that is, he occupies the house for a minimum of 12 days or 10 % of the total number of days the residence is occupied for the taxable year.

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tenant. The appropriate fraction is determined by dividing the number of days of tenant-occupancy by the total number of days the property was occupied in a taxable year. Thus if the property is occupied for 300 days in a given year, standing vacant for the other 65 days, and the owner occupies the house for 100 of those days, the owner may deduct two thirds of other expenses such as utilities, maintenance, etc. … 7. The Low Income Housing Tax Credit The Low Income Housing Tax Credit (LIHTC) was originally enacted as a temporary measure as part of the 1986 Tax Reform Act. It was made permanent in 199722. It may have been partly an effort to counteract the anticipated negative impact on investment in rental housing from the anti-tax shelter provisions that were also enacted in 1986. The LIHTC is a fairly complicated supply-side rental housing subsidy. Developers who build or substantially refurbish rental housing property may qualify for the credit by making a 30-year commitment to restrict rents on at least a portion of the units in a given development. Section 42 creates two minimumallocation options. A developer may qualify his or her project by renting either 20 % of the units to tenants who earn less than 50 % of the region’s median income or by renting 40 % of the units to tenants earning less than 60 % of regional median income. Rent for those qualifying units must be capped at 30 % of a tenant’s income. The taxpayer/developer must irrevocably elect to qualify under either the “20–50” or the “40–60” rule. The amount of the subsidy is determined in several steps. First, the “qualified basis” is found by multiplying the developer’s basis in the project as a whole by the so-called “applicable fraction”. The applicable fraction is the lesser of the unit fraction and the floor-space fraction, where the unit fraction is the ratio of rent-restricted units to total units in a development, while the floorspace fraction is the ratio of floor space in rent-restricted units to total development floor space. Very roughly speaking, the qualified basis is thus the developer’s basis in the rent-restricted component of the project. The qualified basis thus derived must then be multiplied by the “applicable percentage” to determine the per-year dollar value of the credit. The credit is available for ten years following the date that the rental units are placed in service. The applicable percentage is an interest-rate-indexed value set monthly by the Treasury Department to yield ten yearly payments whose present value will total either 30 % (for refurbished buildings or projects receiving other federal subsidies) or 70 % (for new, not-otherwise-federally-subsidized projects) of the qualified basis. At current interest rates, “30 % projects” can

__________ 22 IRC § 42. Two excellent surveys of the LIHTC’s workings and impacts are David Phillip Cohen, Improving the Supply of Affordable Housing: The Role of the LowIncome Housing Tax Credit, 6 J.L. & Pol’y 537 (1998) and Sagit Leviner, Affordable Housing and the Role of the Low-Income Housing Tax Credit Program: A Contemporary Assessment, 57 Tax Law. 869 (2004).

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expect a yearly tax credit of about 4 % of qualified basis, while “70 % projects” can expect about 9 %. The total amount of tax relief available each year under this program is capped by virtue of a state-by-state allocation. Each state receives a yearly credit allocation under the LIHTC of $1.75 times its population, plus any allocated-butunused amount from the previous year. The states are required to administer the credit according to guidelines they write themselves. Almost every state further delegates administration of the credit to local agencies. In practice, this means that developers apply to local agencies for authorization to take the credit. Many developers of low-income housing are non-profit community-based organizations. The organizations may not have good access to capital, but they also cannot make use of the LIHTC. So one common arrangement is for a nonprofit organization to partner with a private investor with income from other sources. The non-profit typically chooses a site and tenants for a project, with the private partner providing capital and receiving the benefits of the credit. A variety of hybrid partnerships of this kind have arisen, especially in urban areas23. One additional feature of the LIHTC program is that projects qualifying for the credit are partially exempted from the passive-activity-loss rules enacted in 1986. Losses due to passive investment in LIHTC-qualified housing may be deducted against ordinary income up to an amount equal to total losses multiplied by the ratio of qualified basis to total project basis (but no more than $25,000 per year). The LIHTC is the principal supply-side rental housing subsidy in the U.S. It has almost entirely replaced, for example, direct government construction of low-income housing. The other major rental housing subsidy is a demand-side rental voucher program known as “Section 8” under which qualifying families receive a voucher they can spend directly on rent for qualified housing. The department of Housing and Urban Development spends 16 billion dollars a year through Section Eight on housing assistance for about 2 million families. The Office of Management and Budget estimates that the LIHTC will cost the Treasury $4.25 billion in lost revenues for 2006. As one might imagine, criticisms of the LIHTC program abound. First, because it is a supply-side subsidy, at least some of its benefits may be presumed to be captured by developers, who are perhaps not the natural objects of the electorate’s bounty. Second, most housing economists seem to think that although a large percentage of new and refurbished low-income rental housing does partake of LIHTC money, most such housing has merely replaced old, unsubsidized low-income housing rather than increasing the total stock of available low-income units. Third, the administration of the program is enormously

__________ 23 In blighted areas of Philadelphia, for example, almost every sizable community-based advocacy group had an affiliated “CDC” or community development corporation with a private partner.

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elaborate and subject to political machinations and additional costs at every level. Fourth, the program’s definition of low-income includes families earning as much as 60 % of median regional income, which may not satisfy the redistributive standards of some housing advocates. Relatedly, the use of a regional rather than a national median income yields the result that qualified “lowincome” tenants in high-income regions may live in subsidized housing despite earning well in excess of the national median income. Lastly, it is not clear that there’s any special logic in restricting the LIHTC subsidy for housing that receives other federal subsidies (such as Section 8 vouchers) as well. 8. State Taxation As with the Federal Income Tax, in those states (and localities) employing income taxes, the usual general principles of income taxation apply, sometimes directly derived or applied from the Federal Income Tax itself and sometimes by parallel rules. Occasionally some special rules are made for rental housing, but they cannot be summarized or reviewed here.

V. State and Local Taxation of Owner-occupied Housing in the U.S. 1. Introduction More than 40 of the 50 States in the U.S. have their own income taxes, imposed on much the same “base” as is the Federal Income Tax, but at lower rates, usually ranging from 1 % – 9 %. Generally, as relevant to owner-occupied housing, these income taxes have much the same structural characterization as the rule of “realization”, not including imputed income, capitalizing “capital expenditures” and deductions (home-mortgage interest, casualty losses, but not for local-level taxes) and exclusions (of some or all gain on sale) and denials of deductions (loss on sale of personal residence, home maintenance expenses, etc.) as the Federal Income Tax. No further discussion of these state and local income taxes will be offered here, except to note that they may thus in many respects increase or enhance the income tax subsidies and incentives mentioned with respect to the Federal Income Tax. Approximately $200 billion in revenue is raised by state and local government income taxes each year, all but $17 billion of which is at the state level – only a few municipalities have income taxes. States and localities (such as cities and counties or school districts, etc.) impose several other forms of taxation, the most important of which with respect to owner-occupied housing, is real property taxation (tax imposed on the value of land and buildings), most important at the local (city or county) level. The property tax has been the mainstay of local tax revenues throughout U.S. history. The dominance of the property tax in the system of local revenue is attributable to a number of factors. Local governmental taxing units are small. The tax on real estate, which is the chief component of the tax, and in some 532

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states its exclusive base, does not readily escape the tax collector. The assessment and collection of the property tax lend themselves to local administration. It is a flexible tax, for its rate can easily be changed. And it is a dependable tax. Even in times of depression, the property tax can yield substantial revenues. Most property taxes are imposed by local rather than state-level governments, $270 billion vs. $10 billion recently24. Historically, local governments have relied heavily upon the ad valorem property tax, which is a tax upon the value of real property located within the local government’s borders. Several large American cities have begun to reduce their dependence upon real property taxes by adding (or increasing) their use of sales, income, and other taxes. However, many smaller local government entities, especially school districts, still employ the real property tax as their principal revenue source. Although a state property tax usually consists of a flat percentage applied to assessed real property values, and though there has been substantial debate among commentators, most agree that the ad valorem tax tends to be “regressive” (with respect, presumably, to taxpayers’ income or total wealth). Its regressivity is somewhat mitigated in some jurisdictions by the assessment of residential property at a level lower than that for commercial property, by homestead exemptions, and/or by “circuit breakers”. Initially, these devices shift the tax burden from residential property owners to owners of rental, industrial, and commercial property. Where economic conditions permit, however, owners of rental property increase rents to reflect their higher property taxes, and industrial and commercial property owners pass on their property taxes to consumers in the form of higher product prices. Real property taxes also tend to be “income inelastic” and “non-cyclical”. This is true because there is not a direct and immediate relationship between typical increases and decreases in a taxpayer’s income and his or her real estate purchases, sales, or improvements. For example, an individual who obtains a pay raise of $1,000 usually will not purchase a new home within the same jurisdiction. Similarly, a small decrease in income will not necessarily result in the sale of his or her home. Instead, residential real property purchases and sales tend to reflect the family life cycle rather than immediate changes in income. Furthermore, even if a taxpayer does spend all of his or her increased income on property improvements, the increase in property value may not be reflected for some time on the tax rolls because of the delays inherent in reassessments in most jurisdictions. A few state and local governments have computerized the assessment process to reduce these delays. In state and local real property taxes, special districts, special exemptions or rate differentials or limits on rate or base changes and special assessments

__________ 24 Compare that total with the estimate of $170 billion in total Federal Income Tax subsidies to housing.

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have been employed with respect to taxation of housing25. Prominent among these is the 1978 California “Proposition 13” (now Article XIII A of the California Constitution) initiative that set a maximum rate of 1 % of the tax base, strongly restricted annual increases in the tax base and other limits focused on residential housing even though it is applicable more broadly. (See Gelfand, pp. 38–40.) 2. Tax Computation The property tax levied upon a particular piece of real property equals: (1) the tax rate multiplied by (2) the value of the property multiplied by (3) the assessment ratio. (Factors (2) and (3) are sometimes combined and referred to as the “property tax base”.) Property tax limits, levy limits, and full value assessment requirements each restrict different factors in this three-part equation. Property tax limitations, which restrict factor (1) in the above equation, are the most common form of restriction and have the longest history. [In the State of California, a round of tax limitations was sparked by Proposition 13 (the Jarvis-Gann initiative), adopted in June 1978 and now codified as Article XIII A of California’s Constitution. It drastically reduced the level of state and local property taxes in California by: (a) setting a maximum rate of one per cent of the tax base; (b) initially rolling back the tax base to 1975–76 assessment levels for landowners with continuous tenure; (c) severely restricting annual increases in the tax base; (d) preventing other forms of property taxation; and (e) requiring a two-thirds majority for state statutes or local referenda to increase other types of taxes. Several constitutional attacks upon the basic structure of Proposition 13 have been rejected by the California courts.] Historically, commercial and industrial property was assessed at higher levels than residential property. In several states, these differential levels were used by assessors or tax commissioners without statutory authority or even in contravention of statutory mandates. The process was maintained largely because it benefitted homeowners. During the last 25 years, however, there has been a trend toward voluntary or court-ordered “full-value assessment”, which requires that all property in the jurisdiction be assessed at its full market value, i.e., that the assessment ratio be 1.0 for all property in the jurisdiction. Compliance with a full-value requirement does not, in and of itself, solve all assessment problems. Questions remain as to what exactly constitutes full value. Market value is persuasive, but not determinative. Other factors to be considered are income potential, location, historical cost, and construction

__________ 25 See generally, Gelfand, Mintz, Salsich, State and Local Taxation and Finance, West Publishing, St. Paul, Minn., 2d ed. (2000), pp. 36–97; Swenson, Gupta, Karayan, and Neff, State and Local Taxation: Principles and Planning, Ross Publishing, 2d ed. (2004), pp. 127–144.

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costs. Comparisons to the market values of other property may be necessary, particularly when the property has not changed hands for many years, as is often true of commercial property. It is, however, difficult to determine which property to use for comparative purposes. Furthermore, it is often difficult to keep pace with rapid changes in property values throughout a large city. Computerization of the assessment process has been beneficial in responding to this problem. General homestead exemptions for residential property exist in the majority of the states. Typically, they exclude from real property taxes a specified dollar value of property owned by permanent residents, e.g., the first $5,000 of assessed value. The amount of property value exempted and the additional requirements for eligibility vary somewhat from state to state. Additional exemptions are sometimes granted to elderly persons, widows, or veterans. Another method of providing property tax relief is the “circuit breaker”, which is more narrowly tailored to benefit low-income homeowners. Its relief provisions are usually triggered when the homeowner’s property tax bill exceeds a specified portion of his or her household income. Some states grant relief in the form of a percentage of the owner’s property tax bill, with the percentage declining as the household income increases (often with a cap at a specified income level). Alternatively, circuit-breaker relief may be provided in the form of a credit against the property owner’s state income taxes or as a direct cash refund. [The states of Massachusetts and New Jersey have even provided relief for renters in their income tax systems.] Some property owners who are not entitled to an exemption are, nevertheless, unable or unwilling to pay their property taxes. Though there are procedures for imposing a tax lien on such property and forcing a tax sale to satisfy the lien, complying with these procedures is often a long, laborious process. As a result, at any particular time, the tax rolls often contain some property upon which the taxes are uncollectible. 3. Fiscal Role of Real Property Taxes Property taxes account for approximately 65 % of all state and local tax payments made by businesses. Property taxes generate over $250 billion in revenues per year. In general, there are three methods of valuation: cost, income, and market. [In tax planning, it is important to consider all elements that affect value, as well as these three approaches to value, to ensure that property is correctly valued so that a taxpayer is not paying more than his/her fair share of property taxes.] The property tax is primarily a local tax that is levied and administered by local jurisdictions rather than the states. Throughout the history of the U.S., this tax has contributed the greatest portion of revenues for local jurisdictions. However, as the U.S. economy has undergone significant changes, with services accounting for an increasingly larger share, the relative importance of the 535

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property tax as a source of local revenues has declined. [For example, whereas in the years up to World War I property taxes constituted over 90 % of the tax revenue base of local governments, that proportion declined to less than 80 % in the 1990s.] As a percentage of total revenues of local governments, the change has been dramatic – property taxes now constitute roughly 40 % of the total revenues compared with 80 % up to the 1940s. Property taxes pay for all kinds of local services, such as schools, fire stations, parks, and libraries. They are also used to provide public safety and health, transportation, and emergency services. As such, the governing body of each county, school district, city, and town levies property taxes. The property tax generally is imposed on real property and, in most states, on tangible personal property used in business. Some states, such as New Jersey, New York, and Pennsylvania, exempt personal property from the state’s property tax base. The tax is imposed on the value of property, which is usually defined as some measure of fair market value. Property values are determined by qualified appraisers, who are employed by the Assessor’s Office. In many jurisdictions, Assessors are elected to their office. Because property taxes are levied to meet projected expenditures of local jurisdictions, their amount is determined as the residual required to meet those expenses after considering the revenues from all other sources. The required property tax levy is divided by the final assessed values of the properties to compute the tax rate. Administratively, this tax rate is applied to each parcel of property on the tax rolls in proportion to its value. Statements are issued to the property owners and tax is collected usually according to a statutory schedule. The reasons why the property tax is the mainstay of local jurisdictions and why it enjoys such longevity lie in the inherent advantages of this tax. Perhaps the most significant advantage of this tax is that its base – the property on which the tax is imposed – can be easily located and identified. Further, the site where the property is located is also not very controversial most of the time, reducing concerns about which locality has the jurisdiction to impose its tax. At least for real property, it is also true that the tax base is fairly stable in that real estate is not easily moved in response to taxation. Of course, in the long run, business and personal investments in real estate can and do respond to tax impositions, but usually with a fairly long time lag. Another advantage of the property tax is that unpaid taxes can easily attach to specific property, thereby providing greater surety of their eventual collection, even if the taxpayer were to become insolvent or bankrupt. More importantly, the services financed by property taxes are overwhelmingly local: education, fire and police, street maintenance, and the like. Of course, the property tax is not without disadvantages. Its biggest advantage – the certain and determinable tax base – can turn out to be its most significant disadvantage. Specifically, economic downturns inevitably are accompanied with declines in property values, which cause the tax base to shrink. Theoretically, the local jurisdiction can continue to raise the same amount of 536

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tax revenues by simply adjusting the tax rate, but in recessionary times such actions are at best political difficulties and at a minimum ones of questionable economic prudence. Thus, the limitation of the property tax to a specific asset, which makes it so attractive as a local levy, also can contribute to its biggest difficulty. In view of this problem, it is not surprising to see local governments seek a more diverse tax base as evidenced by the declining share of property taxes as a percentage of the local tax base.

VI. The Taxation of Residential Housing in the U.S.; Federal Income Tax; Policy, Evaluation, Reform 1. Reform and Policy Issues Important questions of social and fiscal policy are involved in the present taxation of housing in the U.S.A. and in proposals for changes in the law. These include questions of economic incentive, subsidy and allocation effects and of fairness between and among taxpayers, such as tenants and homeowners, and such as low- and high income homeowners. In evaluating the Federal Income Tax benefits to homeowners, and other policy options, there should be taken into account their effects on the cost and extent of home ownership, effects on business capital formation, effects on rental housing, on house prices, locational decisions, the inflation rate and inflation-indexed benefits and on the Federal and State tax systems. (See CBO 1981.) Tax law changes in recent decades have altered the effects and distributions of Federal tax allowances for residential housing. Top income tax rates have fallen from 91 % to 70 % to 50 % to 35 %. The capital gain exclusion (of § 121) was expanded from a one-time use only for taxpayers over 55, but the § 1034 unlimited deferral/rollover rule was repealed. A dollar limit was placed on the home-mortgage interest deduction and the standard deduction (for nonitemizers) was increased. Deductibility of all other personal-use interest was repealed as of 1987. The rates of tax on long-term capital gains have been reduced in the last 20 years. More recently, the rates of tax on eligible corporate dividends have been (temporarily) reduced to the level of the capital gains rates. The passive-activity loss rules, at-risk rules and extended useful lives for depreciable real property came into being and possibly contributed to reduction in commercial rental housing starts of over 70 % from 1985–199126. Inflation has pushed more taxpayers upward toward the top tax rates. Home debt has expanded, in the aggregate and per-household27. Home prices have risen much faster than general price inflation28. Perhaps home ownership has become viewed increasingly as investment and not merely consumption29.

__________ 26 27 28 29

See Poterba, p. 8. See Greenspan. See Greenspan. See Brueckner.

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In recent years it is said that 69.8 million home holders have attained the status of home ownership in the U.S. (Snider) and that about two-thirds of U.S. residents live in owner-occupied homes (see Snider, Mann). Federal Income Tax allowances for homeowners, in the form of the mortgage interest deduction, deduction for state and local property taxes and partial exclusion of gain on the sale of a principal residence, forego substantial revenue and provide substantial benefits to homeowners. 2. Revenue Losses Estimates of revenue lost by (or the “tax expenditures” of) each of the special tax rules for housing are regularly given, usually in a static rather than a dynamic basis, by government agencies and by non-governmental organizations such as the Urban Institute and Brookings Institution. Sometimes the distributional effects of the rules are also given. In Fiscal Year 2005, the home-mortgage interest deduction in the Federal Income Tax was worth (saved taxpayers in tax) $69.7 billion U.S. dollars. The deduction for state or local real estate taxes was worth $18.6 billion. (Due to interaction effects and the standard deduction, the revenue cost of the two deductions together totals $80.9 billion rather than $88.3 billion.) The recently estimated revenue loss (tax expenditure) from the exclusion of some portion of capital gain on the sale of homes was $32.8 billion, and from the exclusion of net imputed rental income on owner-occupied homes was $28.6 billion30. The same source estimates that income tax filers in the top quintile (20 %) receive 82 % of the benefits and filers in the fourth quintile receive 15 %, while filers in the bottom quintile received just 0.3 %. [In 1995 these amounts of lost revenue were estimated to be $53.5 billion for the interest deduction, $13.7 billion for the real property tax deduction and $20.4 billion from the gain exclusion31. For 2001, the figures (estimates) were $70.8 billion for the interest deduction, $12.8 billion for the deduction for taxes and $43.9 billion for the gain exclusion. (See “Analytical Perspectives”.)] The implicit exclusion for net imputed rental income is estimated to be $33.2 billion for Fiscal 2007. Other tax expenditures for housing include the exclusion for interest on owner-occupied mortgage subsidy bonds ($1.04 billion), the exclusion of interest on rental housing bonds ($450 million), deferral of income from post-1987 installment sales ($1.16 billion), exception from passive

__________

30 See generally Carasso, Steuerle & Bell, Making Tax Incentives for Homeownership More Equitable and Efficient, T.P.C. Discussion Paper No. 21, Brookings/Urban Institute (June 2005). 31 See Snider, at notes 14–16. Estimates for the five-year 2000–2005 period were $262.6 billion for the total of home interest deductions, representing 10 % of the total “tax expenditures” for individuals over that five-year period, and greatly exceeding the amount of all direct governmental expenditures for housing. See Mann. It is “America’s favorite itemized deduction”.

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loss rules for $25,000 of rental loss ($6.23 billion), the credit for low-income housing investments ($4.25 billion), and accelerated depreciation on rental housing (normal tax method) ($11.470 billion.) See “Analytical Perspectives”.) These are in addition to direct subsidies and aid programs financed by the Federal Government to aid and subsidize home owners and home ownership. To put the Federal Income Tax tax expenditures/revenue losses related to housing in perspective, estimates [$69.4 billion for home mortgage interest deduction; $19.9 billion for property tax deduction; $24.1 billion for exclusions of capital gains on sale of principal residence] can be compared with some other tax expenditure estimates, such as: $50.4 billion from the fresh start basis at death/exclusions of gains at death; $92.2 billion for reduced rates of tax on dividends and on long-term capital gains; $7.3 billion for the medical expense deduction; $0.1 billion for the exclusion of extra-territorial income; $4.9 billion in tax credits for post-secondary education; $46 billion in tax credits for children under age 17; and $90.6 billion from the exclusion (from employees’ incomes) of employer contributions for health care, health insurance premiums and long-term care insurance premiums, etc. 3. Effects of Tax Rules Federal Income Tax rules heavily subsidize home-occupant ownership. This may lead to a lower quantity and quality of rental housing stock. It probably inflates the price of homes. [The removal of the tax subsidies would have the effect of raising the unit cost of housing and reducing the demand for owneroccupied homes. (See Hellmuth.)] It may well encourage suburban growth and density at the expense of urban taxpayers and residents. The exclusion of $250,000/$500,000 gain on the sale of a primary home, possibly as often as every two years, enacted in 1997 and replacing the former § 1034 rollover if proceeds were fully invested in a new home, may have contributed to the purchases of smaller and less expensive primary residences and use of excluded gains to purchase a second home, for recreation or as an investment. [It’s called the “downsize and add a second home strategy” vehicle. (See Harney.)] Some say that these subsidies are positive and valuable in terms of broad social policy. They arguably promote the formation of stable neighborhoods, foster civic pride and involvement, create incentives to demand and work for cleaner, safer and more congenial communities, and possibly to support good child-raising and leading to education, stable marriages, and law-abiding behavior. (See Dietz.) They subsidize state and local governments and education, etc. But the Federal tax subsidies also narrow the tax base and increase the burden on income that is not used to pay for owner-occupied housing. They may create lock-in effects and other undesirable behavioral consequences. They redistribute income and wealth. Statistics and observations such as these (and pressing revenue needs) have prompted proposals to repeal or reform these housing tax allowances. 539

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4. Reform Proposals The simplest and most radical “reform” proposal is simply to abolish the home mortgage interest deduction in the Federal Income Tax. However, the economic and social effects would be very large, and shocking if done without grandfathering in existing mortgages or providing other transitional relief32. Another proposal is to substitute a tax credit for a tax deduction in order to reduce or remove the “income-variant” benefits of the mortgage interest deduction, and perhaps to cap the credit so as to change the present law’s increased subsidy for taxpayers who borrow more. Other simple reform proposals include lowering the dollar limitation on the interest deduction, eliminating the deduction for state and local property taxes, providing a tax credit to renters, subsidizing only low-cost and earlyyear mortgages and increasing the length of time a taxpayer must live in a house to qualify it as a “principal residence” for purposes of the § 121 exclusion of gain or sale. In contrast, some have proposed establishment of taxfavored “individual housing accounts” or “individual development accounts” to provide tax deferral on savings to purchase, or make the down-payment on, a first home. Similarly, a (refundable) tax credit could be substituted for the present real estate tax deduction, for parallel reasons. And, a limit might be placed on the total credit for mortgage interest and real estate taxes combined. As a result, above the limit, borrowing more or increasing revenue in state or local real estate taxes would not generate greater Federal tax benefits, thus possibly diminishing the tax incentive to purchase even larger homes or agree to everlarger mortgages. Some of the reform options are, or can be made “revenue neutral”, though they would or could have pronounced redistributional effects, and there are transitional (and behavioral) issues. For example, the mortgage interest deduction could be replaced by a fully refundable credit equal to a fixed percentage (e.g. 16.7 % in Carasso, et al.) of interest paid. Or it might be replaced by a credit equal to a fixed percentage (e.g. 1.03 %) of home values up to a ceiling (e.g. $100,000). The real estate tax deduction could be replaced by a refundable tax credit equal to the lesser of a specified dollar amount ($280, in Carasso) or a specified percentage of real estate taxes paid on the primary residence (50 % in Carasso). Other limits have been suggested. One is to provide an annual flat credit for first-time homebuyers only (Carasso) and perhaps claimable only for the first 10 or 20 years of ownership.

__________ 32 The distributional effects of repealing the deduction have been estimated by the Tax Policy Center, by cash income class and by cash income percentile, both with and without adjustments to capital income. See July 6, 2006 Urban-Brookings Tax Policy Center Microsimulation Model, http://www.taxpolicycenter.org.

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Some of the concerns to which reform proposals are addressed include: a. excessive tax incentive for owning rather than renting a home; b. corresponding economic/industry incentives favoring construction of properties suitable for ownership vs. rental (single-family, free-standing houses vs. apartment buildings or townhouses); c. tax revenues lost far exceeding government spending on housing (low-income renters, etc.); d. distribution of average household subsidies (including rental subsidies) by income level; low-income families receive the bulk of direct assistance including rental subsidies; high-income households benefit most from tax expenditures for housing; middle-income families may suffer from not qualifying for rental subsidies, but lacking the means to buy a house or while owning one, not having the federal tax liability to itemize and fully deduct mortgage interest payments and state real property taxes; the income-variant form and effects of deductions rather than credits for mortgage interest and state property taxes; the greater benefits for larger borrowers/ interest payers (up to the $1.1 million limit) and payers of larger state taxes (on mansions or expensive first or second homes); e. differences in treatment of home owners in high-tax (residential) and lowtax states or local jurisdictions; f. differential treatment of homeowners and renters (who may bear some of the same economic burdens as owners but without the same direct Federal Income Tax benefits); g. others? 5. President’s Advisory Panel-2005 In the November 2005 Report of the President’s Advisory Panel on Federal Tax Reform, titled “Simple, Fair, & Pro-Growth: Proposals to Fix America’s Tax System”, it is recommended that the deduction for home mortgage interest be replaced (with some transition relief) by a “Home Credit” equal to 15 % of mortgage interest paid, available to all taxpayers, but limited to interest on the mortgage up to the average regional price of housing (limits ranging from about $227,000 to $412,000). Interest on second-home mortgages and on home-equity loans would no longer be deductible. As a credit, the new form would no longer be contingent on itemizing deductions. The Panel would also lengthen the time a taxpayer must own and use a principal residence before gain from the sale could be exempt from tax, from two years out of five years to three out of five years. State and local taxes would no longer be deductible, the Panel recommended. The Panel suggested that present law provides overly generous tax subsidies for taxpayers’ investment in housing, encourages overinvestment in housing at the expense of other productive uses and exceed what is necessary to encourage home ownership or help more residents purchase their first home. It may 541

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also encourage the purchase of luxury residences and vacation homes, and the home-equity loan interest deduction encourages taxpayers to use their homes as a source of tax-preferred financing for other consumer spending. Also the Panel criticized current tax incentives for housing because they are not shared equally among all taxpayers; they mostly go to the minority who itemize deductions, generally from higher-income groups. It said over 70 % of tax filers recovered no benefit from the home mortgage interest deduction in 2002, and that over 55 % of the tax expenditure went to the 12 % of taxpayers who had income of $100,000 or more in 2004. The Report pointed out that the present tax benefits for housing exceed the entire budget of the Department of Housing and Urban Development. There are over 123 million homes in America, with a home ownership rate of 69 %. Many other countries do not allow any home mortgage interest deduction, including the UK, Canada and Australia, whose rates of home ownership are roughly comparable to that in the U.S. 6. A Few Tentative Concluding Thoughts The home-mortgage interest deduction is the largest and most important of the U.S. special Federal Income Tax rules pertaining particularly to owneroccupied housing. It is very widely used, probably produces very substantial societal and economic benefits, and causes very large annual revenue losses. Viewed as a “tax expenditure” or as a subsidy and incentive to encourage home-ownership, construction and occupancy in the U.S., it has been much criticized as an “upside-down” benefit and one which perversely benefits higher-income classes and large or expensive home owners or big borrowers much more than lower-income classes or more modest home owners. Its repeal has been suggested, or limits on the amount deductible have been proposed. Some have advocated a conversion of the deduction to a credit, perhaps with strict limits or formed so as to target low-income taxpayers or firsttime home owners. Still other reforms have been proposed, including allowing the deduction (or a credit) even to U.S. taxpayers who do not “itemize” their deductions in general but take a standard deduction in lieu of itemized deductions. But both the existence and the form of the mortgage interest deduction can be justified as a matter of income tax logic and equity. The deduction can be viewed as an appropriate counterpart or parallel allowance that appropriately treats the taxpayer who borrows money from a bank or other home-mortgage lender when he or she is compared with a capital-holding taxpayer who takes from funds out of his interest-bearing bank account, or investment portfolio, and uses the money to buy outright (without a mortgage) a residence for his or her occupancy. The capital holder enjoys a tax-free benefit from his savings or wealth, because the imputed income from occupying the home acquired by cash purchase is 542

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not taxable to the owner-occupant, and he or she does not have to pay rent because he or she owns the home. Unlike the capital holder, the taxpayer who borrows to buy his or her residence must pay a cost in the form of interest to the lender, a cost that reduces the borrower’s capacity otherwise to consume or save. Allowing the borrower a deduction for this reduction in disposable income puts him or her on an equal footing, in income-tax reasoning, with the capital holder who does not have to bear such a cost (except in the form of reduced cash income from his savings account or investment portfolio) and who is not taxed on the benefits received from his capital used to buy the home – the occupancy value and freedom from having to pay rent. The form of the allowance – a deduction and not a credit – follows this logic, as it did before 1986 when all interest was deductible. This rationale also suggests that it is acceptable to not allow a deduction or a tax credit to a taxpayer who rents, rather than owning, his home. Nevertheless, changes in the income tax treatment of home mortgage interest, or rent, or state and local real property taxes, or of gains on sale of an owneroccupied residence may be desired for other tax policy or social and economic policy reasons. 7. Conclusions and Recommendations Tax policy analysts and tax reformers will need to continue to consider these prominent tax effects on housing in America: a) Federal Income Tax. aa) rule of realization; bb) implicit exclusion of imputed income; cc) home mortgage interest deductions; – acquisition indebtedness – second home – second mortgage – form of allowance: credit or deduction dd) property tax deduction; ee) exclusion of gain on sale; ff) other; equity, efficiency, simplicity. b) State Property Tax. aa) base; valuation issues; bb) rates; cc) exemptions and tax relief; dd) comparison with other forms of taxation. The attached “Appendix” gives an example, with simplified numbers, of the ways in which the Federal and State income tax benefits to homeowners may 543

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show up and bear upon a family’s choice between buying and renting equivalent homes.

VII. Appendix Purchasing or Renting a Home – Tax Considerations As an illustrative example, please consider the choices possibly facing a family of four people, husband, wife, two little children, who are thinking about buying or renting a single-family residence in the United States. Suppose the house they would like to have can be purchased for a price of $500,000. (For comparison, imagine also that it can be rented from its owner for $4,200 per month, because the owner wants to get about a 10 % annual gross return on his $500,000 cost, before depreciation, real property taxes, and maintenance expenses.) Also let us assume that the buyers have a good credit rating and could pay 20 % of the purchase price (as a “down payment”) with $100,000 they have saved or inherited and could borrow $400,000 from a bank or “savings and loan” or other lending institution at an annual interest rate of 6 %, on a 30year loan, so long as they execute a “first mortgage” to the lender, one giving it full recourse to the borrowers if they default and if the secured property does not provide enough value, when seized and sold, to satisfy the remaining balance of principal owed on the first mortgage loan. If the annual interest is 6 % of an outstanding loan balance of $400,000, at the outset, it will amount to approximately $24,000 per year, or $2,000 per month. If the principal is to be paid off over 30 years, the annual principal payments must be an average of $13,333.33 per year, or $1,111.11 per month. Also assume that the state and local real property taxes on the house are expected to be $9,000 per year, or $750 per month. If they buy the home, the family will want also to carry fire, casualty-loss and liability insurance, costing $2,400 per year, or $200 each month. Adding earthquake insurance might cost them another $1,800 per year, or $150 per month. Thus their total cash expenditures, if they buy the house, on average will be: Yearly: Loan principal payments: Loan interest payments: Real property taxes: Fire, casualty loss and liability ins. Earthquake insurance Annual total:

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$13,333.33* 24,000.00 9,000.00 2,400.00 1,800.00 $50,533.33

Monthly: Principal: Interest: Property Tax Insurance Earthquake

$1,111.11 2,000.00 750.00 200.00 150.00 $4,211.00

* As the years go by, the loan principal will have been paid down and the outstanding balance will be reduced. As a consequence, the annual interest payments will go down (even with a constant 6 % interest rate) and either the monthly payments to the lender will be reduced or, more likely, the amount of each constant payment allocable to interest will go down and, component paying off the loan principal will rise. Actual amortization tables would show somewhat different totals and allocations; the numbers used in this example are averages and are simplified for illustration purposes.

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So, the monthly cash payments ($4,211.00) will resemble the monthly rental ($4,200) payable if they rented the home instead of buying it with a firstmortgage loan (acquisition indebtedness). But this comparison must be further analyzed, because of the Federal and State income tax consequences to the family if they choose to buy the home. If they buy the home, some portion of the annual/monthly payments will be deductible for Federal and State Income Tax purposes, namely the $2,000 in mortgage interest (under I.R.C. 163) and the state/local property taxes of $750 (I.R.C. § 164). So $2,750 of each month’s payments (or $33,000 per year) will be deductible; the remaining $1,461.11, consisting of principal and insurance will not be deductible ($17,533.32 per year). If the deductions can be taken at a rate of 35 %, the family will save $11,550 per year in Federal Income Tax ($33,000 x 35 % = $11,550) or $962.50 per month. If the state of their residence allows a deduction for home mortgage interest and for the state and local real property taxes, at perhaps the rate of 9 %, the family will save another $247.50 each month (and $2,970 each year) in state income taxes ($33,000 x 9 % = $2,970). (If the State only allows an income tax deduction for the mortgage interest but not for the state and local taxes, the State income tax savings will be a smaller amount, namely $2,160 per year or $180 per month.) So, the total Federal and State Income Tax savings could total about $14,520 per year, reducing the after-tax cost of buying, owning and occupying the house (from $50,533.33) to $36,013.33 per year, or $3,001.11 per month (compared to after-tax rental cost of $4,200 per month), in addition to which the family would be saving money by paying off its loan, in the amount of $13,333.33 (average) per year. The annual after-tax cost of owning their home would be $36,013.33, much less than the annual rental of $50,400, a big saving even without regard to the added $13,333.33 of saving/investment resulting from the annual loan repayment of $13,333.33 per year. (Of course, as owners they will have to pay for any maintenance or repairs themselves. But as renters they probably would also want to carry renters’ liability etc. insurance, an added cost.) This basic example strongly suggests how the Federal and State Income Tax deductions for home mortgage interest and state or local real property taxes create strong incentives for home ownership as compared with home rental for many families in the United States, and probably affect the markets, prices and allocations of assets and construction between single-family owner-occupied residences (or condominiums and town houses) and rental real estate (apartment buildings and some town houses or free-standing houses) in the U.S.*

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* Of course, if the owner and potential landlord of the house were to calculate his or her tax savings from taking Federal and State Income Tax depreciation/cost recovery deductions and deductions for state and local real property taxes, insurance and maintenance and other costs, he might pass part of the tax benefits along to the potential tenant in the form of reduced rental payments, making the comparison between the after-tax costs of buying and renting a closer one, and affecting the allocation of resources and investment and owner-occupancy rate in the economy as a whole.

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VIII. Some References on U.S. Taxation of Housing Jan K. Brueckner, Consumption and Investment Motives and the Portfolio Choices of Homeowners, THE JOURNAL OF REAL ESTATE FINANCE AND ECONOMICS, Springer, vol. 15(2), pages 159-80, October 1997. Carasso, Steuerle & Bell, Making Tax Incentives for Homeownership More Equitable and Efficient, T.P.C. Discussion Paper No. 21, Brookings/Urban Institute (June 2005). 2006 STATE TAX HANDBOOK, CCH Tax Law Editors, Wolters Kluwer, Chicago (2005). Congressional Budget Office, THE TAX TREATMENT OF HOMEOWNERSHIP: ISSUES AND OPTIONS, U.S. Government Printing Office (1981). Robert D. Dietz, THE SOCIAL CONSEQUENCES OF HOMEOWNERSHIP. Ohio State University Department of Economics and Center for Urban and Regional Analysis, June 18, 2003. Executive Office of the President of the United States, ANALYTICAL PERSPECTIVES: BUDGET OF THE U.S. GOVERNMENT, FISCAL YEAR 2007. Gelfand, Moritz & Salsich, STATE AND LOCAL TAXATION AND FINANCE (IN A NUTSHELL), West Publishing Co., (2000). Remarks by Chairman Alan Greenspan to the American Bankers Association Annual Convention, Palm Desert, California (via satellite). September 26, 2005. Available at: ww.federalreserve.gov/BOARDDOCS/SPEECHES/2005. Gyomko & Sinai, The Spatial Distribution of Housing-Related Tax Benefits in the United States, NBER Working Papers 8165, Cambridge, Mass. (2001). Harberger & Bailey, THE TAXATION OF INCOME FROM CAPITAL, Washington, D.C.: The Brookings Institution, p. 50 (1969). Harney, “Tax Law Change Has Created Rush for Second Homes”, San Francisco Chronicle, April 2, 2006, “Real Estate” section. Thomas I. Hausman, The Tax Consequences of Home Ownership, 13 THE PRACTICAL TAX LAWYER No. 3, p. 25 (Spring, 1999). Walter Hellmuth, Homeowner Preferences, in Pechman, Ed., COMPREHENSIVE INCOME TAXATION, Washington, D.C.: Brookings Institution, 1977, pp. 163– 172. J.C.T. Staff, ESTIMATES OF FEDERAL TAX EXPENDITURES FOR FISCAL YEAR 2006– 2010, U.S. Government Printing Office, April 25, 2006. David Laidler, Income Tax Incentives for Owner-Occupied Housing, in THE TAXATION OF INCOME FROM CAPITAL, Washington, D.C.: The Brookings Institution, p. 50 (1969). Roberta F. Mann, The (Not So) Little House on the Prairie: The Hidden Costs of the Home Mortgage Interest Deduction, 32 ARIZ. ST. L.J. 1347 (2000). McIntyre, Sander & Westfall, READINGS IN FEDERAL TAXATION, 2nd ed., p. 214 (1983). McNulty & Lathrope, FEDERAL INCOME TAXATION OF INDIVIDUALS, St. Paul: Thomson/West (2004). Moody, J. Scott, State and Local Property Tax Collections, 91 TAX FOUNDATION SPECIAL REPORT, October 1999.

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The Taxation of Housing in the United States

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Hartmut Söhn

Vorsorgeaufwendungen und einkommensteuerrechtliches Existenzminimum Verfassungsrechtliche und steuersystematische Aspekte des „Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung“

Inhaltsübersicht I. Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen II. Vorgaben des BVerfG III. Umsetzung durch den Gesetzgeber 1. Abzug von der Bemessungsgrundlage

2. Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für einen Basiskrankenversicherungsschutz/eine gesetzliche Pflegeversicherung 3. Abzugsfähigkeit von sonstige Vorsorgeaufwendungen IV. Zusammenfassung

I. Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen Durch das Gesetz zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung) v. 16.7.20091 ist die Abzugsfähigkeit von Beiträgen zu Krankenversicherungen und gesetzlichen Pflegeversicherungen (soziale Pflegeversicherung und private PflegePflichtversicherung) sowie zu sonstigen Vorsorgeaufwendungen neu geregelt worden2. Insbesondere gilt nunmehr: Beiträge zu Krankenversicherungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a EStG n. F. („Basiskrankenversicherungsschutz“) und zu gesetzlichen Pflegeversicherungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EStG n. F. sind – anders als im früheren Recht – für jedermann unbeschränkt abzugsfähig. Sonstige Vorsorgeaufwendungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3a EStG n. F. werden zwar im Rahmen der auf 2800 €/1900 € angehobenen Höchstbeträge (§ 10 Abs. 4 Satz 1–3 EStG n. F.) steuermindernd berücksichtigt, aber nur, wenn und soweit der Steuerpflichtige die Höchstbeträge nicht bereits durch Beiträge zu Krankenversicherungen und Pflegeversicherung i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a und b EStG n. F. ausgeschöpft hat.

II. Vorgaben des BVerfG Die Neuregelungen über die Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen sind durch das BVerfG ausgelöst worden, das durch Beschluss vom 13.2.20083 ent-

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1 BGBl. I 2009, 1959. 2 Vgl. dazu auch Wernsmann, NJW 2009, 3681 ff. 3 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 ff.; vgl. ferner BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvR 1220/04, BVerfGE 120, 169 (179).

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schieden hat, dass das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums nicht nur das sog. sächliche Existenzminimum schützte. Auch Beiträge zu privaten Versicherungen für den Krankheits- und Pflegefall könnten Teil des einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimums sein. Für die Bemessung des existenznotwendigen Aufwands sei auf das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau als eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene abzustellen und hierbei auf der Beitragsseite anzusetzen4. Aufwendungen, die zur Erlangung eines sozialhilfegleichen Krankenversorgungsniveaus nach Art und Umfang erforderlich sein, müssten abzugsfähig sein. Die Entscheidung hat seinerzeit nicht nur die Öffentlichkeit überrascht, sie wirft auch grundsätzliche verfassungsrechtliche und steuersystematische Fragen auf. Zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimums vertritt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung folgende Auffassung: Nach dem aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG abzuleitenden Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums müsse der Staat das Einkommen des Bürgers insoweit steuerfrei stellen, als dieser es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins für sich und seine Familie benötige. Dem Grundgedanken der Subsidiarität, wonach Eigenversorgung Vorrang vor staatlicher Fürsorge habe, entspreche es, dass sich die Bemessung des einkommensteuerrechtlichen maßgeblichen Existenzminimums nach dem im Sozialhilferecht niedergelegten Leistungsniveau richte. Was der Staat dem Einzelnen voraussetzungslos aus allgemeinen Haushaltsmitteln zur Verfügung zu stellen habe, dürfe er ihm nicht durch Besteuerung seines Einkommens entziehen5. Die insoweit von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden Aufwendungen zur Sicherung des Existenzminimums seien vom Steuergesetzgeber nach dem tatsächlichen Bedarf realitätsgerecht zu bemessen6. In einem verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnis dazu stehe die Befugnis des Gesetzgebers, bei der Ordnung der steuerrechtlichen Massenverfahren die Vielzahl der Einzelfälle in einem Gesamtbild erfassen und auf dieser Grundlage

__________ 4 Vgl. auch Schulemann in Karl-Bräuer-Institut, Sonderausgabenabzug von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherungen, 2009, S. 6. 5 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 (85 f., 94) = FR 1990, 449; v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 (169 f.) = FR 1992, 810; v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (259) = FR 1999, 139; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 1735/00, BVerfGE 107, 27 (48); v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (281) = FR 2005, 759; v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (155). 6 BVerfG v. 22.2.1984 – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 = FR 1984, 340 (223); v. 17.10.1984 – 1 BvR 527/80, 1 BvR 528/81, 1 BvR 441/82, BVerfGE 68, 143 (153) = FR 1985, 23 = FR 1985, 158; v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 (88) = FR 1990, 449; v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (260) = FR 1999, 139; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280 f.) = FR 2005, 759; v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (155).

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typisierende Regelungen zu treffen7. Hierbei müsse aber im Bereich der Steuerfreiheit des Existenzminimums dafür Sorge getragen werden, dass typisierende Regelungen in möglichst allen Fällen den entsprechenden Bedarf abdecken8. Aus Art. 3 Abs. 1 GG sei der Gesetzgeber außerdem an das Gebot hinreichender Folgerichtigkeit gebunden. Eine einmal getroffene Belastungsentscheidung müsse danach folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden. Ausnahmen hiervon bedürften eines besonderen sachlichen Grundes9. Diese Rechtsprechung des BVerfG zur Steuerfreiheit des Existenzminimums ist heute im Ergebnis außer Streit, betraf allerdings bis zur Entscheidung vom 13.2.2008 nur das sog. sächliche Existenzminimum (Aufwendungen für Nahrung, Kleidung, Hygiene, Hausrat, Wohnung und Heizung), nicht aber Vorsorgeaufwendungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 2 und 3, 3a EStG. Das eigentlich Neue ist deshalb die vom BVerfG im Beschluss vom 13.2.2008 vertretene Ansicht, dass Aufwendungen des Steuerpflichtigen für die Kranken- und Pflegeversorgung, insbesondere entsprechende Versicherungsbeiträge, ebenfalls Teil des einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimums sein könnten. Das ist bis dahin anders gesehen worden: Vorsorgeaufwendungen waren nach Auffassung des Schrifttums Ausgaben, die dem Steuerpflichtigen und seiner Familie vor existenziellen, privaten Lebensrisiken (Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Tod eines Familienangehörigen, Unfallschäden, Arbeitslosigkeit, vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit, Haftpflicht) schützen und im Alter existenzsichernd sein sollen. Sowohl der Schutz vor existenziellen Lebensrisiken als auch das Bedürfnis nach einer existenziellen Sicherung zwinge zur Vorsorge, weil sie Voraussetzungen für eine „sozialgerechte Existenz“10 seien. Vorsorgeaufwendungen seien deshalb dem Grunde nach für jedermann unvermeidbare Privatausgaben, die die subjektive Leistungsfähigkeit11 minderten12 und deshalb ohne Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit nicht außer Acht gelassen werden dürften (subjektives Nettoprinzip; privates Nettoprinzip). Die Frage einer Zuord-

__________ 7 Vgl. BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 (172) = FR 1992, 810; v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 (290) = FR 1999, 254; v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (127) = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 = FR 2005, 759 (280 f.); v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (155). 8 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 (91) = FR 1990, 449; v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 (172) = FR 1992, 810. 9 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 = FR 1999, 254 (290); v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 1735/00, BVerfGE 107, 27 (46 f.); v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (155). 10 So bereits Lang, StuW 1974, 293 (298); vgl. ferner Söhn, StuW 1985, 395 (400 ff.); StuW 1990, 356 (359); Tipke, StuW 1976, 157 (160); i. E. auch Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2009, § 9 Rz. 711. 11 Vgl. dazu allgemein Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., 2009, § 9 Rz. 69 ff. 12 Vgl. statt vieler Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 2009, § 10 Rz. E 3 m. w. N.

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nung von Vorsorgeaufwendungen zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimum stellte sich deshalb für das Schrifttum nicht13. Die frühere Rechtsprechung des BVerfG ist insoweit ebenfalls unergiebig: Im Urteil zur Rentenbesteuerung14 hat der 2. Senat eine Zuordnung von Altersvorsorgeaufwendungen zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimum weder diskutiert noch überhaupt angesprochen und in der 2002 ergangenen Entscheidung zur doppelten Haushaltsführung wird die Frage, „wieweit über den Schutz des Existenzminimums hinaus auch sonstige unvermeidbare oder zwangsläufige private Aufwendungen bei der Bemessungsgrundlage einkommensteuermindernd zu berücksichtigen sind“, als „verfassungsgerichtlich bislang noch nicht abschließend geklärt“ bezeichnet15. Selbst im Beschluss zur Abzugsfähigkeit von Aufwendungen des Steuerpflichtigen für eine Krankenund Pflegeversorgung bestätigt der 2. Senat zunächst mit dem Hinweis, dass der Gesetzgeber die unterschiedliche Minderung der subjektiven Leistungsfähigkeit durch Beiträge der Arbeitnehmer zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung und der Selbständigen zu privaten Kranken- und Pflegepflichtversicherungen nicht willkürlich ignorieren dürfe, dass eine Minderung der subjektiven Leistungsfähigkeit durch entsprechende Beitragszahlungen dem Grunde nach vorliegt. Dann stellt er aber im Weiteren „ziemlich unvermittelt“ fest, dass derartige Aufwendungen ebenso wie Ausgaben für das sog. sächliche Existenzminimum „Teil des einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimums sein“ könnten16. Die neue Zuordnungsentscheidung für Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversorgung unterscheidet sich im grundsätzlichen Ergebnis nicht von der im Schrifttum und vom BFH17 vertretenen Ansicht, dass entsprechende Vorsorgeaufwendungen dem Grunde nach die subjektive Leistungsfähigkeit mindern (steuermindernd berücksichtigt werden müssen). Insoweit bringt die Rechtsprechung des BVerfG keine grundlegende Änderung. Aus der Zuordnung der Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversorgung zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimum folgert indes der Zweite Senat einen „besonderen“ Ansatz für die Bemessung der abzugsfähigen Aufwendungen; und darin liegt das eigentliche Neue. Während der Steuerpflichtige nach Ansicht des Schrifttums18 jedenfalls Ausgaben bis zur Höhe der Pflichtsozialversicherungsbeiträge abziehen kann und privat Versicherte aus Gründen der steuerlichen Gleichbehandlung einen entsprechenden Sonderausgabenabzug haben müssen,

__________ 13 Das Bundesministerium der Finanzen hat im Verfahren vor dem BVerfG sogar ausdrücklich vortragen lassen, Krankenversicherungsbeiträge seien „von vornherein kein Element des existenznotwendigen Bedarfs“ und gehörten nicht zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimum (BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 [138, 139]). 14 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer. 15 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 1735/00, BVerfGE 105, 27 (48, 49). 16 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (156). 17 BFH v. 14.12.2005 – X R 20/04, BStBl. II 2006, 312 ff., Vorlagebeschluss. 18 Vgl. statt vieler Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 2009, § 10 Rz. E 3, S 24, 446 m. w. N.

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ist nach Auffassung des BVerfG bei Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversorgung „streng auf das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau als eine das Existenzminimum qualifizierende Vergleichsebene abzustellen“19. Dementsprechend lasse sich entgegen der Meinung des BFH20 aus dem Gebot der Folgerichtigkeit nicht allgemein ableiten, dass der Steuerpflichtige unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“ jedenfalls Ausgaben bis zur Höhe der Pflichtsozialversicherungsbeiträge von der einkommensteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage abziehen können müsse. Das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums gewährleiste dem Steuerpflichtigen einen Schutz des Lebensstandards „nicht auf Sozialversicherungs-, sondern nur auf Sozialhilfeniveau“. Indes: Eine tragfähige Begründung hierfür fehlt. Das BVerfG verweist lediglich auf „BVerfGE 99, 246 (259)“. Dort heißt es zum sächlichen Existenzminimum, das Grundgesetz fordere, dass existenznotwendiger Aufwand in angemessener, realitätsgerechter Höhe von der Einkommensteuer freigestellt werde und dass das Sozialhilferecht eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene biete: Das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum dürfe „den Betrag, den der Staat einem Bedürftigen im Rahmen staatlicher Fürsorge“ gewähre, „jedenfalls nicht unterschreiten“. Das ist richtig, stützt jedoch nicht die im Beschluss vom 13.2.2008 getroffene Feststellung, dass bei Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversorgung „streng21 auf das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau als eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene abzustellen“ sei. Das BVerfG hat in dem „als Begründung“ zitierten Beschluss vom 10.11.199822 das sozialhilferechtliche Existenzminimum nur – und zu Recht – als Untergrenze des einkommensteuerrechtlichen Existenzminimums definiert. Das wird im Tenor dieser Entscheidung noch deutlicher, denn dort heißt es wörtlich, das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum bilde die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, „die über-, aber nicht unterschritten werden“ dürfe. Die im Beschluss vom 13.2.2008 getroffene Feststellung, dass bei Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversorgung „streng“ auf das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau abzustellen sei und dass das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums dem Steuerpflichtigen lediglich einen Schutz des Lebensstandards auf Sozialhilfeniveau gewährleiste, entspricht deshalb tatsächlich nicht der bisherigen Rechtsprechung zum sog. sächlichen Existenzminimum, sondern definiert das bisher lediglich als Untergrenze verstandene sozialhilferechtliche Existenzminimum zugleich als verfassungsrechtliche Höchstgrenze des einkommensteuerrechtlichen Existenzminimums23. Die Begründung hierfür ist jedoch tatsächlich nicht mehr als eine Behauptung. Für die weitere „Begründung“ gilt nichts anderes. Wenn festgestellt wird, dass nur die zur Erlangung eines sozialhilfegleichen Lebensstandards erforderlichen Auf-

__________ 19 20 21 22 23

BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (156 f.). BFH v. 14.12.2005 – X R 20/04, BStBl. II 2006, 312 ff. Hervorhebung vom Verfasser. BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 (259) = FR 1999, 139. A. A.: Schulemann, a. a. O., S. 7.

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wendungen für eine Kranken- und Pflegeversorgung berücksichtigt werden müssten, „und zwar selbst dann, wenn der Steuerpflichtige faktisch oder rechtlich zu höheren Aufwendungen verpflichtet“ sei und zur Begründung auf den Beschluss des Ersten Senats vom 29.5.199024 zu Unterhaltsleistungen für Kinder verwiesen wird25, hinkt schon der Vergleich. Denn die Auffassung des Ersten Senats des BVerfG, dass es sachlich nicht geboten sei, die steuerliche Entlastung für kindesbedingte Aufwendungen am bürgerlich-rechtlichen Unterhalt auszurichten und sie damit letztlich nach dem sozialen Status der einzelnen Familie zu bestimmen, weil zu berücksichtigen sei, dass der Staat beim unterhaltsberechtigten Kind auf eine – verfassungsrechtlich zulässige – Besteuerung des Unterhalts verzichte und damit das Nettoeinkommen der Eltern ungeschmälert der Familie als Bedarfs- und Versorgungsgemeinschaft verbleibe, passt offensichtlich nicht auf Steuerpflichtige, die von Gesetzes wegen Beiträge für die Kranken- und Pflegeversorgung zahlen müssen. Bei gesetzlich beitragspflichtigen Steuerpflichtigen kann nämlich anders als bei unterhaltsverpflichteten Eltern kein irgendwie gearteter Vorteil „gegengerechnet“ werden. Vielmehr ist eher das „Gegenteil“ der Fall, denn den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung werden nach den Finanzierungsvorschriften des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) Zwangsbeiträge auferlegt, die nicht allein der Absicherung ihres eigenen Krankheitsrisikos dienen, sondern zugleich dem sozialen Ausgleich und der Umverteilung. Deshalb mag die Feststellung im Beschluss vom 13.2.2008, dass das „Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums“ nicht den Sinn habe, die Kosten eines über dem Sozialhilfeniveau liegenden Lebensstandards über die Einkommensteuer auf die Allgemeinheit zu verteilen“26, für Privatversicherte, die einen über einen Basiskrankenversicherungsschutz hinausgehenden Versicherungsschutz vereinbaren, z. T. einsichtig sein. Bei den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherungen ist das aber jedenfalls nicht der Fall, wenn und soweit gesetzliche Zwangsbeiträgen nicht der Absicherung des eigenen Krankheitsrisikos dienen, sondern Solidarlasten darstellen; die Beitragshöhe ist insoweit vom versicherten Krankheitsrisiko entkoppelt und auch das Leistungsniveau weitgehend unabhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge. Überspitzt formuliert lässt sich nach alledem zusammenfassen: Das BVerfG hat Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversorgung, insbesondere entsprechende Versicherungsbeiträge, nur deshalb dem einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimum zugeordnet, um eine offensichtlich erwünschte generelle Beschränkung des abzugsfähigen Aufwands auf das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau zu erreichen. Eine solche Zuordnung ist sicherlich möglich, die Folgerung hieraus (Orientierung am sozialhilferechtlichen Leistungsniveau) wird aber letztlich nur behauptet. Denn die zur „Begründung“ zitierten früheren bundesverfassungsgerichtlichen Entschei-

__________ 24 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 (91) = FR 1990, 449. 25 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (164). 26 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (164).

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dungen stützen weder eine strikte Orientierung am sozialhilferechtlich gewährleisteten Leistungsniveau noch die Nichtberücksichtigung gesetzlicher Zwangsbeiträge bis zur Höhe der Pflichtsozialversicherungsbeiträge.

III. Umsetzung durch den Gesetzgeber 1. Abzug von der Bemessungsgrundlage Der Gesetzgeber hat die Entscheidung des BVerfG im „Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung“ umgesetzt und hierbei an der von ihm selbst getroffenen Grundentscheidung, Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherungen ausschließlich über einen Sonderausgabenabzug (§ 10 Abs. 1 Nr. 3, 3a, Abs. 4 EStG a. F.) zu berücksichtigen, festgehalten. Ob dem Gesetzgeber neben diesem Abzug von der Bemessungsgrundlage noch andere steuersystematische Lösungen zur Freistellung des Existenzminimums zur Verfügung gestanden hätten, wird ausdrücklich offen gelassen27. Dies erklärt sich aus der Zuordnung der Aufwendungen für eine Kranken- und Pflegeversorgung zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimum. Denn in welcher Weise das (sog. sächliche) Existenzminimum steuerlich berücksichtigt wird, hat der 2. Senat dem Gesetzgeber – anders als z. B. bei der steuermindernden Berücksichtigung von Kinderunterhaltslasten (zwingende Kürzung der Bemessungsgrundlage)28 – „freigestellt“29. 2. Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für einen Basiskrankenversicherungsschutz/eine gesetzliche Pflegeversicherung Der Gesetzgeber hat die Vorgaben des BVerfG in § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a und b EStG n. F. wie folgt umgesetzt: – Beiträge zu Krankenversicherungen sind abzugsfähig, „soweit sie zur Erlangung eines durch das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch bestimmten sozialhilfegleichen Versorgungsniveaus erforderlich sind. Für Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sind dies die nach dem Dritten Titel des Ersten Abschnitts des Achten Kapitels des Fünften Buches Sozialgesetzbuch oder die nach dem Sechsten Abschnitt des Zweiten Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte festgesetzten Beiträge. Für Beiträge zu einer privaten Krankenversicherung sind dies die Beitragsanteile, die auf Vertragsleistungen entfallen, die, mit Ausnahme der auf das Krankengeld entfallenden Beitragsanteile, in Art und Umfang und Höhe den Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vergleichbar sind, auf die ein Anspruch besteht. Wenn sich aus den Krankenversicherungsbeiträgen ein Anspruch auf Krankengeld oder ein Anspruch eine Leistung, die anstelle von Krankengeld gewährt wird, ergeben kann, ist der jeweilige Beitrag um 4 Prozent zu vermindern“ (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a EStG n. F.).

__________ 27 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (158). Vgl. dazu auch – kritisch – Wernsmann, NJW 2009, 3681 f. 28 Vgl. dazu Söhn, Kindergrundfreibetrag und Verfassungsrecht, FS für H. Bethge, 2009, S. 439 ff. m. w. N. 29 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, 152 (169 f.).

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– Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherungen (soziale Pflegeversicherung und private Pflege-Pflichtversicherung) sind unbeschränkt abzugsfähig (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EStG n. F.). Für die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für einen Krankenversicherungsschutz/Pflegeversicherungsschutz bedeutet das: Zwar sind nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a Satz 1 EStG n. F. nur die zur Erlangung eines durch das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch bestimmten sozialhilfegleichen Versorgungsniveaus erforderlichen Aufwendungen abzugsfähig. Da die Empfänger von Sozialhilfe aber eine Krankenversorgung auf dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung (und Pflegeleistungen auf dem Niveau der gesetzlichen Pflegeversicherung) erhalten, bestimmt der (Sozial)Gesetzgeber die zur Erlangung eines sozialhilfegleichen Versorgungsniveaus in der Krankenversorgung erforderlichen Aufwendungen („Basiskrankenversicherungsschutz“) durch die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung30. Gesetzlich Krankenversicherungspflichtige können folglich grundsätzlich – Ausnahmen gelten für spezielle Leistungselemente wie das Krankengeld – die (konkreten) Beiträge für ihre Krankenversicherung in voller Höhe abziehen31. Die „Vorgabe“ des BVerfG, dass das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums dem Steuerpflichtigen einen Schutz des Lebensstandards „nicht auf Sozialversicherungs-, sondern nur auf Sozialhilfeniveau“ gewährleiste, ist zwar formal (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a Satz 1 EStG n. F.) erfüllt, der Sache nach (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a Satz 2 EStG n. F.) können aber gesetzlich Krankenversicherungspflichtige ihre jeweiligen Zwangsbeiträge abziehen. Das sind Aufwendungen auf „Sozialversicherungsniveau“ und zugleich die Ausgaben, die unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“ abzugsfähig sein müssen. Im tatsächlichen Ergebnis „korrigiert“ damit der Gesetzgeber das BVerfG und „übernimmt“ die im Schrifttum und vom BFH vertretene Lösung (Abzugsfähigkeit gesetzlicher Zwangsbeiträge). Da privat Krankenversicherte Beiträge zu einer Krankenversicherung abziehen können, wenn und soweit sie auf Vertragsleistungen entfallen, die nach Art, Umfang und Höhe dem Dritten Kapitel SGB V entsprechen („Basiskrankenversicherungsschutz“), gewährleistet die Bezugnahme auf den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung die Gleichbehandlung von privat und gesetzlich Versicherten, weil Aufwendungen für einen vertraglich vereinbarten Basiskrankenversicherungsschutz „faktisch zwangsläufig“ sind. Für die unbeschränkte Abzugsfähigkeit der Beiträge zu gesetzlichen Pflegeversicherungen gilt das alles erst recht. Kurzum: Der Gesetzgeber hat eine verfassungsrechtlich und steuersystematisch „bessere“ Regelung getroffen als das BVerfG vorgegeben hatte.

__________ 30 Vgl. auch Schulemann, a. a. O., S. 6. 31 Vgl. auch Grün, Die Absetzbarkeit von Vorsorgeaufwendungen nach dem Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung, DStR 2009, 1457 (1459).

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3. Abzugsfähigkeit von sonstige Vorsorgeaufwendungen Zweifel werfen die für sonstigen Vorsorgeaufwendungen in § 10 Abs. 1 Nr. 3a, Abs. 4 EStG n. F. getroffenen Regelungen32 auf. Das BVerfG hat nur über Aufwendungen für eine Kranken- und Pflegeversorgung entschieden. Ob und was verfassungsrechtlich für sonstige Vorsorgeaufwendungen gilt (gelten muss), insbesondere eine etwaige Zuordnung zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimum, ist deshalb offen. Im Referentenentwurf und im Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein „Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung“33 war zwar ein unbeschränkter Abzug der Aufwendungen für einen „Basiskrankenversicherungsschutz“ sowie für gesetzliche Pflegeversicherungen (soziale Pflegeversicherung und private Pflegepflichtversicherung) vorgesehen. Beiträge zu sonstigen Vorsorgeaufwendungen, wie z. B. Beiträge für eine Arbeitslosen-, eine Berufsunfähigkeits-, eine Haftpflicht- oder eine Unfallversicherung sowie Beiträge zugunsten bestimmter Kapitallebensversicherungen oder Beiträge für eine über das Sozialhilfeniveau hinausgehende Krankenversorgung (z. B. für eine Chefarztbehandlung; Ein-Bett-Zimmer im Krankenhaus; Wahltarife) sollten aber nur noch in den Kalenderjahren 2010 – 2019 im Rahmen einer sog. Günstigerprüfung berücksichtigt werden (§ 10 Abs. 4 des Gesetzentwurfs). Eine Begründung hierfür fehlte. Es hieß lediglich, dass eine steuerlich begünstigte Absicherung gegen das Risiko der Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit weiterhin im Rahmen einer Basisabsicherung im Alter möglich sei. Diese Versicherungskomponente sei in den entsprechenden Alterssicherungssystemen teilweise automatisch enthalten, z. B. in der gesetzlichen Rentenversicherung und in der berufsständischen

__________

32 Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherungen, die nicht nach § 10 Abs. 3 Buchst. a EStG berücksichtigt werden, Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, zu Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsversicherungen, die nicht unter § 10 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. b EStG fallen, zu Unfall- und Haftpflichtversicherungen sowie zu Risikoversicherungen, die nur für den Todesfall eine Leistung vorsehen und Beiträge zu Versicherungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b Doppelbuchstabe bb bis dd EStG in der am 31.12.2004 geltenden Fassung sind nach dem neuen § 10 Abs. 1 Nr. 3a EStG n. F. Sonderausgaben (sonstige Vorsorgeaufwendungen). Vorsorgeaufwendungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3 und 3a EStG n. F. können je Kalenderjahr insgesamt bis 2800 € abgezogen werden (§ 10 Abs. 4 Satz 1 EStG n. F.). Bei Steuerpflichtigen, die ganz oder teilweise ohne eigene Aufwendungen einen Anspruch auf vollständige oder teilweise Erstattung oder Übernahme von Krankheitskosten haben oder für deren Krankenversicherung Leistungen i. S. d. § 3 Nr. 9, 14, 57 oder 62 EStG erbracht werden, beträgt der Höchstbetrag 1900 € (§ 10 Abs. 4 Satz 2 EStG n. F.). Bei zusammen veranlagten Ehegatten bestimmt sich der gemeinsame Höchstbetrag aus der Summe der jedem Ehegatten unter den Voraussetzungen von § 10 Abs. 4 Satz 1 und 2 EStG n. F. zustehenden Höchstbeträge (§ 10 Abs. 4 Satz 3 EStG). Übersteigen die Vorsorgeaufwendungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3 EStG n. F. (Beiträge zu Krankenversicherungen und Pflegeversicherungen) die nach § 10 Abs. 4 Satz 1 bis 3 EStG n. F. zu berücksichtigenden Vorsorgeaufwendungen, sind diese (unbeschränkt) abzuziehen und ein Abzug von sonstigen Vorsorgeaufwendungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3a EStG n. F. (sonstige Vorsorgeaufwendungen) scheidet aus (§ 10 Abs. 4 Satz 4 EStG n. F.). 33 BT-Drucks. 16/12254.

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Versorgung, oder könne von einem Steuerpflichtigen mit abgeschlossen werden (Basisrente i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG). Das gelte vergleichbar auch für den Bereich der Hinterbliebenenabsicherung. Zudem handele es sich bei der Arbeitslosenversicherung um eine Versicherung, mit der die Folgen eines durch Arbeitslosigkeit bedingten Verdienstausfalls – insoweit vergleichbar einem Krankengeld – gemindert werden sollten. Die gewährten Leistungen seien steuerfrei und unterlägen lediglich dem Progressionsvorbehalt. Auch vor diesem Hintergrund sei ein gesonderter Abzugtatbestand nicht angezeigt34. Die vorgesehene Nichtabzugsfähigkeit sonstiger Vorsorgeaufwendungen ist schon im Vorfeld kritisiert und im Gesetzgebungsverfahren auf Vorschlag des Finanzausschusses35 durch eine neue Höchstbetragsregelung (§ 10 Abs. 4 EStG n. F.) ersetzt worden. Zur Begründung heißt es: Die Abziehbarkeit sonstiger Vorsorgeaufwendungen i. S. d. in § 10 Abs. 1 Nr. 3a EStG n. F. getroffenen Definition sei zwar verfassungsrechtlich nicht geboten, in bestimmten Fallkonstellationen könne aber eine steuerliche Berücksichtigung der entsprechenden Aufwendungen einen „sozialpolitischen sinnvollen Anreiz setzen“. Deshalb werde in Anlehnung an das frühere Recht für Beiträge zugunsten einer Basiskranken- und Pflegeversicherung und für sonstige Vorsorgeaufwendungen ein gemeinsamer Höchstbetrag eingeführt. Die Beiträge für eine Basiskrankenund eine Pflegepflichtversicherung seien aber immer in vollem Umfang abziehbar. Insbesondere für Arbeitnehmer mit kleineren und mittleren Einkommen ergäben sich aber Spielräume für die steuerliche Berücksichtigung von sonstigen Vorsorgeaufwendungen. Gerade in diesen Fällen könne eine zusätzliche Absicherung gegen andere Lebensrisiken sinnvoll sein. Mit steigendem Einkommen und damit verbundenen steigenden Krankenversicherungsbeiträgen verringere sich das im Rahmen des gemeinsamen Höchstbetrags für sonstige Vorsorgeaufwendungen zur Verfügung stehende Abzugsvolumen ggf. bis auf Null. Damit werde berücksichtigt, dass die Bezieher höherer Einkommen eine zusätzliche Vorsorge für andere Lebensrisiken aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen auch „ohne eine Beteiligung des Fiskus“ finanzieren könnten. Damit werde ein zielgerichteter Anreiz zum eigenverantwortlichen Umgang mit den Ressourcen des öffentlichen Gesundheitssystems gesetzt. Vereinbare der Versicherte im Rahmen seiner Krankenversicherung z. B. einen Selbstbehalt oder erhalte er eine Beitragsrückerstattung von seiner Versicherung, so sänken die von ihm geleisteten Versicherungsbeiträge und es erhöhe sich gegebenenfalls der Spielraum für die Geltendmachung von weiteren sonstigen Vorsorgeaufwendungen36. Falls sonstige Vorsorgeaufwendungen nur abzugsfähig sind, wenn und soweit die Höchstbeträge nach § 10 Abs. 4 Sätze 1–3 EStG n. F. nicht durch unbeschränkt abzugsfähige Aufwendungen für einen Basiskrankenversicherungsschutz und für gesetzliche Pflegeversicherungen (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a und b EStG n. F.) ausgeschöpft sind (§ 10 Abs. 4 Satz 4 EStG n. F.), werden

__________ 34 BT-Drucks. 16/12254, 23. 35 BT-Drucks. 16/13429, S. 16, 67 f. 36 BT-Drucks. 16/13429, 68.

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Vorsorgeaufwendungen und einkommensteuerrechtliches Existenzminimum

sonstige Vorsorgeaufwendungen den grundsätzlich nicht abzugsfähigen Aufwendungen zugeordnet. Ist die Abzugsfähigkeit sonstiger Vorsorgeaufwendungen nach dem Grundsatz der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit verfassungsrechtlich zwingend, ist eine solche Regelung indes verfassungswidrig. Dass Aufwendungen für einen Basiskrankenversicherungsschutz in größerem Umfang abzugsfähig sind als im früheren Recht, könnte dies nicht infrage stellen37. Kann der Gesetzgeber hingegen über eine Abzugsfähigkeit sonstiger Vorsorgeaufwendungen „frei entscheiden“, ist die Abzugsfähigkeit sonstiger Vorsorgeaufwendungen eine Subvention insbesondere für Arbeitnehmer mit kleineren und mittleren Einkommen. Der Finanzausschuss geht wie selbstverständlich davon aus, dass die Abziehbarkeit sonstiger Vorsorgeaufwendungen „verfassungsrechtlich nicht geboten“ sei38. Eine Begründung hierfür sucht man allerdings vergeblich. Ob sonstige Vorsorgeaufwendungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3 a EStG n. F. dem einkommensteuerrechtlichen Existenzminimums zugeordnet werden können, hat das BVerfG für Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherungen, die keine Aufwendungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a und b EStG n. F. für einen Basisversicherungsschutz/gesetzliche Pflegeversicherung darstellen, verneint. Da gesetzlich Krankenversicherte die Zwangsbeiträge für eine Basiskrankenversicherung nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a EStG n. F. in voller Höhe abziehen können, ist die Abzugsfähigkeit von Beiträgen für Zusatzleistungen, z. B. für ein Krankengeld, auch nicht wegen „Zwangsläufigkeit“ verfassungsrechtlich geboten. Entsprechendes gilt für Beiträge zu einer privaten Krankenversicherung, die auf das Krankengeld entfallen oder/und auf Vertragsleistungen, die nicht nach Art, Umfang und Höhe dem Dritten Kapitel SGB V („Basisleistungen“) entsprechen (Chefarztbehandlung, Ein-Bett-Zimmer usw.). Über andere „sonstige Vorsorgeaufwendungen“ (Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, zu selbständigen Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsversicherungen, zu Unfall- und Haftpflichtversicherungen, zu Risikoversicherungen, die nur für den Todesfall eine Leistung vorsehen und zu Versicherungen i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b Doppelbuchst. bb bis dd in der am 31.12.2004 geltenden Fassung) hat das BVerfG nicht entschieden. Insoweit gilt: – Beiträge zu Haftpflichtversicherungen sowie zu Todesfallrisikolebensversicherungen sind zum Schutz vor nicht kalkulierbaren, existenziellen Kostenrisiken bzw. zum Schutze der Hinterbliebenen vielfach faktisch zwangsläufig39, eine Zuordnung zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimum dürfte indes ausscheiden40. Gesetzliche Zwangsbeiträge müssten indes wegen Zwangsläufigkeit abzugsfähig sein.

__________ 37 Missverständlich Gunter, Der Regierungsentwurf zum Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung, DStR 2009, 565 (566). 38 BT-Drucks. 16/13429, 68. 39 Vgl. Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 2009, § 10 Rz. E 35. 40 A. A.: Schulemann, a. a. O., S. 13 f.

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– Unfallversicherungen schützen gegen die Folgen von Unfällen, folglich u. U. vor existenziellen Lebensrisiken. Eine Zuordnung der Beiträge für einen „Mindestunfallschutz“ zu den Aufwendungen für das einkommensteuerrechtliche Existenzminimum kommt jedoch nicht in Betracht, weil ein „Mindestunfallschutz“ in Deutschland weder rechtlich noch tatsächlich Teil des allgemeinen persönlichen Existenzminimums ist41. Dass Beiträge zu Unfallversicherungen (und Haftpflichtversicherungen) nach dem „Leitfaden“ zum Arbeitslosengeld II bzw. zur Sozialhilfe nach dem SGB VII zum sozialhilferechtlichen Grundbedarf gehören, indiziert noch keine (verfassungs-)rechtliche Zuordnung zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimums42. Allerdings müssten Beiträge zu einer gesetzlichen Unfallversicherung unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“ abzugsfähig sein. Wenn der Gesetzgeber insoweit eine „Zwangsvorsorge“ auferlegt, mindern die (insoweit) indisponiblen Zahlungen die subjektive Leistungsfähigkeit der Zahlungspflichtigen43. – Das Risiko der Berufsunfähigkeit oder einer verminderten Erwerbsfähigkeit ist z. T. in den entsprechenden Alterssicherungssystemen „automatisch“ enthalten (gesetzliche Rentenversicherung; berufsständische Versorgung) oder kann als unselbständige Zusatzversicherung im Rahmen einer sog. Basisrente nach § 10 Abs. 1 Nr. 2b EStG n. F. mit abgesichert werden44. Entsprechende Beiträge (Beitragsteile) sind folglich als Sonderausgaben (Altersvorsorgeaufwendungen) abzugsfähig. Deshalb dürfte die Nichtabzugsfähigkeit von Beiträgen zu selbständigen Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsversicherungen als sonstige Vorsorgeaufwendungen verfassungsrechtlich tolerabel sein45. Die Zuordnung der Beiträge zu unselbständigen Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit oder eine verminderte Erwerbsfähigkeit zu den Aufwendungen für eine Altersvorsorge spricht aber dafür, dass der Gesetzgeber Ausgaben zum Schutz gegen Berufsunfähigkeit/verminderte Erwerbsfähigkeit zum persönlichen Existenzminimum zählt46. – Der eigentliche „Problemfall“ sind Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit. Nicht zuletzt in Zeiten einer schweren Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosenzahlen ist offensichtlich, dass Arbeitslosigkeit heutzutage ein einer Krankheit/Pflegebedürftigkeit zumindest vergleichbares existenzielles Lebensrisiko geworden ist. Der im Referentenentwurf und im Gesetzentwurf des „Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung“ angestellte Vergleich mit einem Krankengeld – weil eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit die Folgen eines durch Arbeitslosigkeit bedingten Verdienst-

__________ 41 A. A.: Schulemann, a. a. O., S. 13 f. 42 A. A.: Gunter, Der Regierungsentwurf zum Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung, DStR 2009, 565 (566 f.). 43 Vgl. auch Gunter, Der Regierungsentwurf zum Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung, DStR 22009, 565 (567). 44 Vgl. Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 2009, § 10 Rz. E 398 ff. 45 So i. E. auch die Amtliche Begründung zum Gesetzentwurf des Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung, BT-Drucks. 16/12254, 23. 46 Vgl. auch Schulemann, a. a. O., S. 14.

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Vorsorgeaufwendungen und einkommensteuerrechtliches Existenzminimum

ausfalls mindern solle47 – „verniedlicht“ die Schwere des Schicksalsschlags „Arbeitslosigkeit“, die Bedeutung des „Arbeitenkönnens“ für eine sozialgerechte persönliche und familiäre Existenz und den mit Arbeitslosigkeit verbundenen „gesellschaftlichen Makel“ (Statusverlust); der Hinweis auf eine finanzielle Absicherung greift insoweit entschieden zu kurz. Soweit Beiträge zu einer Versicherung gegen Arbeitslosigkeit von Gesetzes wegen gezahlt werden müssen (Zwangsbeiträge an die Bundesagentur für Arbeit, §§ 340 ff. SGB III), ist die Abzugsfähigkeit auch unter dem Gesichtspunkt „Zwangsläufigkeit“ verfassungsrechtlich geboten48. Die neue Höchstbetragsregelung in § 10 Abs. 4 Satz 4 EStG n. F. entspricht diesen Anforderungen nicht, da sie einen Abzug von Beiträgen zu einer Arbeitslosenversicherung i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 3a EStG n. F. ausschließt, wenn Aufwendungen für die Kranken- und Pflegevorsorge nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a und b EStG n. F. die jeweiligen Höchstbeträge bereits ausschöpfen.

IV. Zusammenfassung 1. Die Zuordnung der Aufwendungen für eine Basiskranken- und die gesetzliche Pflegeversorgung, insbesondere entsprechender Versicherungsbeiträge, zum einkommensteuerrechtlichen zu verschonenden Existenzminimum liegt nahe, ist aber für das BVerfG wohl nur „Mittel zum Zweck“: Aufwendungen für die Kranken- und Pflegevorsorge sollen nur abzugsfähig sein, soweit dies zur Erlangung des „sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau“ erforderlich ist. Die postulierte „strikte“ Orientierung am sozialhilferechtlich gewährleisteten Leistungsniveau ist allerdings eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung, die ebenso wenig stichhaltig begründet wird wie die Ablehnung einer verfassungsrechtlich gebotenen Berücksichtigung von gesetzlich auferlegten Beiträgen unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“. 2. Das „Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung“ hat nicht nur die Vorgaben des BVerfG umgesetzt, sondern führt bei gesetzlich Krankenversicherten im Ergebnis grundsätzlich zur vollen Abzugsfähigkeit der individuellen Zwangsbeiträge und bei Privatversicherten zu einer entsprechenden Abzugsfähigkeit der Beiträge zu einer privaten Krankenversicherung. Das ist auch unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“ verfassungsrechtlich zutreffend. 3. Die Höchstbetragsregelung in § 10 Abs. 4 Satz 4 EStG n. F. dürfte bei vielen Steuerpflichtigen zu einer Nichtberücksichtigung sonstiger Vorsorgeaufwendungen führen. Das ist jedenfalls für gesetzliche Zwangsbeiträge zu entsprechenden Versicherungen und allgemein für Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit verfassungsrechtlich bedenklich.

__________ 47 Referentenentwurf, S. 18; BT-Drucks. 16/12254, 23. 48 Vgl. bereits Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 2009, § 10 Rz. E 41, 465.

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Nettoprinzip und gemischte Aufwendungen Zu den drei Ebenen der Verfassungsdeutung

Inhaltsübersicht I. Die „Achillesferse des objektiven Nettoprinzips“ 1. Der Geltungsgrund des Nettoprinzips 2. Das Aufteilungs- und Abzugsverbot 3. Die Korrektur: Gewichtung der Veranlassungsbeiträge II. Die Absetzbarkeit gemischter Aufwendungen 1. Die grundlegende Unterscheidung zwischen privaten und beruflichen Aufwendungen 2. Trennbare Aufteilung und teilweiser Abzug 3. Der Modellfall: Reisekosten 4. Die aktuelle Entscheidung des Großen Senats 5. Sechs Vorgaben des Aufteilungsmaßstabs III. Das objektive Nettoprinzip als Verfassungsprinzip? 1. Kontroverse um das objektive Nettoprinzip

2. Die drei Ebenen der Verfassungsdeutung a) Unterschiedliche Adressaten b) Unterschiedliche Kontrolldichte c) Klugheitsregeln d) Erst- und Zweitinterpretation der Verfassung e) Das Primat des Gesetzes 3. Die differenzierte verfassungsrechtliche Gewährleistung des Nettoprinzips a) Existenzsicherung und Erwerb in Freiheit b) Gesetzgeberische Klugheit c) Die Verfassung legt den „Inhalt des Nettoprinzips nicht exakt fest“ d) Der verbindliche Verfassungsauftrag 4. Folgerungen für das Aufteilungsund Abzugsgebot IV. Ein Kernanliegen Joachim Langs: Die Klarheit und Konsistenz des Steuerrechts

I. Die „Achillesferse des objektiven Nettoprinzips“ 1. Der Geltungsgrund des Nettoprinzips Die Einkommensteuerlast richtet sich nach der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen. Dieser Ausgangspunkt der Steuerbelastung ist ein – so Joachim Lang – „Fundamentalprinzip der Steuergerechtigkeit“.1 Nach dem Nettoprinzip ist die Leistungsfähigkeit möglichst realitätsnah zu ermitteln.2 Der

__________

1 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 97 (Hervorhebungen nicht übernommen). 2 Siehe hierzu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (136) – Vermögensteuer; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (47 ff.) m. w. H. = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – doppelte Haushaltsführung.

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Steuerstaat greift nur auf das „frei verfügbare Einkommen“ zu, weil der Steuerpflichtige nur aus diesem Einkommen seine Steuerschuld begleichen kann, ohne den Weg in die Verschuldung zu gehen und ohne dass die Steuerquelle versiegt.3 Notwendige Ausgaben des Steuerpflichtigen für seine Existenz, für seine Familie sowie die Aufwendungen zur Erhaltung und Verbesserung seiner Erwerbsgrundlage sind steuerlich zu berücksichtigen.4 Diese subjektiven und objektiven Forderungen des Nettoprinzips werden als Folgeentscheidung des Leistungsfähigkeitsprinzips5 und damit als Postulat der Steuergerechtigkeit verstanden.6 Gleichwohl entfaltet das BVerfG nur das subjektive Nettoprinzip als Systementscheidung des Grundgesetzes. Die Garantie der Menschenwürde i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip sichern jedem Hilfebedürftigen die materiellen Voraussetzungen, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.7 Diesem sozialrechtlichen Leistungsanspruch entspricht im Einkommensteuerrecht die verfassungsrechtliche Vorgabe, das existenznotwendige Einkommen zu verschonen.8 Das BVerfG zögert jedoch ersichtlich – entgegen zahlreicher Stimmen in der Literatur9 –, das objektive Nettoprinzip als verfassungsrechtlich geforderte „einkommensteuerrechtliche Sachgesetzlichkeit“10 zu verstehen.11 Der Abzug der Erwerbsaufwendungen folgt nicht aus dem menschenrechtlichen Status des Steuerpflichtigen, sondern aus dem System der Einkommensteuer. Dieses ist vom Gesetzgeber geschaffen. Für das Verfassungsrecht stellt sich deshalb die Frage, ob dieses gesetzlich begründete Prinzip – für die Dauer seiner Geltung – folgerichtig und widerspruchsfrei weiterentwickelt und angewandt

__________ 3 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (48 f.) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten; Tipke, JZ 2009, 533 (537 f.). 4 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 60 f., 183 ff.; ders. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 68 ff. 5 Tipke, JZ 2009, 533 (537). 6 Siehe zur grundlegenden Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 97 ff. 7 BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, NJW 2010, 505, Rz. 132 ff., insb. 135 – Hartz IV. 8 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = FR 1992, 810 (169 ff.) – Grundfreibetrag. 9 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 183 ff.; s. für diese Diskussion jüngst Drüen, StuW 2008, 3 (4 ff., 10 ff. m. w. H.). 10 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 184. 11 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (48 f.) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) = FR 2005, 759 – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (234) = FR 2009, 74 – Fahrt zur Arbeit.

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Nettoprinzip und gemischte Aufwendungen

wurde.12 Die herkömmliche Einkommensteuer klingt zwar im Text des Grundgesetzes bei der Verteilung des Steueraufkommens an.13 Die Verfassung legt sich aber nicht auf das hergebrachte System der Einkommensteuer fest. Das Maß der Besteuerung errichten die Grundrechte, deren schützende Kraft dabei vom Steuergesetz abhängt,14 und das demokratische Prinzip der Erneuerung des Rechts durch den Gesetzgeber. Das objektive Nettoprinzip, dieser gesetzliche Ausgangspunkt der Besteuerung des Einkommens, wirkt auch in der Steuerpraxis nicht unerschütterlich, sondern hat im Bilde Joachim Langs eine „Achillesferse“,15 die das Prinzip zwar nicht wie den antiken Namensgeber zu Fall bringt, aber doch seine entscheidende Schwachstelle kennzeichnet und deshalb auch einen ähnlich festen Platz in der steuerlichen Diskussion einnimmt wie die antike Sage in der Kunst. Die sog. gemischten Aufwendungen, die privat und beruflich veranlasst sind, bieten ein Einfallstor für zahlreiche Gestaltungen, um im Schatten des objektiven Nettoprinzips Aufwendungen der privaten Lebensführung steuerlich geltend zu machen. Sind die Reisekosten zu einer viertägigen Tagung, an die ein Steuerpflichtiger drei Urlaubstage anhängt, steuerlich absetzbar? Dürfen nicht nur die gemischten Telefon- und Kfz-Kosten, sondern auch die Aufwendungen für den privat wie beruflich genutzten Rechner, für die Brille oder Kleidung in einen privaten und einen beruflichen Teil getrennt werden, um dann letzteren steuerlich geltend zu machen? 2. Das Aufteilungs- und Abzugsverbot Der Große Senat des BFH setzt in seiner jüngsten Grundsatzentscheidung einen Schlussstein in den ausgreifenden Diskussionsbogen über die steuerliche Absetzbarkeit von gemischten Aufwendungen.16 Der Bogen beginnt bei der Erwägung, dass die Steuergerechtigkeit und konkret § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG ein grundsätzliches Aufteilungs- und Abzugsverbot fordern. „Es soll verhindert werden“ – so der BFH in einer vorherigen Entscheidung –, „dass Steuerpflichtige durch eine mehr oder weniger zufällige oder bewusst herbeigeführte Verbindung zwischen beruflichen und privaten Interessen Aufwendungen für ihre Lebensführung nur deshalb zum Teil in einen einkommensteuerrechtlich relevanten Bereich verlagern können, weil sie einen entsprechenden Beruf haben, während andere Steuerpflichtige gleichartige Aufwendungen aus versteuertem

__________ 12 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (48 f.) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten; BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann = Rz. 94; s. zur Rechtsprechung beider Gerichte zum objektiven Nettoprinzip Lang, StuW 2007, 3 (4 ff.). 13 Art. 106 ff. GG. 14 Jüngst G. Kirchhof, DStR 2009, Beihefter, 135 (136 ff., insb. 138 f.). 15 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 55. 16 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann.

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Einkommen decken müssen.“17 Es sei nicht hinzunehmen, dass nur wenige Steuerpflichtige „Privatausgaben für Kleidung, Wohnen, Reisen, Sport etc. als Betriebsaugaben oder Werbungskosten“ steuerlich geltend machen.18 Die steuerliche Berücksichtigung sei zudem – so das Bundesfinanzministerium – oft vom „Geschick der Darstellung durch den Steuerpflichtigen“ abhängig. Ein Aufteilungs- und Abzugsgebot widerspreche daher der Steuergerechtigkeit und sei mit dem Sinngehalt von § 12 Nr. 1 EStG nicht vereinbar. Aufwendungen könnten nur abgezogen werden, wenn „sie nach objektiven und einfach nachprüfbaren Kriterien unmittelbar dem beruflichen/betrieblichen Bereich zugeordnet werden“ können. Zwar werde etwa bei Ausgaben für Kraftfahrzeuge und für den Telefonanschluss eine Aufteilung zugelassen. Dies sei aber auf „die Eigenart der betreffenden Lebenssachverhalte zurückzuführen“ und „nicht Ausdruck eines allgemeinen Prinzips“. Der Gleichheitssatz werde daher nicht verletzt. Ein Aufteilungs- und Abzugsgebot führe auch nicht zur Steuervereinfachung, weil nicht nur die Teilung der Aufwendungen, sondern auch die Fälle zu ermitteln sein, bei denen die berufliche Veranlassung vernachlässigbar ist.19 3. Die Korrektur: Gewichtung der Veranlassungsbeiträge Demgegenüber betonte Joachim Lang bereits in den 1980er Jahren, dass die Deutung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG im Sinne eines Aufteilungs- und Abzugsverbotes das „Nettoprinzip und das Leistungsfähigkeitsprinzip in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise einschränkt“ und damit den Gleichheitssatz verletzt. „Die praktische Anwendung des § 12 Nr. 1 Satz 2“ sei „an vielen Stellen von Willkürelementen durchsetzt“ und habe eine „höchst ungerechte Kasuistik ausgelöst.“20 Betrieblich oder beruflich veranlasste Telefon- und Kraftfahrzeugkosten,21 auch Zinsen beim gemischten Kontokorrent, Prämien für Unfall-, Reisegepäck- und Rechtsschutzversicherungen, Aufwendungen für eine Waschmaschine und für den Leerstand der gemischt genutzten Ferienwohnung seien in Teilen absetzbar. Demgegenüber bleiben aber zahlreiche andere Werbungskosten oder Betriebsausgaben etwa für Reisen oder Kleidung steuerlich unberücksichtigt, wobei die Rechtsprechung auch hier Ausnahmen kennt.22 Es bedürfe einer „klaren kausaltheoretischen Linie“, die der Nutzung

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17 BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121 (122) = FR 2006, 1079 m. Anm. Bergkemper; v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17; jüngst: Stellungnahme des Bundesministeriums der Finanzen, BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 20 f. = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 18 So die Zusammenfassung dieser Stimmen durch Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 329 f. (Hervorhebungen nicht übernommen), der selbst anderer Auffassung ist. 19 Stellungnahme des Bundesministeriums der Finanzen, BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 272 Rz. 20 f. = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 20 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 328 ff., Zitate: S. 330, 332 (Hervorhebungen nicht übernommen). 21 Siehe hierzu BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121 (123) m. w. H. = FR 2006, 1079 m. Anm. Bergkemper. 22 Drenseck in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 12 Rz. 4 ff.; Seiler in Kirchhof, EStG KompaktKommentar, 9. Aufl. 2010, § 12 Rz. 7 ff.; jeweils m. w. H.

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des Gegenstandes oder der Veranlassung der Reise folgt und so zu einer „möglichst konsequenten Aufteilung der gemischt verursachten Aufwendungen“ führt. Das Leistungsfähigkeitsprinzip und das Nettoprinzip fordern, „gemischt verursachte Ausgaben stets angemessen aufzuteilen“.23 An dieser klaren Linie orientiert sich nunmehr der Große Senat des BFH – mit einem Unterschied: Der Senat erkennt in der bisherigen Deutung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG als Aufteilungs- und Abzugsverbot keinen Verfassungsverstoß. Er betont aber, dass – wenn die beruflich veranlassten Anteile „feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung“ sind – gemischte Aufwendungen grundsätzlich aufgeteilt und die beruflichen Teile steuerlich abgesetzt werden können. Diese Entscheidung ist – so der Senat – von „grundsätzlicher Bedeutung“, weil sie eine „Vielzahl ähnlicher Fälle“ betrifft und eine in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutierte Frage zu beantworten sucht.24 Der Beschluss des Großen Senats stellt einerseits die Frage, ob § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG im Sinne eines Aufteilungs- und Abzugsverbotes zu deuten ist (II.). Zudem ist zu ergründen, welche Vorgaben das Grundgesetz dieser steuerrechtlichen Diskussion setzt. Fordert der Gleichheitssatz verbindlich und in einer vom BVerfG überprüfbaren Dichte das objektive Nettoprinzip als Folge des Leistungsfähigkeitsprinzips? Entfaltet die Entscheidung des Großen Senats nicht nur eine überzeugende Deutung der einfachrechtlichen Vorgaben, sondern erfüllt sie zudem die verfassungsrechtliche Forderung einer gleichheitsgerechten Besteuerung (III.)?

II. Die Absetzbarkeit gemischter Aufwendungen 1. Die grundlegende Unterscheidung zwischen privaten und beruflichen Aufwendungen Das Einkommensteuerrecht trifft eine grundlegende Unterscheidung zwischen den Ausgaben für die private Lebensführung und den Erwerbsaufwendungen. Die durch den Betrieb veranlassten Betriebsausgaben25 und die Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen (Werbungskosten)26 können steuerlich bei der Einkunftsart abgesetzt werden, bei der sie entstehen. Demgegenüber sind Aufwendungen für die private Lebensführung grundsätzlich steuerlich nicht abziehbar. Die Einkommensteuer verschont nach dem

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23 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 328 ff., Zitate: S. 332, 334; ders., in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 246 (Hervorhebungen jeweils nicht übernommen): „Mit der Reduktion des Abzugs- und Aufteilungsverbots auf quantitativ unteilbare Aufwendungen wird § 12 Nr. 1 S. 2 EStG nicht überdehnt. Das so interpretierte Abzugs- und Aufteilungsverbot kann nämlich rein kausaldogmatisch begründet werden: Die quantitative Unteilbarkeit der Aufwendungen eröffnet dem Richter den Bewertungsspielraum, die quantitativ unteilbare Aufwendung ganz der Erwerbs- oder ganz der Privatsphäre zuzuordnen.“ 24 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 1. f., 17, 24 = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 25 § 4 Abs. 4 EStG. 26 § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG.

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subjektiven Nettoprinzip nur den existenznotwendigen Aufwand, der beim Steuerpflichtigen für sich und seine Familie entsteht. Diesen Aufwand erfasst das Steuergesetz im Existenzminimum pauschal27 sowie durch Sonderausgaben28 und außergewöhnliche Belastungen29 in Tatbeständen der Sonderlast. Im Übrigen können private Aufwendungen nicht steuerlich abgesetzt werden. Diese grundlegende Unterscheidung legt für gemischte Aufwendungen – wie etwa privat und beruflich veranlasste Kfz- oder Telefonkosten – nahe, den privaten Anteil steuerlich als Lebensführungskosten zu erfassen, also nicht abzusetzen (subjektives Nettoprinzip), den Erwerbsaufwand jedoch – dem objektiven Nettoprinzip folgend – als Betriebsausgaben oder Werbungskosten zum Abzug zu bringen. Demgegenüber wird § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG im Sinne eines grundsätzlichen Aufteilungs- und Abzugsverbotes gemischter Aufwendungen gedeutet.30 Nach dieser Regelung sind Aufwendungen der Lebensführung, „die die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt,“ nicht absetzbar, „auch wenn sie zur Förderung des Berufs oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen“ dienen. Unstreitig wird hierdurch ein Aufteilungs- und Abzugsverbot für gemischte sog. Repräsentationsaufwendungen errichtet. Gegen einen weiter reichenden Anwendungsbereich des Verbotes scheinen der eng gefasste Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der Bestimmung zu sprechen. Der wortgleiche § 12 EStG 1934 sollte – der Gesetzesbegründung folgend – ausdrücklich die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs aufgreifen, wonach gemischte Aufwendungen aufgeteilt und – im entsprechenden Teil – abgezogen werden konnten. Dies galt auch, wenn die Aufwendungen primär privat veranlasst waren, aber die beruflichen von den privaten Aufwendungen getrennt werden durften.31 Der berufliche Teil der Aufwendungen war notfalls zu schätzen.32 Der Reichsfinanzhof betonte aber auch, dass Aufwendungen, die im Wesentlichen privat veranlasst sind und nur in einem losen, allenfalls mittelbaren Zusammenhang zum Erwerb stehen, steuerlich nicht abgesetzt werden dürfen. Ein Abzug des beruflichen Teils gemischter Aufwendungen war zudem ausgeschlossen, wenn die Abgrenzung zwischen Lebenshaltungskosten und beruflichen Aufwendungen schwierig war.33

__________ 27 §§ 32a Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 6 EStG; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 81 ff. m. w. H. 28 Insbes. § 10 EStG. 29 §§ 33 ff. EStG, insgesamt Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 68 ff. 30 Siehe sogleich unter 2. 31 Gesetzesbegründung, RStBl. 1935, 33 (41, Hervorhebungen nicht übernommen): Die Regelung wurde „entsprechend der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs“ erlassen. Sie stellt klar, „dass die sog. Repräsentationsaufwendungen nur dann zu den Betriebsausgaben oder zu den Werbungskosten gerechnet werden können, wenn sie ausschließlich zur landwirtschaftlichen, gewerblichen, beruflichen usw. Tätigkeit gehören und nichts mit dem Privatleben zu tun haben. Wenn bei Repräsentationsaufwendungen private und berufliche Gründe zusammenwirken und eine Trennung nicht erfolgen kann, sind die Ausgaben nicht abzugsfähig“. 32 RFH, RStBl. 1937 778 (779); BFH v. 28.8.1958 – IV 229/57 U, BStBl. III 1959, 44 (45). 33 RFH, StuW 1928, Bd. II, Sp. 312 (313); StuW 1930, Bd. II, Sp. 749 (750); RStBl. 1937 778 (779); insgesamt BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 38 ff. = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann m. w. H.

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2. Trennbare Aufteilung und teilweiser Abzug Der BFH nahm diese Deutung des § 12 Nr. 1 EStG auf. Gemischte Aufwendungen seien in Teilen absetzbar, wenn „sie sich von den Kosten der Lebensführung leicht und einwandfrei trennen lassen. Ist eine solche Trennung nicht oder nur unter Schwierigkeiten möglich, so kann ein Abzug der Aufwendungen auch nicht teilweise zugelassen werden.“34 Repräsentationsaufwendungen, die auch dem beruflichen Erfolg dienen – wie die Aufwendungen für die Angestellten im Haushalt35 oder bei der Wahl der Tochter eines Kaufmanns zur Schützenkönigin36 –, konnten nicht steuerlich geltend gemacht werden. Dieser klare Ausgangspunkt wurde später allerdings verlassen. Die Aufteilung gemischter Aufwendungen störe – so der an Einfluss gewinnende Befund – die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und laufe der Steuergerechtigkeit zuwider, weil nur manche in den entsprechenden steuerlichen Genuss kämen.37 Diese Erwägung der Steuergerechtigkeit führte allerdings zu einer in ihren Differenzierungen oft zweifelhaften und schwer nachvollziehbaren Gesetzesanwendung. Eine Aufteilung der Aufwendungen für das Fernsehgerät eines Rundfunk- und Fernsehschriftstellers38 oder für den von der Familie des Schiffers und den drei Schiffsjungen benutzten Kühlschrank39 wurde nicht zugelassen, die Kosten eines Tonbandgerätes eines Musiklehrers waren jedoch in vollem Umfang40 und die Aufwendungen für einen privat wie im Rahmen einer gewerblichen Zimmervermietung genutzten Kühlschrank in Teilen absetzbar.41 In der Tat kann man diese Rechtsprechung mit Joachim Lang als „ungerecht“ und – wenn nicht im Einzelfall, dann doch in der Gegenüberstellung – auch als „willkürlich“ bezeichnen.42 In dieser Situation wurde der Große Senat angerufen, um eine weiter reichende Aufteilung der Kosten zuzulassen. Diesem Anliegen erteilte der Große Senat in seinem Beschluss vom 19.10.1970 eine Absage. Nach § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG sei eine Aufteilung einheitlicher Aufwendungen grundsätzlich ausgeschlossen. Das allgemeine Aufteilungsund Abzugsverbot greife aber nicht, „wenn objektive Merkmale und Unter-

__________ 34 BFH v. 24.11.1950 – IV 91/50 U, BStBl. III 1951, 23 (23), Hervorhebungen nicht übernommen. 35 RFH, StuW 1928, Bd. II, Sp. 312 (313). 36 RFH, RStBl. 1931, 23. 37 Siehe bereits BFH, BStBl. III 1956, 195 (196, Hervorhebungen nicht übernommen), zu gemischten Reisekosten: Die „Mehrkosten, die auf der Privatreise ausschließlich durch die Erledigung der Berufsgeschäfte entstehen“, können als Betriebsausgaben abgesetzt werden. Deutlicher: BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17; BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121 (122) = FR 2006, 1079 m. Anm. Bergkemper; s. bereits oben unter I. 2. 38 BFH v. 13.8.1964 – IV 53/61 U, BStBl. III 1964, 528 (528 f.). 39 BFH v. 22.11.1960 – I 212/60 U, BStBl. III 1961, 37 (37). 40 BFH v. 24.8.1962 – VI 57/62, HFR 1963, 57 (57): Bei einem Musiklehrer stehe „die Verwendung des Tonbandgeräts für berufliche Zwecke“ – anders als bei anderen Lehrern – „außer Frage“. 41 BFH v. 9.10.1963 – I 397/60, HFR 1964, 77 (78). 42 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 330, 332 (s. bereits oben unter I.).

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lagen eine zutreffende und leicht nachprüfbare Trennung ermöglichen und wenn außerdem der berufliche Nutzungsanteil nicht von untergeordneter Bedeutung ist.“43 Diese Entscheidung führte aber nicht zu einer einheitlichen Grundauffassung in der Rechtsprechung. Sie scheint grundsätzlich von einem Aufteilungs- und Abzugsverbot auszugehen und damit den Ausgangspunkt des Steuersystems, die Trennung zwischen privaten und beruflichen Ausgaben,44 zu verlassen. Zudem wurden Ausnahmen zugelassen, die zwar Überzeugungskraft entfalten, jedoch ein Einfallstor für erstaunliche Differenzierungen boten. Die Aufwendungen für den Telefonanschluss konnten vor der Entscheidung des Großen Senats aufgeteilt werden.45 Im Anschluss an diese Entscheidung entwickelte der BFH ein Abzugsverbot für Telefongrundgebühren,46 gab es jedoch kurz darauf wieder auf.47 In der Folgezeit ließ der BFH trotz des grundsätzlichen Aufteilungs- und Abzugsverbotes die Trennung der gemischten Aufwendungen für die Reinigung typischer Berufskleidung,48 für die Kontoführung,49 für die leer stehende Ferienwohnung50 sowie für den Rechner in der Privatwohnung51 zu.52 3. Der Modellfall: Reisekosten Die Absetzbarkeit von Aufwendungen für beruflich und privat veranlasste Reisen bietet eine besondere Bewährungsprobe für die Grenzziehung zwischen Berufs- und Privatsphäre, weil das Reisen für den Erwerb förderlich und für die persönliche Lebensführung üblich ist, beide Sphären hier leicht verflochten werden. Die Rechtsprechung vollzieht in dieser Frage eine dem jeweiligen Grundverständnis zur Aufteilbarkeit entsprechende Entwicklung. Der Ausgangspunkt des Aufteilungsgebots wird verlassen, die Rechtsprechung in der Folge uneinheitlich und daher fragwürdig. Der Reichsfinanzhof53 und zunächst

__________ 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17 (17). Siehe hierzu oben unter 1. BFH v. 16.12.1966 – VI 133/64, BStBl. III 1967, 249 (250). BFH v. 19.12.1977 – VI R 198/76, BStBl. II 1978, 287 (289). BFH v. 21.11.1980 – VI R 202/79, BStBl. II 1981, 131 = FR 1981, 228 (132 ff.), der berufliche Anteil wurde geschätzt – ausdrückliche „Änderung der Rechtsprechung“. BFH v. 29.6.1993 – VI R 77/91, BStBl. II 1993, 837 = FR 1994, 15 (838); v. 29.6.1993 – VI R 53/92, BStBl. II 1993, 838 (839 f.) = FR 1994, 15, wobei die Kosten geschätzt wurden. BFH v. 9.5.1984 – VI R 63/80, BStBl. II 1984, 560 (561 f.) = FR 1984, 486. BFH v. 6.11.2001 – IX R 97/00, BStBl. II 2002, 726 (728 ff.) = FR 2002, 385, ausdrückliche „Änderung der Rechtsprechung“. BFH v. 19.2.2004 – VI R 135/01, BStBl. II 2004, 958 (960 ff.) = FR 2004, 650 m. Anm. Bergkemper. Siehe für weitere Beispiele Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 329 ff.; Drenseck in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 12 4 ff.; Seiler in Kirchhof, EStG KompaktKommentar, 9. Aufl. 2010, § 12 Rz. 7 ff. RFH, StuW 1930, Bd. II, Sp. 749 (750).

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auch der BFH ließen eine Aufteilung der Reisekosten zu.54 Später untersagte der BFH die Trennung der Reisekosten aber, wenn die privaten Urlaubstage die Tagungstage deutlich überwogen.55 Die berufliche oder private Veranlassung sei insgesamt „anhand objektiver Merkmale“ zu beurteilen.56 Diese Vorgabe betont der Große Senat auch in seiner aktuellen Entscheidung.57 Der Steuerpflichtige habe – auch dies nimmt der Senat in seiner aktuellen Entscheidung auf58 – eine ausschließliche oder weitaus überwiegende betriebliche Veranlassung der Reise59 zu beweisen. Gelingt ihm dies nicht, sind Reisen „in ihrer Gesamtheit zu würdigen“60 und ihre Kosten insgesamt nicht absetzbar. Aus § 12 Nr. 1 EStG folge ein Aufteilungs- und Abzugsverbot.61 Dieses Verbot beziehe sich aber nicht auf „eindeutig abgrenzbare betrieblich veranlasste Aufwendungen“.62 Der BFH ließ jedoch auch von diesen Grundannahmen Ausnahmen zu. So konnten die Kosten einer 28-tägigen Südafrika-Reise vollständig abgesetzt werden, obwohl nur 15 Tage den beruflichen Interessen des Steuerpflichtigen dienten. Diese Tage waren aber verteilt über die ganze Reisezeit. Die beruflichen Interessen wurden zudem an unterschiedlichen Orten wahrgenommen, prägten also insofern den Reiseverlauf.63 Mit Rücksicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs64 nahm der BFH von einem Auftei-

__________ 54 BFH v. 28.8.1958 – IV 229/57 U, BStBl. III 1959, 44 (45); v. 16.11.1961 – IV 105/60 U, BStBl. III 1962, 181 (181 f.); v. 2.12.1965 – IV 6/65 U, BStBl. III 1966, 69 (70), wobei die Wahl attraktiver Tagungsorte im Ausland (Meran, Davos) und damit die Reise dorthin – anders als bei Tagungen im Inland – nicht als betrieblich, sondern als privat veranlasst gilt. 55 BFH v. 22.7.1965 – IV 269/64 U, BStBl. III 1965, 644 (646): Der dienstliche Kongress dauerte fünf Tage. 12 Tage verbrachte der Augenarzt hingegen in Begleitung seiner Ehefrau zu einer günstigen Reisezeit und bei relativ hohen Flugkosten (1006 DM) privat in Athen. Die durch die Tagung entstandenen Mehrkosten konnte der Arzt steuerlich absetzen. 56 BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213 (217, 218). 57 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 108 ff. = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann; s. sogleich unter 5. 58 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 108 ff. = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann; s. sogleich unter 5. 59 Siehe zu dieser Vorgabe BFH v. 29.7.1954 – IV 479/53 U, BStBl. III 1954, 264 (265); v. 16.11.1961 – IV 105/60, BStBl. III 1962, 181 (181 f.). 60 BFH v. 5.12.1968 – IV R 46/67, BStBl. II 1969, 235 (235); v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213 (218). 61 BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213 (218); v. 23.4.1992 – IV R 27/91, BStBl. II 1992, 898 = FR 1992, 714 (899); BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121 (122) = FR 2006, 1079 m. Anm. Bergkemper. 62 BFH v. 23.4.1992 – IV R 27/91, BStBl. II 1992, 898 = FR 1992, 714 (899); v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121 (122 f.) = FR 2006, 1079 m. Anm. Bergkemper; zuvor: BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213 (218 f.); v. 22.7.1965 – IV 269/64 U, BStBl. III 1965, 644. 63 BFH v. 12.4.1979 – IV R 106/77, BStBl. II 1979, 513 (514 f.); s. auch BFH v. 15.12.1982 – I R 73/79, BStBl. II 1983, 409 = FR 1983, 255 (409 f.); v. 13.12.1984 – VIII R 296/81, BStBl. II 1985, 325 (327) = FR 1985, 301; v. 16.10.1986 – IV R 138/83, BStBl. II 1987, 208 (209 f.); v. 23.4.1992 – IV R 27/91, BStBl. II 1992, 898 (899 f.) = FR 1992, 714. 64 EuGH v. 28.10.1999 – Rs. C-55/98 – Vestergaard, EuGHE I-1999, 7641 (7644 ff.) = FR 1999, 1386.

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lungs- und Abzugsverbot bei Sprachkursen im Ausland Abstand.65 Zudem wurde die Vorgabe, eine Reise müsse weitaus überwiegenden betrieblichen Interessen dienen, damit ihre Kosten absetzbar seien, durch die These gelockert, ein unmittelbarer beruflicher Anlass reiche aus, wenn die privaten Reiseinteressen nicht den Schwerpunkt bilden.66 Schließlich hat der VI. Senat in der Vorlagefrage, die nunmehr der Große Senat beantwortet hat, den Anwendungsbereich des Aufteilungs- und Abzugsverbotes erheblich eingeschränkt. Dieses greife nur „bei tatsächlich unteilbaren Aufwendungen“, bei denen „die unterschiedlichen beruflichen/betrieblichen und privaten Veranlassungszusammenhänge der (einheitlichen) Aufwendung objektiv nicht quantifizierbar sind, weil sachgerechte, objektive Aufteilungskriterien fehlen. Eine darüber hinausgehende Anwendung des Aufteilungs- und Abzugsverbotes […] wird dem Gebot einer hinreichend folgerichtigen Bestimmung und Erfassung der finanziellen Leistungsfähigkeit dagegen nicht gerecht.“67 Die Literatur kritisierte diese uneinheitliche Rechtsprechung68 und entschied sich ganz überwiegend für ein grundsätzliches Aufteilungs- und Abzugsgebot. „Ein Aufteilungsverbot“ gebe es nicht, „weder de lege lata noch aus anderen Gründen“.69 § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG stehe „einer Aufteilung von Aufwendungen bei wesentlich privater und wesentlich betrieblicher/beruflicher Mitveranlassung nicht entgegen.“70 „Nicht ein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot mit seinen Alles-oder-Nichts-Ergebnissen, sondern ein Aufteilungsgebot“ führe „zu einer für die Betroffenen nachvollziehbaren Rechtsprechung und zu mehr Steuergerechtigkeit.“71

__________ 65 BFH v. 13.6.2002 – VI R 168/00, BStBl. II 2003, 765 (767) = FR 2002, 1231 m. Anm. Kanzler: Den Vorgaben des Europarechts folgend kann nunmehr „abweichend von der bisherigen Rechtsprechung bei einem Sprachkurs in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht mehr typischerweise unterstellt werden, dass dieser wegen der jeder Auslandsreise innewohnenden touristischen Elemente eher Berührungspunkte zur privaten Lebensführung aufweist als ein Inlandssprachkurs.“ 66 BFH v. 27.8.2002 – VI R 22/01, BStBl. II 2003, 369 (370 f.) = FR 2003, 138; v. 22.6.2006 – VI R 61/02, BStBl. II 2006, 782 (784 f.) = FR 2006, 936 m. Anm. Bergkemper. 67 BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121 (124) = FR 2006, 1079 m. Anm. Bergkemper. 68 Tipke, StuW 1979, 193 (197 f.); Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 332, 333; deutlich: Kruse, in FS für Klaus Offerhaus, 1999, 491 (496); Drenseck, in FS für Klaus Offerhaus, 1999, 497 (497); kritisch auch die aktuelle Entscheidung des BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 106 = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 69 Kruse, in FS für Klaus Offerhaus, 1999, 491 (496). 70 Weber, StuW 2009 184 (193); Wissenschaftlicher Beirat der Ernst & Young AG, BB 2004, 1024 (1028 ff.). 71 Drenseck, in FS für Klaus Offerhaus, 1999, 497 (509); ders., in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 12 Rz. 4 ff.; Gorski, DStZ 1981, 111 (114); ebenfalls kritisch gegenüber dem Aufteilungs- und Abzugsverbot: Ehlers, DStR 1973, 269; insbesondere für eine enge Auslegung des § 12 Nr. 1 S. 2 EStG Offerhaus, BB 1979, 617 und 667 (668); DStR 2005, 446 (insb. 448); Ruppe, DStJG 3 (1980), 103 (138 ff.); Weber, StuW 2009 184 (193); Wissenschaftlicher Beirat der Ernst & Young AG, BB 2004, 1024 (1028 ff.); Wassermeyer, StuW 1981, 245 (254), betont, dass „der Blick nicht zu stark auf § 12 Nr. 1 EStG fixiert sein“ sollte; Söhn, DStJG 3 (1980), 13 (51 ff.); Lang in Tipke/Lang,

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4. Die aktuelle Entscheidung des Großen Senats Der Große Senat geht nunmehr davon aus, dass gemischte Aufwendungen grundsätzlich aufgeteilt werden können, „wenn die beruflich veranlassten“ Teile „feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung sind. Das unterschiedliche Gewicht der verschiedenen Veranlassungsbeiträge kann es jedoch im Einzelfall erfordern, einen anderen Aufteilungsmaßstab heranzuziehen oder ganz von einer Aufteilung abzusehen.“ Das Einkommensteuergesetz ist durch die Differenzierung zwischen der Erwerbssphäre und dem Bereich der Einkommensverwendung geprägt, unterscheidet die absetzbaren Erwerbsaufwendungen von den nicht absetzbaren Kosten der Lebensführung. Dieser Trennung entspricht ein grundsätzliches Aufteilungs- und Abzugsgebot. Bei gemischten Aufwendungen fordere das objektive „Nettoprinzip, den beruflich veranlassten Teil […] zum Abzug zuzulassen. Der Umfang des beruflichen Kostenanteils“ – hier greift der BFH ausdrücklich die historischen Rechtsprechungsvorgaben auf – sei „notfalls zu schätzen.“ Für die Reisekosten gelte – dem Nettoprinzip folgend – nichts anderes als für die fixen Pkw- oder Telefonkosten. § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG regle kein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot. Schon dem Wortlaut nach greife die Bestimmung nur für sog. Repräsentationsaufwendungen. Diese „gehören zu“ den Lebensaufwendungen und sind als solche nicht absetzbar. Satz 2 konkretisiert damit die in Satz 1 genannten Lebensaufwendungen und hat als Konkretisierung einen engen Anwendungsbereich. Er folgt dem Umstand, dass bei Repräsentationsaufwendungen eine Trennung in private und berufliche Anteile kaum möglich ist. „Ein allgemeines Aufteilungsverbot“ lasse sich – so der Große Senat – aus § 12 Nr. 1 EStG „gerade nicht herleiten.“72 Der Große Senat würdigt die nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH anerkannten Aufteilungen. Die Differenzierungen können nicht – wie dies das Bundesministerium für Finanzen im Verfahren vortrug – mit der „Eigenart der betreffenden Lebenssachverhalte“ gerechtfertigt werden. „So sind z. B. für fixe Pkw-Kosten, Telefongrundgebühren, Versicherungsbeiträge und Betriebskosten einer Waschmaschine keine besonderen Eigenarten erkennbar, die im Vergleich zu anderen gemischten Aufwendungen eine Aufteilung einfacher oder nach dem Maßstab des Nettoprinzips sachgerechter erscheinen ließen. Vielmehr tragen die zahlreichen Ausnahmen in der Rechtsprechung zur Rechtsunsicherheit bei und lassen die Auswahl der Fallgruppen, für die die Recht-

__________ Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 246; Nolde in HHR, § 12 EStG Anm. 67; Claßen in Lademann, EStG (März 2008), § 12 Rz. 23 ff.; Kottke, DStR 1992, 129 (132 f.), schlägt eine gesetzliche Neuregelung vor; Völlmeke, DStR 1995, 745, ist weniger kritisch gegenüber der Rechtsprechung des BFH, spricht sich aber für eine stärkere Typisierung aus; Scheich, Das Abzugsgebot und -verbot gemischter Aufwendungen, 1996, insb. S. 198 ff.; Strahl, KÖSDI 1/2004, 14019; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band II, 2. Aufl. 2003, S. 769 ff. 72 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 93, 95, 97 ff. = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann.

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sprechung am Aufteilungs- und Abzugsverbot festgehalten hat, eher“ – und man ist an den Befund Joachim Langs erinnert73 – „willkürlich erscheinen.“74 Auch die Erwägung, die Steuergerechtigkeit fordere das Aufteilungs- und Abzugsverbot, weil nur bestimmte Steuerpflichtige mit einem „entsprechenden Beruf“ in den Genuss gemischter Aufwendungen kämen und diesen durch Steuergestaltung zudem noch herbeiführen könnten, überzeugt den Großen Senat zu Recht nicht. Diese „Ungerechtigkeit“ werde – so das Bundesfinanzministerium im Verfahren – insbesondere bei Aufwendungen für Reisen deutlich, weil so von vornherein nur eine besondere Gruppe Berufstätiger steuerlichen Rückenwind für die Urlaubszeit bekäme und diesen zudem noch durch entsprechende Gestaltungen selbst hervorrufen könnte. Der Große Senat hält nun ausdrücklich an „seiner früheren Argumentation nicht mehr fest“, die Steuergerechtigkeit fordere ein Aufteilungs- und Abzugsverbot. „Der Begriff der Steuergerechtigkeit (als Rechtsbegriff) bedeutet, dass im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit darauf abgezielt werden muss, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während (in vertikaler Richtung) die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Besteuerung niedrigerer Einkommen angemessen gestaltet werden muss.“75 Hiernach fordere die Steuergerechtigkeit zwar, dass private Aufwendungen nicht in den betrieblichen Bereich verlagert werden dürfen. Doch verhindere die Aufteilung der Aufwendungen gerade diese unzulässigen Gestaltungen. Insbesondere aber diene die Aufteilung der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, weil Erwerbsaufwendungen als solche abgesetzt, private aber nicht mehr in den beruflichen Bereich gezogen werden können. Um Missbrauch zu vermeiden, muss der Steuerpflichtige allerdings die berufliche Veranlassung nachweisen. Bleiben „trotz der gebotenen Mitwirkung […] gewichtige Zweifel, dass den als Betriebsausgaben oder Werbungskosten geltend gemachten Aufwendungen eine berufliche Veranlassung zugrunde liegt, so kommt für die strittigen Aufwendungen schon aus diesem Grund ein Abzug insgesamt nicht in Betracht. Bestehen hingegen keine Zweifel daran, dass ein abgrenzbarer Teil der Aufwendungen beruflich veranlasst ist, bereitet seine Quantifizierung aber Schwierigkeiten, so ist dieser Anteil unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände zu schätzen.“ Dem Steuerpflichtigen könne „der Abzug von Betriebsausgaben oder Werbungskosten nicht mit der Begründung versagt werden, ihr Beruf erfordere Aufwendungen, die für andere Steuerpflichtige Privataufwendungen sind. So ist z. B. ein Hobby-Skiläufer nicht dadurch benachteiligt, dass für den Berufs-Skilehrer die neu angeschafften Skier Arbeitsmittel i. S. v. § 9 Abs. 1 Nr. 6 EStG sind. Und so ist auch ein IT-Fachmann, der – wie im Ausgangsverfahren vom FG festgestellt – aus beruflichen Gründen eine Messe der IT-Industrie in den USA besucht, gegenüber

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73 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 332. 74 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 106 = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 75 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 20 f., 107 = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann.

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einem Touristen nicht sachwidrig privilegiert, sondern wird vielmehr entsprechend seiner Leistungsfähigkeit besteuert, wenn er nur die Kosten des beruflichen Anteils der Reise, nicht aber auch die des privaten Reiseanteils bei seiner Einkünfteermittlung abziehen kann.“76 5. Sechs Vorgaben des Aufteilungsmaßstabs Der Große Senat entfaltet ein grundsätzliches Aufteilungs- und Abzugsgebot, das sechs zu unterscheidende Vorgaben erfüllen muss: (1.) Gemischte Aufwendungen sind nach objektiven, nachprüfbaren Kriterien in einen beruflichen und einen privaten Teil zu trennen und entsprechend steuerlich zu berücksichtigen. Ist eine Trennung nicht möglich, weil es an diesen Aufteilungskriterien fehlt, ist ein Abzug insgesamt ausgeschlossen (Gebot der objektiven Teilbarkeit der Aufwendungen). (2.) Weil ein hoher „Anreiz“ bestehe, private Aufwendungen im Sog des gemischten Tatbestandes steuerlich abzusetzen, „hat der Steuerpflichtige die berufliche Veranlassung der Aufwendungen im Einzelnen umfassend darzulegen und nachzuweisen.“ Gelingt dies nicht, scheidet ein Abzug in der Regel aus (Darlegungslast). (3.) Eine unbedeutende private Mitveranlassung steht dem vollständigen Abzug von Betriebsausgaben oder Werbungskosten nicht entgegen. Auch entstehen bei einer unbedeutenden beruflichen Mitveranlassung privater Aufwendungen der Lebensführung keine absetzbaren Betriebsausgaben- oder Werbungskosten (Bagatellanlässe). (4.) Diese Kriterien leiten die Anwendung des grundsätzlichen Aufteilungs- und Abzugsgebotes, ersetzen aber nicht – dies betont der Große Senat – die notwendige Gesamtwürdigung des Einzelfalles, die eine besondere Beurteilung rechtfertigen kann (Gesamtwürdigung des Einzelfalles). (5.) Schließlich zieht die Differenzierung zwischen objektivem und subjektivem Nettoprinzip, zwischen abziehbaren Erwerbsaufwendungen und nicht abziehbaren Privatausgaben, dem Aufteilungs- und Abzugsgebot eine Grenze. Zwar ließen sich auch Zahlungen für die bürgerliche Kleidung oder die Brille in einen beruflichen und privaten Teil trennen. Diese Aufwendungen werden aber im subjektiven Nettoprinzip durch das pauschalierte steuerliche Existenzminimum, die Sonderausgaben und die außergewöhnlichen Belastungen schon berücksichtigt, können daher – um eine doppelte Berücksichtigung zu vermeiden – nicht zusätzlich als Werbungskosten abgezogen werden (keine Doppelberücksichtigung). (6.) Greift das subjektive Nettoprinzip, kommt das objektive Nettoprinzip und damit das Abzugsgebot nicht zur Anwendung. Das Aufteilungsgebot fordert, gemischte Aufwendungen in absetzbare berufliche und nicht absetzbare private zu teilen. Doch sind weder die beruflichen noch die privaten Aufwendungen zu teilen. Aufwendungen sind entweder beruflich oder privat, unterfallen dem subjektiven oder dem objektiven Nettoprinzip. Das Stichwort „gemischte Aufwendungen“ beschreibt ein Problem, nicht die rechtliche Lösung (Alternativität beider Prinzipien).77

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76 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann = Rz. 108 ff. 77 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 124 ff. = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann.

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III. Das objektive Nettoprinzip als Verfassungsprinzip? 1. Kontroverse um das objektive Nettoprinzip Diese überzeugende Deutung des Großen Senats, die zahlreiche Stimmen in der Literatur und nicht zuletzt die Darlegungen Joachim Langs aufnimmt, streift in den beiden letzten Erwägungen die verfassungsrechtliche Frage nach dem subjektiven und dem objektiven Nettoprinzip. Sie vermeidet dabei bewusst, den Geltungsgrund des Aufteilungs- und Abzugsgebotes in das Verfassungsrecht zu verlegen. Demgegenüber hatte Joachim Lang festgestellt, dass ein Aufteilungs- und Abzugsverbot gegen den Gleichheitssatz verstoße, weil es das Nettoprinzip und das Leistungsfähigkeitsprinzip verkenne.78 Damit stellen sich folgende Fragen: (1.) Ist das objektive Nettoprinzip als Ausfluss des Leistungsfähigkeitsprinzips (Art. 3 Abs. 1 GG) verfassungsrechtlich gefordert? (2.) Dürfte der Gesetzgeber vom objektiven Nettoprinzip insgesamt abrücken? (3.) Muss er das Prinzip, wenn er sich für dieses entscheidet, folgerichtig ausgestalten? Der Große Senat betont, das objektive Nettoprinzip habe verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne der „Folgerichtigkeit bei der näheren Ausgestaltung der gesetzgeberischen Grundentscheidungen“ und sei „bei der Rechtsanwendung als Auslegungsrichtschnur heranzuziehen“,79 verneint also die erste Frage, lässt die zweite offen und bejaht die dritte. Das BVerfG zögert ersichtlich, das objektive – anders als das subjektive – Nettoprinzip als Systementscheidung des Grundgesetzes anzuwenden. Es beruhe auf einer Entscheidung des einfachen Steuergesetzgebers, die dann allerdings folgerichtig auszugestalten sei.80 Das objektive Nettoprinzip wird also vom BVerfG nicht als unmittelbare Verfassungsforderung, sondern als gesetzlich gesetztes Prinzip verstanden. Dieses muss nach Art. 3 Abs. 1 GG folgerichtig ausgestaltet und angewandt werden. 2. Die drei Ebenen der Verfassungsdeutung Die unterschiedlichen Zuordnungen des objektiven Nettoprinzips liegen nicht so weit auseinander, wie es der erste Anschein nahe legt. Bei der Interpretation des Grundgesetzes sind drei Ebenen zu unterscheiden: (1.) die verbindlichen und vom Richter zu judizierenden Vorgaben, (2.) die verbindlichen, aber nicht justitiablen Bestimmungen des Grundgesetzes und (3.) verfassungsrechtliche

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78 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 332 ff.; s. bereits oben unter I. 3. 79 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 94 = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 80 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (48 f.) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) = FR 2005, 759 – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (234) = FR 2009, 74 – Fahrt zur Arbeit: „Das BVerfG hat bisher offen gelassen, ob das objektive Nettoprinzip, wie es in § 2 Abs. 2 EStG zum Ausdruck kommt, Verfassungsrang hat“.

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Klugheitsregeln, die im Grundgesetz angelegt sind und die Politik und die Rechtsinterpretation leiten.81 Werden die Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 GG für das Grundgesetz in diesem Dreiklang angewendet, verdichtet sich – dies ist die Hoffnung der folgenden Ausführungen – eine vermittelnde grundgesetzliche Deutung. Das Grundgesetz legt dem Steuergesetzgeber im Sinne einer verdichteten Klugheitsregel nahe, sich für das objektive Nettoprinzip zu entscheiden (dritte Ebene), ohne jedoch dieses exakt und verfassungsverbindlich vorzuschreiben (zweite Ebene) oder es als justitiable Verfassungsregel vorzugeben (erste Ebene). Folgt der Gesetzgeber aber dem Drängen der Verfassung und entscheidet er sich für das objektive Nettoprinzip, wenden die Richter es im Sinne der vom Gleichheitssatz justitiabel geforderten folgerichtigen Ausgestaltung der einfachgesetzlichen Grundentscheidung an (erste Ebene). a) Unterschiedliche Adressaten Die Verfassungsinterpretation unterscheidet gegenwärtig die justitiablen Vorgaben des Grundgesetzes von den verbindlichen, aber nicht justitiablen Verfassungsaufträgen und den verfassungsrechtlichen Klugheitsregeln, ohne diese drei Ebenen aber zu benennen. Die verfassungsrechtliche Abschaffung der Todesstrafe82 oder das Verbot der Zensur83 sind von allen Staatsorganen strikt zu befolgen. Die Verfassungsaufträge zur europäischen Integration,84 zu einer darüber hinaus greifenden internationalen Zusammenarbeit85 oder zur Haushaltsplanung86 wenden sich vor allem an den Gesetzgeber und übertragen dem Richter nur eine zurückgenommene und nachzeichnende Kontrollkompetenz. Die Staatszielbestimmung zum Schutz der Lebensgrundlagen und der Tiere87 begründet einen objektiven Gesetzgebungsauftrag, der sich verbindlich an den Gesetzgeber, kaum an das BVerfG wendet. Auch die grundrechtlichen Schutzpflichten, die Einrichtungsgarantien, die Vorgaben des sozialen Staates und die Garantie des Friedens und der inneren Sicherheit fordern vom Gesetzgeber Entscheidungen, die diesen Zielen dienen, aus den Verfassungsbestimmungen aber nicht justitiabel hergeleitet werden können. Nicht alle Regelungen des

__________ 81 Siehe zu diesen drei Ebenen G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 180 ff. 82 Art. 102 GG. 83 Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG. 84 Art. 23 GG; BVerfG v. 29.5.1974 – 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 – Solange I; v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 – Solange II; v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155 – Maastricht; v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, u. a., JZ 2009, 890 – Lissabon. 85 BVerfG v. 18.12.1984 – 2 BvE 13/83, BVerfGE 68, 1 (96 ff.) – Nato-Doppelbeschluss; v. 22.11.2001 – 2 BvE 6/99, 104, 151 (207) – NATO-Konzept; K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, HStR VII, 1. Aufl. 1992, § 172; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; Calliess, Auswärtige Gewalt, HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 83 Rz. 1 f., 33 ff. 86 Art. 109 ff. GG; BVerfG v. 18.4.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 – Staatsverschuldung I; v. 9.7.2007 – 2 BF 1/04, BVerfGE 119, 96 – Staatsverschuldung II. 87 Art. 20a GG.

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Grundgesetzes werden vom Verfassungsgericht überprüft, gewinnen aber gleichwohl Bedeutung als verbindliche, an die anderen Verfassungsorgane gerichtete grundgesetzliche Vorgaben.88 Diese zweite Ebene der Verfassungsinterpretation ist anerkannt. Zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung war sie die Regel. Die erste, verfassungsgerichtlich justitiable Ebene hat sich in Deutschland dagegen erst mit dem Grundgesetz entfaltet.89 b) Unterschiedliche Kontrolldichte Im Falle der Justitiabilität wird zudem nach der Dichte der gerichtlichen Kontrolle differenziert. Das BVerfG unterscheidet eine Inhaltskontrolle von einer Vertretbarkeits- und Evidenzkontrolle, wobei die Übergänge fließend sind.90 Ist ihm die Kontrolle der Ergebnisse verwehrt, konzentriert sich das Gericht nicht selten auf die Prüfung des Verfahrens, das die Ergebnisse hervorgebracht hat.91 Das BVerfG erkennt den Einschätzungs- und Beurteilungsraum der anderen Verfassungsorgane an. Es beachtet dabei die durch die Gesetzgebung erreichte Gestaltungswirkung einer Norm. Ein Normenkontrollantrag endet nicht immer mit der Erklärung, das verfassungswidrige Gesetz sei nichtig. Nicht selten spricht das BVerfG die „Unvereinbarkeit“ der Norm mit dem Grundgesetz aus, wenn die Nichtigkeit das geltende Recht noch weiter von der Verfassung entfernen würde, weil z. B. unabsehbare Folgen für das Staatsbudget einträten, oder wenn eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG nicht vom Gericht, sondern vom Parlament zu beheben ist, der Verstoß durch Streichung oder Erweiterung einer begünstigenden Regelung ausgeglichen werden kann. Zuweilen begnügt sich das BVerfG – auch hier aus Gründen der Folgenverantwortung – mit einem Appell an den Gesetzgeber, die „gerade noch“ hingenommene Norm in ihren Wirkungen und Folgen unter veränderten Umständen zu beobachten, oder mit der Vorgabe, die überprüfte Norm durch eine sachgerechtere Lösung zu ersetzen.92

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88 Siehe insgesamt G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 180 ff. m. w. H. 89 Mit besonderem Blick auf den grundrechtlichen Schutz H. Dreier, Die Zwischenkriegszeit, HGR I, § 4 Rz. 12 ff., insb. Rz. 38 ff. m. w. H. 90 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (333) – Mitbestimmung; Ossenbühl in FG 25 Jahre BVerfG, Band I, 1976, S. 458; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103 (2105 f.); Merten, DVBl. 1980, 773 (insb. 777 f.); Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (24, 26 f.); Schlaich, ebenda, 99 (111 ff.); Mahrenholz, in: Badura/Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 23 (32); Schlaich/Korioth, Das BVerfG, 7. Aufl. 2007, Rz. 532 ff. 91 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (333) – Mitbestimmung; v. 16.2.1983 – 2 BvE 1, 2, 3, 4/83, BVerfGE 62, 1 (50) – Bundestagsauflösung; s. insgesamt Ossenbühl in FG 25 Jahre BVerfG, Band I, 1976, S. 458; Merten, DVBl. 1980, 773 (777 f.); Steinberg, JZ 1980, 385; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103 (2106 ff.); Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, HStR VII, 1. Aufl. 1992, § 162 Rz. 63 ff.; Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (24, 26 f.); Schlaich, ebenda, 99 (111 ff.); Schlaich/Korioth, Das BVerfG, 7. Aufl. 2007, Rz. 539 ff. 92 Jüngst: BVerfG v. 3.7.2008 – 2 BvC 1, 7/07, BVerfGE 121, 266 (316) – negatives Stimmgewicht; insgesamt Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des BVerfG, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rz. 114 ff., insb. 120 ff., 125; Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 17 ff.; Kischel, AöR 124 (1999), 174 (193 ff., 209 f.);

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Das BVerfG wahrt so die grundgesetzlichen Vorgaben des Demokratieprinzips und den Grundsatz der Gewaltenteilung, die dem Gesetzgeber die Erstzuständigkeit für die Ausgestaltung und Fortbildung des Verfassungsrechts zuweisen.93 Anderen Organen ist darüber hinaus und von vornherein ein eigenständiger, der gerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogener Handlungsauftrag aufgegeben, insbesondere dem Bundesrechnungshof, der Bundesbank und auf europäischer Ebene der Europäischen Zentralbank. c) Klugheitsregeln Zu den verbindlichen Verfassungsvorgaben treten Klugheitsregeln, die aktuelle Erkenntnisse und historische Erfahrungen an das Recht herantragen, um neue Rechtserkenntnisse anzuregen. Inspirierende Gedanken ruhen so in der Verfassung. Diese Klugheitsregeln können, wenn Parlament und Regierung sie aufnehmen und entfalten, in einem Verfassungsstaat kraftvoller wirken als justitiable Vorgaben.94 Das Grundgesetz legt bestimmte Erkenntnisse nahe oder berührt durch bestimmte Begriffe – etwa des Rechtsstaats, der Demokratie oder des allgemeinen Gesetzes95 – alte Wurzeln des Rechts, ohne damit verbindlich oder gar justitiabel alle Erfahrungen, die in der Rechtstradition ruhen, aufzunehmen. Es öffnet sich der Klugheit, welche die Ideen- und Rechtsgeschichte zu Tage bringt, bietet Raum, diese in den Grenzen des Rechts zu entfalten.96 Einige Verfassungsbestimmungen setzen unmittelbar unverbindliche Klugheitsregeln. Art. 80 Abs. 1 GG erlaubt dem Gesetzgeber, insbesondere die Bundesregierung durch ein Parlamentsgesetz zu ermächtigen, in einem zu bestimmenden Rahmen Rechtsverordnungen zu erlassen.97 Der Gesetzgeber erfüllt seinen Auftrag zur allgemeinen Regelbildung, kann dabei jedoch die Regelung von Details dem Verordnungsgeber überlassen. Das Grundgesetz gibt hier dem Parlament nicht vor, Rechtsetzungsmacht zu delegieren. Doch legt Art. 80 Abs. 1 GG in einer grundgesetzlichen Klugheitsregel nahe, nicht jedes Detail durch ein Parlamentsgesetz zu regeln, sondern von der Delegationsmöglichkeit auch Gebrauch zu machen.

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s. bereits Scheuner, Probleme und Verantwortungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik [1952], in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 194 (206 ff.). Badura, Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung und die Verfassungskonkretisierung durch Gesetz, HStR VII, 1. Aufl. 1992, § 163 Rz. 24 ff.; Mahrenholz in Badura/ Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 23 (31); Bryde in FS 50 Jahre BVerfG, Erster Band, 2001, S. 533. Siehe hierzu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 180 ff. und 569 ff. Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG; s. hierzu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 67 ff. und 174 ff. R. Schulze, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 98 (1981), Germanische Abteilung, 157 (159, 235); Bleicken, Lex publica, 1975, S. 52 ff.; Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, HStR V, 3. Aufl. 2007, § 100 Rz. 4 f.; Stolleis, Merkur 2008, 425. Siehe hierzu Ossenbühl, Rechtsverordnung, HStR V, 3. Aufl. 2007, § 103 insb. Rz. 20 ff.

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d) Erst- und Zweitinterpretation der Verfassung Die Frage nach der Verbindlichkeit und Justitiabilität einer verfassungsrechtlichen Vorgabe ist nicht mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten,98 sondern erwartet Differenzierungen in der jeweiligen grundgesetzlichen Vorgabe für den Erstinterpreten99 und den kontrollierenden richterlichen Zweitinterpreten.100 Nur wenn die juristische Auslegung mit einer hinreichenden Klarheit zu einer Rechtsaussage führt, ist diese verbindlich und – wenn die Bestimmung den Richter zur Kontrolle ermächtigt – auch justitiabel.101 Dies bedeutet aber nicht, dass sich die Verfassung damit allen anderen Aussagen, welche die verfassungsrechtlichen Bestimmungen nahe legen, schlechterdings verschließt. Das Grundgesetz bindet alle Staatsgewalten.102 Es überträgt Parlament und Regierung je eine eigene Verfassungsverantwortlichkeit für ihre Entscheidungen, die nicht in jedem, sondern nur in bestimmten Fällen durch das BVerfG kontrolliert werden. Die Verfassung errichtet nicht ein System, in dem die gestaltenden Gewalten gleichsam den Verfassungsversuch starten, der dann durch den Letztentscheid des Verfassungsgerichts rechtlich bewertet wird. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Gesetzgebung drängen nicht stets auf eine Justitiabilität, verlangen nicht die richterliche Prüfung, ob der „Mittel-, der Höhe- oder Optimalpunkt getroffen“ wurde. Vielmehr fragen sie, ob das Gesetz innerhalb eines verfassungsrechtlich gesetzten Rahmens geblieben ist.103 Gesetzgebung und Regierung erhalten durch das Grundgesetz Handlungsermächtigungen, Handlungsaufträge und Handlungsmaßstäbe, die von diesen ausgefüllt werden. Der Verfassungsstaat würde an Kraft verlieren, wenn diese Organe aus der Aktivität der gestaltenden in die abwartende und insofern passive Rolle einer richterlich vollständig kontrollierten Gewalt gedrängt würden. Durch das Parlamentsgesetz werden verfassungsrechtliche, auch europarecht-

__________ 98 Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (29). 99 P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, HStR V, 1. Aufl. 1992, § 124 Rz. 238; ders., in Badura/Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 5 (16); Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (46) m. w. H.; J. P. Müller, ebenda, 53 (88, 92 ff.), spricht von einer „Vermutung der Verfassungstreue des Gesetzgebers“ (88). 100 BVerfG v. 26.5.1981 – 1 BvL 56/78, 1 BvL 57/78, 1 BvL 58/78, BVerfGE 57, 139 (159) – Schwerbehindertenabgabe; v. 16.2.1983 – 2 BvE 1, 2, 3, 4/83, BVerfGE 62, 1 (51) – Bundestagsauflösung; 106, 62 (148 ff.) – Altenpflegegesetz; Steinberg, JZ 1980, 385 (387); Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (112); ders./Korioth, Das BVerfG, 7. Aufl. 2007, Rz. 527, 532 ff.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rz. 38. 101 BVerfG v. 26.5.1981 – 1 BvL 56/78, 1 BvL 57/78, 1 BvL 58/78, BVerfGE 57, 139 (159) – Schwerbehindertenabgabe; 62, 1 (51) – Bundestagsauflösung; v. 24.10.2002 – 2 BvF 1/01, BVerfGE 106, 62 (148 ff.) – Altenpflegegesetz; Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (30, 40 f.); Schlaich, ebenda, 99 (105); s. insgesamt Schlaich/Korioth, Das BVerfG, 7. Aufl. 2007, Rz. 537; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, insb. Rz. 38; E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089. 102 Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG. 103 Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (507).

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liche und völkerrechtliche Vorgaben konkretisiert.104 Rechtsetzung ist auch Rechtsanwendung, Rechtsanwendung auch Rechtsetzung. Auch die richterliche Kontrollentscheidung schöpft Recht, doch ist ihr Gestaltungsauftrag deutlich begrenzt.105 Der verfassungsrechtliche Handlungsmaßstab reicht weiter als der Kontrollmaßstab.106 e) Das Primat des Gesetzes Das Primat des Gesetzes, für das sich die parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes entscheidet, legitimiert auch den Richter demokratisch107 und weist ihm eine eigene Verantwortung für die Verfassungsordnung zu. Der Richter schützt insbesondere die Minderheit und jeden Einzelnen ggü. der demokratischen Mehrheit.108 Doch auch bei der Wahrnehmung dieses Auftrags gibt das Gesetz den Richtern ihren Maßstab, konkretisiert die Verfassung und durch die Gerichtsordnungen den Kontrollauftrag der dritten Gewalt, auch des BVerfG. Die erstgestaltende Verantwortung des Parlaments wird auch so von der Kontrollperspektive des Gerichts unterschieden,109 die eine „Distanz zum Gesetz“ zu wahren hat.110 Insofern ist auch das Verfassungsgericht „an das einfache Gesetz“,111 an die Verfassungsdeutung des Parlaments gebunden. Auf dieser Grundlage hat es die Bestimmungen des Grundgesetzes eigenständig zu interpretieren.112 Die Erwartung, der Gesetzgeber habe die Verfassung zu konkretisieren,113 mündet nicht selten in Analysen, welche die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ausloten und das BVerfG zur Zurückhaltung mahnen. Dieser richtige Ansatz löst aber noch nicht die Aufgabe, die Balance zwischen BVerfG und Parlament herzustellen, weil das Gericht in zulässigen Verfahren eine Entscheidung treffen muss, sich insoweit kaum zurücknehmen kann, und in der Entscheidung seine rechtlichen Entscheidungsgrenzen selbst erkennen

__________ 104 Siehe bereits O. Bülow, Gesetz und Richteramt [1885], 2003; Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (12 ff. m. w. H.). 105 Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (13). 106 Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, HStR VII, 1. Aufl. 1992, § 162 Rz. 81. 107 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rz. 16. 108 H. H. Klein in Badura/Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 49 (61 ff. m. w. H.). 109 Badura, Aussprache, VVDStRL 39 (1981), 160; Dagtoglou, ebenda, 149 f. 110 Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (107); Waldhoff, JöR n. F. 56 (2008), 235 (238). 111 Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (122). 112 Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, HStR V, 1. Aufl. 1992, § 121 Rz. 1 ff.; P. Kirchhof in Badura/Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 7 f. 16 f., 21. 113 Siehe bereits E. Kaufmann, VVDStRL 9 (1952), 1; Drath, ebenda, S. 17; Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, insb. S. 41 ff.; Leibholz, DVBl. 1974, 396; Rupp-von Brünneck, AöR 102 (1977), 1 (13 ff.); Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99; Korinek, ebenda, 7; J. P. Müller, ebenda, 53 (88, 92 ff.); Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, insb. Rz. 35; Schlaich/Korioth, Das BVerfG, 7. Aufl. 2007, Rz. 519 ff.; Waldhoff, JöR n. F. 56 (2008), 235 (238).

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muss.114 Deswegen drängt sich ein zweiter, bisher vielleicht vernachlässigter und parallel zu erwägender Gedanke auf, der das Parlament wieder stärker in den Mittelpunkt der Verfassungsinterpretation zu rücken sucht.115 Bundestag und Bundesrat, aber auch die Bundesregierung und der Bundespräsident tragen eine eigene, richterlich nicht kontrollierte Verfassungsverantwortung. Es könnte erwogen werden, diese Verantwortung, die nicht justitiablen Verfassungsforderungen, institutionell etwa in einem besonderen Verfahren der verfassungsrechtlichen Selbstvergewisserung, der Befassung durch den Bundestag zu sichern. Erwägenswert ist auch eine Weiterentwicklung des „Normenkontrollrats“ zu einem „Gesetzgebungsrat“. Die neue Bezeichnung würde die beratende Funktion des Rats hervorheben – kontrollieren darf er den parlamentarischen Gesetzgeber nicht.116 Jedenfalls ginge es darum, dem Parlament seine Verfassungsbindung, seinen eigenen verfassungsrechtlichen Gestaltungsauftrag auch außerhalb der richterlichen Kontrolle zu verdeutlichen. Politik und Parlamentarismus folgen eigenen, besonderen Regeln, beanspruchen einen Entscheidungsraum, der rechtlich nicht zu stark eingeengt werden darf. Gleichwohl müssen sie verfassungsrechliche Vorgaben in eigener Verantwortung entfalten. Das Grundgesetz ist in allen seinen Artikeln verbindlich. Ausgehend von diesem Befund stellt sich dem Verfassungsinterpret die Aufgabe, die grundgesetzlichen Klugheitsregeln, die verbindlichen Verfassungsaufträge und die justitiablen Verfassungssätze zu unterscheiden. Diese drei Ebenen stehen nicht statisch nebeneinander, sondern greifen ineinander, wenn die Klugheitsregel die Verfassungsinterpretation leitet und damit die verbindlichen Verfassungsaussagen prägt oder wenn eine justitiable Forderung zwar vom BVerfG geprüft wird, aber der Verfassungsbruch nur zu einer Unvereinbarkeitserklärung führt und dem Gesetzgeber ein „Reparaturauftrag“ erteilt wird. Gleichwohl erwartet das Grundgesetz, fordern die Demokratie und der Grundsatz der Gewaltenteilung, die drei Ebenen der Verfassungsdeutung klar zu trennen. 3. Die differenzierte verfassungsrechtliche Gewährleistung des Nettoprinzips a) Existenzsicherung und Erwerb in Freiheit Das BVerfG versteht das subjektive Nettoprinzip, nicht aber das objektive Nettoprinzip als justitiable Vorgabe der Verfassung.117 Der Grund für diese

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114 Geiger, Zur Lage unserer Verfassungsgerichtsbarkeit [1971], in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 446 (456 ff.); J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 34 ff. et passim; Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, 1979, insb. S. 18 f.; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103; Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (40 ff.); Hesse in FS für Hans Huber, 1981, S. 261; Püttner in FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 573; Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 17 ff.; Ossenbühl in FS 50 Jahre BVerfG, 1. Band, 2001, S. 33; Schlaich/Korioth, Das BVerfG, 7. Aufl. 2007, Rz. 527 ff. 115 Siehe hierzu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 180 ff. 116 Siehe hierzu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 190 ff. und 292 ff. 117 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (48 f.) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann – doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten.

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Zurückhaltung wird durch einen Vergleich beider Prinzipien deutlich: Das subjektive Nettoprinzip schützt mit dem existenznotwendigen Aufwand elementare Existenzbedürfnisse des Menschen.118 Dieser soziale Leistungs- und steuerliche Verschonungsanspruch ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben. Der genaue Umfang kann jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden.119 Ist der soziale Leistungsanspruch realitätsgerecht bemessen, darf das steuerlich zu verschonende Existenzminimum nach dem Folgerichtigkeitsgebot nicht geringer angesetzt werden.120 Das subjektive Nettoprinzip folgt also dem Grunde nach aus der justitiablen Menschenwürdegarantie. Es ist der Höhe nach aber ein auf die Konkretisierung des Gesetzgebers angewiesenes Prinzip, wird nach der gesetzlichen Konkretisierung – im Sozial- oder Steuerrecht – durch das Folgerichtigkeitsgebot zu einer verfassungsrechtlichen Regel. Der notwendige Aufwand steht somit ohne ein Zutun des Steuerpflichtigen in einer hinreichenden Dichte fest. Zwar bestimmt dieser in Freiheit die Höhe der Aufwendungen für seine Lebensführung, mag er privat eine Wohnung mieten oder ein Haus erwerben. Jedoch ist die aus der verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde und des sozialen Staates abgeleitete Forderung, den existenznotwendigen Aufwand zu verschonen, hinreichend bestimmt, so dass sie vom BVerfG judiziert werden kann.121 Zwar baut das Gericht mit Blick auf die Höhe der Forderung auf eine Konkretisierung durch den Gesetzgeber. Doch gibt die Verfassung gleichwohl einen justitiablen Rahmen vor. Die grundgesetzlichen Vorgaben verdichten sich, wenn der Gesetzgeber den Bedarf typisiert hat.122 Was der soziale Staat gewähren muss, darf der Steuerstaat nicht nehmen.123 Demgegenüber wird nach dem objektiven Nettoprinzip ein zwar beruflich veranlasster, aber individuell bestimmbarer Aufwand zum Abzug zugelassen. Der Erwerbsaufwand folgt nicht aus einem menschenrechtlichen Status des Steuerpflichtigen, sondern aus dem einkommensteuerlichen Konzept des Gesetzgebers. Die Erwerbsaufwendungen werden nicht in einem Minimum typisiert, sondern in einer vom Willen des Steuerpflichtigen bestimmten Höhe steuer-

__________ 118 BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, NJW 2010, 505 Rz. 134 ff. – Hartz IV; BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 (169 ff.) = FR 1992, 810 – Grundfreibetrag. 119 BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, NJW 2010, 505 Rz. 138 – Hartz IV; BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 (169 ff.) = FR 1992, 810 – Grundfreibetrag. 120 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 (172) = FR 1992, 810 – Grundfreibetrag; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten. 121 Siehe zu der notwendigen Dichte der Verfassungsaussage oben unter 2. 122 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = FR 1992, 810 (172) – Grundfreibetrag; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (48) – doppelte Haushaltsführung. 123 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann (48 f.) – doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten.

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lich berücksichtigt.124 Der Schreiner und der Schmied müssen sich einen Hammer kaufen. Aber welchen Hammer sie erwerben, welche steuerlich absetzbaren Ausgaben sie tätigen, liegt in ihrer Hand. Joachim Lang hat dieses Willensmoment für die Betriebsaugaben deutlich ausgedrückt: „Wer seine Arbeitnehmer an vergoldeten Drehbänken arbeiten“ lässt, erstaunt die Konkurrenz. Der Steuerstaat untersagt den Betriebsausgabenabzug aber nicht von vornherein.125 Das verfassungsrechtliche Existenzminimum und die gesetzlich zugelassene Absetzbarkeit des Erwerbsaufwandes sind also strukturell verschieden. Das Grundgesetz sichert die Existenz in Würde, das Einkommensteuerrecht verschont den Erwerb in Freiheit. b) Gesetzgeberische Klugheit Für die Systementscheidung des Steuergesetzgebers setzt das Grundgesetz mit dem finanzverfassungsrechtlichen Tatbestand der „Einkommensteuer“126 die Klugheitsregel, den Verfassungsstaat durch die hergebrachte und bewährte Konzeption des Einkommensteuergesetzes zu finanzieren. Der Gesetzgeber ist gehalten, diese Vorgabe ernstlich zu bedenken und sachgerecht fortzuentwickeln. Das Grundgesetz legt unter Rückgriff auf die steuerrechtliche Tradition in Deutschland im Gleichheitssatz und aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtskontinuität nahe, Erwerbsaufwendungen individuell als Betriebsausgaben oder Werbungskosten steuerlich zu berücksichtigen. Zu dieser Ausgestaltung des objektiven Nettoprinzips rät es durch eine verdichtete Klugheitsregel. Doch entscheidet es sich damit nicht verbindlich für dieses Steuersystem. Die Klugheitsregel vermag die Auslegung der Verfassung und auch der einmal getroffenen einfachrechtlichen Systementscheidungen leiten. Das objektive Nettoprinzip gewinnt seine justitiable verfassungsrechtliche Schärfe aber erst in der gesetzgeberischen Systementscheidung und ihrer folgerichtigen Ausgestaltung, verpflichtet den Gesetzgeber damit verbindlich zu einer Steuergesetzgebung, welche die Leistungsfähigkeit realitätsgerecht erfasst. c) Die Verfassung legt den „Inhalt des Nettoprinzips nicht exakt fest“ Adressat der verfassungsrechtlichen Vorgabe des objektiven Nettoprinzips ist nicht das BVerfG, sondern der Gesetzgeber. Die Vorgabe liegt auf der dritten Ebene der Verfassungsdeutung, ist eine verdichtete Klugheitsregel, aber kein justitiabler und auch kein verbindlicher Verfassungssatz. Die Verfassung gibt das objektive Nettoprinzip nicht exakt vor. „Im Hinblick auf die Belastungs-

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124 Siehe zu dieser Unterscheidung des objektiven und subjektiven Nettoprinzips jüngst St. Schneider, DStR 2009, Beihefter, 87 (89 f.); G. Kirchhof, DStR 2009, Beihefter, 135 (142 f.). 125 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 328 f.; deutlich: BFH v. 4.8.1977 – IV R 157/74, BStBl. II 1978, 93 (95): Wenn die Ausgaben die Lebensführung des Steuerpflichtigen nicht betreffen, entscheidet grundsätzlich der Betriebsinhaber, „ob und in welchem Umfang Ausgaben durch seinen Betrieb veranlasst werden und damit sein Betriebsergebnis mindern.“ 126 Siehe nur Art. 106 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1, Art. 107 Abs. 1 Satz 1 GG.

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gleichheit macht es keinen Unterschied, ob Einkünfte, die die gleiche Leistungsfähigkeit repräsentieren, in unterschiedlicher Höhe in die Bemessungsgrundlage einfließen oder ob sie einem unterschiedlichen Tarif unterworfen werden.“127 Das Leistungsfähigkeitsprinzip (Art. 3 Abs. 1 GG) verpflichtet den Gesetzgeber, ein System zu errichten, durch das die objektive Leistungsfähigkeit ermittelt wird. Aus der Einkommensteuer darf keine Einnahmensteuer werden. Im Übrigen eröffnet die Verfassung dem Steuergesetzgeber aber einen Gestaltungsraum, für welches System er sich entscheidet. Entscheidet sich der Gesetzgeber für ein Steuersystem, muss er dieses folgerichtig, muss er es gleichheitsgerecht ausgestalten. Die Gleichheit vor dem Steuergesetz gibt das Grundgesetz verbindlich und justitiabel vor. „Wenn der Gleichheitssatz“ – so Klaus Tipke – „und mit ihm die Gebote der Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit Verfassungsrang haben, ist es nicht konsequent, dem objektiven Nettoprinzip (abweichend vom subjektiven Nettoprinzip) als Konkretisierung des aus der Verfassung abgeleiteten Leistungsfähigkeitsprinzips den Verfassungsschutz zu versagen. Damit ist aber der Inhalt des Nettoprinzips nicht exakt festgelegt.“ Der Gesetzgeber hat einen Gestaltungsraum, den er nach den Regeln der Rechtslogik ausfüllen muss.128 Der Gestaltungsraum des Gesetzgebers wird durch das verbindliche und justitiable Gebot beschränkt, die einmal getroffene Systementscheidung, die Steuerlast an der objektiven Leistungsfähigkeit auszurichten, folgerichtig umzusetzen.129 Dieser verfassungsrechtliche Maßstab ist zwar justitiabel, doch hält sich das BVerfG hier in Achtung des gesetzgeberischen Gestaltungsraums zurück, wird – im Falle des Verfassungsverstoßes – nur die Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG feststellen, weil der Gesetzgeber und nicht das Gericht über das Steuersystem und seine folgerichtige Ausgestaltung zu entscheiden hat. d) Der verbindliche Verfassungsauftrag Der Gesetzgeber hat die Einkommensteuer nach dem Prinzip konzipiert, grundsätzlich nur auf das „frei verfügbare Einkommen“ zuzugreifen.130 Der Existenzaufwand steht dabei mit einer justitiablen Dichte fest. Die Unterschiede in der objektiven Leistungsfähigkeit hat das Einkommensteuergesetz aufgenommen. Solange der Gesetzgeber sich für ein System entschieden hat, verpflichtet ihn das Gebot der Folgerichtigkeit, die Erwerbsaufwendungen zu

__________ 127 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181) = FR 2006, 766 – Tarifbegrenzung bei gewerblichen Einkünften; v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115 ff.) – Grenze des Steuerzugriffs. 128 Tipke, JZ 2009, 533 (537 f.). 129 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann (48 f.) – doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten; BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 94 = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 130 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann (48 f.) – doppelte Haushaltsführung; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (280) – erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten.

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berücksichtigen. Ansonsten würde der Steuerstaat nicht mehr auf das „frei verfügbare“ Einkommen zurückgreifen, die Besteuerung nicht mehr an der individuellen Finanzkraft ausrichten und das in Art. 3 Abs. 1 GG justitiabel verankerte Leistungsfähigkeitsprinzip131 verletzen. Der Gesetzgeber kann aber beim Vorliegen gewichtiger Gründe von der Vorgabe des objektiven Nettoprinzips abweichen und insgesamt generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen – wie bei der AfA – treffen, damit die Steuerpflichtigen und die Finanzverwaltung entlastet und der gleichmäßige Steuervollzug gesichert werden.132 4. Folgerungen für das Aufteilungs- und Abzugsgebot Der Gesetzgeber hat sich für ein Steuersystem entschieden, das die Erwerbsausgaben als Betriebsausgaben oder Werbungskosten steuerlich erfasst.133 Das verfassungsrechtliche Gebot der Folgerichtigkeit fordert daher, die Erwerbsaufwendungen auch steuerlich abzusetzen. Solange sich der Gesetzgeber nicht für ein Aufteilungs- und Abzugsverbot entscheidet – und § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG trifft diese Entscheidung seinem Wortlaut und seiner Entstehungsgeschichte folgend nicht134 –, sind gemischte Aufwendungen grundsätzlich aufzuteilen und ist der berufliche Teil in Abzug zu bringen. Insofern sind die Ausführungen des BFH im Sinne Joachim Langs zu ergänzen: Dem Steuerpflichtigen kann derzeit „der Abzug von Betriebsausgaben oder Werbungskosten“ – auf Grund des verfassungsrechtlichen Gebots der Folgerichtigkeit – „nicht mit der Begründung versagt werden, ihr Beruf erfordere Aufwendungen, die für andere Steuerpflichtige Privataufwendungen sind.“135 Die Vorgabe verwehrt nicht, in bestimmten Fällen – wenn die Trennung schwierig oder nicht beweisbar ist – vom Aufteilungs- und Abzugsgebot abzurücken.136 Doch wird die grundgesetzlich geforderte folgerichtige Umsetzung der Systementscheidung des Steuergesetzgebers verletzt, wenn – wie in früheren Entscheidungen des BFH137 – ohne gesetzliche Grundlage und hinreichenden Grund vom Aufteilungs- und Abzugsgebot abgewichen oder dieses in Frage gestellt wird. Der

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131 Siehe zum Leistungsfähigkeitsprinzip Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 97 ff. 132 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = FR 1992, 810 (172) – Grundfreibetrag; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 (48) – doppelte Haushaltsführung; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (234) = FR 2009, 74 – Fahrt zur Arbeit. 133 Siehe oben unter I. 1. und II. 1.; s. zu bestehenden Unklarheiten über die einkommensteuerrechtlichen Systementscheidungen aber jüngst G. Kirchhof, DStR 2009, Beihefter, 135 (140 ff.). 134 Siehe oben unter II., insb. unter 1. und 4. 135 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann = Rz. 108 ff. 136 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann (48) – doppelte Haushaltsführung; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (234) = FR 2009, 74 – Fahrt zur Arbeit. 137 Siehe hierzu oben unter II. 2. und 3.

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Große Senat hat in seiner aktuellen Entscheidung also nicht nur ein sachgerechtes Konzept entwickelt, wie gemischte Aufwendungen steuerlich zu berücksichtigen sind, sondern auch justitiable grundgesetzliche Maßstäbe umgesetzt.

IV. Ein Kernanliegen Joachim Langs: Die Klarheit und Konsistenz des Steuerrechts Die inkonsistente Rechtsprechung über die gemischten Aufwendungen,138 die auch die verfassungsrechtliche Frage nach dem objektiven Nettoprinzip stellt, hat zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit geführt. Die aktuelle Entscheidung des Großen Senats beendet diese Diskussion, weil sie den Grundsatz des Aufteilungs- und Abzugsgebotes sowie sechs klare Vorgaben und Grenzen dieser Grundentscheidung betont. Sie schafft damit Rechtssicherheit, regt aber auch kluge und folgerichtige gesetzliche Typisierungen an.139 Diese Rechtsprechung verdeutlicht die freiheitsichernde Kraft des allgemeinen Steuergesetzes.140 Hätte sich der Gesetzgeber in klarer Sprache für ein Aufteilungs- und Abzugsgebot und für das objektive Nettoprinzip entschieden, hätte er zudem vollziehbare Voraussetzungen und Ausnahmen normiert, also allgemeine Gesetzesaussagen getroffen, wären viele unvertretbare, ja „willkürliche“ und „ungerechte“141 Steuereingriffe vermieden, die Rechtssicherheit gestärkt und die Freiheit der Steuerpflichtigen geschützt worden. Zudem wären die Steuergesetze besser zur Wirkung gekommen, hätten mit ihren Aussagen die Steuerpraxis und damit die parlamentarische Demokratie besser entfaltet. Die Frage nach den gemischten Aufwendungen und dem objektiven Nettoprinzip mag daher ein zentrales Anliegen des wissenschaftlichen Werkes von Joachim Lang verdeutlichen: Die Schaffung eines einfachen und gerechten Steuergesetzes.142 Ohne die notwendigen klaren Systementscheidungen für das subjektive und objektive Nettoprinzip, für die Absetzbarkeit im Falle gemisch-

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138 Drenseck, in FS für Klaus Offerhaus, 1999, 497 (497), spricht von „Richtergenerationen“, die sich dem Problem widmen; Offerhaus, DStR 2005, 446 (450). 139 BFH, Beschl. v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 124 ff. = FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 140 Siehe hierzu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 529 ff., 174 ff. 141 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, S. 330. 142 Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, Münsteraner Symposion Bd. II, 1985; Die einfache und gerechte Einkommensteuer – Ziele, Chancen und Aufgaben einer Fundamentalreform, 1987; Entwurf eines Steuergesetzbuchs, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Band 49, 1993; Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Bericht der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Band 66, 1999 (stv. Vorsitzender der Kommission und Verfasser des Anhangs 1: Perspektiven der Unternehmensteuerreform); Zur Lage des Steuerrechts – Plädoyer für eine Rechtsreform, Bitburger Gespräche Jahrbuch 1997, 1999, S. 1 ff.; J. Lang (Sprecher), N. Herzig, J. Hey, H.-G. Horlemann, J. Pelka, H.-J. Pezzer, R. Seer, K. Tipke (beratend), Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2005; Kommission „Steuergesetzbuch“ (Vorsitzender: J. Lang), Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, 2008.

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ter Aufwendungen und insgesamt für die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer,143 ohne eine konsistente Lehre vom Steuertatbestand144 ist ein Steuersystem kaum freiheitsgerecht und gleichheitskonform anzuwenden. Ein Steuerrechtsproblem wie das der gemischten Aufwendungen kann dann in der Tat zu einer „Achillesferse“145 des Steuersystems werden: Grundentscheidungen, die nicht klar getroffen sind, stellen das System in Frage. Die Entscheidung des Großen Senats stärkt das Einkommensteuersystem und nimmt damit ein Kernanliegen von Joachim Lang auf, der die Entwicklung des Einkommensteuerrechts prägt und zahlreiche Steuerjuristen – der Verfasser zählt sich zum großen Kreis seiner Leser – in ihrem steuerrechtlichen Denken anregt und fördert.

__________ 143 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988. 144 Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen. Ein Beitrag zur Lehre vom Steuertatbestand, 1974. 145 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 55.

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Der BFH verabschiedet sich vom allgemeinen Aufteilungsund Abzugsverbot Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Rechtsprechungsentwicklung zum allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbot III. Die maßgebenden Erwägungen für die Rechtsprechungsänderung des Großen Senats 1. Das objektive Nettoprinzip gebietet den Abzug des beruflich veranlassten Teils von Reisekosten 2. § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG steht einer Aufteilung von gemischt veranlassten Reisekosten nicht entgegen 3. Weder der Grundsatz der Praktikabilität noch das Gebot der Rechtsprechungskontinuität hindern eine Aufteilung von Reisekosten

IV. Abgrenzende Klarstellungen 1. Kein Abzug bei untergeordneter beruflicher Bedeutung von Aufwendungen 2. Keine Aufteilung bei untrennbarem Ineinandergreifen gemischt veranlasster Aufwendungen 3. Kein Abzug von unverzichtbaren Aufwendungen für die Lebensführung V. Konsequenzen aus der Entscheidung des Großen Senats 1. Auswirkungen auf Reisekosten 2. Auswirkungen auf andere gemischte Aufwendungen 3. Verfahrensrechtliche Fragen VI. Resümee

I. Einleitung Generationen von Steuerrechtlern haben während ihrer Ausbildung gelernt, dass sich aus § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG ein konstitutives Aufteilungs- und Abzugsverbot für sog. gemischte Aufwendungen ergibt, bei denen sowohl die berufliche Veranlassung wie auch die Interessen der privaten Lebensführung ins Gewicht fallen und eine leichte und einwandfreie Aufteilung in den beruflich und den privat veranlassten Anteil nicht möglich ist. Zugrunde lag dieser Ansicht eine ständige Rechtsprechung des BFH, die insbesondere durch zwei Entscheidungen des Großen Senats geprägt worden war1. Diese Rechtsprechung war allerdings zu keiner Zeit unumstritten. So wurde im Schrifttum seit vielen Jahren in Abrede gestellt, dass sich aus § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG ein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot herleiten lasse. Insbesondere auch Joachim Lang, der sich von Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit an für kausalrechtliche Fragen der Veranlassungsdogmatik interessiert hat, zählte zu den Kritikern der Rechtsprechung des BFH2.

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1 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BFHE 100, 309 = BStBl. II 1971, 17; v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BFHE 126, 533 = BStBl. II 1979, 213. 2 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 9 Rz. 242 ff.

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Aber auch im BFH selbst gab es Zweifel daran, ob das Gesetz tatsächlich ein so weitgehendes Verbot hergebe3. Und obwohl der Große Senat des BFH auf wiederholte Vorlagen verschiedener Fachsenate4 im Grundsatz an der überkommenen Auffassung festgehalten hatte, verlief die weitere Rechtsprechung sehr uneinheitlich. Immer wieder ließen einzelne Fachsenate Ausnahmen von dem allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbot zu und trugen damit zu einer sehr kasuistischen und zunehmend unübersichtlichen Rechtsprechung bei. Dieser Entwicklung ist der Große Senat des BFH nunmehr entgegen getreten. Er hat mit Beschluss vom 21.9.20095 seine Rechtsprechung grundlegend geändert: Nach seiner Auffassung ist ein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot für sog. gemischt veranlasste Aufwendungen dem Gesetz nicht zu entnehmen. Vielmehr gebiete das objektive Nettoprinzip eine – ggf. schätzungsweise – Aufteilung und steuerrechtliche Berücksichtigung des beruflich veranlassten Teils der Aufwendungen. Im Folgenden sollen nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der ursprünglichen Rechtsprechung zum Aufteilungs- und Abzugsverbot die wesentlichen Erwägungen des Großen Senats für seine Rechtsprechungsänderung sowie deren Konsequenzen dargestellt werden.

II. Die Rechtsprechungsentwicklung zum allgemeinen Aufteilungsund Abzugsverbot Nach § 12 Nr. 1 Satz 1 EStG dürfen – von hier nicht maßgebenden Ausnahmen abgesehen – die für den Haushalt des Steuerpflichtigen und für den Unterhalt seiner Familienangehörigen aufgewendeten Beträge bei der Einkommensermittlung nicht abgezogen werden. Dazu gehören nach § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG auch die Aufwendungen für die Lebensführung, die die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt, auch wenn sie zur Förderung des Berufs oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen. Diese Regelung gilt seit ihrer Kodifizierung im Jahre 1934, mit der die damalige Rechtsprechung des RFH aufgegriffen wurde6, bis heute unverändert fort. Der RFH setzte unter Geltung der Vorschrift sodann auch konsequent seine Rechtsprechung fort: Wenn die Abgrenzung zwischen Lebenshaltungskosten und beruflichen Aufwendungen schwierig war, ging er grundsätzlich von nicht abziehbaren Ausgaben aus7, ließ jedoch bei gemischt veranlassten Aufwendungen beruflich veranlassten Mehraufwand oder einen – ggf. durch Schätzung

__________ 3 Z. B. K. Offerhaus, BB 1979, 668; W. Drenseck in FS für K. Offerhaus, Köln 1999, 497. 4 BFH v. 20.11.1969 – IV 348/64, BFHE 98, 152 = BStBl. 1970, 308; v. 16.1.1970 – VI R 31/68, BFHE 97, 425 = BStBl. II 1970, 187; v. 26.1.1977 – I R 53/75, BFHE 123, 320 = BStBl. II 1978, 52. 5 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, FR 2010, 225 m. Anm. Kempermann. 6 Vgl. Gesetzesbegründung zum EStG 1934, RStBl. 1935, 33, 41. 7 RFH v. 15.11.1939 – VI 572/39, RStBl. 1940, 28.

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zu ermittelnden – ausschließlich beruflich veranlassten Teil der Aufwendungen zum Abzug zu8. Der BFH entwickelte demgegenüber eine deutlich zurückhaltendere Beurteilung gemischt veranlasster Aufwendungen. Maßgebend war hierfür die Erwägung, es würde die Gleichmäßigkeit der Besteuerung gefährden, wenn Steuerpflichtige, die als Einkunft den Gewinn versteuern, ohne besondere Schwierigkeit private Kosten als Betriebsausgaben behandeln könnten, während Arbeitnehmer eine solche Möglichkeit im Allgemeinen nicht hätten9. Allerdings entwickelte sich die Rechtsprechung des BFH nicht gradlinig. Während in einzelnen Entscheidungen ein striktes Aufteilungs- und Abzugsverbot artikuliert wurde, wurden in anderen Fällen ausdrücklich Ausnahmen von diesem Grundsatz für geboten erachtet. Deutlich wird diese Entwicklung am Beispiel der Rechtsprechung zur Abziehbarkeit von Kosten für einen Telefonanschluss. Während die Gebühren für die Gesprächseinheiten regelmäßig nach beruflichen und privaten Gesprächen – auch im Schätzungswege – aufgeteilt werden konnten10, hat der VI. Senat des BFH seine Auffassung zur Abziehbarkeit der Grundgebühren für einen sowohl beruflich wie auch privat genutzten Telefonanschluss wiederholt geändert. Ursprünglich hatte er eine Aufteilung der Grundgebühr in einen beruflichen und einen privaten Nutzungsanteil entsprechend dem Verhältnis der laufenden beruflichen und privaten Gesprächseinheiten zugelassen. Nach der Betonung des allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots im Beschluss des Großen Senats aus dem Jahre 197011 hat der VI. Senat seine Rechtsprechung aufgegeben; er hielt mit Rücksicht auf das Aufteilungsverbot des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG eine schätzungsweise Aufteilung der Grundgebühren eines teils beruflich und teils privat genutzten Telefonanschlusses nicht mehr für zulässig12. Doch diese Entscheidung hatte nicht lange Bestand; bereits mit Urteil vom 21.11.198013 änderte der VI. Senat seine Rechtsprechung zur Abziehbarkeit von Telefongrundgebühren erneut: Der Gesichtspunkt der Gleichmäßigkeit der Besteuerung gebiete es, Telefongrundgebühren nicht anders zu behandeln als die fixen Kosten von Kraftfahrzeugen, da insoweit in jeder Hinsicht vergleichbare Sachverhalte vorlägen. Auch die Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Aufwendungen für Reisen verlief uneinheitlich. Während der BFH zunächst – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des RFH14 – eine auch im Wege der Schätzung mögliche

__________ 8 RFH v. 8.4.1936 – VI A 253/36, RFHE 39, 250; v. 20.1.1937 – VI A 526/36, RStBl. 1937, 778. 9 BFH v. 24.4.1956 – I 228/U, BFHE 63, 3 = BStBl. III 1956, 195; so auch später der Große Senat des BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BFHE 100, 309 = BStBl. II 1971, 17. 10 BFH v. 19.12.1977 – VI R 198/76, BHE 124, 428, BStBl. II 1978, 287; v. 9.11.1978 – VI R 195/77, BFHE 126, 418 = BStBl. II 1979, 149. 11 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BFHE 100, 309 = BStBl. II 1971, 17. 12 BFH v. 19.12.1977 – VI R 198/76, BFHE 124, 428 = BStBl. II 1978, 287; v. 9.11.1978 – VI R 195/77, BFHE 126/418 = BStBl. II 1979, 149. 13 BFH v. 21.11.1980 – VI R 202/79, BFHE 132, 63 = BStBl. II 1981, 131 = FR 1981, 228. 14 RFH v. 19.2.1930 – VI A 37/30, StuW 1930 Bd. II, Nr. 488; v. 5.3.1930 – VI A 1960/29, StuW 1930 Bd. II, Nr. 497.

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Aufteilung der Kosten einer gemischt veranlassten Reise für zulässig erachtete15, betrachtete er später eine gemischt veranlasste Reise als eine Einheit mit der Konsequenz, dass eine Aufteilung der Reisekosten grundsätzlich nicht in Betracht kam16. Lediglich die anlässlich einer Privatreise im beruflichen Interesse abgrenzbar und nachweisbar aufgewendeten Mehrkosten konnten abgezogen werden17. Die Aufteilung von Flug- oder Fahrtkosten einer nicht ganz überwiegend beruflichen Reise in einen beruflichen und einen privaten Teil je nach Zeitanteilen lehnte der BFH generell ab, sondern rechnete diese Kosten in vollem Umfang dem privaten Bereich zu18. Allerdings war die Beurteilung auch insoweit im BFH nicht einheitlich. Daher musste sich der Große Senat auch mit dieser Problematik beschäftigen. Auf Vorlage des I. Senats19 hat der Große Senat mit Beschluss vom 27.11.197820 entschieden: „1. Aufwendungen für die Teilnahme an einer Auslandsgruppenreise zu Informationszwecken sind keine Betriebsausgaben oder Werbungskosten, wenn a) sie nicht objektiv durch den Betrieb (Beruf) des Steuerpflichtigen veranlasst sind, insbesondere wenn mit der Reise programmgemäß auch ein allgemein-touristisches Interesse befriedigt wird, das nicht von untergeordneter Bedeutung ist, b) außerhalb des Gruppenprogramms mit der Gruppenreise ein Privataufenthalt verbunden wird, dem im Rahmen der Gesamtreise mehr als nur untergeordnete Bedeutung zukommt. 2. Ist die Gesamtreise (1.) als nicht betrieblich (beruflich) veranlasst zu beurteilen, sind einzelne abgrenzbare Aufwendungen, die ausschließlich betrieblich (beruflich) veranlasst sind, als Betriebsausgaben (Werbungskosten) abziehbar.“

Der Große Senat vertrat die Auffassung, eine Aufteilung von Fahrtkosten einer Reise, bei der Gesichtspunkte der Lebensführung eine nicht ganz untergeordnete Rolle gespielt hätten, sei aufgrund des Aufteilungs- und Abzugsverbotes des § 12 Nr. 1 S. 2 EStG in aller Regel ausgeschlossen. Auch nach dem Beschluss des Großen Senats vom 27.11.1978 finden sich in der Rechtsprechung des BFH Entscheidungen mit unterschiedlichen Gewichtungen; in jüngster Zeit kam es schließlich zu einer Akzentverschiebung in Richtung einer weitergehenden Abziehbarkeit von Reiseaufwendungen21. Der Grundsatz, dass die Kosten der An- und Abreise nur einheitlich entweder ganz oder gar nicht abziehbar sind, blieb indes unverändert.

__________ 15 Z. B. BFH v. 28.8.1958 – IV 229/57 U, BFHE 68, 113 = BStBl. III 1959, 44; v. 16.11.1961 – IV 105/60 U, BFHE 74, 481 = BStBl. II 1962, 181; v. 2.12.1965 – IV 6/65 U, BFHE 84, 187 = BStBl. III 1966, 69. 16 Z. B. BFH v. 22.7.1965 – IV R 55/65 U, BFHE 83, 406 = BStBl. III 1965, 646; v. 4.8.1967 – VI R 289/66, BFHE 90, 52 = BStBl. III 1967, 776. 17 Z. B. BFH v. 4.8.1967 – VI R 62/66, BFHE 90, 43; v. 4.12.1974 – I R 112/73, BFHE 114, 488 = BStBl. II 1975, 379. 18 Z. B. BFH v. 5.12.1968 – IV R 46/67, BFHE 94, 484 = BStBl. II 1969, 235; v. 1.4.1971 – IV R 72/70, BFHE 102, 90 = BStBl. II 1971, 542. 19 BFH v. 26.1.1977 – I R 53/75, BFHE 123, 320 = BStBl. II 1978, 52. 20 BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BFHE 126, 533 = BStBl. II 1979, 213. 21 Hierzu sei auf die Darstellung im Besprechungsbeschluss vom 21.9.2009 unter Rz. 85 ff. verwiesen.

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Hiergegen richtete sich nunmehr der Vorlagebeschluss des VI. Senats vom 20.7.200622: Im Streitfall des Ausgangsverfahrens hatte der Kläger, ein Computer-Experte, eine Fachmesse in Las Vegas besucht. Finanzamt und Finanzgericht waren der Auffassung, von den sieben Tagen des USA-Aufenthalts seien nur vier Tage einem eindeutig beruflichen Anlass zuzuordnen. Deshalb seien nur die Kongressgebühren, Kosten für vier Übernachtungen und Verpflegungsmehraufwendungen für fünf Tage zu berücksichtigen. Das FG erkannte jedoch darüber hinaus auch die Kosten des Hin- und Rückflugs zu 4/7 als Werbungskosten an. Dagegen wandte sich das Finanzamt mit der Revision und machte geltend, die Aufteilung der Flugkosten weiche von der ständigen Rechtsprechung des BFH ab. Der VI. Senat des BFH beabsichtigte, das angefochtene Urteil des FG hinsichtlich der Aufteilung der Flugkosten zu bestätigen. Er sah sich hieran aber durch entgegenstehende Rechtsprechung des IV. Senats gehindert. Der IV. Senat neigte zwar dazu, dem VI. Senat zu folgen, sah sich aber an einer Zustimmung seinerseits wiederum durch die Rechtsprechung des Großen Senats gehindert. Daraufhin hat der VI. Senat dem Großen Senat die Rechtsfrage vorgelegt: „Können Aufwendungen für die Hin- und Rückreise bei gemischt beruflich (betrieblich) und privat veranlassten Reisen in abziehbare Werbungskosten (Betriebsausgaben) und nicht abziehbare Aufwendungen für die private Lebensführung nach Maßgabe der beruflich (betrieblich) und privat veranlassten Zeitanteile der Reise aufgeteilt werden, wenn die beruflich (betrieblich) veranlassten Zeitanteile feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung sind?“

III. Die maßgebenden Erwägungen für die Rechtsprechungsänderung des Großen Senats Der Große Senat hat die Vorlagefrage mit Beschluss vom 21.9.2009 im Grundsatz bejaht. Er hat ergänzend hinzugefügt, dass das unterschiedliche Gewicht der verschiedenen Veranlassungsbeiträge es im Einzelfall erfordern kann, einen anderen Aufteilungsmaßstab heranzuziehen oder auch ganz von einer Aufteilung abzusehen. Bei seiner Entscheidung hat sich der Große Senat von folgenden rechtlichen Erwägungen leiten lassen: 1. Das objektive Nettoprinzip gebietet den Abzug des beruflich veranlassten Teils von Reisekosten Bei der Ermittlung der Einkünfte sind Aufwendungen als Werbungskosten oder Betriebsausgaben abzuziehen, wenn sie durch die Einkünfteerzielung veranlasst sind. Eine solche Veranlassung ist dann gegeben, wenn die Aufwendun-

__________ 22 BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BFHE 214, 354 = BStBl. II 2007, 121 = FR 2006, 1079 m. Anm. W. Bergkemper.

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gen mit der Einkünfteerzielung objektiv zusammenhängen und ihr subjektiv zu dienen bestimmt sind, d. h. wenn sie in wirtschaftlichem Zusammenhang mit einer der Einkunftsarten des Einkommensteuergesetzes stehen23. Maßgeblich dafür, ob ein wirtschaftlicher Zusammenhang besteht, ist zum einen die wertende Beurteilung des die betreffenden Aufwendungen „auslösenden Moments“, zum anderen dessen Zuweisung zur einkommensteuerrechtlich relevanten Erwerbssphäre. Ergibt diese Prüfung, dass die Aufwendungen nicht oder in nur unbedeutendem Maße auf privaten, der Lebensführung des Steuerpflichtigen zuzurechnenden Umständen beruhen, so sind sie grundsätzlich abzuziehen; beruhen die Aufwendungen hingegen nicht oder in nur unbedeutendem Maße auf beruflichen Umständen, so sind sie nicht abziehbar. Bezogen auf Aufwendungen für eine Reise folgt hieraus, dass ihre Abziehbarkeit von den Gründen abhängt, aus denen der Steuerpflichtige die Reise oder verschiedene Teile davon unternimmt. Die Gründe für eine bestimmte Reise sind daher anhand der gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu ermitteln; lassen sich keine Gründe feststellen, die eine berufliche Veranlassung der Reise belegen, gehen entsprechende Zweifel zu Lasten des Steuerpflichtigen. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine unbedeutende private Mitveranlassung dem vollständigen Abzug von Betriebsausgaben oder Werbungskosten nicht entgegensteht und dass umgekehrt eine unbedeutende berufliche Mitveranlassung von Aufwendungen für die Lebensführung keinen Betriebsausgaben- oder Werbungskostenabzug eröffnet. Enthält eine Reise abgrenzbare berufliche und private Veranlassungsbeiträge, die jeweils nicht von völlig untergeordneter Bedeutung sind (z. B. einer beruflich veranlassten Reise wird ein Urlaub hinzugefügt), so erfordert es das Nettoprinzip, den beruflich veranlassten Teil der Reisekosten zum Abzug zuzulassen. Der Umfang des beruflichen Kostenanteils ist notfalls zu schätzen. Reisekosten, die sowohl den beruflichen als auch den privaten Reiseteil betreffen (z. B. Kosten der Hin- und Rückreise zu einem Auslandsaufenthalt, der berufliche und private Teile umfasst), sind zur Umsetzung des Nettoprinzips ebenfalls aufzuteilen24. Insoweit gelten die Grundsätze sinngemäß, die die Rechtsprechung bereits zum Abzug fixer Pkw-Kosten und der Telefongrundgebühr entwickelt hat25. 2. § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG steht einer Aufteilung von gemischt veranlassten Reisekosten nicht entgegen Die Vorschrift des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG steht einer Aufteilung von gemischt veranlassten, aber anhand ihrer beruflichen und privaten Anteile trennbaren

__________

23 Vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH v. 4.7.1990 – GrS 2/88, GrS 3/88, BFHE 161, 290 = BStBl. II 1990, 817 = FR 1990, 708 unter C. II. 2., m. w. N. 24 So bereits ausdrücklich schon J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 9 Rz. 243. 25 BFH v. 9.10.1953 – IV 536/52 U, BFHE 58, 120 = BStBl. III 1953, 337; v. 21.11.1980 – VI R 202/79, BFHE 132, 63 = BStBl. II 1981, 131 = FR 1981, 228.

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Reisekosten nach Ansicht des Großen Senats nicht entgegen. Er ist nach erneuter Überprüfung ausdrücklich der Auffassung, dass aus § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG kein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot hergeleitet werden kann. Der Große Senat gelangt zu diesem Ergebnis durch eine Auslegung des Wortlautes der Vorschrift, die im Zusammenhang mit der Regelung in § 12 Nr. 1 Satz 1 EStG gesehen werden muss. Er sieht sein Auslegungsergebnis auch durch den aus der Entstehungsgeschichte abzuleitenden Gesetzeszweck bestätigt; er verweist auf die Gesetzesbegründung zum EStG 193426, aus der hervorgeht, dass die Vorschrift die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs umsetzen sollte, der eine Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen ausdrücklich zugelassen hatte27. Schließlich stehe seine Beurteilung auch im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung, die bereits in zahlreichen Ausnahmefällen eine Aufteilung gemischt veranlasster Aufwendungen für geboten erachtet habe28. Im Gegensatz zu seinen früheren Entscheidungen lässt sich ein allgemeines Aufteilungsgebot nach Auffassung des Großen Senats auch nicht aus dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit herleiten. Der Begriff der Steuergerechtigkeit bedeute, dass im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit darauf abgezielt werden müsse, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während (in vertikaler Richtung) die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Besteuerung niedrigerer Einkommen angemessen gestaltet werden müsse29. Das aus dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit hergeleitete Leistungsfähigkeitsprinzip gebiete vielmehr die Berücksichtigung des beruflichen Anteils durch Aufteilung, notfalls durch Schätzung. Der Steuerpflichtige, dem derartige beruflich veranlasste Aufwendungen entstanden seien, werde auf diese Weise zutreffend nach seiner Leistungsfähigkeit besteuert; der Steuerpflichtige hingegen, dem keine solchen beruflichen Kostenanteile entstanden seien, werde durch den in seinem Fall nicht erforderlichen Abzug nicht benachteiligt. Zudem werde durch eine Aufteilung auch vermieden, dass Aufwendungen insgesamt als beruflich veranlasst anerkannt werden, obwohl sich eine private Mitveranlassung aufdrängt. Des Weiteren hatte der Große Senat im Beschluss vom 19.10.197030 das Aufteilungsverbot damit gerechtfertigt, die Vorschrift des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG wolle im Interesse der steuerlichen Gerechtigkeit verhindern, dass Aufwendungen für die Lebensführung als vom Steuerpflichtigen durch den Betrieb veranlasst dargestellt würden, ohne dass für das FA die Möglichkeit bestehe, diese Angaben nachzuprüfen und die tatsächliche berufliche oder private Ver-

__________ 26 27 28 29

RStBl. 1935, 33, 41. S. o. unter II. mit Rechtsprechungsnachweisen. S. o. unter II. mit Rechtsprechungsnachweisen. Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210; v. 29.5.1990 – 1 BvL 20, 26/84 und 4/86, BVerfGE 82, 60 = BStBl. II 1990, 653 = FR 1990, 449, unter C. III. 3. c. 30 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BFHE 100, 309 = BStBl. II 1971, 17.

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anlassung festzustellen. Das BMF hat in seiner Stellungnahme dazu ergänzend ausgeführt, die Abgrenzung von beruflichen und privaten Berührungspunkten bei Reisen, insbesondere bei Auslandsreisen, sei häufig schwierig und hänge vom Geschick der Darstellung durch den Steuerpflichtigen ab. Auch insoweit hält der Große Senat nach erneuter Überprüfung an seiner früheren Argumentation nicht mehr fest. Bestehen nach Ausschöpfung der im Einzelfall angezeigten Ermittlungsmaßnahmen des FA (oder im Gerichtsverfahren des FG) und der gebotenen Mitwirkung des Steuerpflichtigen weiterhin gewichtige Zweifel, dass den als Betriebsausgaben oder Werbungskosten geltend gemachten Aufwendungen eine berufliche Veranlassung zugrunde liegt, so kommt für die strittigen Aufwendungen schon aus diesem Grund ein Abzug insgesamt nicht in Betracht. Bestehen hingegen keine Zweifel daran, dass ein abgrenzbarer Teil der Aufwendungen beruflich veranlasst ist, bereitet seine Quantifizierung aber Schwierigkeiten, so ist dieser Anteil unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände zu schätzen (§ 162 AO, § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). 3. Weder der Grundsatz der Praktikabilität noch das Gebot der Rechtsprechungskontinuität hindern eine Aufteilung von Reisekosten a) Auch der Grundsatz der Praktikabilität erfordert es nach Auffassung des Großen Senats nicht, die Vorschrift des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG weiterhin im Sinne eines allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbots zu verstehen. Er folgt damit ausdrücklich nicht der Argumentation des dem Verfahren beigetretenen BMF. Dieser hatte die Ansicht vertreten, ein Abzug von Reiseaufwendungen setze voraus, dass sie nach objektiven und einfach nachprüfbaren Kriterien unmittelbar dem beruflichen/betrieblichen Bereich zugeordnet werden könnten, was bei einer nicht unerheblichen privaten Mitveranlassung einer Reise nicht der Fall sei. Die beruflichen/betrieblichen Zeitanteile des Aufenthalts seien wegen der eingeschränkten Verifikationsmöglichkeiten als Aufteilungsmaßstab unbrauchbar. Der Große Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass schon nach der bisherigen Rechtsprechung die Frage, ob ein Steuerpflichtiger eine Auslandsreise aus betrieblichen (beruflichen) oder privaten Gründen unternommen hat, anhand objektiver Merkmale beurteilt werden musste; die tatsächlichen Feststellungen dieser Merkmale und ihre Gewichtung (Würdigung) für die einzelne Reise waren auch bisher im Einzelfall Aufgabe der Finanzämter und der Finanzgerichte als der steuergerichtlichen Tatsacheninstanz31. Schon bisher habe das allgemeine Aufteilungs- und Abzugsverbot dann nicht gegolten, wenn die private Mitveranlassung von ganz untergeordneter Bedeutung gewesen oder wenn eine Aufteilung der Aufwendungen nach objektiven und leicht nachprüfbaren Maßstäben möglich erschienen sei. So habe der Große Senat speziell für Reiseaufwendungen entschieden, die Abgrenzung und Ent-

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31 Beschluss des Großen Senats des BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BFHE 126, 533 = BStBl. II 1979, 213, unter C. II.

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scheidung, ob (private) Lebenshaltungskosten oder betriebs(berufs-)bedingte Aufwendungen vorlägen, könne bei Auslandsgruppenreisen zu Informationszwecken nur auf Grund einer Würdigung aller Umstände des einzelnen Falles getroffen werden; es sei deshalb in jedem Einzelfall zu prüfen, ob und in welchem Umfang private Gründe die Reise (mit-)veranlasst hätten. Dabei hätten bisher auch im Falle einer insgesamt als privat gewürdigten Reise einzelne Aufwendungen, die ausschließlich betrieblich (beruflich) veranlasst gewesen seien, zum Abzug als Betriebsausgaben zugelassen werden können. Insoweit sei schon in der bisherigen Rechtsprechung eine Aufteilung der Reise nach Zeitanteilen angelegt gewesen; ihre Verifikation sei nicht schwieriger als die umfassende Würdigung der einzelnen Merkmale, die aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BFH der Finanzverwaltung und den Finanzgerichten abverlangt worden sei. Dies gelte umso mehr, als die Aufteilung auch im Wege der Schätzung geschehen könne und im Übrigen ein Abzug der strittigen Aufwendungen als Betriebsausgaben oder Werbungskosten ohnehin ausscheide, wenn die berufliche Veranlassung nicht durch zureichende Gründe belegt sei. b) Der Große Senat hat sich schließlich auch weder unter dem Aspekt des Gewohnheitsrechts noch im Hinblick auf das Gebot zur Wahrung der Rechtsprechungskontinuität32 an einer Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zum Aufteilungs- und Abzugsverbot gehindert gesehen. Die frühere Auslegung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG habe sich nicht gewohnheitsrechtlich verfestigen können, weil von Anfang an und auf Dauer zahlreiche und gewichtige Stimmen im Schrifttum die Existenz eines gesetzlichen Aufteilungs- und Abzugsverbots bestritten hätten. Auch unter den Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sei das Festhalten an der über Jahrzehnte praktizierten höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht geboten; diese Rechtsprechung habe keinen Vertrauenstatbestand begründet, der zu Dispositionen hätte Anlass geben können.

IV. Abgrenzende Klarstellungen Auch wenn der Große Senat sich mit der hier dargestellten Entscheidung von dem allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbot verabschiedet hat, so weist er in seinem Beschluss jedoch ausdrücklich darauf hin, dass nicht in jedem Fall eine Aufteilung und steuerrechtliche Berücksichtigung von sog. gemischt veranlassten Aufwendungen in Betracht kommt. 1. Kein Abzug bei untergeordneter beruflicher Bedeutung von Aufwendungen Dies gilt – in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung – dann, wenn ein Veranlassungsbeitrag von untergeordneter Bedeutung ist. So stellt der Große Senat klar, dass eine unbedeutende berufliche Mitveranlassung von

__________ 32 Vgl. dazu Beschluss des Großen Senats des BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BFHE 220, 129 = BStBl. II 2008, 608 = FR 2008, 457 m. Anm. H.-J. Kanzler m. w. N.

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Aufwendungen für die Lebensführung keinen Betriebsausgaben- oder Werbungskostenabzug eröffnet33. 2. Keine Aufteilung bei untrennbarem Ineinandergreifen gemischt veranlasster Aufwendungen Greifen die – für sich gesehen jeweils nicht unbedeutenden – beruflichen und privaten Veranlassungsbeiträge so ineinander, dass eine Trennung nicht möglich ist, fehlt es mithin an objektivierbaren Kriterien für eine Aufteilung, so kommt ein Abzug der Aufwendungen ebenso insgesamt nicht in Betracht. Dies gilt z. B. bei einer beruflich/privaten Doppelmotivation für eine Reise, wie etwa einer touristischen Pauschalreise eines Religionslehrers durch das heilige Land34. 3. Kein Abzug von unverzichtbaren Aufwendungen für die Lebensführung Schließlich betont der Große Senat, dass sich Reisekosten von den grundsätzlich nicht abziehbaren und nicht aufteilbaren unverzichtbaren Aufwendungen für die Lebensführung unterscheiden, die nach Maßgabe des subjektiven Nettoprinzips durch die Vorschriften zur Berücksichtigung des steuerlichen Existenzminimums35 pauschal abgegolten oder als Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen abziehbar sind. Derartige Aufwendungen36 sind grundsätzlich dem Anwendungsbereich des § 4 Abs. 4 EStG und des § 9 EStG entzogen, um eine doppelte Berücksichtigung zu vermeiden. Inwieweit gleichwohl ein etwa gegebener beruflicher Mehraufwand zu berücksichtigen ist, bleibt – so der Große Senat – in erster Linie der Entscheidung des Gesetzgebers überlassen37.

V. Konsequenzen aus der Entscheidung des Großen Senats 1. Auswirkungen auf Reisekosten Aufgrund der neuen Entscheidung des Großen Senats sind Reisen nicht mehr in jedem Falle insgesamt als Einheit zu beurteilen. Vielmehr können unterschiedliche Reiseabschnitte unterschiedlich beruflich oder privat veranlasst und die Aufwendungen hierfür entsprechend aufzuteilen sein. Als sachgerechter Aufteilungsmaßstab kommt in derartigen Fällen das Verhältnis der beruflichen und privaten Zeitanteile der Reise in Betracht. Das un-

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33 Ebenso wie eine unbedeutende private Mitveranlassung dem vollständigen Abzug von Betriebsausgaben oder Werbungskosten nicht entgegensteht. 34 Vgl. H.-J. Pezzer, DStR 2010, 93 (95); s. auch H. Söhn, FS für K. Offerhaus, Köln 1999, 477 (485). 35 Dazu J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 9 Rz. 81 ff., m. w. N. 36 S. hierzu die Beispiele aus der Rechtsprechung in Rz. 123 des Beschlusses des Großen Senats. 37 Vgl. z. B. § 4 Abs. 5 Nr. 5 EStG; § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 EStG: „typische Berufskleidung“.

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terschiedliche Gewicht der verschiedenen Veranlassungsbeiträge kann es jedoch im Einzelfall erfordern, einen anderen Aufteilungsmaßstab heranzuziehen oder von einer Aufteilung ganz abzusehen. Nimmt der Steuerpflichtige z. B. aufgrund einer Weisung seines Arbeitgebers einen beruflichen Termin wahr, so können die Kosten der Hin- und Rückreise auch dann in vollem Umfang beruflich veranlasst sein, wenn der Steuerpflichtige den beruflichen Pflichttermin mit einem vorangehenden oder nachfolgenden Privataufenthalt verbindet. Dabei kommt es nach Ansicht des Großen Senats38 nicht notwendig darauf an, ob der private Teil der Reise kürzer oder länger ist als der berufliche Teil39. An den in seiner bisherigen Rechtsprechung für Auslandsgruppenreisen entwickelten Abgrenzungsmerkmalen40 hält der Große Senat grundsätzlich fest. Er weist jedoch darauf hin, dass vor dem Hintergrund des Beschlusses des BVerfG vom 7.11.199541 Indizien keine Gesamtwürdigung im Einzelfall zu ersetzen vermögen, sie mithin nicht schematisch geprüft und wie rechtliche Tatbestandsmerkmale verselbständigt werden dürfen42. 2. Auswirkungen auf andere gemischte Aufwendungen Die Entscheidung des Großen Senats ist zwar zu einem Fall ergangen, in dem die Aufteilung von Reisekosten streitig war. Sie stellt jedoch nicht lediglich eine weitere Ausnahme von dem allgemeinen Aufteilungs- und Abzugsverbot dar; vielmehr hat sich der BFH ausdrücklich von diesem verabschiedet. Dementsprechend gelten die Grundsätze der Entscheidung auch für die Beurteilung anderer gemischt veranlasster Aufwendungen; sie bieten damit die systematische Grundlage für eine bislang bereits in der Rechtsprechung in Einzelfällen zugelassene Aufteilung. Die Finanzverwaltung wird zu prüfen haben, ob sie zur Umsetzung der Grundsätze der Entscheidung des Großen Senats allgemein gültige Aufteilungsmaßstäbe für unterschiedliche, in Betracht kommende Fallgestaltungen im Verwaltungswege entwickelt, die der Besteuerungspraxis als zuverlässiger Anhalt dienen können. 3. Verfahrensrechtliche Fragen Nicht zuletzt im Hinblick auf die Praktikabilität seiner nunmehr entwickelten Grundsätze hat der Große Senat sich auch mit verfahrensrechtlichen Fragen beschäftigt.

__________ 38 S. Rz. 129 des Beschlusses. 39 A. A. insoweit noch BFH v. 22.7.1965 – IV 269/64 U, BFHE 83, 401 = BStBl. III 1965, 644. 40 S. BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BFHE 126, 533 = BStBl. II 1979, 213, unter C. II. 1. 41 BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 802/90, BStBl. II 1996, 34 = FR 1996, 18 m. Anm. H.-J. Pezzer – Oderkonto. 42 S. hierzu auch W. Spindler, StbJb 2002/2003, S. 61 (64 f.).

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Er weist darauf hin, dass an der Grenzlinie zwischen Berufs- und Privatsphäre ein Anreiz für die Steuerpflichtigen besteht, Privataufwendungen als beruflich veranlasst darzustellen, um so den Abzug dieser Aufwendungen zu erreichen. Dem hätten die Finanzverwaltung und die Finanzgerichte bei der Sachverhaltsaufklärung und bei der Rechtsanwendung besonders Rechnung zu tragen. So dürften sich die Finanzgerichte in der Regel nicht allein auf die Darstellung des Steuerpflichtigen stützen, wenn es an entsprechenden Nachweisen für dessen Sachvortrag fehle. Vielmehr habe der Steuerpflichtige die berufliche Veranlassung der Aufwendungen im Einzelnen umfassend darzulegen und nachzuweisen. Diese Anforderungen gälten insbesondere für die Frage, ob ein Teil der Aufwendungen als beruflich veranlasst anerkannt werden könne. Bestünden nach Ausschöpfung der im Einzelfall angezeigten Ermittlungsmaßnahmen des FA (oder im Gerichtsverfahren des FG) und der gebotenen Mitwirkung des Steuerpflichtigen weiterhin gewichtige Zweifel, ob den als Betriebsausgaben oder Werbungskosten geltend gemachten Aufwendungen eine berufliche Veranlassung zugrunde liege, so komme für die strittigen Aufwendungen schon aus diesem Grund ein Abzug insgesamt nicht in Betracht. Ergäben sich hingegen keine Zweifel daran, dass ein abgrenzbarer Teil der Aufwendungen beruflich veranlasst sei, bereite seine Quantifizierung aber Schwierigkeiten, so sei dieser Anteil unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände zu schätzen (§ 162 der Abgabenordnung, § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).

VI. Resümee Der dargestellte Beschluss des Großen Senats dürfte eine der rechtssystematisch bedeutsamsten Entscheidungen in der Rechtsprechung des BFH seit vielen Jahren sein43. Er hat eine seit Jahrzehnten intensiv diskutierte Streitfrage grundlegend beantwortet. Es bleibt zu hoffen, dass seine Umsetzung in der Verwaltungspraxis nicht zu neuen Streitigkeiten führt, sondern sich die nunmehr geschaffene Möglichkeit einer grundsätzlichen Aufteilung von gemischt veranlassten Aufwendungen streitschlichtend auswirkt. Dies dürfte dann gelingen, wenn sich alle am Besteuerungsverfahren Beteiligten in verantwortlicher Weise und mit dem gebotenen Augenmaß um die Anwendung der neuen Rechtsprechungsgrundsätze bemühen.

__________ 43 So auch H.-J. Pezzer, DStR 2010, 93.

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Hans-Joachim Kanzler

Einige Bemerkungen zum Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten Inhaltsübersicht I. Der Sonderausgabenabzug für private Steuerberatungskosten in der politischen Diskussion II. Zur Rechtsentwicklung des Abzugs privater Steuerberatungskosten 1. Rechtsprechung bis zur Einführung des Sonderausgabenabzugs privater Steuerberatungskosten 2. Schaffung und Abschaffung des Abzugs privater Steuerberatungskosten durch den Gesetzgeber 3. Rezeption der Gesetzesänderung

III. Ist das Abzugsverbot privater Steuerberatungskosten verfassungswidrig? 1. Keine Verletzung des Nettoprinzips 2. Keine Verletzung des Gleichheitssatzes und des Gebots der Folgerichtigkeit IV. Das Abzugsverbot – Ein Beitrag zur Steuervereinfachung, zum Abbau von Ausnahmetatbeständen und zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage? V. Fazit

Im Lehrbuch Tipke/Lang „Steuerrecht“ hat sich der Jubilar zum Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten geäußert und festgestellt, die Abschaffung des Sonderausgabenabzugs sei in Anbetracht der anhaltenden weiteren Verkomplizierung des Steuerrechts vollkommen unverständlich und könne auch nicht im Interesse des Steuerstaates liegen, da die Fehlerhaftigkeit von Steuererklärungen zunehme, wenn der Steuerpflichtige professionellen Rat nicht mehr in Anspruch nimmt1. Ob diese Folge tatsächlich bereits eingetreten ist, lässt sich kaum feststellen. Eine Evaluierung dieser gesetzlichen Maßnahme ist – so wünschenswert dies auch bei neuen gesetzgeberischen Maßnahmen wäre2 – nicht vorgesehen3. Das Abzugsverbot ist daher bisher vor allem Gegenstand der politischen Diskussion und interessengeleiteter, emotionaler Bekundungen. Eine eingehendere verfassungsrechtliche Würdigung hat bisher einzig Klaus Tipke mit dem Ergebnis vorgelegt, das Abzugsverbot verletze das subjektive Nettoprinzip4. Inzwischen hat der BFH entschieden, dass der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht verpflichtet war, den Abzug

__________ 1 Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. Köln 2010, 391. 2 Zu Evaluierungsaufträgen und Effizienzkontrolle in der Gesetzgebung s. Kanzler, Der Schuss ins Blaue – Einige Gedanken zum Experimentalgesetz im Steuerrecht, in FS Raupach, Köln 2006 S. 49 (52 ff.). 3 Für die Zinsschranke (§ 4h EStG) ist etwa eine Evaluierung vorgesehen (BR-Drucks. 168/09 – Beschluss). 4 Tipke, BB 2009, 636 (638 f.); s. auch Tipke, Steuerberatung – auf rechtsunsicherem Fundament, in FS Schaumburg, Köln 2009, 183 (200 ff.).

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von Steuerberatungskosten zuzulassen und dass die Aufhebung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG a. F. weder das objektive noch das subjektive Nettoprinzip oder den Gleichheitssatz verletzt5.

I. Der Sonderausgabenabzug für private Steuerberatungskosten in der politischen Diskussion Die Wiedereinführung des Abzugsverbots für private Steuerberatungskosten und die fast zeitgleiche Neuregelung zur Gebührenpflicht verbindlicher Auskünfte wären eigentlich Stoff für eine Glosse6, die die gedankenlose Beliebigkeit geißelt, mit der die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten das Argument der Steuervereinfachung missbrauchen und steuersystematische Gründe vorschieben, um den Haushalt zu sanieren. Und dennoch, wenn man sich dem Abzugsverbot ernsthaft nähert, gerät man schnell in weitere Schwierigkeiten. Die keineswegs neue Forderung nach einer Aufhebung des Abzugsverbots privater Steuerberatungskosten ist ins Gerede gekommen, und dies nur deshalb, weil sie Gegenstand des Koalitionsvertrags der christlich-liberalen Regierung7 wurde und namentlich die FDP sich wegen anderweitiger Steuerentlastungen kurz nach ihrem Regierungsantritt dem Vorwurf einer dreisten Klientelpolitik ausgesetzt hatte. Im Gegensatz zur Umsatzsteuerentlastung für Übernachtungsbetriebe wurde die Aufhebung des Abzugsverbots für Steuerberatungskosten jedoch nicht in das Wachstumsbeschleunigungsgesetz aufgenommen, obwohl dies denkbar einfach gewesen wäre. Hier hätte man nur einen alten Rechtszustand wieder einführen müssen und sich damit wohl kaum die Probleme eingehandelt, die die Spitzenverbände der Wirtschaft Anfang 2010 in Bezug auf die Hotelübernachtungen beklagten8 und die einige Politiker der christlich-liberalen Koalition dazu veranlasst haben, die Maßnahme als „bürokratisches Monstrum“ zu bezeichnen9. Wie beliebig mit dem Vorwurf der Klientelpolitik umgegangen wird, zeigt das Beispiel der Grünen. Während sich noch die Bundestagsabgeordnete Christine Scheel im Jahre 2005 mit dem Hinweis, es gehe dabei nicht um Klientelpolitik, gegen die Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für Steuerberatungskosten gewandt hatte10, wurde die geplante Wiedereinführung dieser Steuer-

__________ 5 BFH v. 4.2.2010 – X R 10/08, BFH/NV 2010, 2012. Es handelt sich um die Revision gegen das ausführlich begründete Urteil des Niedersächsischen FG, FG Nds. v. 17.1.2008 – 10 K 103/07, EFG 2008, 622. 6 Die auch schon geschrieben wurde (s. Cato, Was hat der …, FR 2006, 155). 7 Koalitionsvertrag „WACHSTUM. BILDUNG. ZUSAMMENHALT“ v. 26.10.2009, http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, S. 13. 8 http://www.einzelhandel.de/pb/site/hde/node/408709/Lde/index.html. 9 So der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Andreas Pinkwart unter Zustimmung des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (s. http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E4594952 5C9FA4652B35278CF93068EF9~ATpl~Ecommon~Scontent.html). 10 BT-Plenarprotokoll 16/8, 434 (448) v. 15.12.2005.

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ermäßigung von der Bundestagsabgeordneten Kerstin Andreae11 als „reine Klientelpolitik“ bezeichnet12.

II. Zur Rechtsentwicklung des Abzugs privater Steuerberatungskosten 1. Rechtsprechung bis zur Einführung des Sonderausgabenabzugs privater Steuerberatungskosten Bereits der Reichsfinanzhof (RFH) war mit der Frage des Abzugs von Steuerberatungskosten eines pensionierten Offiziers befasst und führte im Jahre 1932 aus, bei Privatpersonen trete „der Gedanke der Lebenshaltungskosten im weitesten Sinne ausschlaggebend in den Vordergrund. Dass durch die Tätigkeit eines Steuerberaters gegebenenfalls die Einkünfte im allgemeinen mehr erhalten bleiben, als es vielleicht ohne die Steuerberatung der Fall wäre“, genüge nicht, „die Aufwendungen für die Steuerberatung als Werbungskosten abzusetzen“13. In einem weiteren Urteil aus dem Jahre 1937 nahm der RFH dann zu der Frage einer Abgrenzung betrieblicher und privater Steuerberatungskosten Stellung. Der VI. Senat des RFH führte dazu aus, der Steuerberater eines Betriebsinhabers erfülle mit der Einrichtung einer Buchführung und der Beratung bei der Aufstellung der Bilanzen Hilfsaufgaben des Betriebs und unterstütze den Unternehmer bei der Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten, zu denen auch „die Sicherung der Gewinne des Betriebs“ gehörten14. Der Abzug solcher Steuerberatungskosten liege auch im Interesse der Besteuerungsgleichheit und -gerechtigkeit, weil die großen Betriebe ihre Aufwendungen für angestellte Steuerfachleute unbeanstandet als Betriebsausgaben abziehen dürften. Ausnahmsweise anfallende Steuerberatungskosten „für Zwecke der außerbetrieblichen Lebenshaltung“ seien auszuscheiden. Allerdings träten solche Kosten „von privaten Nebenfragen“ regelmäßig „hinter den betrieblichen Steuerfragen so weit zurück“, dass eine Kostenaufteilung entbehrlich sei. Dieser Judikatur folgte der IV. Senat des BFH in einem Urteil vom 5.2.195315 und lehnte den Abzug von Steuerberatungskosten einer Klägerin mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung ab. Schon damals hatte sich der BFH mit dem Argument auseinanderzusetzen, dass die Beauftragung eines Steuerberaters angesichts der Kompliziertheit der steuerrechtlichen Bestimmungen eine

__________ 11 http://kerstin-andreae.de/gesprochenes-wort/reden-im-bundestag/detail/nachricht/re de-zur-regierungserklaerung.html. 12 Ebenso die Bundestagsabgeordnete Maria Klein-Schmeink „klare Klientelpolitik“ (http://www.gruene-muenster.de/index.php/articles/Gr %C3 %BCne_Politikerinnen _kritisieren_Fehlanreiz_und_soziale_Schieflage:_Betreuungsgeld_geht_in_die_falsche _Richtung). 13 RFH v. 25.5.1932 – VI A 1168/31, RStBl 1932, 823: In dieser Sache wies der RFH auch das Argument des Klägers zurück, ein „Privatmann mit einigem Einkommen aus verschiedenen Quellen habe einen ‚Geschäftsbetrieb‘ für Steuer- und Gebührenforderungen zu unterhalten; die Kosten der darin beschäftigten Arbeitskraft seien Werbungskosten dieses Betriebes“. 14 RFH v. 20.10.1937 – VI 626/37, RStBl 1938, 93. 15 BFH v. 5.2.1953 – IV 454/52 U, BFHE 57, 190 = BStBl. III 1953, 75.

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Notwendigkeit sei, dass der Steuerpflichtige dadurch seine Einnahmen sichere und dass er folglich die Gefahr vermeide, durch Unkenntnis der steuerlichen Bestimmungen einen Teil seiner Einnahmen zu verlieren. Recht apodiktisch wurde hierzu ausgeführt, die Kompliziertheit des Einkommensteuerrechts sei für die Frage der Abzugsfähigkeit der Steuerberatungskosten nicht entscheidend; es komme allein darauf an, ob die Kosten für die Steuerberatung bei Nichtgewerbetreibenden Werbungskosten seien. Sei dies zu verneinen, so könne das Ergebnis nicht dadurch beeinflusst werden, dass das Einkommensteuerrecht kompliziert ist. Etwas differenzierter entschied der VI. Senat des BFH dann 1960, das Steuerberaterhonorar könne als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung abgesetzt werden, soweit es für Aufgaben der Grundstücksverwaltung im eigentlichen Sinn oder für die Bearbeitung von Steuern gezahlt worden ist, die, wie z. B. die Grundsteuer, als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung abziehbar seien; soweit das Honorar aber für die Bearbeitung der in § 12 Ziff. 3 EStG genannten Personensteuern gezahlt worden ist, gehöre es zu den steuerlich nicht abziehbaren Lebenshaltungskosten16. Dieser Linie folgte der VI. Senat in einer weiteren Entscheidung vom 30.4.196517, die vor allem deshalb bemerkenswert ist, weil das Gericht mit einer Beitrittsaufforderung an den Bundesminister der Finanzen die Anregung verband, zu prüfen, ob für die Behandlung aller Fälle der Steuerberatungskosten nicht eine gleichmäßige Regelung durch den Gesetzgeber getroffen werden solle und ob wegen der Kompliziertheit des gegenwärtigen Steuerrechts nicht der Abzug dieser Kosten als Sonderausgaben in Erwägung gezogen werden könne18. Im Zeitpunkt der Entscheidung hatte der Bundestag dann bereits eine solche Regelung beschlossen, die mit dem § 10 Abs. 1 Ziff. 8 EStG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 1965 am 14.5.196519 verkündet wurde. 2. Schaffung und Abschaffung des Abzugs privater Steuerberatungskosten durch den Gesetzgeber Kurz und unprätentiös wird die Einführung des Sonderausgabenabzugs privater Steuerberatungskosten im Entwurf eines Steueränderungsgesetzes 1965 vom Finanzausschuss damit begründet, dass der Ausschluss der „Beratungskosten, die unmittelbar die Höhe der nach § 12 Ziff. 3 EStG nicht abzugsfähigen Einkommen-(Lohn-)steuer betreffen, … unbefriedigend“ sei20. Fortan beschäftigte sich die Rechtsprechung nicht mehr mit den Fragen der Abgrenzung erwerbsbedingt veranlasster Steuerberatungskosten von solchen, die privat veranlasst sind, obwohl diese Abgrenzung nach wie vor von Bedeutung war, weil nur der Abzug als Betriebsausgaben oder Werbungskosten zu Verlusten führen konnte,

__________ 16 BFH v. 16.12.1960 – VI 166/60 U, BFHE 72, 169 = BStBl. III 1961, 63. 17 BFH v. 30.4.1965 – VI 207/62 S, BFHE 82, 449 = BStBl. III 1965, 410 und im Anschluss daran BFH v. 18.11.1965 – IV 151/64 U, BFHE 84, 519 = BStBl. III 1966, 190. 18 Im letzten Absatz des Urteilstatbestands VI 207/62 S, a. a. O., Fn. 17. 19 BGBl. I 1965, 377. 20 BT-Drucks. IV/3189, 6.

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nicht aber der Sonderausgabenabzug vom Gesamtbetrag der Einkünfte. Allerdings rückten nun die Fragen in den Fokus, welche Aufwendungen im Einzelnen noch unter den Begriff der Steuerberatungskosten fallen. So entschied der BFH dass auch Aufwendungen für Steuerfachliteratur zu den Steuerberatungskosten i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG gehören, wenn diese allgemein geeignet sind, dem Steuerpflichtigen bei der Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten und der Wahrnehmung seiner steuerlichen Rechte zu nutzen21. Selbst Unfallkosten eines Steuerpflichtigen auf dem Weg zu seinem Steuerberater wurden zum Sonderausgabenabzug zugelassen, weil sie – so der BFH – auch als Werbungskosten oder Betriebsausgaben abziehbar wären und nach dem Willen des Gesetzgebers22 alle durch die steuerliche Beratung entstandenen Kosten zu berücksichtigen seien23, während Strafverteidigungskosten in einem Steuerstrafverfahren nicht als Steuerberatungskosten i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG anerkannt wurden24. Nachdem noch die Steuerreformkommission 1971 den Vereinfachungszweck der Steuerermäßigung hervorgehoben hatte25 und selbst die sog. Bareis-Kommission26 zwar den Abzug der Bausparkassenbeiträge, der gezahlten Kirchensteuer, der Aufwendungen für Haushaltshilfen und des Schulgelds abschaffen wollte, die Steuerberatungskosten aber mit keinem Wort erwähnte, kam die Aufhebung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG durch das Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm vom 22.12.200527 dann doch etwas überraschend. Im Koalitionsvertrag vom 11.11.2005 nicht ausdrücklich erwähnt, wurde die Abschaffung des einen von fünf Abzugstatbeständen im Entwurf eines Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm v. 29.11.2005 mit der Begründung gerechtfertigt, dies sei im Interesse der Rechtsvereinfachung, des Abbaus von Ausnahmetatbeständen und der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage28. Die Aufhebung des Sonderausgabenabzugs für Steuerberatungskosten löste zugleich das Problem, das der Europäische Gerichtshof dem deutschen Gesetzgeber auf eine Vorlage des I. Senats des BFH bereitet hätte. Nach dessen Urteil nämlich verletzte das nur beschränkt Steuerpflichtige treffende Abzugsverbot privater Steuerberatungskosten die in Art. 43 EG garantierte Grundfreiheit29. Die Gesetzesänderung könnte jedoch allenfalls eine Reaktion auf den Vorlagebeschluss des BFH30 gewesen sein, da das Urteil des EuGH mehr als ein halbes Jahr nach Verkündung des Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm ergangen ist.

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BFH v. 23.5.1989 – X R 6/85, BFHE 157, 512 = BStBl. II 1989, 865 = FR 1989, 648. A. a. O. Fn. 20. BFH v. 12.7.1989 – X R 35/86, BFHE 157, 559 = BStBl. II 1989, 967 = FR 1989, 650. BFH v. 20.9.1989 – X R 43/86, BFHE 158, 356 = BStBl. II 1990, 20. = FR 1990, 50. Gutachten der Steuerreformkommission 1971, Bd. 17 Tz. II 449. Thesen der Einkommensteuer-Kommission zur Steuerfreistellung des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der Einkommensteuer, BB 1994 Beil. 24, 17. BGBl. I 2005, 3682; BStBl. I 2006, 79. BT-Drucks. 16/105, 4. EuGH v. 6.7.2006 – Rs. C-346/04 – Conijn, EuGHE 2006, I-6137 = BStBl. II 2007, 350. BFH v. 26.5.2004 – I R 113/03, BFHE 206, 347 = BStBl. II 2004, 994.

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3. Rezeption der Gesetzesänderung Nach Aufhebung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG hat das BMF ein Anwendungsschreiben „Zuordnung der Steuerberatungskosten zu den Betriebsausgaben, Werbungskosten oder Kosten der Lebensführung“31 erlassen, das auf der Grundlage der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung für gemischt veranlasste Steuerberatungskosten eine hälftige Aufteilung in abziehbare und nichtabziehbare Aufwendungen anordnet, im Übrigen aber vorsieht, aus Vereinfachungsgründen der Zuordnung des Steuerpflichtigen bis zu einem Betrag von 100 Euro im Veranlagungszeitraum zu folgen. Im Gesetzgebungsverfahren zum Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung32 hatte der Finanzausschuss u. a. auch gefordert, den Sonderausgabenabzug für Steuerberatungskosten wieder einzuführen und zur Begründung auf einen erhöhten Verwaltungsaufwand durch das Abzugsverbot hingewiesen; im Übrigen habe das Abzugsverbot zahlreiche Einspruchsverfahren provoziert und damit das Ziel einer Steuervereinfachung verfehlt33. Der Vorschlag blieb ohne Erfolg und auch die erwähnte Ankündigung einer Wiedereinführung des Abzugstatbestands in der christlich-liberalen Koalitionsvereinbarung vom 26.10. 200934 ist bislang nicht umgesetzt worden. Die Rechtsprechung hat sich für die Verfassungsmäßigkeit des neuen Abzugsverbots ausgesprochen35 und auch den Versuch abgewehrt, einen Abzug als dauernde Last36 oder als außergewöhnliche Belastung37 anzuerkennen. Im Schrifttum wird die Aufhebung der Steuerermäßigung unterschiedlich beurteilt. Das Spektrum reicht vom entschiedenen Bekenntnis zur Verfassungswidrigkeit der Regelung38 oder der Auffassung, die Steuerermäßigung sei verfassungsrechtlich geboten39, über die Beurteilung als unzweckmäßige oder schädliche Gesetzesänderung40 bis hin zur Feststellung, dass das Abzugsverbot verfassungsgemäß sei41.

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38 39 40

41

BMF v. 21.12.2007 – IV B 2 - S 2144/07/0002, BStBl. I 2008, 256. V. 16.7.2009 (BGBl. I 2009, 1959; BStBl. I 2009, 782). BR-Drucks. 168/1/09, 12 f. A. a. O. Fn. 7. Niedersächsisches FG, a. a. O., Fn. 5. FG BW v. 22.7.2008 – 4 K 723/08, EFG 2008, 1694. BFH, a. a. O., Fn. 5. Allerdings scheitert der Abzug außergewöhnlicher Belastungen nicht an der fehlenden Außergewöhnlichkeit der Aufwendungen, sondern an deren Zwangsläufigkeit aus rechtlichen oder aus der Kompliziertheit des Steuerrechts herzuleitenden tatsächlichen Gründen. Wenn die Mehrheit der Steuerpflichtigen ihre Steuererklärungen ohne Hilfe eines Berufsangehörigen erstellt, sind die Aufwendungen sicherlich außergewöhnlich. Tipke, a. a. O., Fn. 4; Seer in Tipke/Kruse, § 150 Rz. 14. Korritter, DB 1986, 560; KSM/Söhn, § 10 Rz. I 2; Strahl, KÖSDI 2005, 14900 (14902); Traxel, NWB F. 3, 9495. Drüen, DStR 2010, 2 (8); Drüen, Die Zukunft des Steuerverfahrens, in Schön/Beck, Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, Berlin 2009, 17 (21); Lang, a. a. O., Fn. 1; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. Köln 2010, 829 f.; Stöcker in Bordewin/ Brandt, § 10 Rz. 674. HHR/Kulosa, § 10 EStG Anm. 220; Pfützenreuter, EFG 2008, 1696.

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III. Ist das Abzugsverbot privater Steuerberatungskosten verfassungswidrig? 1. Keine Verletzung des Nettoprinzips Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) folgt für den Gesetzgeber das Gebot, die Steuerlast an der finanziellen Leistungsfähigkeit auszurichten, die nach dem objektiven und subjektiven Nettoprinzip zu bemessen ist42. Dass die Aufhebung des Sonderausgabenabzugs für private Steuerberatungskosten das objektive Nettoprinzip verletzen könnte, wird kaum jemand ernsthaft behaupten wollen. Allerdings wird die Meinung vertreten, sogar das Ausfüllen des Mantelbogens der Einkommensteuererklärung stehe im Zusammenhang mit den Einkünften, denn wer keine Einkünfte zu versteuern habe, müsse auch keinen Mantelbogen abgeben43. Soweit die Angaben im Mantelbogen etwa die Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und hauswirtschaftlichen Dienstleistungen betreffen, handelt es sich aber um Lebenshaltungskosten, die abweichend von § 12 Nr. 1 EStG abziehbar sind. Dass sie – wie etwa bei der zumutbaren Belastung des § 33 Abs. 3 EStG – auch durch die Höhe der Einkünfte beeinflusst werden, macht die Aufwendungen für eine darauf bezogene steuerberatende Tätigkeit nicht zu Betriebsausgaben oder Werbungskosten. Dazu gehören nur die unmittelbar durch die Einkunftserzielung veranlassten Steuerberatungskosten, die weiterhin abziehbar sind44. Aber auch der Auffassung, das Abzugsverbot verstoße gegen das subjektive Nettoprinzip45, ist zu widersprechen. Als systemtragender Grundsatz zum Abzug privater Ausgaben verlangt das subjektive Nettoprinzip die Freistellung des notwendigen Lebensbedarfs46. Lebensnotwendige und unvermeidbare Aufwendungen sind für die Steuerzahlung nicht disponibel47. Zu diesen Aufwendungen gehören die Steuerberatungskosten jedoch nicht48. Nach der Rechtsprechung beider Senate des BVerfG ist das Sozialhilferecht zur Bemessung des steuerfreien Existenzminimums heranzuziehen49. Danach aber umfasst der notwendige Lebensunterhalt insbesondere Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täg-

__________ 42 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182) „Tarifbegrenzung“. 43 Weilbach, ZSteu 2008, 31. 44 BFH v. 18.11.1965 – IV 151/64 U, BFHE 84, 519 = BStBl. III 1966, 190; BMF, a. a. O., Fn. 31 Rz. 3. 45 So Tipke, a. a. O., Fn. 4 und Seer, in Tipke/Lang, a. a. O., Fn. 1 S. 985 Fn. 194. 46 S. nur Lang in Tipke/Lang, a. a. O., Fn. 1 S. 255 f. 47 Statt vieler: Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. II, 2. Aufl. 2003, 784 ff. 48 BFH, a. a. O., Fn. 5; HHR/Kulosa, § 10 EStG Anm. 220; a. A. Korriter, DB 1986, 560 (562); Tipke, in FS Schaumburg, a. a. O., Fn. 4 S. 202. 49 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 (94 ff.) = FR 1990, 449 „Kindergeldkürzung für Besserverdienende“ und BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = FR 1992, 810 „Grundfreibetrag“; s. auch BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 „Krankenversicherungsbeiträge“.

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lichen Lebens50, nicht aber den Ersatz von Steuerberatungskosten51. Lässt sich daher ein Abzug von Steuerberatungskosten nicht unter dem Gesichtspunkt der Freistellung des Existenzminimums begründen, so ist der Gesetzgeber weder verpflichtet, einen entsprechenden Abzugstatbestand zuzulassen, noch verletzt er durch ein Abzugsverbot das subjektive Nettoprinzip52. Steuerberatungskosten sind daher, wie auch Anwaltskosten, durch den tariflichen Grundfreibetrag abgegolten. Eine Verletzung des Nettoprinzips lässt sich aber auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Berücksichtigung zwangsläufigen, pflichtbestimmten Aufwands herleiten. In seiner neueren Rechtsprechung hat das BVerfG diese Leitlinie entwickelt und ausgeführt, für die verfassungsrechtlich gebotene Einkommensbesteuerung nach finanzieller Leistungsfähigkeit komme es nicht nur auf die Abgrenzung beruflicher von privaten Aufwendungen an, sondern auch auf die Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand andererseits53. Steuerberatungskosten entstehen aber weder zwangsläufig54 noch auf Grund einer Verpflichtung. Der Topos vom zwangsläufigen, pflichtbestimmtem Aufwand weist eine gewisse Nähe zum Begriff der Zwangsläufigkeit in § 33 Abs. 2 EStG auf. Zwangsläufig und damit abzugswürdig sind danach Aufwendungen, denen sich der Steuerpflichtige weder aus rechtlichen oder tatsächlichen noch aus sittlichen Gründen entziehen kann55. Scheidet eine Zwangsläufigkeit aus rechtlichen Gründen bereits aus, weil der Steuerpflichtige auch im Hinblick auf § 80 Abs. 1 AO56 frei darüber entscheidet, ob er einen Steuerberater beauftragt oder nicht57, so bleibt nur eine Zwangsläufigkeit aus tatsächlichen Gründen, die eine existenzgefährdende Zwangslage voraussetzen würde58. Eine solche Zwangslage mag ausnahmsweise zu bejahen sein, wenn der Steuerpflichtige ohne professionelle Unterstützung bei der Durchsetzung seiner Rechte im Besteuerungsverfahren Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren. In diesem Fall aber wäre ein Abzug der Steuerberatungskosten als außergewöhnliche Belastung möglich59. Auf Grund der vielbeklagten Kompliziertheit des Steuer-

__________ 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

§ 8 Nr. 1 i. V. m. § 27 Abs. 1 SGB XII. BFH, a. a. O., Fn. 5. BFH, a. a. O., Fn. 5; a. A. Tipke, in FS Schaumburg, a. a. O., Fn. 4 S. 204. BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 = BStBl. II 2003, 534 = FR 2003, 568 „doppelte Haushaltsführung“ und BVerfG v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 = FR 2005, 759 „Kinderbetreuungskosten Alleinerziehender“. A. A. Tipke, a. a. O., Fn. 4, s. auch Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 94 „… er geradezu gezwungen, sich … professioneller Steuerberatung zu bedienen“. Dazu eingehend HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 170 ff. Die Regelung begründet keinen Vertretungszwang (gl. A. BFH, a. a. O., Fn. 5 zu II. 4. d, bb). Selbstgesetzte Rechtspflichten genügen allein nicht, eine Zwangsläufigkeit aus rechtlichen Gründen zu bejahen, HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 188 m. w. N. HHR/Kanzler, § 33 EStG Anm. 189 m. w. N. Gl.A. Niedersächsisches FG, a. a. O., Fn. 5.

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Einige Bemerkungen zum Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten

rechts entsteht eine solche existenzbedrohende Zwangslage aber nicht. Damit soll nicht geleugnet werden, dass „mit der zunehmenden Schwierigkeit des Steuerrechts nach dem zweiten Weltkrieg … das Bedürfnis nach sachkundiger Beratung und Hilfe in Steuersachen“ zugenommen hat60. Dieses Bedürfnis bleibt jedoch unterhalb der Schwelle unausweichlicher, existenzbedrohender Zwangslagen. Dem widerspricht es durchaus nicht, wenn der I. Senat des BFH in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH61 unter Hinweis auf weitere Urteile anderer Senate des BFH ausführt, der Abzugstatbestand solle dem Steuerpflichtigen einen gewissen Ausgleich für die Inpflichtnahme bei der Steuererklärung angesichts des komplizierten Steuerrechts und der dadurch entstehenden leistungsmindernden „Zwangsaufwendungen“ bieten. Schon die Anführungszeichen, mit denen der Begriff der Zwangsaufwendungen versehen ist, deuten darauf hin, dass der Senat damit nicht von seiner in demselben Absatz der Entscheidungsgründe geäußerten Auffassung abweichen wollte, wonach dem § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG a. F. „in erster Linie Lenkungs- und Subventionszwecke zugrunde“ gelegen haben62. Als Lenkungs- oder Sozialzwecknorm aber bedurfte der Abzugstatbestand des § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG a. F. einer besonderen Rechtfertigung63, seine Aufhebung dagegen nicht. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verständlich und widerspricht der Gesetzesinitiative vom 29.11.200564, wenn die Bundesregierung in einer Stellungnahme gegenüber dem EuGH in der Rechtssache C-346/04 „Conijn“ dargelegt hat, Steuerberatungskosten i. S. d. § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG 1997 würden bei unbeschränkt Steuerpflichtigen als „Sonderausgaben“ berücksichtigt, „weil entsprechende Kosten aufgrund des komplexen Steuerrechts häufig entstehen können und in entsprechender Weise die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen berühren“65. Schließlich kann auch der Hinweis darauf nicht überzeugen, dass einige der neueren Reformentwürfe den Abzug privater Steuerberatungskosten vorsehen66. Dieser Befund kann weder als Beleg für die Verfassungswidrigkeit des neu geschaffenen Abzugsverbots herangezogen werden, noch als Argument für eine steuersystematische Notwendigkeit des bisherigen Sonderausgabenabzugs überzeugen. Die Einschätzung, dass die Steuerermäßigung zweckmäßig und nützlich sein mag, ist für die verfassungsrechtliche Beurteilung ohne Bedeutung67.

__________ 60 BVerfG v. 15.2.1967 – 1 BvR 569/62, BVerfGE 21, 173 (175) „Übergangsregelung für Steuerbevollmächtigte“. 61 BFH, a. a. O., Fn. 30. 62 Hierauf weist auch das Niedersächsisches FG in seinem Urteil (a. a. O. Fn. 5) hin. 63 Birk, Steuerrecht, 12. Aufl. 2009, Rz. 214. 64 Die sich u. a. auf den Abbau von Ausnahmetatbeständen berief (Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drucks. 16/105, 7). 65 Wiedergegeben in den Schlussanträgen des Generalanwalts Philippe Léger in der Rechtssache C-346/04 Tz. 38. 66 So Tipke in FS Schaumburg (a. a. O. Fn. 4) S. 293. 67 BFH, a. a. O., Fn. 5.

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2. Keine Verletzung des Gleichheitssatzes und des Gebots der Folgerichtigkeit Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ist durch die Aufhebung des Abzugstatbestands unmittelbar nicht verletzt. Er gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln68. Gleichheitswidrige Benachteiligungen sind durch das alle gleichermaßen betreffende Abzugsverbot jedoch nicht zu befürchten. Aber auch das Gebot der Folgerichtigkeit, als Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes, ist durch das Abzugsverbot nicht berührt; es entspricht im Gegenteil einer folgerichtigen Umsetzung des Abzugsverbots in § 12 Nr. 3 EStG. Nach der Rechtsprechung des BVerfG hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen. Ausnahmen von einer solchen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes69. Steuerberatungskosten, die auf nichtabziehbare Steuern entfallen (§ 12 Nr. 3 EStG), teilen das Schicksal der Steuerzahlung. Wenn daher bereits die unvermeidbar zu zahlenden Personensteuern als solche einem verfassungsrechtlich unbedenklichen Abzugsverbot unterliegen, dann kann für die Aufwendungen zur Erfüllung dieser Steuerzahlungspflichten nichts anderes gelten70. Zielt das Gebot der Folgerichtigkeit gewissermaßen auf eine binnenorientierte Widerspruchsfreiheit der Regelungen ab, die Gegenstand einer Norm oder ein und desselben Gesetzes sind, so betrifft das Postulat der Einheit der Rechtsordnung die Widerspruchsfreiheit in unterschiedlichen Gesetzen bzw. Teilrechtsordnungen71. Wird das Gebot der Folgerichtigkeit verletzt, so führt dies zu einem Gleichheitsverstoß, während die Missachtung des Gebots der Widerspruchsfreiheit das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt72. Die zunehmende Komplexität des Steuerrechts einerseits und das Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten andererseits begründen allerdings keinen Verstoß gegen das Gebot der Widerspruchsfreiheit. Dazu erweist sich die Kritik an der Kompliziertheit des Steuerrechts schlechthin als zu unbestimmt, als dass sie einen konkreten Widerspruch zwischen einzelnen Teilrechtsordnungen belegen könnte. Zudem betrifft die so oft beklagte Unübersichtlichkeit des Steuerrechts ohnehin vor allem den vom Abzugsverbot nicht betroffenen

__________ 68 Vgl. etwa BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180) „Tarifbegrenzung“; v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (29) = FR 2008, 818 m. Anm. Keß „Gewerbesteuerfreiheit nichtgewerblich Tätiger“ und BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 „Krankenversicherungsbeiträge“. 69 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30) = FR 2007, 338 „Erbschaftsteuer“ und BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 „Pendlerpauschale“. 70 BFH, a. a. O., Fn. 5 unter Hinweis auf Wüllenkemper, Rückfluss von Aufwendungen im Einkommensteuerrecht, 1987, 136 und HHR/Kulosa, § 10 EStG Anm. 220. 71 Dazu nur Kirchhof, StuW 2000, 316 in einem Beitrag zum 60. Geburtstag des Jubilars. 72 BVerfG v. 15.7.2003 – 2 BvF 6/98, BVerfGE 108, 169 „Telekommunikationsgesetz“; v. 15.10.2008 – 1 BvR 1138/06, HFR 2009, 187 „Mehrmütterorganschaft“.

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Einige Bemerkungen zum Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten

Bereich der Einkunftsermittlung und der betrieblichen Steuern73. Auch verlangen die Steuergesetze bei aller Komplexität nichts Unmögliches vom Steuerpflichtigen74, der seine Angaben nach § 150 Abs. 2 AO „wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen“ hat75 und von dieser Verpflichtung auch nicht durch Einschaltung eines steuerlichen Beraters entbunden wird. Wesentlich konkreter wirkt da schon der Widerspruch zwischen der Aufhebung des Sonderausgabenabzugs für Steuerberatungskosten einerseits und der Einführung einer Gebührenpflicht für verbindliche Auskünfte nach § 89 Abs. 3 bis 5 AO76. Der geringe zeitliche Abstand beider Maßnahmen voneinander – das Abzugsverbot wurde durch das Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm vom 22.12.200577 und die Gebührenpflicht für verbindliche Auskünfte durch das Jahressteuergesetz 2007 vom 13.12.200678 eingeführt – macht diesen Antagonismus besonders augenfällig. Man kann wohl davon ausgehen, dass dieser Duplizität der Maßnahmen kein gesetzgeberischer Gesamtplan zugrunde gelegen hat, wenngleich das Motiv der Haushaltssanierung für beide Gesetzesänderungen bestimmend war. Gleichwohl ist das Gebot der Widerspruchsfreiheit m. E. nicht verletzt, weil sich die verbindliche Auskunft der Finanzbehörde qualitativ von der Beratung durch einen Berufsangehörigen unterscheidet, die gegenüber niemandem eine Bindungswirkung entfaltet. Die einfache Auskunft ist aber auch weiterhin nicht gebührenpflichtig. Die geschilderten Unstimmigkeiten zwischen steuerrechtlicher Komplexität und gebührenpflichtiger Auskunft auf der einen Seite und der Aufhebung des Sonderausgabenabzugs für Steuerberatungskosten auf der anderen Seite begründen danach zwar keine verfassungsrechtlichen Zweifel, führen aber doch zu einem unbefriedigenden und kaum zu vermittelnden Wertungswiderspruch, der durchaus geeignet ist – so er denn vom steuerrechtlichen Laien überhaupt bemerkt wird – die Staats- und Steuerverdrossenheit weiter Kreise zu fördern. Es trifft zwar zu, dass die große Mehrheit der Steuerpflichtigen ihre Steuererklärung selbst erstellt und nicht die Hilfe von Steuerberatern in Anspruch nimmt. Soweit diese Steuerzahler sich jedoch der vielfach angebotenen elektronischen Steuererklärungshilfen und gedruckten Ratgeber bedient, sind auch sie von dem Abzugsverbot betroffen. Ihnen als Alternative zur Beauftragung eines Steuerberaters die „Serviceagenturen der Finanzämter“ anzudienen, ist eine wenig überzeugende Empfehlung, auch wenn sie der Bundesminister der

__________ 73 So auch Niedersächsisches FG, a. a. O., Fn. 5. 74 M. E. zu Unrecht a. A. Tipke, BB 2009, 636 (637) und Seer in Tipke/Kruse, § 150 AO Rz. 14. 75 Gl. A. BFH, a. a. O., Fn. 5; Seer (a. a. O. Fn. 74) gesteht selbst zu, dass die Steuererklärung „gewissenhaft, sorgfältig abzugeben ist“. 76 Deren Verfassungsmäßigkeit ihrerseits angezweifelt wird (dazu Seer in Tipke/Kruse, § 89 AO Rz. 63 m. w. N.). Das FG Baden-Württemberg (FG BW v. 20.5.2008 – 1 K 46/07, EFG 2008, 1342) hält die Regelung für verfassungsgemäß. Die dagegen gerichtete Revision hatte nur aus verfahrensrechtlichen Gründen Erfolg (BFH v. 24.7. 2009 – VIII R 22/08, nv.). 77 A. a. O. Fn. 27. 78 BGBl. I 2006, 2878 (2902).

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Finanzen ausspricht79. Die von den Service- und Informationsstellen (SIS) geleisteten Dienste sind zwar kostenlos, bieten aber weder eine unabhängige, noch eine qualifizierte Beratung. Denn auf die z. B. im Internetauftritt des Finanzamts Frankfurt/O. gestellte Frage „Erhalte ich in der SIS eine steuerliche Beratung?“ erfährt man nur Folgendes: „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der SIS erteilen Ihnen allgemeine Auskünfte zu steuerlichen sowie verfahrensrechtlichen Fragen und informieren Sie im Rahmen der allgemeinen Auskunfts- und Beratungspflicht der Finanzämter. Eine detaillierte steuerliche Beratung ist grundsätzlich den steuerlich beratenden Berufen (z. B. Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Rechtsanwälte) vorbehalten.“80

IV. Das Abzugsverbot – Ein Beitrag zur Steuervereinfachung, zum Abbau von Ausnahmetatbeständen und zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage? Die Aufhebung steuerlicher Begünstigungen bedarf keiner weiteren Begründung, wenn der Lenkungszweck entfallen81 oder – so ließe sich hinzufügen – der Gesetzgeber von den ursprünglich angegebenen Gründen für die Einführung einer Subvention nicht mehr überzeugt ist. Gleichwohl hat der Gesetzgeber die Streichung des Sonderausgabenabzugs dreifach, als Beitrag zur Steuervereinfachung, zum Abbau von Ausnahmetatbeständen und zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, begründet82. Da diese Gründe für die verfassungsrechtliche Würdigung ohne Bedeutung sind, bleibt nur eine rechtspolitische Beurteilung der Aufhebung des Sonderausgabenabzugs. Diese Bewertung fällt allerdings nicht gerade zugunsten des Gesetzgebers aus. So kann das Abzugsverbot kaum einen Gewinn an Steuervereinfachung bieten, denn nach der bisherigen Regelung war eine Aufteilung erwerbsbedingter und privater Steuerberatungskosten meist entbehrlich oder das Finanzamt verzichtete in Aufteilungsfällen auf eine Nachprüfung der vom Steuerpflichtigen getroffenen Zuordnung, wenn das Gesamthonorar 520 Euro nicht überstieg83. Die derzeit geltende weit geringere Nichtbeanstandungsgrenze führt hingegen eher zu einer Erschwerung für die Praxis84. Als Beitrag zum Abbau von Ausnahmetatbeständen könnte die Gesetzesänderung erst überzeugen, wenn sie nicht derart vereinzelt und willkürlich umgesetzt würde. Kataloge zum Abbau systemwidriger Ausnahmetatbestände gibt es genug, allein es fehlt der politische Wille. Kaum anders verhält es sich mit dem

__________ 79 So aber der seinerzeitige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in der Sitzung des Deutschen Bundestags vom 15.12.2005 (BT-Plenarprotokoll 16/8, 434 [444]). 80 http://www.fa-frankfurt-oder.brandenburg.de/cms/detail.php/lbm1.c.276697.de. 81 BVerfG v. 29.11.1989 – 1 BvR 1402/87, 1 BvR 1528/87, BVerfGE 81, 108 = FR 1990, 143 „Tarifbegünstigung außerordentlicher Einkünfte“ und BVerfG v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93, BVerfGE 105, 17 = FR 2002, 1011 m. Anm. Kanzler „Sozialpfandbriefe“. 82 BT-Drucks. 16/105, 4. 83 R 102 EStR bis 2003. 84 HHR/Kulosa, § 10 EStG Anm. 220.

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Einige Bemerkungen zum Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten

Argument einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Die Aufhebung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG a. F. soll Mehreinnahmen von 600 Mio. Euro jährlich erbringen85. Saldiert mit den durch die gestiegene Arbeitsbelastung der Finanzverwaltung veranlassten Mehrausgaben verringert sich dieser Betrag erheblich und bleibt damit weit hinter dem Einsparpotential zurück, das mit einer Aufhebung anderer weitaus systemwidrigerer Steuervergünstigungen, wie etwa der Steuerbefreiung von Sonn- und Feiertags- oder Nachtarbeitszuschlägen (§ 3b EStG), zu erzielen wäre.

V. Fazit Die Aufhebung des Sonderausgabenabzugs für private Steuerberatungskosten ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Bloße Wertungswidersprüche, die sich auch beim Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten zeigen, verletzen die Gebote der Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit nicht. Einen Beitrag zur Steuervereinfachung, zum Abbau von Ausnahmetatbeständen und zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage kann die Gesetzesänderung allerdings kaum leisten.

__________ 85 Bericht des Finanzausschusses v. 14.1.2005, BT-Drucks. 16/255, 6 f.

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2. Unternehmenssteuerrecht Peter Essers

Basic Questions with respect to the Taxation of Enterprises Table of contents I. Introduction II. Establishing an enterprise/choosing the legal form of an enterprise 1. Basic questions with respect to the relationship between taxation and the legal form 2. Different tax treatment of entrepreneurs compared to other private persons 3. Different tax treatment of unincorporated and incorporated enterprises and its participants 4. Looking forward; future questions

III. Financing the activities of enterprises 1. Basic questions with respect to the different tax treatment of debt and equity 2. Looking forward; future questions IV. Functioning of enterprises 1. Basic questions with respect to fiscal vs. financial profit accounting 2. Looking forward; future questions V. Reorganising businesses 1. Basic questions with respect to reorganisations of enterprises 2. Looking forward; future questions VI. Concluding remarks

I. Introduction It is not surprising that the taxation of enterprises has always attracted much attention both from scholars and from politicians. Entrepreneurs are essential for the vitality and dynamics of national and international economics. Therefore, taxation should not be an obstacle for entrepreneurs to perform their activities; it would be even better if taxation would offer incentives for entrepreneurial activities, like new investments, preferably environmental friendly and energy saving investments, research and development and challenging start-up ventures. Policy makers also use taxation as an instrument to make or keep their country attractive for foreign investors. On the other hand, the principle of equality demands equal treatment of taxpayers. Persons in the same economic circumstances should be treated equally (horizontal equality), persons who are in different economic circumstances are entitled to a treatment that is in accordance with the level of inequality (vertical equality). When introducing beneficial tax rules for entrepreneurs, legislators always have to answer the question how these measures relate to this principle. Are there any justifications for the beneficial treatment of entrepreneurs compared 615

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to the tax treatment of other taxpayers, like employees and investors? After the adoption of such instrumental regulations, courts are confronted with these questions. Within the European Union the state aid provisions are used to prevent too aggressive specific national tax measures aiming to benefit and attract specific entrepreneurial activities. More than politicians, who are always judged on the concrete solutions they propose and implement, scholars’ first duty is to ask fundamental questions and to formulate and test hypotheses. After having found possible answers to these questions, mostly these answers lead to new questions and hypotheses. In this contribution, dedicated to colleague Joachim Lang, I would like to pose some basic questions with respect to the taxation of enterprises. Most of these questions have been raised in the framework of the research program 2004 – 2009 of the Center for Company Law (CCL) of Tilburg University, in which the Fiscal Institute of Tilburg University participates. This research program (‘Foundations and Developments of (Inter)national and European Business and Tax Law’) was primarily aimed at the search for and the formulation of (inter)national foundations of business law and tax law. Object and purpose of this research program was the development of building stones for the creation of a coherent system of business law and tax law that satisfies the needs of modern society and of enterprises and stakeholders in a process of ongoing European integration and globalization. The research program contained four sub-programs, representing the different periods during the lifetime of an enterprise: establishing/choosing the legal form, financing, functioning and reorganising the business. In the following, I will discuss some basic questions that have been arisen in the research with respect to these four periods in the lifetime of an enterprise.1 Besides possible answers to these questions, I will also pose some new fundamental questions as a follow-up of these answers.

II. Establishing an enterprise/choosing the legal form of an enterprise 1. Basic questions with respect to the relationship between taxation and the legal form One of the basic questions in company law concerns the functionality of the legal form of an enterprise. Are the different legal forms still used for purposes for which they were originally meant to be used or has the choice of the legal form of the enterprise been influenced by other factors than those that are meant to be leading for this choice? For example, if an entrepreneur chooses a certain legal form for his enterprise because he wants to achieve specific tax benefits, there is a risk that the legal form he adapts could be suboptimal with respect to, e.g., liability, corporate governance, financing possibilities, etc.

__________ 1 For a complete overview, I refer to: Peter Essers, Eric Kemmeren, Henk te Niet, Theo Raaijmakers, Ger van der Sangen (ed.), Back to Basics in Business Law and Tax Law, Boom Juridische Uitgevers, The Hague, 2010.

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Basic Questions with respect to the Taxation of Enterprises

This could lead to a suboptimal contribution to welfare and economic prosperity. Another important question in this respect is whether the legal options an entrepreneur has with respect to the available legal forms still match with his entrepreneurial needs. Is it, for instance, possible to combine the need for limited liability with the choice for a partnership? Is the wish to have limited disclosure obligations compatible with the desire to incorporate a company? From a tax law perspective, one of the basic questions that have been put forward with respect to choices relating to the legal form of enterprises is whether any justifications exist for the different tax treatment of (active) entrepreneurs compared to other private persons. In other words: what makes entrepreneurs special? Another basic question that has been raised in this framework is whether any justifications exist for the different tax treatment of unincorporated and incorporated enterprises and its participants. A herewith related question is whether the present influence of legal personality on the tax position can be justified. 2. Different tax treatment of entrepreneurs compared to other private persons In Member States of the European Union the tax treatment in personal income tax of an individual entrepreneur differs from the tax treatment of an employee or an investor. In many ways entrepreneurs face a different treatment compared to other individuals. Most countries have specific investment incentives and special accounting rules for entrepreneurs. In Dutch personal income tax the object of taxation of an entrepreneur is based on the S-H-S concept of income. This means, inter alia, that next to ‘normal’ business income also capital gains (including capital losses) are part of the taxable object. The same goes for part-time freelancers. However, in the Netherlands these freelancers are not entitled to tax incentives since these incentives are only meant for ‘real’ entrepreneurs. Like entrepreneurs, employees are taxed in Box nr. 1, but for them the S-H-S concept of income is not applicable. They even do not have the possibility to deduct labour costs. Investors are taxed in Box nr. 3, leading to a taxation on the basis of a fictitious income of 4 % of the tax payer’s net wealth against a flat rate (30 %) which differs from the tax rates applicable in Box nr. 1 (in 2010: starting at 33,45 % and with a top marginal rate of 52 % as far as the taxable income exceeds € 54.367). With respect to the taxation of income in Box nr. 3, costs are not deductible. Neither is there a possibility to take losses into account in this Box. Also, in personal income tax the Dutch legislator makes a difference between ‘active’ and ‘passive’ entrepreneurs. Whereas active entrepreneurs may claim all kinds of tax facilities, like a profit deduction of (in 2010) at most € 9.427 and a general profit exemption of 12 %, passive entrepreneurs are only entitled to a limited number of tax facilities.2

__________ 2 However, as of 2010, the general profit exemption is no longer dependent on the hours effectively spent in the enterprise. As a result, also passive entrepreneurs may benefit from this exemption.

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Peter Essers

Most striking, are the differences in taxation of an entrepreneur and an employee. Most tax theories justify these differences by pointing at the fact that business income not only serves as a means for consumption but also as a means for investment, profit reservation and old age provision. For this reason, profit income should face another tax treatment than income like salary, since latter income has only (or predominantly) a consumption function. The second justification is that most legislators try to stimulate the positive influence entrepreneurs have on employment and economic productivity by granting them tax incentives. The first justification – the different purposes and characteristics of business income – is often connected to the fact that in most personal income tax systems business income of personal entrepreneurs, like all other income items, is taxed at a progressive rate. Because business income has these special purposes, it is felt that the effect of the progressive rate should be mitigated by granting them entrepreneurial tax deductions and credits. The second justification has led to several tax investment incentives. As a result, a very complicated system has been created, leading to an increasing influence of and dependence on tax advisors and increasing administrative burdens. Often, also the effectiveness of these incentives is challenged. Some of these incentives may even lead to conflicting effects. In this respect, in general, a lower tax rate on business profits is more appreciated by taxpayers than a reduction of the tax base since this is easier to apply. An often heard complaint is also that incentives meant to accommodate the different purposes of business income are also available if all business income is used for consumption. These incentives should be targeted more towards the investment and reservation function of business income. As soon as business income is available for consumption, the need for a special treatment no longer exists. In combination with this argument, it can also be defended that not only business income has more functions than consumption. Nowadays, also an employee has to make reservations for possible setbacks in the future. Because his employment protection is not as strong as it used to be, he has to invest in his flexibility by taking extra trainings. In any case, the question is justified why the compensation for labour of an entrepreneur should be taxed differently compared to the taxation of the income of an employee. In the Netherlands, many tax scholars3 are in favour of a business tax that is independent of the legal form and that really takes into account the different

__________ 3 J. E. A. M. van Dijck, Belastingheffing van ondernemingen ongeacht de rechtsvorm, Belastingconsulentendag 1984, nr. 29, FED, Deventer, 1984; Raad voor het Midden en Kleinbedrijf, Advies inzake een ondernemingswinstbelasting, nr. 6, The Hague, 1995; Raad voor het zelfstandig ondernemerschap (RZO), Bouwstenen voor een fiscale toekomstvisie voor het zelfstandig ondernemerschap, nr. 5, The Hague, 2002; P. H. J. Essers, Knelpunten bij de hervorming van belastingheffing van ondernemingen, (oratio Tilburg University), Kluwer, Deventer, 1992; S. J. Mol-Verver, De ondernemingswinstbelasting, SDU, Amersfoort, 2008; E. J. W. Heithuis, Hoe de vennootschapsbelasting zich kan ontwikkelen tot een rechtsvormneutrale ondernemingswinstbelasting, MBB 2004/127, p. 127; E. J. W. Heithuis, Zonder aanziens des (rechts)persoons, de Wet Vpb 2007, De ondernemingswinstbelasting van de 21e eeuw, (oratio Erasmus University Rotterdam), Kluwer, Deventer, 2005.

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Basic Questions with respect to the Taxation of Enterprises

purposes of business income. This can be realized by taxing business profits of all kinds of enterprises – either unincorporated or incorporated entities – at one – relatively low – flat rate. At the moment (part of) these profits (is) are available for consumption an additional tax could be levied, comparable to Dutch Box nr. 2 taxation. By exchanging most of the existing business incentives for a low flat business tax rate independent of the legal form, the special purposes and characteristics of business income used in the enterprise will be served best. Such a business profit tax would also contribute to the goals of lowering the administrative burdens entrepreneurs face and of diminishing the dependence on their tax advisors.4 3. Different tax treatment of unincorporated and incorporated enterprises and its participants Many differences exist between the tax treatment of an enterprise run by one or more individuals (unincorporated enterprises) and the taxation of enterprises run by incorporated entities. In the Netherlands, in general, entrepreneurs with unincorporated enterprises are taxed in Box nr. 1 at a marginal rate of at most 52 %. They may benefit from many tax incentives. One of these facilities is an exemption of (in 2010) 12 % taxable profit; this means that for entrepreneurs the effective maximum marginal rate in Box nr. 1 will be 45,76 %. Profits made by incorporated enterprises like NV’s or BV’s are taxed with corporate income tax at a maximum rate of 25,5 %. However, dividends and capital gains on the shares held by substantial participation holders (individual shareholders owning 5 % or more of the paid-up share capital) are taxed in Box nr. 2 at a flat personal income tax rate of 25 %. Thus, in 2010 the combined personal and corporate income tax rate on profits of incorporated enterprises is 44,125 %. For the period 1997–2010, the following overview can be made: Tax burden in:

1997–2000

Shareholder/BV Pers. entrepreneur Difference

2001 2002–2004

51,25 % 51,25 %

2005

50,875 % 48,625 %

2006

20075

20086

20097

20108

47,2 % 41,89 % 44,125 % 44,125 % 44,125 %

60 %

52 %

52 %

52 %

52 %

46,8 %

46,8 %

46,54 %

45,76 %

8,75 %

0,75 %

1,125 %

3,375 %

4,8 %

4,91 %

2,675 %

2,415 %

1,635 %

Also, many tax differences exist in the old age tax provisions for entrepreneurs and substantial participation holders and in the business succession provisions. An important aspect of taxation of unincorporated and incorporated enterprises concerns the issue of loss compensation. Most unincorporated enterprises are considered transparant for tax purposes; most incorporated enter-

__________ 4 P. H. J. Essers, De fiscale positie van de IB-ondernemer: verleden, heden en toekomst, Tijdschrift Fiscaal Ondernemingsrecht 2008/100. 5 Including a profit exemption for the personal entrepreneur of 10 %. 6 Including a profit exemption for the personal entrepreneur of 10 %. 7 Including a profit exemption for the personal entrepreneur of 10,5 %. 8 Including a profit exemption for the personal entrepreneur of 12 %.

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prises are considered non-transparant. In a transparent entity losses are directly attributed to the participants of this entity. These losses can be compensated with other income of the participants. Losses of a non-transparent entity can only be offset against own profits of this entity. Another difference concerns the taxation of labour income of entrepreneurs and shareholders. In the Netherlands, shareholders/directors are supposed to have earned a fictitious salary if the company does not pay them (sufficient) salary. This salary is deductible in calculating the fiscal profit of the company. Personal entrepreneurs are taxed for their full profit, including the compensation for their labour. Labour expenses of the entrepreneur are not deductible. Bill nr. 28746 (pending) offers the possibility for public partnerships to opt for legal personality. Legal personality will have the effect that the partnership is the legal owner of the partnership’s assets without affecting the personal liability of the partners. If the partnership does not opt for legal personality, its capital forms a community of property, jointly owned by all partners. This proposed regulation in civil law will not affect the transparency of these partnerships for personal income tax or corporate income tax purposes. However, this choice will have consequences for the real estate transfer tax. In her publications, Thil van Kempen has tested the findings of her dissertation9 to this legal proposal. Central goal of her dissertation was to determine whether the fact that a company has legal personality should play a role in the legislator’s choice for fiscal transparency or non-transparency. To answer this question, van Kempen has investigated which starting points have formed the basis of the current dichotomy in the Netherlands between transparent partnerships and corporations that are subject to taxation. After that, she has put forward the question whether these starting points can justify this dichotomy. The starting points van Kempen has found are the following: 1. The principle of ability to pay: initially, the Dutch legislator has assumed that in the case of corporations an explicit action/decision has to be undertaken or made by an organ of the corporation before the shareholders gain the enforceable right to payment of their share of the profits. However, for partnerships the legislator has assumed that partners directly share in the profits generated by the partnership. This difference was linked to the question of whether a company’s capital belongs to the company as an independent body or whether this capital is jointly owned by the individuals participating in the company. In van Kempen’s view this assumption has formed the most important starting point for the current division in the Netherlands into transparent partnerships and companies which are independently subject to taxation. As underlying assumption she mentions the ability-to-pay-principle as foundation of personal income taxation. Corporate income tax was meant to supplement personal income tax, in the sense that companies had to be subject to taxation from a subjective point of view in situations in which it would conflict with

__________ 9 M. L. M. van Kempen, Rechtspersoonlijkheid en belastingplicht van vennootschappen, W. E. J. Tjeenk Willink, Deventer, 1999.

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the ability-to-pay-principle to levy personal income tax from participantsnatural persons on the basis of their share of the profits. Based on this idea, the legislator’s assumption was that the profits of a transparent partnership directly increase the ability to pay of its individual partners, whereas this would not be the case for shareholders in corporations. Thil van Kempen has qualified this assumption as a ‘misunderstanding’. The legal truth both for partners in partnerships and for shareholders in corporations is that they only gain the right to payment of the share in the profit they are entitled to after the determination of the company’s profit and as a result of this determination. In principle, no separate decision is needed once this has been done, however, mostly, provisions regarding the allocation of profits in partnership agreements or articles of incorporation may deviate from this principle, for example, by stipulating that part of the profits may be reserved. Partners in partnerships, like shareholders in corporations, cannot individually use profits reserved under the law. The capital of a partnership forms a bound community of property that, as such, is more or less separate from the individual partners. Thus, van Kempen’s conclusion is that, from the perspective of ability to pay, whether a company is recognized as a legal entity or not does not form an appropriate criterion for the dichotomy between transparent partnerships and companies which are independent subject to taxation. 2. Independence: the legislator has assumed that corporations offer the only possible general form of a legally independent business, existing independently from the entity or entities that individually provide its capital. It is implicitly assumed that corporations have their own ability to pay, unrelated to and independent of that of their shareholders. However, van Kempen has argued that, in practice, the deciding factor is not so much the legal form or the possession of corporate identity, but the material reality if and to which extent companies are independent. In practice, also non-incorporated partnerships may act as independent businesses, whereas incorporated enterprises can be very much dependent on their shareholders, especially if only one or two shareholders are present. Therefore, the above-mentioned assumption on the basis of legislative history, cannot justify the current division between transparent partnerships and non-transparent corporations. 3. The co-occurrence of the position of the provider of capital in a partnership and an entrepreneur: according to van Kempen, the legislator has assumed that in the case of partners in transparent partnerships, the position of an entrepreneur and a provider of capital coincide, unlike the case of shareholders in independent corporations subject to corporate income tax. The relevance of this assumption is primarily that the tax legislator has striven to find a general balance and has yet maintained differences in the treatment of entrepreneursnatural persons and providers of capital-natural persons. Natural persons who receive their business profits are taxed directly for their share of the profits. The separate elements of the company capital are directly attributed to them. On the other hand, natural persons viewed by the legislator to be providers of capital are taxed at the moment that their source of income, which is formed by their shares of participation in the company, bears fruit. In order to prevent 621

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postponement of taxation and to achieve a general equilibrium, the companies in which participants are solely providers of capital are defined as independent entities subject to taxation. However, according to van Kempen, the difference in the moment of taxation between participants-entrepreneurs and participants-providers of capital cannot be explained by the ability-to-pay-principle. With the alteration of the substantial interest regime as of 1 January 1997, the Dutch legislator has explicitly recognized the fact that shareholders can, in essence, be entrepreneurs. However, with the introduction of the new regime, the legislator has not reconsidered the existing bipartition into transparent and non-transparent companies that are subject to taxation. Thil van Kempen’s conclusion is that the three grounds for the current dichotomy between transparent partnerships and non-transparent corporations can neither explain nor justify this bipartition. Because this bipartition is founded on incorrect private law assumptions, it needs to be reconsidered. Based on these findings, together with van Kempen,10 I have supported the legislator’s proposal that the introduction of legal personality for public partnerships should have no influence on the personal and corporate income tax treatment of these entities. Nevertheless, one of the reasons to introduce an option for legal personality seems to be the fear of the drafters of this Bill that an obligatory legal personality would lead to the end of fiscal transparency of partnerships. I plead for a more fundamental approach in which the choice of the legal form of the enterprise is disconnected as much as possible from tax considerations. The distinction between transparent and non-transparent entities cannot be found in the extent of liability of the partners or the extent to which partners are bound to the commitments of the partnerships, nor in the extent to which participations are freely transferable. Neither should the option for legal personality make any difference for the application of the real estate transfer tax.11 Therefore, I am in favour of a business tax independent of the legal form. As described in paragraph 2.2, this can be realized by taxing business profits of all kinds of enterprises – either unincorporated or incorporated entities – against a relatively low flat rate. Once (part of) these profits (is) are used for consumption an additional tax could be levied, comparable to the Dutch Box nr. 2 taxation. A further step could be the implementation of a capital gains (or accrual) tax for private persons combined with a (social)12 flat tax rate. For the Nether-

__________ 10 P. H. J. Essers and M. L. M. van Kempen, Fiscale aspecten van titel 7.13 BW, in M. J. G. C. Raaijmakers and G. J. H. van der Sangen (ed.), Herziening persoonsgebonden ondernemingsvormen, Boom Juridische uitgevers, Den Haag, 2004; P. H. J. Essers, Enkele fiscale aspecten van het wetsvoorstel ‚Vaststelling van titel 7.13 (vennootschap) van het Burgerlijk Wetboek‘, WPNR 2003/6524; P. H. J. Essers and G. T. K. Meussen, Taxation of Partnerships/Hybrid Entities, in Joseph McCahery, Theo Raaijmakers and Eric Vermeulen (ed.), The Governance of Close Corporations and Partnerships, US and European Perspectives, Oxford UP, 2004. 11 M. L. M. van Kempen, Personenvennootschappen met en zonder rechtspersoonlijkheid in de overdrachtsbelasting, Weekblad Fiscaal Recht 2007/6729. 12 With exemptions or credits for low income levels.

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lands, this would mean the end of the present fictitious capital income levy of Box nr. 3 in Dutch PITA 2001. 4. Looking forward; future questions Further research has to be done on the optimal design of a business tax independent of the legal form. Such a business tax also means that there is no justification any more for a different tax treatment of (foreign) subsidiaries and permanent establishments. Topics that have not or not sufficiently been investigated in this respect up to now are the consequences of a business tax system in which no distinction is made between a foreign permanent establishment and a subsidiary for fiscal loss compensation issues. Also other tax aspects with respect to cross-border relationships have to be investigated. Subsequently, a choice has to be made with respect to the tax treatment of payments made by the enterprise to a director/shareholder and to a personal entrepreneur for his labour. Should these payments be tax deductible both at the level of the corporation and at the level of a personal entrepreneur (as is now only the situation for a corporation)? In that case, probably also a fictitious salary for the personal entrepreneur has to be introduced. Or should the same system be followed as actually applies to the compensation for the personal entrepreneur for his labour, leading to non-deductibility in both cases? Also, possible alternatives for the implementation of the new system in the future need consideration, since actually in most countries a personal entrepreneur starts paying taxes at a relatively high level (in the Netherlands as of € 19.000). This does not promote growth. Nor does this situation ease the introduction of a business tax independent of the legal form if this tax also affects entrepreneurs with low profit levels. Which step-by-step plan should be followed to make implementation a political realistic alternative? Parallel to the research on the design of and step-by-step plan of the introduction of a business tax independent of the legal form, research should be done to the efficiency of this tax. What will be the consequences for the budget and income policy? Will entrepreneurs be willing to pay the price of less entrepreneurial tax facilities in exchange for a business tax independent of the legal form? An interesting research question is also how the exchange of tax incentives for this business tax will work out from a quantitative perspective. Which entrepreneurial tax incentives are effective and should be maintained in the new system? A connected question is what will be the distribution effects for the different types of entrepreneurs of the implementation of this tax. Which are the transitional problems that can be expected? Another important research question is to what extent entrepreneurs should have another tax treatment compared to non-entrepreneurs. Seen from this perspective, implementation of a capital gains tax could be an alternative because such a tax normally reduces the differences between entrepreneurs and non-entrepreneurs. Since in the past much attention has been given to the fairness aspects of a capital gains tax, future research should focus primarily on the possibilities for a practical design of such a tax and on the efficiency 623

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aspects of a capital gains tax. Which effects can, e.g., be expected on the state’s budget because of the future tax deductibility of potential capital losses, what will be the impact of the so-called ‘lock-in effect’, will there be any consequences for the flight of capital? To what extent will an improved system of international information exchange be helpful to tackle capital flight? Is a step-by-step plan to implement such a tax necessary? Implementation of a business tax independent of the legal form against a fixed rate also brings back the discussion about introducing an overall flat tax in personal income tax. The political interest in a social flat tax, based on a fixed rate and the use of tax credits or exemptions for low income levels is increasing. Again, many questions arise about the macro- and microeconomic effects of such a tax. Also here, the question arises which step-by-step plan will be necessary to implement this system successfully.

III. Financing the activities of enterprises 1. Basic questions with respect to the different tax treatment of debt and equity Besides the choice of the legal form of the enterprise, also the way how enterprises want to finance their activities proves to be predominantly determined by tax aspects. Basically, there are two options to finance the activities of an enterprise: equity or debt. Both alternatives have their own characteristics, mainly based on civil law. If the choice how to finance activities will be influenced also by other factors than those that are meant to be leading for this choice, again, this could lead to suboptimal finance structures in enterprises and consequently to a suboptimal contribution to welfare and economic prosperity. The dominant importance of tax aspects in the choice how to finance the activities of enterprises is caused by the completely different tax treatment of financing with debt or equity in practically all Member States of the European Union. In case of financing with equity within a group of companies, in general, the remuneration for the parent company paid by the subsidiary for the disposal of equity (dividend) is not deductible for the determination of the taxable profit of the subsidiary. As a rule, the dividend received by the parent company will be exempt from corporate income tax because of a participation exemption preventing economic double taxation. Generally, also capital gains with respect to the participation in the subsidiary will be tax exempt because of this participation exemption. This means that the fiscal burden of financing with equity lies on the shoulders of the subsidiary. On the contrary, if the activities of the subsidiaries are financed by a loan from the parent, the subsidiary can deduct the paid interest as a business expense by calculating its taxable profit. However, the parent-creditor will be taxed on the received interest. Possible decreases in value of the loan can be deducted by the parent. This means that the fiscal burden of financing with debt lies on the shoulders of the parent-creditor. 624

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This diametrally opposite tax treatment of (the costs) of debt and equity within a group of companies in combination with the fact that within such a group it is quite easy to change financing with debt or equity, leads to the conclusion that financing with debt has preference if the subsidiary-debtor is situated in a country with a high tax regime since the interest costs diminish the highly taxed profits in that country. If the parent-creditor is situated in a low taxing country, a considerable saving of financing costs within an international concern can be achieved. Of course, this will become even more attractive in case of a so-called hybrid, whereby in the country of the subsidiary the paid interest is considered to be a business cost and in the country of the parent to be a tax exempt dividend. All this has led to an excavation of the financial position of these enterprises. If the parent is situated in a high taxing country and the subsidiary in a low taxing country, financing of the activities of the foreign subsidiary with equity could have priority. If possible, the parent can take a loan from a bank to finance these expenses. Because of this situation, in high taxing countries a strong tendency exists to finance the activities of subsidiaries in these countries with debts. Since many of these financing arrangements have characteristics of equity (e.g., no or a very long redemption period, no or not sufficient security, profit dependable interest) most of these countries have introduced fiscal anti-abuse measures, so-called thin capitalisation measures. Many of these measures cause ‘overkill’ on the one hand (e.g., if rigid debt-equity ratios have been prescribed, so-called thin capitalisation measures); on the other hand, often they are not suited to tackle real abuse because they often contain too many escape clauses. Also, especially in the Netherlands, because of the Bosal decision of the ECJ,13 financing with debts of the activities of foreign subsidiaries has been stimulated heavily. Before this judgement, in the Netherlands financing costs with respect to subsidiaries could only be deducted by the parent if domestic subsidiaries were concerned. In the Bosal judgement however, the ECJ has ruled that it is not allowed to make a distinction between the financing of domestic and foreign EU-subsidiaries. As a consequence, in the Netherlands both financing costs with respect to foreign and with respect to domestic subsidiaries are deductible now. In reaction to the Bosal ruling of the ECJ also a general debtequity rule of 3:1 was introduced.14 Finally, also the activities of hedge funds and private equity funds which make use of the possibilities to deduct interest costs of financing mergers and acquisitions, have been causing the exponential increasing interest of tax authorities within the European Union for the fundamental different tax treatment of the costs of debt and equity. The foregoing leads us to the basic question whether any justifications exist for the different tax treatment of (the costs of) debt and equity. If no satisfac-

__________ 13 ECJ 18 September 2003, nr. C/168-01. 14 Art. 10d CITA was introduced as a direct consequence of the ECJ Bosal ruling.

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tory answer to this question can be found, the question is which solutions are available to eliminate or reduce the tax discrimination of (the costs of) debt and equity. From a legal equality perspective there seems to be no satisfactory justification for the different tax treatment of debt and equity, at least if one considers financing relations within a group of companies.15 The effective tax burden on (the costs of) equity and debt should be the same. The anti-abuse regulations many EU countries have introduced are often in conflict with the principle of legal certainty and are also at odds with the fundamental freedoms of the EC Treaty. With respect to the second basic question two main solution directions exist.16 The first solution is to treat (the costs of) equity in the same way as (the costs of) debt. This means the introduction of a system in which a primary dividend or rent is deductible by calculating the taxable profit of the subsidiary (‘debtor’) and taxed by calculating the taxable profit of the parent (‘creditor’). This is the so-called ACE-approach.17 An example of an EU-country where such a system has been introduced is Belgium (the notional interest deduction).18 An alternative could be a system in which the deduction of actually paid interest costs is replaced by a deduction of a fixed percentage of the entire business capital, the so-called ABC-approach.19 The second main solution direction pleads for the treatment of (the costs of) debt in the same way as (the costs of) equity. This is the so-called CBIT-approach.20 This solution results in a system in which interest costs paid within a group of companies are no longer deductible by calculating the taxable profit of the subsidiary-debtor. In return, the parent-creditor is not taxed for the received interest. To a certain extent, Germany applies this system. A variation on this solution direction is the introduction of an optional or obligatory group interest box whereby received group interest is taxed at a relatively low tax rate but paid interest is also deductible against this low rate. In reaction to the international regulatory competition, in 2006 the Dutch government introduced an optional group interest box in the CITA. In this group interest box the earned interest income and all interest expenses in relation to loans from and to group companies are balanced and taxed at an effective tax rate of 5 %. The group interest box regime was notified to the European Commission under the state aid proce-

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15 See, e.g., J. A. G. van der Geld, Trends in de VPB-heffing in Nederland, Tijdschrift Fiscaal Ondernemingsrecht 2008/100, p. 182 and further. 16 A. de Mooij and M. Devereux, Alternative Systems of Business Tax in Europe – An Applied Analysis of ACE and CBIT Reforms, EU Commission – DG Tax, 2009, available at: http://metalib.libis.be. See also: A. Klemm, Allowances for Corporate Equity (ACE) in Practice, IMF Working Paper, WP/06/259, London, 2006, available at: www.imf.org. 17 ACE stands for Allowance for Corporate Equity. 18 Other countries that have experiences with the ACE-system are Brasil, Italy and Croatia. In the past, also the Netherlands had such a system, but this was meant as a kind of compensation for the lack of inflation accounting in Dutch tax accounting. 19 ABC stands for Allowance for Business Capital. 20 CBIT stands for Comprehensive Business Income Tax.

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dure set out in (the former) Art. 88 EC Treaty. The Commission has endorsed the Dutch interest box in its Decision of 8 July 2009.21 However, this ruling was not related to an optional group interest box but to an obligatory group interest box, because the Dutch government had changed the optional group interest box into an obligatory box. The Commission reasoned that this group interest box will equally benefit all companies that receive interest from related companies regardless of their size, sector, or legal form and should not be qualified as state aid. However, mainly because of the negative effects the introduction of such an interest box would have on investments made by foreign companies in the Netherlands – in a group interest box the paid interest costs will be deductible at a relatively low rate – the Netherlands has decided not to introduce such a group interest box for the time being. Also, the Netherlands are afraid for possible counteractions of other Member States, since these Member States would have to allow the deductibility of interest costs paid to Dutch companies at the normal corporate income tax rate, whereas the Netherlands would tax the received interest payments only at the relatively low corporate income tax rate connected to the group interest box. An approach that completely differs from these alternatives is the introduction of a system based on the logical application of the principle of origin as basic principle of international income allocation.22 In this system the deduction of paid interest at the level of the subsidiary-debtor is fully accepted, but the right to tax the interest received by the parent-creditor is allocated to the country where the subsidiary-debtor is situated. In this way the present tax incentive is eliminated to allocate the interest deduction in a high taxing country, whereas the received interest is taxed in a low taxing country. This would also imply the same tax burden on income from debt and equity (including capital gains). As a result, no tax incentives would exist anymore to finance activities with debt or equity. In practice, many other variations of these main solution directions can be distinguished. 2. Looking forward; future questions Further research will be necessary to find alternatives to eliminate or reduce the existing discriminative tax treatment of (the costs of) equity and debt. However, a preliminary question that has to be answered is which justifications can be found for a corporate income tax as such? Does, besides a legal justification, also an economic justification exist to tax profits? Are the ability-to-pay-principle and the benefit principle sufficient justifications? In this research the principles of fairness (equality and legal certainty) will remain

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21 Decree of 8 July 2009, C(2009)4511 def. 22 Eric C. C. M. Kemmeren, Principle of Origin in Tax Conventions, A Rethinking of Models, dissertation Tilburg University, Pijnenburg vormgevers·uitgevers, Dongen 2001, pp. 52–55, 110–112, 131–140, 323–389; Eric C. C. M. Kemmeren, Source of Income in Globalizing Economies: Overview of the Issues and a Plea for an OriginBased Approach, Bulletin for International Taxation 2006/11.

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important touchstones. Also the efficiency aspects of the proposed solutions have to be investigated. This means that more research has to be done on the question what will be the economic consequences of the introduction of a system based on a deduction of a primary rent/dividend or the introduction of a system based on a limitation of the possibility to deduct interest payments within a group, like an obligatory group interest box?23 In that framework, not only the macroeconomic aspects (like the influence on the competitive position of a country, the consequences for inbound and outbound investments and budgetary consequences) must be investigated, but also the economic consequences on a micro level for several types of enterprises. For that goal, a distinction can be made between the consequences for small and medium-sized enterprises and for big companies. Also other distinctions can be made, e.g., more or less capital-intensive enterprises, national and multinational companies, industrialized countries and developing countries. Finally, new research should be initiated on the economic consequences of the introduction of a system that allocates cross-border interest payments on the basis of the principle of origin.

IV. Functioning of enterprises 1. Basic questions with respect to fiscal vs. financial profit accounting In the framework of the functioning of enterprises, basic questions can be posed on, inter alia, profit accounting, especially with respect to the relationship between fiscal and financial profit accounting. A related question refers to the consequences of IAS/IFRS for tax accounting in EU Member States. In this respect, the introduction of IAS/IFRS has been characterized as a ‘clash of cultures’ between the Anglo-Saxon oriented IAS/IFRS and the continental systems.24 In the second half of the 1990s, the European Commission has chosen IAS as the financial reporting standard for the consolidated accountants of EU companies listed in the EU. In 2002 the EU Parliament and the EU Council adopted Regulation 1606/2002, which determined that listed companies were to use IAS/IFRS as approved by the EU in their consolidated accounts from 1 January 2005 onwards. Furthermore, the Regulation allowed EU Member States to permit or require listed and non-listed entities to use approved IAS/IFRS in their statutory/single annual accounts and non-listed companies

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23 Compare, e.g., D. A. Hofland and LJ. A. Lorié, Macro-economische overwegingen pleiten tegen de verplichte groepsrentebox en defiscalisering groepsrente, Weekblad Fiscaal Recht 2009/6813, pp. 647 and further and Ruud A. de Mooij, Michael P. Devereux, Alternative Systems of Business Tax in Europe. An applied analysis of ACE and CBIT Reforms, Taxation Papers European Commission, Working Paper no. 17, 2009. 24 See: Peter Essers, Theo Raaijmakers, Ronald Russo, Pieter van der Schee, Leo van der Tas and Peter van der Zanden, The Influence of IAS/IFRS on the CCCTB, Tax Accounting, Disclosure, and Corporate Law Accounting Concepts – A Clash of Cultures, EUCOTAX Series on European Taxation, Kluwer Law International, 2008.

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to use IAS/IFRS in their consolidated accounts. These developments improve to a large extent the comparability and understandability of multinational companies by a wider audience. This leads to a lower required cost of capital. Also, harmonized or even unified standards lead to cost-savings with multinational companies as there is less need for compiling information on the basis of different accounting systems in different countries. Besides, the education of accountants is easier and accounting professionals, both in the industry and the accountancy practice, can move around more easily from country to country. However, the introduction of IAS/IFRS will also have significant consequences for tax accounting, disclosure and corporate law accounting concepts in individual Member States. Since IAS/IFRS find their roots in Anglo-American countries (Canada, the UK, Ireland and the US) and these standards have been strongly influenced by the Anglo-American view on accounting, the question arises what might be the influence on the different continental disclosure, tax and financial accounting systems. Here, one can see a confrontation of systems with totally different backgrounds.25 In countries like France, Italy and Germany the continental approach of accounting is also reflected in their tax accounting systems. This approach has always been characterized by the strong emphasis on creditor protection and maintenance of company capital. In the continental system, the prudence principle has always been the most important principle to ensure these goals. For this reason, the principle of linkage between tax and financial accounting (in Germany: Maßgeblichkeitsprinzip) guaranteed a moderate taxation of business profits, in such a way that profits were not taxed before they had been realized and that losses would already be taken into account at the moment that a fair probability existed that they would occur (Imparitätsprinzip). Thus, the principle of linkage used to protect the taxpayer against the administration. The Dutch system of financial accounting has always been more oriented towards the Anglo-Saxon approach in countries like the UK and Ireland, characterized by a focus on the interests of shareholders instead of those of creditors. In such a system, the emphasis is on providing information to the capital market based on a true and fair view. IAS/IFRS also disclose their roots in this Anglo-Saxon approach, e.g., by prescribing fair value accounting for some assets. In this approach the prudence principle is not as important as in the continental approach of accounting. In accounting literature sometimes prudence is discussed as a separate principle. In Art. 31 of the Fourth EU directive this principle is stated very explicitly. However, the International Accounting Standards Board (IASB) only includes this principle as an aspect of reliability. The IASB takes the position that the exercise of prudence does not allow, for

__________ 25 See: Leo van der Tas and Peter van der Zanden, in Peter Essers, Theo Raaijmakers, Ronald Russo, Pieter van der Schee, Leo van der Tas and Peter van der Zanden (ed.), The Influence of IAS/IFRS on the CCCTB, Tax Accounting, Disclosure, and Corporate Law Accounting Concepts, EUCOTAX Series on European Taxation, Kluwer Law International, 2008, Chapter 1.

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example, the creation of hidden reserves or excessive provisions, the deliberate understatement of assets or income, or the deliberate overstatement of liabilities or expenses. The financial statements would not be neutral and, therefore, not have the quality of reliability. This explains why, in the past, in countries like the Netherlands, the UK and Ireland, linkage between fiscal and financial accounts, in general, was not necessarily regarded as advantageous for taxpayers. Therefore, these countries have been known for a long time for their more or less independent system of fiscal profit accounting leading to a conservative way of determining fiscal profits. Thus, the underlying goals of the Netherlands, UK and German concepts of fiscal profit accounting are basically the same: protecting the taxpayer against a too eager tax inspector who wants to tax profits too early. The closer one looks at the different relationships between tax accounting and financial accounting systems in Member States, the more difficult it proves to be to categorize the different systems. There are no Member States with full linkage between tax and financial accounts; neither do Member States exist with no dependence at all between tax accounting and financial accounting. Reality has many colours. Nevertheless, together with Ronald Russo,26 I have made an attempt by creating a spectrum of categories with on one side of the spectrum ‘formal dependence’ between financial and tax accounting and on the other side ‘formal independence’. Formal dependence could be defined as a situation where the financial accounts are fully decisive for determining the taxable result. Neither legal adjustments nor any adjustments based on case law are applicable when determining the taxable result. Formal independence means that there is no connection at all between financial and tax accounting. Tax accounting is governed by specific tax rules totally independent from financial accounting rules. Between these two extreme positions, other categories can be made, starting with ‘practically formal dependence’, followed by ‘material dependence’ and ending with ‘material independence’. Practically formal dependence can be defined as a system where no separate tax accounts are allowed and where fiscal option rights must be used in accordance with the use of these rights in financial accounting and where only explicit tax legislation can create differences between financial and tax accounting. In practice, these exceptions can be quite substantial. Material dependence means that in principle financial accounting is decisive for tax accounting but that it is not necessary that the use of fiscal option rights must be in accordance with the use of these rights in financial accounting. Material independence means that although financial accounting can be seen as starting point for tax accounting, in practice separate tax accounts exist. Countries like Belgium, France and Germany are situated near the category ‘practically formal dependence’,

__________ 26 Peter Essers and Ronald Russo, in Peter Essers, Theo Raaijmakers, Ronald Russo, Pieter van der Schee, Leo van der Tas and Peter van der Zanden (ed.), The Influence of IAS/IFRS on the CCCTB, Tax Accounting, Disclosure, and Corporate Law Accounting Concepts, EUCOTAX Series on European Taxation, Kluwer Law International, 2008, p. 33.

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whereas countries like Ireland, the UK, Sweden and Greece fit more in the category ‘material dependence’. The Netherlands, Denmark and Poland could be seen as countries falling under the category ‘material independence’. This exercise can be done for all Member States. Based on the study by Dieter Endres and others,27 the following tentative overview can be made: Practic. formal depend. Austria, Belgium, Cyprus, Czech Republic, Finland, France, Germany, Italy, Lithuania, Luxembourg, Portugal, Slovakia, Spain

Material depend. Greece, Hungary, Ireland, Latvia, Malta, Sweden, UK

Material independ. Denmark, Netherlands, Poland, Slovenia

At the moment IAS/IFRS also become mandatory for the individual accounts, in countries applying practical formal or material linkage the question will be what the consequences will be of the Anglo-Saxon oriented IAS/IFRS for tax accounting. Will this mean that the applied linkage system must be abolished because of the emphasis on fair value accounting in IAS/IFRS and the fact that IAS/IFRS aim to be helpful to the user to predict expected future cash flows, whereas tax accounting focuses on passed performance of the taxpayer? Would it be acceptable that – in the end – the ECJ will determine the concept of fiscal profit in these countries? But also in countries where no strict linkage exists between tax accounting and financial accounting, there will always be some kind of influence of financial accounting. Then the question will also be to what extent IAS/IFRS will influence tax accounting. The same question also plays a role in the framework of establishing the Common Consolidated Corporate Tax Base (CCCTB). At first, the European Commission stressed the big advantages of IAS/IFRS for CCCTB by referring to them as ‘starting point’ for a system of common consolidated tax accounting. However, in later communications the Commission seems to drift away from this idea, by referring to IAS/IFRS no longer as a ‘starting point’, but rather as a ‘tool’ to guide and inform the discussions and to provide a common vocabulary. According to the Communication of 5 April 2006, ‘the rules for calculating CCCTB should be self-standing and not formally linked to international accounting standards (IAS/IFRS).’ One of our conclusions28 is that the more the continental and Anglo-Saxon financial accounting systems grow towards each other under the influence of

__________ 27 The Determination of Corporate Taxable Income in the EU Member States, edited by Dieter Endres c.s, Kluwer Law International, 2007, pp. 159–168. 28 Peter Essers and Ronald Russo, in Peter Essers, Theo Raaijmakers, Ronald Russo, Pieter van der Schee, Leo van der Tas and Peter van der Zanden (ed.), The Influence of IAS/IFRS on the CCCTB, Tax Accounting, Disclosure, and Corporate Law Accounting Concepts, EUCOTAX Series on European Taxation, Kluwer Law International, 2008, Chapter 2. See also: Peter Essers, The Precious Relationship between IAS/IFRS and CCCTB in the liber amicorum in honor of Prof. Dr. Frans Vanistendael, A Vision of Taxes within and outside European Borders (ed. Luc Hinnekens and

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increasing capital markets and harmonization tendencies (EC directives, IAS/IFRS), the more the fiscal profit accounting systems probably will converge. In countries like the Netherlands, Ireland and the UK, a movement towards more alignment between the financial and tax accounting systems can be perceived, whereas in traditional linkage countries like Germany, France, Austria, Sweden and Spain a tendency exists to introduce more autonomous fiscal profit accounting elements. For most Member States of the European Union, the question will no longer be whether tax accounts and financial accounts should be linked, but rather to what extent an autonomous concept of fiscal profit can be influenced by financial accounting rules like national GAAP, IAS and IFRS. In most countries national GAAP and IAS/IFRS can and probably will be a source of inspiration for tax accounting both from the perspective of their contents and of the procedural way in which they have been developed. It is also possible that national GAAP and IAS/IFRS may be influenced by tax rules. However, considering the different goals of financial and tax accounting, it will always be necessary to ‘translate’ the contents of national GAAP and IAS/IFRS for tax purposes. Elements like liquidity or realization are more important in tax accounting than in financial accounting. Tax accounting is more interested in past performance, whereas IFRS aims at performance reporting, stressing the profit capacity instead of the distributable profit. These elements should be taken into account in this translation process. In our opinion, fair value accounting should not be used as an alibi not to try to reconcile IAS/IFRS with tax accounting. First, IAS/IFRS only allow or dictate fair value accounting in specific cases, such as investment real estate, hedge accounting and other passive investments. If necessary, specific tax solutions can be found for these specific items. Second, one should realize that in certain situations fair value accounting is not necessarily against tax accounting principles. If assets, like securities, shares or obligations, are directly realizable, there is no need to wait for actual realization to take profits fiscally into account.29 Member States should codify the main principles of tax profit accounting. Details with respect to tax accounting problems could be dealt with in decrees or in covenants concluded between the tax administration and representatives of taxpayers. If necessary, these arrangements can be adapted to new insights and developments. Such decrees and covenants could be prepared within a

__________ Philippe Hinnekens), Kluwer Law International, 2008, pp. 369–386, Peter Essers, The precious relationship between IAS/IFRS and the CCCTB with respect to provisions and liabilities, in Michael Lang, Pasquale Pistone, Josef Schuch, Claus Staringer (Eds.), Common Consolidated Corporate Tax Base, LindeVerlag, Vienna, 2008, pp. 385–406, Peter Essers, Goed koopmansgebruik: Quo vadis?, Tijdschrift Fiscaal Ondernemingsrecht 2003/69, Peter Essers, De toekomst van goed koopmansgebruik na de invoering van International Financial Reporting Standards, Geschriften van de Vereniging voor Belastingwetenschap, 224, Kluwer, Deventer, 2005. 29 Compare: Peter Essers and Arie Rijkers, The Notion of Income from Capital, EATLP International Tax Series, Volume 1, IBFD, Amsterdam, 2005, who advocate an adapted system of capital gains tax.

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national Council for Tax Accounting Issues, in which representatives of the tax administration, science, business, tax and accounting firms would be present. The same development is encouraged with respect to the development of the CCCTB. Directed by the European Commission, groups of Member States that would like to join in a system of CCCTB could set up an EU Tax Accounting Standards Board. In this Board, they could formulate the main principles of tax accounting within the framework of common base taxation, followed by the conclusion of covenants on specific areas containing minimum rules with respect to the fiscal treatment of, e.g., intangibles, leasing30 and financial instruments.31 Since these covenants will be concluded for a limited period of time, they can if necessary, be revised periodically to adapt them to new developments. In the end, these covenants have to be endorsed by the European Commission. Thus, both within the national and EU tax law context, a perspective emerges of an interactive dynamic concept of fiscal profit, meaning a concept that is not identical to the financial accounting concept of profit but that takes IAS/IFRS as a starting point and that is shaped in a continuous dialogue between the different stakeholders on the concept of fiscal profit: business, tax advisors and the tax administration. In my opinion, the concept of fiscal profit fitting within the legal framework of CCCTB must be flexible enough to be adapted to changing insights and circumstances, e.g., in the science of business economics, financial accounting, IAS/IFRS, the introduction of new financial instruments or technical developments. The Comitology Procedure could be an efficient instrument to realize this flexible and dynamic concept. In this respect, the Comitology Procedure could be linked to the EU Tax Accounting Standards Board in order to realize the proposed interactive dynamic concept of fiscal profit. One of the possibilities is that the Comitology Committee must get input from this Board before deciding on specific questions. Then, the expertise of all stakeholders of the CCCTB will be taken into account. It will also lead to more commitment of these stakeholders with respect to the implementation of the CCCTB concept. Participating companies must have the possibility of opting for several tax accounting systems for their annual profits, all fitting within the accepted CCCTB framework provided they show a consistent behaviour that is independent of the probable outcome. Flexibility can be allowed for accounting issues referring to timing questions. The rules should be less flexible, however, with respect to problems regarding characterization issues with respect to the overall definition of taxable profit. In these areas only a few options should be granted to taxpayers. Although IAS/IFRS are not decisive for tax accounting within the framework of the CCCTB, they should be explicitly acknowledged as a starting point.

__________ 30 Compare: W. Bruins Slot: Leasing in de vennootschapsbelasting, Zacheüs, Baambrugge, 2006. 31 Compare: J. A. G. van der Geld, Goed koopmansgebruik en risicobeheersingsinstrumenten, Tijdschrift Fiscaal Ondernemingsrecht 2003/69.

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Thus, a system that is in line with IAS/IFRS should – as a rule – also be regarded as in line with the CCCTB framework, unless this system is against the agreed principles of the CCCTB framework or against a specific rule formulated within the CCCTB legal framework. The development of rule-based International Tax Accounting Standards could be counterproductive since this will give Member States many arguments to object to elements of the detailed CCCTB proposals. This could endanger the whole CCCTB project. EU legislative proposals in this respect should focus on common tax accounting principles. Moreover, they should identify specific areas where in the near future consensus has to be reached because IAS/IFRS does not lead to a solution in these areas; most of all, they should create a format for the further rulemaking process and for the settlement of disputes. 2. Looking forward; future questions The foregoing means that in future research the following basic questions can be addressed: 1. Which common tax accounting principles could serve as starting-points for the development of the concept of profit in CCCTB? 2. Which are the specific areas where in the near future consensus has to be reached because IAS/IFRS does not lead to a solution in these areas? 3. What format/model is needed for the further rule-making process and for the settlement of disputes in the framework of CCCTB? 4. What should be the relationship between CCCTB and national tax accounting systems? 5. How is it possible to reconcile disclosure rules and corporate law accounting concepts in the future?

V. Reorganising businesses 1. Basic questions with respect to reorganisations of enterprises General starting-point in most EU-Member States is that business reorganisations based on business motives should not be hindered by fiscal and civil or general law aspects. This is the more important because reorganisations not only have consequences for the enterprises involved, but also for the stakeholders of these enterprises, like partners, shareholders, directors, employees, and also the government (tax administration). Therefore, it is important to identify the tax aspects that hinder business successions and reorganisations and to investigate whether any justifications exist for these hindrances and, if not, whether alternatives exist to abolish these obstacles. For the Netherlands, an important research finding is that although in this country many tax rules exist meant to stimulate reorganisations of enterprises, no internal cohesion exists between these rules. No ‘master plan’ has 634

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been developed and handled by the legislator, with respect to, e.g., the legal regulation of business successions. This is illustrated by the fact that the conditions for a tax facilitated regulation of a business succession of an entrepreneur taxed in personal income tax deviate on many points from the business succession of corporations taxed in corporate income tax. In my opinion, the difference in legal form cannot justify this different tax treatment. In this respect it would be desirable to develop an integral regulation for the tax aspects of all kind of reorganisations, comparable to the German and Austrian Umwandlungssteuergesetz.32 This can be considered as next-best solution for a business tax independent of the legal form. After the introduction of optional legal personality for partnerships in the Netherlands, the real estate transfer tax may cause several problems depending on the option to choose for legal personality of the partnership or not. The introduction of a business tax independent of the legal form would prevent many of the present tax problems with respect to reorganisations. Also the real estate transfer tax and the inheritance and gift tax should be as much as possible independent of the legal form of an enterprise. This solution would also prevent that business reorganisations are organised in a way that might be in conflict with proper business economics principles, e.g., by choosing the wrong successor (a relative) or by postponing the succession till the death of the entrepreneur.33 Many problems seem to be caused by the fact that regarding business successions the legislator has not made a clear choice between the roll-over of the tax claim to the successor and the possibility to postpone the payment of the tax claim on the hidden reserves and goodwill by the previous entrepreneur. A herewith connected question is whether the tax rules should take as a starting-point the presumption that the objective enterprise does not change – which pleads for a roll-over relief of the tax claim on the hidden reserves and goodwill to the successors – or the presumption of the winding-up of the enterprise because the (economic) owners of the objective enterprise have changed. In the latter case, the tax claim on the hidden reserves and goodwill has to be paid by the former entrepreneur, albeit that to facilitate business succession under certain conditions the actual payment could be postponed. From an ability-to-pay (equality) point of view postponement of the payment is considered to be the best alternative in those cases in which the (economic) owners of the enterprise change, since a roll-over relief has as a consequence that the tax claim is not paid by the previous entrepreneur but by his or her

__________ 32 Compare: H. A. J. P. te Niet, Een pleidooi voor een Nederlands Umwandlungssteuergesetz, in Peter Essers, Geert Raaijmakers, Ger van der Sangen, Albert Verdam, Erik Vermeulen (ed.), Met Recht (Liber Amicorum Theo Raaijmakers), Kluwer, Deventer, 2009, pp. 319–327. 33 See also: Volker Grossmann and Holger Strulik, Should Continued Family Firms Face Lower Taxes Than Other Estates?, SSRN, Discussion Paper no. 387, January 2009.

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successors.34 Besides, a regular settlement of the tax claims makes the future transfer of the enterprise easier because in that case the value of the enterprise is not affected by those claims. However, in those cases in which there is no change in the economic ownership of the objective enterprise, e.g. in cases of a transfer of a personal enterprise into a corporation against shares, reorganisations within a group or changes in the legal form of corporations, the rule should be to roll-over the tax claim. Conditions should be stipulated in order to protect the tax claim; however, these conditions should strictly stay within that framework. In the present situation the Dutch legislator takes as a presumption the winding-up of the enterprise, with the possibility to make an exception to this rule under certain conditions. Because of this different starting-point, the conditions put forward by the tax administration may go further than strictly necessary to assure the tax claim. Besides, the anti-abuse measures in this respect often conflict with primary and secondary EC law. A special way of business succession occurs when the entrepreneur dies. Then, also problems will arise because of the fact that the successors have to pay inheritance tax on the inherited enterprise. Here, economic double taxation arises: personal income tax and inheritance tax on enterprise profits and income out of shares belonging to a substantial participation. Important questions in this respect are what the justification could be for an inheritance tax and what the relationship should be between this tax and personal income tax. Seen from an ability-to-pay point of view the prevailing view is that sufficient legal justifications exist for taxing the inheritants as ‘privileged receivers’ with an inheritance tax. However, preferably, the inheritance tax should be integrated in a personal income tax that also takes capital gains systematically into account.35 The Dutch legislator’s choice to introduce very generous exemptions for inherited businesses, leads – again – to questions how this privileged treatment of entrepreneurs compared to non-entrepreneurs can be reconciled with the equality principle. Here, the legislator seems to have tipped the balance far too much in the benefit of entrepreneurs. Often, international reorganisations are hindered by exit taxes, meant to guarantee the tax claims of the country of emigration. In this respect, important problems arise on the compatibility of these exit taxes with EC law and international treaty law. Probably, the present Dutch exit taxes which demand a direct payment of the exit tax at the moment of emigration of an entrepreneur

__________ 34 M. J. Hoogeveen, Schenken en vererven van ondernemingsvermogen (FED Fiscale Brochures), Deventer, Kluwer, 2004 and W. Burgerhart, M. J. Hoogeveen, J. I. M. Egger, Civiele en fiscale bedrijfsopvolgingsfaciliteiten; een praktijkonderzoek, report Private Wealth Tax Fund, Uvt-BDO, March 2009. 35 Compare: I. J. F. A. van Vijfeijken, Contours of a Modern Inheritance and Gift Tax, Intertax 2006/3, pp. 151–157.

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are in conflict with the freedom of establishment of the EC Treaty.36 Also, many doubts exist whether exit taxes can be maintained in the light of the internationally accepted principle of pacta sunt servanda. It proves that in this respect a distinction has to be made between different kinds of exit taxes, e.g. exit taxes in the area of pensions and in the business profit and substantial participation profit area. For exit taxes in the substantial participation regime, the Hoge Raad has decided that these exit taxes do not lead to treaty override.37 However, exit taxes in the area of pensions may very well lead to treaty override.38 According to the Hoge Raad, from the commentary on Art. 13 OECD Model Treaty can be concluded that the intention of the words ‘gains from the alienation of any property’ has not been to exclude that a state connects the taxation of capital gains to the de facto existing capital increase of the shares which has not been realised through alienation. This means that the Netherlands may impose a conserving assessment on the substantial participation holder who emigrates without breaching good faith between Treaty partners. This is different for conserving assessments with respect to the real value of pension rights at the moment of emigration because these assessments are considered to be based on a fiction: the taxpayer does not and cannot dispose of this income but nevertheless he is supposed to do so. This is in conflict with the Double Taxation Treaty.39 2. Looking forward; future questions Continuation of the research to the civil law and tax law aspects of national and cross-border reorganisations of enterprises implies continuation of the investigation of the influence of the choice of the legal form on the legal aspects of these reorganisations and of the answer to the question how the principles of equality and legal certainty can be served in the best way. In this respect, perhaps an integral regulation for the tax aspects of all kind of reorganisations, comparable to the German and Austrian Umwandlungssteuergesetz, could be introduced. Of course, such an integral regulation has to fulfil all obligations mentioned in the EC Treaty. Also the efficiency aspects of reorganisations should be investigated both from a macro- and a microeconomic point of view. What are the budgetary consequences of incentives for business successions? Does the actual regulation on reorganisations benefit the economy or does it lead to suboptimal decisions, e.g. because the existing tax incentives stimulate to postpone business succession until the death of the entrepreneur or to limit

__________ 36 E. C. C. M. Kemmeren, Nederlandse exitheffingen anno 2005 zijn onhoudbaar, maar een passend alternatief is denkbaar, Weekblad Fiscaal Recht 2005/6650, pp. 1613 and further. 37 Hoge Raad 20 February 2009, nrs. 42701, 43760 and 07/12314, BNB 2009/260, 261 and 262. 38 Hoge Raad 19 June 2009, nrs. 43978, 44050, 07/13267 and 08/02288, BNB 2009/263, 264, 265 and 266. 39 The Netherlands tries to avoid this treaty override in the future by limiting the conserving assessment to the actually in the past deducted pension premiums. For this reason, the law has been changed.

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the group of possible successors to the family group? Should in this respect a distinction be made based on the development stage of an enterprise (‘rise, growth and fall’), meaning, e.g., that the best legal form for an enterprise depends on the development stage of that enterprise? Also, more research is needed on obstacles connected to inheritance and gift taxes, including the possibilities to integrate inheritance taxes into income taxes. This research should also stress the economic aspects of the choice between roll-over of the tax claim to the successor and the possibility to postpone the payment of the tax claim on the hidden reserves and goodwill by the previous entrepreneur. Which alternatives would be optimal from a macroand microeconomic perspective? Also the economic aspects of inheritance taxes on business capital have to be investigated. What are the consequences for welfare and prosperity of these taxes?40 Another goal might be to develop a model that may serve as a touchstone by judging the efficiency (prosperity) aspects of the different alternatives for the legal regulation of reorganisations. This will facilitate a correct weighing of pros and cons between fairness and efficiency.

VI. Concluding remarks The Leitmotiv or thread of this essay is that each time taxation proves to be not neutral towards different kinds of business activities and choices entrepreneurs can make, problems might occur if the legislator has not sufficiently weighted the consequences of this different treatment by making a balance between fairness and efficiency. If this has not been done in a proper way, taxation might be the cause for tax-driven decisions of entrepreneurs which might be suboptimal in the process of achieving welfare and economic prosperity. This proved to be the case with respect to the choice to become an entrepreneur and which legal form the enterprise should have. Here, tax incentives seem to be too dominant, e.g., if one compares the beneficial treatment of an entrepreneur with the treatment of other taxpayers and the different tax treatment of unincorporated and incorporated enterprises and its participants. But also the choice how to finance the business activities is too much taxdriven. Consequently, if the choice how to finance activities is influenced also by other factors than those who are meant to be leading for this choice, again, this could lead to suboptimal finance structures in enterprises and consequently to a suboptimal contribution to welfare and economic prosperity. The same goes for the relationship between fiscal and financial accounting. If accounting is influenced too much by tax incentives, this could lead to ‘pollution’ of the financial accounts in countries where a strong dependence exists between fiscal accounting and commercial accounting. This could lead to less comparability of these accounts. On the other hand, if financial rules

__________ 40 See: J. J. van Gilst, H. Nijboer, C. L. J. Caminada, De successiebelasting vanuit economisch perspectief, Weekblad Fiscaal Recht 2008/6793, pp. 1423 and further.

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like IAS/IFRS might become decisive also for fiscal accounting, fundamental tax accounting principles, like the prudence principle, could be endangered, e.g., if fair value accounting would become dominant. Finally, tax aspects might influence and even hinder business successions and reorganisations. This could also lead to a suboptimal contribution to welfare and economic prosperity. The task of tax scholars is to analyse these developments, to warn for the consequences and to keep on finding alternatives and solutions. Preferably, this should be done in a joint-venture of Tax Law (‘Steuerrechtswissenschaft’), Finance Law (‘Finanzwissenschaft’), Business Economics (‘Betriebswissenschaft’) and Civil Law (‘Zivilrecht’). Joachim Lang has shown us the way to do so. I am sure his example will continue to be a source of inspiration!

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Zur steuerlichen Gleichbehandlung der Gewinne von Unternehmen unabhängig von deren Rechtsform Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Generelle Charakteristika und realisierbare Grundelemente eines ökonomisch fundierten deutschen Ertragsteuerrechts III. Umsetzung einer rechtsformneutralen zinsbereinigten Gewinnsteuer im deutschen Steuerrecht

IV. Zur Option einer transparenten Besteuerung von Anteilen am Gewinn bzw. Verlust persönlich geführter Kapitalgesellschaften V. Schlussfolgerungen für eine neue Qualität des deutschen Ertragsteuerrechts

I. Einleitung Ich freue mich, mit einem Thema zur Rechtsformneutralität des deutschen Ertragsteuerrechts einen Beitrag zur Festschrift meines Freundes Joachim Lang leisten zu dürfen. Unsere langjährige Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Steuerreformen war dadurch geprägt, dass Joachim Lang mir das Verständnis für die rechtliche Ausgestaltung ökonomisch fundierter Steuerkonzepte vermittelte. Als Finanzwissenschaftler konnte ich zu meiner Freude feststellen, dass er im Gegenzug ökonomisch fundierte Regelungswerke schuf, die sein grundlegendes Verständnis für Steuerwirkungen in der Marktwirtschaft belegen. Mit dem folgenden Beitrag werde ich allerdings nicht explizit auf ökonomische Wirkungen der gegenwärtigen Besteuerung des Gewinns von Unternehmen verschiedener Rechtsformen eingehen. Es wird davon ausgegangen, dass die bestehende Beeinflussung der Entscheidung für die geeignete Rechtsform eines Unternehmens mit nicht hinnehmbaren Effizienzverlusten verbunden ist. Daneben entsprechen natürlich die vorliegenden Belastungsunterschiede je nach Rechtsform nicht den Anforderungen einer fairen (gerechten) steuerlichen Belastung von Unternehmensgewinnen, und zwar aus Sicht ihrer Eigentümer bzw. Anteilseigner. Für das zu entwickelnde Reformkonzept zur rechtsformneutralen Ausgestaltung der Unternehmenssteuern sind einige grundlegende Anforderungen, Einsichten und die Akzeptanz in Politik und Gesellschaft betreffende Voraussetzungen maßgebend, auf die nachfolgend eingegangen wird.

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II. Generelle Charakteristika und realisierbare Grundelemente eines ökonomisch fundierten deutschen Ertragsteuerrechts Aus ökonomischer Sicht sind Gewinne (Reinerträge) der Unternehmen Einkommen ihrer Eigentümer und Anteilseigener, und zwar unabhängig davon, ob sie darüber disponieren können oder nicht. In diesem Sinne gehören also auch die thesaurierten Gewinne der Publikumsgesellschaften zu den Einkommen ihrer Anteilseigner. Im steuerlichen Sinne werden Einkommen begrifflich meistens nur natürlichen Personen zugeordnet, was bezüglich der Unternehmensgewinne deren Verfügbarkeit impliziert. Die von börsennotierten Kapitalgesellschaften noch nicht ausgeschütteten Gewinne stellen dann ein Potential von Einkommen ihrer Anteilseigner dar. Insofern ist auch die Besteuerung dieser Gewinnteile den Grundprinzipien eines optimalen Systems der Einkommensbesteuerung zu unterwerfen. Dies bedeutet zugleich, dass ein im ökonomischen Sinne optimales Ertragsteuerrecht quasi Ergebnis eines nach ökonomischen Kriterien optimalen Einkommensteuerrechts ist. Hierbei umfassen die ökonomischen Kriterien nicht nur die Anforderungen aus der optimalen Ressourcennutzung (Effizienz), sondern vor allem auch jene aus dem Gebot einer fairen (gerechten), transparenten sowie international wettbewerbsfähigen Besteuerung.1 Ertragsteuern, d. h. Steuern, deren Bemessungsgrundlagen maßgebend vom Unternehmensgewinn bestimmt und deshalb fortan Gewinnsteuern genannt werden, sollten so ausgestaltet sein, dass die Unternehmensführung bei ihren Entscheidungen nicht dadurch abgehalten wird, das zu tun, was unter Marktbedingungen und bei Erhaltung einer motivierten Belegschaft den größten Erfolg verspricht. Damit wird nach dem Effizienzkriterium zugleich die Entscheidungsneutralität der Gewinnbesteuerung verlangt, wonach es nicht auf Grund einer steuerlich bewirkten Änderung der relativen Preise von Handlungsalternativen zu Substitutionseffekten kommen darf.2 Die Neutralitätsanforderung im Unternehmensbereich umfasst Investitions-, Finanzierungs-

__________ 1 Zu einem solchen Kriterienkatalog s. u. a. M. Greß, M. Rose und R. Wiswesser, Marktorientierte Einkommensteuer, München 1998, S. 14–33. 2 Grundlegend für das Konzept einer praktikablen entscheidungsneutralen Besteuerung von Unternehmensgewinnen sind die Beiträge von E. Wenger (s. hierzu u. a.: Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Arbeits- und Vermögenseinkünften, Finanzarchiv 41, 1983, S. 207–252) sowie R. Boadway und N. Bruce (hauptsächlich: A General Proposition on the Design of a Neutral Business Tax, Journal of Public Economics 24, 1984, S. 231–239) zur Bereinigung des Gewinns um alle Kapitalkosten, wozu auch – in Höhe einer marktüblichen Rendite – standardisierte Eigenkapitalzinsen neben den traditionell abziehbaren Fremdkapitalzinsen gehören. Zur Entwicklung des Konzepts entscheidungsneutraler Besteuerung in der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre s. die Beiträge von R. Elschen (Entscheidungsneutralität, Allokationseffizienz und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, StuW 1991, S. 99–115) sowie F. W. Wagner (u. a.: Neutralität und Gleichmäßigkeit als ökonomische und rechtliche Kriterien steuerlicher Normenkritik, StuW 1992, S. 2–13).

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Gleichbehandlung der Unternehmensgewinne unabhängig von der Rechtsform

und Rechtsformneutralität.3 Joachim Lang hat diesen Anforderungen in seinem Steuergesetzbuch dadurch entsprochen, dass er für die Ermittlung des steuerbaren Gewinns von Unternehmen jeglicher Rechtsformen den Abzug standardisierter Eigenkapitalzinsen als besondere Betriebsausgaben vorsieht.4 In diesem Fall wird in der Literatur auch von einer zinsbereinigten Gewinnsteuer gesprochen. RWI und Heidelberger Steuerkreis hatten für das Unternehmenssteuerreformvorhaben 2008 der großen Koalition die Etablierung eines neuen Ertragsteuerrechts für Unternehmen5 vorgeschlagen, wonach die Gewinne von Unternehmen – unabhängig von deren Rechtsform – grundsätzlich um Eigenkapitalzinsen bereinigt zu ermitteln sind. Die zentralen Bausteine dieser Zinsbereinigten Gewinnsteuer (ZGS) sind die Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen zu einer rechtsformneutralen Ausgestaltung der Gewinnbesteuerung. Hierbei wird dem Verfassungsgebot einer wirtschaftskraftbezogenen Gemeindesteuer (nach Art. 28 Abs. 2 GG) durch die Erhebung einer kommunalen neben der föderalen Gewinnsteuer Rechnung getragen. Die Bereinigung der Bemessungsgrundlage auch einer kommunalen Gewinnsteuer um alle gezahlten Kreditzinsen sowie zusätzlich um standardisierte Eigenkapitalzinsen, ist nicht nur nach dem Kriterium der Entscheidungsneutralität, sondern auch aus äquivalenztheoretischer Sicht erforderlich. Das Äquivalenzprinzip besagt auf Gemeinden angewandt, dass Gemeindesteuern als Entgelte der Nutzer (ansässigen Bürger und Unternehmen) von öffentlichen Leistungen verstanden werden können, die von Gemeinden auf ihrem Gebiet erbracht werden. Für Unternehmen liegen diese Leistungen vor allem in der Bereitstellung von Infrastrukturkapital (Straßen und andere Investitionen zur Erschließung von Grund und Boden für Betriebsstätten auf dem Gemeindegebiet). Die kommunale Gewinnsteuer könnte für die Gruppe der ansässigen Unternehmen als Äquivalenzsteuer fungieren, wenn zwischen dem Unternehmensgewinn und den gemeindlichen Leistungen eine positive Beziehung bestünde. Versteht man die gemeindlichen Leistungen für Unternehmen als kostenlosen Produktionsfaktor, so erbringt dessen kostenlose Nutzung in den betreffenden Betriebsstätten eine Rente für das Unternehmen, d. h. eine Erhöhung des Unternehmensgewinns. Diese Rente ist in dem Gewinnteil enthalten, der die Zinskosten aus der Nutzung von Eigen- und Fremdkapital übersteigt. Somit ist auch nach der aus dem Äquivalenzprinzip ableitbaren Anforde-

__________ 3 In einem erweiterten Sinne umfasst Investitionsneutralität auch die sektorale Neutralität des Steuersystems, d. h. die steuerlich nicht beeinflusste Entscheidung für Investitionen in alternative Sektoren (Branchen) der Volkswirtschaft. 4 Siehe J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, BMF-Schriftenreihe, Heft 49, Bonn 1993. 5 Siehe hierzu Heidelberger Steuerkreis und Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.), Zinsbereinigte Gewinnsteuer – Ein Vorschlag zur Reform der Unternehmensbesteuerung in Deutschland, Heidelberg und Essen 2006 (verfügbar unter www.einfachsteuer.de – Forschungsprojekte – Zinsbereinigte Gewinnsteuer – Datei: Informationsbroschüre zur „Zinsbereinigten Gewinnsteuer“) sowie M. Rose und R. Kambeck, Zinsbereinigte Gewinnsteuer – Ein Vorschlag zur Reform der Unternehmensbesteuerung in Deutschland, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 108, 2006, S. 21–26.

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rung eines gemeindespezifischen Indikators zwingend erforderlich, dass die Bemessungsgrundlage der kommunalen Gewinnsteuer um alle gezahlten Kreditzinsen und um die standardisierte Verzinsung des Eigenkapitals bereinigt sein muss. Es gibt allerdings neben den gemeindlichen Vorleistungen noch viele weitere Ursachen für Unternehmensgewinne, die eine marktübliche Verzinsung des Kapitaleinsatzes übersteigen. Hierzu gehören u. a. Patente, günstige Verkehrsanbindungen vom Gemeindegebiet aus, Präferenzen der Nachfrager nach den Produkten der betreffenden Firmen sowie andere Nachfragefaktoren, die auch dazu führen können, dass Unternehmen in bestimmten Zeiten nicht Gewinne, sondern Verluste erzielen. Letztere werden ohne die gemeindlichen Vorleistungen in der Regel höher ausfallen, jedoch lässt sich eine solche Ertragskomponente nicht quantitativ identifizieren. Insofern können mit einer kommunalen Gewinnsteuer nicht die ‚richtigen‘ Steuerpreise in dem Sinne verlangt werden, dass die Rente aus den gemeindlichen Vorleistungen durch eine kommunale Gewinnsteuer exakt abgeschöpft wird. Trotz dieser Unschärfe erhält eine kommunale Gewinnsteuer durch die Miterfassung von Renten aus gemeindlichen Infrastrukturleistungen als Instrument zur Entsprechung der Anforderung eines gruppenmäßigen Entgelts eine äquivalenztheoretisch gesicherte Berechtigung. Für die Entwicklung der Bausteine eines unter derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen möglichen optimalen Ertragsteuerrechts sind noch weitere wichtige Elemente zu beachten. In unserer Gesellschaft wird wohl noch für längere Zeit nicht mit der Einführung eines einheitlichen Einkommensteuer- und Gewinnsteuersatzes (‚flat-rate tax‘) und damit auch tariflich einfachen sowie lasttransparenten Ertragsteuerrechts zu rechnen sein. Folglich ist als verteilungspolitische Restriktion den Bedingungen eines satzprogressiven Einkommensteuertarifs Rechnung zu tragen. Zur Etablierung eines optimalen kommunalen Finanzsystems wird nach dem ZGS-Reformvorschlag auch die Erhebung einer kommunalen Einkommensteuer (Bürgersteuer) mit einem proportionalen nach oben begrenzten Satz empfohlen.6 Aus äquivalenztheoretischer Sicht hat eine solche Steuer die Funktion eines Preises, den jeder Bürger einer Gemeinde für von ihm genutzte und mit Mitteln des Gemeindehaushalts finanzierte öffentliche Leistungen – in Abhängigkeit von der Höhe seines Einkommens pauschal – zu zahlen hat.

__________ 6 Mit der kommunalen Gewinnsteuer, kommunalen Einkommensteuer, reformierten Grundsteuer sowie mit einem (erhöhten) Anteil der Gemeinden an der Umsatzsteuer, der nach Maßgabe wirtschaftskraftbezogener Größen (Löhne, Kapitalkosten) gemeindescharf zu verteilen ist, besteht das kommunale Finanzsystem nach dem ZGSSystem aus vier Säulen. Siehe hierzu M. Th. Scholz und D. Zöller, Gemeindesteuern der Zinsbereinigten Gewinnsteuer, Diskussionspapier der Heidelberger Wirtschaftswissenschaften, Nr. 478, November 2008. Verfügbar ist dieses Diskussionspapier auch unter www.einfachsteuer.de – Forschungsprojekte – Gemeindefinanzreform. Die kommunalen Komponenten des ZGS-Systems stimmen damit strukturell mit dem von der Kommission ‚Steuergesetzbuch‘ der Stiftung Marktwirtschaft vorgeschlagenen Vier-Säulen-System überein. Siehe hierzu Kommission „Steuergesetzbuch“ (Vorsitzender: J. Lang), Steuerpolitisches Programm, Berlin 2006.

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Gleichbehandlung der Unternehmensgewinne unabhängig von der Rechtsform

Die Gewährleistung einer international attraktiven Besteuerung von Unternehmensgewinnen erfordert unter derzeitigen Konstellationen im internationalen Wettbewerb der Steuersysteme, dass für Investitionszwecke in Unternehmen thesaurierte Gewinne grundsätzlich niedriger als Arbeitseinkommen und andere für Konsumzwecke verfügbare Einkommen besteuert werden. Damit hat der kumulierte Gewinnsteuersatz (aus föderalem und durchschnittlich-kommunalem Gewinnsteuersatz) deutlich unter dem Spitzengrenzsteuersatz des progressiven Einkommensteuertarifs zu liegen. Ausgeschüttete Gewinne, die vorher durch die Gewinnsteuer belastet wurden, unterliegen dann einer Entnahmesteuer. Diese kann z. B. als Kapitalertragsteuer mit Abgeltungswirkung – vorbehaltlich der Wahrnehmung des verfassungsmäßig gebotenen Veranlagungswahlrechts – ausgestaltet sein, wenn Dividenden der Konsumsphäre des Steuerpflichtigen zufließen.7 Der Satz der Kapitalertragsteuer sollte so bestimmt sein, dass er zusammen mit dem kumulierten durchschnittlichen Gewinnsteuersatz dem Spitzengrenzsteuersatz des föderalen Progressionstarifs entspricht. Hiermit wird vor allem gewährleistet, dass sich gestalterische Umqualifizierungen von Arbeitseinkommen in geringer belastete Unternehmensgewinne, die für Konsumzwecke ausgeschüttet werden, nicht lohnen. Soweit thesaurierte Gewinne bereits dem föderalen progressiven Einkommensteuertarif unterlagen, erfolgt natürlich keine nachfolgende Besteuerung anlässlich ihrer Ausschüttung durch die Kapitalertragsteuer. Der Entnahmebesteuerung unterliegt nicht nur die Entnahme (Ausschüttung) des um die Gewinnsteuern gekürzten Teils des steuerpflichtigen Unternehmensgewinns, sondern auch von Ertragsteilen in Höhe der für die Besteuerung vorher abgezogenen standardisierten Eigenkapitalzinsen. Allerdings ist es möglich, die Versteuerung der Eigenkapitalzinsen wie auch anderer steuerpflichtiger Gewinnentnahmen im vollständigen ZGS-System bis zu ihrer konsumtiven Verwendung aufzuschieben. Zinsen, Dividenden und Gewinne aus der Veräußerung von Unternehmensanteilen kann der Steuerpflichtige nämlich auf seinem Qualifizierten Bankkonto (QBK) steuerfrei akkumulieren. Erst ihre Entnahme führt dann zu einer Besteuerung, z. B. durch die bei der Bank erhobene Kapitalertragsteuer mit Abgeltungswirkung.8 Damit wird zugleich einer vielfach von Steuerjuristen erhobenen Forderung Rechnung getragen, dass auch Zinsen und Veräußerungsgewinne wenigsten ‚einmal‘ der Einkommensbesteuerung unterliegen.

__________ 7 Die Kombinationen aus einer Gewinnsteuer auf thesaurierte Gewinne mit gegenüber dem Spitzensatz der Einkommensteuer reduziertem Satz und einer abgeltenden Kapitalertragsteuer auf entnommene Gewinne ist auch als Teilschritt in Richtung einer sparbereinigten Besteuerung von Unternehmensgewinnen zu verstehen, womit sich deren Einmalbelastung in lebenszeitlicher Sicht erreichen lässt. 8 Siehe hierzu M. Rose, M. Th. Scholz und D. Zöller, Das „Qualifizierte Bankkonto“ (QBK) zur steuerlichen Gleichbelastung von Kapitaleinkünften, StuW 2009, S. 232– 245. Im Rahmen des ZGS-System ist vorgesehen, dass die auf der Unternehmensebene erhobene Kapitalertragsteuer erstattet wird, wenn Dividenden einem QBK zufließen.

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III. Umsetzung einer rechtsformneutralen zinsbereinigten Gewinnsteuer im deutschen Steuerrecht Sofern die bisherige deutsche Steuertradition und viele erprobte Rechtsinstitute fortzuführen sind, ist die rechtliche Umsetzung des skizzierten Gewinnsteuersystems über die Körperschaftsteuer mit zinsbereinigter Bemessungsgrundlage, die Einkommensteuer auf zinsbereinigt ermittelte und thesaurierte Gewinne von Personenunternehmen mit dem Satz der Körperschaftsteuer sowie eine als Objektsteuer ausgestaltete Gemeindewirtschaftssteuer mit zinsbereinigter Bemessungsgrundlage9 und Hebesatzrecht der Gemeinden zu empfehlen. Da die Gewinnsteuer in ihren beiden Erhebungsformen die Gewinne aller Unternehmen zu erfassen hat, sind bei der Gemeindewirtschaftssteuer auch die Unternehmen der Freiberufler und Landwirte steuerpflichtig. Damit wird die Gemeindewirtschaftssteuer als Objektsteuer gegenüber der geltenden Gewerbesteuer auf alle unternehmerischen Tätigkeiten ausgedehnt, die bei den dahinterstehenden Personen zu Gewinneinkünften führen. Über eine Freigrenze – nicht über rechtsformabhängige Freibeträge – sind Kleinstunternehmen vor einem Zugriff der kommunalen Gewinnsteuer auch aus administrativen Gründen zu schützen. Nach dem Konzept der Zinsbereinigung dürfen Verluste des Unternehmens unbegrenzt vorgetragen und mit Gewinnen der Folgejahre verrechnet werden. Hierbei sind nicht nur die vorgetragenen Verlustbeträge ansetzbar, sondern auch die darauf entfallenden Zinsen. Die Verzinsung von Verlustvorträgen vom Beginn des dem Verlustjahr folgenden Jahres an erfolgt mit dem für die Ermittlung der abzugsfähigen standardisierten Eigenkapitalzinsen anzuwendenden Zinssatz. Im Einkommensteuergesetz ist die Festsetzung eines geeigneten marktüblichen Zinssatzes zu regeln, z. B. dem ZGS-Reformvorschlag folgend mit dem Leitzinssatz der Europäischen Zentralbank als Basis. Während die Gemeindewirtschaftssteuer und die Körperschaftsteuer auf den gesamten zinsbereinigt ermittelten Unternehmensgewinn unterschiedslos zugreifen, gilt dies nicht für den Gewinn von Personenunternehmen. Hier haben Unternehmen und Mitunternehmer die Option zu bestimmen, welcher Teil des Gewinns der progressiven und welcher Teil dem proportionalen Sondertarif der föderalen Einkommensteuer unterliegen soll, wobei dann der sich hiernach ergebende Nettogewinn zunächst im Unternehmen verbleibt. Nach dem progressiven Einkommensteuertarif versteuerte Gewinnteile können dem-

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9 Siehe zur Ausgestaltung einer Gemeindewirtschaftssteuer als Teil eines Systems der Besteuerung zinsbereinigter Unternehmensgewinne (ZGS) M. Th. Scholz und D. Zöller (2008), Fn. 6, S. 40 ff. Es ist natürlich selbstverständlich, dass ertragsunabhängige Elemente weder Bestandteil der föderalen noch der kommunalen Bemessungsgrundlage sind. Einige wenige Hinzurechnungen sowie Kürzungen der zinsbereinigten Unternehmensgewinne sind allerdings zur Vermeidung von Doppelbelastungen und Sicherung einer gemeindescharfen Zuteilung bei der kommunalen Gewinnsteuer unabdingbar. Ihre Erhebung bei den einkommensteuerpflichtigen Unternehmern und Mitunternehmern ist zwar denkbar, jedoch hat die Objektsteuer demgegenüber erhebliche administrative Vorteile, insbesondere bei einer gemeindescharfen Erfassung der Gewinne von Mitunternehmerschaften.

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Gleichbehandlung der Unternehmensgewinne unabhängig von der Rechtsform

gegenüber sofort oder erst thesauriert und dann später ohne eine nachfolgende Steuerbelastung entnommen werden. Für die unterschiedlich zu versteuernden Teile der Einkünfte aus Personenunternehmen hat der Steuerpflichtige zwei Konten zu führen.10 Thesaurierte, sondertarifiert zu versteuernde Einkünfte sind unter Abzug des Sondertarifsteuerbetrags auf dem Nachversteuerungskonto (NaKo) zu verzeichnen. Dieses Konto enthält weiterhin die bislang noch nicht entnommenen Beträge der bei der Gewinnbesteuerung abziehbaren Eigenkapitalzinsen sowie als Negativposten noch nicht verrechnete Verlustvorträge. Der dem progressiven Tarif unterliegende Teil der Einkünfte sowie der Sondertarifsteuerbetrag stellen hingegen Eingänge auf dem Entnahmekonto (EnKo) dar. Werden Gewinnteile dem NaKo entnommen, unterliegen sie nachfolgend als Kapitaleinkünfte der Einkommensbesteuerung, z. B. mit dem Satz der Kapitalertragsteuer. Entnahmen aus dem EnKo sind als Kapitaleinkünfte nicht steuerpflichtig.11 Die Verrechnung von Zinsen auf vorgetragene Verluste ist nur innerhalb des NaKo möglich. Mit anderen Überschusseinkünften kann der Steuerpflichtige nur die vorgetragenen Verlustbeträge und dies auch nur bis zur Höhe eines vorhandenen und damit zugleich haftenden Eigenkapitalbestandes auf dem EnKo vornehmen. Zur Vermeidung einer Doppelbelastung von Gewinnen durch die Gemeindewirtschaftssteuer und die föderale progressive Einkommensteuer ist ein Anrechnungsverfahren zwingend erforderlich. Soll verhindert werden, dass sich Gemeinden am gesamten Gewinnsteueraufkommen ausschließlich zu Lasten des Anteils der Länder und des Bundes bedienen, ist die Anrechnung der kommunalen Gewinnsteuer, die auf den progressiv versteuerten Gewinnteil entfällt, auf eine durchschnittliche kommunale Gewinnsteuerlast zu begrenzen. Damit bleibt nicht ausgeschlossen, dass von der kommunalen Gewinnsteuerbelastung insbesondere bei Höchstsätzen der Gemeindewirtschaftssteuer ein Rest verbleibt. In diesen Fällen ist natürlich auch nicht gewährleistet, dass gleiche Gewinne bei gleichen persönlichen Abzügen zweier Steuerpflichtiger mit Unternehmen in verschiedenen Gemeinden einer gleichen Belastung unterliegen. Diese Abstriche von einer gleichmäßigen Belastung von Unternehmensgewinnen sind der Preis, der für eine verfassungsmäßig gebotene und auch äquivalenztheoretisch begründbare kommunale Gewinnsteuer mit Satzautonomie der Gemeinden zu zahlen ist. Zur steuerlichen Gleichbehandlung aller thesaurierten Gewinne unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens besteht keine Bürgersteuerpflicht für

__________ 10 Das von Unternehmern und Mitunternehmern als natürliche Personen zu führende Kontensystem wurde an der Forschungsstelle „Marktorientiertes Steuersystem“ des Alfred Weber-Instituts für Wirtschaftswissenschaften der Universität Heidelberg von meinen damaligen Mitarbeitern Daniel Zöller (konzeptionell) und Markus Th. Scholz (hinsichtlich seiner Implementierung in das deutsche Steuerrecht) entwickelt. 11 Im Einkommensteuergesetz ist die Verwendungsreihenfolge von Entnahmen zu regeln, z. B. zuerst aus dem NaKo und wenn dieses leer ist, dann erst aus dem EnKo oder nach freier Entscheidung des Steuerpflichtigen, also auch zuerst aus dem EnKo. Auf die hiermit verbundenen Wirkungen und Probleme kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

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die nach dem Sondertarif der föderalen Einkommensteuer versteuerten Gewinne. Die Bürgersteuer kann deshalb nur auf die dem föderalen Progressionstarif unterliegenden sowie auf entnahmesteuerpflichtige Gewinnteile erhoben werden. Pauschalerhebungen der Bürgersteuer wären erforderlich, wenn Entnahmen der abgeltenden Kapitalertragsteuer unterliegen und der Wohnort des Empfängers nicht bekannt ist.

IV. Zur Option einer transparenten Besteuerung von Anteilen am Gewinn bzw. Verlust persönlich geführter Kapitalgesellschaften Um Entscheidungsneutralität bei der Besteuerung von Unternehmensgewinnen zu gewährleisten, müssen Entscheidungen zwischen der Rechtsform einer Personengesellschaft und der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft von steuerlichen Faktoren entkoppelt sein. Dies betrifft nicht Kapitalgesellschaften, deren Anteile auf Börsen und ähnlichen Plätzen gehandelt werden und deren anonyme Anteilseignerschaft sich zwangsläufig fast täglich neu zusammensetzt. Mit dem Börsengang und damit in der Regel für die Rechtsform der Aktiengesellschaft haben sich die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft oder einer Personengesellschaft dafür entschieden, ihre Anteile nicht mehr als Rechte zur persönlichen Mitwirkung am Unternehmensgeschehen im Sinne eines Mitunternehmers zu halten, sondern eher als eine mit anderen Kapitalanlagen vergleichbare Anlage am Kapitalmarkt zur Erzielung von Kapitaleinkünften. Natürlich muss die Besteuerung des Gewinns börsennotierter Kapitalgesellschaften den Grundanforderungen eines integrierten Systems der Einkommens- und Gewinnbesteuerung entsprechen. Dies betrifft aber hauptsächlich die Abstimmung der Bemessungsgrundlage und des Satzes der Körperschaftsteuer mit der Besteuerung thesaurierter Gewinne von Personengesellschaften. Im System der ZGS wird dieser Anforderung dadurch entsprochen, dass der Körperschaftsteuersatz dem Satz der sondertarifierten föderalen Einkommensteuer entspricht und der Gewinn grundsätzlich zinsbereinigt ermittelt wird. Im Rahmen eines Abgeltungssteuersystems werden dann die Dividenden der Publikumsgesellschaften faktisch der gleichen Ausschüttungsbelastung unterworfen wie die Entnahmen sondertarifiert versteuerte Gewinnteile durch Gesellschafter von Personengesellschaften. Neben den börsennotierten Kapitalgesellschaften gibt es jedoch auch Kapitalgesellschaften mit einem festen, namentlich bekannten Kreis von Gesellschaftern. Hier bestimmen wenige Gesellschafter die Unternehmensführung ähnlich wie die Gesellschafter von Personengesellschaften, d. h. sie nehmen ökonomisch die Funktionen von Mitunternehmern wahr. In solchen Fällen sei von persönlich geführten Kapitalgesellschaften gesprochen, wozu vor allem Gesellschaften mit beschränkter Haftung gehören. Entscheiden sich die Gesellschafter einer Personengesellschaft aus Gründen der Haftungsbeschränkung für einen Rechtsformwechsel zur GmbH, würden sie zwangsläufig ihr Recht auf eine transparente Besteuerung von Gewinnteilen nach dem föderalen progressiven Einkommensteuertarif verlieren. Der Verlust des Optionsrechts kann dann aber ein Hemmfaktor für die Entscheidung zu dem aus öko648

Gleichbehandlung der Unternehmensgewinne unabhängig von der Rechtsform

nomischen Gründen gewünschten Rechtsformwechsel sein. Sind die ökonomischen Vorteile dabei größer als die steuerlichen Nachteile, wird also der Rechtsformwechsel durchgeführt, so haben jene Gesellschafter, die ihren Gewinnanteil partiell nach dem Progressionstarif versteuerten, jetzt eine höhere Steuerlast zu tragen. Solche auch mit dem Kriterium der Fairness nicht vereinbaren Steuerlastveränderungen lassen sich jedoch vermeiden, wenn man den Gesellschaftern persönlich geführter Kapitalgesellschaften das Recht zugestehen würde, ihren Anteil am Unternehmensgewinn der föderalen Einkommensteuer zu unterwerfen. Ein solches Optionsrecht gibt es schon seit Jahrzehnten im US-amerikanischen Steuerrecht. Hier können die Gesellschafter einer durch bestimmte Merkmale qualifizierten Kapitalgesellschaft – wegen einer Besteuerung nach ‚subchapter S‘ des ‚Internal Revenue Code‘ wird hier von einer ‚S-corporation‘ gesprochen – ihre Gewinnanteile der föderalen Einkommensteuer unterwerfen. Zu diesen Qualifikationsmerkmalen gehören vor allem: Die Gesellschaft muss in den USA ansässig sein und darf nicht mehr als 100 Gesellschafter mit artgleichen Anteilsrechten haben, alle Gesellschafter müssen als natürliche Personen oder bestimmte Trusts in den USA ansässig sein und für die Behandlung als ‚S-corporation‘ stimmen. Entscheiden sich die Gesellschafter für die Behandlung als ‚S-corporation‘, wird ihnen der Gewinn bzw. Verlust der Gesellschaft zwecks transparenter Versteuerung nach der föderalen Einkommensteuer jeweils anteilig zugerechnet. Die Gesellschaft selbst unterliegt nicht mehr der normalen Gewinnbesteuerung auf der Ebene der Körperschaft, was nach dem ‚Internal Revenue Code‘ für sog. ‚C-corporations‘ gilt. Ein hoher Prozentsatz jener Kapitalgesellschaften, für die die genannten Qualifikationsmerkmale zutreffen, haben für eine Behandlung als ‚S-corporation‘ hauptsächlich aus folgenden Gründen votiert: Die Belastung der Gewinnanteile durch die Einkommensteuer ist deutlich niedriger als die Belastungssumme aus Körperschaftsteuer und nachfolgender Einkommensbesteuerung der Dividenden, Verluste der Gesellschaft können auf der persönlichen Ebene mit anderen einkommensteuerpflichtigen Einkünften des Gesellschafters verrechnet werden und anders als bei der persönlichen Versteuerung von Anteilen am Gewinn von Personengesellschaften haben die Gesellschafter keine für die USamerikanische Sozialversicherung erhobene ‚self-employment tax‘ zu zahlen. Die beiden ersten Vorteile gelten auch für die entsprechenden Gesellschaften in Deutschland, der zuletzt genannte Vorteil ist US-landesspezifisch. Für deutsche Anteilseigner persönlich geführter Kapitalgesellschaften ist die transparente Verrechnung anteiliger Verluste bei einem Fortbestehen des Wegfalls

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von Verlustvorträgen der Gesellschaft im Falle der Veräußerung wesentlicher Beteiligungen gem. § 8c KStG von besonderer Bedeutung.12 Für eine adäquate Ausgestaltung des Optionsrechts eines Gesellschafters – die Zustimmung der anderen Gesellschafter ist nicht erforderlich – innerhalb des ZGS-Systems wird nicht empfohlen, die Körperschaftsteuerpflicht der Kapitalgesellschaft aufzuheben. Vielmehr soll die steuerliche Subjekteigenschaft der Kapitalgesellschaft schon aus DBA-Gründen nicht aufgegeben werden. Angezeigt ist deshalb eine transparente Besteuerung der Gewinnanteile im Rahmen der Einkommensteuer in Verbindung mit einer Anrechnung der bereits vom Unternehmen entrichteten anteiligen Körperschaftsteuer. Prinzipiell sind dann die betreffenden Gewinnanteile einkommensteuerlich wie Gewinnanteile eines Personengesellschafters zu behandeln. Aus Vereinfachungsgründen sollte der Kreis der berechtigten Gesellschaften auf Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Genossenschaften beschränkt sein. Zwar mag es auch Aktiengesellschaften mit einem festen, namentlich bekannten Kreis von Aktionären geben, jedoch besteht hier immer die Möglichkeit zur anonymen Veräußerung eines Anteils, ohne den Weg über die Börse zu gehen. Auszunehmen sind gleichfalls Kommanditgesellschaften auf Aktien. Administrative Gründe sprechen dafür, nur solche persönlich geführte Kapitalgesellschaften einzubeziehen, an denen eine natürliche Person direkt beteiligt ist. Mit dem Ausschluss verschachtelter Kapitalgesellschaften ist die angestrebte Rechtsformneutralität zwischen persönlich geführten Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften insofern nicht erreichbar. Um dem Gesellschafter einer persönlich geführten Kapitalgesellschaft stets die Wahrnehmung seines Optionsrechts zu ermöglichen, muss die Gesellschaft gesetzlich verpflichtet sein, die für eine transparente Besteuerung benötigten Informationen in Form von Bescheinigungen zur Verfügung zu stellen. Dies betrifft vor allem Angaben zum steuerpflichtigen Jahresgewinn bzw. Jahresverlust, zu dem der Ermittlung der Eigenkapitalzinsen dienenden Eigenkapital der Gesellschaft, den Gewinnausschüttungen und den gezahlten Gewinnsteuern sowie zu den auf den optierenden Gesellschafter entfallenden Anteilen an diesen Größen. Bei der Einkommensversteuerung des Gewinnanteils ist der jeweils zugerechnete Teil als zinsbereinigte Bruttogröße anzusetzen, d. h. nach Abzug der anteiligen Eigenkapitalzinsen und vor Abzug der anteiligen Körperschaftsteuer sowie auch der anteiligen Gemeindewirtschaftssteuer, die wie die geltende Gewerbesteuer eine steuerlich nicht abzugsfähige Betriebsausgabe darstellt. Die

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12 Der im § 8c KStG geregelte Wegfall eines Verlustvortragsrechts der Gesellschaft hat letztlich eine Sonderlast für den Veräußerer einer wesentlichen Beteiligung zur Folge. Der Käufer wird nämlich nur einen Erwerbspreis auf der Basis der zukünftigen Ertragschancen unter Abzug der zukünftig von der Gesellschaft zu entrichtenden Körperschaftsteuer zahlen. Mit dem Wegfall von Verlustvorträgen steigt zwangläufig die zukünftige Last aus der Körperschaftsteuer. Der Verkäufer trägt damit nicht nur seinen Verlustanteil, sondern durch die Erwerbspreisminderung faktisch zusätzlich noch die darauf entfallende Körperschaftsteuer. Mit einem Gewinnsteuerrecht nach dem ZGS-System sind die Regelungen in § 8c KStG nicht verträglich.

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Gleichbehandlung der Unternehmensgewinne unabhängig von der Rechtsform

gezahlte Körperschaftsteuer wird, wie bereits oben erwähnt, als nicht abschließende Quellensteuer in vollem Umfang auf die Einkommensteuerschuld des Gesellschafters angerechnet. Die von der Gesellschaft gezahlte anteilige Gemeindewirtschaftssteuer wird nur angerechnet, soweit sie – gemäß Wahlrecht des Gesellschafters – auf progressiv versteuerte Gewinnteile entfällt. Hierbei gilt natürlich die für Personenunternehmen grundsätzlich vorgeschriebene Begrenzung auf den einem gemeindlichen Durchschnittssteuersatz entsprechenden Teil der gezahlten Gemeindewirtschaftssteuer. Für die von der Gesellschaft erhaltene Bruttodividende, d. h. die Ausschüttung vor Abzug einer etwaigen Kapitalertragsteuer, gilt – je nach gesetzlich vorgeschriebener Verwendungsreihenfolge – entweder die Fiktion der Entnahme sondertarifiert oder progressiv versteuerter Gewinne des Gesellschafters. Die steuertechnische Umsetzung der zur Personengesellschaft wirkungsgleichen Besteuerung persönlich geführter Kapitalgesellschaften erfolgt über die bereits erwähnten Besteuerungskonten EnKo und NaKo auf der Ebene des Gesellschafters. Der von der Gesellschaft einbehaltene Kapitalertragsteuerbetrag ist dann auf die Einkommensteuerschuld des Gesellschafters anzurechnen. Eine Nachversteuerung erhaltener Dividenden, die als Entnahmen aus sondertarifiert versteuerten Gewinnteilen qualifiziert sind, kann aufgeschoben werden, insoweit der Bruttodividende im gleichen Jahr eine gleich hohe Einlage in das (real geführte) Personenunternehmen oder das ‚Qualifizierte Bankkonto‘ des Anteilseigners entspricht. Die Mittel dafür stehen dem Gesellschafter aus der zugeflossenen Nettodividende und der angerechneten Kapitalertragsteuer zur Verfügung. Anteile am Verlust der persönlich geführten Kapitalgesellschaft werden steuerlich wie Verluste von Einzelunternehmen oder Anteile am Verlust von Personengesellschaften behandelt. Allerdings gibt es hier eine Besonderheit bei der Veräußerung einer Beteiligung, wenn dem Veräußerer früher Anteile an Verlusten der Kapitalgesellschaft zugerechnet wurden. Es gilt nämlich, Vorkehrungen gegen eine doppelte Steuerlastminderung aus der Verrechnung von Verlusten der Kapitalgesellschaft zu treffen. Hat der Altgesellschafter Verlustanteile einkommensteuerlich verrechnet, so muss gewährleistet sein, dass der erwerbende Neugesellschafter aus den von der Kapitalgesellschaft vorgetragenen Verlusten keinen Vorteil in Form einer geringeren Belastung zukünftiger Gewinne aus der Körperschaftsteuer hat. Eine Möglichkeit, solche Doppelentlastungen zu vermeiden, wäre, den Verlustvortrag der Kapitalgesellschaft beim Altgesellschafter steuerwirksam aufzulösen, d. h. mit dem Sondertarif der Einkommensteuer zu belasten. Entsprechend wäre dem Neugesellschafter, falls er ebenfalls unmittelbar nach dem Erwerb zur transparenten Besteuerung optiert, der betreffende Verlustvortrag zur Verrechnung bei seiner Einkommensteuerbemessungsgrundlage zuzurechnen. Wollte man den hiermit verbundenen administrativen Aufwand vermeiden, so verbleibt als Alternativlösung nur, den anteiligen Verlust der Kapitalgesellschaft bei Wahrnehmung einer individuellen Zurechnung durch den Gesellschafter nicht mehr zum Vortrag bei der Körperschaftsteuer zuzulassen. Bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Gemeindewirtschaftssteuer sind demgegenüber Verlustvorträge ungeschmälert anzusetzen. Dies folgt aus dem Objektsteuercharakter 651

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der kommunalen Gewinnsteuer, wonach auch ein einkommensteuerlich verrechneter Verlust zur Erhebung der Gemeindewirtschaftssteuer als Objekt auf der Unternehmensebene verhaftet bleibt.

Unternehmen der GmbH

Erstattete Kapitalertragsteuer

Bank

Fall B Zinsbereinigt ermittelter und versteuerter Gewinn

BruttoDividende steuerfrei

Nettodividende

QBK des Gesellschafters

+ Fall A

Für die transparente Versteuerung zugerechnete Anteile am Bruttogewinn, an Eigenkapitalzinsen und Gewinnsteuern der Gesellschaft

BruttoDividende steuerfrei

Entnahme

steuerpflichtig

Sphäre des Konsums und der Steuerzahlungen des Gesellschafters unter Verwendung der Besteuerungskonten EnKo und NaKo

Fall A: Gesamtbetrag der anteiligen Gewinnsteuern der Gesellschaft entspricht dem Einkommensteuerbetrag nach dem Progressionstarif. Die Gemeindewirtschaftssteuer ist vollständig anrechenbar Fall B: Anteiliger Körperschaftsteuerbetrag entspricht dem Einkommensteuerbetrag nach dem proportionalen Sondertarif. Die Gemeindesteuer ist nicht anrechenbar. Erläuterungen: Anteiliger Bruttogewinn: Anteiliger Gewinn vor Abzug der anteiligen Eigenkapitalzinsen und Gewinnsteuern der Gesellschaft (Körperschaft- und Gemeindewirtschaftssteuer) Einkommensteuerpflichtiger Gewinnanteil: Anteiliger Bruttogewinn nach Abzug der anteiligen Eigenkapitalzinsen Nettodividende: Anteiliger Bruttogewinn abzgl. anteiliger Eigenkapitalzinsen, Gewinnsteuern und Kapitalertragsteuer Abb. 1: Zwei Spezialfälle der Versteuerung eines Anteils am Gewinn einer persönlich geführten Kapitalgesellschaft

Zur Verdeutlichung der Besonderheiten aus der transparenten Versteuerung von Gewinnen persönlich geführter Kapitalgesellschaften mögen die in Abbil652

Gleichbehandlung der Unternehmensgewinne unabhängig von der Rechtsform

dung 1 dargestellten Beispiele dienen. Hier wurde angenommen, dass der von der Gesellschaft versteuerte Gewinn nach Abzug der Gewinnsteuern als Dividende vollständig ausgeschüttet wird. Die Gesellschafter erhalten jedoch nur die um die einbehaltene Kapitalertragsteuer gekürzte Dividende. Auf der Unternehmensebene verbleibt der den abzugsfähigen Eigenkapitalzinsen entsprechende und damit von den Gewinnsteuern nicht erfasste Ertragsteil. Der Gesellschafter der GmbH erhält vom Bundeszentralamt für Steuern die auf der Unternehmensebene erhobene Kapitalertragsteuer erstattet. Im Rahmen seines Besteuerungskontensystems werden die ihm zugerechneten Teile des Bruttogewinns (Gewinn vor Abzug von Gewinnsteuern) sowie der Gewinnsteuern seinem entnahmesteuerfreien Entnahmekonto (EnKo) bzw. seinem entnahmesteuerpflichtigen Nachversteuerungskonto (NaKo) zugewiesen. Über die Aufteilung kann er frei entscheiden. In einem Spezialfall A entscheidet sich der Gesellschafter für eine vollständige Besteuerung seines Gewinnanteils nach dem progressiven Einkommensteuertarif und den anschließenden Konsum der verfügbaren Bruttodividenden (ausgeschüttete Nettodividende + erstattete Kapitalertragsteuer). Aus Vereinfachungsgründen sei angenommen, dass der Betrag der Gemeindewirtschaftssteuer auf die Einkommensteuer vollständig anrechenbar ist und der verbleibende Einkommensteuerbetrag dem anrechenbaren Betrag der Körperschaftsteuer entspricht. In einem anderen Spezialfall B entscheidet sich der Gesellschafter für eine Versteuerung nach dem Sondertarif der Einkommensteuer. Entspricht der Einkommensteuerbetrag dem anrechenbaren Körperschaftsteuerbetrag, so wird dem NaKo der Gewinnanteil nach Abzug der Gewinnsteuern gutgeschrieben. Diesem Konto wird ebenfalls der auf das Eigenkapital des Gesellschafters entfallende Betrag der bei der Gewinnermittlung abgezogenen Eigenkapitalzinsen zugewiesen. Weiterhin nimmt der Gesellschafter eine entnahmesteuerfreie Einzahlung – fiktiv als Belastung seines NaKo – auf das ‚Qualifizierte Konto‘ seiner Bank vor, und zwar exakt in Höhe des Betrages aus erhaltener Nettodividende und erstatteter Kapitalertragsteuer. Entnimmt er später seinem QBK die dort gelagerten und ertragsbringend angelegten Dividenden, löst dies die Zahlung der Entnahmesteuer, also z. B. die von der Bank einbehaltene Kapitalertragsteuer aus. Im Ergebnis wird der Gewinnanteil des Gesellschafters der GmbH in beiden Beispielfällen wie der Gewinnanteil des Gesellschafters einer real existierenden Personengesellschaft besteuert und steuerlich belastet. Allerdings wird sich der Gesellschafter bei dem Vergleich der beiden Entscheidungsalternativen A und B für die vollständige progressive Besteuerung seines Gewinns entscheiden. Die Versteuerung nach dem Sondertarif mit nachfolgender späterer Entnahmeversteuerung erscheint erst dann vorteilhaft, wenn für den Gesellschafter ein entsprechend hoher Grenzsteuersatz des Progressionstarifs zur Anwendung käme und der hieraus folgende Einkommensteuerbetrag den Gesamtbetrag aller Gewinnsteuern maßgeblich übersteigen würde. Gegebenen653

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falls kann auch die Versteuerung von nur einem Teil des Gewinns nach dem Progressionstarif und des anderen Teils nach dem proportionalen Sondertarif zur Minimierung der Steuerlast optimal sein.

V. Schlussfolgerungen für eine neue Qualität des deutschen Ertragsteuerrechts Mit den dargestellten Bausteinen eines investitions-, finanzierungs- und rechtsformneutralen Ertragsteuerrechts nach dem Modell der ZGS lassen sich viele der derzeit noch bestehenden Entscheidungsverzerrungen und Ungleichmäßigkeiten bei der Besteuerung von Unternehmensgewinnen beseitigen. Dies dient zugleich dem Wachstum unserer Volkswirtschaft und der Schaffung neuer Arbeitsplätze im Inland, und zwar vor allem auch durch Attrahierung von Investitionen des Auslands. Der Abzug von Eigenkapitalzinsen als Betriebsausgaben ermöglicht es nämlich, dass Deutschland seine Position im internationalen Wettbewerb um ein standortattraktives Unternehmenssteuerrecht entscheidend verbessern kann, ohne die Unternehmenssteuersätze auf einnahmenruinöse Niveaus absenken zu müssen. Die Besteuerung zinsbereinigter Unternehmensgewinne reduziert weiterhin die Bedeutung des steuerlichen Bewertungsrechts für Unternehmen und Fiskus, so dass das permanente ‚Steuern‘ der Politik mit Abschreibungsregeln und anderen Bewertungsvorschriften sich zukünftig als relativ unwirksam erweisen und damit als Lenkungsinstrument nicht mehr besonders attraktiv sein wird. Dem Prinzip einer möglichst weitgehenden Fortführung von Steuertraditionen wird dadurch entsprochen, dass die ZGS in das bestehende Einkommensteuer-, Körperschaft- und Gewerbesteuerrecht eingefügt wird. Unter Gerechtigkeitsaspekten ermöglicht das vorgestellte Steuersystem auch einen bedeutsamen Schritt in Richtung einer Einkommensbesteuerung, mit der im Sinne von Joachim Lang die Einmalbelastung und Gleichmäßigkeit der im Lebenseinkommen zum Ausdruck kommenden Leistungsfähigkeit verbunden ist.13 Mit der steuerfreien Akkumulation von Kapitaleinkünften auf ‚Qualifizierten Bankkonten‘ und ihrer Besteuerung bei einer Entnahme für Konsumzwecke sowie der grundsätzlich nachgelagerten Besteuerung von Vorsorgeeinkünften kann die Besteuerung persönlich verfügbarer Kapitaleinkommen bereits in großem Umfang nach dem von Joachim Lang favorisierten Konzept der Besteuerung des sparbereinigten Einkommens erfolgen.

__________ 13 Siehe hierzu beispielsweise J. Lang, Einfachheit und Gerechtigkeit der Besteuerung von investierten Einkommen, in M. Rose (Hrsg.), Integriertes Steuer- und Sozialsystem, Heidelberg 2003, S. 83–146, sowie M. Rose, Vom Steuerchaos zur Einfachsteuer – Der Wegweiser durch die Steuerdebatte, Stuttgart 2003 und M. Rose, Economic Aspects of Taxation of Income from Capital, in P. Essers/A. Rijkers, The Notion of Income from Capital, Amsterdam 2005, S. 53–76.

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Personenunternehmerbesteuerung – Zur Willkürlichkeit des Einkunftsarten-Steuerrechts Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtswirklichkeit der Personenunternehmen III. Rechtsformabhängige Besteuerung der Personenunternehmen IV. Scheduläre Besteuerung der Personenunternehmer 1. Mitunternehmerbild des Personengesellschafters 2. Hybrides Einkunftsartenbild des Personenkapitalgesellschafters a) Kapitalanleger in der Phase der Beteiligung b) Verfehlte Rechtsfolge der Abgeltungsteuer c) Mutation des Kapitalgebers zum gewerblichen Unternehmer bei Veräußerung der Beteiligung

d) Arbeitnehmerbild des geschäftsführenden Personenkapitalgesellschafter V. Seitenblick in benachbarte Rechtsgebiete 1. Rechtslage in Österreich 2. Sozialversicherungsrecht VI. Neuausrichtung der Besteuerung des Personenkapitalgesellschafters 1. Selbständigkeit des GesellschafterGeschäftsführers 2. Personenkapitalgesellschafter als Gewerbetreibender i. S. d. § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG 3. Umfang der gewerblichen Einkünfte i. S. d. § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG VII. Fazit

I. Einführung „Der Einkünftekatalog ist nicht rechtssystematisch, sondern nach tradierten, geschichtlich entwickelten Einkunftsbildern gegliedert“. So führt der Jubilar in seinem grundlegenden Werk zur Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer in den schon damals real existierenden Einkünftepluralismus ein und nennt diese tatbestandliche Anknüpfung plastisch Einkünftehistorismus1. Dem Leser zeigt er unmissverständlich, was er vom Einkünftehistorismus hält: „Der Einkünftekatalog, der durch derartige Einkunftsbilder, Berufsbilder, Sozialbilder und Ideologien zerklüftet ist, kann nicht sachgerecht strukturiert sein. Der Einkünftehistorismus verdrängt nämlich die von einer bestimmten Zeitansicht unabhängigen Sachkriterien; er beeinträchtigt das Ziel, Einkünfte im Rahmen der praktisch realisierbaren Ermittlungsmöglichkeiten möglichst vollständig und gleichwertig zu bestimmen“2. Seitdem sind fast 30 Jahre vergangen; das Einkunftsbilder-Steuerrecht ist geblieben. Zu einer Bereinigung des

__________ 1 J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Köln 1981/88, 222. 2 J. Lang (Fn. 1), 224.

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Einkunftsartenrechts ist es bisher nicht gekommen. Ganz im Gegenteil, das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 vom 14.8.20073 hat für eine komplette Einkunftsart (den Einkünften aus Kapitalvermögen i. S. d. § 20 EStG) die Idee der synthetischen Einkommensteuer, die für die gleichmäßige Austeilung von Steuerlasten steht4, in Gestalt der sog. Abgeltungsteuer sogar aufgegeben5. Der vom Jubilar beschriebene Einkünftehistorismus wirkt sich – durch die Abgeltungsteuer noch einmal deutlich verstärkt – gerade auch auf die Unternehmerbesteuerung aus. Der nachfolgende Festbeitrag soll am Beispiel der Unternehmerbesteuerung die Willkürlichkeit unseres geltenden Einkunftsarten-Rechts belegen. Gleichzeitig will er einen Anstoß dafür geben, durch eine teleologisch-wirtschaftliche Auslegung der Einkunftsartentatbestände de lege lata wenigstens zu einer gleichmäßigeren Besteuerung von Unternehmereinkünften beizutragen.

II. Rechtswirklichkeit der Personenunternehmen Gern wird in der Unternehmensteuerreformdiskussion auf die „deutsche Sondersituation“ hingewiesen, wonach „85 % aller Unternehmen in Deutschland Personenunternehmen“ seien, während sich im Ausland die Majorität der Unternehmen als Kapitalgesellschaften organisierten6. Mit dem Begriff „Personenunternehmen“ umschreibt Joachim Lang dabei Einzelunternehmen und Personengesellschaften7. Auch wenn die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) eine Kapitalgesellschaft ist, ist diese Rechtsform aber nicht anders als die Personengesellschaft typischerweise eine Rechtsform gerade der Personenunternehmen. Den Charakter der GmbH als Rechtsform der Personenunternehmen brachte bereits 1915 Ferdinand Fränkel auf den Punkt, indem er sie als „eine offene Handelsgesellschaft mit beschränkter Haftung“ oder als „Kommanditgesellschaft ohne Komplementär“ beschrieb8. Der insbesondere im Innenverhältnis weitgehend dispositive Charakter des GmbH-Rechts erlaubt den Gesellschaftern eine starke Akzentuierung personalistischer Elemente, erlaubt Ausgestaltungen nach Art einer „KG mit allseits beschränkter Haftung“ und darüber hinaus selbst solche, die der GmbH-Beteiligung praktisch alle Merkmale – mit Ausnahme der Haftung – des OHG-Gesellschafters bzw. – in der Einmann-GmbH – des Einzelkaufmanns verleihen9. Werner Flume bezeichnete die GmbH materiell daher als eine Personengesellschaft, die nur

__________ 3 BGBl. I 1912, 1918 f. 4 Siehe J. Lang, Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001), 49 (60). 5 Zu den Einzelheiten s. Überblick von J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 9 Rz. 492 ff. 6 Gesetzentwurf der Fraktionen SPD u. Bündnis 90/Die Grünen des Steuersenkungsgesetzes v. 15.2.2000, BT-Drucks. 14/2683, 97 (davon seinen 86 % Einzelunternehmen, der Rest Personengesellschaften); übernommen von J. Lang, Die Unternehmensteuerreform – eine Reform pro GmbH, GmbHR 2000, 453 (455). 7 J. Lang (Fn. 6), GmbHR 2000, 453 (455); J. Lang (Fn. 4), DStJG 24 (2001), 49 (54). 8 F. Fränkel, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 1915, 252. 9 G. Roth in Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl., München 2009, Einl. Rz. 2.

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um der Haftungsbeschränkung willen als juristische Person verfasst sei10. Obgleich es den Gesellschaftern unbenommen ist, auch einen kapitalistisch geprägten GmbH-Typ zu errichten, dominieren in der Rechtswirklichkeit gerade diese personalistischen GmbH. GmbH-Gesellschafter verstehen „ihre“ Kapitalgesellschaft regelmäßig lediglich als haftungsbegrenzendes Vehikel zur freien Entfaltung ihrer eigenen unternehmerischen Persönlichkeit. Den Charakter der GmbH als typisches Personenunternehmen zeigen eindrucksvoll die empirischen Studien von Justus Meyer11 und Udo Kornblum12. Nach Auswertung von Registeranmeldungen gelangen sie zu dem Ergebnis, dass ¾ der Gesellschaften mit beschränkter Haftung Ein- oder Zweipersonengesellschaften sind. Von dem verbleibenden („schrumpfenden“) Viertel der mehrgliedrigen GmbH haben die meisten Gesellschaften drei Gesellschafter. Der Anteil der Gesellschaften mit mehr als fünf Gesellschafter liegt in einer fast verschwindenden Größe von weniger als 3 %13! Die personalistische Struktur der GmbH zeigt sich außer in den Mitgliederzahlen besonders in der überwiegend selbstorganschaftlichen Leitung der Gesellschaften. Der Anteil drittorganschaftlich geleiteter Gesellschaften macht nach jüngeren Untersuchungen nur zwischen 7 % und 18,2 % aus. Dagegen werden 76,9 % bis 87,2 % der GmbH rein selbstorganschaftlich geleitet. In vier von fünf Gesellschaften sind also ausschließlich Gesellschafter Geschäftsführer und dabei meist nur einer14. Die typische GmbH ist danach wie folgt strukturiert: Sie besteht aus einem bis drei Gesellschafter(n) und wird aus dem Kreis dieser Gesellschafter auch geführt. Ein wesentlicher Anteil dieser Gesellschaften entfällt dabei auf sog. Familiengesellschaften15, bei denen die Gesellschafter verwandtschaftlich miteinander verbunden sind. Nach der von Justus Meyer ausgewerteten Umsatzsteuerstatistik des Statistischen Bundesamtes dominiert zwar immer noch die Zahl sog. Einzelunternehmer mit ca. 70 % (= ca. 2 Millionen)16. Diese hohe Zahl erklärt sich aber daraus, dass sie jede Art von selbständiger umsatzsteuerpflichtiger Betätigung (einschließlich etwa des Nebenerwerbs eines Vollzeitarbeitnehmers oder vermögensverwaltender umsatzsteuerlicher Vermietung) erfasst. Der Anteil dieser „Einzelunternehmer-Umsätze“ am Gesamtumsatz steht mit gerade ca. 11 % im umgekehrten Verhältnis zu ihrer quantitativen Zahl. Dagegen

__________ 10 W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I/2, Berlin u. a. 1983, 61 f. 11 J. Meyer, Die GmbH und andere Handelsgesellschaften im Spiegel empirischer Forschung, GmbHR 2002, 177 (179 ff.). 12 U. Kornblum veröffentlicht regelmäßig bundesweite Rechtstatsachen zum Unternehmens- und Gesellschaftsrecht in der GmbHR, s. GmbHR 2009, 1056; s. außerdem die regelmäßigen Beiträge von H. Hansen, GmbHR 2004, 39 („Der gestiegene wirtschaftliche Stellenwert der GmbH“). 13 J. Meyer (Fn. 11), GmbHR 2002, 177 (180). 14 J. Meyer (Fn. 11), GmbHR 2002, 177 (181). 15 J. Meyer (Fn. 11), GmbHR 2002, 177 (181), gibt ihren Anteil je nach Registergericht mit ca. 30–48 % an. 16 J. Meyer/J. Hermes, Das „GmbH-Schutzschild“ in der Insolvenz, GmbHR 2005, 807 (808) – Statistik 2003. Der Anteil von 70 % entspricht auch der zuletzt verfügbaren Umsatzsteuerstatistik 2007 (abrufbar unter http://www.destatis.de).

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machten GmbH und GmbH & Co. KG zusammengenommen ca. 19 % (ca. 450.000 GmbH und ca. 110.000 GmbH & Co. KG) aller Umsatzsteuerpflichtigen mit einem Gesamtumsatz von deutlich mehr als 50 % aller erklärten Umsätze aus17. Im Vergleich dazu ist die Zahl der „klassischen“ Offenen Handelsgesellschaften und der „klassischen“ Kommanditgesellschaften mit ca. 17.000 bzw. 21.000 verschwindend gering (Gesamtanteil an allen Steuerpflichtigen nur wenig mehr als 1 % mit einem Gesamtumsatzanteil von ca. 3,5 %)18. Noch deutlicher wird die Bedeutung der GmbH in der Unternehmenswirklichkeit bei Auswertung der aktuellen Zahlen der Handelsregister, die Udo Kornblum jüngst vorgelegt hat19. Auf dem Stand vom 1.1.2008 hat er die Handelsregister-Eintragungen nach Rechtsformen getrennt für die einzelnen Bundesländer ermittelt und zusammengetragen. Danach sind überhaupt nur noch ca. 25.000 Offene Handelsgesellschaften (= 11 % der Personenhandelsgesellschaften) eingetragen. Dies ist eine Größenordnung, welche die Zahl von Aktiengesellschaften (ca. 18.000) nur leicht übersteigt. Zudem hat sich ihre Binnenstruktur in vielen Fällen längst vom Bild einer haftungsoffenen OHG entfernt, indem mittlerweile häufig Kapitalgesellschaften oder GmbH & Co. KG Obergesellschaften der OHG sind. Von den ca. 200.000 Kommanditgesellschaften besitzt allenfalls nur noch jede achte KG eine natürliche Person als unbeschränkt haftende Komplementärin; 7/8 aller KG sind als GmbH & Co. KG oder in einer vergleichbaren haftungsbeschränkenden Gesellschaftsstruktur organisiert20. Ihnen stehen mittlerweile ca. 1 Million Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) gegenüber, die selbst nach Abzug nicht erwerbsorientierter (z. B. gemeinnütziger) Gesellschaften damit bei den eingetragenen Gesellschaften und Personen die zahlenmäßig dominierende unternehmerische Rechtsform bildet21. Es lässt sich als eindeutiger Befund festhalten: Außerhalb der großen kapitalmarktorientierten Publikumsgesellschaften äußert sich unternehmerisches Engagement heute also ganz überwiegend in den personalistisch geprägten Rechtsformen der GmbH oder GmbH & Co. KG. Angesichts dessen vermittelt die gemeinhin kolportierte Aussage, ca. 85 % aller deutschen Unternehmen seien Einzelunternehmen oder Personengesellschaften, einen falschen Eindruck!

III. Rechtsformabhängige Besteuerung der Personenunternehmen Die deutsche Unternehmens- und Unternehmerbesteuerung ist nach wie vor dualistisch geprägt. Die Kapitalgesellschaft ist Körperschaftsteuersubjekt (§ 1

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17 Die wirtschaftliche Bedeutung der GmbH und GmbH & Co. KG ist nach der zuletzt verfügbaren Umsatzsteuerstatistik 2007 (abrufbar unter http://www.destatis.de) weiter gewachsen. 18 J. Meyer/J. Hermes (Fn. 16), GmbHR 2005, 807 (808); der Bedeutungsverlust der klassischen OHG/KG bestätigt sich auch nach der Umsatzsteuerstatistik 2007 (abrufbar unter http://www.destatis.de). 19 U. Kornblum (Fn. 12), GmbHR 2009, 1056 ff. 20 Aktuelle Zahlen bei U. Kornblum (Fn. 12), GmbHR 2009, 1056 (1061). 21 Der ca. 1 Million GmbH stehen nur 160.000 einzelkaufmännische Betriebe gegenüber, s. U. Kornblum (Fn. 12), GmbHR 2009, 1056 (1062).

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Abs. 1 Nr. 1 KStG); es gilt das Trennungsprinzip. Erst mit Ausschüttung wird der Gewinn anteilig bei dem Gesellschafter erfasst. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG ordnet diese Gewinnausschüttung auf der Ebene des Kapitalgesellschafters den Einkünften aus Kapitalvermögen zu. Der Kapitalgesellschafter wird hier grundsätzlich als bloß vermögensverwaltender Kapitalanleger betrachtet, ohne dass die Vorschrift quantitative oder qualitative Beschränkungen vornimmt. Dagegen ist die Personengesellschaft kein Einkommensteuersubjekt. Subjekt der Einkommensteuer ist vielmehr der Personengesellschafter, dem der Gewinn der Personengesellschaft nach dem Transparenzprinzip unmittelbar nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG anteilig als Einkünfte aus Gewerbebetrieb zugerechnet wird22. Die Norm versteht den Personengesellschafter (auch den Kommanditisten) nicht als bloß vermögensverwaltenden Kapitalgeber, sondern als gewerblichen Mitunternehmer. Bereits auf der ersten Stufe der Personenunternehmen selbst stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung einer fundamental unterschiedlichen steuerlichen Behandlung der Personengesellschaften und der GmbH. Dazu ist viel geschrieben worden. Joachim Lang tritt bekanntlich seit längerer Zeit für eine rechtsformunabhängige Unternehmensteuer ein23 und will die Körperschaftsteuer zumindest auf die Personenhandelsgesellschaften ausdehnen24. Klarsichtig gelangt er zur Einsicht, dass die groben zivilrechtlichen Kategorien „Kapitalgesellschaften“ und „Personengesellschaften“ ungeeignet sind, die rechtsdogmatisch „richtigen“ Geltungsbereiche von Trennungs- und Transparenzprinzip sachgerecht abzugrenzen25. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, wodurch sich eine OHG oder KG von einer GmbH gesellschaftsrechtlich unterscheidet und ob dieser Unterschied steuerrechtlich relevant ist. Für die generelle unterschiedliche Besteuerung der Kapital- und der Personengesellschaft wird historisch der Unterschied zwischen der Kapitalgesellschaft als juristische Person und der Personengesellschaft als nur gesamthänderischer Verbund von Personen angeführt26. Diesen Unterschied hat das Zivilrecht aber zunehmend eingeebnet. § 11 Abs. 2 Nr. 1 InsO erklärt Personengesellschaften (auch die BGB-Gesellschaft) für insolvenzfähig. Der durch das Gesetz vom 27.6.2000 in das BGB aufgenommene § 14 BGB spricht offen von der rechtsfähigen Personengesellschaft27. Rechtsdogmatisch hat der BGH eine jahrzehntelange Aus-

__________ 22 Zum Transparenzprinzip s. R. Pinkernell, Einkünftezurechnung bei Personengesellschaften, Berlin 2001, 62 ff. 23 Grundlegend J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung, StuW 1989, 3, 6 f.; Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg zum europäischen Binnenmarkt und zur deutschen Einheit, StuW 1990, 107 (115 ff.); (Fn. 4), DStJG 24 (2001), 49 (88 f., 99 f.). 24 J. Lang, Kritik der Unternehmensteuerreform 2008, in FS für W. Reiß, Köln 2008, 379 (388 f.). 25 J. Lang (Fn. 4), DStJG 24 (2001), 49 (99 f.). 26 Zur historischen Entwicklung der rechtsformabhängigen Besteuerung von Kapitalgesellschaften s. R. Seer, Die Entwicklung der GmbH-Besteuerung – Analysen und Perspektiven, Köln 2005, 21 ff., 40 ff. 27 Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts v. 27.6.2000, BGBl. I 2000, 897 (899).

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einandersetzung um die Rechtsfähigkeit für die nach außen hin als solche auftretende Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit seinem Urteil vom 29.1.2001 zugunsten der Rechtsfähigkeit der Außen-GbR positiv entschieden28 und damit für den endgültigen Durchbruch der sog. Gruppentheorie29 gesorgt. Die Außen-Personengesellschaft ist damit als ein von ihren Gesellschaftern zivilrechtlich zu trennender selbständig rechtsfähiger Verband allgemein anerkannt. Als Strukturunterschiede der Kapitalgesellschaft gegenüber der Personengesellschaft verbleiben heute im Wesentlichen die Haftungsverfassung, die grundsätzlich freie Übertragbarkeit der Anteile, die Geltung des Mehrheitsprinzips und die Zulassung der Fremdorganschaft30. Wie die empirischen Untersuchungen zeigen (s. oben 1.), verschwimmen jedoch diese verbliebenen Strukturunterschiede in der kautelarjuristischen Praxis bis zur Unkenntlichkeit. Der persönlich haftende Gesellschafter ist bei den Personenhandelsgesellschaften die rare Ausnahme geworden, es dominiert dort die GmbH & Co. KG. GmbH-Anteile sind in der Praxis nur selten frei veräußerbar, da die Geschäftsanteile regelmäßig vinkuliert werden31. Ebenso wenig werden sich in der gesellschaftsvertraglichen Ausgestaltung des Mehrheitsprinzips gravierende Unterschiede zwischen den Personengesellschaften und personalisierten GmbH finden lassen. Vor allem finden wir bei der ganz überwiegenden Zahl der GmbH – ebenso wie bei den Personengesellschaften – das Prinzip der Selbstorganschaft verwirklicht (s. oben II.). Ich vermag dem 66. Deutschen Juristentag daher nicht zuzustimmen, der mehrheitlich beschlossen hat32: „Die dualistische Struktur der Unternehmensbesteuerung – Trennungsprinzip bei juristischen Personen und Transparenzprinzip bei Personenunternehmen – hat sich bewährt. Sie entspricht – bei typisierender Betrachtung – zivilrechtlichen Rechtsformunterschieden und sollte daher beibehalten werden.“

Bei typisierender Betrachtung anhand der in der Realität vorfindbaren Rechtsformen (s. oben II.) gelange ich vielmehr – in Übereinstimmung mit Joachim Lang – zu dem gegenteiligen Ergebnis. Wenn man überhaupt eine Trennlinie ziehen will, kann diese nicht an der Grenze „Personengesellschaft/Einzelunternehmen vs. Kapitalgesellschaft“, sondern allenfalls an der Grenze „Personenunternehmen (einschließlich der personalistischen GmbH) vs. Publikumsgesellschaft“ verlaufen33. Vorzugswürdig erscheint mir aber nach wie vor zu sein, die Körperschaftsteuer zu einer selbständigen Unternehmensteuer aus-

__________ 28 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 (342). 29 Maßgebend begründet von W. Flume, Gesellschaft und Gesamthand, ZHR Bd. 136, 177 ff. 30 Siehe P. Ulmer, Die höchstrichterlich „enträtselte“ Gesellschaft bürgerlichen Rechts, ZIP 2001, 585 (588); D. Reuter, Rechtsfähigkeit und Rechtspersönlichkeit, AcP Bd. 207 (2007), 673 (687 ff.). 31 J. Meyer (Fn. 11), GmbHR 2002, 177 (181), schätzt, dass in 90 % aller GmbH-Satzungen Übertragungserschwernisse verankert worden sind. 32 Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages (Stuttgart 2006), Sitzungsberichte, Bd. II/1, München 2006, Q 170, Ziff. 18. 33 J. Lang (Fn. 4), DStJG 24 (2001), 49 (100).

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zubauen, welche die – auch zivilrechtlich verselbständigten – Personengesellschaften einschließt34.

IV. Scheduläre Besteuerung der Personenunternehmer 1. Mitunternehmerbild des Personengesellschafters Seit dem Einkommensteuergesetz vom 29.3.192035 verfolgt das deutsche Einkommensteuerrecht für die Qualifikation der Einkünfte eines Personengesellschafters das Mitunternehmerkonzept. Mit dem Mitunternehmerkonzept ist die Zurechnung des Gewinns der Personengesellschaft auf die Mitunternehmer als originäre eigene Einkünfte verbunden (Transparenzprinzip)36. Die Rechtsprechung und h. M. bezieht das Zurechnungskriterium der Mitunternehmereigenschaft allgemein auf alle Gesellschaften37. Jedoch sind die Anforderungen, welche sie an den Typus eines Mitunternehmers stellt, nicht sehr hoch. Die handelsrechtlichen Gesellschaftsformen der OHG, KG sind nach ihr Regelbeispiele für gewerbliche Mitunternehmerschaften. Danach ist der Gewinn einer Gesellschaft dem Gesellschafter als gewerbliche Einkünfte anteilig zuzurechnen, wenn er mindestens über die Einwirkungs- und Vermögensrechte verfügt, die ein Kommanditist nach den handelsrechtlichen Bestimmungen (HGB-Regelstatut) besitzt. Obwohl ein Kommanditist regelmäßig kein unternehmerisches Engagement zeigt und als bloßer Kapitalgeber fungiert, lässt der BFH selbst davon noch Abstriche zu. Er betont, dass das Tatbestandselement des Mitunternehmers ein offener Typusbegriff sei, der durch eine größere Anzahl von Typusmerkmalen beschrieben werden könne und für den das Gesamtbild entscheidend sei. Gleichzeitig fordert er, dass die Teilelemente der Mitunternehmerinitiative und des Mitunternehmerrisikos im Rahmen des Gesamtbildes zwar beide vorhanden sein müssten38, eine schwach ausgeprägte Mitunternehmerinitiative aber durch ein hohes Mitunternehmerrisiko (und umgekehrt) ausgeglichen werden könne39. Das Typusmerkmal der Mitunternehmerinitiative steht für den Einfluss des Gesellschafters auf die Unterneh-

__________

34 Zuletzt der Vorschlag der Stiftung Marktwirtschaft, Kommission „Steuergesetzbuch“, Steuerpolitisches Programm, Berlin 2006, 3 f., 22 ff., 28 ff.; s. auch den Vorschlag der Erfassung aller Gesellschaftsformen u. a. zu einer „steuerjuristischen Person“ von P. Kirchhof, Einkommensteuer-Gesetzbuch, Heidelberg 2003, § 11 (S. 193 ff.). 35 Siehe § 7 Nr. 3 EStG 1920, RGBl. I 1920, 359 (361). 36 BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617 (621) = FR 1995, 649; v. 29.3.2007 – IV R 72/02, BStBl. II 2008, 420 = FR 2007, 1058 m. Anm. C. Wältermann. 37 So bereits RFH v. 15.1.1931 – VI A 611/30, RFHE 27, 332 (334); ständige Rspr. des BFH: s. BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (769) = FR 1984, 619; v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616 (6219; v. 28.10.1999 – VIII R 66-70/97, BStBl. II 2000, 183 = FR 2000, 254 m. Anm. M. Kempermann; R. Wacker in Schmidt, EStG, Kommentar, 29. Aufl., München 2010, § 15 Rz. 258; G. Haep in Herrmann/ Heuer/Raupach, EStG, Kommentar, Loseblatt, § 15 Anm. 300 (März 2009). 38 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (769) = FR 1984, 619; v. 28.10.1999 – VIII R 66-70/97, BStBl. II 2000, 183 = FR 2000, 254 m. Anm. M. Kempermann; v. 8.4.2008 – VIII R 73/05, BStBl. II 2008, 681 = FR 2008, 1017 m. Anm. T. Keß. 39 BFH v. 16.12.1997 – VIII R 32/90, BStBl. II 1998, 480 = FR 1998, 659; BFH v. 8.4.2008 – VIII R 73/05, BStBl. II 2008, 681. = FR 2008, 1017 m. Anm. T. Keß.

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mensentscheidungen der Gesellschaft, das Typusmerkmal des Mitunternehmerrisikos für seine Teilhabe am Erfolg oder Misserfolg der Unternehmung der Gesellschaft. Selbst aber der gesellschaftsvertragliche Ausschluss des sowieso schon sehr schwach ausgeprägten Widerspruchsrechts des § 164 HGB soll an der Mitunternehmerinitiative des Kommanditisten nichts ändern, wenn dieser in der Gesellschafterversammlung zumindest die Änderung der Satzung oder die Auflösung der Gesellschaft verhindern kann40. Angesichts dieses geringen Niveaus des Einflusses auf Unternehmensentscheidungen fragt man sich, warum die h. M. überhaupt am Merkmal der Mitunternehmerinitiative festhält41. Das wichtigere Typusmerkmal bleibt daher bei einem Kommanditisten die Beteiligung am Erfolg der Unternehmung durch Beteiligung am Gewinn und Verlust sowie an den stillen Reserven und des Geschäftswerts der Gesellschaft. Hier lassen sich etwas stärkere Konturen gewinnen. Allerdings schraubt die Rechtsprechung auch insoweit den Mindeststandard herunter, indem sie sog. Buchwertabfindungsklauseln für den Fall der Kündigung durch den Gesellschafter für unschädlich hält42. Letztlich wird hier ein Mitunternehmer fingiert. Es bleiben damit lediglich Extremfälle übrig, in denen ein Kommanditist ausnahmsweise einmal kein Mitunternehmer i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG ist. Dabei handelt es sich vor allem um Gestaltungen bei sog. Familienpersonengesellschaften, wenn die Kommanditistenstellung von vornherein – ohne Einflussmöglichkeit des Kommanditisten – befristet ist oder er von der Mehrheit der Gesellschafter ohne Vorliegen besonderer Gründe hinausgekündigt werden kann43. Außerhalb des nicht unbedingt durch einen natürlichen Interessengegensatz gekennzeichneten Bereichs der Familienpersonengesellschaft verneint die Rechtsprechung die Mitunternehmerstellung eines Kommanditisten praktisch nicht. Besonders augenfällig wird dies in den Fällen sog. Arbeitnehmer-Kommanditisten44. In der auch heute noch relevanten Referenzentscheidung des BFH vom 24.1.1980 traten Arbeitnehmer als Kommanditisten in die KG, die zugleich ihre Arbeitgeberin war, mit Beteiligungen

__________ 40 BFH v. 10.11.1987 – VIII R 166/84, BStBl. II 1989, 758 = FR 1988, 248; v. 27.1.1994 – IV R 114/91, BStBl. II 1994, 635 = FR 1994, 508; zum Ausschluss der Mitunternehmerinitiative s. BFH v. 11.10.1988 – VIII R 328/83 – BStBl. II 1989, 762 = FR 1989, 307. 41 Mit Recht krit. B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl., Köln 1993, § 9 II 3 b), S. 384 f.; W. Schön, Der Große Senat des BFH und die Personengesellschaft, StuW 1996, 275 (286). 42 BFH v. 24.1.1980 – IV R 156/78, IV R 157/78, BStBl. II 1980, 271 = FR 1980, 272; v. 10.11.1987 – VIII R 166/84, BStBl. II 1989, 758 = FR 1988, 248; v. 16.12.1997 – VIII R 32/90, BStBl. II 1998, 480 = FR 1998, 659; v. 7.11.2000 – VIII R 16/97, BStBl. II 2001, 186 = FR 2001, 193 m. Anm. M. Kempermann. 43 BFH v. 8.2.1979 – IV R 163/76, BStBl. II 1979, 405 (408 f.); v. 5.7.1979 – IV R 27/76, BStBl. II 1979, 670 (672); v. 29.4.1981 – IV R 131/78, BStBl. II 1981, 663 (664) = FR 1981, 515; v. 15.10.1981 – IV R 52/79, BStBl. II 1982, 342 (343 f.) = FR 1982, 300. 44 BFH v. 24.1.1980 – IV R 156/78, IV R 157/78, BStBl. II 1980, 271 = FR 1980, 272; v. 12.2.1992 – XI R 49/89, BFH/NV 1993, 156; v. 23.4.1996 – VIII R 53/94, BStBl. II 1996, 515 = FR 1996, 631; v. 30.8.2007 – IV R 14/06, BStBl. II 2007, 942 = FR 2008, 226.

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von max. je 8 % (in der Summe 16 %) am Gewinn und Verlust der KG ein. Außerdem leisteten sie Bareinlagen von max. je 3.000 DM. An ihrer Tätigkeit änderte sich faktisch aber nichts. Ihr Widerspruchsrecht nach § 164 HGB war zu Lebzeiten der beherrschenden Komplementärin, die einen 84 %igen Anteil besaß, ausgeschlossen. Bei einer Kündigung der Beteiligung war das Auseinandersetzungsguthaben auf die erbrachten Einlagen beschränkt. Im Falle der Hinauskündigung durch Beschluss der übrigen Gesellschafter und im Todesfalle sollte der gekündigte Kommanditist dagegen zum gemeinen Wert seines Anteils (ohne Ansatz des Firmenwerts) abgefunden werden. Die Kommanditbeteiligung war schließlich nicht vererblich. Trotz dieser ganz erheblichen Einschränkungen ihrer Kommanditistenstellung qualifizierte der BFH die Arbeitnehmer als Mitunternehmer und rechnete dem Gewinn aus Gewerbebetrieb nicht nur den gesellschaftsrechtlichen Gewinnanteil, sondern als Tätigkeitsvergütungen i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1, Alt. 2 EStG auch noch die Gehälter der arbeits- und sozialversicherungsrechtlich als Arbeitnehmer qualifizierten Kommanditisten zu45. Damit sind nach der Rechtsprechung selbst Zwerg-Kommanditanteile am Unternehmen des Arbeitgebers geeignet, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) in mitunternehmerische Einkünfte i. S. d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG umzuqualifizieren. Der vom Jubilar bereits vor 30 Jahren an dieser Rechtsprechung geäußerten Kritik ist unverändert zuzustimmen: Die Umqualifizierung der Einkünfte ist vom Gesetzeszweck der Norm nicht mehr getragen, wenn untergeordnete Arbeitnehmer, die keine „Chef“-Funktion besitzen (z. B. Sachbearbeiter, kaufmännische Angestellte, Sekretärinnen) an der Gesellschaft beteiligt oder unbeteiligt werden46. De lege ferenda stellt sich allgemein die Frage, ob der schlichte Kommanditist als „Mitunternehmer“ zutreffend kategorisiert wird. 2. Hybrides Einkunftsartenbild des Personenkapitalgesellschafters a) Kapitalanleger in der Phase der Beteiligung Ganz anders wertet § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG die laufende Einkunftserzielung des Personenkapitalgesellschafters. Der Vorschrift können wir entnehmen, dass der Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft mit seinen Dividenden und Gewinnausschüttungen Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt. Ferner bestimmt § 17 Abs. 1 EStG, dass der Gewinn aufgrund der Veräußerung einer früher sog. wesentlichen Kapitalgesellschaftsbeteiligung in Abweichung von § 20 Abs. 2 EStG ein solcher aus Gewerbebetrieb ist. Nachdem die wesentliche Beteiligung ursprünglich mit mehr als 25 v. H. definiert worden war (s. unten b]), reicht derzeit eine Beteiligungsquote von 1 v. H. aus. Diese Normen zwingen wegen Ihrer Existenz zu dem Rückschluss, dass allein die Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft den Anteilseigner noch nicht zum Unternehmer im ertragsteuerlichen Sinne macht, sondern vielmehr vermögensverwaltender Natur ist. Denn sowohl § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG als auch § 17 EStG würden über

__________ 45 BFH v. 24.1.1980 – IV R 156/78, IV R 157/78, BStBl. II 1980, 271 (274) = FR 1980, 272. 46 J. Lang (Fn. 1), a. a. O., 317.

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keinen Anwendungsbereich verfügen, wenn jedes Mitglied einer werbenden juristischen Person einem Typus „unternehmerischer Kapitalgesellschafter“47 zugeordnet werden könnte. Dies bedeutet, dass selbst Gewinnausschüttungen einer GmbH, die sie an einen beherrschenden Gesellschafter (ggf. sogar an ihren Alleingesellschafter) leistet, bei diesem grundsätzlich Einkünfte aus Kapitalvermögen sind. An diese Qualifikation hat sich nicht nur die steuerliche Praxis gewöhnt; auch in der Steuerrechtsdogmatik wird sie kaum in Frage gestellt48. Die h. M. behandelt den Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft damit grundsätzlich als einen Kapitalanleger kraft Rechtsform unabhängig davon, welchen unternehmerischen Einfluss er auf die Kapitalgesellschaft ausübt. Der wirtschaftlichen Realität wird das Kapitalgeber-Bild jedenfalls für den beherrschenden GmbH-Gesellschafter aber nicht gerecht. Er trägt regelmäßig mindestens ein ebenso großes „Unternehmerrisiko“ wie ein Kommanditist und entfaltet keine mindere „Unternehmerinitiative“; ganz im Gegenteil, regelmäßig ist er sogar der eigentliche Motor der personalistischen GmbH (s. bereits oben II.). Die scheduläre Einteilung „Kommanditist = Mitunternehmer“, „GmbH-Gesellschafter = bloßer Kapitalgeber“ widerspricht auf krasse Weise der Wirklichkeit und ist willkürlich. b) Verfehlte Rechtsfolge der Abgeltungsteuer Diese Einteilung könnte vielleicht hingenommen werden, wenn sich die steuerlichen Folgen nicht fundamental unterscheiden würden. Seit dem 1.1.2009 gilt dies nicht bloß für die Einkünfteermittlungsmethode und den Zeitpunkt der Besteuerung. Vielmehr unterfallen die Einkünfte aus Kapitalvermögen gem. §§ 32d Abs. 1, 43a Abs. 5 EStG grundsätzlich der 25 %igen Abgeltungsteuer. Mit der Einführung der Abgeltungsteuer hat der Gesetzgeber das grundlegende Prinzip einer synthetischen Einkommensteuer verlassen. Die abgeltende Besteuerung bewirkt eine sondertarifierende Schedule49. Sie erfasst nicht nur die laufenden Kapitalerträge, sondern durch eine Erweiterung des § 20 Abs. 2 EStG auch die Kapitalveräußerungseinkünfte. Die Besteuerung hängt damit nicht mehr davon ab, ob Quelleneinkünfte oder Stammvermögensveränderungen vorliegen. Neben dieser im Dienste gleichmäßiger Besteuerung stehenden Vereinfachung verspricht die Abgeltungsteuer Vollzugsvorteile50. Dem Steuerpflichtigen gewährleistet sie Anonymität, erübrigt die Steuererklärungspflicht und trifft so auf gesteigerte Akzeptanz. Für die Banken und Kreditinstitute

__________ 47 Zu diesem Typus R. Seer/M. Krumm, Die unternehmerische Kapitalgesellschaftsbeteiligung, in FS für N. Herzig, München 2010, 45 (53 ff.). 48 Eine Ausnahme bildet H.-J. Pezzer, Die Besteuerung des Anteilseigners, DStJG 25 (2002), 37, (38 ff.); dagegen in der traditionelle Sichtweise verbleibend W. Heinicke, Die Einkünfte des Gesellschafters einer GmbH, DStJG 20 (1997), 285 (287 ff.); D. Piltz, Beteiligungserträge, DStJG 30 (2007), 211 (220 ff.). 49 Siehe im Einzelnen den Überblick bei J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 5), § 9 Rz. 492 ff. 50 Siehe R. Seer, Die Besteuerung von Einkommen – Aufgaben, Wirkungen und Europäische Herausforderungen, Verhandlungen des 66. DJT (Stuttgart), Band II/1, München 2006, Q 147.

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reduziert sich der Verwaltungsaufwand auf die Einbehaltung und Abführung der Abgeltungsteuer. Eine Doppelung von Quellensteuer und Mitteilungspflichten entfällt weitgehend. Für die Finanzverwaltung erübrigt sich insoweit das aufwendige Veranlagungsverfahren. Die Kontrolle fokussiert sich auf die Erfüllung der Steuerentrichtungspflicht durch die inländischen Zahlstellen; eine Überprüfung der Millionen Steuerpflichtigen wird in diesem Bereich grundsätzlich obsolet. Auf besondere Erwerbsaufwendungen braucht die Finanzbehörde keine Rücksicht mehr zu nehmen. Dieser Strauss von Vorteilen wird jedoch durch eine weitgehende Einschränkung des objektiven Nettoprinzips teuer erkauft51. Erwerbsaufwendungen werden nur noch pauschaliert in Höhe des Sparer-Pauschbetrages von 801 Euro (§ 20 Abs. 9 Satz 1 EStG) abgezogen. Mit der Abgeltungsteuer ist eine objektsteuerähnliche Bruttobesteuerung verbunden. Mangels eines echten Veranlagungswahlrechts52 kann es dadurch zu einer Übermaßbesteuerung kommen. Die scheduläre Anknüpfung an die Einkunftsart „Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG)“ bewirkt zufällige Steuerbelastungen, wie gerade das Beispiel von GmbH-Gesellschaftern eindrucksvoll zeigt. Gewerbliche Kapitalerträge unterfallen ihr danach a priori nicht, während § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG (offene ebenso wie verdeckte) Gewinnausschüttungen der Kapitalgesellschaften in vollem Umfang erfasst. Der Tagesgeldzins auf einem betrieblichen Kontokorrent ist danach mit dem individuellen Steuersatz des Gewerbetreibenden zu versteuern und in vollem Umfang (horizontal wie vertikal) mit Verlusten verrechenbar. Dagegen greift selbst für die Vollausschüttung an einen Einmann-GmbH-Gesellschafter die Abgeltungsteuer! Die Idee der Abgeltungsteuer ist aber auf den banktypischen Massenverkehr ausgerichtet. Da unter die Einkunftsart des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG auch Ausschüttungen aufgrund von unternehmerischen Beteiligungen fallen, greift sie zu weit. Es zeigt sich dabei ein deutlicher Wertungswiderspruch zu § 17 EStG. Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften, die mindestens 1 % am Kapital der Gesellschaft ausmachen, sind gewerblich und fallen daher gem. § 20 Abs. 8 EStG nicht in die Schedule des § 20 EStG. Nach § 32d Abs. 1 EStG gelangt der Sondertarif mithin nicht zur Anwendung. Stattdessen unterliegt der Gewinn – wie bisher – gem. § 3 Nr. 40 lit. c) EStG dem sog. Teileinkünfteverfahren. Warum dies erst im Fall der Veräußerung der Beteiligung und nicht schon während des Haltens der Beteiligung gelten soll, erschließt sich nicht. Auf die nicht als Publikumsgesellschaft organisierte personalistische Kapitalgesellschaft, also auf die typische GmbH (s. oben II.), passt die Abgeltungsteuer nicht.

__________ 51 Zutreffend J. Englisch, Verfassungsrechtliche und steuersystematische Kritik an der Abgeltungssteuer, StuW 2007, 221 ff. 52 Die in § 32d Abs. 6 EStG eröffnete Wahlveranlagung führt lediglich zu einer Günstigerprüfung beim individuellen Steuersatz, nicht aber zu einem über § 20 Abs. 9 EStG hinausgehenden Abzug von Werbungskosten oder einer weitergehenden Verlustverrechnung.

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In einem sehr späten Stadium des Gesetzgebungsverfahrens ist dies schließlich auch dem Gesetzgeber aufgefallen53. Er hat daraufhin in § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG für typischerweise unternehmerische Beteiligungen eine Option zur Einbeziehung der Gewinnausschüttungen in die allgemeine Bemessungsgrundlage bei Anwendung des generellen (progressiven) Einkommensteuertarifs geschaffen. Dies bedeutet, dass in diesen Fällen auch die Erwerbsaufwendungen (insbesondere Schuldzinsen) als Werbungskosten nach § 9 EStG abzugsfähig sind. Zur Kennzeichnung einer unternehmerischen Beteiligung verwendet er anstelle der heutigen 1 %-Grenze in Anlehnung an § 17 EStG a. F. (s. im Folgenden c]) eine 25 %ige Beteiligungsgrenze (§ 32d Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 lit. a] EStG). Allerdings fordert er – anders als etwa für die Verschonungssubvention bei unternehmerischem Vermögenserwerb nach § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG n. F. – keine die 25 %-Schwelle übersteigende Beteiligung, sondern nur eine Mindestbeteiligung in dieser Höhe. Diese Abweichung von § 17 EStG a. F. (zu dessen Hintergrund s. c]) wird nicht näher begründet und überrascht. Ergänzend nennt § 32d Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 lit. b) EStG den Fall einer geringeren, mindestens 1 %igen Beteiligung an einer Berufsträgergesellschaft. Diese Rückausnahmen führen aber nicht zur vollen synthetischen Normalbesteuerung, sondern zum Teileinkünfteverfahren mit der system- und verfassungswidrigen Restriktion des § 3c Abs. 2 EStG54. Bis zur Schwelle der 25 %igen Beteiligungsgrenze bleibt mangels Optionsmöglichkeit die Friktion zur Anwendung des § 17 EStG im Veräußerungsfall, wenn es sich nicht gerade um einen Berufsträger handelt. Warum die Gewinnausschüttung an einen etwa zu 20 % an einer GmbH beteiligten Gesellschafter unter Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip mit der Abgeltungsteuer belegt wird, die Gewinnentnahme eines zu 20 % an einer KG beteiligten Kommanditisten der verbliebenen synthetischen Netto-Einkommensteuer unterfällt, ist wirtschaftlich nicht nachvollziehbar. Unternehmensbesteuerung und Abgeltungsteuer sind leider nicht aufeinander abgestimmt. Ihr mangelndes Zusammenspiel führt zu willkürlichen Besteuerungsergebnissen und zur unerträglichen Verkomplizierung des Steuerregimes. c) Mutation des Kapitalgebers zum gewerblichen Unternehmer bei Veräußerung der Beteiligung Abweichend von § 20 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG erklärt § 17 EStG im Veräußerungsfall den Gewinn oder Verlust aus der Veräußerung einer Beteiligung zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb. Nach § 20 Abs. 8 EStG genießt diese Zuordnung mit der Folge Vorrang, dass das Regime der Abgeltungsteuer nun plötzlich keine Anwendung findet. Was rechtfertigt diesen Regimewechsel? Historisch lässt sich die Regelung des § 17 EStG auf das Einkommensteuergesetz 1925 vom 10.8.192555 zurückführen. Die Vorgängernorm des § 30 EStG

__________ 53 Siehe Bericht des Finanzausschusses v. 8.11.2007, BT-Drucks. 16/7036, 14. 54 Dazu im Einzelnen R. Seer, Die steuerliche Behandlung von Verlusten aus unternehmerischen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, FS für U. Hüffer, München 2010, 937 (946 ff.). 55 RGBl. I 1925, 189.

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1925 sollte klarstellen, dass auch Einkünfte aus der Unternehmensveräußerung als gewerbliche Einkünfte zu qualifizieren sind56. Als wesentlich definierte § 30 Abs. 3 Satz 2 EStG 1925 eine Beteiligung, wenn der Veräußerer oder seine Angehörigen unmittelbar oder durch Vermittlung eines Treuhänders oder einer Erwerbsgesellschaft zusammen an der Gesellschaft zu mehr als 25 % bei der Veräußerung oder innerhalb der letzten 10 Jahre vor der Veräußerung beteiligt waren. Der Veräußerung stellte § 30 Abs. 4 EStG 1925 die Aufgabe eines Betriebes gleich. Damit behandelte der historische Gesetzgeber wesentliche Beteiligungen an Kapitalgesellschaften im Veräußerungs- oder Aufgabefalle wie mitunternehmerische Beteiligungen an Personengesellschaften. Diese Gleichstellung begründete er auch ganz offen mit dessen mitunternehmerischen Charakters57. Den Mitunternehmergedanken verfolgte das EStG 1925 aber nur inkonsequent58. Während § 30 Abs. 3 EStG 1925 den wesentlich Beteiligten im Veräußerungsfall zum gewerblichen Mitunternehmer machte, ordnete § 37 Abs. 1 Nr. 1 EStG 1925 die laufenden Gewinnausschüttungen und Dividenden den Einkünften aus Kapitalvermögen zu. Es behandelte ihn also im Unterschied zum Personengesellschafter für die Zeit seiner Beteiligung als bloß privaten Kapitalgeber und Nichtunternehmer, um ihn dann im Veräußerungsfall plötzlich zum Mitunternehmer mutieren zu lassen. An dieser hybriden, nicht folgerichtigen Konstruktion hielt das Einkommensteuergesetz später fest59. Die gesetzgeberische „Wertentscheidung zugunsten des Mitunternehmerbegriffs“60 sahen sowohl der BFH61 als auch die Einkommensteuerkommission 1964 und die Steuerreformkommission 1971 als den tragenden Grund für die Steuerbarkeit des Veräußerungs-/Liquidationsgewinns an62. Dem folgte das BVerfG schließlich in seinem Beschluss vom 7.10.1969, wo es die in § 17 Abs. 1 EStG 1934/1965 getroffene Grenze der 25 %-Beteiligung als mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar billigte63. Es wies auf den mit einer mehr als 25 %igen Beteiligung verbundenen gesteigerten Einfluss auf die

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56 J. Lang (Fn. 1), 502. 57 Amtl. Begründung zum EStG 1925, Reichstag, III. Wahlperiode, 1924/25, Drucks. Nr. 795, 23 f., 55 ff. 58 J. Wolff-Diepenbrock, Zur Entstehungsgeschichte und Systematik des § 17 EStG, FS für Klein, Köln 1994, 875 (878). 59 So § 17 EStG 1934, RGBl. I 1934, 1005, und nach dem 2. Weltkrieg s. Steueränderungsgesetz v. 14.5.1965, BGBl. I 1965, 377. 60 So J. Lang (Fn. 1), a. a. O., 502; zum einkommensteuerlichen Belastungsgrund des § 17 EStG a. F. ausf. S. Schneider in Kirchhof/Söhn, EStG, Loseblatt, § 17 Rz. A 44 ff. (Oktober 2000). 61 BFH v. 21.7.1960 – IV 330/57 U, BStBl. III 1960, 409 (410); v. 27.8.1964 – IV 204/62 U, BStBl. III 1964, 624 (625); v. 6.10.1966 – I 35/64, BStBl. III 1967, 45 (46); v. 4.11.1992 – X R 33/90, BStBl. II 1993, 292 (294) = FR 1993, 128; v. 25.7.2001 – X R 55/97, BStBl. II 2001, 809 (811 f.) = FR 2002, 31 m. Anm. M. Wendt; v. 14.6.2005 – VIII R 73/03, BStBl. II 2005, 861 (863); zuletzt BFH v. 14.9.2007 – VIII B 15/07, BFH/NV 2008, 61 (62). 62 Bericht der Einkommensteuerkommission, Untersuchungen zum Einkommensteuerrecht, BMF-Schriftenreihe, Bd. 7, Bonn 1964, 184; Gutachten der Steuerreformkommission 1971, Gutachten, Teil II, BMF-Schritenreihe, Bd. 17, Bonn 1971, Rz. 111. 63 BVerfG v. 7.10.1969 – 2 BvL 3/66, 2 BvR 701/64, BVerfGE 27, 111 (128 ff.).

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Geschäftspolitik und das Ausschüttungsverhalten der Gesellschaft im Sinne einer Sperrminorität hin64. Diese Rechtsprechung hat das BVerfG später in zwei Kammerbeschlüssen bestätigt65. Der zu mehr als 25 % am Stammkapital einer GmbH beteiligte Gesellschafter besitzt in der Tat in bestimmten grundlegenden Entscheidungen eine Blockierposition66. In grundlegenden Strukturentscheidungen sind Vorstand bzw. Geschäftsführung sowie Mehrheitsgesellschafter auf eine Kooperation mit dem zu mehr als 25 % am Grund- oder Stammkapital beteiligten Gesellschafter angewiesen. Der mehr als 25 %ige Anteil verleiht der Beteiligung dadurch eine unternehmerische Qualität67. Unverständlich bleibt jedoch, warum sich die dadurch begründete mitunternehmerähnliche Stellung erst im Veräußerungs- oder Liquidationsfalle zeigen soll68. Das vorgenannte Einflusspotential besitzt der wesentlich Beteiligte doch gerade schon während der Dauer seiner wesentlichen Beteiligung. Warum er in dieser Zeit – anders als ein Kommanditist – keine gewerblichen Einkünfte, sondern Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG) im Sinne einer privaten Kapitalanlage beziehen soll, hat die Rechtsprechung – soweit ersichtlich – niemals problematisiert. Besonders in den Fällen, in denen der Gesellschafter sogar eine Mehrheitsbeteiligung besitzt und zugleich als Organ die Geschäfte der Kapitalgesellschaft führt (z. B. als 100 %iger Gesellschafter/ Geschäftsführer), wird dieser Wertungswiderspruch evident und bleibt bisher unaufgelöst (dazu noch näher IV., V.). Seit der Neufassung des § 17 EStG durch das sog. Steuersenkungsgesetz 2000 vom 23.10.200069 geht es allerdings nur noch um die Gleichbehandlung des Veräußerungs- mit dem Ausschüttungsfalle. Dabei erschließt sich der Sinn der 1 %-Schwelle nicht. Gesellschaftsrechtlich ist sie unbedeutend70. Einen besonderen Einfluss auf die Geschäftsführung vermag eine 1 %-Beteiligung sicher nicht zu vermitteln. § 17 EStG ist nunmehr zu einem „Massentatbestand“ geworden, der auch Streubesitz erfasst. Es besteht kein überzeugender Grund, diesen Bereich bereits den Einkünften aus Gewerbebetrieb zuzuordnen71. Spätestens seitdem die Einkünfte aus Kapitalvermögen mit der Einführung der sog. Abgeltungsteuer generell die Veräußerung im Streubesitz befindlicher An-

__________ 64 BVerfG (Fn. 63), a. a. O., 129, unter Bezugnahme auf BVerfG v. 14.12.1966 – 1 BvR 496/65, BVerfGE 21, 6 (11), für eine erweiterte Haftung nach § 115 RAO. 65 BVerfG v. 20.11.1984 – 1 BvR 727/82, GmbHR 1985, 308; v. 3.5.2005 – 2 BvR 736/03, HFR 2005, 780. 66 Siehe die Analyse von R. Seer (Fn. 54), a. a. O., 940. 67 Ebenso M. Kröner, Ausweitung der Besteuerung privater Veräußerungsgewinne bei Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, StbJb. 1997/98, 193 (201 f.). 68 Siehe R. Seer (Fn. 54), a. a. O., 940 f. 69 BGBl. I 2000, 1433. 70 P. Heinemann, Die Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung privater Beteiligungen an Kapitalgesellschaften nach § 17 EStG in der Fassung des Steuersenkungsgesetzes, Diss., Frankfurt/M. u. a. 2002, 135. 71 M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, Diss., Köln 2004; 155 ff.; D. Gosch in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., Köln 2010, § 17 Rz. 2; a. A. wohl U. Wäckerlin, Betriebsausgabenabzugsbeschränkung und Halbeinkünfteverfahren, Diss., Berlin 2006, 145 f.

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teile an Kapitalgesellschaften umfassen (§ 20 Abs. 2 Nr. 1 EStG72), ist § 17 EStG insoweit systematisch deplatziert und führt zu einer zufälligen Schedulenbesteuerung. d) Arbeitnehmerbild des geschäftsführenden Personenkapitalgesellschafters Ebenso unreflektiert wie die h. M. den Personenkapitalgesellschafter zum Kapitalgeber kraft Rechtsform macht, erklärt sie den geschäftsführenden Personenkapitalgesellschafter (z. B. den Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH) zum Arbeitnehmer kraft Anstellungsvertrag73. Lediglich Walter Drenseck hat im Hinblick auf die Rechtsprechung des für die Umsatzsteuer zuständigen V. Senats des BFH daran Zweifel geäußert74. Der V. Senat hält es für den Bereich der Umsatzsteuer für möglich, dass ein Geschäftsführer einer GmbH seine Dienstleistung als selbständiger Unternehmer i. S. d. § 2 Abs. 1 UStG gegenüber der GmbH erbringt75. Der Senat hat seine früher vertretene sog. Organtheorie aufgegeben, wonach ein GmbH-Geschäftsführer bereits deshalb unselbständig sei, weil er nach § 37 Nr. 1 GmbH als Organ der Gesellschaft den Weisungen der Gesellschafterversammlung unterliegt76. Ein besonderes Gewicht legt der Senat darauf, ob der Geschäftsführer ein eigenes Unternehmerrisiko trägt77. Ganz anders entschied jüngst der BFH in seinem Urteil vom 23.4.200978. Dort ging es um die Lohnsteuer-Haftung einer GmbH für deren alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer, der zugleich zu 65 % am Stammkapital der GmbH beteiligt war. Obwohl der Geschäftsführer im Urteilsfall in der Zusammenschau von Organstellung und Mehrheitsbeteiligung die GmbH beherrschte, qualifiziert ihn der BFH – abweichend von der Rechtsprechung des BSG (s. unten V.2) – als Arbeitnehmer. Zur Begründung führte das Gericht an, dass zwischen der Organstellung und dem Anstellungsvertrag zu unterscheiden sei. Zwar unterliege der beherrschende Gesellschafter-Geschaftsführer faktisch keiner Direktionsmacht eines von ihm personenverschiedenen

__________ 72 Eingeführt mit Wirkung vom 1.1.2009 durch das sog. Unternehmensteuerreformgesetz 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 1912 (1917). 73 Aus der Kommentarliteratur s. T. Eisgruber in Kirchhof (Fn. 71), § 19 EStG Rz. 27, 54; B. Thürmer in Blümich, EStG, Kommentar, München, § 19 Rz. 120 „gesetzlicher Vertreter einer Kapitalgesellschaft“; H. Pflüger in Herrmann/Heuer/Raupach (Fn. 37), § 19 EStG Anm. 60 a. E. (September 2009). 74 W. Drenseck in Schmidt (Fn. 37), § 19 EStG in der Vorauflage 2009 Rz. 15 unter „Gesetzlicher Vertreten einer Kapitalgesellschaft“; nunmehr in der Neuauflage kürzer unter „Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft“; s. aber auch U. Huber/L. Macher, Der GmbH-Geschäftsführer als selbständig oder nichtselbständig Tätiger? Entwicklung und Tendenzen im Steuerrecht, FS für W. Küttner, München 2006, 67 (70 ff.). 75 BFH v. 10.3.2005 – V R 29/03, BStBl. II 2005, 730. 76 BFH v. 9.10.1996 – XI R 47/96, BStBl. II 1997, 255. 77 Allerdings hat der EuGH in einem niederländischen Fall einem 100 %igen GmbHGesellschafter-Geschäftsführer die Unternehmereigenschaft hinsichtlich seiner Geschäftsführungsleistungen abgesprochen, s. EuGH v. 18.10.2007 – Rs. C-355/06 – van der Steen, UR 2007, 889. 78 BFH v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BFHE 225, 33 = FR 2009, 1069 m. Anm. W. Bergkemper = DStRE 2009, 1355.

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Organs oder Gesellschafters. Dadurch werde er aber von den Weisungen und der Kontrolle der Gesellschafterversammlung nicht freigestellt. Die Personenidentität von Geschäftsführer und (Mehrheits-)Gesellschafter ändere daran nichts79. Damit isoliert der VI. Senat das Anstellungsverhältnis von den konkreten gesellschaftsrechtlichen Gegebenheiten und stellt typologisch für die die Lohnsteuer begründende Arbeitnehmereigenschaft ausschließlich auf die konkrete Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses ab. Ein AlleingesellschafterGeschäftsführer ist danach grundsätzlich nicht anders zu beurteilen als ein Fremdgeschäftsführer und ist nach Auffassung der Rechtsprechung grundsätzlich Arbeitnehmer kraft Anstellungsvertrag. Zusammenfassend bietet die Besteuerung geschäftsführender Personenkapitalgesellschafter (so auch des geschäftsführenden Einpersonen-Kapitalgesellschafters) das folgende bunte Einkunftsarten-Graffiti: Aufgrund seiner Kapitaleinlage ist er Kapitalgeber und erzielt laufende, abgeltend mit 25 % besteuerte Kapitaleinkünfte (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Davon isoliert ist er als Geschäftsführer aufgrund seines Anstellungsvertrages nichtselbständig und erzielt lohnsteuerpflichtige Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§§ 19 Abs. 1 Nr. 1, 38 Abs. 1 EStG). Im Veräußerungsfall jedoch wird er in einer Gesamtschau plötzlich unternehmerisch tätig und erzielt gem. § 17 Abs. 1 EStG gewerbliche Einkünfte. Eine weitere Farbe erhält das Graffiti schließlich im Falle der sog. Betriebsaufspaltung80, wenn der geschäftsführende Personenkapitalgesellschafter der Kapitalgesellschaft eine wesentliche Betriebsgrundlage zur Nutzung überlässt. In diesem Fall mutiert er zum gewerblichen Unternehmer mit der Folge, dass seine Kapitalgesellschaftsbeteiligung zum Betriebsvermögen (bei Mehrpersonenverhältnissen: zum Sonderbetriebsvermögen II81) des sog. Besitzunternehmens zählt82. Laufende Ausschüttungen der GmbH werden in diesem Fall als Einkünfte aus Gewerbebetrieb behandelt; das Geschäftsführergehalt soll aber davon weiter unangetastet zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) gehören83. Demgegenüber werden die Einkünfte des tätigen Mitunternehmers einer Personengesellschaft nicht isoliert betrachtet, sondern sämtlich den gewerblichen Einkünften nach § 15 Abs. 1 Satz 1

__________ 79 BFH v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BFHE 225, 33 (38) = FR 2009, 1069 m. Anm. W. Bergkemper. 80 Zur Entwicklung und Ausdehnung des Rechtsinstituts der Betriebsaufspaltung krit. R. Seer, Gewerbesteuerliche Merkmalübertragung als Sachgesetzlichkeit der Betriebsaufspaltung BB 2002, 1833; K.-D. Drüen, Über konsistente Rechtsfortbildung – Rechtsmethodische und verfassungsrechtliche Vorgaben am Beispiel des richterrechtlichen Instituts der Betriebsaufspaltung, GmbHR 2005, 69. 81 Krit. dazu N. Schneider, Sonderbetriebsvermögen – Rechtsgrundlage und Umfang, Diss. Bochum, Köln 2000, 219 ff. 82 BFH v. 4.7.2007 – X R 49/06, BStBl. II 2007, 772 = FR 2007, 1062; ausf. R. Gluth in Herrmann/Heuer/Raupach (Fn. 37), § 15 EStG Anm. 822, 823 (März 2009), m. w. N. 83 So das heute noch (weithin unreflektiert) angewandte Urteil des BFH v. 9.7.1970 – IV R 16/69, BStBl. II 1970, 722; s. auch R. Gluth in Herrmann/Heuer/Raupach (Fn. 37), § 15 EStG Anm. 826.

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Nr. 2 EStG gezählt84. Es ist schon erstaunlich, mit welch einem Gleichmut die h. M. dieses Steuerarten-Durcheinander hinnimmt. Ziel einer sachgerechten Besteuerung kann es doch nur sein, Personenunternehmer nach Maßgabe ihres wirtschaftlichen Erfolges mit begrenztem Vollzugsaufwand gleichmäßig zu besteuern. Diese Ziel hat das derzeit bunte Steuerartenchaos aus den Augen verloren!

V. Seitenblick in benachbarte Rechtsgebiete 1. Rechtslage in Österreich Nach dem durch das nationalsozialistische Deutsche Reich 1938 erzwungenen „Anschluss“ (der de facto Annexion) Österreichs galt auch dort das materielle und formelle Steuerrecht des Deutschen Reichs. Da dieses Recht 1945 im Wesentlichen übernommen worden ist85, entspricht das österreichische Einkommensteuergesetz strukturell dem deutschen. Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat der österreichische Gesetzgeber aber Änderungen vorgenommen, welche auch die deutsche Rechtsentwicklung beeinflussen. Das eingangs beschriebene Einkunftsarten-Recht finden wir traditionell auch in Österreich. Nach wie vor verfolgt § 23 Nr. 2 öEStG für Personengesellschaften das deutsche Mitunternehmerkonzept (dazu oben IV.1). Ebenso gehören Gewinnausschüttungen einer Kapitalgesellschaft nach § 27 Abs. 1 Nr. 1 öEStG zu den Einkünften aus Kapitalvermögen, ohne dass die Vorschrift nach dem Umfang der Beteiligung unterschiede. Aufgrund des jüngeren (umgekehrten) Einflusses Österreichs auf die deutsche Steuergesetzgebung finden wir eine weitere Parallele: Die durch die Gewinnausschüttungen gerierten Kapitaleinkünfte unterliegen – ähnlich der deutschen Abgeltungsteuer – nach §§ 97 Abs. 1 Satz 2, 93 Abs. 2 Nr. 1 lit. a) öEStG der bereits 1993 eingeführten sog. österreichischen Endbesteuerung86. Ursprünglich beschränkte § 31 öEStG im Veräußerungsfall die Steuerbarkeit – wie § 17 dEStG – ebenfalls auf wesentliche Beteiligungen. Nach dem deutschen Vorbild stand dafür der Vergleich zu Mitunternehmern (s. oben IV.2.c]) Pate87. Parallel zur Entwicklung in Deutschland ist die Grenze später in § 31 Abs. 1 öEStG sukzessive auf schließlich 1 % ab dem Jahre 2001 abgesenkt worden88. Während in Deutschland auf diese Veräußerungsgewinne das Teileinkünfteverfahren Anwendung findet, gilt in Österreich gem. § 37 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 2 lit. b) öEStG das sog. Halbsatzverfah-

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84 Allerdings soll die sog. mitunternehmerische Betriebsaufspaltung die Anwendung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verdrängen, s. BFH v. 23.4.1996 – VIII R 13/95, BStBl. II 1998, 325 (328) = FR 1996, 748; v. 24.11.1998 – VIII R 61/97, BStBl. II 1999, 483; dazu s. R. Gluth (Fn. 82), a. a. O., Anm. 780 m. w. N. Dies ändert an der Gewerblichkeit der Einkünfte (Besitzunternehmen ggf. nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) aber nichts. 85 Siehe W. Doralt/H. G. Ruppe, Steuerrecht, Bd. I, 9. Aufl., Wien 2007, Rz. 10. 86 Endbesteuerungsgesetz, öBGBl. 11/1993 u. 818/1993. 87 H. G. Ruppe, Die „Veräußerung bestimmter Beteiligungen“, FS für G. Stoll, Wien 1990, 121, 122 f. 88 Zur historischen Entwicklung s. etwa S. Kanduth-Kristen in Jakom, EStG, Kommentar, 2. Aufl., Wien 2009, § 31 Rz. 1.

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ren. Im Unterschied zur deutschen Regelung des § 17 dEStG ordnet § 31 öEStG den Veräußerungsgewinn aber nicht den Einkünften aus Gewerbebetrieb, sondern den sonstigen Einkünften (privaten Veräußerungseinkünften) zu. Sind bis dahin die Gemeinsamkeiten gerade zu auffällig, besteht ein bemerkenswerter Unterschied bei der Behandlung der Gesellschafter-Geschäftsführer. In einer Grundsatzentscheidung vom 9.12.1980 hatte der österreichische Verwaltungsgerichtshof (VwGH) mit seiner bisherigen Judikatur gebrochen und die Arbeitnehmereigenschaft eines GmbH-Gesellschafters/Geschäftsführers dann verneint, wenn dieser kraft seiner Stellung als Gesellschafter – auf Grund der Höhe seines Geschäftsanteils oder auf Grund einer gesellschaftsrechtlichen Sperrminorität – nicht zu einer Geschäftsführung gegen seinen Willen gezwungen werden kann89. Der VwGH rügte, dass sich die bis dato gegenteilige h. M. in Österreich und Deutschland mit dem Tatbestandsmerkmal der Weisungsabhängigkeit inhaltlich überhaupt nicht auseinandergesetzt habe. Wenn gegen den Willen des Gesellschafter-Geschäftsführers keine abweichenden Gesellschafterbeschlüsse in der Gesellschafterversammlung fassbar seien, könne keine Rede davon sein, dass der Geschäftsführer den Weisungen eines anderen unterworfen sei90. Daher erziele der Gesellschafter-Geschäftsführer keine Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 25 öEStG), sondern aus sonstiger selbständiger Arbeit (§ 22 Nr. 2 öEStG). Im unmittelbaren Anschluss an diese Entscheidung hat der österreichische Gesetzgeber mit dem Abgabenänderungsgesetz vom 15.12.198191 zur Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten die Rechtsprechung gesetzlich verankert und generalisiert. Seitdem qualifiziert § 22 Nr. 2, 2. Spiegelstrich öEStG Gehälter und sonstige Vorteile, die Kapitalgesellschaften wesentlich Beteiligten (insbesondere wesentlich beteiligten Gesellschafter-Geschäftsführern) für deren Dienstleistung gewähren, als Einkünfte aus sonstiger selbständiger Arbeit92. Nicht wesentlich beteiligte Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft werden dagegen als Arbeitnehmer behandelt (s. § 25 Abs. 1 Nr. 1 lit. b] öEStG). Da die Einkünfte aus selbständiger Arbeit – wie in Deutschland – zu den Gewinneinkünften zählen, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die Beteiligung Betriebsvermögen des Einzelbetriebs des selbständigen Gesellschafter-Geschäftsführers mit der Folge darstellt, dass sowohl laufende Gewinnausschüttungen an den Gesellschafter-Geschäftsführer als auch ein Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung den Einkünften aus sonstiger selbständiger Arbeit zuzurechnen sind. Dies hat der Verwaltungsgerichtshof jedoch grundsätzlich verneint93. Die Rechtsprechung will unter § 22 Nr. 2 öEStG nur dienstnehmerähnliche Leistungen fassen. Das Interesse eines Gesellschafters sei darauf gerichtet, möglichst hohe Gewinnausschüttungen zu empfangen.

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VwGH v. 9.12.1980 – Z 1666, 2223, 2224/79, Slg. 5535 (F), 328. VwGH (Fn. 89), 331 ff. öBGBl. Nr. 620/1981. Zu den einzelnen Fällen s. A. Baldauf in Jakom (Fn. 88), § 22 Rz. 106 ff. VwGH v. 25.10.1994 – 94/14/0071, Slg. 6931 F/1994; zur weiteren Rspr. ausf. M. Gruber, Die Zuordnung der GmbH-Beteiligung eines Gesellschafter-Geschäftsführers zum Betriebs- oder Privatvermögen, SWK 2009, 953.

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Dagegen sei das Interesse eines Geschäftsführers auf ein möglichst hohes Gehalt gerichtet. Dieser natürliche Interessengegensatz stehe einer Zusammenfassung entgegen94. Nur wenn die Beteiligung erworben worden wäre, um in die Position des Geschäftsführers zu gelangen, könnte etwas anderes gelten. Letztlich bietet das österreichische Einkommensteuerrecht damit ein ähnlich buntes Bild der Besteuerung der Personenunternehmer wie das deutsche. Allerdings wird der geschäftsführende Personenkapitalgesellschafter nicht mehr als bloßer Arbeitnehmer, sondern als Selbständiger behandelt. 2. Sozialversicherungsrecht Im Einklang mit dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof und im Unterschied zum BFH würdigt das Bundessozialgericht (BSG) den beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH entsprechend seiner tatsächlichen wirtschaftlichen Stellung. Für die Abgrenzung zwischen einer selbständigen und nichtselbständigen Tätigkeit ist nach dem BSG das Gesamtbild der Arbeitsleistung entscheidend und eine Gesamtwürdigung aller maßgebenden Umstände vorzunehmen95. In seinem Urteil vom 9.11.1989 hat der 11. Senat des BSG sogar eine kaufmännische Angestellte einer GmbH, die nicht deren Geschäftsführerin, aber deren Alleingesellschafterin war, als Selbständige eingeordnet96. Nach dem Anstellungsvertrag, der die wöchentliche Arbeitszeit, das Monatsgehalt und den Urlaubsanspruch nach tarifvertraglichen Grundlagen regelte, war sie eine typische Arbeitnehmerin. In der gebotenen Gesamtschau wertete das BSG die Stellung als Alleingesellschafterin der GmbH aber als eine so starke Rechtsmacht, dass sie das Direktionsrecht des Geschäftsführers überlagert97. Da keine Anhaltspunkte für ein bloßes „Strohfrau“-Verhältnis ersichtlich waren, verneinte das BSG ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis. Für die Position des Geschäftsführers einer GmbH hat der 12. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 24.11.2005 die folgenden Leitlinien getroffen98: „Schon, wer auf Grund einer Sperrminorität oder weil er Mehrheitsgesellschafter ist, kraft seiner gesellschaftsrechtlichen Stellung als Geschäftsführer-Gesellschafter in der Lage ist, ihm nicht genehme Entscheidungen der Gesellschaft zu verhindern, ist nicht abhängig beschäftigt99. Erst recht ist in seiner dienstvertraglichen Stellung nicht persönlich abhängig, wem – wie dem Kläger als Alleingesellschafter – gesellschaftsrechtlich und innerhalb der Grenzen des Rechts eine unbeschränkte Gestaltungsmacht zukommt. Seine Selbständigkeit liegt umgekehrt auf der Hand. Der Kläger allein bestimmt als

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94 Dezidiert a. A. dagegen N. Zorn, GmbH-Beteiligung als Betriebsvermögen des selbständigen Gesellschafter-Geschäftsführers, RdW 1991, 90. 95 BSG v. 23.6.1994 – 12 RK 72/92, NJW 1994, 2974; v. 17.5.2001 – B 12 KR 34/00 R, SozR 3-2400 § 7 Nr. 17 = GmbHR 2001, 668. 96 BSG v. 9.11.1989 – 11 RAr 39/89, BSGE 66, 69; s. a. BSG v. 17.5.2001 – B 12 KR 34/00 R, SozR 3-2400 § 7 Nr. 17 = GmbHR 2001, 668. 97 BSG v. 9.11.1989 – 11 RAr 39/89, BSGE 66, 69 (71). 98 BSG v. 24.11.2005 – B 12 RA 1/04 R, BSGE 95, 275 (276). 99 BSG v. 18.4.1991 – 7 RAr 32/90, SozR 3-4100 § 168 Nr. 5 S. 8 = GmbHR 1992, 172 (173); v. 8.12.1994 – 11 RAr 49/94, SozR 3-4100 § 168 Nr. 18 S. 45 = NJW-RR 1995, 993 (994); v. 30.6.1999 – B 2 U 35/98 R, SozR 3-2200 § 723 Nr. 4 S. 15; v. 17.5.2001 – B 12 KR 34/00 R, SozR 3-2400 § 7 Nr. 17 S. 57 = GmbHR 2001, 668 (669).

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Roman Seer Organ die interne Willensbildung und vertritt die Gesellschaft nach außen. Ein von seinem abweichender Wille der GmbH und eine Bindung hieran sind ausgeschlossen100. Soweit das dienstvertragliche Verhältnis der GmbH zum Kläger als natürlicher Person betroffen ist, ist daher im Blick auf die einheitliche Willensbildung in den verschiedenen Funktionskreisen eine Weisungsabhängigkeit hinsichtlich Zeit, Dauer und Ort der Arbeitsausführung oder auch nur eine funktionsgerecht dienende Teilhabe an einem jedenfalls durch fremde Organisation vorgegebenen Arbeitsprozess von vornherein ausgeschlossen“101.

Die Rechtsprechung des BSG bietet damit das folgende Bild: Der nicht am Stammkapital der GmbH beteiligte Fremdgeschäftsführer ist grundsätzlich ein nichtselbständiger, abhängiger Beschäftigter der GmbH und versicherungspflichtig102. Dasselbe gilt für einen Gesellschafter-Geschäftsführer, der weder über die Mehrheit der Gesellschaftsanteile noch über eine Beschlüsse in der Gesellschafterversammlung verhindernde Sperrminorität verfügt103. Besitzt er dagegen diese Sperrminorität oder kann er seinen Willen sogar als Mehrheitsgesellschafter in der Gesellschafterversammlung durchsetzen, ist er regelmäßig ein Selbständiger104.

VI. Neuausrichtung der Besteuerung des Personenkapitalgesellschafters 1. Selbständigkeit des Gesellschafter-Geschäftsführers Der BFH sieht in der sozial- und arbeitsrechtlichen Einordnung der Tätigkeit eines Steuerpflichtigen (s. V.2) lediglich ein Indiz für deren Selbständigkeit oder Unselbständigkeit. Von einer Entscheidung zu § 3 Nr. 62 EStG abgesehen105 befasst sich der BFH inhaltlich nicht mit der ausgefeilten Judikatur des BSG. Schon vor 25 Jahren stellte der Jubilar fest, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung keine Gründe dafür anführe, warum Sinn und Zweck des Steuergesetzes einen anderen Inhalt des Arbeitnehmerbegriffs verlangen als das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht106. Vor allem der für die lohnsteuerrechtlichen Frage zuständige VI. Senat hätte dazu aber allen Grund gehabt. Denn es ist nicht erkennbar, warum die einkommensteuerrechtliche Teleologie den Kreis lohnsteuerpflichtiger Arbeitnehmer – von keiner Versicherungspflicht unterliegenden Nichtselbständigen wie z. B. Beamten, Richtern und Soldaten abgesehen – über den Kreis der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigen ausdehnen sollte. Die Lohnsteuer ist lediglich eine auf eine bestimmte

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100 BSG v. 6.3.2003 – B 11 AL 25/02 R, SozR 4-2400 § 7 Nr. 1 S. 3 f. = GmbHR 2004, 494 (496). 101 Mit ergänzendem Hinweis auf BGH v. 22.9.2005 – IX ZB 55/04, WM 2005, 2191. 102 BSG v. 18.12.2001 – B 12 KR 10/01 R, SozR 3-2400 § 7 Nr. 20 = GmbHR 2002, 324. 103 BSG v. 6.3.2003 – B 11 AL 25/02 R, SozR 4-2400 § 7 Nr. 1 = GmbHR 2004, 494; BSG v. 4.7.2007 – B 11a AL 5/06 R, SozR 4-2400 § 7 Nr. 8 = GmbHR 2007, 1324. 104 BSG v. 24.11.2005 – B 12 RA 1/04 R, BSGE 95, 275 (276); v. 25.1.2006 – B 12 KR 30/04 R, GmbHR 2006, 645. 105 BFH v. 2.12.2005 – VI R 16/03, BFH/NV 2006, 544. 106 J. Lang, Die Einkünfte des Arbeitnehmers – steuerrechtssystematische Grundlegung, DStJG 9 (1985), 15 (24 ff.).

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Personenunternehmerbesteuerung – Willkürlichkeit des Einkunftsarten-Steuerrechts

Einkunftsart entfallende Vorauszahlungssteuer des Arbeitnehmers107. Der Steuerabzug an der Quelle des Arbeitgebers dient dem fiskalischen Sicherungsinteresse und der verfahrensrechtlichen Entlastung des Staates durch die Inanspruchnahme Dritter (der Arbeitgeber)108. Da ein Gesellschafter-Geschäftsführer persönlich und eigenverantwortlich Einkommensteuererklärungen abzugeben hat und sowieso zur Einkommensteuer veranlagt wird, ist kein besonderes Steuersicherungsinteresse des Staates erkennbar. Die Finanzbehörde kann seine steuerlichen Verhältnisse nach § 194 Abs. 2 AO in die bei der GmbH durchzuführende Außenprüfung einbeziehen, wenn dies im Einzelfall zweckmäßig ist. Die Ermittlung der steuerlichen Verhältnisse des Gesellschafter-Geschäftsführers ist gesichert. Darüber hinausgehende Steuervollzugsvorteile in Gestalt von Skaleneffekten109 existieren nicht. Es lässt sich daher nicht begründen, warum der Kreis der Lohnsteuerpflichtigen durch eine über das Arbeits- und Sozialrecht hinausgehende (extensive) Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs auf Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH erweitert werden müsste110. Ganz im Gegenteil, aus teleologischer Sicht liegt es nahe, dass der von der Sachmaterie des Sozialversicherungsrechts erfasste Kreis nichtselbständiger Versicherungspflichtiger (umgekehrt) eher weiter als im Lohnsteuerrecht zu ziehen ist. Die Entscheidung über die Selbständigkeit oder Unselbständigkeit entscheidet dort nämlich nicht lediglich über die Art der abgabenrechtlichen Bemessungsgrundlage (Einkunftsart), sondern über die Beitragspflicht als solche. Geht es im Sozialrecht um einen Solidarbeitrag zur Absicherung der Beschäftigten gegenüber den fundamentalen Risiken der Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit und Altersversorgung111, so spricht dies für eine im Vergleich zum Lohnsteuerrecht eher extensivere Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs bzw. des Kreises unselbständig Beschäftigter. Wenn aber selbst das BSG den beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer in einer typologischen Gesamtschau aus dem Kreis der versicherungspflichtigen Beschäftigten entlässt, ist kein Grund ersichtlich, warum der BFH in diesen Fällen an der Lohnsteuerpflicht festhalten sollte.

__________ 107 W. Drenseck in Schmidt (Fn. 37), § 38 EStG Rz. 1. 108 Zu den historischen Grundlagen des Lohnsteuerabzugs s. G. Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, Diss. Bonn, Berlin 2005, 83 ff.; K.-D. Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, Habil. Bochum, erscheint demnächst in der Schriftenreihe „Ius Publicum“, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen. 109 Siehe R. Seer, Reform des (Lohn-)Steuerabzugs, FR 2004, 1037 (1042). 110 Auch G. Kirchhof (Fn. 108), 97, vermag keine Begründung zu liefern und beschränkt sich nach Art einer petitio principii auf die substanzlose Aussage, dass der Geschäftsführer einer GmbH Arbeitnehmer im Sinne des Steuerrechts sei, „weil ihm der Arbeitgeber den Lohn zahlt, die Quellenbesteuerung durch das Abzugsverfahren möglich ist“. 111 Siehe H. Kube, Staatsaufgaben und Solidargemeinschaften, DStJG 29 (2006), 11 (21 ff.); zu dem auf Arbeitnehmer fokussierten Schutzzweck der gesetzlichen Sozialversicherung mit historischer Ableitung s. E. Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl., Tübingen 2007, Rz. 24 ff.; M.Fuchs/U. Preis, Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl., Köln 2009, 27 ff.

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Wenn die Arbeitnehmereigenschaft gemeinhin damit begründet wird, dass das Organ den Weisungen der Anteilseigner oder gegebenenfalls bestehender Aufsichtsorgane unterliegt und grundsätzlich in den wirtschaftlichen Organismus eingegliedert ist, rechtfertigt dies nur beim Fremdgeschäftsführer eine Zuordnung zum Typus des steuerlichen Arbeitnehmers. Nicht mehr nachvollziehbar ist es dagegen, wenn die Rechtsprechung und die ihr folgende herrschende Auffassung grundsätzlich jedes Dienstverhältnis zwischen einem GesellschafterGeschäftsführer und der Kapitalgesellschaft als nichtselbständig qualifiziert. Steuergesetze, die – wie das EStG – wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erfassen haben, knüpfen an wirtschaftliche Vorgänge und Zustände an und bedürfen deshalb einer wirtschaftlichen Interpretation, die als wirtschaftliche Betrachtungsweise im Sinne eines teleologischen Auslegungsprinzips bezeichnet wird112. Für die typologische Einordnung sind das Anstellungsverhältnis und die Gesellschaftsbeteiligung des Geschäftsführers daher in einer Gesamtschau zu würdigen. Dies missachtend wird noch nicht einmal im Ausgangspunkt kritisch hinterfragt, ob es abweichend von der Judikatur des BSG richtig sein kann, dass beispielsweise der Gesellschafter-Geschäftsführer der sog. Einmann-GmbH oder seit dem 1.11.2008 der sog. „Unternehmergesellschaft“ (§ 5a GmbHG) – eine juristische Person, die in Ermangelung von jedwedem Kapital vielfach vollständig auf die persönliche Arbeitsleistung des Gesellschafters angewiesen ist – immer unselbständig handelt und daneben Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt. Die Tatsache, dass der Geschäftsführer – innerhalb der ihm durch das zwingende GmbH-Recht gesetzten Grenzen – in „seiner“ Gesellschaft schalten und walten kann, wie es ihm beliebt, spielt nach der Finanzrechtsprechung offensichtlich keine Rolle. Die dafür gegebenen Begründungen sind schlicht apodiktisch und widersprechen den eigenen Vorgaben einer Gesamtwürdigung der Verhältnisse. Warum muss allein auf die konkrete Ausgestaltung des Anstellungsverhältnisses geschaut werden, ohne die Gesellschafter-Stellung des Geschäftsführers zu berücksichtigen? Warum ändert die Personenidentität von Geschäftsführer und Mehrheitsgesellschafter an der Weisungsgebundenheit des Geschäftsführers nichts?113 Wenn der Alleingesellschafter-Geschäftsführer sich selbst „vor dem Spiegel“ Weisungen erteilt, kann doch nicht ernsthaft von seiner Weisungsgebundenheit gesprochen werden! Vielmehr kann der Alleingesellschafter/Geschäftsführer nach eigenem Gutdünken schalten und walten. Dasselbe gilt für den Mehrheits-Gesellschafter, wenn der Gesellschaftsvertrag nicht besondere Weisungsrechte der Minderheitsgesellschafter oder eines besonderen Kontrollorgans (z. B. eines Beirats) beinhaltet. Mit dem BSG (s. oben V.2) und dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof (s. oben V.1) ist aber auch der MinderheitsgesellschafterGeschäftsführer grundsätzlich dann selbständig tätig, wenn er nach dem Gesellschaftsvertrag aufgrund einer Sperrminorität keine seinem Willen widersprechende Weisungen der Gesellschafterversammlung zu befürchten hat.

__________ 112 J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 5), § 5 Rz. 77 m. w. N. 113 So die völlig unbelegte These des BFH v. 23.4.2009 – VI R 81/06, BFHE 225, 33 (38 f.) = FR 2009, 1069 m. Anm. W. Bergkemper = DStR 2009, 1355 (1356).

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Personenunternehmerbesteuerung – Willkürlichkeit des Einkunftsarten-Steuerrechts

2. Personenkapitalgesellschafter als Gewerbetreibender i. S. d. § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG Ist der geschäftsführende Personenkapitalgesellschafter kein Arbeitnehmer, sondern selbständig tätig, fragt es sich, welche Einkünfte er erzielt. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof und ihm folgend § 22 Nr. 2 öEStG ordnet die Geschäftsführervergütung den Einkünften aus sonstiger selbständiger Arbeit (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 dEStG) zu (s. oben V.1). Der Tatbestand des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG ist wenig konturiert und enthält lediglich die drei Einkunftsarten-Bilder des Testamentsvollstreckers, Vermögensverwalters und Aufsichtsratsmitglieds. Die Rechtsprechung leitet aus der Aufzählung der Beispiele ab, dass es sich bei der sonstigen selbständigen Tätigkeit in erster Linie um gelegentliche Tätigkeiten handelt114. Beruflich ausgeübte Tätigkeiten fallen nur dann ausnahmsweise unter die Norm, wenn sie im Kern die Verwaltung fremden Vermögens betreffen115. Deshalb wird unter § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG z. B. auch die Tätigkeit eines Insolvenzverwalters gefasst116. Davon unterscheidet sich die Geschäftsführertätigkeit eines Kapitalgesellschafters für seine Kapitalgesellschaft aber dadurch, dass sich der unternehmerische Erfolg oder Misserfolg dieser Tätigkeit unmittelbar auf das Vermögen des Gesellschafters (z. B. im Wert der Beteiligung, im Gewinnausschüttungspotential) positiv oder negativ auswirkt. Ebenso wenig kann die Geschäftsführungstätigkeit mit der eines Aufsichtsrats verglichen werden117. Deshalb überzeugt die vom österreichischen VwGH vorgenommene Qualifizierung der Tätigkeit eines beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführers für eine gewerbliche Kapitalgesellschaft (s. oben V.1) als sonstige selbständige Arbeit nicht. Da keine vorrangige Zuordnung zu den Einkünften aus § 18 EStG – abgesehen von Freiberufler-Kapitalgesellschaften – in Betracht kommt, bleibt die Einordnung der Tätigkeit des geschäftsführenden Kapitalgesellschafter-Geschäftsführers als Gewerbebetrieb i. S. d. § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Dass sich der Gesellschafter-Geschäftsführer dabei allein für „seine“ Kapitalgesellschaft unternehmerisch engagiert, schadet nicht. Die Funktion des Merkmals der „Teilnahme am wirtschaftlichen Verkehr“ erschöpft sich darin, das Markteinkommen von sonstigen Vermögensmehrungen zu trennen118. Dabei ist es nicht erforderlich, dass der Steuerpflichtige seine Leistungen einer Mehrzahl von

__________ 114 BFH v. 26.10.1977 – I R 110/76, BStBl. II 1978, 137 (139); v. 28.6.2001 – IV R 41/03, BStBl. II 2002, 338 (339) = FR 2005, 997. 115 BFH v. 28.8.2003 – IV R 1/03, BStBl. II 2004, 112 (113) = FR 2004, 283; v. 28.4.2005 – IV R 41/03, BStBl. II 2005, 611 (612) = FR 2005, 997; s. auch R. Wacker in Schmidt (Fn. 37), § 18 EStG Rz. 141 m. w. N.; U. Hutter in Blümich (Fn. 73), § 18 EStG Rz. 172 (Juni 2008). 116 BFH v. 12.12.2001 – XI R 56/00, BStBl. II 2002, 202 (203); v. 14.7.2008 – VIII B 179/07, BFH/NV 2008, 1874; dazu krit. FG Köln v. 28.5.2008 – 12 K 3735/05, EFG 2008, 1876 (Rev. VIII R 29/08); R. Seer, Der Rechtsanwalt als Gewerbetreibender i. S. d. § 15 Abs. 2 EStG?, in FS für Hartung, München 2008, 203 (206 ff.). 117 Siehe nur BFH v. 28.8.2003 – IV R 1/03, BStBl. II 2004, 112 (113 f.) = FR 2004, 283. 118 J. Lang in Tipke/Lang (Fn. 5) § 9 Rz. 123; R. Wacker in Schmidt (Fn. 37), § 15 EStG Rz. 20.

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Interessenten anbietet bzw. Angebote derselben annimmt119. Wie der BFH mittlerweile ebenfalls in einer Reihe von Urteilen festgestellt hat, kann auch die Tätigkeit für nur einen bestimmten Vertragspartner eine Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr sein120. Dass der beherrschende Gesellschafter-Geschäftsführer auf nachhaltige Weise mit Gewinnerzielungsabsicht Markteinkommen erwirtschaftet, daran bestehen keine Zweifel. Deshalb ist seine Tätigkeit als ein Gewerbebetrieb i. S. d. § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG einzuordnen121. Nun mag man sich daran stören, dass es zu einer Verdoppelung der Gewerbebetriebe kommt: Die GmbH unterhält gem. § 8 Abs. 2 KStG einen Gewerbebetrieb kraft Rechtsform, der sie beherrschende GmbH-Gesellschafter/Geschäftsführer einen Einzel-Gewerbetrieb kraft typologischer Gesamtbetrachtung seines selbständigen unternehmerischen Engagements gem. § 15 Abs. 2 EStG. An eine solche Verdoppelung von Gewerbebetrieben hat man sich indessen mit dem von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsinstitut der Betriebsaufspaltung seit mehr als 70 Jahren gewöhnt. Zwar konnte man bezweifeln, ob für diese Rechtsfortbildung überhaupt eine gesetzliche Grundlage bestand122. Die Zeit ist aber darüber hinweggegangen. Die Rechtsprechung hat sich davon nicht beeindrucken lassen und die Betriebsaufspaltung in den vergangenen Jahrzehnten sogar weiter ausgebaut. Für die sachliche Verflechtung von Besitz- und Betriebsunternehmen reicht mittlerweile die Überlassung von jeder Art eines materiellen oder immateriellen Wirtschaftsguts, das eine wesentliche Betriebsgrundlage des Betriebsunternehmens ist, aus123. Nach der neueren Rechtsprechung des BFH begründet etwa auch die Überlassung von Büround Verwaltungsgebäuden, die eine funktionale Grundlage für die Geschäftstätigkeit des Besitzunternehmens bilden, eine Betriebsaufspaltung124. Dasselbe gilt für die pachtweise Überlassung des Kundenstamms (des Firmenwerts), von

__________ 119 Eingehend W. Schön, Zum Merkmal der „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ i. S. v. § 15 Abs. 2 EStG, FS für K. Vogel, Heidelberg 2000, 661 (680 f.). 120 BFH v. 2.12.1998 – X R 83/96, BStBl. II 1999, 534 (538 f.) = FR 1999, 521: selbständiger Rundfunkermittler im Auftrag des NDR; v. 15.12.1999 – I R 16/99, BStBl. II 2000, 404 (405) = FR 2000, 716 m. Anm. P. Fischer: Geschäftsbeziehung eines Computerunternehmens allein mit der NATO; v. 16.5.2002 – IV R 94/99, BStBl. II 2002, 565 (566) = FR 2002, 1004: Tätigkeit eines selbständigen Berufspiloten nur für eine Fluggesellschaft; v. 22.1.2003 – X R 37/00, BStBl. II 2003, 464: gewerbliche Vermietung eines Wohnmobils an nur einen Kunden. 121 Vgl. auch FG Saarl. v. 27.8.1991 – 1 K 64/91, EFG 1992, 70, für einen selbständigen Fremd-Geschäftsführer einer GmbH. 122 Mit guten Gründen B. Knobbe-Keuk, Rechtsfortbildung als Aufgabe des obersten Steuergerichts; erlaubte und unerlaubte Rechtsfortbildung durch den Bundesfinanzhof, Festschrift RFH/BFH, Bonn 1993, 303 (319 f.); s. auch die Kritik in Fn. 80. 123 Umfassende Nachweise bei R. Wacker in Schmidt (Fn. 37) § 15 Rz. 808 ff.; R. Gluth in Herrmann/Heuer/Raupach (Fn. 37) § 15 Anm. 810 ff. (März 2009). 124 Siehe BFH v. 23.5.2000 – VIII R 11/99, BStBl. II 2000, 621 (622) = FR 2001, 33 m. Anm. P. Fischer; v. 1.7.2003 – VIII R 24/01, BStBl. II 2003, 757 (758) = FR 2003, 963 m. Anm. M. Kempermann; v. 13.7.2006 – IV R 25/05, BStBl. II 2006, 804 (805) = FR 2007, 44; v. 14.2.2007 – XI R 30/05, BStBl. II 2007, 524 (526) = FR 2007, 891.

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Personenunternehmerbesteuerung – Willkürlichkeit des Einkunftsarten-Steuerrechts

Werberechten oder von Know-how als immaterielle Wirtschaftsgüter125. Überlässt der beherrschende Gesellschafter/Geschäftsführer der GmbH seine vollständige Arbeitskraft, so ist dieses Humankapital nicht minder eine wesentliche Betriebsgrundlage, von dem die wirtschaftliche Existenz und der geschäftliche Erfolg der GmbH entscheidend abhängen können. Seine Unternehmensentscheidungen beeinflussen ganz wesentlich die Entwicklung des Firmenwerts, der Marke und ganz allgemein die wirtschaftliche Prosperität der GmbH. Besonders deutlich wird es am Beispiel einer neu gegründeten, praktisch kapitallosen UG (§ 5a GmbHG). Hier entscheidet die Arbeitskraft, Geschäftsidee und das Geschick des Gesellschafter/Geschäftsführers regelmäßig darüber, ob sich die UG am Markt etabliert und entwickelt oder kurze Zeit später wieder davon verschwindet. Wenn die bloße Vermietung eines Bürogebäudes eines Mehrheitsgesellschafters einer GmbH ausreicht, um einen Gewerbebetrieb zu begründen und die GmbH-Beteiligung im Wege einer Betriebsaufspaltung zu dessen Betriebsvermögen zu machen, ist es wertungsmäßig nur konsequent, in der Überlassung seiner gestaltenden Arbeitskraft durch den beherrschenden Gesellschafter/Geschäftsführer ebenfalls einen Gewerbebetrieb zu sehen. Der gewerbliche Charakter des Geschäftsführungsbetriebes durch den Gesellschafter/Geschäftsführer einer GmbH führt schließlich auch gewerbesteuerlich zu sinnvolleren Ergebnissen. Das Gewerbesteuersubstrat einer personalistisch geprägten GmbH wird regelmäßig durch den Betriebsausgabenabzug der Gesellschafter-Geschäftsführergehälter ausgezehrt, während die Tätigkeitsvergütungen eines Mitunternehmers einer Personengesellschaft im Gewerbesteuerertrag nach § 7 GewStG i. V. m. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erfasst werden. Diese ungleiche Behandlung einer gewerblichen Wertschöpfung vermeidet die Annahme eines Einzel-Gewerbebetriebes und die damit verbundene Gewerbesteuerpflicht beim Gesellschafter/Geschäftsführer, indem der Betriebsausgabenabzug auf der Ebene des Gesellschafter/Geschäftsführers wieder kompensiert wird. Wirtschaftlich vergleichbare Sachverhalte werden damit auch wirtschaftlich gleich besteuert: Die Tätigkeitsvergütungen sowohl des Mitunternehmers als auch des beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführers unterliegen der Gewerbesteuer. Zugleich findet bei beiden Personenunternehmern die Steuerermäßigung des § 35 EStG Anwendung. 3. Umfang der gewerblichen Einkünfte i. S. d. § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG Der österreichische Verwaltungsgerichtshof isoliert von den Einkünften aus sonstiger selbständiger Geschäftsführertätigkeit (§ 22 Nr. 2 öEStG) die laufenden Gewinnausschüttungen als Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 öEStG) und den Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung an der Kapitalgesellschaft als private Veräußerungseinkünfte (§ 31 Abs. 1 öEStG).

__________ 125 Vgl. BFH v. 13.12.2005 – XI R 45/04, BFH/NV 2006, 1453 (1454); v. 8.2.2007 – IV R 65/01, BStBl. II 2009, 699 (701) = FR 2007, 796 m. Anm. H.-J. Kanzler; v. 5.6.2008 – IV R 79/05, BStBl. II 2009, 15 (19).

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Diese Trennung begründet er mit dem natürlichen Interessengegensatz zwischen dem Geschäftsführer und dem Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft (s. oben V.1). Jedoch besteht dieser Interessengegensatz nur zwischen einem Fremdgeschäftsführer und den Gesellschaftern. Mit Recht hat Nikolaus Zorn gegen diese Betrachtung eingewendet, dass der Geschäftsführer ohne seine Gesellschaftsbeteiligung gar nicht zum Geschäftsführer bestellt worden wäre126. Jedenfalls beim beherrschenden Personenkapitalgesellschafter-Geschäftsführer existiert keinerlei Widerspruch zwischen seinem Interesse aus dem Blickwinkel der Geschäftsführer- und dem Blickwinkel der Gesellschafterposition. Die Mitgliedschaftsrechte vermitteln einen weitergehenden Einfluss auf die Gesellschaft und bilden die Grundlage der selbständigen Geschäftsführertätigkeit. Im Ergebnis verschmelzen damit die Tätigkeit als Geschäftsführer und die Mitgliedschaft in einer einheitlichen betrieblichen Sphäre127. Bei der gebotenen Gesamtschau und wirtschaftlicher Interpretation des Einkunftskatalogs des § 2 Abs. 1 EStG ist die verbreitete (Fehl-)Vorstellung aufzugeben, die geschäftsführende Tätigkeit und die Mitgliedschaft müssten zwingend isoliert gewürdigt werden. Die Zergliederung eines Lebensverhaltes findet ihre Grenze dort, wo sich verschiedene Tätigkeiten des Steuerpflichtigen gegenseitig bedingen und derart miteinander verflochten sind, dass die Gesamttätigkeit nach der Verkehrsanschauung als eine einheitliche angesehen werden muss128. Soweit es möglich ist, sollen „nur“ diejenigen Tätigkeiten getrennt beurteilt werden, welche auch die Verkehrsauffassung als unterschiedliche Typen begreift. Die Tätigkeit des Gesellschafter-Geschäftsführers wird künstlich atomisiert, wenn die herrschende Auffassung mit ihrer scheibenweisen Betrachtung ohne Rücksicht auf den Einzelfall die Tätigkeit eines Gesellschafter-Geschäftsführers in Organstellung und Mitgliedschaft zerlegt. Es ist gerade mit Blick auf die alleinigen und beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer gar nicht möglich, danach zu differenzieren, in welcher Funktion ein und dieselbe Person das Tagesgeschäft plant, vorbereitet, überwacht und abwickelt, die Grundsätze der Geschäftspolitik definiert und diese mit Verbindlichkeit vorgibt, die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen im Markt positioniert sowie langfristige Strategien hierzu entwickelt129. In tatsächlicher Hinsicht ist es das nicht aufspaltbare unternehmerische Streben, die unternehmerische Entfaltungsfreiheit, die diese Personen antreibt und zum persönlichen Engagement motiviert. Die persönliche Verantwortung für das Unternehmen, verstanden als die Rückführbarkeit der Geschäftstätigkeit auf den Gesellschafter, bildet vielmehr ein Bindeglied zwischen den formal verschiedenen Rechtsstellungen. Die Einflussnahme solcher Gesellschafter-Geschäftsführer auf die Tätigkeit der Kapitalgesellschaft kann nicht formal-juristisch entweder der Mitgliedschaft oder der Organfunktion zugerechnet werden. Liegt ein solcher Fall vor, in welchem die unternehmerische Entfaltung im Sinne eines persön-

__________ 126 N. Zorn (Fn. 94), RdW 1991, 90. 127 R. Seer/M. Krumm (Fn. 47), 45 (55). 128 BFH v. 21.12.1976 – VIII R 27/72, BStBl. II 1977, 244 (245); BFH v. 21.4.1994 – IV R 99/93, BStBl. II 1994, 650 (652) = FR 1994, 607. 129 R. Seer/M. Krumm (Fn. 47), 45 (55 f.).

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Personenunternehmerbesteuerung – Willkürlichkeit des Einkunftsarten-Steuerrechts

lichen Engagements des Gesellschafter-Geschäftsführers zu einer einheitlich zu beurteilenden Verantwortung für das Unternehmen zwingt, muss diese Tätigkeit sodann auch steuerrechtlich in ihrer Gesamtheit gewürdigt und einheitlich derjenigen Einkunftsart zugeordnet werden, deren Typus sie am weitestgehenden entspricht130. Dies ist die unternehmerisch gewerbliche Geschäftsführertätigkeit des Personenkapitalgesellschafters, die der personalistischen Kapitalgesellschaft ihren Stempel aufdrückt. Folgerichtig gehört die Beteiligung an der Kapitalgesellschaft zum Betriebsvermögen i. S. d. § 4 EStG. Sowohl die Gewinnausschüttungen als auch Veräußerungsgewinne unterfallen damit den Einkünften aus Gewerbebetrieb und dem Teileinkünfteverfahren nach § 3 Nr. 40 lit. a, b) EStG. Die Abgeltungsteuer findet keine Anwendung, des Optionsrechts nach § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG bedarf es nicht.

VII. Fazit Das derzeitige Einkunftsartenbilder-Steuerrecht verfehlt die wirtschaftlichen Realitäten der Personenunternehmer. Ihm fehlt die innere Sachgesetzlichkeit, es ist willkürlich. Entgegen der ganz h. M. ist ein geschäftsführender beherrschender Personenkapitalgesellschafter kein Arbeitnehmer, sondern ein Gewerbetreibender i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Seine Beteiligung an der Kapitalgesellschaft bildet notwendiges Betriebsvermögen des Gewerbebetriebs mit der Folge, dass auch die laufenden Gewinnausschüttungen sowie der Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung selbst ebenfalls zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehören. Diese Neubestimmung des unternehmerischen Personenkapitalgesellschafters als Gewerbetreibenden verhindert de lege lata wenigstens einen Wertungswiderspruch zur Mitunternehmerbesteuerung des Personengesellschafters ebenso wie zum richterrechtlich entwickelten Institut der Betriebsaufspaltung. De lege ferenda ist zu wünschen, dass der Gesetzgeber die zahlreichen weiterführenden Reformvorschläge des Jubilars131 zur rechtsformneutralen Unternehmensbesteuerung aufgreift. In deren Kontext gehört es auch, zu dem der Besteuerungsgleichheit verpflichteten Prinzip der synthetischen Einkommensteuer zurückzukehren und die Zahl der Einkunftsarten auf das gerade Notwendige deutlich zu reduzieren.

__________ 130 Vgl. BFH v. 16.11.1978 – IV R 191/74, BStBl. II 1979, 246; O. Zugmaier in Hermann/ Heuer/Raupach (Fn. 37), § 2 EStG Anm. 92 a. E. (August 2002). 131 Zum beeindruckenden Werk J. Langs s. die Laudationes in diesem Buch S. 1 ff. und von R. Seer, Joachim Lang sechzig Jahre, StuW 2000, 301 (bis 2000).

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Zur unsystematischen Behandlung von Einbringungen in und Ausbringungen aus einer gewerblichen Personengesellschaft* Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Ein- und Ausbringung zwischen einer gewerblichen Personengesellschaft und ihren Gesellschaftern 1. Die Einbringung einzelner Wirtschaftsgüter aus einem und die Ausbringung in ein Privatvermögen a) Übertragungen gegen Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten b) Die unentgeltliche Einbringung und Ausbringung aus einem und in ein Privatvermögen 2. Die Einbringung von Einzelwirtschaftsgütern aus einem Betriebsvermögen und Ausbringung in ein Betriebsvermögen

3. Die Ein- und Ausbringung von Teilbetrieben, Betrieben und Mitunternehmeranteilen a) Einbringung b) Ausbringung III. Steuerlich ungleich behandelte Einund Ausbringungen 1. Die Ausbringung betrieblicher Einheiten 2. Die Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Schwestergesellschaften 3. Die Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern des Privatvermögens gegen Gesellschaftsrechte auf eine und aus einer Personengesellschaft V. Fazit

I. Einleitung Der Vermögenstransfer zwischen einer gewerblichen Personengesellschaft1 und ihren Gesellschaftern kann als Verkauf oder als Ein-/Ausbringung gestaltet sein. Beim Verkauf werden grundsätzlich die stillen Reserven aufgedeckt. Sie sind, soweit ein steuerpflichtiger Veräußerungstatbestand vorliegt, vom Veräußerer zu versteuern. Im Vergleich dazu ist die steuerliche Behandlung der Ein- und Ausbringung sehr heterogen. Sie reicht von der Vollversteuerung der stillen Reserven durch den Übertragenden bis zur Buchwertfortführung, verbunden mit dem Überspringen stiller Reserven auf andere Rechtspersonen, und ist davon abhängig, ob eine Ein- oder Ausbringung vorliegt, ob diese gegen Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten oder als Einlage oder Entnahme erfolgt. Des Weiteren hängt sie davon ab, welche Art von Vermögen

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* Das Manuskript wurde im Januar 2010 abgeschlossen. 1 Gleiches gilt für andere betriebliche Personengesellschaften. Hiervon zu unterscheiden ist die steuerliche Behandlung der Übertragungen zwischen einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft und ihren Gesellschaftern. Hier gilt die Bruchteilsbetrachtung nach § 39 Abs. 2 AO.

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(Wirtschaftsgüter des Privat- oder Betriebsvermögens oder betriebliche Sachgesamtheiten) übertragen wird. Nachfolgend soll die steuerliche Behandlung der Ein- und Ausbringung von Wirtschaftsgütern des Privat- und Betriebsvermögens sowie betrieblicher Sachgesamtheiten dargestellt und die unterschiedliche Behandlung herausgearbeitet werden. Dabei werden unter Ein- und Ausbringung solche Vermögenstransfers zwischen einer Personengesellschaft und ihren Gesellschaftern verstanden, die gegen Gutschrift oder Belastung von Gesellschafterkapitalkonten erfolgen2.

II. Die Ein- und Ausbringung zwischen einer gewerblichen Personengesellschaft und ihren Gesellschaftern Einbringungen erfolgen gegen Gutschrift auf Gesellschafterkapitalkonten. Dabei ist zwischen Übertragungen gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten und Einlagen zu unterscheiden. Eine Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten liegt vor, wenn die Übertragung gegen Gutschrift auf einem Beteiligungskonto oder einem Beteiligungskonto und einem Kapitalrücklagekonto erfolgt3. Noch unklar ist, in welchen Fällen von einer unentgeltlichen Übertragung auszugehen ist. Nach BMF handelt es sich nur bei der Übertragung gegen Gutschrift auf einem gesamthänderisch gebundenen Rücklagekonto um eine Einlage, während im Fall der Gutschrift auf einem Kapitalkonto II eine Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten vorliegen soll4. Der BFH hat diese Frage bisher offen gelassen5. M. E. ist die Übertragung gegen Gutschrift auf dem Kapitalrücklagekonto und auf einem gesamthänderisch gebundenen Rücklagekonto als Einlage zu qualifizieren, da weder die Gutschrift auf einem Kapitalrücklagekonto noch die auf einem gesamthänderisch gebundenen Rücklagenkonto Gesellschaftsrechte vermittelt.6 Denn die Höhe der Gesellschaftsrechte richtet sich ausschließlich nach dem Beteiligungskonto. Dies entspricht in der Regel bei den verschiedenen Kontenmodellen dem Kapitalkonto I7.

__________ 2 Zur Abgrenzung der Gesellschafterkapitalkonten von den Gesellschafterdarlehenskonten s. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 = FR 2009, 578 m. Anm. Kempermann sowie mit weiteren Nachweisen Ley, DStR 2009, 613, sowie dieselbe KÖSDI 2009, 16679, mit weiteren Nachweisen. 3 Siehe BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464 = FR 2008, 1149; sowie Ley, KÖSDI 2009, 16678 (16681 f.). 4 Siehe BMF v. 26.11.2004 – IV B 2 - S 2178 - 2/04, BStBl. I 2004, 1190 = FR 2005, 114; hieran hat sich auch durch das neue BMF v. 20.5.2009 – IV C 6 - S 2134/07/10005, BStBl. I 2009, 671 = FR 2009, 639, nichts geändert, da insoweit die Aussagen des bisherigen Schreibens unverändert geblieben sind. 5 Siehe BFH v. 24.1.2008 – IV R 37/06, FR 2008, 912 m. Anm. Wendt = BFH/NV 2008, 854. 6 Siehe Ley, KÖSDI 2009, 16679 (16683). 7 Zu den Kontenmodellen s. u. a. BFH v. 16.10.2008 – IV R 98/06, BStBl. II 2009, 272 = FR 2009, 578 m. Anm. Kempermann sowie Ley, DStR 2009, 613; KÖSDI 1994, 9972.

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Einbringungen in und Ausbringungen aus einer gewerblichen Personengesellschaft

Ausbringungen liegen vor, wenn Vermögen aus der Personengesellschaft auf den Gesellschafter gegen Minderung der Gesellschafterkapitalkonten übertragen wird. Ausbringungen können gegen Minderung von Gesellschaftsrechten erfolgen oder als Entnahme gestaltet sein. Wie bei der Einbringung dürfte es sich um eine Übertragung gegen Minderung von Gesellschaftsrechten handeln, wenn die Gegenbuchung auf dem Beteiligungskonto oder dem Beteiligungskonto und dem Kapitalrücklagekonto erfolgt. Eine unentgeltliche Übertragung dürfte vorliegen, wenn ausschließlich das Kapitalrücklagekonto oder das gesamthänderisch gebundene Rücklagenkonto gemindert wird8. 1. Die Einbringung einzelner Wirtschaftsgüter aus einem und die Ausbringung in ein Privatvermögen Bei der steuerlichen Behandlung von Ein- und Ausbringungen im Zusammenhang mit Privatvermögen ist zwischen Übertragungen gegen Gewährung und Minderung von Gesellschaftsrechten einerseits und unentgeltlichen Übertragungen andererseits zu unterscheiden, da damit unterschiedliche Steuerrechtsfolgen verbunden sind. a) Übertragungen gegen Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten Die Einbringung einzelner Wirtschaftsgüter aus einem Privatvermögen in eine gewerbliche Personengesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten ist eine Veräußerung des Gesellschafters an die Personengesellschaft und eine Anschaffung der Personengesellschaft. Die Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Privatvermögens ist grundsätzlich einkommensteuerlich irrelevant. Nur ausnahmsweise liegt ein einkommensteuerpflichtiges Veräußerungsgeschäft vor. Dies ist der Fall, wenn es sich um eine steuerpflichtige Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft i. S. d. § 17 EStG, von Kapitalvermögen i. S. d. § 20 Abs. 2 EStG oder um ein nach § 22 Nr. 2 EStG steuerpflichtiges privates Veräußerungsgeschäft i. S. d. § 23 EStG handelt. Gleiches gilt für die Veräußerung von einbringungsgeborenen Anteilen i. S. d. § 21 UmwStG a. F. Die als einkommensteuerpflichtige Veräußerungen zu qualifizierenden Einbringungen führen grundsätzlich zur Aufdeckung stiller Reserven in der Person des Veräußerers und zu Anschaffungen der erwerbenden Personengesellschaft. Hierbei werden keine stillen Reserven vom Gesellschafter auf die Personengesellschaft verlagert. Die Einordnung der Übertragung von Wirtschaftsgütern des Privatvermögens gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten als Veräußerung ist vergleichsweise neu. Sie geht auf eine Entscheidung des BFH aus dem Jahre 19989 zu-

__________ 8 A. A. u. U. BMF, welches unter Berücksichtigung der zu Einbringungen vertretenen Rechtsauffassung die Belastung des Kapitalrücklagekontos als Minderung von Gesellschaftsrechten einordnen müsste. 9 BFH v. 19.10.1998 – VIII R 69/95, BStBl. II 2000, 230 = FR 1999, 300, dem sich die Finanzverwaltung angeschlossen hat, BMF v. 29.3.2000 – IV C 2 - S 2178 - 4/00, BStBl. I 2000, 462 = FR 2000, 635.

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rück. Bis zu dieser Entscheidung behandelte die Finanzverwaltung diese Übertragung als Einlage10, die bei steuerverstrickten Wirtschaftsgütern des Privatvermögens nicht zu einer steuerwirksamen Entstrickung führe. Vielmehr wurden grundsätzlich die stillen Reserven auf die das Wirtschaftsgut übernehmenden Personengesellschaft verlagert11. Auch im umgekehrten Fall der Ausbringung eines Wirtschaftsguts aus der Personengesellschaft in das Privatvermögen des Gesellschafters gegen Minderung von Gesellschaftsrechten dürfte es sich um einen Tausch handeln. Denn Gesellschaftsrechte werden gegen Wirtschaftsgüter getauscht12. Damit liegen zwei Veräußerungen und zwei Anschaffungen vor. Zum einen verkauft der Gesellschafter Gesellschaftsrechte, was auf der Ebene der Personengesellschaft zu nachträglichen Anschaffungskosten bei den vorhandenen Wirtschaftsgütern und damit zu einer entsprechenden Buchwertaufstockung führt. Soweit sämtliche Gesellschaftsrechte an der Gesellschaft verkauft werden, handelt es sich um ein Ausscheiden eines Personengesellschafters gegen Sachabfindung und damit um eine begünstigte Veräußerung von Mitunternehmeranteilen gem. §§ 16, 34 EStG, anderenfalls um einen laufenden Gewinn des seine Quote reduzierenden Gesellschafters nach § 16 Abs. 1 Satz 2 EStG. Zum anderen verkauft die Personengesellschaft das auf den Gesellschafter übertragene, und zwar gegebenenfalls aufgestockte Wirtschaftsgut, was zu einem laufenden Gewinn der Personengesellschaft führt, der den verbliebenen Gesellschaftern grundsätzlich in Quote zuzurechnen ist. Der Gesellschafter schafft das Wirtschaftsgut an. Die Ausbringung in ein Privatvermögen gegen Minderung von Gesellschaftsrechten führt zu einer Entstrickung, bei der die Gesellschafter die in ihrer Person entstandenen stillen Reserven zu versteuern haben. Dies geschieht beim ausscheidenden bzw. seine Beteiligungsquote reduzierenden Gesellschafter über den Gewinn aus der Veräußerung der Anteile und bei den verbleibenden Gesellschaftern über den um den Aufstockungsbetrag reduzierten Gewinn aus der Übertragung des Wirtschaftsguts. b) Die unentgeltliche Einbringung und Ausbringung aus einem und in ein Privatvermögen Bei der unentgeltlichen Einbringung handelt es sich um eine Einlage i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 7 EStG, da ein Wirtschaftsgut aus der außerbetrieblichen Sphäre in die betriebliche übergeht. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG sind Einlagen grundsätzlich mit dem Teilwert im Zeitpunkt der Zuführung anzusetzen. Sie sind allerdings in bestimmten Fällen höchstens mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten anzusetzen. Die niedrigeren Anschaffungs- und Herstellungskosten sind nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a EStG maßgeblich, wenn das zugeführte Wirtschaftsgut innerhalb der letzten drei Jahre vor dem Zeitpunkt der Zu-

__________ 10 BMF v. 20.12.1977 – IV B 2 - S 2241 - 231/77, BStBl. I 1978, 8 Tz. 49. 11 Zu den Rechtsfolgen im Einzelnen s. nachfolgend unter b). 12 Siehe ausführlich Ley, KÖSDI 2009, 16678 (16692 f.) m. w. N.

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führung angeschafft oder hergestellt worden ist. Des Weiteren sind sie nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b und c EStG anzusetzen, wenn eine Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft i. S. d. § 17 EStG13 oder ein Wirtschaftsgut i. S. d. § 20 Abs. 2 EStG in eine Personengesellschaft eingelegt wird. Der Ansatz der Einlage mit dem Teilwert führt zum Ansatz des Wirtschaftsguts mit dem tatsächlichen Wert bei der Personengesellschaft. Stille Reserven gehen nicht auf die Personengesellschaft über, sie können mithin auch nicht auf andere Personengesellschafter überspringen. Zu einem anderen Ergebnis führt allerdings der Ansatz von unter dem Teilwert liegenden Anschaffungsoder Herstellungskosten. Ihr Ansatz führt zu einer Übertragung der stillen Reserven vom Personengesellschafter auf die Personengesellschaft und damit zu einem Überspringen von stillen Reserven auf andere Personen, soweit an der Personengesellschaft weitere Personen beteiligt sind. Im Zusammenspiel von Einlage und privatem Grundstücksveräußerungsgeschäft i. S. d. § 23 EStG stellt sich die Rechtslage anders dar. Wird ein Grundstück des Privatvermögens innerhalb einer 10-Jahresfrist des § 23 Abs. 1 Nr. 1 EStG in eine Personengesellschaft eingelegt, liegt keine Veräußerung i. S. d. § 22 Nr. 2 EStG i. V. m. § 23 EStG vor. Das übertragene Grundstück ist gem. § 6 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b EStG mit dem Teilwert oder höchstens mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten anzusetzen, wenn es innerhalb der letzten drei Jahre vor dem Zeitpunkt der Einlage angeschafft oder hergestellt worden ist. Eine spätere Veräußerung des Grundstücks durch die Personengesellschaft gilt dann nachträglich als Veräußerung i. S. d. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, wenn die Veräußerung aus dem Betriebsvermögen innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren seit der Anschaffung des Wirtschaftsguts erfolgte. Bei der Ermittlung des Gewinns aus dem privaten Veräußerungsgeschäft tritt gem. § 23 Abs. 3 Satz 2 EStG an die Stelle des Veräußerungspreises der für den Zeitpunkt der Einlage nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG angesetzte Einlagewert. Dieser entspricht bei Einlage innerhalb von drei Jahren nach Anschaffung oder Herstellung den fortgeführten Anschaffungs- oder Herstellungskosten danach dem Teilwert. Wie auch in den vorerwähnten Fällen führt der unter dem Teilwert liegende Ansatz der Anschaffungs- und Herstellungskosten zu einem Überspringen stiller Reserven, während dieses bei Ansatz des Teilwerts unterbleibt. 2. Die Einbringung von Einzelwirtschaftsgütern aus einem Betriebsvermögen und Ausbringung in ein Betriebsvermögen Bei der Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern des Betriebsvermögens eines Personengesellschafters auf die Personengesellschaft gegen Gewährung von

__________ 13 Zur Problematik eines unter den Anschaffungskosten liegenden Teilwerts und der fehlenden Verlustrealisierung s. BFH v. 15.5.2008 – X R 48/02, BFH/NV 2008, 2111, sowie Ley, KÖSDI 2009, 16768 (16690). Der BFH lässt hier entgegen dem Gesetzeswortlaut den Ansatz der höheren ursprünglichen Anschaffungskosten zu, damit nach § 17 EStG zu berücksichtigende Verluste nicht verloren gehen.

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Gesellschaftsrechten handelt es sich grundsätzlich um einen tauschähnlichen Vorgang und damit um eine Veräußerung14. Nach § 6 Abs. 5 Satz 3 Nrn. 1, 2 EStG sind die Wirtschaftsgüter zum Buchwert zu übertragen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist. Damit scheidet das Wirtschaftsgut aus dem Betriebsvermögen des Gesellschafters zum Buchwert aus, wodurch eine Gewinnrealisierung unterbleibt. Die übernehmende Personengesellschaft hat das Wirtschaftsgut im Gegenzug mit dem Buchwert anzusetzen. Wird allerdings das übertragene Wirtschaftsgut innerhalb einer Frist von drei Jahren nach Übertragung veräußert oder entnommen, ist rückwirkend auf den Zeitpunkt der Übertragung der Teilwert anzusetzen. Die Sperrfrist endet drei Jahre nach Abgabe der Steuererklärung des Übertragenden für den Veranlagungszeitraum, in dem die Übertragung erfolgt. Der Teilwert ist indes nicht rückwirkend anzusetzen, wenn die bis zur Übertragung entstandenen stillen Reserven durch Erstellung einer Ergänzungsbilanz dem übertragenden Gesellschafter zugeordnet worden sind. Der Teilwert ist auch anzusetzen, soweit der Anteil einer Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse an dem Wirtschaftsgut unmittelbar oder mittelbar begründet wird oder dieser sich erhöht. Der Teilwert ist aber wiederum rückwirkend auf den Zeitpunkt der Übertragung anzusetzen, soweit innerhalb von sieben Jahren nach der Übertragung des Wirtschaftsguts nach Satz 3 der Anteil einer Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse an dem übertragenden Wirtschaftsgut aus einem anderen Grund mittelbar oder unmittelbar begründet wird oder dieser sich erhöht. Unentgeltliche Übertragungen i. S. d. § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG sind ebenso zu behandeln. Im umgekehrten Fall der Ausbringung gilt Entsprechendes. Denn auch Übertragungen aus dem Gesamthandsvermögen einer Personengesellschaft gegen Minderung von Gesellschaftsrechten oder unentgeltliche Übertragung in das Betriebsvermögen oder Sonderbetriebsvermögen eines Personengesellschafters erfolgen grundsätzlich nach § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1, 2 EStG zum Buchwert und damit erfolgsneutral.15 Es gelten nach § 6 Abs. 5 Sätze 4 bis 6 EStG die gleichen Sperrfristregeln und die gleichen Einschränkungen für den Buchwertansatz wie im Fall der Einbringung. Im Gegensatz zur Einbringung scheidet m. E. allerdings im Fall des Buchwertansatzes die Bildung einer Ergänzungsbilanz zur Vermeidung einer interpersonellen Übertragung stiller Reserven aus, da Ergänzungsbilanzen nur als Ergänzungen zur gesamthänderischen Steuerbilanz gebildet werden können.16 Der im Regelfall für Ein- und Ausbringungen im Zusammenhang mit Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens vorgeschriebene Buchwertansatz kann zur intersubjektiven Übertragung stiller Reserven des übertragenen Wirtschafts-

__________ 14 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464 = FR 2008, 1149. 15 Siehe OFD Koblenz v. 20.6.2006, Lexinform Dokument 5230260; Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 668. 16 Siehe Ley, KÖSDI 2001, 12982 (12993), sowie zu Einzelheiten der Bildung von Ergänzungsbilanzen ebenda.

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guts führen. Für den Buchwertansatz ist es im Grundsatz ausreichend, dass die Besteuerung der stillen Reserven sicher gestellt ist. Ein interpersonelles Überspringen stiller Reserven kann in Einbringungsfällen vermieden werden, wenn die stillen Reserven des übertragenen Wirtschaftsguts über Ergänzungsbilanzen dem Übertragenden zugeordnet werden, da dieser sie dann im Zeitpunkt der Realisierung zu versteuern hat17. Zudem wird ein Übergehen stiller Reserven durch den rückwirkenden Teilwertansatz nach § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG durch den Gesetzgeber versagt, wenn das zum Buchwert übertragene Wirtschaftsgut innerhalb der dreijährigen Sperrfrist veräußert oder entnommen wird. In diesem Fall ist die Differenz zwischen dem Teilwert und dem Buchwert beim Übertragenden zu erfassen. Es kommt zu einer Realisation von Gewinnen oder Verlusten bezogen auf dieses Wirtschaftsgut in der Person desjenigen, bei dem sie entstanden sind. Im Gegensatz zu den Übertragungen von Wirtschaftsgütern zwischen dem Betriebsvermögen eines Personengesellschafters und der Personengesellschaft und umgekehrt sollen Übertragungen zwischen zwei Gesamthandsvermögen nicht von § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG erfasst sein18. Ausweislich der Gesetzesmaterialien zum Unternehmenssteuer-Fortführungsgesetz sollen diese Übertragungen nicht zum Buchwert zulässig sein.19 Übertragungen zwischen Schwesterpersonengesellschaften sind danach grundsätzlich gewinnrealisierend, obwohl eine Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist. Dies soll selbst für den Fall gelten, dass es sich um beteiligungsidentische Schwestergesellschaften handelt und es durch die Übertragung nicht zu einer interpersonellen Verschiebung stiller Reserven kommen kann. 3. Die Ein- und Ausbringung von Teilbetrieben, Betrieben und Mitunternehmeranteilen a) Einbringung Nach § 24 Abs. 2 UmwStG hat die aufnehmende Personengesellschaft die von einem Gesellschafter gegen Einräumung einer Mitunternehmerstellung eingebrachten Betriebe, Teilbetriebe oder Mitunternehmeranteile in ihrer Gesamthandsbilanz einschließlich der Ergänzungsbilanzen für ihre Gesellschafter grundsätzlich mit dem gemeinen Wert anzusetzen. Abweichend hiervon kann nach § 24 Abs. 2 Satz 2 UmwStG auf Antrag der Buchwert oder ein höherer Wert, höchstens jedoch der gemeine Wert angesetzt werden, soweit das Recht

__________ 17 Siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, 846 f. m. w. N. M. E. beschränkt sich allerdings die Bildung der Ergänzungsbilanz auf das übertragene Wirtschaftsgut, so dass es in Bezug auf die bereits in der Personengesellschaft vorhandenen Wirtschaftsgüter durch eine veränderte Beteiligungsquote der Gesellschafter auch zum Überspringen stiller Reserven kommt, s. auch Ley, KÖSDI 2001, 12982 (12993). 18 So die Finanzverwaltung entgegen der überwiegenden Literaturmeinung, s. Schmidt/ Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 683, sowie Schmidt/Glanegger, EStG, 29. Aufl. 2010, § 6 Rz. 536 ff., beide m. w. N. 19 BT-Drs. 14/7343, S4; Brandenberg, NWB F 3, 15317 (15336).

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der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des eingebrachten Betriebsvermögens nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird. Der Wert, mit dem das eingebrachte Betriebsvermögen in der Gesamthandsbilanz der Personengesellschaft einschließlich der Ergänzungsbilanzen für die Gesellschafter angesetzt wird, gilt für die Einbringenden als Veräußerungspreis. Im Fall des Ansatzes des gemeinen Wertes ist der Veräußerungsgewinn nach §§ 16, 34 EStG zu besteuern. Die Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben oder Mitunternehmeranteilen erfolgt danach grundsätzlich zum gemeinen Wert und damit für den Einbringenden gewinnrealisierend. Bei unverändertem deutschem Besteuerungsrecht hat die aufnehmende Personengesellschaft aber ein Bewertungswahlrecht. Sie kann das eingebrachte Betriebsvermögen in ihrer Bilanz einschließlich Ergänzungsbilanzen mit dem Buchwert oder einem Zwischenwert anzusetzen. Für reine Inlandsfälle bleibt es damit bei dem Wahlrecht einer ganz oder teilweise erfolgsneutralen Behandlung der Einbringung. Im Fall der unentgeltlichen Übertragung von Betrieben, Teilbetrieben oder Mitunternehmeranteilen auf eine Personengesellschaft ist § 6 Abs. 3 EStG einschlägig. Nach § 6 Abs. 3 EStG sind die Buchwerte fortzuführen, wenn ein Betrieb, Teilbetrieb oder Anteil eines Mitunternehmers an einem Betrieb unentgeltlich übertragen wird. Eine unentgeltliche Übertragung in diesem Sinne dürfte vorliegen, wenn die Übertragung gegen Erhöhung eines Kapitalrücklagekontos oder eines gesamthänderisch gebundenen Kapitalkontos erfolgt20. Auch die Einbringung von betrieblichen Einheiten kann beim Ansatz der Buchoder Zwischenwerte zu einem Überspringen stiller Reserven führen, wenn dieses nicht durch die Bildung von Ergänzungsbilanzen verhindert werden kann und wird. b) Ausbringung Im Gegensatz zur Einbringung gibt es keine umfassende gesetzliche Regelung zur Ausbringung von betrieblichen Einheiten. § 16 Abs. 3 EStG regelt nur den Fall der Realteilung. Werden im Zuge der Realteilung einer Mitunternehmerschaft Teilbetriebe, Mitunternehmeranteile oder einzelne Wirtschaftsgüter in das jeweilige Betriebsvermögen der einzelnen Mitunternehmer übertragen, so sind bei der Ermittlung des Gewinns der Mitunternehmerschaft die übergehenden Wirtschaftsgüter zwingend mit dem Buchwert anzusetzen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist. Die übernehmenden Mitunternehmer sind an diese Werte gebunden. Dabei sind die Kapitalkonten der Realteiler an die Buchwerte der übernommenen Wirtschaftsgüter anzupassen21. Allerdings ist nach § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG für den jeweiligen Übertragungsvorgang rückwirkend der gemeine Wert anzusetzen, soweit bei einer Realteilung, bei der einzelne Wirtschaftgüter übertragen worden sind, zum

__________ 20 Siehe dazu vorangehend Gliederungspunkt II. 21 BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 = FR 2006, 339.

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Buchwert übertragener Grund und Boden, übertragene Gebäude oder andere übertragene wesentliche Betriebsgrundlagen innerhalb einer Sperrfrist von drei Jahren nach Übertragung veräußert oder entnommen werden. Des Weiteren sind die Realteilungsgrundsätze nach § 16 Abs. 3 Satz 4 EStG nicht anzuwenden, soweit Gegenstand der Realteilung einzelne Wirtschaftsgüter sind, die unmittelbar oder mittelbar auf eine Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse übertragen werden. Eine Ausbringung von Teilbetrieben, Betrieben und Mitunternehmeranteilen ist nach dem Gesetzeswortlaut nur in den Fällen der Realteilung zum Buchwert möglich. Unklar ist allerdings, in welchen Fällen eine Realteilung vorliegt. Nach Auffassung der Finanzverwaltung setzt die Realteilung die Beendigung der Mitunternehmerschaft voraus22. Nach anderer Auffassung23 reicht eine Teilbetriebsaufgabe durch die Mitunternehmerschaft aus. Entsprechendes dürfte für die Aufgabe des Betriebs und die Aufgabe eines Mitunternehmeranteils durch die Mitunternehmerschaft gelten. Nach wieder anderer Auffassung soll bereits die Aufgabe des Mitunternehmeranteils durch einen ausscheidenden Mitunternehmer ausreichen24. Realteilungsfälle sind in der Praxis selten, wenn die Realteilung, wie von der Finanzverwaltung angenommen, die Auflösung der Mitunternehnerschaft voraussetzt. Deshalb werden insbesondere Teilbetriebsausbringungen zu Buchwerten auch unter dem Blickwinkel einer reziprok-analogen Anwendung des § 24 UmwStG25 sowie einer analogen Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG26 diskutiert. Nach § 16 Abs. 3 EStG ist eine Realteilung nur in Betriebsvermögen der Realteiler möglich. Wie in Fällen des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG scheidet eine solche auf eine Schwesterpersonengesellschaft, an der der Realteiler beteiligt ist, aus.27 Im Fall der Realteilung zu Buchwerten dürfte es regelmäßig zu einer interpersonellen Übertragung stiller Reserven zwischen den Personengesellschaftern kommen, da nur selten die stillen Reserven in den auf die jeweiligen Gesellschafter übergehenden Wirtschaftsgütern den bisherigen Beteiligungsquoten entsprechen dürften. Dieses wird nur durch einen rückwirkenden Ansatz des gemeinen Werts beseitigt, wenn im Zuge der Realteilung einzelne Wirtschaftsgüter übertragen wurden und zum Buchwert übertragener Grund und Boden, übertragene Gebäude oder andere übertragene wesentliche Betriebsgrundlagen anschließend innerhalb der dreijährigen Sperrfrist veräußert oder entnommen werden.

__________ 22 BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 = FR 2006, 339. 23 Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 536. 24 Ley in Carle/Stahl/Strahl, Gestaltung und Abwehr im Steuerrecht, FS für Klaus Korn, 2005, S. 346 f. 25 Hageböke, Ubg 2009, 105. 26 Ley, KÖSDI 2010, 16814 (16816 ff.). 27 BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 = FR 2006, 339; Schmidt/ Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 546.

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III. Steuerlich ungleich behandelte Ein- und Ausbringungen Art. 3 Abs. 1 GG gebietet die gleichmäßige Lastenverteilung nach Maßgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit28. Das BVerfG räumt dem Gesetzgeber dabei eine weitgehende Gestaltungsfreiheit bei der Auswahl der Steuergegenstände ein. Die Grenze bildet das Willkürverbot. Die Ausgestaltung des ausgewählten Steuertatbestandes unterliegt dann allerdings dem Gebot der Folgerichtigkeit.29 Bezogen auf die steuerliche Behandlung der hier in Rede stehenden Ein- und Ausbringungen bedeutet dies m. E., dass es dem Gesetzgeber freisteht, diese Transfers als gewinnrealisierend oder gewinnneutral zu behandeln. Dabei kann auch bei den erfolgsneutral ausgestalteten Tatbeständen ein interpersonelles Überspringen stiller Reserven zugelassen werden. Die getroffene Entscheidung ist dann allerdings folgerichtig umsetzen. Vergleichbare Sachverhalte sind gleich zu behandeln. Eine unterschiedliche steuerliche Behandlung der einzelnen Tatbestände ist ohne Verstoß gegen die Folgerichtigkeit nur gegeben, wenn Unterschiede im Sachverhalt die Ungleichbehandlung rechtfertigen. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts hat der Gesetzgeber eine Grundentscheidung gefällt. Danach ist die Buchwertfortführung nach § 6 Abs. 5 EStG u. a. in Fällen des Transfers von Wirtschaftsgütern zwischen Betriebsvermögen des Gesellschafters und der Personengesellschaft (wieder) eingeführt und die Realteilung zu Buchwerten nach § 16 Abs. 3 EStG gesetzlich geregelt worden. Damit ist der Rechtszustand wiederhergestellt, der bis zum Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 aufgrund des Mitunternehmererlasses und der höchstrichterlichen Rechtsprechung gegolten hat. Mit dem Buchwertansatz wird gesetzlich zugelassen, dass es zu einem interpersonellen Überspringen von stillen Reserven zwischen natürlichen Personen kommen kann und dieses einem Buchwertansatz nur dann entgegensteht, wenn die übernehmende Person das übernommene Wirtschaftsgut innerhalb einer Sperrfrist von drei Jahren veräußert oder entnimmt. Auch wird mit dem SEStEG weiterhin der Buchwertansatz in Fällen der Einbringung zugelassen, wenn die deutsche Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist. Diese gesetzgeberische Grundentscheidung wird allerdings nicht konsequent in allen gesetzlichen Regelungen zur Ein- und Ausbringung umgesetzt, wie nachfolgend darzustellen sein wird. Dabei lässt sich der Buchwertansatz nicht in allen einschlägigen Fällen mit dem Wortlaut des Gesetzes begründen. Unter Umständen lässt er sich im Auslegungswege erreichen. Diese Auslegung geht allerdings mit erheblichen Rechtsunsicherheiten einher. Zudem neigt die

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28 Siehe Hey, DStR 2009, 2561 (2562); Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, S. 82 ff. 29 So das BVerfG zur Entfernungspauschale, BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, FR 2009, 74 m. Anm. Greite = DStR 2008, 2460; aber anders BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, FR 2009, 873 = DStRE 2009, 922, in dieser Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen verlangt das BVerfG nicht mehr die Folgerichtigkeit, sondern nur noch die Willkürfreiheit auch bei der Ausgestaltung des Steuertatbestands, s. hierzu kritisch Hey, DStR 2009, 2561 ff.

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Einbringungen in und Ausbringungen aus einer gewerblichen Personengesellschaft

Finanzverwaltung in diesen Fällen zu einer restriktiven Auffassung, weshalb langwierige Finanzgerichtsprozesse vorprogrammiert sind. 1. Die Ausbringung betrieblicher Einheiten Einzelwirtschaftsgüter sind zwischen dem Betriebsvermögen oder Sonderbetriebsvermögen eines Personengesellschafters und der Personengesellschaft gem. § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG außerhalb der Sperrfristen in beiden Richtungen zwingend zum Buchwert zu übertragen. Dabei kann es auch zu intersubjektiven Übertragungen stiller Reserven kommen. Im Gegensatz dazu differenziert der Gesetzgeber bei der steuerlichen Behandlung der Ein- und Ausbringung von betrieblichen Einheiten (Teilbetrieb, Betrieb oder Mitunternehmeranteil) zwischen der Einbringung einerseits und Ausbringung andererseits. Während Einbringungen bei unverändertem deutschem Besteuerungsrecht nach § 24 Abs. 2 UmwStG wahlweise zum Buchwert oder Zwischenwert und damit ganz oder teilweise erfolgsneutral möglich sind, beschränkt sich die Erfolgsneutralität der Ausbringungen von betrieblichen Einheiten nach dem Gesetzeswortlaut des § 16 Abs. 3 EStG auf die engen Grenzen der Realteilungsfälle. Diese Beschränkung des Buchwertansatzes in Fällen der Ausbringung auf die Auflösung der Mitunternehmerschaft stellt eine Ungleichbehandlung dar, die gegen das Gebot der Folgerichtigkeit verstößt. Es ist bereits zweifelhaft, ob eine Ungleichbehandlung der Ein- und Ausbringungen von betrieblichen Einheiten noch gerechtfertigt werden kann. Denn die Ausbringung ist die Umkehrung der Einbringung und damit ein vergleichbarer Sachverhalt, der eigentlich gleich zu behandeln wäre. Ein Unterschied könnte allerdings darin gesehen werden, dass im Falle der Einbringung stille Reserven der eingebrachten Einheit auf Mitgesellschafter übergehen, während im Fall der Ausbringung die stillen Reserven der in der Gesamthand vorhanden Wirtschaftsgüter auf den übernehmenden Gesellschafter übergehen. Dabei kommt es im Gegensatz zur Einbringung in der Regel zum interpersonellen Überspringen stiller Reserven, das nicht wie in Fällen der Einbringung durch die Bildung von Ergänzungsbilanzen verhindert werden kann. Dies könnte ein möglicher Grund für die unterschiedliche Behandlung der Ein- und Ausbringung von betrieblichen Einheiten gewesen sein. Dieser Rechtfertigungsgrund greift aber dann nicht, wenn die steuerliche Behandlung der einzelnen Ausbringungsfälle verglichen wird. Während die Ausbringung von Einzelwirtschaftsgütern nach § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG grundsätzlich zwingend zu Buchwerten zu erfolgen hat, ist der Buchwertansatz bei der Ausbringung einer betrieblichen Einheit auf den Ausnahmefall der Realteilung beschränkt. Dies könnte darauf hindeuten, dass mit der Beschränkung auf die Realteilung die Verhinderung eines erfolgsneutralen Ausscheidens eines Mitunternehmers aus einer bestehen bleibenden Mitunternehmerschaft intendiert ist30. Dagegen spricht allerdings die Tatsache,

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30 In diesem Sinne ist wohl Mitschke, NWB 2009, 606, zu verstehen, der für den Fall des Ausscheidens eines Mitunternehmers aus einer Mitunternehmerschaft zu Buchwerten auf das Leerlaufen eines steuerpflichtigen Veräußerungsvorgangs i. S. d. § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG hinweist.

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dass auch nach § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG ein steuerneutrales Ausscheiden eines Mitunternehmers unter Mitnahme von Wirtschaftsgütern in sein Betriebsvermögen oder in ein Sonderbetriebsvermögen bei einer anderen Mitunternehmerschaft möglich ist, da eine Minderung der Gesellschaftsrechte auch bejaht wird, wenn diese auf null gemindert werden.31 M. E. wäre daher eine erfolgsneutrale Behandlung von Ausbringungen einzelner Wirtschaftsgüter und betrieblicher Einheiten nach den Regeln des § 6 Abs. 5 Satz 3 ff. EStG folgerichtig. Diese lässt sich möglicherweise auch im Auslegungswege erreichen. Betriebliche Einheiten können außerhalb der Realteilung nur dann erfolgsneutral auf den Gesellschafter übergehen, wenn sie keine Schulden umfassen, was in der Praxis sehr selten der Fall sein wird. Denn die Übertragung einer betrieblichen Einheit setzt sich in der Regel aus der Übertragung der zum Betriebsvermögen der Einheit gehörenden positiven und negativen Wirtschaftsgüter zusammen. Da es sich hierbei aber tatsächlich auch um die Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern handelt, findet auf die Übertragung von betrieblichen Einheiten § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG Anwendung. Im Fall der Schuldübernahme läge aber insoweit eine entgeltliche Übertragung vor, die im Gegensatz zur Realteilung32 zu einer partiellen Realisierung stiller Reserven führt.33 Dieses Ergebnis widerspricht aber der bei betrieblichen Einheiten anzuwendenden Nettobetrachtung. Nach dieser handelt es sich bei den mit einem Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil übergehenden Schulden gerade nicht um Gegenleistungen34. Diese Grundwertung kann aber dann auch nicht für die Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG außer Acht gelassen werden. Folglich dürfte auch eine in den Anwendungsbereich des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG fallende Übertragung von betrieblichen Einheiten nicht aufgrund der übergehenden Schulden zu einer partiellen Gewinnrealisierung führen. Unter Berücksichtigung der bei betrieblichen Einheiten üblichen Nettobetrachtung wäre auch die Ausbringung von betrieblichen Einheiten nach § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG erfolgsneutral zu behandeln. 2. Die Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Schwestergesellschaften Wie dargestellt35 soll der Transfer von Einzelwirtschaftsgütern zwischen Schwesterpersonengesellschaften nach Auffassung der Finanzverwaltung und ausweislich der Gesetzesmaterialien nur gewinnrealisierend erfolgen können, weil diese Übertragungen von § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG nicht unmittelbar erfasst

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31 Siehe Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 667; Ley, KÖDSI 2009, 16678 (16690). 32 Siehe Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 545, unter Hinweis auf BFH v. 10.12.1991 – VIII R 69/86, BStBl. II 1992, 385 (387) = FR 1992, 368; v. 1.12.1992 – VIII R 57/90, BStBl. II 1994, 607 = FR 1993, 463 m. Anm. Schmidt. 33 Siehe BMF v. 23.4.2001 – IV A 6 - S 2133 - 1/01, BStBl. I 2001, 367 = FR 2001, 711; FG Düsseldorf v. 4.5.2005 – 13 K 5044/04 F – rkr., EFG 2005, 1763; a. A. Groh, DB 2002, 1904 (1906); Schulze zur Wiesche, DB 2004, 1388. 34 Zur Nettobetrachtung bei betrieblichen Einheiten s. BFH v. 11.12.2001 – VIII R 58/98, BStBl. II 2002, 420 = FR 2002, 516. 35 Siehe Gliederungspunkt II. 2.

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werden. Eine mehrstufige Übertragung36, zunächst von der einen Personengesellschaft in das Betriebsvermögen oder Sonderbetriebsvermögen des Gesellschafters und anschließend aus diesem in das Gesamthandsvermögen einer anderen Personengesellschaft, wird als problematisch im Hinblick auf die Gesamtplanrechtsprechung eingestuft.37 Gegen die Annahme eines Gesamtplans spricht, dass es sich bei einer unmittelbaren Übertragung zwischen zwei Schwesterpersonengesellschaften um einen abgekürzten Weg handelt, der tatsächlich nur über den Gesellschafter gehen kann und der daher zwangsläufig in zwei Schritten erfolgt. Die zweistufige Vorgehensweise entspricht dem normalen Weg. Sie kann folglich nicht wegen eines Gesamtplans gestaltungsmissbräuchlich sein, da ein solcher nur Vorliegen kann, wenn das angestrebte Ziel auch nur in einem Schritt erreichbar ist. Beispiel: A ist Gesellschafter zweier Schwesterpersonengesellschaften, nämlich der X und Y GmbH & Co. KG. Von der X-GmbH & Co KG wird nun ein Grundstück mit dem Buchwert von 100.000 € unentgeltlich auf die Y GmbH & Co KG übertragen. Bei dieser unentgeltlichen Übertragung handelt es sich um eine verkürzte Übertragung. Denn tatsächlich handelt es sich um Übertragung des Grundstücks von der X GmbH & Co KG auf A, der es anschließend auf die Y GmbH & Co KG überträgt, was über eine entsprechende Verbuchung dieser Vorgänge auf den Gesellschafterkapitalkonten des A zum Ausdruck kommt. Das zivilrechtlich unmittelbar von der X auf die Y-KG übertragenen Grundstück wird buchhalterisch zunächst aus der X-KG gegen Minderung des Kapitals des A ausgebucht und anschließend gegen Erhöhung des Kapitals des A bei der Y-KG eingebucht. Da das Grundstück dem Betrieb der Y-KG zu dienen bestimmt ist, wird es Sonderbetriebsvermögen des A bei der Y-KG und anschließend aus diesem in das Gesamthandsvermögen der Y-KG überführt. Auf beide Übertragungsschritte, die nicht einem Gesamtplan entspringen, sondern zwingend notwendig sind, findet m. E. § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG mit der Folge Anwendung, dass die Übertragung zu Buchwerten zu erfolgen hat.

Ungeachtet einer möglicherweise im Auslegungswege zu erreichende Buchwertverknüpfung würde eine unterschiedliche Behandlung des Transfers von Wirtschaftsgütern zwischen einer Gesamthand und ihrem Gesellschafter einerseits sowie zwischen zwei Gesamthandschaften inkonsequent sein und gegen das Gebot der Folgerichtigkeit verstoßen38. Der Gesetzgeber hat mit § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG seinen Gestaltungsspielraum dahingehend ausgeschöpft, dass der Transfer von Wirtschaftsgütern zwischen dem Betriebsvermögen eines Personengesellschafters und seiner Personengesellschaft erfolgsneutral zum Buchwert zu erfolgen hat, soweit die Sperrfristen von drei bzw. sieben Jahren beachtet werden. Damit kann es zu intersubjektiven Übertragungen stiller Reserven kommen. Die gleichen Wirkungen treten bei der Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen zwei Personengesellschaften auf, daher ist es nicht verständlich, dass die Übertragung zwischen zwei Schwesterpersonengesellschaften

__________ 36 Siehe Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 546. 37 Strahl, KÖSDI 2003, 13927; a. A. Söffing, BB 2004, 2777. 38 Siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, 847.

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mit dem Zwang zur Gewinnrealisierung wesentlich schlechter gestellt wird39. Besonders augenfällig ist die Ungereimtheit in Fällen beteiligungsidentischer Schwestergesellschaften, da es dann noch nicht einmal zu dem gesetzgeberisch tolerierten Überspringen stiller Reserven kommt, sondern diese unverändert den gleichen Steuersubjekten zu gerechnet werden und dennoch eine Gewinnrealisierung eintreten soll. Die gleiche Inkonsequenz liegt in Realteilungsfällen40 vor, wenn die übergehenden Wirtschaftsgüter von einer anderen Personengesellschaft übernommen werden sollen. Auch hier ist die Erfolgsneutralität der Teilung an die Übertragung in das jeweilige Betriebsvermögen der einzelnen Mitunternehmer gekoppelt, so dass eine erfolgsneutrale Realteilung auf Schwesterpersonengesellschaften nur über eine Ausbringung und anschließende Einbringung möglich ist41, die wiederum nur über den Gesellschafter erfolgen kann und deshalb nicht als schädlicher Gesamtplan qualifiziert werden kann. 3. Die Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern des Privatvermögens gegen Gesellschaftsrechte auf eine und aus einer Personengesellschaft Die Einbringung von Wirtschaftsgütern aus einem Privatvermögen in eine betriebliche Personengesellschaft erfolgte sowohl in den Fällen der Gewährung von Gesellschaftsrechten als auch im Fall der unentgeltlichen Übertragung zum Teilwert. Vom Ansatz des Teilwerts wird nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 a–c EStG in Fällen der Einlage aber abgesehen, wenn die eingebrachten Wirtschaftsgüter im Privatvermögen auch außerhalb der Behaltensfristen des § 23 EStG steuerverstrickt sind. Dies betrifft die Fälle des Kapitalvermögens i. S. d. § 20 Abs. 2 EStG sowie die Kapitalgesellschaftsbeteiligungen i. S. d. § 17 EStG. In Fällen privater Veräußerungsgeschäfte unterbleibt die Entstrickung im Zeitpunkt der Übertragung auf eine Personengesellschaft, weil eine Einlage in eine Personengesellschaft nicht als Veräußerung i. S. d. § 23 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu qualifizieren ist. In diesen Fällen kann es nur rückwirkend zu einem privaten Veräußerungsgeschäft kommen. Dies ist dann der Fall, wenn das in das Betriebsvermögen eingelegte Wirtschaftsgut innerhalb eines Zeitraumes von 10 Jahren nach der Anschaffung veräußert wird. Im Gegensatz dazu sind Einbringungen betrieblich steuerverstrickter Wirtschaftsgüter nach § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG grundsätzlich mit dem Buchwert anzusetzen. Der Ansatz von aus einem Privatvermögen in eine betriebliche Personengesellschaft eingebrachten Wirtschaftsgütern mit dem Teilwert ist gerechtfertigt, da die Wirtschaftsgüter des Privatvermögens grundsätzlich nicht steuerverstrickt sind. Sie werden erst mit der Einbringung in das Betriebsvermögen steuerverstrickt. Nicht folgerichtig ist allerdings der Ansatz des Teilwerts,

__________ 39 Siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, 847. 40 Siehe Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 546. 41 Möglicherweise anders, wenn Teilbetriebe und Mitunternehmeranteile übertragen werden, s. Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 546, unter Hinweis auf Hess, DStR 2006, 777 (779).

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wenn die Wirtschaftsgüter des Privatvermögens steuerverstrickt sind und die Übertragung zum Teilwert nach § 17 EStG, § 20 Abs. 2 EStG oder § 23 EStG zur Gewinnrealisierung führt. Dies betrifft die Fälle, in denen die Übertragung von Wirtschaftsgütern des Privatvermögens gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten und damit entgeltlich erfolgt. Diese Gewinnrealisierungen sind nicht folgerichtig. Einerseits sind sie inkonsequent mit Blick auf die Bewertung steuerverstrickter Einlagen. Diese sind nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG höchstens mit den Anschaffungs-/Herstellungskosten bzw. den fortgeführten Anschaffungs- und Herstellungskosten anzusetzen, wodurch die Verstrickung erhalten bleibt und die Gewinnrealisierung aufgeschoben wird. Andererseits sind sie mit Blick auf die entsprechenden Übertragungen von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens nicht folgerichtig. Denn auch in diesen Fällen hat selbst eine entgeltliche Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten grundsätzlich zwingend zum Buchwert zu erfolgen, weshalb eine Gewinnrealisierung unterbleibt. Ursächlich für diese Ungereimtheit ist die Rechtsprechungsentwicklung zu Übertragungen von Wirtschaftsgüter des Privatvermögens gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten im Jahr 1998, die unter dem Eindruck einer Annäherung der Personengesellschaft an die Kapitalgesellschaft in Abkehr von der bis dahin geltenden überwiegenden Meinung das Vorliegen einer Einlage und damit die Anwendung der zu folgerichtigen Ergebnissen führende Bewertungsgrundsätze für Einlagen ablehnte und stattdessen von einem steuerwirksamen Veräußerungsgeschäft ausging42. Gleiches gilt m. E. auch für die Ausbringung aus einer Personengesellschaft in das Privatvermögen eines Personengesellschafters. Hierbei handelt es sich um einen gewinnrealisierenden Verkauf des von der Personengesellschaft auf den Gesellschafter übergehenden Wirtschaftsguts, wenn die Ausbringung gegen Minderung von Gesellschaftsrechten erfolgt, oder um eine gewinnrealisierende Entnahme, die mit dem Teilwert zu bewerten ist. Dies ist folgerichtig, soweit die stillen Reserven der ausgebrachten Wirtschaftsgüter nicht weiter steuerverstrickt sind. Wertungswidersprüche treten aber auf, wenn die übertragenen Wirtschaftsgüter auch im Privatvermögen wegen § 17 EStG oder § 20 Abs. 2 EStG weiterhin verstrickt bleiben. Ihre Entstrickung ist mit Blick auf das Betriebsvermögen und auf die Regelungen des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG nicht folgerichtig, weil für Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens eine Buchwertfortführung in den Fällen vorgeschrieben wird, in denen die stillen Reserven aufgrund der Betriebsvermögenseigenschaft verstrickt bleiben. Entsprechendes müsste auch für im Privatvermögen weiter verstrickte Wirtschaftsgüter gelten. Der Grund für die Ungleichbehandlung kann auch nicht in der Gewerbesteuer gesehen werden. Denn die Buchwertfortführung beim Wechsel zwischen zwei Betriebsvermögen nach § 6 Abs. 5 EStG ist auch dann zwingend, wenn das Wirtschaftsgut aus einem gewerblichen in einen nicht gewerblichen Bereich

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42 BFH v. 19.10.1998 – VIII R 69/95, BStBl. II 2000, 230, dem sich die Finanzverwaltung angeschlossen hat, BMF v. 29.3.2000 – IV C 2 - S 2178 - 4/00, BStBl. I 2000, 462 = FR 2000, 635.

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oder umgekehrt überwechselt und sich folglich die gewerbesteuerliche Behandlung bezogen auf das übertragene Wirtschaftsgut ändert.

V. Fazit Bei Einbringungen von einem Personengesellschafter in eine Personengesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten oder unentgeltlich und bei entsprechenden Ausbringungen handelt es sich m. E. um vergleichbare Sachverhalte, wenn das Besteuerungsregime unverändert bleibt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn steuerverstrickte Wirtschaftsgüter auch nach der Übertragung weiterhin verstrickt bleiben. Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine steuerneutrale Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern zwischen dem Gesamthandsvermögen der Personengesellschaft und dem Betriebsvermögen des Gesellschafters, selbst wenn es hierdurch zu einem interpersonellen Überspringen von stillen Reserven kommt, sind vergleichbare Fälle aus Gründen der Folgerichtigkeit entsprechend auszugestalten. An diesen Maßstäben gemessen, sind die gesetzlichen Regelungen zur Behandlung der Ein- und Ausbringungen nicht in allen Fällen konsequent. Inkonsequenzen ergeben sich insbesondere bei folgenden Sachverhalten: – die Ausbringung von betrieblichen Einheiten, die in Höhe der zu übernehmenden Schulden wohl nicht erfolgsneutral behandelt werden kann; – die Ausbringung auf Schwestergesellschaften, die sowohl im Fall der Ausbringung von Wirtschaftsgüter als auch der Realteilung wohl nicht erfolgsneutral möglich ist; – die Einbringung von Wirtschaftsgütern des Privatvermögens in eine Personengesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten sowie die Ausbringung weiterhin steuerverstrickter Wirtschaftsgüter in ein Privatvermögen, die beide nicht erfolgsneutral erfolgen können. Die folgerichtige Behandlung dieser Sachverhalte kann zwar in einigen Fällen unter Umständen im Auslegungswege erreicht werden. Dieses Auslegungsergebnis wird aber wegen der restriktiven Haltung der Finanzverwaltung nicht ohne einen Finanzgerichtsprozess durchsetzbar sein. Daher wäre es wünschenswert, wenn der Gesetzgeber im Sinne einer folgerichtigen Behandlung der Einund Ausbringungen durch entsprechende Gesetzesänderungen Klarheit schaffen würde.

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Realteilung und Ausscheiden gegen Sachwertabfindung – Vorrang des Kontinuitätsprinzips? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Realteilung 1. Begriff der Realteilung 2. Einkommensteuerliche Behandlung der Realteilung bis 1999 3. Einkommensteuerliche Behandlung der Realteilung von 1999 bis 2001 4. Einkommensteuerliche Behandlung der Realteilung seit 2001 a) Zwingende Buchwertverknüpfung b) Sperrfrist III. Ausscheiden gegen Sachwertabfindung 1. Systematische Einordnung des Ausscheidens gegen Sachwertabfindung 2. Einkommensteuerliche Behandlung bis 1999 3. Einkommensteuerliche Behandlung 1999 bis 2001 4. Einkommensteuerliche Behandlung seit 2001

a) Abgrenzung gegenüber der Realteilung b) Gewinn infolge des Ausscheidens gegen Abfindung aa) Gewinn des ausscheidenden Mitunternehmers bb) Gewinn der verbleibenden Mitunternehmer cc) Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG dd) Kapitalkontenanpassung zur Vermeidung eines Gewinns infolge des Ausscheidens ee) Sperrfrist 5. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf? a) Unterschiede bei der Behandlung von Realteilung und Sachwertabfindung b) Gesetzgebungsvorschlag der BRAK und des DAV IV. Zusammenfassung

I. Einleitung „Es gibt Fälle, in denen das Steuerrecht die Besteuerung der stillen Reserven hinausschiebt (obwohl sie aufgedeckt sind), und zwar aus Billigkeitsgründen oder wirtschaftspolitischen Gründen“, so hieß es 1981 bei Klaus Tipke1, dem akademischen Lehrer Joachim Langs. Diesem Gedanken folgend erkannte Joachim Lang in seiner Habilitationsschrift ein ertragsteuerliches Kontinuitätsprinzip zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung2. Ausprägung dieses Prinzips sei etwa die Buchwertfortführung nach Überführung eines Wirtschaftsguts aus einem inländischen Betrieb in einen anderen inländischen Betrieb desselben Steuerpflichtigen. Bei Veröffentlichung der Habilitationsschrift im Jahr 1981 wurde das Kontinuitätsprinzip aus §§ 20 ff. UmwStG 1977 entnom-

__________ 1 Tipke, Steuerrecht, 8. Aufl. 1981, 238. 2 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Köln 1981/88, 353.

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men. Joachim Lang bezeichnete das dort vorgesehene Wahlrecht zur Bewertung des eingebrachten Betriebs, Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils mit dem Buchwert, Teilwert oder einem dazwischen liegenden Wert als Modelllösung für den Kompromiss zwischen einer Besteuerung nach der „wahren“ Leistungsfähigkeit und einer möglichst sicheren Besteuerung3. Zugleich begreift Joachim Lang das Modell aber auch als eine Minimallösung für den Aufschub der Besteuerung. Spätestens müsse eine objektive oder subjektive Entstrickung zur Besteuerung der stillen Reserven führen. Ein Fall der subjektiven Entstrickung liege im Grunde auch dann vor, wenn ein Wirtschaftsgut aus dem Gesamthandsvermögen einer Personengesellschaft auf einen Gesellschafter übertragen werde, auch wenn dieser es weiter in einem eigenen Betriebsvermögen halte4. Dennoch scheint ihm die damalige, im sog. Mitunternehmererlass5 festgehaltene Praxis von Rechtsprechung und Verwaltung wohl gerade noch vertretbar gewesen zu sein, wonach auch solche Vorgänge unter Verzicht auf eine genaue Ermittlung der persönlichen Leistungsfähigkeit zum Buchwert durchgeführt werden konnten6. Sicherlich wären die Bedenken von Joachim Lang heute noch geringer, nachdem der Gesetzgeber sich mit § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG dazu entschieden hat, stille Reserven bei Übertragungen von Wirtschaftsgütern zwischen Gesamthandsvermögen und Betriebsvermögen der Gesellschafter nicht zu besteuern. Diese Regelung bewegt sich – sicher auch nach Auffassung Joachim Langs7 – im Rahmen des dem Gesetzgeber eingeräumten Gestaltungsspielraums8. Nicht näher erörtert hat Joachim Lang die Geltung des Kontinuitätsprinzips in einem dem Modell der §§ 20 ff. UmwStG nahestehenden Fall, nämlich der Realteilung, und einem dem § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG nahestehenden Fall, nämlich des Ausscheidens eines Gesellschafters aus der Personengesellschaft gegen Abfindung durch Wirtschaftsgüter des Gesamthandsvermögens. Dieser Frage will der nachfolgende Beitrag nachgehen.

II. Realteilung 1. Begriff der Realteilung Unter einer Realteilung versteht der BFH in ständiger Rechtsprechung die Auseinandersetzung einer aufgelösten Personengesellschaft durch Natural-

__________ 3 4 5 6 7

Lang, a. a. O., (Fn. 2), 356. Lang, a. a. O., (Fn. 2), 363. BMF v. 20.12.1977 – IV B 2 - S 2241 - 231/77, BStBl. I 1978, 8. Lang, a. a. O., (Fn. 2), 363. In der aktuellen Auflage des Lehrbuchs von Tipke und Lang stützt Johanna Hey, Schülerin und Nachfolgerin von Joachim Lang auf dem Kölner Lehrstuhl, die Rechtfertigung von Buchwertübertragungen auf das Markteinkommensprinzip und das Übermaßverbot (Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 17 Rz. 220); nach Musil (DB 2005, 1291, 1292) bilden die Regelungen zur Schonung stiller Reserven steuersystematisch keine Einheit. 8 Zum weiten Gestaltungsspielraum in diesem Zusammenhang s. Lang, a. a. O., (Fn. 2), 359; BFH v. 15.4.2010 – IV B 105/09, GmbHR 2010, 724.

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teilung9. Die Gegenstände des Gesellschaftsvermögens gehen im Wege rechtsgeschäftlicher Einzelübertragung von der Gesamthand auf die jeweiligen Gesellschafter über. Der Betrieb der Gesellschaft wird durch die Realteilung zerschlagen, selbst wenn auf einen oder mehrere Gesellschafter ein Teilbetrieb übertragen und dort als selbständiger Betrieb fortgeführt wird. Der neue Betrieb ist nicht identisch mit dem alten Betrieb der auseinandergesetzten Gesellschaft. 2. Einkommensteuerliche Behandlung der Realteilung bis 1999 Die Realteilung war bis 1999 nicht gesetzlich geregelt. Da eine Aufteilung des Betriebsvermögens unter den Gesellschaftern zur Zerschlagung des bisherigen Betriebs führt und die wesentlichen Betriebsgrundlagen nicht an einen Erwerber veräußert werden, hätte die Realteilung als eine Betriebsaufgabe i. S. d. § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG beurteilt werden müssen. Die Rechtsprechung hatte sich aber – vermutlich ganz im Sinne Joachim Langs – auf §§ 20 ff. UmwStG als Modell gestützt und erkannt, dass die Realteilung die Umkehrung einer Einbringung gem. § 24 UmwStG sein kann, wenn die Gesellschafter Teilbetriebe oder Mitunternehmeranteile erhalten. Dies rechtfertigte aus Sicht der Rechtsprechung die „reziproke“ Anwendung der Regelung, also eine Ausbringung zum Buchwert. Mangels einer Regelung wie in § 6 Abs. 5 EStG heutiger Fassung gab es allerdings keine Norm, die man reziprok auf eine Realteilung in Einzelwirtschaftsgüter hätte anwenden können. Gleichwohl hielt der BFH auch in derartigen Fällen der Realteilung die Aufdeckung der stillen Reserven im Hinblick auf die Fortsetzung der Betriebsvermögenseigenschaft im Betriebsvermögen des Realteilers nicht für erforderlich und gewährte in „reziprok analoger“10 Anwendung des § 24 UmwStG i. V. m. § 7 Abs. 1 EStDV (heute § 6 Abs. 3 EStG) für jede Form der Realteilung grundsätzlich das Wahlrecht zum Ansatz eines Wertes zwischen Buchwert und gemeinem Wert11. Verwaltung12 und h. M. im Schrifttum13 folgten dieser Handhabung. Werden nicht für alle Realteilungsgüter die gemeinen Werte angesetzt, hat dies in der Regel zur Folge, dass die in den Wirtschaftsgütern zum Zeitpunkt der Realteilung gebundenen stillen Reserven nicht genau den Anteilen der

__________ 9 Andere Art der Auseinandersetzung als Liquidation i. S. d. § 145 Abs. 1 HGB; vgl. BFH v. 18.5.1995 – IV R 20/94, BStBl. II 1996, 70 = FR 1996, 111. 10 § 24 UmwStG betrifft seinem Wortlaut nach nur die Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmeranteilen. Die Rechtsprechung hatte im Wege einer Analogie das Wahlrecht auch auf die Einbringung von Einzelwirtschaftsgütern erweitert (BFH v. 15.7.1976 – I R 17/74, BStBl. II 1976, 748). Die Erweiterung auf Ausbringungen im Wege der reziprok analogen Anwendung bedeutete eine doppelte Analogie. 11 BFH v. 19.1.1982 – VIII R 21/77, BStBl. II 1982, 456 = FR 1982, 279; v. 10.12.1991 – VIII R 69/86, BStBl. II 1992, 385 = FR 1992, 368. 12 BMF v. 11.1.1993 – IV B 2 - S 2242 - 86/92, BStBl. I 1993, 62 Tz. 11; v. 25.3.1998 – IV B 2 - S 1978 - 21/98, IV B 2 - S 1909 - 33/98, BStBl. I 1998, 268 Tz. 24.18. 13 Vgl. nur Schmidt, EStG, 17. Aufl. 1998, § 16 Rz. 543; kritisch etwa Reiß, StuW 1995, 199 (200, 203 f.).

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übernehmenden Gesellschafter am Gesamthandsvermögen entsprechen. Die Fortführung der Buchwerte durch die jeweiligen Realteiler würde bewirken, dass stille Reserven teils überproportional, teils unterproportional übernommen werden. Diese Folge ließe sich nur vermeiden, wenn die Buchwerte der Wirtschaftsgüter an die anteilig auf den Gesellschafter entfallenden stillen Reserven angepasst würden. Stille Reserven würden dann unter Verstoß gegen das Anschaffungswertprinzip zwischen den jeweiligen Wirtschaftsgütern buchmäßig „verschoben“14. Diese Verfahrensweise hat der BFH jedoch mit Urteil vom 10.12.1991 abgelehnt15. Der nicht proportionale Übergang stiller Reserven ist dann unausweichlich. Zugleich ergibt sich notwendigerweise, dass die Realteiler Buchwerte fortführen, die nicht ihrem bisherigen Kapitalkonto auf den Stichtag der Realteilung entsprechen. Technisch ist die Realteilung dann so vorzunehmen, dass die Kapitalkonten der Summe der Buchwerte angepasst werden, die von den einzelnen Gesellschaftern übernommen werden (Kapitalkontenanpassungsmethode)16. Im Ergebnis übernahm also nach der damaligen Rechtslage jeder Gesellschafter die stillen Reserven, die in den auf ihn übergehenden Wirtschaftsgütern angelegt waren. Stille Reserven konnten dadurch von einem auf den anderen Gesellschafter „überspringen“. 3. Einkommensteuerliche Behandlung der Realteilung von 1999 bis 2001 Dieser „gesetzlose“ Zustand wurde durch das StEntlG 1999/2000/200217 beendet. Mit Wirkung für Realteilungen, die ab dem 31.12.1998 erfolgten18, wurde § 16 Abs. 3 EStG um folgenden neuen Satz 2 ergänzt: „Die Realteilung einer Mitunternehmerschaft gilt als Aufgabe eines Anteils i. S. d. Abs. 1 Nr. 2, wenn die bisherigen Gesellschafter bei der Realteilung weder einen Teilbetrieb noch einen Mitunternehmeranteil, sondern nur einzelne Wirtschaftsgüter erhalten; soweit die Realteilung auf die Übertragung von Teilbetrieben oder Mitunternehmeranteilen gerichtet ist, ist § 6 Abs. 3 entsprechend anzuwenden.“

Damit wurde die Realteilung einerseits dogmatisch nicht mehr als Aufgabe des Betriebs der Mitunternehmerschaft, sondern ausdrücklich als ein Fall der Aufgabe des Mitunternehmeranteils behandelt, wenn Gesellschafter nur einzelne Wirtschaftsgüter erhalten19. Andererseits wurde für derartige Fälle dem Grundsatz der subjektiven Entstrickung Vorrang vor dem Kontinuitätsprinzip eingeräumt. Die stillen Reserven waren wegen des Ansatzes des gemeinen Wertes – zumindest insoweit – aufzudecken, als Realteiler Einzelwirtschaftsgüter erhielten. Kontinuität vor Entstrickung galt nur noch insoweit, als der

__________ 14 Nach heutiger Rechtslage befürwortet Engl, DStR 2002, 119 (122) diese Lösung. 15 BFH v. 10.12.1991 – VIII R 69/86, BStBl. II 1992, 385 = FR 1992, 368. 16 BFH v. 10.12.1991 – VIII R 69/86, BStBl. II 1992, 385 = FR 1992, 368; so auch heute ausdrücklich BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 (229) unter VII.; Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 547. 17 V. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402, BStBl. I 1999, 304. 18 § 52 Abs. 34 Satz 2 EStG 1999. 19 BFH v. 29.4.2004 – IV B 124/02, BFH/NV 2004, 1395.

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Realteiler eine Sachgesamtheit, nämlich einen Teilbetrieb oder einen ganzen Mitunternehmeranteil erhielt. Derartige Sachgesamtheiten wurden zum Buchwert übertragen; ein Wahlrecht gab es nicht mehr. Dass bei Einzelwirtschaftsgütern das Subjektsteuerprinzip Vorrang haben sollte, während bei Sachgesamtheiten dem Kontinuitätsgrundsatz zwingend der Vorrang eingeräumt wurde, fügte sich systematisch stimmig in das Regelungsgefüge des StEntlG 1999/2000/2002 ein. Denn in Abkehr von der bisherigen Handhabung nach dem Mitunternehmererlass20 war auch bei Übertragungen von Einzelwirtschaftsgütern zwischen Gesellschaftsvermögen und Betriebsvermögen eines Gesellschafters nach dem damaligen § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG zwingend der Teilwert anzusetzen (Vorrang des Subjektsteuerprinzips bei Einzelwirtschaftsgütern). Bei unentgeltlicher Übertragung von Sachgesamtheiten kam es demgegenüber nach § 6 Abs. 3 EStG zwingend zum Ansatz des Buchwerts (Vorrang des Kontinuitätsgrundsatzes). 4. Einkommensteuerliche Behandlung der Realteilung seit 2001 a) Zwingende Buchwertverknüpfung Dass der Gesetzgeber das Verhältnis von Subjektsteuerprinzip und Kontinuität so bestimmen durfte, erscheint nach den Erkenntnissen Joachim Langs kaum zweifelhaft. Allerdings bewirkt die Besteuerung stiller Reserven ohne Steigerung der Liquidität, dass entsprechende Gestaltungen vermieden werden. Die einkommensteuerliche Neuregelung durch das StEntlG 1999/2000/2002 erwies sich deshalb auch bald als Umstrukturierungshindernis und ließ die Forderung nach einer Rückkehr zur bisherigen Praxis laut werden. Was die Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern außerhalb der Realteilung betrifft, hatten die Forderungen schon bald Erfolg. Der Gesetzgeber änderte im Rahmen des StSenkG21 § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG mit Wirkung für Übertragungen nach dem 31.12.200022 und kehrte zum Kontinuitätsgrundsatz zurück („Wiederherstellung des Mitunternehmererlasses“). Die Regelung warf aber neue Fragen auf, so dass mit dem UntStFG23 erneut nachgebessert wurde und § 6 Abs. 5 Sätze 3 ff. EStG ihre heute geltende Fassung erhielten. Während das StSenkG im Hinblick auf die Realteilung keine Änderungen enthalten hatte und die strikte Geltung des Steuersubjektprinzips bei der Realteilung in Einzelwirtschaftsgüter einen erheblichen Wertungswiderspruch zum Umschwenken auf den Kontinuitätsgrundsatz bei anderen Übertragungen von Einzelwirtschaftsgütern gegen Minderung von Gesellschaftsrechten bedeutete, enthielt das UntStFG auch eine Neuregelung für die Realteilung. Damit wurde den Vorschlägen der sog. Brühler Kommission Rechnung getragen24. § 16 Abs. 3

__________ 20 21 22 23 24

BMF v. 20.12.1977 – IV B 2 - S 2241 - 231/77, BStBl. I 1978, 8 Tz. 77 i. V. m. Tz. 57 ff. V. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433, BStBl. I 2000, 1428. § 52 Abs. 16a EStG 2001. V. 20.12.2001, BGBl. I 2001, 3858, BStBl. I 2002, 35. Bericht der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts, Beilage zu FR 11/2001, 4 f., 35.

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Satz 2 EStG regelt seither eine eigene Rechtsfolge und verweist nicht mehr auf § 6 Abs. 3 EStG: Für alle Arten von Realteilungen (in Teilbetriebe, Mitunternehmeranteile oder Einzelwirtschaftsgüter) ist zwingend der Buchwert anzusetzen, es sei denn, ein Einzelwirtschaftsgut wird unmittelbar oder mittelbar auf ein KSt-Subjekt übertragen oder die Besteuerung der stillen Reserven nach der Realteilung ist nicht sichergestellt25. Die Regelung betrifft alle Realteilungen, die nach dem 31.12.2000 erfolgen (§ 52 Abs. 34 Satz 4 EStG)26. Dogmatisch ist das Gesetz damit zutreffend wieder zu der Behandlung der Realteilung als Betriebsaufgabe der Mitunternehmerschaft zurückgekehrt27, die lediglich im Hinblick auf die fortbestehende Zugehörigkeit der Wirtschaftsgüter zum Betriebsvermögen eines bisherigen Mitunternehmers nicht zur Aufdeckung der stillen Reserven führt. Wenn Einzelwirtschaftsgüter „in das jeweilige Betriebsvermögen der einzelnen Mitunternehmer“ übertragen werden müssen, kann allerdings zweifelhaft sein, welcher Art das Betriebsvermögen sein muss. Sicher wird zunächst nicht verlangt werden können, dass es sich um ein schon vor der Realteilung bestehendes Betriebsvermögen handelt. Es reicht vielmehr aus, wenn das Betriebsvermögen im Zuge der Realteilung entsteht28. Keinem Zweifel kann dabei unterliegen, dass ein spätestens in diesem Zeitpunkt entstehendes Einzelbetriebsvermögen die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Würde der Gesetzgeber die betriebliche Nutzung nur in einem Einzelunternehmen begünstigt haben wollen, hätte er dies wohl nicht mit dem „jeweiligen“ Betriebsvermögen gekennzeichnet. Auch Sonderbetriebsvermögen bei einer anderen Mitunternehmerschaft muss deshalb gemeint sein29. Hierfür spricht zudem, dass die – zwar von § 16 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG verdrängte30, aber eine ähnliche Interessenlage betreffende – Regelung in § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 2 EStG Übertragungen aus dem Gesamthandsvermögen in das Sonderbetriebsvermögen der Mitunternehmer zum Buchwert vorsieht31. Die Parallelwertung zu § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG lässt andererseits aber zugleich den Schluss darauf zu, dass eine Übertragung aus dem Gesamthandsvermögen der auseinanderzusetzenden Mitunternehmerschaft in das Gesamthandsver-

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25 Also nicht bei Übertragungen in eine ausländische Betriebsstätte, wenn Deutschland das Besteuerungsrecht fehlt, BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 (229) unter V. 26 Nach BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 (231) unter X. gilt die Neuregelung für Realteilungen, die nach dem Stichtag abgeschlossen werden; im Schrifttum werden höchst unterschiedliche Auffassungen vertreten, vgl. Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 16 EStG Anm. 447 m. w. N. 27 Ebenso BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 unter I.; Heß, DStR 2006, 777 f.; Hörger/Rapp in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 16 Rz. 188b. 28 Ebenso BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 (229) unter IV. 1. 29 Ebenso BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 (229) unter IV. 1.; Winkemann, NJW 2009, 1308 (1311), versteht die Finanzverwaltung allerdings so, dass eine Übertragung in das Sonderbetriebsvermögen bei einer Realteilung nicht unschädlich sein soll. 30 BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 unter I.; a. A. für eine „fehlgeschlagene Realteilung“ Winkemann, a. a. O., (Fn. 29), 1311. 31 Märkle/Franz, FS Korn, 2005, 365, 369: „Parallelwertung“.

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mögen einer anderen Mitunternehmerschaft, an der der Realteiler beteiligt ist, nicht zulässig sein soll32. Übertragungen zwischen den Gesamthandsvermögen von Schwestermitunternehmerschaften sieht § 6 Abs. 5 EStG bewusst nicht vor. Sie sollen vielmehr zur Aufdeckung der stillen Reserven führen, jedenfalls insoweit, als durch die Übertragung Personen an dem Wirtschaftsgut beteiligt werden, die nicht Mitunternehmer der übertragenden Mitunternehmerschaft sind33. Indessen findet bei einer Realteilung keine Übertragung unmittelbar von einem Gesamthandsvermögen in ein anderes Gesamthandsvermögen statt. Vielmehr überträgt die Realteilungs-Mitunternehmerschaft das Wirtschaftsgut auf den Realteiler, denn nur diesem gegenüber besteht eine Abfindungsverpflichtung, die mit der Übertragung erfüllt werden soll. Der Realteiler überträgt das betreffende Wirtschaftsgut anschließend weiter auf die neue Mitunternehmerschaft. Für eine kurze Zeit, zumindest eine juristische Sekunde, ist das Wirtschaftsgut dann Sonderbetriebsvermögen des Ausscheidenden, und zwar entweder zunächst bei der abgebenden Mitunternehmerschaft und anschließend bei der neuen Mitunternehmerschaft oder sogleich bei der neuen Mitunternehmerschaft. Dem Buchwertansatz für die Realteilung steht deshalb in derartigen Fällen m. E. nichts im Wege34. b) Sperrfrist Die seit 2001 geltende Regelung zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass sie nicht nur Kontinuität gewährt, sondern auch Kontinuität fordert. Nach § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG bleibt es bei der Buchwertfortführung nach einer Realteilung in Grund und Boden, Gebäude oder andere wesentliche Betriebsgrundlagen nur dann und insoweit, als das betreffende Wirtschaftsgut innerhalb einer Sperrfrist nicht entnommen oder veräußert wird. Die Sperrfrist beträgt drei Jahre nach Abgabe der Gewinnfeststellungserklärung für den Veranlagungszeitraum, in dem die Realteilung stattgefunden hat. Eine Entnahme oder Veräußerung innerhalb der Frist hat zur Folge, dass rückwirkend für das betreffende Wirtschaftsgut der gemeine Wert im Rahmen der Realteilung anzusetzen ist. Die Regelung will ebenso wie § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG bewirken, dass stille Reserven nicht mit dem Ziel auf ein anderes Steuersubjekt übertragen werden, sie in der Person des Übertragungsempfängers kurzfristig zu realisieren. Insoweit soll Missbräuchen typisiert vorgebeugt werden. Wenn die Regelung auch im Hinblick auf ihre Praktikabilität kritisch beurteilt werden muss35, kann in

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32 Ebenso BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 (229) unter IV. 1.; a. A. Stuhrmann in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 16 EStG Rz. 282. 33 Nach BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, FR 2010, 381 m. Anm. Wendt, sollen selbst bei einer Übertragung zwischen beteiligungsidentischen Personengesellschaften die stillen Reserven aufgedeckt werden; dagegen aber BFH v. 15.4.2010 – IV B 105/09, GmbHR 2010, 724. 34 Da der Vorgang nicht „künstlich“ aufgespalten ist, sondern die Trennung aus der Zivilrechtslage folgt, kommen eine Anwendung des § 42 AO oder der Gesamtplanrechtsprechung von vornherein nicht in Betracht. 35 Z. B.: die Abgabe der Gewinnfeststellungserklärung kann nach einer im Streit erfolgten Realteilung Probleme aufwerfen; die Rechtsfolgen der Sperrfristverletzung durch einen Realteiler treffen ggf. alle ehemaligen Mitunternehmer.

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systematischer Hinsicht nichts dagegen eingewendet werden, wenn hierdurch dem Kontinuitätsgrundsatz in einem weiteren Sinn Geltung verschafft wird. Die Kontinuität endet nach dem Willen des Gesetzgebers also, wenn das Realteilungsgut innerhalb der Sperrfrist entnommen oder veräußert wird. Mit einer Entnahme ist nach allgemeinen Grundsätzen die Überführung ins Privatvermögen gemeint. Eine Veräußerung ist als entgeltliche Übertragung auf einen anderen Rechtsträger zu verstehen. Unschädlich müssen deshalb m. E. gewinnneutrale Übertragungen auf einen anderen Rechtsträger nach § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG sein36. Derartige Übertragungen führen dann nicht zu einer Verletzung der Sperrfrist nach der Realteilung, setzen allerdings ihrerseits eine Sperrfrist nach § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG in Gang. Unschädlich sind auch unentgeltliche Buchwertübertragungen der Sachgesamtheit, zu der das Wirtschaftsgut nach der Realteilung gehört, nach § 6 Abs. 3 EStG. In beiden vorstehenden Fällen wird sich aber nicht bezweifeln lassen, dass die Sperrfrist nach der Realteilung weiterläuft und deshalb durch Entnahmen oder Veräußerungen des Rechtsnachfolgers verletzt werden kann. Eine Veräußerung des Realteilungsguts ist auch anzunehmen, wenn es im Rahmen einer Veräußerung der Sachgesamtheit entgeltlich auf einen anderen Rechtsträger übertragen wird. Ob eine Einbringung der Sachgesamtheit zum Buchwert nach §§ 20, 24 UmwStG als eine schädliche Veräußerung zu behandeln ist, erscheint zweifelhaft. Man kann vielleicht eine Parallele zur Buchwerteinbringung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten nach § 6 Abs. 5 Satz 3 ziehen und den Vorgang als unschädlich behandeln37.

III. Ausscheiden gegen Sachwertabfindung 1. Systematische Einordnung des Ausscheidens gegen Sachwertabfindung Die Realteilung, bei der definitionsgemäß die Mitunternehmerschaft endet, ist von Fällen zu unterscheiden, in denen ein Mitunternehmer aus einer fortbestehenden Mitunternehmerschaft ausscheidet. Eine solche Unterscheidung fordert einerseits das Gesellschaftsrecht, bei dem zwischen Ausscheiden eines Gesellschafters und Auflösung der Gesellschaft getrennt wird. Zwar führt die Kündigung eines Gesellschafters einer GbR nach

__________ 36 Gl.A. Engl, a. a. O., (Fn. 14), 120; HHR/Kulosa, a. a. O., (Fn. 26), Anm. 461; Hörger/ Rapp, a. a. O., (Fn. 27), § 16 Rz. 194; Schell, BB 2006, 1026 (1029); Schmidt/Wacker, a. a. O., (Fn. 16), § 16 Rz. 553; a. A. BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 (230) unter VIII.; Blümich/Stuhrmann, a. a. O., (Fn. 32), § 16 Rz. 287; Brandenberg, FS Spiegelberger, 2009 33 (40); Heß, a. a. O., (Fn. 27), 781; Röhrig, EStB 2010, 31 (32). 37 BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 (230) unter VIII. zieht diese Parallele ebenfalls und behandelt umgekehrt alle Fälle von Einbringungen gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten als schädlich; zustimmend Blümich/ Stuhrmann, a. a. O., (Fn. 32), § 16 Rz. 287; Brandenberg, a. a. O., (Fn. 36), 40; wie hier Engl, a. a. O., (Fn. 14), 120; HHR/Kulosa, a. a. O., (Fn. 26), Anm. 461; Hörger/Rapp, a. a. O., (Fn. 27), § 16 Rz. 194; Schell, a. a. O., (Fn. 36), 1029; Schmidt/Wacker, a. a. O., (Fn. 16), § 16 Rz. 553.

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dem Regelstatut des BGB zur Auflösung der Gesellschaft (§ 723, § 736 Abs. 1 BGB). Indessen findet sich in den Gesellschaftsverträgen von GbR meist eine Fortsetzungsklausel. Das HGB sieht heute ohnehin die Fortsetzung der OHG vor (§ 131 Abs. 3 Nr. 3 HGB)38. Dasselbe gilt über die Verweisung in § 9 Abs. 1 PartGG auch für Partnerschaftsgesellschaften. Die Gesellschaft existiert also auch nach Ausscheiden des Gesellschafters fort, sofern nur mindestens zwei Gesellschafter verbleiben39. Ähnlich verhält es sich, wenn alle Gesellschafter bis auf einen aus einer Personengesellschaft ausscheiden. Dann wird zwar die Gesellschaft liquidationslos vollbeendet, aber der verbleibende Gesellschafter wird ihr Gesamtrechtsnachfolger40. Andererseits finden auch im Ertragsteuerrecht unterschiedliche Regelungen Anwendung. So kann bei Ausscheiden eines Mitunternehmers aus einer fortbestehenden Mitunternehmerschaft ersichtlich keine Betriebsveräußerung der Mitunternehmerschaft (§ 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) vorliegen. Denkbar wäre zwar eine Betriebsaufgabe der Mitunternehmerschaft (§ 16 Abs. 3 Satz 1 EStG). Gegen ein solches Verständnis spricht aber einerseits der gesellschaftsrechtliche Fortbestand der Gesellschaft und andererseits vor allem, dass mit § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG eine Norm existiert, die tatbestandlich nur den Fall des Ausscheidens betreffen kann; sie wäre ansonsten ohne Anwendungsbereich. Dementsprechend kann das Ausscheiden eines Mitunternehmers aus der fortbestehenden Mitunternehmerschaft auch keine Realteilung i. S. d. heutigen § 16 Abs. 3 Sätze 2 und 3 EStG sein41. Betrachtet man nun das Ausscheiden des Mitunternehmers nicht als Gewinnrealisierungstatbestand der Mitunternehmerschaft, sondern als einen auf den Mitunternehmer bezogenen Vorgang, muss noch zwischen einer Veräußerung und einer Aufgabe des Mitunternehmeranteils unterschieden werden (§ 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 EStG)42. Der BFH behandelt den Vorgang m. E. zutreffend als Veräußerung43, weil der Mitunternehmer die Anteile an den Wirtschaftsgütern des Gesamthandsvermögens auf die verbleibenden Mitunternehmer gegen Entgelt in Gestalt seines Abfindungsguthabens überträgt. Das gilt auch beim Ausscheiden des vorletzten Mitunternehmers.

__________ 38 Vgl. zu einer gesellschaftsvertraglich vereinbarten Fortsetzungsklausel z. B. BGH v. 7.4.2008 – II ZR 181/04, NJW 2008, 2987. 39 Baumbach/Hopt, HGB, 34. Aufl. 2010, § 131 Rz. 23, 35. 40 Ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. BGH v. 12.6.2008 – III ZR 38/07, MDR 2008, 1033; v. 10.12.1990 – II ZR 256/89, BGHZ 113, 132. 41 Ebenso BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 unter II.; FG Saarl. v. 24.9.2003 – 1 K 250/00, rkr., EFG 2003, 1776; Mitschke, NWB 2009, 606. 42 BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 unter II. lässt die dogmatische Einordnung offen. 43 Vgl. z. B. BFH v. 10.3.1998 – VIII R 76/96, BStBl. II 1999, 269 = FR 1998, 887; v. 13.11.1997 – IV R 18/97, BStBl. II 1998, 290 = FR 1998, 318; v. 23.11.1995 – IV R 75/94, BStBl. II 1996, 194; v. 24.5.1973 – IV R 64/70, BStBl. II 1973, 655 = FR 1996, 173; gl.A. Crezelius, FS Korn, 2005, 273 (276); Ley, FS Korn, 2005, 335 (337); Röhrig, a. a. O., (Fn. 36), 33; Schmidt/Wacker, a. a. O., (Fn. 16), § 16 Rz. 536; a. A. Hörger/ Rapp, a. a. O., (Fn. 27), § 16 Rz. 185a; Reiß in Kirchhof, 9. Aufl. 2010, § 16 Rz. 227.

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Aus der Perspektive des Ausscheidenden stellt sich der Vorgang als eine Veräußerung des ganzen Mitunternehmeranteils dar44. 2. Einkommensteuerliche Behandlung bis 1999 Nach einer grundlegenden Entscheidung des BFH vom 24.5.197345 wurde das Ausscheiden gegen Abfindung mit ins Privatvermögen überführten Wirtschaftsgütern als Veräußerung des Mitunternehmeranteils des Ausscheidenden angesehen. Der Gewinn ergab sich aus der Differenz von Kapitalkonto und Abfindungsguthaben. Aus der Sicht der verbleibenden Gesellschafter führte der betreffende Betrag zu Anschaffungskosten auf ihre Mitunternehmeranteile, zur Aufstockung der Buchwerte der verbleibenden Wirtschaftsgüter des Gesamthandsvermögens bis zum Teilwert und darüber hinaus zur Bilanzierung eines Firmenwerts. In Bezug auf das Abfindungsgut ergab sich für die verbleibenden Gesellschafter ein laufender Gewinn in Höhe der auf sie entfallenden stillen Reserven. Eine Gleichstellung mit der Realteilung wurde abgelehnt, weil das Abfindungsgut nicht im Betriebsvermögen verbleibe. Dieselben Rechtsfolgen sollten bei unmittelbarer Überführung des Abfindungsguts in das Betriebsvermögen des Ausscheidenden nur nach einer vereinzelt vertretenen Meinung eintreten46. Ganz überwiegend wurde in Anlehnung an die Behandlung der Realteilung zugelassen, dass zur Abfindung erhaltene Wirtschaftsgüter des Gesamthandsvermögens ohne Aufdeckung der stillen Reserven in ein anderes Betriebsvermögen des Ausscheidenden überführt werden konnten47. 3. Einkommensteuerliche Behandlung 1999 bis 2001 Die Rechtslage änderte sich grundlegend durch die Verabschiedung des StEntlG 1999/2000/2002. Das Ausscheiden gegen Abfindung mit vom Ausscheidenden weiterhin betrieblich genutzten Wirtschaftsgütern des Gesamthandsvermögens konnte dadurch in einem anderen Licht erscheinen, dass für die Realteilung § 16 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG eingefügt wurden. Es stellte sich die Frage, ob diese ausdrückliche Regelung nun auch das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung umfasste. Immerhin wurde diese Auffassung in der Begründung zum Entwurf des StEntlG 1999/2000/2002 vertreten, weil als Realteilung auch der Fall bezeichnet wurde, in dem „die Mitunternehmerschaft zwar bestehen bleibt, jedoch Teile des Betriebsvermögens dem ausscheidenden Gesellschafter als Abfindung überlassen werden“48.

__________ 44 Vgl. z. B. BFH v. 3.6.1997 – VIII B 73/96, BFH/NV 1997, 838; v. 16.5.2002 – III R 45/98, BStBl. II 2003, 10 = FR 2002, 1356 m. Anm. Kempermann. 45 BFH v. 24.5.1973 – IV R 64/70, BStBl. II 1973, 655. 46 O. V., HFR 1973, 482. 47 BMF v. 20.12.19771977 – IV B 2 - S 2241 - 231/77, BStBl. I 1978, 8 Tz. 77; KnobbeKeuk, Bilanz- und Unternehmensteuerrecht, 9. Aufl. 1993, § 23 II 6; Schmidt, a. a. O., (Fn. 13), § 16 Rz. 523. 48 BT-Drucks. 14/23, 178.

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Diese Ansicht fand allerdings kaum Befürworter. Ganz überwiegend wurde vielmehr – m. E. zu Recht49 – vertreten, dass der Gesetzeswortlaut für eine Erstreckung auf fortbestehende Mitunternehmerschaften keine Anhaltspunkte biete50. Es war deshalb auch nach Inkrafttreten des StEntlG 1999/2000/2002 weiterhin davon auszugehen, dass das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung eine Anteilsveräußerung ist. Allerdings musste die Veräußerung nach den nun geltenden allgemeinen Grundsätzen zur Aufdeckung der stillen Reserven führen, wenn Einzelwirtschaftsgüter übertragen wurden. Denn mit § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG in der Fassung des StEntlG 1999/2000/2002 entfiel die Möglichkeit, Wirtschaftsgüter des Gesamthandsvermögens zum Buchwert auf einen Mitunternehmer zu übertragen. Die stillen Reserven im zum Zweck der Abfindung auf den Ausscheidenden übertragenen Wirtschaftsgut waren deshalb unvermeidbar vollständig aufzudecken. Anders waren auch nicht Fälle zu beurteilen, in denen der Ausscheidende einen Teilbetrieb oder einen Mitunternehmeranteil erhielt. Für derartige Übertragungen war der neue § 6 Abs. 3 EStG, der eine zwingende Fortführung des Buchwerts für unentgeltliche Übertragungen von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmeranteilen vorsah, nicht einschlägig. Denn die Übertragung war nicht unentgeltlich, sondern erfolgte gegen Anrechnung auf das Abfindungsguthaben. Dem Kontinuitätsgrundsatz wurde also nicht mehr Rechnung getragen. 4. Einkommensteuerliche Behandlung seit 2001 a) Abgrenzung gegenüber der Realteilung Während das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung bei der erstmaligen Regelung der Realteilung – wie erwähnt – ausdrücklich in den Gesetzesmaterialien Erwähnung fand, schweigen die Gesetzesmaterialien im Zusammenhang mit der erneuten Änderung des § 16 Abs. 3 EStG durch das UntStFG zu dieser Frage. Weder die Begründung des Gesetzentwurfs für das UntStFG51 noch der Bericht des Finanzausschusses52, von dem Änderungen an § 16 Abs. 3 EStG vorgeschlagen wurden53, enthalten Hinweise darauf, wie sich Bundesregierung bzw. Finanzausschuss die künftige Behandlung des Ausscheidens gegen Sachwertabfindung vorstellten54. Wie üblich sind auch Materialien zum Vorschlag des Vermittlungsausschusses55, auf dem der heute geltende Gesetzestext beruht, nicht veröffentlicht worden. Es ist mithin nicht feststellbar, ob die Betei-

__________ 49 Wendt, FR 1999, 333 (342). 50 Vgl. HHR/Kulosa, a. a. O., (Fn. 26), Anm. 471 a. E.; Schmidt/Wacker, a. a. O., (Fn. 16), § 16 Rz. 536. 51 BT-Drucks. 14/6882, 34. 52 BT-Drucks. 14/7344, 7. 53 BT-Drucks. 14/7343, 11. 54 Nach Mitschke, a. a. O., (Fn. 41), 607, sollte die vor 1999 geltende Rechtslage wiederhergestellt werden. 55 BT-Drucks. 14/7780.

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ligten am Gesetzgebungsverfahren von der Änderung des § 16 Abs. 3 EStG auch das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung betroffen sahen. Die nun verwendeten Formulierungen in § 16 Abs. 3 EStG lassen sich nicht mehr und nicht weniger als die Erstfassung auf das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung anwenden. Auf der Basis der von der Bundesregierung seinerzeit vertretenen Gesetzesauslegung müsste dann wohl auch die Neufassung der Regelungen zur Realteilung auf Fälle des Ausscheidens gegen Sachwertabfindung mit weiter betrieblich genutzten Wirtschaftsgütern erstreckt werden56. Folgt man hingegen der hier vertretenen Ansicht, dass das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung auch nach der 1999 und 2000 geltenden Rechtslage eine Anteilsveräußerung und keine Realteilung war, konnten die geänderten Regelungen zur Realteilung auch nur Bedeutung für „echte“ Realteilungen haben, also nur für solche Fallgestaltungen, in denen die Personengesellschaft nach der Teilung nicht mehr fortbesteht57. b) Gewinn infolge des Ausscheidens gegen Abfindung aa) Gewinn des ausscheidenden Mitunternehmers Scheidet ein Mitunternehmer entgeltlich aus der Mitunternehmerschaft aus, erzielt der Ausscheidende einen Gewinn aus der Veräußerung seines Mitunternehmeranteils i. S. d. § 16 Abs. 1 Nr. 2 EStG58. Der Gewinn ist nach § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG tarifbegünstigt. Er ergibt sich der Höhe nach aus der Differenz zwischen Kapitalkonto und Abfindungsanspruch, von der die Veräußerungskosten abzuziehen sind (§ 16 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG). In welcher Form der Abfindungsanspruch realisiert wird, wirkt sich auf die Höhe des Gewinns grundsätzlich nicht aus. Im Fall der Übertragung eines Wirtschaftsguts an Erfüllungs Statt kommt es allerdings gleichwohl auf den gemeinen Wert des übertragenen Wirtschaftsguts an59; maßgebend ist nicht, mit welchem Betrag das Gut auf den Abfindungsanspruch angerechnet wird60. Ist die Abfindung von Anfang an auf die Übertragung eines Wirtschaftsguts gerichtet, liegt ein Tausch vor, bei dem das Entgelt ohnehin aus dem gemeinen Wert der empfan-

__________ 56 So Stuhrmann, DStR 2005, 1355 (1356); Blümich/Stuhrmann, a. a. O., (Fn. 32), § 16 Rz. 270, 279. 57 Dieser Auffassung ist im Ergebnis auch die Finanzverwaltung, die in BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 unter II. eine Anwendung der Realteilungsgrundsätze ablehnt; gl. A. Brandenberg, Stbg. 2004, 65 (72 f.); ders., (Fn. 36), 33 ff.; Crezelius, a. a. O., (Fn. 43), 278; Dietel, DStR 2009, 1352; Heß, a. a. O., (Fn. 27), 778; HHR/Kulosa, a. a. O., (Fn. 26), Anm. 441; Hörger/Rapp, a. a. O., (Fn. 27), § 16 Rz. 185b, 190; Kirchhof/Reiß, a. a. O., (Fn. 43), § 16 Rz. 337, 340; Märkle/Franz, a. a. O., (Fn. 31), 367 f.; Musil, a. a. O., (Fn. 7), 1292; Röhrig, a. a. O., (Fn. 36), 32; Schell, a. a. O., (Fn. 36), 1026; Schmidt/Wacker, a. a. O., (Fn. 16), § 16 Rz. 536; Schulze zur Wiesche, Stbg. 2006, 374 (375); a. A. Stahl in Korn, EStG, § 16 Rz. 296; Ley, a. a. O., (Fn. 43), 348. 58 S. oben unter III.1. 59 BFH v. 25.6.2009 – IV R 3/07, BStBl. II 2010, 182 = FR 2010, 329 m. Anm. Kanzler. 60 HHR/Kobor, a. a. O., (Fn. 26), § 16 Anm. 315 „Sachwertabfindung“.

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genen Leistung folgt. Der Veräußerungspreis ergibt sich deshalb aus dem gemeinen Wert des Abfindungsguts61. Wie der Ausscheidende das Abfindungsgut nutzt, ist – anders als bei der Realteilung – zunächst ohne Bedeutung. Der Ausscheidende erhält das Wirtschaftsgut zum gemeinen Wert und hat in dieser Höhe Anschaffungskosten. Die anschließende Nutzung in einem anderen Betriebsvermögen des Ausscheidenden wäre dort als Einlage zu behandeln, die nicht mit dem Teilwert, sondern mit den Anschaffungskosten in Höhe des gemeinen Werts zu bewerten wäre (§ 6 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 Buchst. a EStG). Dem Kontinuitätsgrundsatz könnte selbst dann nicht entsprochen werden, wenn der Ausscheidende einen Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil erhalten würde. Zwar ordnet § 6 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 EStG an, dass ein Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil zum Buchwert übertragen werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass der Vorgang unentgeltlich stattfindet. Davon kann jedoch keine Rede sein, wenn sich der Ausscheidende seinen Weggang mit der Übertragung eines Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils entgelten lässt62. bb) Gewinn der verbleibenden Mitunternehmer Im Fall einer Abfindung in Gestalt eines Wirtschaftsguts des Gesamthandsvermögens würden nach allgemeinen Grundsätzen nicht nur der Ausscheidende, sondern auch die verbleibenden Mitunternehmer einen Gewinn erzielen. Denn da es sich um einen tauschähnlichen Vorgang handelt, erzielt nicht nur der Ausscheidende ein Entgelt, sondern auch die verbleibenden Mitunternehmer übertragen das Abfindungsgut entgeltlich auf den Ausscheidenden. Entgelt ist dabei der gemeine Wert des Abfindungsguts, denn in Höhe dieses Betrags wird das Gut auf den Abfindungsanspruch des Ausscheidenden angerechnet. Der Gewinn für die verbleibenden Mitunternehmer ergibt sich aus der Differenz von Entgelt und Buchwert des Abfindungsguts. Diese entspricht den auf die verbleibenden Mitunternehmer entfallenden stillen Reserven. Die auf den Ausscheidenden entfallenden stillen Reserven in allen Wirtschaftsgütern des Gesamthandsvermögens sind in diesem Gedankenschritt bereits durch das Entstehen des Abfindungsanspruchs aufgedeckt. Den verbleibenden Gesellschaftern entstehen in derselben Höhe nachträgliche Anschaffungskosten, die in Ergänzungsbilanzen der Gesellschafter auszuweisen sind63. Der in Höhe der auf die verbleibenden Mitunternehmer entfallenden stillen Reserven des Abfindungsguts entstehende Gewinn ist wie ein Gewinn aus sonstiger Veräuße-

__________ 61 BFH v. 24.5.1973 – IV R 64/70, BStBl. II 1973, 655; HHR/Kobor, a. a. O., (Fn. 26), § 16 Anm. 315 „Sachwertabfindung“. 62 Dietel, a. a. O., (Fn. 57), 1353. 63 Da die nachträglichen Anschaffungskosten auf alle verbleibenden Mitunternehmer nach ihrem Anteil am Gesamthandsvermögen entfallen, kann insoweit aus Vereinfachungsgründen auch auf Ergänzungsbilanzen verzichtet und eine Aufstockung der Buchwerte in der Gesamthandsbilanz vorgenommen werden.

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rung von Betriebsvermögen bei fortbestehendem Betrieb zu behandeln. Er ist deshalb nicht tarifbegünstigt. Erhält der Ausscheidende einen Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil, kommt es in gleicher Weise zur Entstehung eines Gewinns. Allerdings ist dieser Gewinn tarifbegünstigt, denn in diesem Fall sind für die verbleibenden Mitunternehmer in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit die Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 EStG erfüllt. cc) Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG Ausgespart blieb bei den bisherigen Überlegungen die Frage, ob dem Kontinuitätsgrundsatz im Fall des Ausscheidens gegen Sachwertabfindung nicht durch § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG Rechnung getragen wird. Eine Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG käme dann nicht in Betracht, wenn § 16 Abs. 3 EStG das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung abdecken würde und dann diesbezüglich das speziellere Gesetz wäre64. Dies ist aber nach den vorstehenden Ausführungen65 nicht der Fall. Die Voraussetzungen der für Abfindungen mit Einzelwirtschaftsgütern damit grundsätzlich anwendbaren Regelung in § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG sind u. a. dann erfüllt, wenn ein Mitunternehmer Wirtschaftsgüter des Gesamthandsvermögens gegen Minderung von Gesellschaftsrechten erhält und anschließend unmittelbar in einem Einzelbetriebsvermögen (§ 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 EStG) oder einem Sonderbetriebsvermögen (§ 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 2 EStG) einsetzt. Die Übertragung findet dann zwingend zum Buchwert statt. § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG setzt allerdings voraus, dass die Mitunternehmerstellung im Zeitpunkt der Übertragung besteht. Dieses Erfordernis wird als erfüllt angesehen, wenn die Übertragung zeitgleich mit dem Beginn der Mitunternehmerstellung stattfindet66. Es spricht deshalb nichts dagegen, die Regelung auch im umgekehrten Fall anzuwenden, wenn nämlich die Übertragung zeitgleich mit dem Ausscheiden aus der Mitunternehmerschaft erfolgt67. Folgt man diesem Gedanken, bewirkt § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG, dass ein einzelnes Abfindungsgut zum Buchwert aus dem Betriebsvermögen der Mitunternehmerschaft ausscheidet68. Die Übertragung des Wirtschaftsguts führt demnach nicht zu einer Gewinnrealisierung. Eine Ausnahme davon gilt allerdings, wenn zusammen mit dem Einzelwirtschaftsgut auch eine Verbindlichkeit übernommen wird69. In der Übernahme einer Verbindlichkeit wird in einem sol-

__________ 64 65 66 67 68

So etwa Ley, a. a. O., (Fn. 43), 350. S. oben unter III.4.a). HHR/Niehus/Wilke, a. a. O., (Fn. 26), § 6 EStG Anm. 1451b. Brandenberg, a. a. O., (Fn. 57), 73; Ley, a. a. O., (Fn. 43), 341. Gl.A. Hörger/Rapp, a. a. O., (Fn. 27), § 16 Rz. 185b; Schmidt/Wacker, a. a. O., (Fn. 16), § 16 Rz. 524. 69 Brandenberg, Fn. 36, 35; HHR/Niehus/Wilke, a. a. O., (Fn. 26), § 6 EStG Anm. 1452b; Kirchhof/Reiß, a. a. O., (Fn. 43), § 16 Rz. 232; Korn/Stahl, a. a. O., (Fn. 57), § 16 Rz. 299.

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chen Fall nach der Bruttobetrachtung ein Entgelt gesehen70. Es kann deshalb zur Realisierung stiller Reserven kommen71. Besteht die Abfindung nicht in einem Einzelwirtschaftsgut, sondern in einer Sachgesamtheit, findet § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG seinem Wortlaut nach keine Anwendung. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass eine Übertragung von Sachgesamtheiten die Aufdeckung der stillen Reserven zur Folge haben müsste. Schließlich ist dem Kontinuitätsgedanken etwa bei der Übertragung eines Teilbetriebs in noch größerem Umfang Rechnung getragen als bei der Herauslösung eines Einzelwirtschaftsguts aus seinem bisherigen betrieblichen Zusammenhang. Die Lösung des Problems findet sich m. E. nicht in § 6 Abs. 5 EStG, sondern in § 24 UmwStG, der „reziprok“ auch auf die Ausbringung von Sachgesamtheiten aus der Mitunternehmerschaft angewendet werden kann.72 dd) Kapitalkontenanpassung zur Vermeidung eines Gewinns infolge des Ausscheidens Mit der Buchwertübertragung entfällt allerdings nur einer von zwei durch das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung angesprochenen Gewinnrealisierungsvorgängen. Nicht berührt wird die Entstehung eines Gewinns durch das Ausscheiden aus der Mitunternehmerschaft. Handelt es sich auch unter dieser Perspektive um die Veräußerung des Mitunternehmeranteils oder muss das Ausscheiden nun als Aufgabe des Mitunternehmeranteils nach § 16 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 EStG gewertet werden, weil der Ausscheidende nach Erhalt des Abfindungsguts für die Beendigung der Mitunternehmerstellung kein Entgelt mehr erhält? M. E. kann die tatbestandliche Einordnung des Ausscheidens nicht von der Bewertung des Abfindungsguts abhängen. Der Vorgang bleibt ungeachtet der Bewertung ein entgeltlicher, es bleibt also bei der Beurteilung des Ausscheidens als Veräußerung des Mitunternehmeranteils. Die Höhe des Gewinns infolge des Ausscheidens ist nun allerdings durch die Bewertung des Abfindungsguts beeinflusst. Konsequenterweise wird nämlich auch der Abfindungsanspruch mit dem Buchwert des Abfindungsguts bewertet

__________ 70 BFH v. 11.12.2001 – VIII R 58/98, BStBl. II 2002, 420 = FR 2002, 516 m. Anm. Kempermann. 71 Nach der Trennungstheorie kommt es sogar immer zur Aufdeckung anteiliger stiller Reserven, auch wenn die übernommene Verbindlichkeit hinter dem Buchwert des Wirtschaftsguts zurückbleibt. 72 Gl.A. Hageböke, Ubg. 2009, 105 (109); HHR/Niehus/Wilke, a. a. O., (Fn. 26), § 6 EStG Anm. 1445d a. E., 1451a; ebenso im Ergebnis Brandenberg, a. a. O., (Fn. 57), 73; a. A. und für Behandlung wie Realteilung HHR/Kulosa, a. a. O., (Fn. 26), Anm. 441; Hörger/Rapp, a. a. O., (Fn. 27), § 16 Rz. 190; Kirchhof/Reiß, a. a. O., (Fn. 43), § 16 Rz. 233; Musil, a. a. O., (Fn. 7), 1293; Schmidt/Wacker, a. a. O., (Fn. 16), § 16 Rz. 536; Schulze zur Wiesche, a. a. O., (Fn. 57), 378; für Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG de lege lata Crezelius, a. a. O., (Fn. 43), 279; nach Dietel, a. a. O., (Fn. 57), 1354 ist de lege lata keine Buchwertübertragung möglich; ebenso Röhrig, a. a. O., (Fn. 36), 33; gegen jede analoge Anwendung von § 24 UmwStG Rasche in Rödder/Herlinghaus/ van Lishaut, UmwStG, § 24 Rz. 11, 17.

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werden müssen. Der Veräußerungsgewinn ergibt sich danach aus der Differenz von Buchwert des Abfindungsguts und Kapitalkonto des Ausscheidenden73. Das Ergebnis dieser Rechenoperation hat indessen nichts mit der tatsächlichen Bereicherung des Ausscheidenden zu tun. Es hängt nicht nur vom Verhältnis des Buchwerts des Abfindungsguts zum Anteil des Ausscheidenden am Gesamthandsvermögen, sondern von der Verteilung der stillen Reserven auf alle Wirtschaftsgüter des Gesamthandsvermögens ab. Ist ein größerer Prozentsatz der gesamten stillen Reserven im Abfindungsgut gebunden als der prozentuale Anteil, mit dem der Ausscheidende am Gesamthandsvermögen beteiligt ist, kann sich aus der Gegenüberstellung von Buchwert des Abfindungsguts und Kapitalkonto auch ein Verlust ergeben. Offensichtlich muss eine derartige Ermittlung des Veräußerungsgewinns fehlerhaft sein. Grund für diesen Fehler ist die Verknüpfung einer an Verkehrswerten orientierten Vermögenstrennung mit den steuerbilanziellen Buchwerten. Beide Wertsysteme sind grundsätzlich inkommensurabel. Will man sie gleichwohl miteinander verknüpfen, müssen Anpassungen vorgenommen werden. Solche Anpassungen sind nicht nur bei dem Ausscheiden eines Mitunternehmers aus der bestehenbleibenden Mitunternehmerschaft, sondern auch bei der Realteilung einer Mitunternehmerschaft notwendig. Hierfür bieten sich drei Wege an: die Buchwerte könnten dem Verhältnis der Verkehrswerte oder die Kapitalkonten dem Verhältnis der Buchwerte angepasst werden oder der Wertausgleich findet durch bilanzielle Ausgleichsposten statt. Nachdem sich der BFH in einem Urteil aus dem Jahr 199174 zu der zweiten Methode bekannt hat, verfährt die Praxis auf diese Weise und passt die Kapitalkonten der Summe der Buchwerte an, die von den einzelnen Realteilern übernommen werden75. Im Ergebnis führt dies dazu, dass jeder Realteiler unabhängig von seiner Beteiligungsquote die stillen Reserven übernimmt, die in den auf ihn übergehenden Wirtschaftsgütern angelegt sind. Da die Buchwertverknüpfung nach § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG mit Willen des Gesetzgebers bewirken kann, dass stille Reserven von einem auf einen anderen Mitunternehmer derselben Mitunternehmerschaft „überspringen“, muss diese Wirkung auch im Fall des Ausscheidens gegen Sachwertabfindung eintreten können. In diesem Punkt sind sich Ausscheiden gegen Sachwertabfindung und Realteilung also ähnlich. Was sollte dann dagegen sprechen, die buchmäßigen Ausgleichstechniken der Realteilung auch auf das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung anzuwenden? Entgegenstehende Argumente sind m. E. nicht ersichtlich. Dass alleine die Realteilung im Gesetz geregelt ist, kann diesbezüglich keine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, denn die Methode

__________ 73 Rechnerisch käme man im Übrigen zu demselben Ergebnis, wenn man den Vorgang nach Übertragung des Wirtschaftsguts gegen Minderung des Kapitalkontos als Aufgabe des Mitunternehmeranteils beurteilen würde. 74 BFH v. 10.12.1991 – VIII R 69/86, BStBl. II 1992, 385 = FR 1992, 368. 75 BMF v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228 unter VII.; Heß, a. a. O., (Fn. 27), 780; Musil, a. a. O., (Fn. 7), 1294; a. A. Engl, a. a. O., (Fn. 14), 122.

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der Wertanpassung ist auch für die Realteilung nicht geregelt. Vielmehr beschränkt sich der Gesetzesbefehl des § 16 Abs. 3 Satz 2 EStG darauf, den Buchwerttransfer anzuordnen. Nichts anderes regelt § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG. Im Ergebnis wird deshalb der Ausweis eines Gewinns aus der Veräußerung des Mitunternehmeranteils im Fall des Ausscheidens gegen Sachwertabfindung dadurch verhindert, dass das Kapitalkonto der Höhe nach an den Buchwert des Abfindungsguts angepasst wird.76 Dem Kontinuitätsgrundsatz wird also doch Geltung verschafft. ee) Sperrfrist Wie im Fall der Realteilung bewirkt auch die Buchwertübertragung des Abfindungsguts das Ingangsetzen einer Frist, innerhalb derer das Gut weder entnommen noch veräußert werden darf. Die Frist beträgt ebenfalls drei Jahre nach Abgabe der Gewinnfeststellungserklärung für den Veranlagungszeitraum des Ausscheidens. Als schädlich sind dieselben Vorgänge wie im Bereich des § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG anzusehen77. 5. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf? a) Unterschiede bei der Behandlung von Realteilung und Sachwertabfindung Folgt man der hier vertretenen Auffassung, dass ein Gewinnausweis durch Ansatz des Buchwerts für das Abfindungsgut und Anpassung des Kapitalkontos an diesen Wert vermieden wird, scheint dem Kontinuitätsgrundsatz umfassend Rechnung getragen zu werden. Einer ausdrücklichen Regelung für das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung bedürfte es dann nicht. Wenn man die Übertragung in das „jeweilige Betriebsvermögen“ des Realteilers unter Rückgriff auf die von § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG geregelten Fälle versteht, sind die begünstigten Übertragungen von Einzelwirtschaftsgütern deckungsgleich. Insbesondere kann es in beiden Fällen nicht vorkommen, dass das Wirtschaftsgut unmittelbar in ein anderes Gesamthandsvermögen übertragen wird. Zu Unrecht wird eine solche Fallgestaltung beim Sozietätswechsel von Freiberuflern angenommen78, wenn der Abfindungsanspruch dadurch erfüllt wird, dass der Ausscheidende einen Teil des Mandanten- oder Patientenstamms in eine neue Sozietät „mitnimmt“79. Nur auf den ersten Blick erscheint es so, als ginge das Wirtschaftsgut von einem Gesamthandsvermögen

__________ 76 Gl.A. Kirchhof/Reiß, a. a. O., (Fn. 43), § 16 Rz. 234; Ley, a. a. O., (Fn. 43), 344; Schmidt/ Wacker, a. a. O., (Fn. 16), § 16 Rz. 524. 77 S. oben unter II.4.b). 78 Dieser Vorstellung folgen wohl Heß, a. a. O., (Fn. 27), 779, und Mitschke, a. a. O., (Fn. 41), 608. 79 Zur „Mitnahme“ von Mandaten vgl. etwa Wolff, NJW 2009, 1302, der auch bei Fortbestand der Sozietät von „Realteilung der Mandate“ spricht (S. 1305).

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in ein anderes Gesamthandsvermögen über80. Bei genauer Betrachtung erfüllt die bisherige Mitunternehmerschaft ihre Abfindungsverpflichtung gegenüber dem Ausscheidenden dadurch, dass sie ihm das Abfindungsgut überträgt. Erst durch einen weiteren Übertragungsakt bringt der Ausscheidende das Wirtschaftsgut dann in ein anderes Gesamthandsvermögen ein. Für beide Vorgänge ordnet § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG die Buchwertfortführung an, so dass eine Aufdeckung der stillen Reserven insoweit nicht zu befürchten ist. Die zweite Buchwertübertragung bedeutet auch keine Sperrfristverletzung nach der ersten Übertragung, begründet allerdings eine zweite Sperrfrist, soweit nicht die stillen Reserven dem Einbringenden durch eine Ergänzungsbilanz zugewiesen werden. Handlungsbedarf kann sich aber im Hinblick auf die unterschiedlichen Sperrfristregelungen in § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG und § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG ergeben. Zwar sieht das Gesetz in beiden Fällen vor, dass eine Veräußerung oder Entnahme des übertragenen Guts innerhalb einer Frist von drei Jahren nach Abgabe der Steuererklärung (hier Gewinnfeststellungserklärung) für den Veranlagungszeitraum der Realteilung bzw. der Übertragung des Abfindungsguts zur rückwirkenden Versagung des Buchwerttransfers führt. Im Fall der Realteilung betrifft die Sperrfrist allerdings nur Grund und Boden, Gebäude und „andere wesentliche Betriebsgrundlagen“, während die Sperrfrist nach § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG jedes Wirtschaftsgut betrifft. Unterschiedlich ist auch die Rechtsfolge einer Sperrfristverletzung, weil im Fall der Einzelwirtschaftsgutübertragung rückwirkend der Teilwert anzusetzen ist, im Fall der Realteilung – systemgerecht – aber der gemeine Wert. Ein Unterschied zwischen den Rechtsfolgen einer Realteilung und dem Ausscheiden gegen Sachwertabfindung besteht auch darin, dass übernommene Verbindlichkeiten im Rahmen des § 16 EStG wegen der dort geltenden Nettobetrachtung nicht zur Aufdeckung stiller Reserven führen. Anders verhält es sich bei Übertragungen nach § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG, für die – wie ausgeführt81 – die Bruttobetrachtung gilt. b) Gesetzgebungsvorschlag der BRAK und des DAV Nicht im Hinblick auf die unterschiedlichen Sperrfristregelungen, sondern wegen der Unklarheit über die Möglichkeit einer Buchwertabfindung haben Bundesrechtsanwaltskammer und Deutscher Anwaltverein im September 2008 vorgeschlagen82, § 16 Abs. 3 EStG um folgenden weiteren Satz zu ergän-

__________ 80 Das gilt auch dann, wenn mehrere Sozien ausscheiden, um gemeinsam in einer neuen Sozietät tätig zu werden; Empfänger der Abfindung sind jeweils die ausscheidenden Sozien, nicht die neue Gesamthand, anders wohl Stahl, FR 2006, 1071 (1074); Korn/Stahl, a. a. O., (Fn. 57), § 16 Rz. 315. 81 S. oben unter III.4.b) cc). 82 Vorschlag der BRAK und des DAV zur Ergänzung des Entwurfs des Dritten Mittelstands-Entlastungsgesetzes (MEG III), http://www.brak.de/seiten/pdf/aktuelles/ 2008/GGV_BRAK_DAV_MEGIII.pdf.

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zen: „Eine Realteilung liegt auch dann vor, wenn ein Mitunternehmer aus der Mitunternehmerschaft ganz oder anteilig ausscheidet und im Zuge der Realteilung der zivilrechtliche Rechtsträger dieser Mitunternehmerschaft gesellschaftsrechtlich fortbesteht“. Die Gesetzgebungsorgane haben den Vorschlag in der vergangenen Legislaturperiode nicht aufgegriffen. Würde eine solche Regelung geschaffen, wäre § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG für den Fall der Sachwertabfindung verdrängt. Alle Rechtsfolgen eines solchen Ausscheidens bestimmten sich nach den Rechtsfolgen der Realteilung. Der Gesetzesvorschlag würde aber nicht nur ein Ausscheiden gegen Sachwertabfindung umfassen, sondern jede Minderung von Gesellschaftsrechten, auch ohne Ausscheiden des Mitunternehmers. Es erscheint systematisch verfehlt, der Realteilung, die sich durch ein vollständiges Ende der Mitunternehmerstellung auszeichnet, Vorgänge gleichzustellen, bei denen die Mitunternehmerstellung bestehen bleibt. Es gibt auch keinen Bedarf für eine so weitgreifende Regelung, denn wenn ein Mitunternehmer seinen Anteil an der Mitunternehmerschaft reduziert und als Gegenleistung Wirtschaftsgüter des Gesamthandsvermögens erhält, liegt ein klassischer Anwendungsfall des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG in Gestalt der Minderung von Gesellschaftsrechten vor. Sollte der Mitunternehmer allerdings Geldleistungen für die Minderung der Gesellschaftsrechte erhalten, gibt es keinen sachlichen Grund für einen Verzicht auf die Versteuerung des durch die damit verwirklichte Teilanteilsveräußerung erzielten Gewinns. Es kann in diesem Fall gerade kein Buchwert fortgeführt werden, der unter Berufung auf den Kontinuitätsgrundsatz Anknüpfungspunkt für eine spätere Besteuerung stiller Reserven sein könnte.

IV. Zusammenfassung Der Gesetzgeber hat dem Kontinuitätsprinzip in Fällen der Realteilung Vorrang vor dem Subjektsteuerprinzip eingeräumt. Aus der Positionierung der gesetzlichen Regelung in § 16 Abs. 3 EStG muss – auch vor dem Hintergrund der Gesetzgebungshistorie – angenommen werden, dass als Realteilung nur Fallgestaltungen verstanden werden können, in denen es zu einer Aufgabe des Betriebs der Mitunternehmerschaft kommt. Das Ausscheiden eines Gesellschafters aus der fortbestehenden Personengesellschaft ist davon nicht umfasst. Es kann angesichts der gesetzgeberischen Entscheidung zur Realteilung keinen sachlichen Grund dafür geben, das Kontinuitätsprinzip nicht auch auf das Ausscheiden eines Mitunternehmers gegen Sachwertabfindung anzuwenden. Eine Fortführung des Buchwerts des Abfindungsguts wird zwar grundsätzlich von § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG ermöglicht. Die Rechtsfolgen stimmen aber nicht vollständig mit denen der Realteilung überein. Besondere Nachteile entstehen bei der Übernahme von Verbindlichkeiten. Außerdem läuft nach jeder Sachwertabfindung eine Sperrfrist, während bei einer Realteilung nur die Übertragung bestimmter Wirtschaftsgüter eine Sperrfrist auslöst. Während eine Realteilung in Teilbetriebe oder Mitunternehmeranteile in besonderer Weise privilegiert wird, gibt es für eine Sachwertabfindung mit Sachgesamtheiten 717

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systemwidrig überhaupt keine ausdrückliche gesetzliche Regelung. Auch bei extensivem Gebrauch der Möglichkeiten zur Auslegung von Gesetzen ist es unmöglich, die Rechtsfolgen eines Ausscheidens gegen Sachwertabfindung denen einer Realteilung anzugleichen. Es bedarf deshalb einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, mit der das Ausscheiden gegen Sachwertabfindung in jeder Hinsicht der Realteilung gleichgestellt wird.

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„Besteuerung verdeckter Gewinnausschüttungen bei verbundenen Unternehmen“ Nachlese zu J. Lang, FR 1984, 629

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gewinnverlagerung bei verbundenen Unternehmen 1. Die Analyse von J. Lang 2. Die „Antwort“ der Rechtsprechung 3. Das dogmatische Fundament der ertragsteuerrechtlichen Dreiecksstruktur

4. Die Anregung zu einem geänderten dogmatischen Ansatz der vGA bei Konzernstrukturen 5. Kritik III. Ergebnis

I. Einleitung Die Liste der Veröffentlichungen des Jubilars ist beeindruckend lang. Einer der ersten Beiträge – nach der Promotions- und der Habilitationsschrift – ist dem Körperschaftsteuerrecht gewidmet. Unter dem Titel „Besteuerung verdeckter Gewinnausschüttungen bei verbundenen Unternehmen“1 hat sich Joachim Lang mit Rechtsfragen befasst, die die damalige Praxis der Unternehmensbesteuerung beschäftigt haben: Ausgangspunkt war die durch verdeckte Gewinnausschüttungen i. S. d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG (im Folgenden: vGA) ausgelöste steuerliche Mehrfachbelastung im Unternehmensverbund durch – von ihm so bezeichnete – „sachliche Rechtsfolgeninkongruenz“ beim leistenden und beim empfangenden Unternehmen. Zwar ist das körperschaftsteuerrechtliche Anrechnungsverfahren, das im Jahre 1977 eingeführt wurde und die Rechtslage der Untersuchung bestimmt hat, inzwischen (Steuerrechts-)Geschichte.2 Und die exorbitanten Steuerbelastungen, die eine vGA gerade in den Anfangszeiten dieser damals gerade reformierten Körperschaftsteuer haben konnte (112,25 %!3), sind es (jedenfalls im Grundsatz) ebenfalls. Dennoch hat das von Joachim Lang untersuchte Rechtsproblem in seiner Grundstruktur bis

__________ 1 Lang, FR 1984, 629 – der Beitrag ging zurück auf einen Vortrag auf der 35. Steuerrechtlichen Jahresarbeitstagung in Wiesbaden (Abdruck auch in JbFStR 1984/85, 515 – mit Dokumentation der Aussprache auf S. 543 ff.). 2 S. zum Übergang in das sog. Halbeinkünfteverfahren insb. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 2. Aufl. 2003, S. 1175 ff.; Seer, Die Entwicklung der GmbH-Besteuerung, 2005, S. 80 ff. und 99 ff.; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 11 Rz. 8 ff., 11 ff. 3 Lang, FR 1984, 631 m. w. N.

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heute praktische Bedeutung4 – damit lohnt es auch heute, sich zu Ehren des Jubilars auf seine Grundüberlegungen zu besinnen.5

II. Gewinnverlagerung bei verbundenen Unternehmen 1. Die Analyse von J. Lang Gegenstand der damaligen Untersuchung waren durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste Gewinnverlagerungen bei verbundenen Unternehmen, wobei die Verlagerung nicht direkt in den Vermögensbereich des unmittelbaren Gesellschafters des zuwendenden Unternehmens gelangte – es ging damit um sog. mittelbare vGA durch Zuwendungen unter Schwestergesellschaften und von Enkelgesellschaften im Konzernverbund.6 Hier beschrieb J. Lang ein Problemfeld der steuerlichen Mehrfachbelastung der verdeckten Vermögenszuwendungen, die aus einem ungleichen Eintritt der Rechtsfolgen der vGA beim zuwendenden und beim empfangenden Unternehmen („Inkongruenz“) beruhen sollte. Die „qualitative Rechtsfolgeninkongruenz“ liege darin, dass der Fremdvergleichsgedanke zwar bei der Besteuerung der zuwendenden Gesellschaft herangezogen werde (Einkommenserhöhung auf der Grundlage des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG), er aber bei den weiteren Stufen des Verlagerungsgebildes (bei der Muttergesellschaft, bei der Schwestergesellschaft) außer Betracht bleibe. Zwar sei zu Recht anerkannt, dass sich die Rechtsfolgen einer vGA in zeitlicher und betraglicher Hinsicht inkongruent bei dem Zuwendenden und beim Empfänger einstellen könnten; würden die Rechtsfolgen einer vGA aber sachlich nicht einheitlich bei dem Zuwendenden und dem Empfänger gezogen, liege eine Fehlinterpretation des Rechtsinstituts der vGA vor. J. Lang illustrierte dies an folgendem Beispiel: Die BFH-Rechtsprechung differenziere danach, ob die Gewinnverlagerung die Übertragung einlagefähiger Werte beinhalte. Eine Warenlieferung an eine Schwestergesellschaft zu einem fremdvergleichsungerechten (zu niedrigen) Preis führe wirtschaftlich zu einer Zuwendung an die Muttergesellschaft (dortiger Ansatz einer Einnahme) verbunden mit einer verdeckten Einlage dieser Gesellschaft in die die Ware empfangende Schwestergesellschaft. Sei Zuwendungsgegenstand hingegen eine nicht

__________ 4 Die Problematik der Besteuerung von vGA bei verbundenen Unternehmen zeigt sich heutzutage gerade als steuerbelastender sog. Kaskadeneffekt des § 8b Abs. 5 KStG in Beteiligungsketten (s. sogleich). 5 Ein weiterführendes Interesse des Jubilars an diesem Thema mag auch an der Betreuung der Kölner Dissertation von Sturm (Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, 1994) festgemacht werden. 6 Sachverhaltsvarianten: Zuwendung von der Enkelgesellschaft an eine Konzernobergesellschaft (mehrstufige Beteiligungskette); Zuwendung unter Schwestergesellschaften. Begriffsklärungen in diesem Zusammenhang (s. auch § 290 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 HGB) durch BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 = FR 1988, 160: „Als Schwestergesellschaften werden Kapitalgesellschaften bezeichnet, an denen ein und derselbe Gesellschafter maßgeblich beteiligt ist. Ist eine Kapitalgesellschaft Gesellschafterin, wird sie als Muttergesellschaft bezeichnet; die Schwestergesellschaften stellen sich im Verhältnis zu ihr als Tochtergesellschaften dar.“

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bilanzierungs-/einlagefähige Nutzung und Leistung (z. B.: ein verbilligter Kredit an die Schwestergesellschaft), sei zwar ebenfalls von einer vGA bei der zuwendenden Schwestergesellschaft auszugehen, nicht aber von einem Zufluss bei der Muttergesellschaft. Aus dem inkongruenten Rechtsfolgeneintritt (keine Einkommenserhöhung bei der Muttergesellschaft) folge als Effekt eine Mehrfachbelastung – z. B. werde bei einer späteren Veräußerung eines zugewandten immateriellen Wirtschaftsguts durch die begünstigte Schwestergesellschaft ein Ertrag erzielt, der nicht durch einen auszubuchenden Aktivposten gemindert würde. Diesem Missstand sei abzuhelfen durch einen Vorrang der vGA gegenüber anderen Regelungen: So müsse vor dem teleologischen Hintergrund des Anrechnungsverfahrens § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG als spezielle Norm des Gewinnausweises das Aktivierungsverbot des § 5 Abs. 2 EStG (und ein i. V. m. § 5 Abs. 1 EStG geltendes handelsrechtliches Aktivierungsverbot) verdrängen. Mittel zu diesem Zweck sei eine der vGA zugrunde zu legende einheitliche Sachverhaltshypothese einer fremdvergleichsgerechten Übertragung verbunden mit einem hypothetischen Ertrag in Gestalt eines angemessenen Entgelts, auf das die zuwendende Gesellschaft im Zuge der Zuwendung verzichtet habe. Gegenstand der vGA sei dann nicht (z. B.) das Anlagegut oder die Nutzung/Leistung, sondern der Entgeltverzicht.7 Bei diesem teleologisch notwendigen Einsatz eines gedachten Sachverhalts liege keine (unzulässige) Besteuerungsfiktion vor. Diese letzte Bemerkung zielte auf eine zu dieser Zeit vehement artikulierte Kritik an einer Besteuerung auf der Grundlage von (Sachverhalts-)Fiktionen, die auch einen Wandel in der BFH-Rechtsprechung veranlasst hatte. Diese Kritik an der früher herrschenden Praxis stelle, so der Jubiliar, durchaus zu Recht heraus, dass die Fiktion nicht als Vehikel für Sachverhaltsunterstellungen genutzt werden dürfe. Dabei habe die Kritik gerade auf das Rechtsinstitut der vGA abgezielt, das dem gegenläufigen Zweck (einer Fiktion) diene – nämlich dem Vorhaben, den der rechtlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeit entsprechenden Zustand offenzulegen, der durch ein Geschäft verschleiert worden sei, bei dem das Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung seine Ursache

__________

7 Z. B.: Bei der Zuwendung immaterieller Anlagegüter an Muttergesellschaften beruhe die Rechtsfolge der vGA bei der Tochtergesellschaft auf der Hypothese des Fremdvergleichs, dass die Tochtergesellschaft zu einem angemessenen Preis (entgeltlich) veräußert habe (dadurch Ertrag realisiert habe), sie alsdann auf diesen Ertrag verzichtet habe. Bei der Zuwendung immaterieller Anlagegüter an Schwestergesellschaften sei die Zuwendung in identischer Weise zu werten: Der Betrag des angemessenen Entgelts sei als verdeckte Einlage der Muttergesellschaft in das Steuerbilanzvermögen der Schwestergesellschaft zu buchen; Gegenstand der Einlage und Gegenstand der mittelbaren vGA sei das durch Fremdvergleich ermittelte Entgelt. Bei einer Veräußerung des Wirtschaftsguts sei der Veräußerungsgewinn als Veräußerungserlös abzgl. Einlagewert zu berechnen. Zu Gewinnverlagerungen zwischen Schwestergesellschaften durch Nutzungen und Leistungen liege bei konsequenter Durchführung des Fremdvergleichs ein Realisierungsakt bzgl. der Nutzungen/Leistungen bei der gewährenden Gesellschaft schon vor, was die Möglichkeit der Einlage zur Folge habe. Gegenstand der verdeckten Einlage sei nicht die Überlassung der Darlehenssumme, sondern der hypothetische Zinszuschuss, dessen Betrag bereits das zu versteuernde Einkommen der gewährenden Schwestergesellschaft und der Muttergesellschaft erhöht habe.

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in den gesellschaftsrechtlichen Beziehungen habe. Joachim Lang mahnte insoweit zur rechtssystematischen Klärung des Fremdvergleichs dazu an, den wirklichkeitsverzerrenden Fiktionsmissbrauch von dem teleologisch notwendigen Einsatz gedachter Sachverhalte zu unterscheiden – „der generelle Verzicht auf Fiktionen i. S. wirklichkeitsgewinnender Sachverhaltshypothesen“ sei „bei der Durchführung des Fremdvergleichs denkunmöglich“.8 Mit dieser Untersuchung wollte Joachim Lang nachweisen, dass es sachgerecht ist, „die Sachverhaltshypothesen des Fremdvergleichs, die die wirtschaftliche Wirklichkeit widerspiegeln sollen, einheitlich auf alle Rechtsfolgen der vGA zu erstrecken, d. h. mit dem Ergebnis des Fremdvergleichs nicht nur die Erhöhung des Einkommens der Tochtergesellschaft, sondern auch den Einnahmezufluß bei der Muttergesellschaft zu begründen“.9 Der Lösungsvorschlag des Jubilars führte zu einer Gleichbehandlung der unmittelbaren und der mittelbaren vGA unabhängig vom Gegenstand der Zuwendung10 und sicherte der Muttergesellschaft dem Zweck des körperschaftsteuerrechtlichen Anrechnungsverfahrens entsprechend den Körperschaftsteuer-Anrechnungsanspruch.11 2. Die „Antwort“ der Rechtsprechung Im Verfahren GrS 2/8612 hatte der Große Senat des BFH zur Beantwortung der dortigen Vorlagefragen13 auch zur Konstellation der mittelbaren vGA zu befinden. Er hat dazu ausgeführt, dass wegen der gesellschaftsrechtlichen Gegebenheiten (beherrschende Beteiligung der Muttergesellschaft an beiden Tochtergesellschaften) der Gesellschafter eine als zusätzlichen Gesellschafterbeitrag

__________ 8 Lang, FR 1984, 636 (unter Hinweis auf Raupach, JbFStR 1973/74, 112 [124]). Joachim Lang spricht im Übrigen ausdrücklich von einer Gefahr, dass die Rechtsprechung „ein Opfer des Tabuisierungszwanges auf der Grundlage des Meßmer-Effekts“ (d. h. insb. der von Meßmer formulierten Kritik an richterlichen Fiktionen) werden könnte (S. 635 – unter Hinweis auf eine Formulierung von Brezing, StbJb. 1983/84, 215 [221]). 9 So Joachim Lang in der Diskussion zum Vortrag (JbFStR 1984/85, 557). 10 Im Ergebnis wäre die verdeckte Einlage „Spiegelbild“ der vGA. 11 Dieser Auffassung folgend der Vorlagebeschluss des BFH v. 20.8.1986 – I R 41/82, BStBl. II 1987, 65. S. insoweit auch Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 7. Aufl. 1989, S. 560 ff.; Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, 1986, S. 175 f. – je m. w. N. 12 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 = FR 1988, 160; nachfolgend BFH v. 20.4.1988 – I R 41/82, BStBl. II 1988, 868. 13 Vorlagebeschluss des BFH v. 20.8.1986 – I R 41/82, BStBl. II 1987, 65: „a) Ist der von einem Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft gewährte Vorteil, ein Darlehen zinslos nutzen zu können, steuerrechtlich ein einlagefähiges Wirtschaftsgut? b) Muss eine Kapitalgesellschaft, die einer anderen ihr unmittelbar nachgeschalteten Kapitalgesellschaft einen unentgeltlichen Nutzungsvorteil i. S. v. a) gewährt, diesen Vorteil steuerrechtlich gewinnerhöhend ansetzen? Tritt die Gewinnerhöhung ggf. schon mit der Darlehensgewährung oder erst mit der Darlehensnutzung (pro rata temporis) ein? c) Ist eine der gemeinsamen Muttergesellschaft zufließende verdeckte Gewinnausschüttung in Verbindung mit einer sich anschließenden verdeckten Einlage i. S. v. a) anzunehmen, wenn eine Tochterkapitalgesellschaft ihrer Schwestergesellschaft einen Nutzungsvorteil i. S. v. a) überlässt?“

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gemeinte Leistung zugunsten einer Tochtergesellschaft 2 (T 2) nicht selbst erbringen müsse; er könne sie auch durch die Tochtergesellschaft 1 (T 1) erbringen lassen. Die Rechtsprechung des BFH sei davon ausgegangen, dass unentgeltliche oder teilentgeltliche Leistungen zwischen Schwestergesellschaften in der Regel auf die Rechtsbeziehungen zum gemeinsamen Gesellschafter zurückzuführen seien, und dass T 1 dem Gesellschafter einen Vorteil zuwende, den dieser für seine Zwecke bei T 2 einsetzen würde. Bei einer Warenlieferung von einer T 1 an T 2 zu einem überhöhten Preis „muß dieser Sachverhalt so gesehen werden, daß der überhöhte Preis lediglich im abgekürzten Zahlungsweg an die Schwestergesellschaft entrichtet, wirtschaftlich jedoch an die Muttergesellschaft gezahlt und von dieser in Form einer verdeckten Einlage an die durch Erhöhung ihres Aktivvermögens begünstigte Tochtergesellschaft weitergeleitet worden ist. Diese Betrachtungsweise muß zu der Annahme führen, daß der Muttergesellschaft in Form des überhöhten Preises geldwerte Vorteile i. S. d. §§ 8, 20 EStG zugeflossen sind. Dieser Zufluß in Form verdeckter Gewinnausschüttungen bei der Muttergesellschaft kann nicht mit der Gewährung der verdeckten Einlage, die sich bei der begünstigten Tochtergesellschaft gewinneutral auswirkt, verrechnet werden. Denn mit dem Empfang des überhöhten Kaufpreises hat die Muttergesellschaft Einkünfte erzielt, wogegen die Gewährung der verdeckten Einlage dem Vermögensbereich der Muttergesellschaft zuzurechnen ist.“ Die Fragen des vorlegenden Senats hat der Große Senat des BFH im Übrigen folgendermaßen beantwortet: „Gewährt eine Tochterkapitalgesellschaft ihrer Schwestergesellschaft einen Nutzungsvorteil … (hier: zinsloses Darlehen), fließt der gemeinsamen Muttergesellschaft eine verdeckte Gewinnausschüttung zu, der jedoch ein gleich hoher Aufwand gegenübersteht; zu einer verdeckten Einlage bei der Schwestergesellschaft kommt es nicht.“ Diese Antwort des Großen Senats weist § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG und ihrem Rechtsfolgenprogramm nur die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlassten Vermögensminderungen bei der zuwendenden Gesellschaft zu, während beim Empfänger § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG als Grundnorm des Betriebsvermögensvergleichs nur solche Vermögensmehrungen als Einlagen neutralisiert, die als Wirtschaftsgüter in eine Bilanz aufgenommen werden können.14 Ausdrücklich abgelehnt – und als unzulässige (weil nicht gesetzlich fundierte) Fiktion bezeichnet – wird vom Großen Senat des BFH die Überlegung, dass der durch das Gesellschaftsverhältnis veranlassten unentgeltlichen Darlehenseinräumung eine „Sachverhaltshypothese“ beizustellen sei, dass der Gesellschafter zunächst ein angemessenes Nutzungsentgelt vereinbart und nachträglich auf seine Ansprüche verzichtet oder aber das Entgelt erhalten und eingelegt habe. Der Große Senat des BFH hatte es damit abgelehnt, jeden geldwerten Vorteil als Gegenstand einer steuerrechtlichen Einlage anzuerkennen (Gegenstand einer Einlage können nur bilanzierungsfähige Wirtschaftsgüter sein), hatte aber der Muttergesellschaft unabhängig vom Gegenstand der Zuwendung einen

__________ 14 S. dazu z. B. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 11 Rz. 93.

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Körperschaftsteuer-Anrechnungsanspruch15 zugestanden, weil ihr ein Vorteil aus dem Beteiligungsverhältnis zugegangen sei – der im Übrigen für Zwecke der Beteiligung an der empfangenden Gesellschaft sofort wieder verbraucht worden sei.16 Damit wurde dem Lang’schen Petitum nach „Rechtsfolgenkongruenz“ jedenfalls insoweit Rechnung getragen, dass dem Ansatz der vGA bei der Tochtergesellschaft unabhängig vom Zuwendungsgegenstand17 ein (das Anrechnungsverfahren auslösender) Beteiligungsertrag bei der Muttergesellschaft zu folgen hatte; darüber hinaus kam es zur Abmilderung der Steuerlast (alle Beteiligten des Bildes in einer finanziellen Gesamtbetrachtung) durch die Anerkennung eines Beteiligungsaufwands bei der Muttergesellschaft. 3. Das dogmatische Fundament der ertragsteuerrechtlichen Dreiecksstruktur Der Beschluss des Großen Senats ist in der Sache noch heute Stand der BFHRechtsprechung,18 findet in der überwiegenden Literatur Zustimmung,19 und ist ohne weiteres im Bereich des aktuellen Rechts (sog. Halb- bzw. das nunmehrige Teileinkünfteverfahren) maßgebend. Die in diesem Gerichtsbeschluss gestützte „Dreiecksstruktur“ baut darauf auf, dass der Tatbestand der vGA an das konkrete Beteiligungsverhältnis angebunden ist, er aber nicht voraussetzt, dass der Gegenstand der gesellschaftlich veranlassten Zuwendung „als solcher“ unmittelbar in den Vermögensbereich des Gesellschafters gelangt. Die Erkenntnis, dass die Vorteilszuwendung auch durch einen tatsächlichen Zufluss in dem Vermögensbereich eines Dritten – der eine dem Gesellschafter „nahe stehende Person“ ist, was wiederum die Veranlassung der Zuwendung durch das Gesellschaftsverhältnis indiziert20 – bewirkt werden kann, ist dabei nicht neu. Die Struktur ist ohne weiteres von der seit kurzem ergänzten vGA-

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15 Erörterung einer Frage des ab 1977 reformierten Körperschaftsteuerrechts (bei Streitjahren des Vorlageverfahrens, die sich auf das KStG a. F. bezogen!), da der vorlegende Senat die beabsichtigte Abweichung von den Vorentscheidungen ausdrücklich auch auf die Anforderungen des ab 1977 reformierten Rechts gestützt hatte. 16 Sog. fiktiver Vorteilsverbrauch bei der Muttergesellschaft (Ansatz eines fiktiven Aufwands) – insoweit führt daher ein durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasster Vorgang zu betrieblichem Aufwand (insoweit krit. z. B. Sturm, Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, 1994, S. 96). 17 S. insoweit bereits Pezzer, Die verdeckte Gewinnausschüttung im Körperschaftsteuerrecht, 1986, S. 176 ff. 18 S. z. B. BFH v. 19.5.2005 – IV R 3/04, BFH/NV 2005, 1784; s. auch BFH v. 20.8.2008 – I R 29/07, FR 2009, 239 m. Anm. Hahne = DStR 2008, 2259 ([fiktive] vGA zwischen Schwestergesellschaften als Kapitaleinkunft bei der Muttergesellschaft); weitere Nachw. zu Fn. 37. 19 Wenn auch z. T. mit eher resignativem Einschlag (s. Sturm, Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, 1994, S. 96 f.); weitere Nachw. zu Fn. 37. 20 Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 232. Das weite Begriffsverständnis zum „Nahestehen“ („familiäre, aber auch sonstige persönliche Verhältnisse gesellschaftlicher, schuldrechtlicher oder auch rein tatsächlicher Art“ mit Nachweislast beim Finanzamt – s. mit Nachw. z. B. BFH v. 8.10.2008 – I R 61/07, FR 2009, 583 m. Anm. Pezzer = DStR 2009, 217; Gosch, ebenda, Rz. 231, 233) korreliert mit der Weite der möglichen Motivationslagen des Gesellschafters in Bezug auf einen Vermögenszugang bei der dritten Person. Ist die Person tatsächlich außenstehend/fremd, ist eine (widerlegbare) Vermutung der gesellschaftlichen Veranlassung ausgeschlossen.

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Definition der Rechtsprechung des I. Senats des BFH zum Besteuerungsbereich der Kapitalgesellschaft,21 die ausdrücklich eine „Vorteilsgeneigtheit“ des inkriminierten Vorgangs – als objektive Eignung, beim Gesellschafter einen Beteiligungsertrag i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG auszulösen – fordert,22 ohne damit eine mittelbare Zuwendung auszuschließen, abgedeckt. Für diese Eignung, einen solchen Beteiligungsertrag auszulösen, ist es unschädlich, wenn tatsächlicher Leistungsempfänger eine dritte Person ist.23 Insoweit kann dann das steuerrechtliche Zurechnungssubjekt der vGA und der tatsächliche Leistungsempfänger auseinanderfallen. Die Dreiecksstruktur ist darüber hinaus im Körperschaftsteuergesetz im Zusammenhang mit der Regelung zur materiellen Korrespondenz bei vGA bzw. verdeckter Einlage (mittelbar) abgebildet.24 Auch die vGA-Definition der Rechtsprechung des VIII. Senats des BFH zum Besteuerungsbereich des Zuwendungsempfängers25 ist – ebenso wie die gesetzliche Regelung zur personellen Zurechnung von Einkünften in § 20 Abs. 5 Satz 1 EStG – in der Lage, eine im Vermögensbereich des Gesellschafters zugeflossene Einnahme (aus Kapitalvermögen) anzusetzen, wenn der konkrete Zuwendungsweg bei der „nahe stehenden Person“ endet. Es kommt damit – wie Dietmar Gosch26 formuliert – darauf an, „den wirtschaftlichen Gehalt des betreffenden Vorgangs zu erfassen, nicht aber … auf den konkreten Zahlungs- oder Zuwendungsweg (abzustellen) und darauf, ob der in Rede stehende Vermögensvorteil in das eigene Vermögen des Gesellschafters gelangt ist“. Dem „wirtschaftliche(n) Gehalt des … Vorgangs“ entspricht die steuerrechtliche Zurechnung der durch den Ansatz einer vGA bei der zuwendenden Gesellschaft ausgelösten (Kapital-)Einkünfte beim Gesellschafter, wobei die tatsächliche Zuwendung an einen Dritten die Dreiecksstruktur27 auslöst, die im Verhältnis zwischen dem Gesellschafter und dem Dritten (dem „tatsäch-

__________ 21 Nachgezeichnet und analysiert z. B. von Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 11 Rz. 71 ff.; ausführlich Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, 2004, S. 8 ff. Die von der Rechtsprechung entwickelte Inhaltsbestimmung des Begriffs der vGA wird auch einem verfassungsrechtlichen Prüfmaßstab gerecht, s. BVerfG v. 26.6.2008 – 2 BvR 2067/07, HFR 2008, 1280. 22 S. dazu z. B. BFH v. 5.3.2008 – I R 45/07, BFH/NV 2008, 1534; v. 18.3.2009 – I R 63/08, BFH/NV 2009, 1841; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, 2004, S. 18 ff. 23 Auch eine mittelbare Zuwendung ist i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG tatbestandsrelevant (s. z. B. BFH v. 18.3.2009 – I R 63/08, BFH/NV 2009, 1841). 24 S. § 8b Abs. 1 Satz 4 KStG zur sog. materiellen Korrespondenz als Voraussetzung der Steuerfreiheit des § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG im sog. Dreiecksfall (s. auch § 8 Abs. 3 Satz 5 KStG). 25 Z. B. BFH v. 19.6.2007 – VIII R 54/05, BStBl. II 2007, 830 = FR 2007, 1157 m. Anm. Pezzer. 26 In Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 227. 27 In einer Parallele zu § 783 BGB („Anweisung“) wird von einem sog. Deckungsverhältnis zwischen dem Gesellschafter und der zuwendenden Gesellschaft (die Leistung der zuwendenden Gesellschaft an die empfangende Gesellschaft ist durch das Gesellschaftsverhältnis zum Gesellschafter „abgedeckt“) und einem sog. Valutaverhältnis zwischen dem Gesellschafter und der die Leistung empfangenden Gesellschaft (Rechtsgrund der eigentlichen Wertverschaffung) gesprochen.

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lichen Empfänger“) unabhängig von einem Rechtsgrund „vGA“ auszufüllen ist (z. B. als verdeckte Einlage). Daraus folgt für die Situation der Zuwendung einer Kapitalgesellschaft an eine Schwestergesellschaft, dass dem „wirtschaftlichen Gehalt“ nach die (gemeinsame) Muttergesellschaft einen Gesellschafterbeitrag leistet, den sie zuvor von der einen Tochtergesellschaft erhalten hat; sinnentsprechend (i. S. einer vGAStruktur in jeder Beteiligungsstufe einer Beteiligungskette) gilt dies für eine (tatsächliche) Zuwendung einer Enkelgesellschaft an eine ihr übergeordnete Muttergesellschaft.28 Am Beispiel der Zuwendung eines Preisvorteils durch „Unterpreisverkauf“ eines Wirtschaftsguts an eine Schwestergesellschaft ist damit festzuhalten: Es kommt zum einkommenserhöhenden Ansatz einer vGA bei der leistenden (hier: verkaufenden) Kapitalgesellschaft in Höhe des Preisvorteils, der bei der Mutterkapitalgesellschaft unter der Voraussetzung des einkommenserhöhenden Ansatzes einer vGA bei der leistenden Gesellschaft als steuerfreier Ausschüttungsertrag (§ 8b Abs. 1 Sätze 1, 2 KStG29) zu behandeln ist und dort zugleich den Ansatz der sog. Schachtelstrafe des § 8b Abs. 5 KStG30 auslöst. Der Gesellschafterbeitrag der Muttergesellschaft ist wiederum als verdeckte Einlage zu werten (bei ihr kommt es zu nachträglichen Anschaffungskosten auf den Beteiligungsansatz31), bei der empfangenden Kapitalgesellschaft findet ein Zugang im Betriebsvermögen als Erhöhung des Buchwertes des erworbenen Wirtschaftsguts um die Preisdifferenz mit außerbilanzieller Korrektur als verdeckte Einlage (§ 8 Abs. 3 Satz 3 KStG) statt. Diese Struktur deckt auch die Umkehrsituation („Überpreisverkauf“) ab:

__________ 28 S. insoweit BFH v. 23.10.1985 – I R 247/81, BStBl. II 1986, 195 = FR 1986, 151: Dem „wirtschaftlichen Gehalt“ nach handelt es sich um eine Zuwendung an die unmittelbare Gesellschafterin der Enkelgesellschaft – damit die Tochtergesellschaft, wobei die Tochtergesellschaft wiederum den Vorteil an ihre Gesellschafterin „weiterreicht“ (diesmal allerdings nicht als Einlage, da sie an ihrer Muttergesellschaft nicht beteiligt ist, sondern als Beteiligungsertrag). Damit hat die Tochtergesellschaft – wenn bei der Enkelgesellschaft eine vGA angesetzt wurde (§ 8b Abs. 1 Satz 2 KStG) – einen steuerfreien Beteiligungsertrag (unter Ansatz des Betrages des § 8b Abs. 5 KStG); ein durch die Weiterleitung an die Muttergesellschaft entstandener Betriebsaufwand ist als vGA zu neutralisieren. Die Muttergesellschaft hat einen (durch den Ansatz der vGA bei der Tochtergesellschaft) steuerfreien Beteiligungsertrag, der allerdings (auch hier) § 8b Abs. 5 KStG auslöst (s. z. B. Neumann, GmbH-StB 2007, 112 [115 f.]; wohl auch B. Lang in Ernst & Young, KStG, § 8 Rz. 859; Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, 2004, S. 58; abw. – die Weiterleitung an die Muttergesellschaft stelle keinen Betriebsaufwand dar, der als vGA zu kompensieren ist – Dötsch/Pung, DB 2007, 11 [13]; Schulte/Behnes, DB 2004, 1525 [1526 insb. dort Fn. 13]; Kohlhepp, Verdeckte Gewinnausschüttung, 2008, S. 202; wohl auch Dörfler/ Adrian, Ubg 2008, 373 [376]). 29 § 8b Abs. 1 Satz 2 KStG als sog. materielle Korrespondenz. 30 Es handelt sich dabei (seit 2004) um die Fiktion nicht abziehbarer Betriebsausgaben i. H. v. 5 % bei Bezug von nach § 8b Abs. 1 KStG steuerfreien Beteiligungserträgen. Damit ist in diesem Bereich die Anwendung von § 3c EStG (i. V. m. § 8 Abs. 1 KStG) ausgeschlossen. Im Ergebnis tritt demzufolge eine Steuerfreistellung nur zu 95 % ein. 31 Bewertung nach § 6 Abs. 6 Satz 2 ff. EStG (i. V. m. § 8 Abs. 1 KStG); auch hier gibt es eine materielle Korrespondenzregelung in § 8 Abs. 3 Satz 6 KStG.

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Die erwerbende Kapitalgesellschaft schüttet den Überpreis verdeckt an die Muttergesellschaft aus. Dazu ist der zunächst als Betriebsaufwand erfasste Überpreis32 bei der erwerbenden Gesellschaft einkommenserhöhend als vGA anzusetzen, der bei der Muttergesellschaft als steuerfreier Ausschüttungsertrag anfällt, wenn die vGA bei der erwerbenden Kapitalgesellschaft angesetzt wurde. Die Muttergesellschaft leistet wiederum eine verdeckte Einlage in das Vermögen der (verkaufenden) Tochtergesellschaft – in Höhe des Überpreises liegt dort damit kein Veräußerungserlös, sondern eine Einlage vor. Diese Einlagelösung (bei der Muttergesellschaft und der empfangenden Tochtergesellschaft) setzt allerdings voraus, dass Gegenstand der Zuwendung ein einlage- und damit bilanzierungsfähiges Wirtschaftsgut ist. Davon ist zu sprechen, wenn ein bilanzieller Aktivposten geschaffen/erhöht oder ein bilanzieller Passivposten eliminiert/vermindert wird.33 Fehlt es daran – wenn es um Nutzungen/Dienstleistungen geht34, tritt bei der Muttergesellschaft unmittelbar ein Verbrauch des Ausschüttungsertrages ein (Weitergabe des Vorteils außerhalb einer Einlage als einkommensmindernder Aufwand35), das Betriebsvermögen der empfangenden Tochtergesellschaft bleibt unberührt. Damit wird die vGA bei der zuwendenden Tochtergesellschaft einkommenserhöhend berücksichtigt; bei der Muttergesellschaft liegt (unter der Voraussetzung eines einkommenserhöhenden Ansatzes bei der Tochtergesellschaft) ein steuerfreier Beteiligungsertrag vor (es verbleibt beim Ansatz von nicht abziehbaren Betriebsausgaben gem. § 8b Abs. 5 KStG), darüber hinaus ist die Weiterleitung der Zuwendung einkommenswirksam als Betriebsaufwand (innerbilanziell)36 zu berücksichtigen. Reflex des fehlenden Betriebsaufwandes (betr. die zugewandten Nutzungen/Leistungen) bei der empfangenden Gesellschaft ist eine

__________ 32 So auch Jahndorf, DB 2003, 1759 (1761). 33 Dabei ist durchaus auch ein immaterielles Wirtschaftsgut (z. B. ein nicht entgeltlich erworbener Firmenwert) erfasst; das Aktivierungsverbot des § 5 Abs. 2 EStG tritt zurück, da es hier um die Abgrenzung der gesellschaftsrechtlichen von der betrieblichen Sphäre der Kapitalgesellschaft geht (BFH v. 20.8.1986 – I R 150/82, BStBl. II 1987, 455 = FR 1987, 229; v. 20.8.1986 – I R 151/82, BFH/NV 1987, 468; v. 24.3.1987 – I R 202/83, BStBl. II 1987, 705 = FR 1987, 378). Erfasst ist ebenfalls die Situation eines Forderungsverzichts zwischen Schwestergesellschaften (BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1997, 307 = FR 1997, 723; v. 19.5.2005 – IV R 3/04, BFH/NV 2005, 1784). 34 Z. B. unentgeltliche oder verbilligte Gebrauchsüberlassung; die un- bzw. geringverzinsliche Darlehensgewährung (z. B. Wassermeyer, DB 2006, 296). 35 Ein Abzugshindernis (§ 8b Abs. 3 KStG; § 3c EStG) besteht nicht; der Höhe nach geht es – unabhängig von der Frage, inwieweit der Beteiligungsertrag steuerfrei vereinnahmt werden kann (im wirtschaftlichen Ergebnis: zu 95 %) – um 100 % des Beteiligungsertrags. Zur str. Frage, ob der bei einem Forderungsverzicht (bei einem „sidestream-Darlehen“) eintretende Vorteilsverbrauch bei der Muttergesellschaft § 8b Abs. 3 Satz 3 oder Sätze 4 ff. KStG unterfällt, s. Eberhard, DStR 2009, 2226 (2229). 36 Insoweit abw. Stolze, Verdeckte Gewinnausschüttung und nahestehende Person, 1999, S. 119.

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Gewinnverlagerung zu dieser Gesellschaft und eine dortige Besteuerung.37 Im Ergebnis treten damit einkommenserhöhende Effekte bei beiden Tochtergesellschaften ein, darüber hinaus ein einkommensmindernder Effekt bei der Muttergesellschaft. 4. Die Anregung zu einem geänderten dogmatischen Ansatz der vGA bei Konzernstrukturen Anlass, über diese Strukturen (erneut) nachzudenken, sind von Ralf Kohlhepp im Zusammenhang mit § 8b Abs. 5 KStG angestellte „Überlegungen zu einem geänderten dogmatischen Ansatz der vGA bei Konzernstrukturen“.38 Kohlhepp setzt den von § 8b Abs. 5 KStG veranlassten Steuerfolgen einer vGA im Konzernverbund – entsprechend dem Bild einer „Ausschüttung durch die gesamte Beteiligungskette“ mit einer auf jeder Beteiligungsstufe ausgelösten Belastungsfolge des Ansatzes von nicht abziehbaren Betriebsausgaben (sog. Kaskadeneffekt39) – ein Konzept entgegen, das nach seiner Einschätzung „dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit besser gerecht wird“.40 Dabei wird die Rechtsfolge der vGA letztlich nur bei dem „Endglied der Beteiligungskette“ (damit bei Zuwendungen an Schwestergesellschaften bei der Konzernobergesellschaft) gezogen: In einer Beteiligungskette werde die Einkom-

__________ 37 Zu diesen Strukturen: BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348 = FR 1988, 160; v. 28.1.1992 – VIII R 207/85, BStBl. II 1992, 605 = FR 1992, 417; v. 12.12.2000 – VIII R 62/93, BStBl. II 2001, 234 = FR 2001, 599; v. 19.5.2005 – IV R 3/04, BFH/NV 2005, 1784; v. 20.8.2008 – I R 29/07, FR 2009, 239 m. Anm. Hahne = DStR 2008, 2259; s. auch z. B. Rengers in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 8 KStG Rz. 866; Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 235 ff. und 1215; Schallmoser/ Eisgruber/Janetzko in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 8 KStG Anm. 315; B. Lang in Ernst & Young, KStG, § 8 Rz. 855 ff. u. 872 ff.; Wochinger in Dötsch/Jost/ Pung/Witt, Das Körperschaftsteuerrecht, § 8 Abs. 3 Teil B Rz. 47 ff.; Sturm, Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, 1994, S. 36 ff.; Stolze, Verdeckte Gewinnausschüttung und nahestehende Person, 1999, S. 110 ff. (s. auch dort S. 132 ff.); Kohlhepp, Verdeckte Gewinnausschüttung, 2008, S. 202 f.; Wassermeyer, DB 2006, 296 u. in Hommelhoff u. a. (Hrsg.), Festschrift W. Müller, 2001, S. 397 (401 f.); Jahndorf, DB 2003, 1759 (1761 f.); Winter, GmbHR 2004, 1268 (1269 ff.); Schulte/Behnes, DB 2004, 1525 f.; Neu, EFG 2002, 1215 f. (Anm. zu FG BW v. 5.6.2002 – 2 K 212/98, EFG 2002, 1214 als Vorinstanz zu BFH IV R 3/04 [auf die in EFG angeführte NZB I B 109/02, später IV B 242/02, war die Revision zugelassen worden]). 38 Kohlhepp, DStR 2008, 1859. 39 Dieser Effekt – die auf jeder Beteiligungsstufe erfolgende außerbilanzielle Hinzurechnung (§ 8b Abs. 5 KStG) – berührt allerdings die Höhe der vGA, die bei der jeweiligen Obergesellschaft bzw. der Konzernobergesellschaft als (steuerfreier) Beteiligungsertrag zu erfassen ist, nicht, s. insoweit Winter, GmbHR 2004, 1268 (1273); Kohlhepp, DStR 2008, 1859 (1860). 40 Auch wenn das Konzept Kohlhepps (zur Vermeidung des sog. Kaskadeneffekts) auf mehrstufige Beteiligungsketten abzielt (z. B. Zuwendung der Enkelgesellschaft an die Muttergesellschaft als Zuwendung über die Tochtergesellschaft), muss es auch auf die Dreiecksstruktur (Zuwendung unter Schwestergesellschaften) angewendet werden.

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menssphäre der zwischengeschalteten Gesellschaften nicht berührt41 – dass das Einkommen der (zuwendenden) Enkelgesellschaft auf der Grundlage des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG zu korrigieren sei (Zuwendung an ihre unmittelbare Gesellschafterin), löse bei ihrer Gesellschafterin (auf der nächsten Beteiligungsstufe) keinen Ertrag aus. Eine vGA (Kapitalertrag) werde erst bei der Muttergesellschaft erfasst, da dort eine durch das Gesellschaftsverhältnis ausgelöste Zuwendung ihrer unmittelbaren Tochtergesellschaft vorliege, und löse dort § 8b Abs. 1 und Abs. 5 KStG aus. Diesem Ergebnis stehe § 20 Abs. 5 EStG nicht entgegen. Dem Trennungsprinzip lasse sich entnehmen, dass für einen Beteiligungsertrag bei der Konzernobergesellschaft ausreiche, „dass der Zufluss seine Veranlassung in der Beziehung zur unmittelbaren Tochtergesellschaft der Konzernobergesellschaft“42 habe. Denn der BFH habe in seinem Urteil vom 19.6.200743 ausdrücklich entschieden, dass eine vGA in Gestalt eines Beteiligungsertrages gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG eine vGA i. S. d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG bei der ausschüttenden Kapitalgesellschaft nicht voraussetze. Schließlich stehe auch § 8b Abs. 1 Satz 2 KStG diesem Konzept nicht entgegen. Da die unmittelbare Tochtergesellschaft der Konzernobergesellschaft als „leistende Körperschaft“ i. S. dieser Regelung anzusehen sei, dort aber eine (nicht korrigierte) Einkommensminderung nicht stattgefunden habe, hindere § 8b Abs. 1 Satz 2 KStG die Steuerfreiheit der Ausschüttung bei der Konzernobergesellschaft nicht. 5. Kritik Dem BFH-Urt. v. 19.6.200744 lässt sich – in einer ausdrücklich als nicht entscheidungserheblich bezeichneten Passage – folgendes entnehmen: „Die vorstehenden Erwägungen bedeuten nicht, dass in Fällen der vorliegenden Art nicht gleichwohl auf der Ebene der GmbH eine vGA i. S. v. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG gegeben sein kann. Denn die Korrektur des Einkommens der GmbH nach dieser Vorschrift geschieht unabhängig davon, ob eine vGA beim Gesell-

__________ 41 S. insoweit bereits Wassermeyer, Die Zurechnung von Einkünften aus Kapital, in Schön (Hrsg.), DStJG 30 (2007), S. 257 (268); s. auch die Diskussion der kritischen Stimmen zur Dreiecksstruktur bei Sturm, Die verdeckte Gewinnausschüttung im europäischen Konzern, 1994, S. 89 ff. 42 Kohlhepp, DStR 2008, 1865. 43 BFH v. 19.6.2007 – VIII R 54/05, BStBl. II 2007, 830 (s. dazu Anmerkungen z. B. von wfr., DB 2007, 1956; Kohlhepp, DB 2007, 2446; Pezzer, FR 2007, 1160; Gosch in Gosch/Korn/Strahl, 27. Steuerrechtsprechungs-Forum 2007/2008, 2008, Abschn. A/7). 44 S. Fußn 43. Soweit wfr. (DB 2007, 1956) eine Auswirkung auf die Problematik der durchgeleiteten vGA bei Konzernstrukturen (hier: bei einer „Beteiligungskette“) befürchtet, hat Kohlhepp (DB 2007, 2446, 2449) demgegenüber auf entscheidungserhebliche Besonderheiten dieses Streitfalls aufmerksam gemacht (Erschütterungsbeweis für den Rückschluss auf eine gesellschaftliche Veranlassung bei der Zuwendung an eine nahestehende Person durch die besondere Zugriffsmöglichkeit des zum eigenen Vorteil handelnden Geschäftsführers – unmittelbare Beziehung des Zuwendungsempfängers zu der leistenden Körperschaft –; s. auch Pezzer, FR 2007, 1160 – Konzernzugehörigkeit als einziges Bindeglied zwischen Enkel- und Muttergesellschaft – und Kohlhepp, DB 2008, 1859 [1863]).

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schafter zugeflossen ist (…). Übt ein Alleingesellschafter gegenüber einem Geschäftsführer, der selbst nicht Gesellschafter, aber naher Angehöriger des Gesellschafters ist, die in § 46 GmbHG vorgesehenen Kontrollbefugnisse nicht aus und gibt er dadurch unwissentlich dem Geschäftsführer Gelegenheit, sich unter Verletzung seiner Geschäftsführerpflichten zu Lasten der GmbH eigenmächtig zu bereichern, so kann die daraus folgende Vermögensminderung oder verhinderte Vermögensmehrung bei der GmbH auf der persönlichen Nähe zwischen Gesellschafter und Geschäftsführer beruhen, damit durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst sein und die Rechtsfolgen des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG auslösen. Wenn in derartigen Fällen keine Zuwendung des Gesellschafters gegeben ist, weil er die eigenmächtigen Aktivitäten des Geschäftsführers nicht kannte, und somit die Zurechnung einer Einnahme nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG beim Gesellschafter nicht in Betracht kommt, wenn die vGA andererseits auch nicht dem Geschäftsführer aufgrund eines verdeckten Treuhandverhältnisses unmittelbar zugerechnet werden kann, so stellt sich die – hier nicht zu entscheidende – weitere Frage, ob der Geschäftsführer, der sich eigenmächtig unter Verletzung seiner Pflichten zu Lasten der GmbH bereichert, aus diesen Aktivitäten selbst Einkünfte erzielt. In Betracht kommen insoweit im Zusammenhang mit dem Anstellungsvertrag erzielte Einkünfte gem. § 19 EStG oder, wenn kein Zusammenhang mit dem Anstellungsverhältnis besteht, Einkünfte gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG.“ Im Streitfall hatte der Fremdgeschäftsführer (eine nahe stehende Person zum Gesellschafter) das Ergebnis der GmbH mittels Scheinrechnungen belastet, woraus das Finanzamt auf eine mittelbare vGA gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG an den Gesellschafter durch Zuwendung eines Vorteils an die nahe stehende Person schloss. Da nun aber nach den tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts der Gesellschafter keine Kenntnis von diesen Umständen gehabt haben sollte, schied ein Zuwendungswille dieses Gesellschafters (Zuwendung an die nahe stehende Person) aus, damit auch eine mittelbare vGA.45 Dies sei aber – so der VIII. Senat des BFH – nicht gleichbedeutend mit einem Hindernis, bei der GmbH infolge der widerrechtlichen Verminderung des GmbH-Vermögens eine vGA anzusetzen; diese könne dann bei dem Dritten als gewerbliche Einkunft oder als Einnahme aus § 19 EStG zu berücksichtigen sein. Der VIII. Senat des BFH hält es danach offensichtlich jedenfalls für möglich, dass eine durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste Einkommensminderung bei der Kapitalgesellschaft vorliegt, die aber nicht als Beteiligungsertrag beim Gesellschafter, sondern als „originäre Einkunft“ (im Streitfall: § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG oder § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG) bei einem Dritten zufließt. Diese nicht entscheidungstragende Ansicht46 – von Ralf Kohlhepp als „rechtliche Selbständigkeit der vGA nach § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG und nach § 20

__________ 45 S. insoweit zur Abgrenzung: BFH v. 25.5.2004 – VIII R 4/01, FR 2005, 199 = DStR 2004, 2143, betr. verbilligte Warenlieferungen einer GmbH an den Ehegatten des Gesellschafters (vGA beim Gesellschafter). 46 Nochmals hervorgehoben von Pezzer, FR 2007, 1160.

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Abs. 1 Nr. 1 EStG“ umschrieben47 – stimmt mit dem bisherigen Verständnis der Rechtsprechung zum Tatbestand der vGA nicht überein. Eine Vermögensminderung, die bei der Kapitalgesellschaft auf eine gesellschaftliche Veranlassung (als Rechtsgrund für den Ansatz einer vGA) zurückgeführt werden kann, wird auch auf der Zuflussseite (Zufluss bei einer nahestehenden Person) von einer gesellschaftlichen Veranlassung getragen, kann damit nicht auf eine andere (z. B. gewerbliche/berufliche) Veranlassung zurückzuführen sein.48 So konnte bisher auch die Rechtsprechung des VIII. Senats verstanden werden, wenn dieser (wie auch der I. Senat) die Veranlassungsfrage für beide Ebenen einheitlich beantwortet hatte, z. B. indem er einen Zuschlag für Sonntags-/ Feiertags- bzw. Nachtarbeit für eine in der Kapitalgesellschaft kraft Arbeitsvertrags tätige Minderheitsgesellschafterin49, der unter Anwendung der Maßgaben der Rechtsprechung des I. Senats des BFH als vGA bei der Kapitalgesellschaft anzusetzen war, als Einnahme aus Kapitalvermögen der Gesellschafterin/Arbeitnehmerin berücksichtigt hat.50 Dieses Verständnis der „Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis“ als „gemeinsamer Klammer“ der Tatbestände des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG und § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG ist auch Gegenstand der (im Wortlaut angepassten) vGA-Definition des I. Senats, soweit damit hervorgehoben wird, dass eine „Eignung“ vorliegen muss, beim Gesellschafter einen Zufluss i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG (d. h. einen durch das Gesellschaftsverhältnis veranlassten Zufluss) auszulösen.51 Damit wird zwar weder der tatsächliche Zuflusserfolg (bzw. seine Bewertung52) Gegenstand der Definition noch sind Beweisschwierigkeiten auf der Zuflussebene insoweit erheblich.53 Die Veranlassungsfrage ist jedoch einheitlich zu entscheiden.

__________

47 Kohlhepp, DStR 2008, 1865. 48 Zustimmend Kohlhepp, DB 2007, 2446 (2448). S. auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 11 Rz. 90 (Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis als Klammer zwischen beiden Besteuerungsebenen); grundlegend zu dieser „Korrespondenz“: Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (162); s. auch Wassermeyer, DB 2001, 2466. Eine nicht einheitliche Interpretation des Veranlassungsbegriffs in beiden Besteuerungsebenen führt zu unzuträglichen Friktionen (z. Zt. kann dies „praktisch“ werden bei der Qualifizierung der Pkw-Nutzung des Gesellschafter-Geschäftsführers als vGA oder als Gehaltsbestandteil – s. z. B. BFH v. 17.7.2008 – I R 83/07, BFH/NV 2009, 417 einerseits, und BFH v. 23.4.2009 – VI R 81/06, FR 2009, 1069 m. Anm. Bergkemper = DStR 2009, 1355 andererseits). 49 Im Streitfall eine nahe stehende Person des Mehrheitsgesellschafters. 50 BFH v. 13.12.2006 – VIII R 31/05, BStBl. II 2007, 393 = FR 2007, 848. 51 S. insb. Gosch in Gosch/Korn/Strahl, 27. Steuerrechtsprechungs-Forum 2007/2008, 2008, Abschn. A/7 Anm. (f). 52 S. z. B. BFH v. 23.1.2008 – I R 8/06, DStR 2008, 865 und BFH v. 17.7.2008 – I R 83/07, BFH/NV 2009, 417 (zum zweiten Rechtszug s. BFH v. 16.9.2009 – I B 70/09, BFH/NV 2010, 247) – zur Pkw-Nutzung des Gesellschafter-Geschäftsführers. Krit. zu unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 11 Rz. 90; s. auch Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, 2004, S. 232 f. (Erfordernis, eine einheitliche Bewertung nach dem Maßstab der Vermögensminderung bei der Kapitalgesellschaft vorzunehmen) und Wassermeyer in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 20 Rz. C 59c (Vorrang des § 8 Abs. 2 EStG bei Einnahmen im Bereich der einkommensteuerrechtlichen Überschusseinkunftsarten). 53 S. dazu zutreffend Kohlhepp, DB 2007, 2446 (2448 f.).

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Ein Trennungsprinzip, das üblicherweise dahin verstanden wird, dass die Besteuerungssphären der – jeweils selbständigen Steuersubjekte – Kapitalgesellschaft und Gesellschafter voneinander unabhängig sind,54 kann aber von der „Rechtsfolgenkongruenz“ des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG/§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG55 bei gesellschaftlich veranlassten Vermögenszuwendungen im unmittelbaren Gesellschaftsverhältnis nicht befreien.56 Von einem – bei der empfangenden Kapitalgesellschaft steuerfreien – Beteiligungsertrag gem. § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG wird man auch nur dann sprechen können, wenn dieser Ertrag auf eine offene oder verdeckte Gewinnausschüttung der leistenden Gesellschaft zurückgeht,57 was auch in einer Beteiligungsstruktur Mutter-/Tochter-/Enkelgesellschaft gewährleistet ist.58 Insgesamt erweist sich damit die traditionelle Deutungsvariante weiterhin als vorzugswürdig.59 Der Kaskadeneffekt betr. § 8b Abs. 5 KStG, der wohl Auslöser für diesen Vorschlag einer dogmatischen Neuorientierung bei diesen Konzernstrukturen war,60 zugleich aber zu Unrecht mit dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in Verbindung gebracht wurde,61 muss im Unternehmensverbund auf andere Art und Weise vermieden werden.62

__________ 54 Z. B.: BFH v. 27.3.2007 – VIII R 28/04, BStBl. II 2007, 699 = FR 2007, 1064: „Eine Kapitalgesellschaft ist nicht nur zivilrechtlich, sondern auch steuerrechtlich ein selbständiges Steuersubjekt (§ 1 KStG), das die von ihr erzielten Einkünfte unabhängig vom Gesellschafter zu versteuern hat (sog. Trennungsprinzip)“. S. auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 11 Rz. 1; Lehner/Waldhoff in Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 1 Rz. A 101. 55 Seit 2007 verstärkt durch die Regelungen zur sog. materiellen und formellen Korrespondenz in § 8b Abs. 1 Sätze 2 ff. KStG/§ 3 Nr. 40 Buchst. a Satz 2 EStG bzw. § 32a Abs. 1 KStG. 56 So im Ergebnis insb. Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, 2004, S. 19 f.; Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 234, 242; Klingebiel in Dötsch/Jost/ Pung/Witt, Das Körperschaftsteuerrecht, § 8 Abs. 3 KStG Teil C Rz. 514 ff. S. zur Rechtsfolgewirkung der vGA auf der Empfängerebene auch BFH v. 20.8.2008 – I R 29/07, FR 2009, 239 m. Anm. Hahne = DStR 2008, 2259 – fiktive vGA des § 8a KStG a. F. als Kapitaleinnahme i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG. 57 So Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 242; s. auch Gosch, BFH/PR 2009, 11. 58 S. insoweit Fn. 28. 59 S. Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 242 f.; Pezzer, FR 2007, 1160. 60 Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 242. 61 Wenn man dieses Prinzip auch im Bereich der Körperschaftsteuer anwenden wollte (Pezzer in Lang [Hrsg.], Festschrift Tipke, 1995, S. 419 [424 f.]), dürfte es aber jedenfalls eine – den gesamten Konzernverbund erfassende – einheitliche Leistungsfähigkeit (die durch den Kaskadeneffekt verletzt werde) nicht geben. Dass die „fiktive Durchleitung“ des Beteiligungsertrages die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der jeweiligen Gesellschaft nicht erhöht, Kohlhepp, DB 2008, 1859 (1861 und 1862); evtl. auch Wassermeyer in Hommelhoff u. a. [Hrsg.], Festschrift W. Müller, 2001, S. 397 (401 f.), ist nur als Saldoüberlegung zutreffend. Der Beteiligungsertrag erhöht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Weiterleitungsverpflichtung führt zu einer entsprechenden Belastung. 62 Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8b Rz. 452; Dötsch/Pung, DB 2004, 151 (154); s. zur Organschaft auch Kaminski/Strunk, BB 2004, 689 (693); Winter, GmbHR 2004, 1268 (1270).

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III. Ergebnis Joachim Lang hatte herausgestellt, dass es zu Recht anerkannt sei, dass sich die Rechtsfolgen einer vGA in zeitlicher und betraglicher Hinsicht inkongruent bei dem Zuwendenden und beim Empfänger einstellen könnten, dass aber die Rechtsfolgen einer vGA sachlich einheitlich bei dem Zuwendenden und dem Empfänger gezogen werden müssten, um eine „Fehlinterpretation des Rechtsinstituts der vGA“ zu vermeiden. Es geht dabei, wie der Jubilar ausgeführt hat, bei der Interpretation der vGA bei verbundenen Unternehmen nicht um Besteuerungsfiktionen, sondern um „wirklichkeitsgewinnende Sachverhaltshypothesen“, die u. a. einen „Weg“ der vGA im jeweiligen Beteiligungsverhältnis aufzeigen. Auch wenn die Rechtsprechung der Lang’schen Deutung, einen Verzicht auf ein (hypothetisches) angemessenes Entgelt als Gegenstand der vGA anzusehen, nicht gefolgt ist: Der Grundlage dieses Bildes „wirklichkeitsgewinnender Sachverhaltshypothesen“ wird aber durchaus Rechnung getragen, wenn es darum geht, die Rechtsfolge der vGA im unmittelbaren Beteiligungsverhältnis (nach einem möglichst einheitlichen Maßstab) zu vollziehen. Im Ergebnis wird damit „die Ausschüttungssituation“ im Beteiligungsverhältnis, die auch bei der vGA tatsächlich gegeben ist, „gedanklich und gesetzestechnisch folgerichtig nachgezeichnet“.63 Die Untersuchung des Jubilars ist damit insoweit ohne weiteres auch heute aktuell und kann für die Antwort auf die Frage nach der dogmatischen Struktur der vGA in Konzernzusammenhängen herangezogen werden.

__________ 63 Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 243; s. auch Frotscher in Frotscher/ Maas, KStG/UmwStG, Anh. § 8 KStG Rz. 206 und Frotscher, Körperschaftsteuer/ Gewerbesteuer, 2. Aufl. 2008, Rz. 431.

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Die Bildung von Gewinnrücklagen gem. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG in der Beratungspraxis Inhaltsübersicht I. Einführung und Fragestellung II. Normzweck und Sanktion bei Verstößen III. Tatbestandsvoraussetzungen des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 KStG 1. Gewinnrücklagen a) Handels- und gesellschaftsrechtliche Ausgangslage aa) Aktiengesellschaft bb) GmbH cc) Bildung anderer Gewinnrücklagen während der Laufzeit eines Gewinnabführungsvertrags

b) Von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG erfasste Gewinnrücklagen aa) Gesetzliche Rücklagen bb) Satzungsmäßige und andere Gewinnrücklagen 2. Überprüfungsmaßstab der vernünftigen kaufmännischen Beurteilung 3. Auflösung von Gewinnrücklagen IV. Verwendung von Umstrukturierungserträgen zur Rücklagenbildung V. Rücklagenbildung nach BilMoG-Übergangsvorschriften (Art. 67 EGHGB) VI. Zusammenfassung

I. Einführung und Fragestellung In der Praxis wird in letzter Zeit häufiger die Frage gestellt, unter welchen Voraussetzungen die Organgesellschaft Gewinnrücklagen bilden darf, ohne dass dadurch die Organschaft zerstört wird. Ein typischer Anlass für die Bildung von Gewinnrücklagen sind konzerninterne Umstrukturierungen, die mit einer Aufdeckung stiller Reserven auf Ebene der Organgesellschaft verbunden sind. Die Hebung stiller Reserven im HGB-Einzelabschluss der Organgesellschaft1 ermöglicht es dem Organträger, Abschreibungen auf andere Vermögensgegenstände zu kompensieren und/oder seine Gewinnausschüttungen zu verstetigen. Die Bildung der Gewinnrücklage beeinflusst dann die Höhe des Betrags, der über die Gewinnabführung in den Jahresüberschuss des Organträgers eingeht. Nach § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG darf die Organgesellschaft Beträge aus dem Jahresüberschuss aber nur insoweit in die Gewinnrücklagen (§ 272 Abs. 3

__________

1 Konzerninterne Umstrukturierungen wirken sich aufgrund der konsolidierten Betrachtungsweise nicht auf das Konzernergebnis nach HGB oder IFRS aus. Verschmelzung, Spaltung, Ausgliederung, Einbringung und Anwachsung können im HGBEinzelabschluss aber erfolgswirksam sein. Beispiele: Übernahmegewinn im Rahmen einer Aufwärtsverschmelzung, Aufwärtsspaltung oder Anwachsung; Einbringungsgewinn bei der Ausgliederung bzw. Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben und Anteilen.

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HGB) mit Ausnahme der gesetzlichen Rücklagen einstellen, als dies bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung wirtschaftlich begründet ist.2 Gerade vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre stellt sich daher die Frage, ob die Bildung einer Gewinnrücklage jeweils ein konkretes Investitionsvorhaben erfordert, oder ob der Gedanke der allgemeinen Risikovorsorge oder sogar bilanz- und ausschüttungspolitische Erwägungen zur Rechtfertigung der Gewinnrücklage herangezogen werden können. Ein weiteres aktuelles Thema sind die BilMoG-Übergangsvorschriften in Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB, die u. a. vorsehen, dass Beträge aus der Auflösung von Sonderposten mit Rücklageanteil und aus bestimmten Zuschreibungen in die Gewinnrücklagen einzustellen sind.

II. Normzweck und Sanktion bei Verstößen Die Bildung einer Gewinnrücklage auf Ebene der Organgesellschaft verringert den an den Organträger abzuführenden Betrag, wodurch dessen Jahresüberschuss geringer ausfällt.3 Auf den ersten Blick könnte man daher vermuten, die gesetzliche Beschränkung der Gewinnrücklagen diene der Sicherung der laufenden Besteuerung des Organträgers. Dies ist aber nicht der Fall, da die steuerliche Einkommenszurechnung gem. § 14 Abs. 1 S. 1 KStG den Jahresüberschuss der Organgesellschaft vor Gewinnrücklagenbildung und Gewinnabführung erfasst. Die Bildung von Gewinnrücklagen im Rahmen einer Organschaft ist daher kein geeignetes Instrument, um eine Steuerpause herbeizuführen;4 die Einkommenszurechnung erfolgt auf einer vorgelagerten Stufe und somit unabhängig von der Ergebnisverwendung. Die Beschränkung der Bildung von Gewinnrücklagen steht vielmehr im Zusammenhang mit dem „Gebot der Vollabführung“ gem. § 14 Abs. 1 S. 1 KStG, wonach die Organgesellschaft verpflichtet sein muss, ihren ganzen Gewinn an ein einziges anderes gewerbliches Unternehmen abzuführen.5 Erfasst die Gewinnabführung nicht den ganzen Gewinn, ist der Gewinnabführungsvertrag in dem betroffenen Jahr nicht durchgeführt worden, was zur Nichtanerkennung der Organschaft führt.6 Die einschneidende Sanktion (verunglückte Organschaft) und das schwammige Tatbestandsmerkmal der „vernünftigen kauf-

__________ 2 § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG gilt unmittelbar nur für SE, AG und KGaA. Über den Verweis in § 17 S. 1 KStG sind jedoch auch Gewinnabführungsverträge mit GmbH erfasst. 3 Die Erträge aus Gewinnabführungsverträgen sind gem. § 277 Abs. 3 S. 2 HGB in der Gewinn- und Verlustverrechnung gesondert auszuweisen. Sie werden in der Regel nach den Beteiligungserträgen angesetzt, Förschle in Beck’scher BilKomm, 7. Aufl. 2010, § 277 HGB Rz. 19. 4 Walter in Ernst & Young, KStG, § 14 Rz. 655; Neumann in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 14 KStG Rz. 323. 5 BFH v. 29.10.1980 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336 (338) = FR 1981, 154; Erle in Erle/ Sauter, KStG, 2. Aufl. 2006, § 14 KStG Rz. 430; Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/ Witt, Die Körperschaftsteuer, § 14 KStG Tz. 202. 6 Erle in Erle/Sauter, KStG, 2. Aufl. 2006, § 14 KStG Rz. 437.

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männischen Beurteilung“ veranlassen die Steuerpflichtigen zu einer gewissen Vorsicht bei der Bildung von Gewinnrücklagen. Man muss sich bei der Anwendung von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG jedoch vor Augen halten, dass es nicht um die Ausübung von Bilanzierungswahlrechten geht, bei denen der BFH einen sehr strengen Maßstab anlegt.7 Bilanzierungswahlrechte betreffen die Ergebnisermittlung und damit die Steuerbemessungsgrundlage. Es ist daher verständlich, dass der BFH insofern den „vollen Gewinn“ erfasst sehen möchte und kaufmännischen Ermessensspielräumen eine Absage erteilt.8 Die Bildung von Gewinnrücklagen liegt dagegen auf der nachgeordneten Ebene der Ergebnisverwendung und hat somit keine Auswirkungen auf den Steuerbilanzgewinn der Organgesellschaft, der dem Organträger zugerechnet und bei diesem steuerlich voll erfasst wird. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG sichert also nicht die Besteuerung des Gewinns der Organgesellschaft, sondern ist eine Voraussetzung für die steuerliche Anerkennung der Gewinnabführung als solcher. Es kommt daher nicht darauf an, ob sich der abgeführte Betrag mit dem Jahresüberschuss deckt, sondern dass überhaupt eine Gewinnabführung stattfindet, wenn die Organgesellschaft Jahresüberschüsse erwirtschaftet. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG soll im Ergebnis (nur) verhindern, dass die Höhe der Gewinnabführung im freien Belieben der Beteiligten steht.9 Ergänzend sei noch angefügt, dass es aufgrund der Bildung von (zulässigen) Gewinnrücklagen zwangsläufig zu organschaftlichen Minderabführungen kommt, wenn der abgeführte Gewinn geringer als der Steuerbilanzgewinn der Organgesellschaft ist (§ 14 Abs. 4 S. 6 KStG). Dieser Umstand spielt jedoch im Rahmen des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG keine Rolle. Denn organschaftliche Minderabführungen sind für sich betrachtet nicht geeignet, die Durchführung des Gewinnabführungsvertrags in Frage zu stellen. Die Rechtsfolgen der Minderabführung ergeben sich vielmehr ausschließlich aus § 14 Abs. 4 S. 1 KStG (Bildung eines aktiven Ausgleichspostens)10 und § 27 Abs. 6 KStG (Erhöhung des Einlagekontos).11 Es besteht daher kein Anlass, die Bildung einer Gewinnrücklage mit der Begründung zu versagen, dass sie eine Minderabführung verursacht.

__________ 7 In diese Richtung argumentierend auch Erle in Erle/Sauter, KStG, 2. Aufl. 2006, § 14 KStG Rz. 434. 8 BFH v. 3.2.1969 – GrS 2/68, BStBl. II 1969, 291. 9 BFH v. 29.10.1980 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336 (338) = FR 1981, 154. Der Rechtsanwender muss die Prüfung gem. § 14 Abs. 1 Nr. 4 KStG durchführen, auch wenn die Besteuerung des Steuerbilanzgewinns der Organgesellschaft bei voller Rücklagenbildung ebenso gut funktionieren würde. In rechtspolitischer Hinsicht ist zu überlegen, ob man die Vorschrift nicht einfach abschaffen sollte, zumal § 301 S. 2 AktG die Bildung von Gewinnrücklagen während der Vertragsdauer im Interesse der Organgesellschaft zulässt. Zur Kritik am Regelungsgegenstand des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 s. Neumann in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 14 KStG Rz. 323. 10 Erle in Erle/Sauter, KStG, 2. Aufl. 2006, § 14 KStG Rz. 433. 11 BMF v. 26.8.2003 – IV A 2 - S 2770 - 18/03, BStBl. I 2003, 437 = FR 2003, 981 Tz. 40.

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III. Tatbestandsvoraussetzungen des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 KStG 1. Gewinnrücklagen Die Beschränkung der Rücklagenbildung gem. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG gilt für Gewinnrücklagen i. S. v. § 272 Abs. 3 HGB mit Ausnahme der gesetzlichen Rücklage. Diese Anknüpfung an zivilrechtliche Begriffe erfordert einen kurzen Abstecher in das Handels- und Gesellschaftsrecht. Anschließend ist zu untersuchen, welche Positionen im Einzelnen der Überprüfung am Maßstab des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG unterliegen. a) Handels- und gesellschaftsrechtliche Ausgangslage Nach § 272 Abs. 3 S. 1 HGB dürfen als Gewinnrücklagen nur Beträge ausgewiesen werden, die im Geschäftsjahr oder in einem früheren Geschäftsjahr aus dem Ergebnis gebildet worden sind. Dazu gehören aus dem Ergebnis zu bildende gesetzliche oder auf Gesellschaftsvertrag oder Satzung beruhende Rücklagen und andere Gewinnrücklagen (§ 272 Abs. 3 S. 2 HGB). Da es sich bei der Bildung von Gewinnrücklagen um Ergebnisverwendung handelt, fallen Zuführungen zur Kapitalrücklage (§ 272 Abs. 2 HGB)12 und die Bildung „stiller Rücklagen“ durch Legung stiller Reserven bei der Bewertung von Vermögensgegenständen von vornherein nicht in den Anwendungsbereich des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG.13 aa) Aktiengesellschaft § 158 Abs. 1 S. 1 AktG, der ein Schema zur Weiterentwicklung des Jahresüberschusses zum ausschüttungsfähigen Bilanzgewinn enthält (vgl. § 58 Abs. 4 AktG), nennt als Unterfälle der Gewinnrücklagen die gesetzliche Rücklage, die Rücklage für Anteile an einem herrschenden oder mehrheitlich beteiligten Unternehmen, die satzungsmäßigen Rücklagen und andere Gewinnrücklagen (identisch mit der Bilanzgliederung gem. § 266 Abs. 3 A. III. HGB). Eine Aktiengesellschaft ist gem. § 150 Abs. 1 AktG verpflichtet, aus ihrem Jahresüberschuss vorrangig eine gesetzliche Rücklage i. H. v. 10 % des Grundkapitals zu bilden. Die gesetzliche Rücklage dient als „Reservefonds“ und soll etwaige Verluste abpuffern.14 Die Satzung kann eine Erhöhung der gesetzlichen Rücklage vorsehen, die allerdings das Grundkapital nicht übersteigen darf.15 § 150 Abs. 2 AktG sieht vor, dass die Gesellschaft jedes Jahr den zwan-

__________ 12 Nach R 60 Abs. 5 S. 2 KStR 2004 stellt die Bildung einer Kapitalrücklage gem. § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB (andere Zuzahlungen der Gesellschafter in das Eigenkapital) keinen Verstoß gegen § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG dar, weil dadurch die Höhe der Gewinnabführung nicht beeinflusst wird. Demnach ist auch die Leistung einer verdeckten Einlage kein Anwendungsfall des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG. 13 R 60 Abs. 5 Nr. 3 S. 4 KStR 2004. Gleiches galt für die Bildung von Sonderposten mit Rücklageanteil gem. §§ 247 Abs. 3, 273 HGB a. F. 14 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 150 AktG Rz. 1. 15 Kropff in MünchKomm/AktG, 2. Aufl. 2003, § 150 AktG Rz. 19.

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zigsten Teil ihres Jahresüberschusses in die gesetzliche Rücklage einstellen muss, bis die gesetzliche Mindesthöhe bzw. der satzungsmäßige Betrag erreicht ist. Hat die Gesellschaft als abhängiges Unternehmen einen Gewinnabführungsvertrag gem. § 291 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AktG abgeschlossen, wird die Pflicht zur Bildung der gesetzlichen Rücklage durch § 300 Nr. 1 AktG modifiziert. Danach ist die gesetzliche Rücklage i. H. v. 10 % des Grundkapitals bzw. die satzungsmäßig erhöhte gesetzliche Rücklage grundsätzlich innerhalb der ersten fünf Jahre nach Abschluss des Gewinnabführungsvertrags aufzufüllen. Die beschleunigte Rücklagenbildung soll der Gesellschaft ausreichende Reserven für den Fall der Beendigung des Gewinnabführungsvertrags verschaffen, wobei sich der Fünfjahreszeitraum an dem steuerlichen Mindestzeitraum der Organschaft gem. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 KStG orientiert.16 Die Verpflichtung zur Bildung der gesetzlichen Rücklage begrenzt zugleich den Maximalbetrag der Gewinnabführung. Nach § 301 AktG darf die Gesellschaft, solange die gesetzliche Rücklage noch nicht vollständig gebildet worden ist, als ihren Gewinn höchstens den ohne die Gewinnabführung entstehenden Jahresüberschuss, vermindert um einen Verlustvortrag aus dem Vorjahr, um den Betrag, der nach § 300 AktG in die gesetzliche Rücklage einzustellen ist, und den nach § 268 Abs. 8 HGB ausschüttungsgesperrten Betrag, abführen. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG knüpft an diese Regelung an, indem Zuführungen zur gesetzlichen Rücklage von vornherein nicht organschaftsschädlich sein können. Gleiches gilt nach allgemeiner Auffassung für die Ausschüttungssperre gem. § 268 Abs. 8 HGB.17 Die Rücklage gem. § 272 Abs. 4 HGB, die durch das BilMoG eingeführt worden ist, hat in der Praxis nur geringe Bedeutung.18 Bei den satzungsmäßigen Rücklagen handelt es sich um Gewinnrücklagen, die auf aufgrund einer zwingenden Satzungsbestimmung gebildet werden müssen. Sie sind meistens für einen konkreten Verwendungszweck gedacht (z. B. Werkerneuerungsrücklage), können aber auch der allgemeinen Vorsorge dienen. Die anderen Gewinnrücklagen erfassen als Auffangbecken alle Gewinnrücklagen, die nicht in eine der vorstehenden Rubriken passen, und werden auch als „freie Gewinnrücklagen“ bezeichnet.19 Zu den anderen Gewinnrücklagen gehört die Einstellung von Beträgen in die Gewinnrücklagen durch Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung gem. § 58 Abs. 3 AktG. Ein weiterer Anwendungsfall ist die Bildung von Gewinnrücklagen im Jahres-

__________ 16 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 300 AktG Rz. 2. 17 BMF v. 14.1.2010 – IV C 2 - S 2770/09/10002, DStR 2010, 113. Vgl. dazu auch Frotscher in Frotscher/Maas, KStG/UmwStG, § 14 Rz. 199a und 211a; Loitz/Klevermann, DB 2009, 409 (414); Dahlke, BB 2009, 878 (880 f.); Kieker/Vollmar, DStR 2009, 842; Baldamus, Ubg 2009, 484 (486). 18 Zu den Einzelheiten s. Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 14 KStG Tz. 204, dort auch zur Rücklage für eigene Anteile gem. § 272 Abs. 4 HGB a. F. 19 Förschle/Hoffmann in Beck’scher BilKomm, 7. Aufl. 2010, § 272 HGB Rz. 255.

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abschluss gem. § 58 Abs. 2 S. 1 AktG, wenn Vorstand und Aufsichtsrat den Jahresabschluss feststellen, wie es bei börsennotierten Aktiengesellschaften durchweg der Fall ist. Die Zuführungen zu den anderen Gewinnrücklagen gem. § 58 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 AktG erfordern keinen konkreten Verwendungszweck, so dass die Rücklagen bei Bedarf wieder aufgelöst und ausgeschüttet werden können. Die Bildung von Rücklagen im Jahresabschluss ist durch § 58 Abs. 2 S. 1 AktG auf die Hälfte des Jahresüberschusses beschränkt, um die Aktionäre vor „Aushungerung“ zu schützen. Die Satzung kann aber bestimmen, dass Vorstand und Aufsichtsrat einen größeren Teil des Jahresüberschusses in die anderen Gewinnrücklagen einstellen, sofern die anderen Gewinnrücklagen nicht mehr als die Hälfte des Grundkapitals betragen. Diese satzungsmäßige Erweiterung der Befugnis zur Bildung anderer Gewinnrücklagen macht die Zuführung aber nicht zu einer „satzungsmäßigen Rücklage“ i. S. v. § 158 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. c AktG.20 Ist die beherrschte AG eine 100 %-Tochtergesellschaft, gilt die Beschränkung der Rücklagenbildung gem. § 58 AktG nicht, weil sie durch den Gewinnabführungsvertrag suspendiert wird.21 Enthält der Gewinnabführungsvertrag eigene Bestimmungen zur Begrenzung der Bildung von Gewinnrücklagen, ergibt sich daraus die Obergrenze der Rücklagenbildung.22 bb) GmbH Auch für die GmbH gilt grundsätzlich die Einteilung der Gewinnrücklagen in gesetzliche Rücklage, die Rücklage für Anteile an einem herrschenden oder mehrheitlich beteiligten Unternehmen, die satzungsmäßigen Rücklagen und andere Gewinnrücklagen (§ 266 Abs. 3 A. III. HGB). Das bisherige Recht kannte jedoch keine gesetzliche Rücklage, insbesondere §§ 150 Abs. 1, 300 AktG sind auf die vertraglich angebundene GmbH nicht entsprechend anwendbar.23 GmbH in der Rechtsform der haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft müssen jedoch seit Inkrafttreten des MoMiG eine gesetzliche Rücklage gem. § 5a Abs. 3 GmbHG bilden und dafür solange mindestens ein Viertel ihres Jahresüberschusses verwenden, bis das gesetzliche Mindeststammkapital der GmbH von 25.000 Euro erreicht und durch Satzungsänderung auch festgeschrieben ist.24 Da eine Unternehmergesellschaft Vertragspartner eines Unternehmensvertrags gem. § 291 AktG sein kann25 und auch steuerlich als Organ-

__________ 20 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2010, § 58 AktG Rz. 4; Förschle/Hoffmann in Beck’scher BilKomm, 7. Aufl. 2010, § 272 HGB Rz. 255. 21 Bayer in MünchKomm/AktG, 3. Aufl. 2008, § 58 Rz. 55 f. m. w. N. 22 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 58 AktG Rz. 15. 23 Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 301 AktG Rz. 6. 24 Lutter in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 5a GmbHG, Rz. 23; Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 5a GmbHG Rz. 21. 25 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 5a GmbHG, Rz. 36.

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gesellschaft geeignet ist,26 ist die neue gesetzliche Rücklage im Rahmen des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG i. V. m. § 17 S. 1 KStG zu beachten. Die Gesellschafter einer GmbH haben grundsätzlich einen Anspruch auf die Ausschüttung des Jahresüberschusses (§ 29 Abs. 1 S. 1 GmbHG). Machen sie von der Möglichkeit nach § 29 Abs. 2 GmbHG Gebrauch, Teile des Ergebnisses in die Gewinnrücklagen einzustellen, handelt es sich dabei um eine Zuführung zu den anderen Gewinnrücklagen i. S. v. § 266 Abs. 3 A. III. Nr. 4 HGB.27 cc) Bildung anderer Gewinnrücklagen während der Laufzeit eines Gewinnabführungsvertrags Der Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags führt nicht zu einer Beschränkung der Zuführung von Beträgen in die anderen Gewinnrücklagen. Dies ergibt sich aus § 301 S. 2 AktG, der die Abführung von während der Dauer des Vertrags gebildeten anderen Gewinnrücklagen regelt und damit deren Zulässigkeit voraussetzt.28 Der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung sogar einen Anreiz zur Bildung von anderen Gewinnrücklagen schaffen, um dadurch die Substanz der abhängigen Aktiengesellschaft zu stärken.29 Vor diesem Hintergrund könnte die abführungsverpflichtete Gesellschaft sogar ihren gesamten Jahresüberschuss den anderen Gewinnrücklagen zuführen, ohne die zivilrechtliche Wirksamkeit des Gewinnabführungsvertrags zu gefährden.30 § 291 Abs. 1 S. 1 AktG setzt zwar die Verpflichtung zur Abführung des „ganzen Gewinns“ voraus; die Gewinnabführungsverpflichtung erfasst jedoch nur den nach §§ 300, 301 modifizierten Bilanzgewinn,31 also den Betrag nach Bildung anderer Gewinnrücklagen, die gem. § 158 Abs. 1 S. 1 AktG bei der Ermittlung des Bilanzgewinns abzuziehen sind.

__________ 26 Walter in Ernst & Young, KStG, § 17 KStG Rz. 1. S. auch Kurzinformation zur steuerlichen Behandlung der Unternehmergesellschaft v. 15.12.2008, OFD Münster Kurzinformation Körperschaftsteuer Nr. 011/2008, BeckVerw 153967. 27 Förschle/Hoffmann in Beck’scher BilKomm, 7. Aufl. 2010, § 272 HGB Rz. 255. 28 Eine während der Vertragslaufzeit gebildete und wieder aufgelöste Kapitalrücklage ist dagegen nicht Gegenstand der Gewinnabführungsverpflichtung. Die Rücklagenauflösung berührt nicht den Jahresüberschuss, sondern erhöht den Bilanzgewinn, der an die Gesellschafter ausgeschüttet werden kann. Die Ausschüttung von organschaftlichen Kapitalrücklagen verstößt daher nicht gegen das Gebot der Vollabführung (BFH v. 8.8.2001 – I R 25/00, BStBl. II 2003, 923 = FR 2002, 514). 29 Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 301 AktG Rz. 13; zum Normzweck s. auch BFH v. 8.8.2001 – I R 25/00, BStBl. II 2003, 923, 925 = FR 2002, 514. 30 Sofern dadurch keine gesetzes- oder satzungswidrige Überdotierung der anderen Gewinnrücklagen entsteht, die gem. § 256 Abs. 1 Nr. 4 AktG zur Nichtigkeit des Jahresabschlusses führen würde. Nach h. M. greifen die Schranken für die Rücklagenbildung gem. § 58 Abs. 2 S. 1 und 2 AktG bei einer angebundenen 100 %Tochteraktiengesellschaft nicht, so dass theoretisch der gesamte Jahresüberschuss der Abführung entzogen werden könnte (Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 58 AktG Rz. 15). 31 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2010, § 291 AktG Rz. 26; Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 291 AktG Rz. 64 m. w. N.

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Auch bei der angebundenen GmbH steht für die Gewinnabführung grundsätzlich nur der Jahresüberschuss abzgl. etwaiger Zuführungen zu den anderen Gewinnrücklagen zur Verfügung.32 Die Begrenzung nach § 58 Abs. 2 S. 2 AktG (nicht mehr als die Hälfte des Grundkapitals) ist von vornherein nicht anwendbar, so dass grundsätzlich ein großer Spielraum für die Rücklagenbildung besteht, den die Geschäftsführung der Muttergesellschaft im Rahmen ihres Weisungsrechts ausschöpfen kann. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Gewinnthesaurierung auf den unteren Konzernstufen nicht den Gewinnanspruch der Gesellschafter der Muttergesellschaft aushöhlen darf.33 Zusammenfassend kann man festhalten, dass zivilrechtlich ein erheblicher Freiraum zur Dotierung von anderen Gewinnrücklagen besteht, ohne dass dadurch die Wirksamkeit der Gewinnabführungsverpflichtung in Frage gestellt wird. Der Gesetzgeber hat die Bildung von Gewinnrücklagen während der Dauer des Gewinnabführungsvertrags sogar als wünschenswert beurteilt, wobei der andere Vertragsteil die anderen Gewinnrücklagen gegebenenfalls vor Beendigung des Gewinnabführungsvertrags wieder entnehmen wird, um eine Verlagerung auf die außen stehenden Gesellschafter zu verhindern.34 b) Von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG erfasste Gewinnrücklagen aa) Gesetzliche Rücklagen Die gesetzliche Rücklage gem. §§ 150 Abs. 1, 300 AktG ist ausdrücklich von der Beschränkung des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG ausgenommen, so dass die Zuführung zur gesetzlichen Rücklage selbst dann nicht gegen das Gebot der Vollabführung verstößt, wenn der nach § 300 Nr. 1 AktG berechnete Zuführungsbetrag ausnahmsweise den gesamten Jahresüberschuss erfasst.35 Der

__________ 32 Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 301 AktG Rz. 12; Baldamus, Ubg 2009, 484 (486). Das exakte Berechnungsschema gem. § 301 S. 1 AktG lautet wie folgt: Jahresüberschuss (vor Gewinnabführung) ./. Verlustvortrag aus dem Vorjahr ./. Einstellung in gesetzliche Rücklage + Auflösung organschaftlicher Gewinnrücklagen ./. Ausschüttungssperre gem. § 268 Abs. 8 HGB. 33 Diese Frage wird kontrovers diskutiert. Vgl. zum Streitstand Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2010, § 58 AktG Rz. 16. 34 Während der Dauer des Gewinnabführungsvertrags steht der Gewinn der abhängigen Gesellschaft ausschließlich dem anderen Vertragsteil zu. § 301 S. 2 AktG sieht deshalb vor, dass während der Vertragslaufzeit gebildete andere Gewinnrücklagen jederzeit entnommen und an den anderen Vertragsteil abgeführt werden können. Anders verhält es sich bei den vorvertraglichen Rücklagen, die anteilig den außen stehenden Gesellschaftern zustehen und daher nicht als Gewinn an den anderen Vertragsteil abgeführt werden dürfen (Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 301 AktG Rz. 12). Vorvertragliche Rücklagen können aber aufgelöst und an alle Gesellschafter ausgeschüttet werden (R 60 Abs. 4 S. 4 KStR 2004). 35 Dazu kann es kommen, wenn die Zuführungen der ersten fünf Jahre nach Vertragsschluss nicht ausgereicht haben, um die gesetzliche Rücklage in voller Höhe zu dotieren. In diesem Fall greift das sog. Nachholungsgebot, das eine volle Zuführung erfordert, bis die Rücklage aufgefüllt ist (Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbHKonzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 300 Rz. 12 m. w. N.

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gesellschaftsrechtlich vorgegebene Höchstbetrag der Gewinnabführung, der sich gem. § 301 S. 1 AktG um die Zuführung zur gesetzlichen Rücklage und den nach § 268 Abs. 8 HGB ausschüttungsgesperrten Betrag verringert, stellt auch die steuerliche Höchstgrenze der Gewinnabführung bei einer AG dar.36 Nicht abschließend geklärt ist dagegen die Rechtslage bei der abhängigen GmbH. § 17 S. 2 Nr. 1 KStG verweist auf § 301 AktG, so dass ein Streit um die Frage entstanden ist, ob die GmbH im Rahmen der Organschaft eine gesetzliche Rücklage i. H. v. 10 % ihres Stammkapitals entsprechend §§ 300, 301 AktG bilden darf (bzw. muss), ohne dass die Rücklagenbildung der Beschränkung des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG unterliegt. Müller/Stöcker postulieren unter Berufung auf das Gebot der steuerlichen Gleichbehandlung von Organgesellschaften aller Rechtsformen, dass die Bildung von gesetzlichen Rücklagen nach Maßgabe des § 300 AktG auch bei der GmbH der Durchführung des Gewinnabführungsvertrages nicht entgegenstehen dürfe.37 Die h. M. unterscheidet – ausgehend von der unterschiedlichen zivilrechtlichen Ausgangslage – dagegen zwischen AG und GmbH. Bildet eine GmbH als Organgesellschaft eine Rücklage in der in § 300 AktG für die gesetzliche Rücklage vorgesehenen Höhe, kann der Gewinnabführungsvertrag steuerlich nur anerkannt werden, wenn diese Rücklage bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung wirtschaftlich begründet ist.38 Der h. M. ist zuzustimmen. Erstens enthält § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG eine Ausnahmeregelung für gesetzliche Rücklagen, die ersichtlich an das Zivilrecht anknüpft. Hier hat aber der Gesetzgeber durch Einführung des § 5a Abs. 3 GmbHG erst vor kurzem deutlich gemacht, dass es abgesehen von der Sonderregelung für die Unternehmergesellschaft keine gesetzliche Rücklage bei der GmbH gibt. Es besteht daher kein Anlass, eine zusätzliche Rücklage durch die Hintertür des Steuerrechts einzuführen. Zweitens liegt auch keine unzulässige steuerliche Ungleichbehandlung von AG und GmbH vor. Denn die zivilrechtliche Differenzierung ist Ausdruck der verschiedenen Kapitalschutzvorschriften, so dass AG und GmbH insoweit nicht vergleichbar sind.39 Es bleibt also dabei, dass bei einer GmbH nur die durch das MoMiG geschaffene gesetzliche Rücklage gem. § 5a Abs. 3 GmbHG unter die Ausnahmerege-

__________ 36 BFH v. 8.8.2001 – I R 25/00, BStBl. 2003, 923 (925) = FR 2002, 514. Für die abhängige AG ergibt sich dies unmittelbar aus § 301 AktG, bei der organschaftlich angebundenen GmbH nimmt § 17 S. 2 Nr. 1 KStG ausdrücklich Bezug auf § 301 AktG. S. dazu auch BMF v. 14.1.2010 – IV C 2 - S 2770/09/10002, DStR 2010, 113: Die Begrenzung der Gewinnabführung gem § 301 AktG muss auch bei einer abhängigen GmbH nicht ausdrücklich in den Gewinnabführungsvertrag aufgenommen werden. 37 Müller/Stöcker, Die Organschaft, 7. Aufl., Rz. 259. 38 Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 17 KStG Tz. 21; Walter in Ernst & Young, KStG, § 14 KStG Rz. 659. Die KStR sind in diesem Punkt wenig ergiebig. Zwar verweist R 65 Abs. 4 KStR 2004 (zu § 17 KStG) vollumfänglich auf R 60 und damit auch auf R 60 Abs. 5 Nr. 2 KStR 2004 (gesetzliche Rücklage). Daraus ergibt sich aber nicht, dass die ohne weiteres zulässige Rücklagenbildung bei der GmbH auch eine gesetzliche Rücklage i. S. d. § 300 AktG umfassen soll. 39 S. dazu ausführlich Walter in Ernst & Young, KStG, § 14 KStG Rz. 659.

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lung für gesetzliche Rücklagen fällt, auch wenn sie erst nach Inkrafttreten des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG eingeführt worden ist.40 Umstritten ist, ob bei der AG Einstellungen in eine satzungsmäßig erhöhte gesetzliche Rücklage der Einschränkung nach § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG unterliegen. Die Finanzverwaltung erkennt nur Zuführungen bis zur Höhe der gesetzlich vorgeschriebenen (Mindest-)Beträge an; der überschießende Betrag wird dagegen wie eine andere Gewinnrücklage behandelt und ist nur dann nicht organschaftsschädlich, wenn die Zuführung bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung wirtschaftlich begründet ist.41 Nach der Gegenansicht handelt es sich auch insoweit um eine „gesetzliche“ Rücklage.42 Für die Richtigkeit der Gegenansicht spricht der Umstand, dass das AktG im Rahmen der §§ 300, 301 AktG nicht zwischen dem gesetzlichen Mindestbetrag (10 % des Grundkapitals) und dem erhöhten Betrag unterscheidet, d. h. der Abführungshöchstbetrag ist unter Berücksichtigung der erhöhten gesetzlichen Rücklage zu ermitteln.43 Hat die entsprechende Satzungsbestimmung bereits vor Beginn der Organschaft bestanden, bezieht sich die Abführungsverpflichtung zudem von vorneherein nur auf den entsprechend verringerten Gewinn. Organgesellschaft und Organträger sind an diese Vorgabe gebunden, so dass gar kein Raum für die von der Finanzverwaltung geforderte wirtschaftliche Begründung verbleibt.44 Die Verwaltungsauffassung führt de facto dazu, dass Zuführungen zur erhöhten gesetzlichen Rücklage per se organschaftsschädlich sind, ohne dass die gesetzlichen Verpflichtungen der Organgesellschaft berücksichtigt werden. Diese einschneidende Sanktion ist von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG nicht gedeckt. Eine Prüfung anhand des Maßstabs des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG könnte daher allenfalls in Betracht kommen, wenn der Organträger erst nach Beginn der Organschaft eine satzungsmäßige Erhöhung der gesetzlichen Rücklage bewusst herbeiführt, um sich der für andere Gewinnrücklagen geltenden Beschränkung nach § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG zu entziehen. Die neu durch das BilMoG eingeführte Ausschüttungssperre des § 268 Abs. 8 HGB stellt eine gesetzliche Ergebnisverwendungsbeschränkung dar, die den Höchstbetrag der Gewinnabführung begrenzt (§ 301 S. 1 AktG i. V. m. § 17 S. 2

__________ 40 Walter in Ernst & Young, KStG, § 14 KStG Rz. 659. 41 R 60 Abs. 5 S. 1 Nr. 2 KStR 2004. Ebenso Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 14 KStG Tz. 203. 42 Frotscher in Frotscher/Maas, KStG/UmwStG, § 14 KStG Rz. 213. 43 Der Begriff der gesetzlichen Rücklage in § 300 AktG ist derselbe wie in § 150 AktG, Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 300 AktG Rz. 9. 44 Es hilft auch nicht weiter, die ursprüngliche Begründung für die Satzungsregelung am Maßstab des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG zu überprüfen. Denn die Entscheidung, die gesetzliche Rücklage im Rahmen des Zulässigen zu erhöhen, wird in der Regel eine allgemeine Vorsorgemaßnahme sein, die nicht im Zusammenhang mit einem konkreten Finanzierungs- oder Vorsorgezweck steht.

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Nr. 1 KStG). Sie ist daher zwingend bei der Durchführung des Gewinnabführungsvertrags zu beachten.45 bb) Satzungsmäßige und andere Gewinnrücklagen Die satzungsmäßigen und die anderen Gewinnrücklagen nach § 266 Abs. 3 A. III. Nr. 3 und 4 HGB unterliegen nach dem Wortlaut von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG ohne weiteres der Beschränkung und dürfen während der Organschaft nur gebildet werden, soweit dies wirtschaftlich begründet werden kann. Bei satzungsmäßigen Rücklagen kann das bereits angesprochene Problem bestehen, dass die Satzungsbestimmung aus der Zeit vor Abschluss des Gewinnabführungsvertrags stammt, so dass der Organträger eine möglicherweise organschaftsschädliche Ausgangslage vorfindet. Hier ist gegebenenfalls durch eine rechtzeitige Satzungsänderung sicher zu stellen, dass keine schädliche Rücklagenbildung stattfinden kann. Unabhängig davon kann der Organträger bei der abhängigen GmbH durch Ausübung des Gesellschafterweisungsrechts gem. § 37 Abs. 1 GmbHG verhindern, dass die Geschäftsführer der GmbH andere Gewinnrücklagen nach § 266 Abs. 3 A. III Nr. 4 HGB bilden. Gleiches gilt für die abhängige AG, mit der zusätzlich ein Beherrschungsvertrag abgeschlossen worden ist, der gem. § 308 Abs. 1 S. 2 AktG grundsätzlich auch nachteilige Weisungen erlaubt.46 In der Praxis enthalten Gewinnabführungsverträge auch oft eine Klausel, wonach Zuführungen zu den anderen Gewinnrücklagen nur mit Zustimmung des anderen Vertragsteils zulässig sind. Die entsprechende Gestaltungsempfehlung wird mit möglichen Zweifeln an der Reichweite des Weisungsrechts47 bzw. mit der „Warnfunktion“ der Klausel begründet, die die Vertragsparteien zur Prüfung der steuerlichen Implikationen der Rücklagenbildung anhalten soll.48 Im Sonderfall der nicht beherrschten AG verhindert sie „Alleingänge“ des Vorstands der Organgesellschaft, der gem. § 76 Abs. 1 AktG eigenverantwortlich handeln muss und nicht den Weisungen des Organträgers unterliegt. 2. Überprüfungsmaßstab der vernünftigen kaufmännischen Beurteilung § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG erlaubt die Bildung anderer Gewinnrücklagen aus dem Jahresüberschuss nur, soweit dies bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung wirtschaftlich begründet ist. Dieser Überprüfungsmaßstab knüpft nicht an handels- oder gesellschaftsrechtliche Tatbestände an (die Zuführung

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45 BMF v. 14.1.2010 – IV C 2 - S 2770/09/10002, DStR 2010, 113. Vgl. dazu auch Frotscher in Frotscher/Maas, KStG/UmwStG, § 14 Rz. 199a und 211a; Loitz/Klevermann, DB 2009, 409 (414); Dahlke, BB 2009, 878 (880 f.); Kieker/Vollmar, DStR 2009, 842; Baldamus, Ubg 2009, 484 (486). 46 Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 308 Rz. 45 m. w. N. Die nachteilige Weisung muss allerdings zugleich für das herrschende Unternehmen oder ein anderes Konzernunternehmen vorteilhaft sein. 47 Hoffmann-Becking in Münchener Vertragshandbuch, Bd. 1 Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2005, Formular X.2 Anm. 8. 48 Walter in Ernst & Young, KStG, § 14 KStG Rz. 660.

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zu den anderen Gewinnrücklagen ist zivilrechtlich in großem Umfang zulässig), sondern postuliert einen eigenständigen steuerlichen Maßstab. Es handelt sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, deren Inhalt im Hinblick auf den Sinnzusammenhang der Einzelregelungen der Organschaft bestimmt werden muss.49 Ausgangspunkt der Inhaltsbestimmung ist das Begründungserfordernis, d. h. die Organgesellschaft muss darlegen und ggf. beweisen, dass ein konkreter Anlass für die Rücklagenbildung besteht.50 Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt, wenn die Organgesellschaft aus bloßer Gewohnheit und ohne weitere Begründung freie Rücklagen bildet.51 Nach Auffassung der Finanzverwaltung scheint der Kreis möglicher Begründungen auf konkrete betriebliche Investitionsvorhaben beschränkt zu sein, die in R 60 Abs. 5 Nr. 3 KStR 2004 beispielhaft aufgezählt werden (Betriebsverlegung, Werkserneuerung, Kapazitätsausweitung). Der BFH hat jedoch im Urteil vom 29.10.1980 deutlich gemacht, dass ein besonderer betrieblicher Anlass im Sinne eines konkreten Investitionsvorhabens zwar in der Regel als Begründung für die Rücklagenbildung ausreicht, aber nicht in jedem Fall verlangt werden kann. Es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalles an, so dass auch die Ansammlung von Risikokapital als Puffer für etwaige Verluste steuerlich anzuerkennen sein kann.52 Die Lit. stimmt dem BFH zu,53 wobei die Finanzverwaltung das Urteil zwar anwendet, aber keine weitere Konkretisierung vorgenommen hat.54 Für die Praxis ergibt sich damit ein erweiterter Spielraum für die Bildung von Gewinnrücklagen, dessen Grenzen in der Diskussion mit der Betriebsprüfung aber nicht eindeutig bestimmbar sind. Das Bedürfnis der Organgesellschaft, einen allgemeinen Risikopuffer aufzubauen, ist nicht schon deshalb unbeachtlich, weil der Organträger zum Ausgleich etwaiger Verluste verpflichtet ist. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG billigt der Organgesellschaft – wie auch § 301 S. 2 AktG – gerade diesen Vorsorgespielraum zu, so dass das Ziel einer Verbesserung der Kapitalstruktur nicht ohne weiteres als schädlich angesehen werden darf.55 Mit dem Abstellen auf eine vernünftige kaufmännische Beurteilung hat der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen einen Ermessensspielraum zugestanden, den die Finanzverwaltung nicht durch eigene Erwägungen ausfüllen darf.56 Die

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49 BFH v. 29.10.1990 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336 (338) = FR 1981, 154. 50 BFH v. 29.10.1990 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336 (338) = FR 1981, 154; Frotscher in Frotscher/Maas, KStG/UmwStG, § 14 KStG Rz. 214; Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/ Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 14 KStG Tz. 206; Danelsing in Blümich EStG/KStG/GewStG, § 14 KStG Rz. 144; Neumann in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 14 KStG Rz. 323; Sterner in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 14 KStG Anm. 240. 51 BFH v. 29.10.1990 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336 (338) = FR 1981, 154. 52 BFH v. 29.10.1980 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336 (338) = FR 1981, 154. 53 Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 14 KStG Tz. 206; Frotscher in Frotscher/Maas, KStG/UmwStG, § 14 KStG Rz. 215; Schmidt, FR 1982, 139. 54 H 60 KStR 2008. 55 Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 14 KStG Tz. 206. 56 BFH v. 29.10.1980 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336, 338 f. = FR 1981, 154.

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Finanzverwaltung verlangt dennoch in R 60 Abs. 5 Nr. 3 KStR 2004, dass die Rücklagenbildung „aus objektiver unternehmerischer Sicht gerechtfertigt“ ist, was zu einer unzulässigen Beschränkung des notwendigerweise unternehmensbezogenen Beurteilungsspielraums führt. Das Finanzamt ist aber nicht befugt, sich unter Berufung auf einen „objektivierten“ Maßstab über die Entscheidung der Organe der Gesellschaft hinwegzusetzen, die im Zweifel ihr eigenes Unternehmen besser kennen als ein Außenstehender.57 § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG enthält daher letztlich ein Willkürverbot, so dass nur solche Gewinnrücklagen abzulehnen sind, für die überhaupt kein wirtschaftlicher Anlass besteht oder die schlichtweg ungeeignet sind, den angestrebten Zweck zu erfüllen. Vor diesem Hintergrund sind konkrete betriebliche Investitionsvorhaben immer ein ausreichender Anlass für die Rücklagenbildung, und auch Maßnahmen der Risikovorsorge sind steuerlich anzuerkennen, sofern sie in den Umständen des Einzelfalls begründet sind und nicht nur der Abdeckung des allgemeinen Unternehmerrisikos dienen sollen.58 Unzulässig wäre dagegen z. B. die Bildung von Gewinnrücklagen mit dem Argument der Vorsorge für den Zeitraum nach der Vertragsbeendigung, wenn bereits feststeht, dass der Organträger die Gewinnrücklagen vorher kraft seines Weisungsrechts entnehmen wird. 3. Auflösung von Gewinnrücklagen Hat die Organgesellschaft während der Vertragsdauer andere Gewinnrücklagen gebildet, die nach § 14 Abs. 1 Nr. 4 KStG aufgrund eines konkreten Anlasses wirtschaftlich begründet waren, so stellt sich die Frage, ob die Gewinnrücklagen später wieder aufzulösen sind, wenn der konkrete Anlass entfällt (z. B. aufgrund Nichtrealisierbarkeit eines Investitionsvorhabens oder Wegfalls besonderer Verlustrisiken). Der BFH hat sich zu diesem Problem noch nicht geäußert, auch die KStR enthalten keinen Hinweis dazu. Nach der in der Lit. vertretenen Auffassung besteht kein Auflösungsgebot, d. h. die Gewinnrücklagen dürfen fortgeführt werden, ohne dass dadurch die Organschaft gefährdet wird.59 Diese Auffassung kann sich auf den Wortlaut des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG stützen, wonach nur das (erstmalige) „Einstellen“ von Beträgen in die Gewinnrücklagen, nicht aber deren Beibehaltung der Beschränkung durch das Gebot der Vollabführung unterliegt.60 In der Praxis scheint das Problem aber nicht weiter relevant zu sein; vermutlich, weil die Organträger nicht benötigte Ge-

__________ 57 BFH v. 29.10.1980 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336, 338 f. = FR 1981, 154. 58 Walter in Ernst & Young, KStG, § 14 KStG Rz. 662. 59 Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 14 Tz. 205; Walter in Ernst & Young, KStG, § 14 KStG Rz. 663; Frotscher in Frotscher/Maas, KStG/ UmwStG, § 14 Rz. 217. 60 Vgl. dazu das ähnliche Auslegungsproblem bei § 5 Abs. 4a EStG (Verbot der Bildung von Drohverlustrückstellungen in der Steuerbilanz): Der Kauf eines Unternehmens, das eine Drohverluststellung in der Handelsbilanz passiviert hat, führt beim Erwerber nicht zur Auflösung der Drohverlustrückstellung, weil er die Rückstellung nicht „gebildet hat“; FG Düsseldorf v. 9.9.2008 – 6 K 1161/04, DStRE 2009, 513.

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winnrücklagen zeitnah entnehmen, um das frei gewordene Kapital für andere Zwecke einzusetzen.

IV. Verwendung von Umstrukturierungserträgen zur Rücklagenbildung Die eingangs erwähnten Fälle der umstrukturierungsbedingten Gewinnrealisierung lassen sich auf der Grundlage des Vorstehenden wie folgt lösen: Der Übernahmegewinn im Rahmen einer Aufwärtsverschmelzung bzw. Aufwärtsspaltung oder Anwachsung auf die Organgesellschaft sowie der Einbringungsgewinn bei einer Teilbetriebs- oder Anteilseinbringung durch die Organgesellschaft gehen als außerordentliche Erträge in den Jahresüberschuss der Organgesellschaft ein (§ 275 Abs. 2 Nr. 15 HGB). Hat die Organgesellschaft Aufwendungen in mindestens gleicher Höhe aus anderen Geschäftsvorfällen (z. B. Vornahme von Wertberichtigungen auf andere Vermögensgegenstände), ergibt sich per Saldo keine Erhöhung des Jahresüberschusses, so dass auch kein zusätzliches Rücklagevolumen entsteht. Die Beschränkung des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG wird dann gar nicht relevant. In der Praxis besteht z. B. bei Zwischenholdings ein gewisser Auswahlspielraum, in welchem Umfang Beteiligungen eingebracht werden, so dass man die Erträge an die Aufwendungen anpassen kann. Entsteht dagegen ein hoher Jahresüberschuss, der nur zum Teil an den Organträger abgeführt werden soll, ist die Bildung von anderen Gewinnrücklagen erforderlich. Plant die Organgesellschaft ohnehin eine konkrete betriebliche Investition in entsprechender Höhe, kann sie die Rücklagenbildung im Hinblick auf R 60 Abs. 5 Nr. 3 KStR 2004 ohne weiteres steuerlich rechtfertigen. Die Zulässigkeit der Rücklagenbildung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Organgesellschaft in der Vergangenheit für ähnliche Vorhaben keine Rücklagen gebildet hat. Denn erstens gilt der GoB der Stetigkeit nicht im Rahmen der Rücklagenbildung. Zweitens hat der BFH der Organgesellschaft Finanzierungsfreiheit zugebilligt, d. h. die Organgesellschaft kann frei entscheiden, ob sie eine Investition mit Eigen- oder Fremdkapital bestreitet. Entscheidet sie sich – abweichend von der bisherigen Fremdfinanzierung – für die Eigenkapitalfinanzierung, ist die Rücklagenbildung von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG gedeckt.61

__________ 61 BFH v. 29.10.1990 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336 (338) = FR 1981, 154. Man könnte allenfalls einwenden, dass die Aufdeckung stiller Reserven durch eine Umstrukturierung nicht mit dem Zugang liquider Mittel verbunden ist, so dass die Rücklage auch nicht zur internen Finanzierung einer Investition geeignet sein kann. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die erforderliche Liquidität bereits im Umlaufvermögen vorhanden sein (z. B. kurzfristige Forderungen gegen den Organträger aus dem CashPool) bzw. in der Folgezeit entstehen kann.

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Ist ein konkretes Investitionsvorhaben weder auf Ebene der Organgesellschaft noch bei einer nachgeordneten Gesellschaft geplant,62 kommt es zu der vom BFH angesprochenen Einzelfallprüfung: Verwendet die Organgesellschaft den Umstrukturierungsertrag, um (drohende) Wertberichtigungen zu kompensieren, ist dadurch zugleich dokumentiert, dass Verluste drohen, für die ein Risikopuffer benötigt wird. Diese Situation ist m. E. von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG gedeckt, weil die vollständige Abführung von Verschmelzungs- und Einbringungsgewinnen im Falle weiterer Wertberichtigungen zu einer wirtschaftlichen Krise der Organgesellschaft führen kann. Die Organgesellschaft muss sich nach der Rspr. insoweit auch nicht auf die Verlustausgleichspflicht des Organträgers verweisen lassen, weil sie selbst zur Vorsorge berechtigt ist.63 Schwieriger zu beurteilen ist dagegen der Fall, dass die Organgesellschaft vom Organträger angehalten wird, im Interesse der Ausschüttungspolitik des Organträgers einen Umstrukturierungsgewinn zu generieren, der mittels Gewinnrücklagenbildung über mehrere Jahre gestreckt wird, um das Ausschüttungspotential des Organträgers zu verstetigen. Die Sicherung des Ausschüttungsvermögens ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt bei kapitalmarktorientierten Unternehmen, da die Absicherung des Aktienkurses durch eine gute Dividendenrendite u. a. die Durchführung einer Kapitalerhöhung erleichtern kann. Der Vorteil der Kursstabilität wirkt sich aber nicht unmittelbar auf die Organgesellschaft aus und müsste daher an sich im Rahmen des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG unbeachtlich sein. Handelt die Organgesellschaft aber auf Weisung des herrschenden Unternehmens, verlagert sich der kaufmännische Entscheidungsspielraum zivilrechtlich von der Organgesellschaft auf das herrschende Unternehmen. Das Steuerrecht sollte der zivilrechtlichen Vorgabe folgen und in diesem Fall auf den konkreten Anlass auf Ebene des Organträgers abstellen. Aufgrund der Konzernierung rücken die Interessen des Konzernverbunds in den Vordergrund, so dass eine isolierte Betrachtung nur der Organgesellschaft zu kurz greifen würde. Da jedoch weder Rechtsprechung noch Verwaltungsanweisungen vorliegen, sollte man in der Praxis die Bildung von Gewinnrücklagen vorsichtshalber nicht mit Konzerninteressen begründen.

V. Rücklagenbildung nach BilMoG-Übergangsvorschriften (Art. 67 EGHGB) Nach Art. 67 Abs. 3 EGHGB besteht ein Wahlrecht, Rückstellungen für unterlassene Instandhaltung und Aufwandsrückstellungen gem. § 249 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 HGB a. F. (befristet) beizubehalten oder unmittelbar – d. h. ohne

__________ 62 Als konkretes Investitionsvorhaben kommt m. E. auch die Einlage bei einer Tochtergesellschaft der Organgesellschaft in Betracht, wenn mit den eingelegten Mitteln der Geschäftsbetrieb der Tochtergesellschaft unterstützt wird. Aus der Sicht der Organgesellschaft handelt es sich um eine Investition in die Beteiligung an der Tochtergesellschaft. 63 BFH v. 29.10.1980 – I R 61/77, BStBl. II 1981, 336 (338) = FR 1981, 154.

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Berührung der Gewinn- und Verlustrechnung64 – in die Gewinnrücklagen einzustellen. Gemeint sind die „anderen Gewinnrücklagen“ i. S. v. § 266 Abs. 3 A. III. 4. HGB.65 Nach Auffassung von Frotscher66 handelt es sich um eine gesetzlich vorgeschriebene Rücklagenbildung, die ohne weiteres zulässig ist und nicht der Beschränkung gem. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG unterliegt. Die Gegenmeinung sieht darin einen Anwendungsfall des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG, so dass die Rücklagenbildung nur dann nicht organschaftsschädlich ist, wenn sie bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung begründet ist. Dies sei aber automatisch der Fall, weil eine Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht den weiterhin vorhandenen Anlass für die Rückstellungsbildung entfallen lasse.67 Die Finanzverwaltung hat das Problem aus Sicht der Praxis durch das BMF-Schreiben vom 14.1.2010 gelöst. Danach stellt die Einstellung der aufgelösten Beträge in die Gewinnrücklage keine Verletzung der Grundsätze des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG dar.68 In dogmatischer Hinsicht bleibt jedoch offen, ob die Rücklagenbildung bereits den Tatbestand des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG nicht erfüllt oder ob es sich um eine allgemeine Billigkeitsregelung i. S. v. § 163 S. 1 AO handelt. Das Beispiel der Aufwandsrückstellungen illustriert, dass der Gesetzgeber die Verzahnung von Bilanzrechtsreform und Ertragsteuerrecht nicht gerade optimal gelöst hat. Fast schon chaotisch vollzieht sich der Übergang zum neuen Recht aber im Bereich der umgekehrten Maßgeblichkeit: Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB enthalten u. a. eine Übergangsregelung für die nach § 6b EStG vorgenommenen Gewinnübertragungen bzw. gebildeten Rücklagen. Nach bisherigem Recht musste die Organgesellschaft eine Gewinnübertragung im Rahmen der umgekehrten Maßgeblichkeit zwingend in ihrer Handelsbilanz ausweisen, um in den Genuss der steuerlichen Vergünstigung zu kommen (Ausübung steuerlicher Wahlrechte in Übereinstimung mit der Handelsbilanz gem. § 5 Abs. 1 S. 2 EStG a. F.). Der Ausweis geschah entweder durch eine Abschreibung auf die Anschaffungskosten des Reinvestitionsobjekts (§§ 254 S. 1, 279 Abs. 2 HGB) oder durch Ansatz der unverminderten Anschaffungskosten und Passivierung eines Sonderpostens mit Rücklageanteil (§ 281 Abs. 1 S. 1 HGB); eine 6b-Rücklage musste als Sonderposten mit Rücklageanteil in der Handelsbilanz angesetzt werden (§§ 247 Abs. 3, 273 HGB).69 Der Gesetzgeber hat § 5 Abs. 1 S. 2 EStG zusammen mit den handelsrechtlichen Öffnungsklauseln (§§ 247 Abs. 3, 254 S. 1, 273, 279 Abs. 2, 280 und 281 Abs. 1 S. 1 HGB) im Zuge der Bilanzrechtsmodernisierung aufgehoben. Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB sehen ein Wahlrecht zur Beibehaltung des Sonderpostens

__________ 64 Ellrott in BeckBilanzkomm, 7. Aufl. 2010, Art. 67 EGHGB Rz. 17. 65 IDW RS HFA 28 (Übergangsregelungen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes) IDW FN Nr. 12/2009, S. 642 (644) Tz. 7. 66 Frotscher in Frotscher/Maas, KStG/UmwStG, § 14 Rz. 211b. 67 Wehrheim/D. Rupp DStR 2008, 1977 (1980); zustimmend Dötsch/Witt in Dötsch/ Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 14 KStG Tz. 205. 68 BMF v. 14.1.2010 – IV C 2 - S 2770/09/10002, DStR 2010, 113. 69 Die §§ 273, 281 HGB sind allerdings auf eine Organgesellschaft nur anwendbar, wenn keine Befreiung gem. § 264 Abs. 3 oder 4 HGB besteht.

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mit Rücklageanteil bzw. der durch die Abschreibung gem. § 254 HGB a. F. geminderten Anschaffungskosten vor. Macht die Organgesellschaft von dem Wahlrecht keinen Gebrauch, kommt es zum Wegfall des Sonderpostens bzw. zu einer Zuschreibung auf die Anschaffungskosten, d. h. die Handelsbilanz wird auf einen Schlag von den steuerlich geprägten Positionen befreit. Die entsprechenden Beträge sind wie im Fall der Aufwandsrückstellung „erfolgsneutral“ und „ohne Berührung der Gewinn- und Verlustrechung und der Ergebnisverwendungsrechung gem. § 158 Abs. 1 AktG“ in die anderen Gewinnrücklagen einzustellen.70 Auch hier stellt sich wieder die Frage, ob die Zuführung zu den anderen Gewinnrücklagen organschaftsschädlich sein kann und ob der Verweis auf die gesetzliche Regelung als Begründung für die Rücklagenbildung ausreicht. Das Problem wird erstens dadurch verschärft, dass es für § 5 Abs. 1 S. 2 EStG keine dem Art. 67 Abs. 3 EGHGB entsprechende Übergangsvorschrift gibt. Bei strenger Lesart könnte damit die steuerrechtliche Grundlage für die Fortgeltung der handelsrechtlichen Öffnungsklauseln mit dem Inkrafttreten des BilMoG am 29.5.2009 entfallen sein, was dem Beibehaltungswahlrecht gem. Art. 67 Abs. 3 und 4 HGB den Boden entziehen würde.71 Zweitens ist nach Auffassung des IDW eine Ausschüttung der nach Art. 67 EGHGB gebildeten Gewinnrücklagen im Geschäftsjahr der unmittelbaren Einstellung möglich,72 so dass die Organgesellschaft den Rücklagenbetrag ohne Verzögerung an den Organträger abführen könnte. Für Zwecke des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG sind daher zwei Fragen zu klären: Fällt die Einstellung in die anderen Gewinnrücklagen gem. Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB in den Anwendungsbereich der Vorschrift, und wenn ja, schafft die handelsbilanzielle Zulässigkeit der sofortigen Auflösung und Ausschüttung einen steuerlichen Abführungszwang, sofern die Organgesellschaft keine Begründung für die Beibehaltung der Rücklage darlegen kann? Hinsichtlich der ersten Frage hilft m. E. bereits der Wortlaut des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG, denn der Beschränkung für die Bildung anderer Gewinnrücklagen unterliegen nur „Beträge aus dem Jahresüberschuss“. Die Einstellung von Beträgen in die

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70 IDW RS HFA 28 (Übergangsregelungen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes), IDW FN Nr. 12/2009, S. 642 (644) Tz. 21. 71 Das BilMoG wurde am 28.5.2009 im BGBl. verkündet und ist gem. Art. 15 am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten. Das IDW hatte zunächst das BMF aufgefordert, für § 5 Abs. 1 EStG eine entsprechende Übergangsregelung zu schaffen (IDWSchreiben v. 10.6.2009, IDW FN Nr. 7/2009, 334). In der endgültigen Fassung von IDW RS HFA 28 scheint die Frage aber geklärt zu sein. Dort heißt es nunmehr sinngemäß, dass die Übergangsvorschriften in Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB trotz der übergangslosen Aufhebung von § 5 Abs. 1 S. 2 EStG eine umfassende Rechtsgrundlage für die Beibehaltung der § 6b-Positionen bilden (Tz. 3 IDW RS HFA 28, IDW FN Nr. 12/2009, S. 642 [643]). Nach Auffassung von Ley/Spingler, Ubg 2009, 781, sind Kapitalgesellschaften und gleichgestellte KapGes & Co. dagegen aufgrund des Wegfalls der umgekehrten Maßgeblichkeit zur Wertaufholung bzw. Auflösung der § 6bRücklagen verpflichtet. Die misslungene Übergangsregelung könne nicht im Wege der Auslegung gerettet werden. 72 IDW RS HFA 28 (Übergangsregelungen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes), IDW FN Nr. 12/2009, S. 642 (644) Tz. 21.

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anderen Gewinnrücklagen berührt aber weder die Gewinn- und Verlustrechnung gem. § 275 HGB noch die Ergebnisverwendungsrechung gem. § 158 Abs. 1 AktG. Gegen dieses Argument könnte man allerdings einwenden, dass die ursprüngliche Abschreibung bzw. Rücklagenbildung erfolgswirksam war, so dass die Rückgängigmachung dieser Positionen auch erfolgswirksam sein müsse (vgl. § 281 Abs. 2 S. 2 HGB a. F.). Hält man deshalb die Einschränkung gem. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG für einschlägig, sprechen folgende Erwägungen gegen eine steuerliche Abführungspflicht: Hat die Organgesellschaft eine Gewinnübertragung gem. § 6b Abs. 1 EStG bereits vorgenommen, ist der unbesteuerte Veräußerungsgewinn zur Anschaffung eines Reinvestitionsobjekts verwendet worden. Konkrete betriebliche Investitionen sind aber von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG ohne weiteres gedeckt. Dies muss auch gelten, wenn nicht die Investition auf die Rücklagenbildung, sondern – wie in den in Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB geregelten Fällen – die Rücklagenbildung auf die Investition folgt. In beiden Fällen ist der frühere Veräußerungsgewinn betrieblich gebunden. Hat die Organgesellschaft den Veräußerungsgewinn noch nicht reinvestiert, sondern in einer 6b-Rücklage gespeichert, darf sie die Rücklage gem. § 6b Abs. 3 EStG für einen bestimmten Zeitraum fortführen. Dadurch gewinnt sie Zeit, um ein geeignetes Reinvestitionsobjekt zu finden. Es wäre ein Wertungswiderspruch zur Fristgewährung nach § 6b Abs. 3 EStG, wenn man im Hinblick auf § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG die sofortige Abführung des Veräußerungsgewinns fordern und der Organgesellschaft einen Teil der Mittel für die Reinvestition nehmen würde. Schließlich ist zu bedenken, dass es sich bei dem Wahlrecht um eine Übergangsregelung handelt, die den betroffenen Unternehmen einen zusätzlichen Handlungsspielraum einräumen sollte. Die Ausübung dieses handelsrechtlichen Wahlrechts darf nicht durch mittelbare steuerliche Sanktionen bestraft werden. Eine ungeklärte Folgefrage ergibt sich schließlich, wenn die Organgesellschaft die nach Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB gebildete Gewinnrücklage auflösen möchte. Vertritt man die Auffassung, dass die Einstellung in die Gewinnrücklage schon tatbestandlich nicht von § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG erfasst war, wäre es konsequent, den Ertrag aus der Auflösung nicht abzuführen, sondern wie eine Kapitalrücklage auszuschütten. Dabei könnte jedoch die Differenzrechnung gem. § 27 Abs. 1 KStG dazu führen, dass die pauschalierte Besteuerung gem. § 8b Abs. 1 und 5 KStG greift. Behandelt man die BilMoG-Rücklage dagegen als organschaftliche Gewinnrücklage, wäre nur die Abführung nach § 301 S. 2 AktG zulässig. Das BMF-Schreiben vom 14.1.2010 befasst sich leider nicht mit den Übergangsregelungen in Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB, die den Wegfall der umgekehrten Maßgeblichkeit betreffen. Hier ist im Interesse der betroffenen Unternehmen eine schnelle Lösung durch den Gesetzgeber oder die Finanzverwaltung gefordert. 752

Gewinnrücklagen gem. § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG in der Beratungspraxis

VI. Zusammenfassung Die gesetzliche Beschränkung der Bildung von organschaftlichen Gewinnrücklagen besitzt einen fragwürdigen Regelungszweck und ist unbestimmt formuliert. In der Praxis herrscht daher nach wie vor eine gewisse Unsicherheit bezüglich der wirtschaftlichen Begründung von Gewinnrücklagen, auch wenn der BFH der Organgesellschaft einen großen Beurteilungsspielraum zugestanden hat. Außerordentliche Erträge, die bei konzerninternen Umstrukturierungen entstehen, dürfen ohne weiteres zur Vorbereitung künftiger betrieblicher Investitionen in die Gewinnrücklagen eingestellt werden. Auch die Bildung eines angemessenen Risikopuffers ist zulässig, wobei die Einschätzungsprärogative beim Steuerpflichtigen liegt. Insbesondere die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise bietet einen hinreichenden Anlass für die Rücklagenbildung, der von der Finanzverwaltung anzuerkennen ist. Einstellungen in die Gewinnrücklagen, die im Interesse des Organträgers erfolgen (z. B. zur Verstetigung von Gewinnausschüttungen), sind dagegen problematisch, weil aus der Perspektive der Organgesellschaft kein konkreter Anlass zur Rücklagenbildung besteht. Erfolgt die Rücklagenbildung aber aufgrund einer Weisung des Organträgers, verlagert sich der zivilrechtliche Entscheidungsspielraum von der Organgesellschaft zum Organträger. Diese zivilrechtliche Vorgabe sollte im Rahmen des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG berücksichtigt werden. Durch das BilMoG und den Wegfall der umgekehrten Maßgeblichkeit sind weitere Zweifelsfragen entstanden, die nicht abschließend geklärt sind. Der Gesetzgeber bzw. die Finanzverwaltung sind aufgefordert, die Rücklagenbildung gem. Art. 67 Abs. 3 und 4 EGHGB so zu regeln, dass die Steuerpflichtigen ihre Übergangswahlrechte ohne Gefährdung der Organschaft ausüben können.

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Jochen Thiel

Nach 50 Jahren immer noch aktuell: Die besonderen Ausgleichsposten in der Steuerbilanz des Organträgers Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Problemstellung III. Die Geschichte der Ausgleichsposten 1. Organschaft ohne gesetzliche Verankerung a) Einkommenszurechnung mit Hilfe der Ausgleichsposten b) Die weitere Funktion der Ausgleichsposten 2. Der Eingriff des Gesetzgebers: Ausgleichsposten in neuem Licht IV. Die Rechtsprechung des BFH 1. Das Urteil vom 24.7.1996 2. Das Urteil vom 7.2.2007 3. Kritik a) Das Scheinproblem der „bilanztechnischen Erinnerungsposten“ b) Der Gesetzesplan c) Anhaltspunkte in den Gliederungsvorschriften d) Bilanzielle Steuerfreistellung der Mehrabführung e) Bedenken des BFH f) Keine imparitätische Einkommenskorrektur V. Der neue § 14 Abs. 4 KStG 2008 1. Die gesetzliche Regelung 2. Mögliche Alternative: Gleichbehandlung von Minder-/Mehrabführungen und Minder-/Mehrausschüttungen

a) Minderabführungen b) Mehrabführungen c) Bewertung des Alternativkonzepts 3. Abgelehnt: Die Einlagenlösung 4. Fehler: Nur quotale Bildung der Ausgleichsposten VI. Offene Fragen 1. Rechtsnatur der Ausgleichsposten 2. Erfolgsneutrale oder erfolgswirksame Bildung der Ausgleichsposten? 3. Ausgleichsposten bei mittelbarer Beteiligung an der Organgesellschaft 4. Höhe der Gewinnminderung aus der Auflösung aktiver Ausgleichsposten 5. Teilwertabschreibung und Ausgleichsposten 6. Abführung von Einlagen des Organträgers 7. Bildung und jährliche Fortschreibung der Ausgleichsposten VII. Übergangsprobleme 1. Rückwirkende Anwendung des § 14 Abs. 4 KStG 2. Folgen bei Verfassungswidrigkeit des § 34 Abs. 9 Nr. 5 KStG VIII. Schlussbemerkung

I. Vorbemerkung Joachim Lang hat während seines gesamten Berufslebens immer wieder eine umfassende Steuerreform angemahnt und die Systematisierung des Steuerrechts gefordert. Als Praktiker, der die Umsetzungsprobleme nicht zuletzt auf755

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grund seiner zeitweiligen Tätigkeit in der Finanzverwaltung kannte, beließ er es nicht bei theoretischen Erörterungen und Verbesserungsvorschlägen, sondern setzte seine Überlegungen oft gleich in Gesetzentwürfe um. Beispiele dafür sind: sein Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuerrechts1, der Entwurf eines Steuergesetzbuches2 und der von ihm zusammen mit seinem Lehrer Klaus Tipke und anderen erarbeitete Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes3. Leider fehlt der deutschen Gesetzgebung die Kraft zu einer Strukturreform. Die kleinen Schritte, die in den vergangenen Jahrzehnten die Steuerpolitik bestimmten, haben nicht zur Systematisierung des Steuerrechts beigetragen und schon gar nicht eine Steuerrechtsordnung mit sachgerechten zu Ende gedachten Regeln geschaffen. Joachim Lang hat sich aber auch intensiv mit einzelnen Rechtssätzen beschäftigt. Wenn ein gelungenes Steuergesetz entstehen soll, muss jeder Paragraph stimmen. Seine Dissertation „Systematisierung der Steuervergünstigungen“4 trägt den Untertitel „Ein Beitrag zur Lehre vom Steuertatbestand“. Ich darf deshalb hoffen, dass dieser Beitrag, der sich mit dem sehr speziellen Problem der besonderen Ausgleichsposten beschäftigt, das Interesse des Jubilars findet. Ein bekannter BFH-Richter, der dem I. Senat angehörte, soll bei einer Vortragsveranstaltung geäußert haben, es gäbe in Deutschland nur drei Leute, die etwas von den besonderen Ausgleichsposten verstünden. Als daraufhin ein namhafter Kommentator aus der Finanzverwaltung bemerkte, er könne dies nicht für sich in Anspruch nehmen, habe der Richter trocken gemeint: „Dann sind es nur zwei.“

II. Problemstellung Die Kapitalausstattung einer Aktiengesellschaft oder GmbH führt zur Verdoppelung des eingesetzten Vermögens. Das eingebrachte Geld vermehrt das Reinvermögen der Gesellschaft, ohne dass der Gesellschafter einen Vermögensverlust erleidet. Denn er erhält im Gegenzug gleichwertige Anteile an der Gesellschaft oder er steigert durch seine Einlage den Wert seiner schon vorhandenen Gesellschaftsanteile. Der unbefangene Betrachter mag einwenden, ein und derselbe Euro würde doppelt gezählt: Einmal als Vermögen der Kapitalgesellschaft und zum anderen als Vermögen des Gesellschafters. So ist es aber nicht. Denn Gesellschaft und Gesellschafter halten unterschiedliche Vermögensgegenstände: Die Gesellschaft Geld, der Gesellschafter Rechte. Als es noch die Vermögensteuer gab, hat sich der Fiskus nicht gescheut, diese sowohl von dem Reinvermögen der Gesellschaft als auch von dem Wert der Anteile des Gesellschafters zu erheben.

__________ 1 J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuerrechts, Münsteraner Symposion, Bd. II, Köln 1985. 2 J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Bd. 49, Bonn 1993. 3 J. Lang u. a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, Köln 2005. 4 J. Lang, Systematisierung der Steuervergünstigungen, Diss. Köln/Berlin 1974.

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Die Verdoppelung des Reinvermögens hat zur Folge, dass sich jeder Gewinn oder Verlust der Gesellschaft sowohl auf der Gesellschaftsebene als auch auf der Gesellschafterebene auswirkt. Er erhöht oder mindert das Reinvermögen der Gesellschaft und verändert zugleich den Wert der Beteiligung. Die Gesellschaft realisiert den Gewinn oder Verlust sofort, der Gesellschafter bei der Ausschüttung oder Verlustübernahme, spätestens aber bei der Veräußerung der Beteiligung. Bei der Organschaft wird die Doppelbelastung des Gewinns dadurch vermieden, dass das Einkommen der Gesellschaft, sei es positiv oder negativ, dem Organträger zugerechnet wird (§ 14 Abs. 1 Satz 1 KStG). Ziel dieser Regelung ist es, den Gewinn oder Verlust der Organgesellschaft nur noch einmal auf der Ebene des Organträgers zu besteuern. Jedoch werden die Auswirkungen des Gewinns oder Verlustes der Organgesellschaft auf die Beteiligung des Organträgers dadurch nicht beseitigt. Ein Gewinn der Organgesellschaft, der von dieser thesauriert wird, erhöht den Wert der Beteiligung an der Organgesellschaft und wird daher zusätzlich bei einer Veräußerung dieser Beteiligung beim Organträger erfasst. Ein Verlust der Organgesellschaft mindert den Wert der Beteiligung und wird daher – soweit er nicht durch den Gesellschafter übernommen wird – zusätzlich bei einer Veräußerung der Beteiligung von dem Organträger realisiert. Sollen sich Gewinn oder Verlust der Organgesellschaft beim Organträger nicht doppelt auswirken, einmal im Rahmen der Einkommenszurechnung, zum anderen bei der Veräußerung der Beteiligung, muss die Regelung über die Einkommenszurechnung ergänzt werden. Der Gesetzgeber hat eine entsprechende gesetzliche Regelung fast 50 Jahre lang nicht für erforderlich gehalten. Er hat sich darauf verlassen, dass die in den Körperschaftsteuerrichtlinien (R 63 KStR 2004) vorgeschriebene Einstellung besonderer Ausgleichsposten in die Steuerbilanz des Organträgers und ihre erfolgswirksame Auflösung bei Veräußerung der Beteiligung die Entstehung eines zusätzlichen Veräußerungsgewinnes oder die endgültige Steuerfreistellung von Mehrabführungen verhindern würde.

III. Die Geschichte der Ausgleichsposten 1. Organschaft ohne gesetzliche Verankerung a) Einkommenszurechnung mit Hilfe der Ausgleichsposten Die besonderen Ausgleichsposten in der Steuerbilanz des Organträgers entstammen einer Zeit, als die Organschaft noch als Richterrecht galt. Sie wurden in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts von meinem Vater Rudolf Thiel in die Steuerrechtspraxis eingeführt5. Da es an einer Rechtsnorm fehlte, nach der das Einkommen der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen war, wurde nach einer bilanziellen Lösung gesucht. Das steuerliche Ergebnis der

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5 Die Begründung des FA-BT. zum JStG 2008 zu Nr. 4 (§ 34 KStG), BT-Drucks. 16/7036, 21, zitiert folgende Aufsätze R. Thiels: BB 1960, 735; StbJb 1961/62, 201; BB 1965, 743; BB 1966, 116.

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Organgesellschaft musste in die Steuerbilanz des Organträgers einfließen, so dass es als eigenes Einkommen des Organträgers in Erscheinung trat6. Dafür wurden als bilanzielle Hilfsgrößen die besonderen Ausgleichsposten benötigt. Denn von den vier Komponenten, aus denen sich das beim Organträger zu erfassende Einkommen der Organgesellschaft zusammensetzt, tritt nur eine, der von der Organgesellschaft abgeführte Handelsbilanzgewinn bzw. der vom Organträger übernommene Verlust bereits kraft der Buchführung als eigenes Einkommen des Organträgers in Erscheinung. Eine weitere Komponente des Einkommens der Organgesellschaft, ihre nicht abzugsfähigen Ausgaben, konnten damals vernachlässigt werden. Sie wurden nicht beim Organträger erfasst, sondern mussten wegen der trotz Organschaft fortbestehenden subjektiven Steuerpflicht der Organgesellschaft von dieser selbst als eigenes Einkommen versteuert werden7. Die beiden restlichen Einkommenskomponenten – die bei der Organgesellschaft gebildeten, aber vom Organträger zu versteuernden offenen Rücklagen und – die Summe der steuerrechtlichen Korrekturen, die sich aus einer von der Handelsbilanz abweichenden Steuerbilanz der Organgesellschaft ergeben, mussten mit bilanziellen Mitteln in die Steuerbilanz des Organträgers übertragen werden. Dazu wurden in der Steuerbilanz des Organträgers erfolgswirksam Ausgleichsposten gebildet. Sie gewährleisteten, dass die entsprechenden Einkommensteile – wie der abgeführte Gewinn oder der übernommene Verlust – das Einkommen des Organträgers auf bilanzieller Grundlage erhöhten oder minderten. Blieb der abgeführte Gewinn hinter dem Einkommen der Organgesellschaft zurück (Minderabführung) wurde der Gewinn des Organträgers durch einen entsprechenden aktiven Ausgleichsposten erhöht. Ebenso wurde verfahren, wenn der Steuerbilanzgewinn, z. B. aufgrund höherer Bewertung der Aktiva oder aufgrund niedrigerer Bewertung der Passiva, höher war als der Gewinn der Handelsbilanz. War der Steuerbilanzgewinn ausnahmsweise niedriger als der abgeführte Handelsbilanzgewinn (Mehrabführung), musste der Organträger erfolgswirksam einen entsprechenden passiven Ausgleichsposten bilden. Obwohl die Ausgleichsposten erfolgswirksam wie eigenes Vermögen auf der Aktiv- oder Passivseite der Bilanz des Organträgers ausgewiesen wurden, bildeten sie kein Vermögen des Organträgers ab8. Die ihnen entsprechenden Vermögensteile verblieben de facto bei der Organgesellschaft. Die Ausgleichsposten waren ein bloßes Hilfsmittel, um den Teil des Einkommens der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen, dem kein Vermögensübergang durch Gewinnabführung oder Verlustübernahme entsprach (Transportfunktion). Soweit es nur um die richtige laufende Einkommensermittlung ging, hätte es auch genügt, die entsprechenden Einkommensteile der Organgesellschaft dem Einkommen des Organträgers außerhalb der Bilanz zuzurechnen. Das Ergebnis

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6 R. Thiel, BB 1960, 735 (736); StbJb 1961/62, 181 (202 ff.); BB 1965, 743 (744 ff.); BB 1966, 116 (117, 119 a. E.). 7 BFH v. 4.3.1965, BStBl. III 1965, 329; v. 14.2.1956, BStBl. III 1956, 151. 8 R. Thiel, StbJb 1960/61, 181 (203, 204).

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in dem Jahr, in dem die Organgesellschaft das zuzurechnende Einkommen erzielt hat, würde sich nicht unterscheiden. b) Die weitere Funktion der Ausgleichsposten Der Trick, die Zurechnung des Einkommens auf bilanzieller Grundlage zu vollziehen, hat einen entscheidenden Vorteil9. Der Veräußerungsgewinn, der sich bei einer späteren Veräußerung der Beteiligung an der Organgesellschaft ergibt, wird durch erfolgswirksame Auflösung der Ausgleichsposten korrigiert (Korrekturfunktion). Dadurch wird verhindert, dass das durch die Einkommenszurechnung bereits vom Organträger versteuerte nicht abgeführte Vermögen der Organgesellschaft im Rahmen der Veräußerung der Beteiligung erneut belastet wird. Umgekehrt gewährleistet die erfolgswirksame Auflösung der passiven Ausgleichspostens, dass Mehrabführungen bei der Veräußerung der Organbeteiligung erfasst werden und so nicht jeglicher Besteuerung entgehen. Die Ausgleichsposten wirken sich materiell als Korrektur des steuerlichen Wertes der Organbeteiligung aus10. 2. Der Eingriff des Gesetzgebers: Ausgleichsposten in neuem Licht 1969 wurde die Organschaft auf eine gesetzliche Grundlage gestellt (Hinweis auf § 7a KStG 1969)11. Fortan ist das Einkommen der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen. Dies geschieht außerhalb der Bilanz. Der Organträger hat neben seinem eigenen Einkommen, das sich aus seiner Steuerbilanz ergibt, das ihm nach § 7a Abs. 1 Satz 1 KStG 1969 zuzurechnende Einkommen der Organgesellschaft einschließlich ihrer nicht abzugsfähigen Ausgaben zu versteuern. Damit haben die Ausgleichsposten ihre ursprüngliche Primärfunktion, Teile des Einkommens der Organgesellschaft auf die Ebene des Organträgers zu verlagern, verloren. Da schon aufgrund der Zurechnung das gesamte Einkommen der Organgesellschaft beim Organträger erfasst wird, darf sich der Gewinn oder Verlust der Organgesellschaft nicht länger in der Steuerbilanz des Organträgers auswirken. In der Steuerbilanz des Organträgers sind die Gewinnauswirkungen aus der Gewinnabführung oder Verlustübernahme zu eliminieren12. Durch Ausgleichsposten darf das Einkommen des Organträgers erst recht nicht beeinflusst werden. Das Problem der Einkommenszurechnung, das vor dem Eingreifen des Gesetzgebers so große Schwierigkeiten machte und den Anstoß für die Aktivierung oder Passivierung der Ausgleichsposten in der Steuerbilanz des Organträgers gab, hatte sich durch § 7a Abs. 1 Satz 1 KStG 1969 erledigt.

__________ 9 R. Thiel, BB 1960, 735 (736); StbJb 1961/62, 191 (204). 10 R. Thiel, BB 1960, 735 (736 a. E.). 11 Eingefügt durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des KStG und anderer Gesetze v. 15.8.1969, BGBl. I 1969, 1182. 12 Vgl. zu den verschiedenen Methoden, die Doppelbelastung bei der Einkommenszurechnung auszuschalten, Jurkat, Die Organschaft im Körperschaftsteuerrecht, Heidelberg 1975, Rz. 618 ff.

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Das Problem der organschaftlichen Mehr- und Minderabführungen stellte sich allerdings weiter. Der Gesetzgeber hat sich jeder ausdrücklichen Regelung zur Verhinderung einer Doppelbelastung oder endgültigen Entlastung enthalten. Nicht einmal das offenkundige Problem, dass wegen der Einkommenszurechnung die Gewinnauswirkungen der Gewinnabführung storniert werden müssen, wenn es nicht durch die Gewinnabführung zu einer steuerlichen Doppelbelastung kommen soll, ist im Gesetz behandelt. Der Gesetzgeber war offensichtlich überzeugt, er brauche nur die Einkommenszurechnung zu regeln und könne alle weiteren Fragen Verwaltung und Rechtsprechung überlassen. Dies ist in der Gesetzesbegründung13 im Zusammenhang mit der Frage der Auflösung und Abführung vororganschaftlicher Rücklagen pars pro toto angesprochen worden. Dort heißt es, dass von der Aufnahme einer gesetzlichen Regelung zur Auflösung und Abführung vororganschaftlicher Rücklagen abgesehen worden sei, weil die Untersuchungen über die praktische Durchführung einer solchen Vorschrift noch nicht abgeschlossen werden konnten und es sich bei der Vielzahl der möglichen Sachverhaltsgestaltungen empfehle, die weitere Durchdringung des Problems durch Wissenschaft und Rechtsprechung abzuwarten. Die Bundesregierung sah in § 7a KStG 1969 eine ausreichende Rechtsgrundlage, um die bisherige Praxis der organschaftlichen Einkommensermittlung fortzusetzen. Dies genügte der Verwaltung, im Organschaftserlass14 weiterhin die Bildung von Ausgleichsposten anzuordnen. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Die Ausgleichsposten mussten fortan gewinnneutral gebildet werden. D. h. sie entfalteten entgegen der Praxis vor der gesetzlichen Regelung keine Wirkung hinsichtlich der laufenden Besteuerung des Organträgers mehr. Andererseits blieb es dabei, dass die Ausgleichsposten, wenn sie bei Veräußerung der Organbeteiligung oder bei Verwirklichung eines veräußerungsgleichen Tatbestandes noch bestehen, zu diesem Zeitpunkt erfolgswirksam aufzulösen sind. Das erscheint auf den ersten Blick paradox. Bei ihrer Aufnahme in die Steuerbilanz haben die besonderen Ausgleichsposten scheinbar keinen Vermögenswert, denn sonst würden sie – was sie nicht sollen – den Erfolg des Organträgers beeinflussen. Bei der Veräußerung der Organbeteiligung haben sie einen positiven oder negativen Vermögenswert, denn sonst könnte der erwünschte Effekt, die Korrektur des Veräußerungsgewinns, nicht erreicht werden. Der Widerspruch löst sich, wenn man die Ausgleichsposten durchgängig als Vermögenswerte behandelt und die durch ihre Einstellung in die Steuerbilanz ausgelösten Wirkungen auf das Ergebnis des Organträgers außerhalb der Bilanz korrigiert. Natürlich repräsentieren die Ausgleichsposten nur fiktives Vermögen. Der Organträger hat weder Anspruch auf die Rücklagen der Organgesellschaft noch schuldet er ihr die Mehrabführungen. Ob die Bildung von Rücklagen den Wert der Organbeteiligung tatsächlich erhöht oder Mehrabführungen ihren Wert tatsächlich mindern, ist eine Tatfrage, die mal so oder so zu beurteilen sein kann. Die Ausgleichsposten fingieren positives oder negatives Vermögen allein für die Zwecke der steuerlichen Gewinnermittlung. Die offenen oder stillen Reserven der Organgesellschaft sollen vom Organ-

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13 BT-Drucks. V/3017, Begründung Allgemeiner Teil, Abschn. III. 2. 14 BMWF v. 30.12.1971, BStBl. I 1972, 2, Tz. 38.

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träger nur einmal besteuert werden. Die Vorbelastung der Gewinne aus der Veräußerung der Organbeteiligung wird bei den aktiven Ausgleichsposten regelungsimmanent unterstellt. Sie ist wie bei § 8b Abs. 2 KStG, der den gleichen Gedanken umsetzt15, nicht Gegenstand eines besonderen tatbestandlichen Erfordernisses oder besonderer tatsächlicher Feststellungen. Mit den passiven Ausgleichsposten wird eine Besteuerungslücke geschlossen. Es wird regelungsimmanent unterstellt, dass die bisher nicht besteuerten Mehrabführungen den Gewinn aus der Veräußerung der Organbeteiligung gemindert haben und ohne Hinzurechnung endgültig steuerfrei bleiben würden.

IV. Die Rechtsprechung des BFH 1. Das Urteil vom 24.7.1996 Der BFH hat sich erst spät mit den besonderen Ausgleichsposten befasst. Mit Urteil vom 24.7.199616 war die Frage zu entscheiden, ob bei eine Beteiligung des Organträgers an der Organgesellschaft von weniger als 100 % der aktive Ausgleichsposten in voller Höhe der Minderabführung oder nur anteilig zu bilden ist. Der Senat hat die Berechtigung zur Bildung von Ausgleichsposten in Zweifel gezogen. Er wies darauf hin, dass der Grundsatz der Einmalbesteuerung nicht zwingend Gewinne erfasst, die außerhalb der Gewinnabführung und Einkommenszurechnung anfallen. Auch sei zweifelhaft, ob und inwieweit bereits zugerechnetes Einkommen denklogisch oder tatsächlich den Wert der Organbeteiligung und damit den Veräußerungserlös zu erhöhen vermag. Er hat die Frage aber offen gelassen, weil das Finanzamt die erfolgswirksame Auflösung des aktiven Ausgleichspostens nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern nur die Höhe des von der Klägerin geltend gemachten Aufwandes beanstandet hatte. Der BFH gab dem Finanzamt insoweit mit der Begründung recht, dass im Streitfall bei einer Beteiligung des Organträgers von nur 83,8 % die von der Organgesellschaft gebildete Rücklage (100 %) den Veräußerungsgewinn des Organträgers höchstens um 83,8 % erhöhen kann. Zu 16,2 % wachse die Rücklage den Minderheitsgesellschaftern zu. Das Prinzip der Einmalbesteuerung im Organkreis erlaube nicht, Einkommenszurechnungen nach § 14 KStG in früheren Veranlagungszeiträumen im Veräußerungsfall (teilweise) rückgängig zu machen. Die Finanzverwaltung hat aus der Entscheidung geschlossen, der BFH habe die Verwaltungsregelung zu den organschaftlichen Mehr- und Minderabführungen insgesamt akzeptiert. Die bereits damals vorliegenden Pläne für eine gesetzliche Regelung des Problems17 sind daher nicht weiter verfolgt worden. Das war ein Fehler, wie sich gut zehn Jahre später gezeigt hat18.

__________ 15 16 17 18

Gosch in Gosch, 2. Aufl., KStG § 8b Rz. 2. BFH v. 24.7.1996 – I R 41/93, BStBl. II 1996, 614 = FR 1996, 794. Vgl. Dötsch, DB 1993, 752 ff. R. Thiel, BB 1966, 116, 119 a. E. schrieb bereits 1966: „Auch der Gesetzgeber wird sich …, wenn er die körperschaftsteuerliche Organschaft gesetzlich regeln sollte, die Lehre von den Korrekturposten zu eigen machen müssen.“

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2. Das Urteil vom 7.2.2007 Das Urteil vom 7.2.200719 betrifft die Frage, ob der passive Ausgleichsposten, der wegen einer Mehrabführung gebildet worden ist, Gewinn erhöhend aufgelöst werden muss. Die Klägerin, eine Holding GmbH, hielt sämtliche Anteile der Organgesellschaft. Diese war an einer GmbH & Co KG als Kommanditistin beteiligt. Die Verluste der KG hatten das Einkommen der Organgesellschaft, nicht aber deren abzuführenden Gewinn gemindert, so dass es zur Bildung eines passiven Ausgleichspostens bei der Klägerin kam. Der BFH hat der Klage stattgegeben und entschieden, dass der Ausgleichsposten erfolgsneutral aufgelöst werden muss. Für eine Gewinn erhöhende Auflösung fehle die gesetzliche Grundlage. Mehrabführungen seien keine Rückzahlungen von Einlagen und könnten den Buchwert der Organbeteiligung nicht mindern. Sie könnten auch nicht nach § 37 Abs. 2 KStG 1996 fiktiv als Rückzahlung von Einlagen behandelt werden. Auch aus den §§ 14 ff. KStG 1996 seien keine Regelungen über die Bildung und Auflösung von Ausgleichsposten abzuleiten. Aktive und passive Ausgleichsposten seien bilanztechnische Erinnerungsposten, die aus organschaftlichen Besonderheiten resultieren und außerhalb der Steuerbilanz des Organträgers festzuhalten seien, um eine spätere Doppeloder Keinmalbesteuerung zu verhindern, die mit dem Wesen der Organschaft unvereinbar wäre. Diese Erinnerungsposten seien aufzulösen, wenn die Doppeloder Keinmalbesteuerung nicht mehr drohe. Die Auflösung sei auch bei Veräußerung der Beteiligung erfolgsneutral. Für die Annahme eines erfolgswirksamen Vorgangs fehle die gesetzliche Grundlage oder eine aus dem Wesen der Organschaft eindeutig abzuleitende Pflicht. Eine solche aus dem Gesetz abzuleitende Pflicht sei im Steuerrecht als Eingriffsrecht unverzichtbar. Für die vom BMF ins Feld geführte gewohnheitsrechtliche Verfestigung der Verwaltungspraxis fehle jeglicher Anhaltspunkt. Die Annahme von Gewohnheitsrecht erfordere, dass sich zu einer bestimmten Rechtsfrage durch ständige Übung ein Rechtsbewusstsein der beteiligten Kreise gebildet habe und die Gerichte diese Rechtsüberzeugung teilten20. Daran fehle es indes. Weder habe der BFH bislang abschließend über die hier in Rede stehende Situation entschieden noch finde sich im Schrifttum zu dieser Frage ein einheitliches Meinungsbild. 3. Kritik a) Das Scheinproblem der „bilanztechnischen Erinnerungsposten“ Der BFH sieht keine Rechtsgrundlage, den durch Mehr- oder Minderabführungen verfälschten steuerlichen Gewinn aus der Veräußerung der Organbeteiligung zu korrigieren. Gleichwohl akzeptiert er bilanztechnische Erinnerungsposten außerhalb der Steuerbilanz, um eine spätere Doppel- oder Keinmalbesteuerung zu verhindern. Es ist nicht zu erkennen, woran der BFH dabei ge-

__________ 19 BFH v. 7.2.2007 – I R 5/05, BStBl. II 2007, 796 = FR 2007, 1018. 20 Z. B. BFH v. 11.11.1997 – VII E 6/97, BStBl. II 1998, 121.

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dacht hat. Nach Wassermeyer21, auf den der BFH in diesem Zusammenhang hinweist, soll bei Bildung einer Rücklage (Minderabführung) Vorsorge davor getroffen werden, dass eine spätere Abführung der Gewinnrücklage beim Organträger noch einmal besteuert wird. Dieses Problem wird aber bereits dadurch gelöst, dass Vermögensminderungen durch Verlustübernahme und Vermögensmehrungen durch Gewinnabführung außerhalb der Steuerbilanz dem Unterschiedsbetrag i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG hinzugerechnet bzw. von ihm abgezogen werden. Da die entsprechenden Vermögensminderungen oder Vermögensmehrungen jeweils aus der Handelsbilanz des betreffenden Jahres ersichtlich sind, bedarf es dazu keiner bilanztechnischen Erinnerungsposten. Der BFH hätte aufgrund seiner Auffassung die besonderen Ausgleichsposten schlicht für überflüssig erklären müssen22. b) Der Gesetzesplan Zu beantworten ist die schlichte Frage, ob es eine Rechtsgrundlage dafür gibt, den Gewinn des Organträgers aus der Veräußerung der Organbeteiligung zu korrigieren, wenn der Veräußerung Mehr- oder Minderabführungen vorausgegangen sind. Das hängt davon ab, ob sich die Wirkungen der Organschaft in der konkret geregelten Rechtsfolge erschöpfen: Der Zurechnung des Einkommens der Organgesellschaft beim Organträger. Praktiziert wurde seit 50 Jahren etwas anderes, nämlich dass das Rechtsinstitut der Organschaft die Beteiligung an der Organgesellschaft einbezieht und sich ihre Wirkungen insoweit auch auf die Einkommensermittlung beim Organträger erstrecken23. Das entsprach nach der Gesetzesbegründung zu § 7a KStG 1969 dem Gesetzesplan. Dieser ging dahin, die bisherige Praxis auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage fortzusetzen. Das galt in gleicher Weise für die Voraussetzungen der körperschaftsteuerlichen Organschaft als auch für ihre Wirkungen. Diese sollten jedenfalls nicht beschnitten werden. Dem BFH ist zuzugeben, dass der Gesetzestext des KStG jedenfalls zunächst keine Anhaltspunkte dafür enthielt, dass Mehr- und Minderabführungen Auswirkungen auf das Einkommen des Organträgers haben. Erste gesetzliche Hinweise in dieser Richtung ergeben sich aus den Vorschriften zur Gliederung des verwendbaren Eigenkapitals des Organträgers und der Organgesellschaft (§§ 36, 37 KStG 1977) und der Nachfolgevorschrift, dem § 27 Abs. 6 KStG 2002. c) Anhaltspunkte in den Gliederungsvorschriften Unter der Herrschaft des Anrechnungsverfahrens waren dem Organträger nicht nur das Einkommen der Organgesellschaft, sondern für die Zwecke der Gliederungsrechnung auch die bei der Organgesellschaft entstandenen Vermögensmehrungen wie eigene Vermögensmehrungen zuzurechnen. Von dem Vermögen in der Gliederungsrechnung ist es nur ein kleiner Schritt zu entspre-

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21 Wassermeyer in Herzig, Organschaft, Stuttgart 2003, S. 208 (217). 22 Vgl. Reiß, DK 2008, 9 (17 f.). 23 Kritisch dazu L. Schmidt, JbFStR 1970/71, 179 (200 f.).

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chendem Vermögen in der Steuerbilanz. Bareis24 formuliert: „Es gibt … denknotwendig keine Eigenkapitalerhöhung ohne Erhöhung des Werts der positiven oder Minderung des Werts der negativen Wirtschaftsgüter“. Zwingend ist diese Überlegung freilich nicht, denn wir haben es in der Gliederungsrechnung mit fiktivem Vermögen des Organträgers zu tun, das nach wie vor der Organgesellschaft gehört und dem Organträger nur zum Zwecke der Herstellung der Ausschüttungsbelastung „wie eigenes“ zugerechnet wird. Nur Vermögen, das zunächst real an den Organträger ausgeschüttet oder abgeführt worden ist, kann im Wege der Einlage an die Organgesellschaft zurückgegeben werden. d) Bilanzielle Steuerfreistellung der Mehrabführung Wegweisend für die Lösung der rechtlichen Problematik ist das Urteil des BFH zur Minderung der Anschaffungskosten einer wesentlichen Beteiligung bei Ausschüttungen aus dem EK 0425. Das Urteil betrifft die Auslegung des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG26. Die Rechtsfolge der Vorschrift besteht zunächst – im Bereich der Einkünfte aus Kapitalvermögen – darin, dass der aus dem EK 04 stammende Gewinnanteil beim Gesellschafter als nicht steuerbare Einnahme zu behandeln ist. Sie ist jedoch nicht auf diese Aussage beschränkt. Sie wirkt sich – im Bereich der gewerblichen Einkünfte nach § 17 EStG und im Bereich der Gewinneinkünfte – auch als Bewertungsvorschrift aus. Bei den nach den Grundsätzen des Betriebsvermögensvergleichs zu ermittelnden Gewinneinkünften wird § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG dadurch vollzogen, dass der aus dem EK 04 stammende Gewinnanteil den Buchwert der Beteiligung mindert27. Natürlich löst § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG selbst nicht die Probleme der Organschaft, denn organschaftliche Mehrabführungen sind keine Bezüge i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG28. Allerdings fließen die Mehrabführungen dem Organträger wie die Bezüge i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG steuerfrei zu, nur dass sich die Steuerfreiheit nicht aus § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG, sondern aus der sinngemäßen Anwendung des § 14 KStG ergibt29. Die Freistellung der Gewinnabführungen wirkt sich bei den Mehrabführungen – wie die Freistellung der Bezüge i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG – als Bewertungsregelung aus. Die Freistellung wird dadurch vollzogen, dass die aus dem EK 04 oder dem Einlagekonto stammende Mehrabführung den Buchwert der Beteiligung mindert. Die dem Organträger tatsächlich zugeflossene Mehrabführung erhöht seine Leistungsfähigkeit und muss aus Gründen der steuerlichen Gleichbehandlung wie eine entsprechende Ausschüttung aus dem Einlagekonto behandelt werden30. Die Rechtsfolge besteht in der unmittelbaren Minderung des

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Bareis, FR 2008, 649 (651). BFH v. 19.7.1994 – VIII R 58/92, BStBl. II 1995, 362 = FR 1995, 343. Damals § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG. BFH v. 7.11.1990 – I R 68/88, BStBl. II 1991, 177 = FR 1991, 149. Glutsch/Meining, DB 2007, 308 (310 f.). Dazu ausführlich Neumann in Gosch, 2. Aufl., KStG, § 14 Rz. 426. Weber-Grellet, StuB 2007, 623 (626).

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Buchwertes der Beteiligung. Stattdessen kann auch ein passiver Ausgleichspostens gebildet werden, was für den Organträger günstiger ist. Sein Ansatz läuft – wenn die Mehrabführungen höher sind als der Buchwert der Beteiligung – auf die Bilanzierung eines negativen Beteiligungsbuchwerts hinaus31. e) Bedenken des BFH Der BFH hat die Verwaltungsauffassung verworfen, weil das Steuerrecht nach herrschender Auffassung die Analogie zum Nachteil des Steuerpflichtigen verbietet. Er meint, der Gesetzgeber habe die sich aus der Mehrabführung ergebende steuerfreie Eigenkapitalmehrung beim Organträger bewusst hingenommen und so gewissermaßen einen rechtsfreien Raum geschaffen. Diese Aussage ist schon deshalb angreifbar, weil es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung fehlt, nach der die Gewinnabführungen beim Organträger steuerfrei bleiben. Zwar gebietet das Verbot der Doppelbelastung die Freistellung der Gewinnabführungen, soweit sie im Einkommen der Organgesellschaft enthalten sind32. Der BFH hätte sich aber fragen müssen, ob dieser Gedanke auch für Mehrabführungen gilt, oder ob es eine andere Rechtsgrundlage gibt, Mehrabführungen auf Gesellschafterebene nicht zu besteuern und – mehr noch – sie endgültig steuerfrei zu lassen. Im Übrigen wird die Annahme eines rechtsfreien Raumes durch § 37 Abs. 2 KStG 1977, § 27 Abs. 6 KStG 2002 widerlegt, vor allem aber durch § 95 BewG, der bis 2008 sogar eine Regelung zur Berücksichtigung der steuerlichen Ausgleichsposten bei der Einheitsbewertung des Betriebsvermögens enthielt33. f) Keine imparitätische Einkommenskorrektur Der BFH macht geltend, dass im Wege der Rechtsfortbildung über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinaus keine Steuertatbestände ausgeweitet und keine neuen Steuertatbestände geschaffen werden dürfen34. Das könnte zu dem Fehlschluss verleiten, es könnte rechtens sein, bei Minderabführungen den Veräußerungsgewinn zugunsten des Steuerpflichtigen zu korrigieren, bei Mehrabführungen jedoch auf die Korrektur zu Lasten des Steuerpflichtigen zu verzichten35. Eine solche „imparitätische Auslegung“ wäre schon deshalb rechtswidrig, weil sie offensichtlich dem Gesetzesplan widerspricht. Auch der BFH

__________ 31 32 33 34

Kritisch dazu Dötsch, Ubg 2008, 117 (123). Siehe oben Abschn. III.2. Eingefügt durch StÄndG 1992 v. 25.2.1992, Art. 9 Nr. 9, BGBl. I 1992, 297. Vgl. BFH v. 21.7.1999 – I R 141/97, BStBl. II 1999, 832 (834) = FR 2000, 66; Drüen in Tipke/Kruse, AO § 4 Tz. 362 ff. mit Nachweisen, einschränkend: BFH v. 14.2.2007 – II R 66/05, BStBl. II 2007, 621 = FR 2007, 1032; v. 20.10.1983 – IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221 = FR 1984, 238. 35 Vgl. FG München v. 10.12.2004 – 6 K 2436/02, EFG 2005, 628 (629); Glutsch/ Meining, DB 2007, 309.

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hat sie nicht in Erwägung gezogen. Zwar hat er mit Urteil vom 24.6.199636 den Aufwand aus der Auflösung eines aktiven Ausgleichspostens zugunsten der Klägerin Gewinn mindernd berücksichtigt. Ausschlaggebend dafür waren ausschließlich prozessuale Gründe. Da die Berechtigung des aktiven Ausgleichspostens unstreitig war und nur über seine Höhe gestritten wurde, hatte der BFH keine Handhabe, die im konkreten Fall für die Klägerin günstige Verwaltungsauffassung zu den Ausgleichsposten dem Grunde nach in Frage zu stellen. Der Vorwurf in der Gesetzesbegründung zum JStG 200837, durch die Rechtsprechung des BFH sei eine durch Gesetz zu beseitigende „systemwidrige Schieflage“ entstanden, ist unbegründet. Der BFH hat weder die aktiven noch die passiven Ausgleichsposten akzeptiert, wie spätestens das Urteil vom 7.2.2007 deutlich macht. Zu der „Schieflage“ wäre es allerdings gekommen, wenn die Finanzverwaltung für die aktiven Ausgleichsposten – wie bei verbösernder Rechtsprechung üblich38 – eine Übergangsregelung hätte treffen müssen. Vor diesem Dilemma ist sie durch das Eingreifen des Gesetzgebers bewahrt worden.

V. Der neue § 14 Abs. 4 KStG 2008 1. Die gesetzliche Regelung Die Finanzverwaltung hat auf das Urteil vom 7.2.2007 mit einem Nichtanwendungserlass reagiert39. Sie weist darauf hin, dass das BFH-Urteil nicht im Einklang mit dem Grundsatz der körperschaftsteuerlichen Organschaft steht, wonach sich innerhalb des Organkreises erzielte Gewinne und Verluste nur einmal – und zwar beim Organträger – auswirken dürfen. Um die Ausgleichsposten zu retten, musste der Gesetzgeber eingreifen. Die bisherige Verwaltungsauffassung wurde durch das JStG 200840 in § 14 Abs. 4 KStG kodifiziert41: Für Minder- und Mehrabführungen, die ihre Ursache in organschaftlicher Zeit haben, ist in der Steuerbilanz des Organträgers ein besonderer aktiver oder passiver Ausgleichsposten zu bilden und zwar anteilig nach dem Verhältnis der Beteiligung des Organträgers am Nennkapital der Organgesellschaft. Zu Minder- oder Mehrabführungen kommt es, wenn der an den Organträger abgeführte Gewinn des Wirtschaftsjahres von dem Steuerbilanzgewinn der Organgesellschaft abweicht (§ 14 Abs. 4 Satz 6 KStG). Zur Ermittlung der Mehr- oder Minderabführungen ist die steuerliche Vermögensmehrung der Organgesellschaft am Bilanzstichtag, d. h. der in ihrem

__________

36 BFH v. 24.7.1996 – I R 41/93, BStBl. II 1996, 614 = FR 1996, 794. In dem Leitsatz des Urteils heißt es, dass der aktive Ausgleichsposten „allenfalls“ im Verhältnis der Beteiligung am Nennkapital der Organgesellschaft zu bilden ist. 37 Bericht des FA-BT., BT-Drucks. 16/7036, 20 (zu § 14 Abs. 4 KStG neu) u. S. 21 (zu § 34 Abs. 9 Nr. 5 KStG neu). 38 Siehe unten Abschn. VII. Nr. 2. 39 BMF v. 5.10.2007 – IV B 7 - S 2770/07/0004 – DOK 2007/0449869, BStBl. I 2007, 743. 40 JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150. 41 Kolbe, StuB 2008, 293 (298) hält die Vorschrift zu Unrecht für einen Systembruch, vgl. Bareis, FR 2008, 649.

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zuzurechnenden Einkommen enthaltene Unterschiedsbetrag i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG42, mit der Abführungsverpflichtung laut Handelsbilanz zu vergleichen. Ist die Abführungsverpflichtung höher als die steuerliche Vermögensmehrung, liegt eine Mehrabführung vor. Ist die steuerliche Vermögensmehrung höher als die Abführungsverpflichtung, liegt eine Minderabführung vor. Auf das Einkommen der Organgesellschaft kommt es nicht an. Sind Abführungsverpflichtung und steuerliche Vermögensmehrung der Organgesellschaft gleich hoch, liegt auch dann keine Mehr- oder Minderabführung vor, wenn das Einkommen der Organgesellschaft von der Abführungsverpflichtung abweicht, weil im Rahmen der Einkommensermittlung auf der zweiten Stufe der Unterschiedsbetrag i. S. d. § 4 Abs. 1 EStG um steuerfreie Einnahmen gemindert oder um nicht abzugsfähige Betriebsausgaben erhöht worden ist43. Ob sich durch die Aktivierung oder Passivierung der Ausgleichsposten Auswirkungen auf das Einkommen des Organträgers ergeben, lässt das Gesetz offen. Nur die Rechtsfolgen der Auflösung des Ausgleichspostens werden bestimmt. Anders als vom BFH entschieden, ist der Wegfall des Ausgleichspostens einkommenswirksam. 2. Mögliche Alternative: Gleichbehandlung von Minder-/Mehrabführungen und Minder-/Mehrausschüttungen Die inzwischen weitreichende Begünstigung der Gewinnausschüttungen und der Gewinne aus der Veräußerung von Beteiligungen (§ 8b KStG; §§ 3 Nr. 40, 3c EStG) könnte es zulassen, auf Ausgleichsposten als Sonderregelungen für Minder- und Mehrabführungen zu verzichten. Natürlich bleibt es auch dann wegen der Einkommenszurechnung dabei, dass Gewinnabführungen von der Besteuerung beim Organträger ausgenommen werden. Der Verzicht auf Ausgleichposten hätte folgende Konsequenzen: a) Minderabführungen Minderabführungen werden anders als bisher nicht in das steuerliche Einlagekonto eingestellt. Die zurückbehaltenen Beträge sind steuerbelastet. Sie erhöhen das Eigenkapital der Kapitalgesellschaft. Der Buchwert der Beteiligung, die der Organträger hält, bleibt unverändert. Der durch die Minderabführung (tendenziell) erhöhte Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung an der Organgesellschaft bleibt nach Maßgabe von §§ 8b KStG, §§ 3 Nr. 40, 3c EStG steuerfrei. Die Benachteiligung des Organträgers in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft beschränkt sich bei dieser Lösung darauf, dass 5 % der Gewinnerhöhung als nichtabzugsfähige Betriebsausgaben gelten. Gravierender sind natürliche Personen als Gesellschafter betroffen. Sie müssen den erhöhten Veräußerungs-

__________ 42 Vgl. J. Thiel, Festschrift Raupach, Köln 1996, S. 543 (548 f.). 43 Das verkennt Kolbe, StuB 293, 294, der nicht zwischen Gewinn und Einkommen unterscheidet.

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gewinn dem Teileinkünfteverfahren unterwerfen. Es kommt dadurch zu einer Doppelbelastung, wenn nicht die durch Minderabführungen aufgebauten Rücklagen vor der Veräußerung der Beteiligung durch Mehrabführungen abgebaut worden sind. b) Mehrabführungen Führen Kapitalgesellschaften mehr als ihren Gewinn ab, ist zu unterscheiden: Sind die Mehrabführungen eine Folge vorangegangener Minderabführungen und deshalb steuerbelastet, bleibt der Buchwert der Beteiligung, die der Gesellschafter hält, unverändert. Der durch die Mehrabführungen (tendenziell) geminderte Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung an der Tochtergesellschaft bleibt ganz oder teilweise steuerfrei (§ 8b KStG, §§ 3 Nr. 40, 3c EStG). Die unveränderte Beibehaltung des Buchwerts der Beteiligung stellt keinen echten Vorteil für den Gesellschafter dar. Denn durch die Mehrabführungen werden nur die stillen Reserven der Beteiligung abgebaut, die zuvor durch Minderabführungen aufgebaut worden sind. Es gibt deshalb kein fiskalisches Bedürfnis, den Buchwert der Beteiligung in diesen Fällen herabzusetzen. Übersteigen die Mehrabführungen den ausschüttbaren Gewinn (Einlagenrückgewähr), mindern sie das Einlagekonto der Kapitalgesellschaft (§ 27 Abs. 1 Satz 3 KStG). Die Rückzahlung ist beim Gesellschafter, der die Anteile an der Tochtergesellschaft im Betriebsvermögen hält, erfolgsneutral mit dem Buchwert der Beteiligung zu verrechnen44. Übersteigen die abgeführten Beträge den Buchwert der Beteiligung, entsteht insoweit ein stpfl. Gewinn, der das Einkommen des Gesellschafters erhöht. Dieser ist beim Gesellschafter nach Maßgabe der §§ 8b KStG, 3 Nr. 40, 3c EStG steuerfrei. Bei einer Einlagenrückgewähr ist die Versteuerung der Mehrabführungen im Rahmen der Anteilsveräußerung durch die Herabsetzung des Buchwertes der Beteiligung gewährleistet. Das gilt auch für den Fall, dass bei einer Sach- oder Anteilseinbringung durch eine Organgesellschaft in das Vermögen einer anderen Kapitalgesellschaft das eingebrachte Betriebsvermögen in der Steuerbilanz mit dem Buchwert, in der Handelsbilanz jedoch mit dem Verkehrswert angesetzt wird, so dass in Höhe der Wertdifferenz ein Gewinn entsteht, der an den Organträger abgeführt werden muss45. Die Wertdifferenz erhöht nicht das Eigenkapital der Organgesellschaft in der Steuerbilanz und gehört daher nicht zum ausschüttbaren Gewinn (§ 27 Abs. 1 Satz 5 KStG). Es liegt eine Einlagenrückgewähr vor, die beim Organträger vom Buchwert der Organbeteiligung abgezogen werden muss. Ein Unterschied zwischen Gewinnausschüttungen und Einkommenszurechnung ist allerdings zu berücksichtigen. Ausgeschüttet werden kann nur Vermögen, zugerechnet werden kann auch negatives Einkommen. Eine Mehrab-

__________ 44 Vgl. für Ausschüttungen BFH v. 19.7.1994 – VIII R 58/92, BStBl. II 1995, 362 = FR 1995, 343; Lornsen-Veit/Odenbach in Erle/Sauter, 2. Aufl., KStG § 27 Rz. 4. 45 Vgl. Dötsch, Ubg 2008, 117 (120).

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führung liegt deshalb auch vor, wenn bei einer Gewinnabführung von 0 dem Organträger ein negativer Unterschiedsbetrag i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG zugerechnet wird. Die Differenz ist vom Bestand des steuerlichen Einlagekontos der Organgesellschaft abzuziehen und mindert gleichzeitig beim Organträger den Buchwert der Organbeteiligung. Bestünde keine Organschaft, könnte der Organträger den Verlust des Organs nur durch eine Teilwertabschreibung auf die Organbeteiligung realisieren. c) Bewertung des Alternativkonzepts Bedenken ergeben sich aus der Sicht der betroffenen Steuerpflichtigen. Am ungünstigsten wirkt sich das Alternativkonzept bei Lebens- und Krankenversicherungen (§ 8b Abs. 8 KStG) sowie bei Kreditinstituten in den Fällen des § 8b Abs. 7 KStG aus. Hier käme es zu einer vollen Doppelbelastung der von der Organgesellschaft in organschaftlicher Zeit thesaurierten Gewinne. Denn für diese Unternehmen gilt § 8b Abs. 1 bis 5 KStG nicht, so dass sie für Gewinne aus der Veräußerung der Organbeteiligung keine Steuerbefreiung oder Ermäßigung erhalten. Bei ihnen müssten Sonderregelungen für Minder- und Mehrabführungen geschaffen werden. Auch für natürliche Personen, die als Einzelunternehmer oder Gesellschafter einer Personengesellschaft Organträger sind, muss die Doppelbelastung der versteuerten Rücklagen der Organgesellschaft durch eine geeignete Regelung verhindert werden. Für Kapitalgesellschaften als Organträger bedarf es keiner Sonderregelung, weil die Veräußerungsgewinne ohnehin außer Ansatz bleiben. Die geringe Zusatzbelastung des Organträgers, die sich aus der Erhöhung der Bemessungsgrundlage um 5 % des Veräußerungsgewinns ergibt, ist im Hinblick auf die Betriebsausgaben gerechtfertigt, die mit dem außer Ansatz bleibenden Veräußerungsgewinn im Zusammenhang stehen46. Aus fiskalischer Sicht sollte es keine Einwendungen gegen die Abschaffung der Ausgleichsposten geben. Allerdings müssten die Ausgleichsposten wohl wieder eingeführt werden, falls die Steuerfreistellung der Veräußerungsgewinne durch Gesetzesänderung beseitigt werden sollte47. Wegen der Schwierigkeit, Ausgleichposten nachträglich zu rekonstruieren, müsste der Gesetzgeber zugunsten der Stpfl. großzügige Schätzungsmöglichkeiten eröffnen. 3. Abgelehnt: Die Einlagenlösung Da es ganz ohne Sonderregelungen nicht geht, ist es verständlich, dass der Gesetzgeber an den Ausgleichposten festgehalten hat. Stattdessen hätte eine andere Technik nahe gelegen: Die unmittelbare Korrektur des Buchwerts der Organbeteiligung. Die Steuerexperten der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder haben sich bei den Ausschussberatungen vergeblich dafür eingesetzt, in dem neuen § 14 Abs. 4 KStG 2008 die sog. Einlagenlösung festzu-

__________ 46 Vgl. J. Thiel, DB 2002, 1340 ff. 47 Frotscher in Frotscher/Maas, KStG § 14 Rz. 308a.

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schreiben48. Dieses schon vor Jahren entwickelte Konzept fingiert eine Doppelmaßnahme49: Die von der Organgesellschaft thesaurierten Mittel werden so behandelt, als seien sie an den Organträger abgeführt und anschließend als Einlage an die Organgesellschaft zurückgewährt worden. Der umgekehrte Fall der Mehrabführung wird dementsprechend als Einlagenrückgewähr behandelt. Die zurückgewährten Beträge mindern den Buchwert der Beteiligung und führen zu steuerpflichtigen Betriebseinnahmen des Empfängers, soweit sie den Buchwert der Beteiligung übersteigen50. Diese Lösung hätte nahtlos in das Körperschaftsteuergesetz gepasst. Denn Minderabführungen, die ihre Ursache in vororganschaftlicher Zeit hatten, werden ohnehin als Einlagen des Organträgers in die Organgesellschaft behandelt (§ 14 Abs. 3 Satz 2 KStG). Außerdem werden Minder- und Mehrabführungen mit Ursache in organschaftlicher Zeit auf dem Einlagekonto der Organgesellschaft als Zugänge bzw. Abgänge berücksichtigt (§ 27 Abs. 6 KStG). Die Minder- und Mehrabführungen sollten deshalb folgerichtig auch beim Organträger als Einlagen bzw. als Einlagenrückzahlung behandelt werden51. In dieser Lösung ist kein Raum für die besonderen Ausgleichsposten. Die fiktiven Einlagen und die fiktive Einlagenrückgewähr wirken sich stattdessen in der Steuerbilanz des Organträgers unmittelbar auf dem Beteiligungskonto aus. Soweit die zurückgewährten Einlagen den Beteiligungsbuchwert übersteigen, werden sie sofort steuerpflichtig. Die nicht gerechtfertigte Steuerstundung, die in diesen Fällen aus dem Ansatz des passiven Ausgleichspostens resultiert52, wäre vermieden worden. Dieser neue Ansatz hätte die Streitfragen, die mit den Ausgleichsposten verbunden sind, weitgehend vermieden. Er hätte aber als Neukonzeption nicht rückwirkend in Kraft gesetzt werden können. Dem Gesetzgeber hat sich offenbar deshalb für die „bewährten“ Ausgleichsposten entschieden. 4. Fehler: Nur quotale Bildung der Ausgleichsposten Wäre die Einlagelösung verwirklicht worden, hätte die Minderabführung den Buchwert der Beteiligung in voller Höhe erhöhen müssen und nicht wie durch § 14 Abs. 4 Satz 1 KStG vorgeschrieben nur anteilig nach dem Verhältnis der Beteiligung an der Organgesellschaft. Bei einer Mehrabführung wäre der Beteiligungsbuchwert dementsprechend auch in voller Höhe zu mindern gewesen. So wird auch im Einlagekonto der Organgesellschaft verfahren, in dem sich Minder- und Mehrabführungen unabhängig von dem prozentualen Anteil des Gesellschafters stets zu 100 % auswirken (§ 27 Abs. 6 KStG). Dies ist sach-

__________

48 Dötsch, Ubg 2008, 117 (122). Der FA-BT., BT-Drucks. 16/7036, 10, hat lediglich um Prüfung gebeten, wie die steuerliche Behandlung der Mehr- und Minderabführungen systematisch vereinfacht werden könne. 49 Vgl. Dötsch, DB 1993, 752 (75 f.). Ausformulierter Gesetzesvorschlag bei Reiß, DK 2008, 9 (30). 50 BFH v. 20.4.1999 – VIII R 38/96, BStBl. II 1999, 647 = FR 1999, 794; v. 14.10.1992 – I R 1/91, BStBl. II 1993, 189 = FR 1993, 51; v. 7.11.1990 – I R 68/88, BStBl. II 1991, 177 = FR 1991, 149. 51 Vgl. J. Thiel, FS Raupach, Köln 2006, S. 543 (555 f.). 52 Vgl. Dötsch, Ubg 2008, 117 (123).

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gerecht, wie der Vergleich mit tatsächlich erbrachten Einlagen eines Minderheitsgesellschafters zeigt. Sie wirken sich sowohl bei der Bewertung seiner Beteiligung als auch im Einlagekonto der Gesellschaft stets zu 100 % aus. Die Lösung, die Ausgleichsposten nur quotal zu bilden, ist schon früher kritisiert worden53. Der Organträger muss bei einer Minderabführung ein höheres Vermögen versteuern, als er tatsächlich erhalten hat54. Die im Jahr der Minderabführung zunächst überzahlte Steuer wird dem Organträger bei der Veräußerung der Beteiligung nicht durch eine entsprechend niedrigere Bemessung des Veräußerungsgewinns zurückgegeben. Dazu müsste ihm dasjenige steuerliche Minderungspotential zugeordnet werden, das im Einlagekonto der Organgesellschaft vorhanden ist, das er also „hineingesteckt“ hat55. Bei einer Mehrabführung muss der Organträger wegen der nur quotalen Zuordnung ein niedrigeres Vermögen versteuern, als er tatsächlich erhalten hat. Die im Jahr der Mehrabführung zunächst ersparte Steuer wird bei Veräußerung der Organbeteiligung nicht durch eine entsprechende Gewinnerhöhung nachgefordert.

VI. Offene Fragen 1. Rechtsnatur der Ausgleichsposten Das Bilanzrecht kennt keine besonderen Ausgleichsposten. Durch ihre Normierung in § 14 Abs. 4 KStG ist der Streit über ihre Rechtsnatur neu entfacht worden. Das Spektrum der Meinungen ist weit gefächert. Die Ausgleichsposten werden als Bilanzierungshilfe56, steuerliche Rechengröße57 oder als Korrekturposten zum Beteiligungsbuchwert58 aufgefasst. Der Sache nach korrigieren die Ausgleichsposten den Wertansatz der Organbeteiligung59. Da das Gesetz stattdessen eine besondere Bilanzposition einfügt, ergibt sich ein streitanfälliger zusätzlicher gesetzlicher Regelungsbedarf60. So muss geregelt werden, wie die Ausgleichsposten bei der Veräußerung der Organbeteiligung zu behandeln sind (§ 14 Abs. 4 Satz 2, 3 KStG), welche Vorgänge der Veräußerung gleichgestellt sind (§ 14 Abs. 4 Satz 5 KStG) und ob auf den Aufwand oder Ertrag aus der Auflösung des Ausgleichspostens § 3 Nr. 40 EStG, § 3c Abs. 2 EStG und § 8b KStG anzuwenden ist (§ 14 Abs. 4 Satz 4 KStG).

__________ 53 Frotscher in Frotscher/Maas, KStG § 14 Rz. 315 ff.; Frotscher, DK 2007, 34 (40 f.); Heurung/Klübenspies, BB 2003, 2483 (2494). 54 Vgl. das Beispiel bei Bareis, FR 2008, 649 (651), das die Ausgleichszahlungen an die Minderheitsgesellschafter berücksichtigt. 55 Wie Bareis, a. a. O., treffend formuliert. 56 Frotscher in Frotscher/Maas, KStG § 14 Rz. 311; Neumann in Gosch, 2. Aufl., KStG § 14 Rz. 448 a. E.; Walter in Ernst & Young, KStG § 14 Rz. 891. 57 Jurkat, Organschaft, 1975, Rz. 636; Schröder, StBp 1995, 149; Hübel, StBp 1984, 11. 58 Dötsch/Witt, KStG § 14 Rz. 486a; BMF v. 26.8.2003 – IV A 2 - S 2770 - 18/03, BStBl. I 2003, 437 Rz. 43, anders dagegen R 63 Abs. 1 Satz 2 KStR 2004, wonach der Ausgleichsposten den steuerlichen Wertansatz der Beteiligung nicht berührt. 59 Vgl. oben Abschn. III.1.b. Hält der Organträger mehrere Organbeteiligungen, müssen für jede von ihnen getrennt besondere Ausgleichsposten gebildet werden. 60 Reiß, DK 2008, 9 (30).

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2. Erfolgsneutrale oder erfolgswirksame Bildung der Ausgleichsposten? Da § 14 Abs. 4 KStG die bisherige Verwaltungsauffassung festschreibt, ist der Gesetzesplan klar. Die Ausgleichsposten sollen erfolgsneutral gebildet werden. Nur, das Gesetz sagt es nicht. Mit der Einlagenlösung ließe sich die erfolgsneutrale Einstellung der Ausgleichsposten rechtfertigen. Nur, der Gesetzgeber hat die Einlagenlösung verworfen. Der BFH hat bisher akzeptiert, dass die Aufnahme der Ausgleichsposten in die Steuerbilanz den Gewinn des Organträgers nicht beeinflusst. Nur, er sah in ihnen bilanztechnische Erinnerungsposten, die außerhalb der Steuerbilanz festzuhalten sind61. Jetzt sind es vom Gesetz fingierte Vermögenswerte, deren Wegfall den Gewinn des Organträgers erhöht oder verringert (§ 14 Abs. 4 Satz 3 KStG). Bei ihrer Einstellung in die Steuerbilanz wirken sie sich umgekehrt aus. Sie verringern oder erhöhen den Unterschiedsbetrag i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG und damit den Gewinn des Organträgers. Die Frage kann nur sein, ob die Veränderungen auf das Einkommen des Organträgers durchschlagen. Wer sich wie der BFH schwer tut, das Gesetz zum Nachteil des Steuerpflichtigen zu Ende zu denken, könnte zumindest bei den passiven Ausgleichsposten hier ein Problem haben. 3. Ausgleichsposten bei mittelbarer Beteiligung an der Organgesellschaft Bei mittelbarer Beteiligung braucht der Organträger an der Organgesellschaft (Enkelgesellschaft), mit der er den Gewinnabführungsvertrag abgeschlossen hat, nicht selbst beteiligt zu sein (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 KStG). Auch hier muss der Organträger Ausgleichsposten bilden (§ 14 Abs. 4 Satz 1 KStG), die im Zeitpunkt der Veräußerung der Organbeteiligung aufzulösen sind (§ 14 Abs. 4 Satz 2 KStG). Organbeteiligung ist die in der Steuerbilanz des Organträgers ausgewiesene Beteiligung an der Tochtergesellschaft. Die Beteiligung der Tochtergesellschaft an der Enkelgesellschaft ist keine Organbeteiligung, weil die Tochtergesellschaft mangels Gewinnabführungsvertrag keine Organträgerin ist (§ 14 Abs. 1 Satz 1 EStG). Die Veräußerung dieser Beteiligung beendet zwar die Organschaft, führt aber nicht zur Auflösung der Ausgleichsposten in der Bilanz des Organträgers. Da die Tochtergesellschaft keine Organbeteiligung hält, können in ihrer Steuerbilanz keine Ausgleichsposten gebildet werden. Bei Realisierung der Einlagenlösung hätte daran gedacht werden können, die Wertansätze der Beteiligungen bei allen zwischengeschalteten Gesellschaften zu korrigieren62. Denn Minder- und Mehrabführungen wirken sich bei idealtypischer Betrachtung auch auf den Wert dieser Beteiligungen aus. Das allein kann aber nicht ausschlaggebend sein. Denn mit den Ausgleichsposten wird das Ergebnis der vorausgegangenen Einkommenszurechnung korrigiert. Da die zwischengeschalteten Gesellschaften daran nicht teilnehmen, gibt es keinen Grund, Ausgleichsposten in ihrer Bilanz zu bilden.

__________ 61 BFH v. 7.2.2007 – I R 5/05, BStBl. II 2007, 796 a. E. = FR 2007, 1018. 62 Dötsch, Ubg 2008, 117 (121).

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4. Höhe der Gewinnminderung aus der Auflösung aktiver Ausgleichsposten Auf die Änderung des Einkommens, die sich durch die Auflösung der Ausgleichsposten ergibt, sind § 8b KStG, §§ 3 Nr. 40, 3c Abs. 2 EStG anzuwenden. Danach könnte die Auflösung eines aktiven Ausgleichspostens als Gewinnminderung im Zusammenhang mit der Organbeteiligung unter das Abzugsverbot des § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG fallen. Das würde bedeuten, dass der Aufwand in voller Höhe nicht abzugsfähig wäre63. Nach der Gegenansicht ist die Verbindung mit der Organbeteiligung enger. Der Aufwand aus der Auflösung des Ausgleichspostens fließt in die Ermittlung des Veräußerungsgewinns ein und mindert diesen in voller Höhe. Dann werden letztlich nur 5 % des nach Abzug des vollen Aufwandes verbleibenden Veräußerungsgewinns steuerpflichtig (§ 8b Abs. 3 Satz 1 KStG). Dafür spricht, dass nur diese Methode (Nettomethode) die Doppelbelastung des Einkommens der Organgesellschaft voll vermeidet64. 5. Teilwertabschreibung und Ausgleichsposten Teilwertabschreibungen auf eine Organbeteiligung sind nur in seltenen Ausnahmefällen möglich65. Bei der Einlagenlösung hätten sich die Minder- oder Mehrabführungen unmittelbar auf den Buchwert der Beteiligung ausgewirkt und die Bemessungsgrundlage für die Teilwertabschreibung erhöht oder vermindert. Nach § 14 Abs. 4 Satz 1 KStG bilden die Ausgleichsposten selbständige Bilanzpositionen. Der aktive Ausgleichsposten ist kein Wirtschaftsgut und kann daher nicht selbst abgeschrieben werden. Er kann für die Zwecke der Teilwertabschreibung auch nicht dem Beteiligungsbuchwert zugeschlagen werden. Erst bei Abgang der Beteiligung durch Veräußerung oder durch einen gleichgestellten Vorgang stellt § 14 Abs. 4 Sätze 2, 5 KStG die Verbindung zwischen Beteiligung und Ausgleichsposten her. 6. Abführung von Einlagen des Organträgers Nach der Gesetzesbegründung66 liegt eine Mehrabführung vor, wenn der Organträger der Organgesellschaft einen verlorenen Zuschuss gibt, der bei dieser handelsrechtlich als Ertrag, steuerrechtlich aber als verdeckte Einlage ausgewiesen wird. Der Ertragszuschuss fließt als Bestandteil der Gewinnabführung an den Organträger zurück. Die verdeckte Einlage ist in der Steuerbilanz des Organträgers auf dem Beteiligungskonto zu aktivieren. Die Gewinnabführung wirkt sich steuerrechtlich beim Organträger nicht aus.

__________ 63 BMF v. 28.4.2003 – IV A 2 - S 2750a - 7/03, BStBl. I 2003, 292 = FR 2003, 528, Rz. 16, 26. 64 Erle in Erle/Sauter, 2. Aufl., KStG § 14 Rz. 309 ff. 65 Vgl. Erle in Erle/Sauter, 2. Aufl., KStG § 14 Rz. 287 ff. 66 BT-Drucks. 16/7036, 20.

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Bei der Organgesellschaft erhöht die verdeckte Einlage das Vermögen, nicht aber den Gewinn. Sie ist bestandserhöhend in das steuerliche Einlagenkonto aufzunehmen (§ 27 Abs. 1 Satz 1 KStG). Die Abführung des Zuschusses mindert das steuerliche Einlagekonto nur, wenn es sich um eine Mehrabführung handelt (§ 27 Abs. 6 KStG). Das ist deshalb zweifelhaft, weil die Abführungsverpflichtung nicht höher ist als die durch den Zuschuss verursachte Vermögensmehrung in der Steuerbilanz. Für die Qualifizierung der Abführung als Mehrabführung ist allerdings nur eine steuerliche Vermögensmehrung zu berücksichtigen, die im Einkommen des Organs enthalten ist67. Das ist bei dem steuerlich als Einlage qualifizierten Ertragszuschuss nicht der Fall. Es liegt deshalb eine Mehrabführung vor, für die ein passiver Ausgleichsposten gebildet werden muss68. Das Ergebnis ist sinnvoll, weil ohne den passiven Ausgleichsposten der durch die Einlage erhöhte Beteiligungsbuchwert den Gewinn aus der Veräußerung der Organbeteiligung zu Unrecht schmälern würde69. 7. Bildung und jährliche Fortschreibung der Ausgleichsposten Das Paradebeispiel für (aktive) Ausgleichsposten, die Dotierung von Rücklagen, lässt die technischen Probleme, die mit der Bildung und Abschmelzung der Ausgleichsposten verbunden sind, nicht erkennen. Diese zeigen sich, wenn sich in den Ausgleichsposten Abweichungen zwischen Handels- und Steuerbilanz niederschlagen. Beispiel: Bei einer Investition mit einer Nutzungsdauer von 5 Jahren, die während der Organschaft vorgenommen worden ist, werden von der Betriebsprüfung Herstellungskosten von 100 nachaktiviert. Dadurch kommt es im Erstjahr zu einer organschaftlichen Minderabführung von 80, für die der Organträger einen aktiven Ausgleichsposten von 80 bilden muss. Durch die Abschreibung der erhöhten Herstellungskosten kommt es in den folgenden 4 Jahren zu einer organschaftlichen Mehrabführung von jeweils 20. Um diese und nur um diese Mehrabführungen muss der Organträger den aktiven Ausgleichsposten verringern, bis er zum Ende des Jahres 05 vollständig entfällt.

Wenn die Ausgleichsposten auf der Ebene des Organträgers im Einzelnen „pro Ursache“70 dokumentiert werden sollen, macht jede Feststellung des Betriebsprüfers, die zu einer Abweichung zwischen Handels- und Steuerbilanz der Organgesellschaft führt, spezielle Abschreibungen erforderlich. Die einzelnen Abweichungen müssen festgehalten und bis zu ihrem Wegfall fortgeschrieben werden (Unter-Ausgleichsposten). Was das für die Praxis bedeutet, hat Dötsch71 eindrucksvoll dargestellt: Der bei einem großen Konzern in der Steuerbilanz des Organträgers ausgewiesene organschaftliche Ausgleichsposten kann bei genauem Hinsehen Hunderte oder gar Tausende von aktiven und/ oder passiven Unterposten mit unterschiedlicher Lebensdauer umfassen.

__________ 67 68 69 70 71

Siehe oben Abschn. V. Nr. 1. Zweifelnd Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, KStG § 14 Rz. 504a, 504c. Vgl. Frotscher in Frotscher/Maas, KStG § 14 Rz. 333a. Dötsch/Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, KStG § 14 Rz. 494. Dötsch, Ubg 2008, 117 (124); Dötsch/Witt, KStG § 14 Rz. 491 ff.

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Besondere Ausgleichsposten in der Steuerbilanz des Organträgers

Soweit diese sich vor der Veräußerung der Organbeteiligung (erfolgsneutral) erledigen, ist ihre Bildung und Fortschreibung eine brotlose Kunst72. Die Praxis hat deswegen schon immer nach Wegen gesucht, die Bildung und Fortschreibung der Ausgleichsposten so weit wie möglich zu vereinfachen. Seitdem die Minder- und Mehrabführungen der Organgesellschaft als Saldo eines jeden Wirtschaftsjahresjahres aus dem Einlagekonto der Organgesellschaft ersichtlich sind (§ 27 Abs. 6 KStG), sollte sich die Nebenbuchführung des Organträgers erübrigen. Mit den Ausgleichsposten muss der Organträger Werte in seine Steuerbilanz einstellen, die er selbst, aus eigener Kenntnis, nicht einmal schätzungsweise ermitteln kann. Denn dem Organträger ist zwar der abgeführte Gewinn bekannt. Die einzelnen Abweichungen zwischen Handels- und Steuerbilanz muss er sich von der Organgesellschaft beschaffen. Viel einfacher ist es, wenn der Organträger stattdessen die Mehr- und Minderabführungen und ihre Veränderungen aus dem Einlagekonto der Organgesellschaft übernimmt. Weist das Einlagekonto im ersten Jahr der Organschaft eine Minderabführung aus, bildet der Organträger einen aktiven Ausgleichsposten, kommt es im Erstjahr zu einer Mehrabführung (negatives Einlagenkonto), stellt der Organträger einen passiven Ausgleichsposten ein. Im Folgejahr wird der aktive Ausgleichsposten durch eine Mehrabführung, der passive Ausgleichsposten durch eine Minderabführung gemindert. Bei entsprechender Höhe der Mehr- oder Minderabführung kann der aktive Ausgleichsposten passiv, der passive Ausgleichsposten aktiv werden. Bei dieser Methode weist die Steuerbilanz des Organträgers stets nur einen Ausgleichsposten aus. Möglich wäre stattdessen auch, in der Steuerbilanz des Organträgers nebeneinander einen aktiven und einen passiven Ausgleichsposten auszuweisen: In den aktiven Ausgleichsposten gehen die Minderabführungen, in den passiven Ausgleichsposten die Mehrabführungen ein. Die Folge ist eine Verlängerung der Steuerbilanz, weil beide Ausgleichsposten nur wachsen und nicht abgebaut werden. Das steuerliche Ergebnis ist das gleiche wie bei der ersten Methode. Denn bei einer Veräußerung der Organbeteiligung werden beide Ausgleichsposten gleichzeitig aufgelöst, so dass nur der Saldo erfolgswirksam wird. Der Wortlaut des § 14 Abs. 4 KStG steht der Ableitung der Ausgleichposten aus dem Einlagekonto der Organgesellschaft nicht entgegen73. Das Gesetz verlangt die Aktivierung oder Passivierung von Ausgleichsposten, macht aber keine Vorgaben für die technische Umsetzung. Zwar ist § 14 Abs. 4 KStG nach der Entstehungsgeschichte eindeutig vergangenheitsorientiert. Das hindert aber nicht, bei der Erfüllung der Vorschrift neue Wege zu beschreiten, die früher nicht zur Verfügung standen. Die Nähe zu der vom Finanzausschuss ausdrücklich abgelehnten Einlagenlösung74 könnte allenfalls dann schädlich

__________ 72 Der frühere Thyssen-Finanzvorstand, Dr. Klaus Kuhn, hat in den 70er Jahren im Finanzministerium NRW um Abschaffung der „Zahlengräber“ nachgesucht, deren Pflege natürlich auch die Unternehmen belastet. 73 Zu bedenklich Dötsch, Ubg 2008, 117 (125). 74 Dötsch, a. a. O., (Fn. 73).

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sein, wenn die Ableitung der Ausgleichsposten aus einer Nebenbuchführung des Organträgers zu signifikant anderen Ergebnissen als ihre pauschale Ermittlung führen würde. Das aber ist nicht zu erwarten, weil sich alle Abweichungen zwischen Handels- und Steuerbilanz, die in organschaftlicher Zeit zu Minder- oder Mehrabführungen führen, auf den unter Berücksichtigung der Zuund Abgänge fortgeschriebenen Bestand des steuerlichen Einlagekontos auswirken75.

VII. Übergangsprobleme 1. Rückwirkende Anwendung des § 14 Abs. 4 KStG § 14 Abs. 4 KStG ist auch für Veranlagungszeiträume vor 2008 anzuwenden (§ 34 Abs. 9 Nr. 5 KStG). Der Tatbestand des § 14 Abs. 4 KStG erfasst mithin im Wege echter Rückwirkung Sachverhalte, die in vollem Umfang in der Vergangenheit verwirklicht worden sind. Das ist unbedenklich, soweit es um die aktiven Ausgleichsposten geht. Denn ihre rückwirkende Verankerung im Gesetz wirkt sich günstig für die Steuerpflichtigen aus. Anders ist es bei den passiven Ausgleichsposten. Werden die Rechtsfolgen eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend geändert, bedarf dies nach der Rechtsprechung des BVerfG vor dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einer besonderen Rechtfertigung. Denn der Bürger wird in seinem Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung enttäuscht und in seiner Freiheit erheblich gefährdet, wenn der Gesetzgeber an bereits abgeschlossene Tatbestände im Nachhinein ungünstigere Folgen knüpft als diejenigen, von denen der Bürger bei seinen Dispositionen ausgehen durfte76, 77. Allerdings ist die bloße Klarstellung der bestehenden Rechtslage nicht vom Rückwirkungsverbot betroffen. Der BFH hat entschieden, dass eine belastende Rückwirkung nicht vorliegt, wenn ein Gesetz lediglich eine schon bisher bestehende und praktizierte Rechtsüberzeugung festschreibt78. Hierauf beruft sich die Gesetzesbegründung zu § 34 Abs. 9 Nr. 5 KStG79. Sie weist zur Rechtfertigung der Rückwirkung auf die langjährige und anerkannte Übung bei der Besteuerung der Ausgleichsposten hin, aus der sich eine gewohnheitsrechtliche Situation ergeben habe. Es sei erkennbar, dass der Gesetzgeber sich die Verwaltungsgrundsätze zu eigen gemacht habe und bei seinen Reformgesetzen von einer Geltung dieser Grundsätze ausgegangen sei.

__________ 75 Die Praxis behilft sich schon heute mit der Ableitung des Ausgleichspostens aus dem Einlagekonto, wenn andere Aufzeichnungen nicht zur Verfügung stehen. 76 Vgl. BVerfG v. 10.3.1971, BVerfGE 30, 272 (285); v. 8.6.1977, BVerfGE 45, 142 (167 f.); v. 14.5.1986, BVerfGE 72, 200 (257 f.); v. 3.12.1997, BVerfGE 97, 67 (78). 77 Kritisch zu der Rückwirkungsrechtsprechung des BVerfG Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., S. 116 ff. 78 BFH v. 5.12.1996 – IV R 83/95, BStBl. II 1997, 287 = FR 1997, 375; v. 22.7.1986 – VIII R 93/85, BStBl. II 1986, 845 = FR 1986, 625. 79 BT-Drucks. 16/7036, 20, 21.

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Damit eine Klarstellung vorliegt, muss sich das geänderte Gesetz inhaltlich mit der zuvor geltenden Rechtslage decken80. Hierüber – und das ist das Problem – gehen die Auffassungen auseinander: Der BFH81 hat in dem Urteil zu den passiven Ausgleichsposten das Gegenteil entschieden, die Finanzverwaltung hat ihm in dem dazu ergangenen Nichtanwendungserlass82 widersprochen. Zwar ist dadurch, dass sich der Gesetzgeber auf die Seite der Finanzverwaltung gestellt hat, eine neue Lage entstanden. Es ist aber nicht unbedingt damit zu rechnen, dass der BFH, wenn er deswegen demnächst mit der Rückwirkungsproblematik befasst wird, seine Rechtsauffassung aufgibt. Dann muss der BFH das BVerfG anrufen, wenn er § 34 Abs. 9 Nr. 5 KStG für verfassungswidrig hält. Das BVerfG wird, da es kein Fachgericht ist, nicht den Schiedsrichter spielen und die zwischen Finanzverwaltung und BFH strittige Frage klären, ob die Ausgleichsposten auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung eine Rechtsgrundlage hatten. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist entscheidend, ob die rückwirkende Regelung der Ausgleichsposten das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Rechtsordnung gefährdet und in die Dispositionsfreiheit der Stpfl. eingreift. War die Rechtslage unklar und verworren, gibt es keinen Vertrauensschutz83. Auch bei lückenhaften Steuergesetzen, deren Wortlaut die Regelungsabsicht des Gesetzgebers nur unzureichend zum Ausdruck bringt84, ist es nicht anders. Hier begründet allein das Schweigen des Gesetzes jedenfalls dann keinen Vertrauensschutz, wenn eine bestimmte – vom BFH später für falsch erklärte – Rechtspraxis Jahrzehnte lang bestanden hat. Denn auch das praktizierte Recht verdient Vertrauen, zumal wenn es in Teilen für den Stpfl. günstiger als das für richtig erkannte Recht ist. Der Gesetzgeber verstößt unter diesen Umständen nicht gegen das Rückwirkungsverbot, wenn er rückwirkend Klarheit schafft. Im Übrigen gibt es auch gerichtliche Fehlurteile, die der Gesetzgeber durch ein Nichtanwendungsgesetz korrigieren darf85. Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, im vorliegenden Fall sei die Rechtslage klar und eindeutig in dem Sinne gewesen, dass passive Ausgleichsposten schon immer erfolgsneutral aufgelöst werden mussten86. Das geht an den Tatsachen vorbei. Das BFH-Urteil v. 7.2.2007, sei es richtig oder falsch87, sagt aus, was im Streitjahr rechtens war, schafft aber nicht rückwirkend eine Planungs- und Vertrauensgrundlage. Hierfür kommt es nicht auf die Rechtslage, sondern auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Auch als zukünftige Vertrauensgrundlage kommt das Urteil wegen des Nichtanwendungserlasses und der kurz darauf ergangenen gesetzlichen Regelung nicht in Betracht. Das

__________ 80 81 82 83

84 85 86 87

BFH v. 5.12.1996 – IV R 83/95, BStBl. II 1997, 287 = FR 1997, 375. BFH v. 7.2.2007 – I R 5/05, BStBl. II 2007, 796 = FR 2007, 1018. BMF v. 5.10.2007 – IV B 7 - S 2770/07/0004 – DOK 2007/0449869, BStBl. I 2007, 743. BVerfGE 30, 367 (388). A. A. Spindler, DStJG 27 (2004), 69 (86 f.); er befürwortet, die echte Rückwirkung ausschließlich aus zwingenden Gründen des gemeinen Wohls zuzulassen. Vgl. Hey, DStJG 27 (2004), 91 (99). BVerfG v. 23.1.1990 – 1 BvL 4/87, 1 BvL 5/87, 1 BvL 6/87, 1 BvL 7/87, BVerfGE 81, 228 (239), Abzugsfähigkeit von Geldbußen. Suchanek/Herbst, FR 2008, 112 (118). Zu (Fehl)urteilen als Vertrauensgrundlage vgl. Hey, DStJG 27 (2004), 91 (102).

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BVerfG88 hat in einem insoweit vergleichbaren Fall die rückwirkende Änderung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Bildung von Jubiläumsrückstellungen (§ 52 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG a. F.) gebilligt. Der Gesetzgeber hatte hier die Rechtslage rückwirkend so geregelt, wie sie bis zur Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch das Urteil des BFH v. 5.2.198789 nach der Rechtsanwendungspraxis bestanden hatte. Das BVerfG weist darauf hin, dass die Steuerpflichtigen ein berechtigtes Vertrauen auf eine hiervon abweichende Rechtslage nicht bilden konnten. Ein solches Vertrauen hätte angesichts der weit gefassten gesetzlichen Grundlagen und der langjährigen Rechtsprechung90 und Verwaltungspraxis weder vor noch nach der Fortentwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Jahre 1987 eine Grundlage. 2. Folgen bei Verfassungswidrigkeit des § 34 Abs. 9 Nr. 5 KStG Sollte das BVerfG § 34 Abs. 9 Nr. 5 KStG dennoch für verfassungswidrig erklären, wäre § 14 Abs. 4 KStG, wie alle anderen neuen Vorschriften im KStG 2008, für die keine Sonderregelung gilt, ab 1.1.2008 anzuwenden (§ 34 Abs. 1 KStG). Die in den vorangegangenen Jahren gebildeten besonderen Ausgleichsposten wären einkommensneutral auszubuchen. Dies gilt sowohl für die passiven wie auch die aktiven Ausgleichsposten. Allerdings werden Stpfl., deren Steuerbilanz aktive Ausgleichsposten ausweist, Vertrauensschutz einfordern. Auch verfassungswidrige Gesetze können Vertrauensgrundlage sein. Da förmliche Gesetze die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit für sich haben, darf der Stpfl. auf sie in der Regel solange vertrauen, bis das BVerfG ihre Nichtigkeit festgestellt hat91. Nach ständiger Rechtsprechung92 ist es Sache der obersten Finanzbehörden, bei rückwirkender Verschärfung der Rechtslage durch die Gerichte aus Billigkeitsgründen (§§ 163 Abs. 1, 227 Abs. 1 AO) allgemeine Übergangs- und Anpassungsregelungen zu erlassen, um das Vertrauen in die bisherige Rechtslage nicht zu enttäuschen93. Das liefe für die Veranlagungszeiträume vor 2008 im Ergebnis auf eine imparitätische Behandlung der aktiven und passiven Ausgleichsposten hinaus, ein Ergebnis, das der Gesetzgeber durch die rückwirkende Anwendung des § 14 Abs. 4 KStG gerade zu vermeiden gesucht hatte.

__________ 88 BVerfG v. 12.5.2009 – 2 BvL 1/00, FR 2009, 873 m. Anm. Buciek. 89 BFH v. 5.2.1987 – IV R 81/84, BStBl. II 1987, 845 = FR 1987, 225. 90 Bei den Ausgleichsposten beruhte die für die Beurteilung des Vertrauensschutzes maßgebende Rechtsanwendungspraxis allerdings allein auf Verwaltungsregelungen, weil der BFH mit den Problemen erst spät befasst wurde. 91 Mellinghoff, DStJG 27 (2004), 25 (35). 92 BFH v. 12.1.1989 – IV R 87/87, BStBl. II 1990, 261 = FR 1989, 345; v. 5.10.1984 – III R 192/83, BStBl. II 1985, 151; v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 = FR 1984, 619. 93 Vgl. Leisner-Egensperger, DStJG 27 (2004), 191 (198).

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VIII. Schlussbemerkung Die besonderen Ausgleichsposten sind im Rentenalter in das Gesetz aufgenommen worden. Gerne würden man die Rangerhöhung feiern: „Was lange währt, wird endlich gut“. Leider hat es der Gesetzgeber nicht geschafft, eine in jeder Hinsicht abgewogene Leistung zu präsentieren. Die freudige Stimmung, die in dem Sprichwort anklingt, will sich daher nicht einstellen. Auch fällt es ohnehin schwer, einzelne Gesetzesänderungen angemessen zu würdigen, solange sich das deutsche Steuerrecht insgesamt in einem so traurigen Zustand befindet, dass es in den Umfragen des World Economic Forum regelmäßig auf den letzten Plätzen landet. Das schönste Geburtstagsgeschenk für Joachim Lang wäre die Fundamentalreform, für die er sich immer eingesetzt hat. Dann könnte es heißen: „Ende gut, alles gut“. Bleibt es ein Traum?

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Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen – Warum die Feuerwehr auch ohne § 8 Nr. 1 GewStG ausrücken kann Inhaltsübersicht I. Einführung II. Unterschiede Gewerbesteuer Einkommensteuer/Körperschaftsteuer 1. Steuergläubiger (Gemeinden vs. Land/Bund) – Zusatzbelastung? 2. Steuerschuldner (Gewerbebetriebe, Personengesellschaften) 3. Territorialität (Inlandsbezogenheit, keine Anrechnung ausländischer Steuern) 4. Bemessungsgrundlage (Hinzurechnung Finanzierungsaufwand) III. Keine Verstetigung durch Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand 1. Hinzurechnungsbetrag konjunkturunabhängig – Parallelverschiebung nach oben (reiner Niveau-Effekt)

a) Kein absoluter Verstetigungseffekt b) Hinzurechnungsbeträge gem. § 8 Nr. 1 GewStG konjunkturstabil (jedenfalls nicht antizyklisch) 2. Relativer Verstetigungseffekt (i) anderweitig konzipierbar und (ii) unwesentlich a) Relativer Verstetigungseffekt anderweitig konzipierbar (Hebesatzanpassung im Konjunkturverlauf) b) Relativer Verstetigungseffekt unwesentlich c) „Rote Null“-Fälle in Gesamtschau ebenfalls unwesentlich IV. Fazit

I. Einführung Forderungen nach Abschaffung der Gewerbesteuer sind so alt wie die Gewerbesteuer selbst, die in ihrer gegenwärtigen Form seit einem Dreivierteljahrhundert erhoben wird1. Auch der Jubilar hat sich vielfach für einen Ersatz dieser bedeutenden kommunalen Einnahmenquelle eingesetzt, und zwar begleitet

__________ 1 Das Gewerbesteuergesetz vom 1.12.1936 (RStBl. 1936, 1149) vereinheitlichte die bis dahin bestehenden unterschiedlichen Länderregelungen. Vgl. zu grundlegende Forderungen nach Abschaffung der Gewerbesteuer z. B. Karl-Bräuer-Institut, Zur Reform der Gemeindesteuern, 1975, S. 50 ff.; Ritter, Abbau der Gewerbesteuer, BB 1983, 389 ff.; Wendt, Abschaffung und Ersetzung der Gewerbesteuer aus verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Sicht, BB 1987, 1677 (1681 ff.) mit Verweis auf Flume, Hdbl. v. 29.9.1961, S. 13: „Wenn wir noch eine Selbstverwaltung wollen […], dann müssen die Bürger der Gemeinde auch die Steuerzahler der Gemeinde sein.“ Vgl. auch Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Gewerbesteuer vom 8.9.2003 (BTDrucks. 15/1517). Bei dessen Billigung auch durch den Bundesrat wären Einkünfte aus selbständiger Arbeit in eine Gemeindewirtschaftssteuer einbezogen und auf eine Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand grundsätzlich verzichtet worden.

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von differenzierten Vorschlägen für ein modifiziertes finanzielles Band der Gemeinden zur örtlichen Wirtschaft. Im Rahmen der sog. Brühler Kommission, die den Boden des Systemwechsels zum Halbeinkünfteverfahren bereitete, schlug Joachim Lang eine kommunale Unternehmenssteuer vor, die dem Leistungsfähigkeitsprinzip2 durch Verzicht auf Aufwandsbesteuerung und dem Äquivalenzprinzip3 dadurch Rechnung getragen hätte, dass sämtliche Gewinneinkunftsarten auf örtlich radizierbarer Basis einbezogen worden wären.4 Joachim Lang zählte auch zu den Schöpfern des sog. Vier-Säulen-Modells, das von einer Expertengruppe unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft im Vorfeld der Unternehmensteuerreform 2008 erarbeitet wurde. Eine kommunale Unternehmensteuer mit einer Belastung zwischen 6 und 8 %, ein kommunaler Anteil am Lohnsteueraufkommen aller Arbeitgeber der jeweiligen Gemeinde, eine hebesatzbezogene Bürgersteuer als Ersatz für den gegenwärtigen gemeindlichen Anteil am Einkommensteueraufkommen sowie eine verkehrswertorientierte Grundsteuer sollten die Gewerbesteuer u. a. mit dem Ziel ersetzen, die Kommunen weniger konjunkturabhängig und damit verlässlicher zu finanzieren. Der Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 mahnt ebenfalls eine Reform der Gewerbesteuer an. So wurde die Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung vereinbart, die insbesondere – in augenscheinlicher Anlehnung an das 2001 vorgestellte BDI/ VCI-Alternativmodell zur Gewerbesteuer5 – den „Ersatz der Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer mit eigenem Hebesatz prüfen“6 soll, d. h. eine kommunale Einnahmequelle ohne ertragsunabhängige Elemente. Eine Bund-Länder-Kommission unter Beteiligung der kommunalen

__________ 2 Vgl. grundlegend zu den Anforderungen des Leistungsfähigkeitsprinzip an eine kommunale Unternehmensteuer Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band 2, 1993, S. 1028 ff. Zum Wandel des rechtfertigenden Grundsatzes der Gewerbesteuer vom Äquivalenzzum Leistungsfähigkeitsprinzip vgl. Gosch, Einige aktuelle und zugleich grundsätzliche Bemerkungen zur Gewerbesteuer, DStZ 1998, 327 (328 f.). 3 Vgl. zu dieser möglichen Grundlage der Gewerbesteuer Zitzelsberger, Grundlagen der Gewerbesteuer – Eine steuergeschichtliche, rechtsvergleichende, steuersystematische und verfassungsrechtliche Untersuchung, 1990, S. 159 ff. Allerdings bemerkt Zitzelsberger bereits im Vorwort seiner Habilitationsschrift, dass die Gewerbesteuer „mit einer Fülle von Konstruktionsfehlern behaftet [ist]. Es findet sich kaum ein Hauch gesetzgeberischer Systemkonsequenz […].“ 4 Vgl. Lang, Perspektiven der Unternehmensteuerreform, Anhang zu den Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Schriftenreihe des BMF, Heft 66, 1999, S. 53 ff. (57). Vgl. zu einer Kommunalsteuer mit Hebesatzrecht auch bereits Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, Schriftenreihe des BMF, Heft 49, 1993, Rz. 642 ff. 5 Vgl. Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI)/Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI), Verfassungskonforme Reform der Gewerbesteuer – Konzept einer kommunalen Einkommen- und Gewinnsteuer, 2001. 6 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP v. 26.10.2009, S. 10.

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Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

Spitzenverbände hat insoweit am 3.3.2010 ihre Arbeit aufgenommen, die „keine Placebo-Veranstaltung“7 sein soll. Der Einsatz zahlreicher Gemeinden für einen Forbestand der Gewerbesteuer in unveränderter Form scheint hingegen auch auf dem Wunsch zu beruhen, die Hinzurechnungstatbestände des § 8 Nr. 1 GewStG zu erhalten. Von diesen ertragsunabhängigen Elementen, die insbesondere Finanzierungsaufwand betreffen, erhofft man sich eine Einnahmenverstetigung. Insoweit führt Hey mit Verweis auf die Gesetzesbegründung des Gewerbesteuergesetzes 19368 aus: „Zudem sollen ertragsunabhängige Elemente der Gewerbesteuer für eine Verstetigung des Aufkommens der Kommunen sorgen, ein Argument, dass sich auch heute in der politischen Diskussion immer noch großer Popularität erfreut.“9

Der hessische Ministerpräsident Koch hat diesen Gedanken 2006 wie folgt zugespitzt: „Die Feuerwehr muss auch bei den Unternehmen löschen, die derzeit keinen Gewinn machen.“10

Der kommunale Wunsch nach einer stetigen Einnahmequelle ist verständlich. Ob es allerdings grundrechtlich zulässig und steuerpolitisch ratsam ist, das Begehren nach einer konjunkturunabhängigen Finanzausstattung auf Kosten von Steuerpflichtigen ohne entsprechende Gewinne zu befriedigen, erscheint überaus fraglich.11 Der vorliegende Beitrag setzt allerdings einen Schritt früher an. Untersucht wird, ob womöglich bereits die Ausgangsthese unzutreffend ist, nämlich die dem Koch’schen Zitat zugrunde liegende Vorstellung, die ertragsunabhängigen Elemente der Gewerbesteuer glätteten deren konjunkturell bedingte Schwankungen. Falls es an einem (wesentlichen) Verstetigungseffekt der Hinzurechnungen fehlte bzw. dieser in steuersystematisch weniger angreifbarer Weise konzipierbar wäre, entfiele ein wesentliches Argument für die Beibehaltung der Gewerbesteuer in ihrer gegenwärtigen Form, vgl. Abschn. III. Zunächst aber legt Abschn. II die Grundlagen, indem die Unterschiede zwischen Gewerbe- und Einkommensbesteuerung aufgezeigt werden. Abschn. IV beschließt die Untersuchung mit einem Fazit.

__________ 7 Der Pressesprecher des Bundesfinanzministeriums (BMF) hat laut www.wissen.de zudem geäußert, dass eine Abschaffung der Gewerbesteuer zwar wünschenswert sei, „eine Reform aber nicht zwangsläufig in die Abschaffung münden müsse“, sondern zunächst die ertragsfremden Elemente weiter reduziert werden könnten. 8 RStBl. 1937, 693. 9 Hey, Körperschaft- und Gewerbesteuer und objektives Nettoprinzip, Beihefter DStR 2009, Heft 34, 109 (115). 10 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Interview vom 11.9.2006, abrufbar unter http:// www.fazfinance.net/Aktuell/Wirtschaft-und-Konjunktur/Ein-Satz-von-25-Prozent-istattraktiv-genug-0333.html. 11 Ein finanzielles Stetigkeitsbedürfnis der Kommunen als Rechtfertigungsgrund ablehnend Hey, Verletzung fundamentaler Besteuerungsprinzipien, BB 2008, 1303 (1307); Kommunale Einkommen- und Körperschaftsteuer, StuW 2002, 314 (320).

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II. Unterschiede Gewerbesteuer Einkommensteuer/Körperschaftsteuer Die Unterschiede zwischen Gewerbesteuer einerseits und Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer andererseits sind mannigfaltig. Aus Sicht der Gebietskörperschaften ist zunächst die abweichende Ertragshoheit zu nennen, wobei die Steuergläubigerverschiedenheit nicht zwingend mit einer Zusatzbelastung einhergeht. Neben einer Verkomplizierung des Steuerrechts folgen Belastungsdivergenzen aber aus der Unterschiedlichkeit der Steuersubjekte. Gleiches gilt für die verschiedenartige internationale Ausrichtung von Gewerbesteuer einerseits und Einkommen- sowie Körperschaftsteuer andererseits (Inlandsbeschränkung der Gewerbesteuer). Der bedeutendste Unterschied dürfte aber in den ertragsunabhängigen Elementen der Gewerbesteuer liegen, missachtet § 8 GewStG das fundamentale Nettoprinzip12 doch in grundlegender Weise. 1. Steuergläubiger (Gemeinden vs. Land/Bund) – Zusatzbelastung? Während Einkommen- und Körperschaftsteuer als Gemeinschaftssteuern Bund und Ländern zufließen, sind Gewerbesteuergläubiger die Kommunen, Art. 106 Abs. 3 u. 6 GG.13 Aus dieser Aufteilung lässt sich zwar eine regionale Spreizung der Gewerbesteuerbelastung ableiten, die auch finanzverfassungsrechtlich verbürgt ist14. Eine Zusatzbelastung folgt hieraus aber nicht. So findet sich die Gewerbesteuerbelastung tatbestandsmäßig sowohl in der Einkommensteuer als auch in der Körperschaftsteuer berücksichtigt. Für die Einkommensteuer gilt dies ausdrücklich, nämlich in Gestalt des § 35 EStG, der eine (pauschalierte) Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer vorsieht. Das Körperschaftsteuergesetz berücksichtigt die Gewerbesteuer weniger augenscheinlich, aber ebenso belastungsneutral, nämlich über die Tarifvorschrift des § 23 Abs. 1 KStG. Ausdrückliches Ziel der Reduzierung des Körperschaftsteuersatzes von 25 % auf 15 % im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 war, die Gesamtbelastung von Kapitalgesellschaften durch Ertragsteuern auf knapp unter 30 % zu reduzieren.15 Ohne Gewerbesteuer wäre der Körperschaftsteuersatz nach dieser Logik nicht um 10 %-Punkte gesenkt, sondern sogar entsprechend erhöht worden. Infolgedessen stellt die Gewerbesteuer auch für Kapitalgesellschaften faktisch keine Zusatzbelastung dar.

__________

12 Vgl. zur fundamentalen und auch verfassungsrechtlichen Bedeutung des objektiven Nettoprinzips z. B. Lang, Stellenwert des objektiven Nettoprinzips im Einkommensteuerrecht, StuW 2007, 3 (8). 13 Von der Gewerbesteuerumlage, die Bund und Länder gegenwärtig mit 16,5 % am Gewerbesteueraufkommen beteiligt, sei aus Vereinfachungsgründen ebenso abstrahiert wie von dem 15 %-Anteil der Gemeinden an der Einkommensteuer, Art. 106 Abs. 6 Satz 4 bzw. Abs. 5 GG. 14 Vgl. Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG sowie Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG („wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle mit Hebesatzrecht“, „Recht zur Gewerbesteuerhebesatzfestsetzung“). 15 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 27.3.2007, BTDrucks. 16/4841, 1: „Die Verringerung der nominalen Belastung bei Kapitalgesellschaften von 38,65 auf 29,83 Prozent erhöht die steuerliche Standortattraktivität Deutschlands für Investitionen.“

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Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

2. Steuerschuldner (Gewerbebetriebe, Personengesellschaften) Steuerschuldner der Gewerbesteuer ist der Unternehmer, für dessen Rechnung ein Gewerbe betrieben wird, § 5 Abs. 1 Sätze 1 u. 2 GewStG. Neben der Ausgrenzung der anderen beiden Gewinneinkunftsarten, d. h. der u. a. freiberuflichen Einkünfte aus selbständiger Arbeit sowie Land- und Forstwirtschaft16, bedeutet die gewerbesteuerliche Schuldnerbestimmung, dass Personengesellschaften – anders als für Zwecke der Einkommen- und Körperschaftsteuer – nicht als transparent behandelt werden, § 5 Abs. 1 Satz 3 GewStG. Konsequenz hieraus ist zunächst die Kuriosität, dass eine Personengesellschaft die Gewerbesteuer schuldet, die bei der Veräußerung von Anteilen an ihr entsteht, d. h. das Veräußerungsobjekt statt des Veräußerers gewerbesteuerlich belangt wird, § 7 Satz 2 GewStG. Wesentlicher erscheint, dass eine gewerbesteuerliche Ergebnisverrechnung innerhalb einer Unternehmensgruppe immer dann unterbleibt, wenn auf einer unteren Ebene eine Personengesellschaft involviert ist. So können Personengesellschaften anders als Kapitalgesellschaften keine Organgesellschaft i. S. d. §§ 14; 17 KStG sein, eine Organschaft ist nicht begründbar. Während dies für Einkommen- und Körperschaftsteuer infolge des Transparenzprinzips nicht weiter relevant ist, folgt hieraus für die Gewerbesteuer zwingend eine stand alone-Besteuerung von Personengesellschaften.17 3. Territorialität (Inlandsbezogenheit, keine Anrechnung ausländischer Steuern) Die Inlandsbezogenheit der Gewerbesteuer kommt u. a. in § 2 Abs. 1 GewStG zum Ausdruck, wonach ihr nur inländische Betriebsstätten unterliegen. Kehrseite des Territorialitätsprinzips ist, dass ausländische Steuern nicht auf die Gewerbesteuer angerechnet werden können. Im Gewerbesteuerrecht fehlt es an einer Vorschrift, die § 34c EStG oder § 26 KStG vergleichbar wäre. Da 15,825 % Körperschaftsteuer zzgl. Solidaritätszuschlag bei einem Hebesatz von 450 % eine ebenso hohe Gewerbesteuerlast gegenübersteht, können grenzüberschreitende Sachverhalte gewerbesteuerlich verzerrt werden.

__________ 16 Vgl. kritisch zur Ausgrenzung der §§ 2 Abs. 1 Nr. 1 u. 3 i. V. m. 13; 18 EStG jüngst – wohl auch aus konjunktureller Verstetigungssicht – Bach/Broer/Fossen, Sollen Freiberufler und Landwirte Gewerbesteuer zahlen? – Steuersystematische Überlegungen und empirische Wirkungsanalysen, Jahrbuch für Regionalwissenschaft (2010), S. 71 (84 f.). 17 Hierbei kann eine fehlende Ergebnisverrechnung sowohl nachteilig als auch vorteilhaft für den Steuerpflichtigen sein. Ist er wegen außersteuerlicher Aspekte oder steuerlicher Sperrfristen an einem Rechtsformwechsel gehindert, ist ein positiver Gewerbeertrag der Personengesellschaft zu versteuern, auch wenn das Gesamtergebnis der Unternehmensgruppe negativ ist. Andererseits ermöglicht die stand aloneBesteuerung, Erträge in Gemeinden mit vergleichsweise niedrigen Hebesätzen zu allokieren, ohne auf die einkommen- bzw. körperschaftsteuerliche Ergebnisverrechnung verzichten zu müssen.

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4. Bemessungsgrundlage (Hinzurechnung Finanzierungsaufwand) Der steuersystematisch und aus Belastungssicht bedeutsamste Unterschied besteht in den gewerbesteuerlichen Hinzurechnungs- und Kürzungsvorschriften. §§ 8 und 9 GewStG modifizieren die zunächst einkommen- sowie körperschaftsteuerlich bestimmte Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer teilweise grundlegend. Dies gilt insbesondere für die Hinzurechnung von 25 % sämtlicher Zinsaufwendungen sowie der Finanzierungsanteile, die in Miet- und Pachtzinsen sowie Leasingraten und Lizenzgebühren enthalten sind und 20 bis 50 % betragen sollen, § 8 Nr. 1 GewStG. Die Hinzurechnung missachtet das objektive Nettoprinzip, wonach Erwerbsaufwendungen zum (vollumfänglichen) Betriebsausgabenabzug berechtigen.18 Bis 2007 bezog sich der Hinzurechnungstatbestand allein auf Entgelte für sog. Dauerschulden, der Hinzurechnungsfaktor war mit 50 % allerdings doppelt so hoch. Im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 wurde § 8 Nr. 1 GewStG damit sowohl tatbestandsmäßig erweitert als auch in seiner Belastungsintensität reduziert mit der Folge, dass (Fremd-) Finanzierungsaufwand nun breiter und zugleich weniger stark sonderbelastet wird, nämlich „nur“ mit 3½ % statt bislang 6¼ %.19 Ausweislich der Gewerbesteuerstatistik lassen sich die Hinzurechnungs- und Kürzungstatbestände faktisch auf die Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand reduzieren. So zeichneten die hälftigen Entgelte für Dauerschulden z. B. in 2004 für 92 % sämtlicher Hinzurechnungsbeträge verantwortlich, die nicht, wie z. B. Verluste (gesondert besteuerter) Personengesellschaften, systemimmanent sind.20 Die Aufkommensschätzungen des Bundesfinanzministeriums (BMF) sprechen wegen ihrer fast vollumfänglichen Einnahmenneutralität dafür, dass auch die modifizierte Fassung von § 8 Nr. 1 GewStG an der absoluten Dominanz der Finanzierungskomponente innerhalb der Hinzurechnungstatbestände nichts geändert hat.21 Auch die Kürzungen gem. § 9 GewStG lassen sich zu

__________ 18 Vgl. Fn. 12. 19 Die heutige Gewerbesteuerlast auf Finanzierungsaufwand ergibt sich als Produkt aus 14 % Gewerbesteuertarif sowie 25 % Hinzurechnungsfaktor. Die 6¼ % bis 2007 waren Resultat einer rund 8½ %igen Gewerbesteuer (50 %) abzgl. des 26,375 %igen Entlastungseffekts aus Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag. 20 Vgl. Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern, Gewerbesteuer, Fachserie 14 Reihe 10.2, 2004: Einem Hinzurechnungsbetrag für § 8 Nr. 1 GewStG a. F. von € 25,7 Mrd. stehen Hinzurechnungen von insgesamt € 41,7 Mrd. gegenüber, von denen aber systembedingt € 9,5 Mrd. Mitunternehmerverluste sowie € 3,7 Mrd. PortfolioDividenden sowie Gewinnanteile von KGaA-Gesellschaftern abzuziehen sind. Die beiden nächst größeren Aufwandskategorien vereinen mit insgesamt 4 % nur einen Bruchteil der Finanzierungsaufwendungen auf sich. 21 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 27.3.2007, BTDrucks. 16/4841, 42. Während der Wegfall der hälftigen Hinzurechnung von Dauerschuldzinsen zu gewerbesteuerlichen Mindereinnahmen von € 1,365 Mrd. führen soll, werden die Mehreinnahmen aus der 25 %igen Hinzurechnung sämtlicher Zinsen sowie des Finanzierungsanteils von Mieten, Pachten, Leasingraten sowie Lizenzgebühren auf € 1,235 Mrd. geschätzt.

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Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

90 % mit der unterschiedlichen Systematik der Besteuerung von Unternehmenserträgen erklären, insbesondere also der Kürzung um Mitunternehmergewinne, die gewerbesteuerlich ja bereits auf Ebene der Personengesellschaft belastet werden.22 Dieser Beitrag erörtert weder die gleichheitssatzrechtliche Problematik23 der gewerbesteuerlichen Aufwandsbesteuerung noch ihre etwaige EG-Rechtswidrigkeit wegen Verstoßes gegen sekundäres24 oder primäres25 Gemeinschaftsrecht. Es soll allein der rechtspolitisch sowie verfassungsrechtlich26 relevante Umstand untersucht werden, ob aus § 8 Nr. 1 GewStG ein weniger konjunkturabhängiges Gewerbesteueraufkommen folgt oder nicht.

III. Keine Verstetigung durch Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand Zunächst erscheint plausibel, dass eine Hinzurechnung von (Finanzierungs-) Aufwand Steuereinnahmen aus einer Gewinnbesteuerung verstetigt. So tritt vor das geistige Auge ein Gewerbebetrieb, der einen konjunkturbedingten Gewinneinbruch erleidet und somit nicht länger über eine positive ertragsteuerliche Bemessungsgrundlage verfügt. Infolge der Aufwandshinzurechnung gem. § 8 Nr. 1 GewStG weist der Gewerbebetrieb jedoch einen positiven Gewerbeertrag aus mit der Folge, dass trotz Verlustsituation zwar keine Einkommenoder Körperschaftsteuer, wohl aber Gewerbesteuer geschuldet wird. Den gemeindlichen Steuergläubigern verschafft die Substanzbesteuerung im Krisenjahr zusätzliches Steueraufkommen im Vergleich zu einer Gewinnbesteuerung, die das Nettoprinzip achtet, d. h. Erwerbsaufwendungen uneingeschränkt zum Abzug von der Bemessungsgrundlage zulässt. So heißt es z. B. auch im Jahresgutachten 2009/10 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: „Ebenfalls von dramatischen Einbrüchen betroffen waren die Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuereinnahmen, wobei der Aufkommensrückgang aufgrund der gewinnunab-

__________ 22 Ebd. Am ehesten von Bedeutung erscheinen noch die € 5,1 Mrd. aus der erweiterten Kürzung bei Grundstücksunternehmen gem. § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG, die eine Doppelbelastung mit Gewerbesteuer und Grundsteuer verhindern soll. 23 Beispielsweise Montag in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., § 12 Rz. 22, fragt insoweit zu Recht kritisch: „Warum stellt sich der Gesetzgeber einen Betrieb vor, den es in Wirklichkeit nicht gibt (einen Betrieb, der nur mit eigenen Wirtschaftsgütern, ohne Fremdkapital, arbeitet)? Was ist das für eine Objektivierung, die an der Wirklichkeit des individuellen Betriebs vorbei sieht?“ 24 Vgl. hierzu den Vorlagebeschluss des BFH vom 27.5.2009 – I R 30/08, FR 2010, 139 = GmbHR 2009, 1223 zur Vereinbarkeit von § 8 Nr. 1 GewStG a. F. mit der Richtlinie 2003/49/EG v. 3.6.2003, Abl. Nr. L 157 v. 26.6.2003, S. 49 (Zins- und Lizenzrichtlinie). 25 Vgl. Dorenkamp, Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung im Steuerrecht, DStJG 33 (2010), 301 (334 ff.) Zusammenspiel zwischen Absehen von der Hinzurechnung im Organkreis und dessen Inlandsbeschränkung. 26 Vgl. hierzu Fn. 11.

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Christian Dorenkamp hängigen Komponenten bei der Gewerbesteuer […] weniger deutlich ausfiel als bei den Körperschaftsteuereinnahmen […].“27

Ein Standardkommentar zum Gewerbesteuergesetz führt inhaltsgleich aus: „Für die Gemeinden wirken sich die Hinzurechnungsvorschriften stabilisierend auf das Gewerbesteueraufkommen aus […].“28

Fraglich ist, ob dieser erste Anschein der Plausibilität womöglich trügt. Dies wäre dann der Fall, wenn die Hinzurechnungen gem. § 8 Nr. 1 GewStG im Ergebnis keinen oder zumindest keinen nennenswerten Einfluss auf die Konjunkturabhängigkeit der Gewerbesteuer hätten. Würden die Gewerbesteuereinnahmen in Zeiten konjunktureller Abschwünge mit einer Hinzurechnung ertragsunabhängiger Elemente (faktisch) ebenso sinken wie unter Verzicht auf diese u. U. substanzverzehrende Belastung, sollte es schwerer fallen, für die Beibehaltung oder sogar den Ausbau der Hinzurechnungstatbestände des § 8 Nr. 1 GewStG zu werben, gelegentlich auch als „Revitalisierung der Gewerbesteuer“29 bezeichnet. Um die Terminologie des hessischen Ministerpräsidenten Koch zu bemühen30: Die Feuerwehr könnte auch in konjunkturellen Schwächephasen ausrücken, ohne dass es hierfür einer Gewerbeversteuerung von Finanzierungsaufwand bedürfte. Keinen nennenswerten Einfluss auf die Konjunkturabhängigkeit der Gewerbesteuereinnahmen bzw. deren Stetigkeit im Konjunkturverlauf hat § 8 Nr. 1 GewStG, wenn die drei folgenden Bedingungen erfüllt sind, und zwar aus Robustheitsgründen möglichst kumulativ: (1) Der Hinzurechnungsbetrag selbst ist konjunkturstabil bzw. entwickelt sich zumindest nicht antizyklisch mit der Folge, dass die Gewerbesteuereinnahmen aus § 8 Nr. 1 GewStG in konjunkturell schlechten Zeiten allenfalls stabil bleiben, d. h. jedenfalls nicht ansteigen (lediglich Parallelverschiebung des Aufkommens nach oben durch Hinzurechnung während des gesamten Konjunkturzyklus). (2) Der Aufkommenseffekt aus der Hinzurechnung ist im Vergleich zu den gesamten Gewerbesteuereinnahmen zu gering (z. B. 3–7 %), als dass hieraus ein nennenswerter – relativer – Verstetigungseffekt erwachsen könnte. Dieser Verstetigungseffekt ist zudem konzipierbar, ohne das objektive Nettoprinzip zu verletzen.

__________

27 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen, Jahresgutachten 2009/10, S. 176 Tz. 256. Inhaltsgleich heißt es im Jahresgutachten 2007/08 (Das Erreichte nicht verspielen, S. 255, Tz. 367): „Generell ist das Aufkommen aus der Gewerbesteuer wegen der gewinnunabhängigen Komponenten ihrer Bemessungsgrundlagen weniger volatil als das der Körperschaftsteuer.“ 28 Vgl. Glanegger in Glanegger/Güroff, GewStG, 7. Aufl. 2009, § 8 Rz. 2 a. E. 29 Vgl. zu diesem Begriff m. w. N. z. B. Bach/Broer/Fossen (Fn. 16), Sollen Freiberufler und Landwirte Gewerbesteuer zahlen?, S. 76. Vgl. grundlegend zu einer breiten subjektiven und objektiven Basis der Gewerbesteuer Zitzelsberger (Fn. 3), Grundlagen der Gewerbesteuer, S. 320 ff. 30 Vgl. zu dessen Feuerwehr-Stilmittel Fn. 10.

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Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

(3) Die Anzahl der Gewerbebetriebe mit einer „roten Null“, bei denen allein Hinzurechnungen zu Gewerbesteuerzahlungen führen, ist in der gebotenen Gesamtschau ebenfalls unwesentlich. Tatsächliches Aufkommen aus § 8 Nr. 1 GewStG vergleichsweise sehr gering (3 %): Dem Versuch der steuersystematischen und empirischen Widerlegung der Verstetigungsthese sei eine Bemerkung zu den tatsächlichen Aufkommenseffekten der gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen vorangestellt. Die Steuerbelastung einzelner Betriebe durch § 8 Nr. 1 GewStG ist zwar u. U. beträchtlich, nämlich insbesondere in Abhängigkeit von der jeweiligen Branchenzugehörigkeit, die wiederum Folgen für die Kapitalintensität, den Fremdkapitalbedarf und z. B. den Mietaufwand im Vergleich zum Umsatz oder Gewinn hat. Diese Sonderbelastung einzelner Betriebe wirkt sich in der gewerbesteuerlichen Gesamtschau, d. h. aus der Steuergläubigerperspektive der Gemeinden, jedoch nur unwesentlich aus. So zeichneten sämtliche Hinzurechnungstatbestände des § 8 Nr. 1 GewStG n. F. ausweislich der Schätzungen des BMF, die in die Gesetzesbegründung zum Unternehmensteuerreformgesetz 2008 eingeflossen sind, für nur 3,01 % des Gewerbesteueraufkommens 2008 verantwortlich, nämlich € 1,235 Mrd. von € 41 Mrd.31 Schon aus diesem Zahlenverhältnis lässt sich ableiten, dass einem etwaigen Verstetigungseffekt eine eher unwesentliche Bedeutung zukommen dürfte. 1. Hinzurechnungsbetrag konjunkturunabhängig – Parallelverschiebung nach oben (reiner Niveau-Effekt) Die Anti-These zur These der Gewerbesteuerverstetigung durch § 8 Nr. 1 GewStG besagt, dass die ertragsunabhängigen Besteuerungselemente die konjunkturellen Schwankungen der Gewerbesteuereinnahmen nicht oder nur unwesentlich mindern. Steuersystematisch lässt sich die gewerbesteuerliche Bemessungsgrundlage in zwei Bestandteile zerlegen, nämlich (i) eine gewinnabhängige Komponente x, die mit der einkommen- bzw. körperschaftsteuerlichen Bemessungsgrundlage inhaltsgleich ist, und (ii) eine gewinnunabhängige Komponente y, nämlich das Ergebnis der Hinzurechnungstatbestände.

__________ 31 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 27.3.2007, BTDrucks. 16/4841, 42 sowie Sachverständigenrat (Fn. 27), Jahresgutachten 2009/10, S. 372. Selbst wenn unter Beachtung des Umstands, dass die Gewerbesteuereinnahmen in 2008 konjunkturbedingt außergewöhnlich hoch waren, von einem „konjunkturneutralen“ Gewerbesteueraufkommen von € 30 Mrd. oder gar € 25 Mrd. ausgegangen wird, beträgt der Anteil der vom BMF geschätzten Einnahmen aus § 8 Nr. 1 GewStG n. F. nur 4,1 % bzw. 4,9 %. Dass diese geringen Gewerbesteueranteile auch vor dem Hintergrund der tatsächlichen Aufkommenserfahrungen mit § 8 Nr. 1 GewStG a. F. kompatibel sind, zeigen sowohl die entsprechenden Schätzungen des BMF zur Abschaffung der hälftigen Hinzurechnung von Dauerschuldzinsen, die mit € 1,365 Mrd. angegeben wurden, als auch die Gewerbesteuerstatistik, jüngst für den Veranlagungszeitraum 2004, vgl. dazu ausführlicher unten Abschn. III.2.b).

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Christian Dorenkamp

Konjunkturbedingte Schwankungen des Gewinns eines Gewerbebetriebs (als Residualgröße zwischen Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen) schlagen sich unmittelbar in der ertragsabhängigen Komponente x der gewerbesteuerlichen Bemessungsgrundlage nieder. Hier besteht kein Unterschied zur Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer, soweit sich die Steuersubjekte der Gewerbesteuer und Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer entsprechen32. Anders verhält es sich bei der ertragsunabhängigen Komponente y. Zinsaufwendungen und Miet- bzw. Pachtzinsen, Leasingraten sowie Lizenzgebühren, die seit 2008 jeweils anteilig als Finanzierungsaufwand gewerbesteuerlich hinzuzurechnen sind, dürften regelmäßig auch in konjunkturell schlechten Zeiten nicht oder zumindest bei weitem nicht in dem Maße sinken, in dem sich die Residualgröße Gewinn reduziert, vgl. ausführlich Abschn. 1.b). Folgt aber aus dem Umstand, dass die ertragsunabhängigen Hinzurechnungstatbestände weniger konjunkturanfällig sind, Gleiches auch für die Gewerbesteuereinnahmen? Diese Frage ist differenziert zu beantworten. Zwar existiert kein Verstetigungseffekt im Sinne absolut geringerer Minder- oder höherer Mehreinnahmen. Bei Berücksichtigung kompensierender Tariferhöhungen ist aber ein relativer Effekt zu konstatieren, der jedoch (i) auch anderweitig konzipierbar und zudem (ii) unwesentlich ist. a) Kein absoluter Verstetigungseffekt In absoluten Beträgen ausgedrückt gilt, dass die Gewerbesteuer in konjunkturell schlechten Zeiten ebenso stark einbricht wie eine vergleichbare rein gewinnabhängige Unternehmensteuer. So bewirkt die Hinzurechnung konjunkturstabiler33 Finanzierungsaufwendungen lediglich einen konjunkturneutralen Niveau-Effekt, d. h. eine gewinnunabhängige Parallelverschiebung der Bemessungsgrundlage und somit des Steueraufkommens nach oben. Diese Parallelverschiebung wirkt infolge ihrer Gewinnunabhängigkeit in konjunkturell guten wie schlechten Zeiten und hat deshalb keinen Einfluss auf die Unterschiedsbeträge im Gewerbesteueraufkommen während eines Konjunkturzyklus. Folglich sind die Gemeinden mit § 8 Nr. 1 GewStG gezwungen, im Abschwung ebenso viele kommunale Leistungen zu streichen wie ohne diese Hinzurechnungsvorschrift. Dies sei an einem Zahlenbeispiel erläutert. Wird das jährliche Gewerbesteueraufkommen mit € 30 Mrd. angenommen, was ungefähr dem Durchschnitt der Jahre 2000–2009 zzgl. 10 % entspricht34, sowie vereinfachend – und die Schät-

__________

32 Dass dies jedenfalls bei einem isolierten Vergleich von Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer nicht der Fall ist und hierin der Hauptgrund für die unterschiedliche Volatilität zu sehen sein dürfte, erörtert Abschn. III. 2. zu Beginn. 33 Warum die Finanzierungsaufwendungen im Konjunkturverlauf sich jedenfalls nicht antizyklisch entwickeln und damit die Stabilitätsannahme eine konservative ist, wird im nachfolgenden Abschnitt 3.b) erläutert und belegt. 34 Die Gewerbesteuereinnahmen schwankten in diesem Zeitraum zwischen € 27 Mrd. und € 41 Mrd., der 10-Jahresdurchschnitt betrug € 30,8 Mrd., vgl. Sachverständigenrat (Fn. 27), Jahresgutachten 2009/10, S. 372.

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Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

zungen des BMF um das Dreifache überzeichnend35 – von einem 10 %igen Anteil der zahlungswirksamen § 8 Nr. 1 – Tatbestände an der gesamten gewerbesteuerlichen Bemessungsgrundlage ausgegangen, ergibt sich ein Niveau-Effekt aus der Hinzurechnung von € 3 Mrd. Diese Parallelverschiebung ermöglicht zwar eine Gemeindefinanzierung zu einem durchschnittlichen Hebesatz und damit Gewerbesteuertarif, der 10 % unter dem Steuersatz einer rein gewinnabhängigen Steuer liegt, z. B. also 400 % (Hebesatz) bzw. 14 % (Gewerbesteuertarif) statt 444 % bzw. 15,6 %. Der Niveau-Effekt aus der Aufwandshinzurechnung hat aber nicht zur Folge, dass der Sparzwang für die Gemeinden in Krisenzeiten geringer wäre. Wenn die Gewerbesteuersteuereinnahmen konjunkturbedingt, wie im Erhebungszeitraum 2009, um ca. 30 % und damit hier € 9 Mrd.36 sinken, liegt dies in einem entsprechenden Gewinneinbruch begründet. Dieser Gewinneinbruch wirkt sich auf die kommunalen Einnahmen aber unabhängig davon aus, ob die Bemessungsgrundlage ertragsunabhängige Elemente vorhält, die von dem Konjunktureinbruch nicht betroffen sind. Jeweils sind € 9 Mrd. einzusparen. Die hier mit € 3 Mrd. angenommenen Gewerbesteuereinnahmen aus der Hinzurechnung fließen nicht nur im Abschwung, sondern auch zu Boom-Zeiten und mindern den Konsolidierungsdruck damit nicht (gleich hohe konjunkturbedingte Mindereinnahmen). b) Hinzurechnungsbeträge gem. § 8 Nr. 1 GewStG konjunkturstabil (jedenfalls nicht antizyklisch) Aus einer Abschaffung von § 8 Nr. 1 GewStG folgen nur dann keine betragsmäßigen Mindereinnahmen in konjunkturell schlechten Jahren, wenn sich die ertragsunabhängige Komponente der Gewerbesteuer y im Konjunkturverlauf nicht antizyklisch entwickelt. Die Richtigkeit der Anti-These zur Gewerbesteuerverstetigungsthese erfordert zwar nicht, dass die Hinzurechnungen im Abschwung entsprechend der Ergebnisentwicklung sinken, wohl aber dass sie nicht antizyklisch steigen. Eine prozyklische Entwicklung der Finanzierungsaufwendungen – und diese ist, entgegen wohl einhelliger Meinung im Schrifttum37, das Ergebnis der Untersuchungen dieses Abschnitts – hingegen stärkt

__________ 35 Vgl. Nachweise in Fn. 31. 36 Tatsächlich ist die Gewerbesteuer von 2008 auf 2009 um € 12,4 Mrd. gesunken. Das Gewerbesteueraufkommen belief sich in 2008 auf € 41 Mrd. und war somit höher als im Beispiel angenommen. 37 Vgl. (ohne quantitative Belege) Hofmeister in Blümich, EStG, KStG, GewStG, 98. Erg.-Lief. 02/2008, § 8 GewStG Rz. 22, wonach ein konjunkturbedingter Rückgang der Unternehmensgewinne „häufig“ mit einem „Anstieg der Schulden und anderer Formen des Fremdkapitaleinsatzes und damit der Hinzurechnungen nach Nr. 1“ einhergehen soll. Ebenso – allerdings bereits zeitliche Divergenzen implizierend – Güroff in Glanegger/Güroff, GewStG, 7. Aufl. 2009, § 8 Rz. 2 a. E.: „Für die Gemeinden wirken sich die Hinzurechnungsvorschriften stabilisierend auf das Gewerbesteueraufkommen aus, weil in der Praxis häufig ein reziprokes Verhältnis von Gewinn und Dauerschuldentgelten – wenn auch in gewissem Umfang zeitlich versetzt – bestehen wird.“

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die Plausibilität der Anti-These noch, auch wenn ihr bereits eine Konjunkturstabilität der Hinzurechnungsbeträge genügt. Anders als der Gewinn eines Gewerbebetriebs stellen die Finanzierungsaufwendungen, die § 8 Nr. 1 GewStG erfasst, keine Residualgröße des betrieblichen Erfolgs dar, der konjunkturellen Schwankungen unterliegt. Die Aufwendungen für Kredite, Miet- oder Pachtverhältnisse sowie Leasing- oder Lizenzgeschäfte sind vielmehr vertraglich vereinbart und zudem regelmäßig auch mittel- bzw. langfristig fixiert. Aus diesem Grund erscheint nicht unplausibel, von einer Stetigkeit solcher Aufwendungen im Konjunkturzyklus auszugehen. Dies sollte inzwischen umso mehr gelten als der Hinzurechnungstatbestand des § 8 Nr. 1 GewStG seit 2008 nicht länger auf Darlehensbeziehungen beschränkt ist, sondern auch Mieten und Pachten sowie Leasingraten und Lizenzgebühren erfasst. Dass z. B. Einzelhandelsmieten in Zeiten gesamtwirtschaftlicher Nachfrageschwäche (antizyklisch) ansteigen, dürfte infolge sinkender Einzelhandelsumsätze auszuschließen sein. Es ist aber auch keineswegs zwingend, von höheren Darlehenszinsen in konjunkturell schwierigen Zeiten auszugehen.38 Zwar spricht unter der stark vereinfachenden Annahme eines Gleichlaufs von Ertrags- und Liquiditätslage für eine höhere Kreditaufnahme in Krisenzeiten, dass konjunkturbedingte Verluste womöglich fremdfinanziert werden. Allerdings dürften solche verlustbedingten Kredite regelmäßig nur von untergeordneter Bedeutung sein. Geht man von einer Fremdkapitalquote von 50 % aus und unterstellt, dass ein Verlust i. H. v. 5 % der Bilanzsumme erlitten wird, würden die Verbindlichkeiten verlustbedingt um nicht mehr als 10 % steigen. Wird berücksichtigt, dass in konjunkturell schlechten Zeiten das Zinsniveau wegen einer expansiveren Geldpolitik der Zentralbanken regelmäßig vergleichsweise niedrig ist, liegt eher ein sinkender Finanzierungsaufwand nahe. Hierfür lässt sich auch anführen, dass die Finanzierungsbereitschaft der Banken in einer konjunkturellen Schwächephase aus Risikoerwägungen deutlich geringer sein dürfte als im Boom. Die Annahme konstanter Finanzierungsaufwendungen in Rezessionszeiten erscheint damit im Ergebnis bereits konservativ, näher liegt insbesondere wegen einer zurückhaltenden Finanzierungsbereitschaft der Kreditinstitute in Krisenzeiten ein prozyklische Entwicklung. Diese Einschätzung wird durch die Zahlen der Deutschen Bundesbank zu Fremdkapitalaufnahme und Zinsaufwand der letzten 20 Jahre gestützt. Hiernach ist, wie die nachfolgende Grafik zeigt, das Ausmaß sowohl der Fremdfinanzierung als auch der Zinsaufwendungen in konjunkturellen Hochphasen größer als im Abschwung.

__________ 38 Vgl. Nachweise zur a. A. in Fn. 37.

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Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

Im Umfeld der konjunkturellen Krisenjahre 1993 und 2003, die sich jeweils durch ein schrumpfendes Bruttoinlandsprodukt auszeichneten, reduzierten sich Kreditvergabe sowie Zinsaufwendungen. In konjunkturell guten Jahren wie unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung sowie zur Jahrtausendwende und im Vorfeld der 2008er Finanzkrise erhöhten sich Kreditvolumina und Zinsen besonders stark. Die vielzitierte „Kreditklemme“ spricht dafür, dass sich dieser Trend im Krisenjahr 2009, für das noch keine entsprechenden Zahlen vorliegen, wieder umgekehrt hat.39 Infolge des Umstands, dass Finanzierungsaufwand in konjunkturellen Schwächephasen eher abnimmt als ansteigt, kann eine absolute Verstetigungswirkung von § 8 Nr. 1 GewStG folglich auch nicht aus einer antizyklischen Entwicklung der Hinzurechnungstatbestände abgeleitet werden.

__________ 39 Die Beobachtung eines positiven Zusammenhangs zwischen Konjunkturstärke sowie Kreditvergabe bzw. Zinsaufwand steht auch in Übereinstimmung mit einschlägigen makroökonomischen Analysen. So heißt es in einem Research-Bericht der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW): „Die Entwicklung der Kreditvergabe steht im engen Zusammenhang mit dem Konjunkturzyklus. In Aufschwungphasen werden mehr Investitionsprojekte realisiert, die Finanzierungsnachfrage steigt entsprechend. Umgekehrt werden in konjunkturellen Schwächephasen Investitionsvorhaben zurückgestellt oder ganz aufgegeben, was sich dämpfend auf die Kreditnachfrage auswirkt.“, vgl. KfW-Research, Entwicklung der Kreditneuzusagen, abrufbar unter http://www. kfw.de/DE_Home/Service/Download_Center/Allgemeine_Publikationen/Research/ PDF-Dokumente_MakroScope_/MakroScope_1.pdf). Ähnlich äußert sich der Monatsbericht Oktober 2005 der Deutschen Bundesbank, der im Nachgang zu dem „in großem Umfang fremdfinanzierten Boom bei den Investitionen in neue Sachanlagen und Beteiligungen in den Jahren 1999/2000“ im Krisenjahr 2003 einen Rückgang des „jahresdurchschnittlichen Bestands an zinswirksamen Verbindlichkeiten“ ausmachte (S. 41).

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2. Relativer Verstetigungseffekt (i) anderweitig konzipierbar und (ii) unwesentlich

Vergleich Steueraufkommen 1971-1980

Vergleich Steueraufkommen 1981-1990

Quelle: Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrats

Quelle: Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrats

14.000

19.000

12.000

17.000

10.000

15.000 in Mio. €

in Mio. €

Fraglich ist, ob mit der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand ein relativer Verstetigungseffekt einhergeht, und, falls dies der Fall ist, ob dieser womöglich anderweitig – steuersystematisch befriedigend – konzipierbar und/oder unwesentlich ist. Vorangeschickt sei, dass die Gewerbesteuer in der Tat weniger volatil ist als die Körperschaftsteuer, die als Synonym einer rein ertragsabhängigen Unternehmensbesteuerung gelten mag. Dies zeigt die nachfolgende Übersicht, die über die letzten vier Jahrzehnte Gewerbe- und Körperschaftsteuereinnahmen miteinander vergleicht. Auch wenn zeitweise eine Aufkommensparallelität erkennbar ist, überwiegen die konjunkturellen Ausschläge der Körperschaftsteuereinnahmen insgesamt die Schwankungen des Gewerbesteueraufkommens.

8.000

13.000

6.000

11.000

4.000

9.000 7.000

2.000 -

5.000 1971

1972

1973

1974

1975 KSt

1976

1977

1978

1979

1980

1981

1982

1984

1985

1986

KSt

Vergleich Steueraufkommen 1991-2000

1987

1988

1989

1990

GewSt

Vergleich Steueraufkommen 2001-2009

Quelle: Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrats

Quelle: Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrats

30.000

50.000

25.000

40.000

20.000

30.000 in Mio. €

in Mio. €

1983

GewSt

15.000

10.000

20.000

10.000

5.000

-

-

-10.000 1991

1992

1993

1994

1995 KSt

1996

1997

1998

1999

GewSt

2000

2001

2002

2003

2004 KSt

2005 GewSt

2006

2007

2008*

2009*

KSt, bereinigt

Anderweitige Volatilitätsfaktoren Der Befund einer im Vergleich zur Körperschaftsteuer niedrigeren Volatilität der Gewerbesteuer bedeutet nicht, dass die Hinzurechnungen gem. § 8 Nr. 1 GewStG ursächlich für die geringere Konjunkturanfälligkeit der Gewerbesteuer sind. So unterscheiden sich Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer in vielerlei anderer Hinsicht. Zuvörderst ist hier wohl die verschiedene Steuersubjektbasis zu nennen. Während der Körperschaftsteuer im Wesentlichen nur Kapitalgesellschaften unterliegen, sind auch Personengesellschaften und Einzelunternehmer mit ihren gewerblichen Einkünften gewerbesteuerpflichtig. Diese Rechtsformen werden gemeinhin von kleineren Unternehmen gewählt, 794

Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

die von konjunkturellen Schwankungen weniger stark betroffen sein dürften als große Kapitalgesellschaften.40 Zu unternehmensgrößenabhängigen Überlegungen gesellen sich Unterschiede im intertemporalen Verlustausgleich. So erlaubt die Körperschaftsteuer gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG i. V. m. § 10d Abs. 1 EStG neben einem Verlustvortrag auch einen Verlustrücktrag von € 0,5 Mio. § 10a GewStG sieht einen solchen Verlustrücktrag für Gewerbesteuerzwecke nicht vor. Ein Verlustrücktrag aber verstärkt konjunkturelle Schwankungen des Steueraufkommens – bewirkt er doch, dass in einem Krisenjahr nicht nur Steuervorauszahlungen reduziert, sondern auch bereits erfolgte Steuerzahlungen zurückgefordert werden, die für das Vorkrisenjahr geleistet wurden. Erwähnenswert sind womöglich auch besteuerungspraktische Aspekte wie das mehrstufige Steuererhebungsverfahren bei der Gewerbesteuer (Steuermessbescheid, Zerlegungsbescheid, Gewerbesteuerbescheid). Der zeitliche Verzug konjunkturbedingter Zahlungsanpassungen infolge der Involvierung mehrerer Behörden (Finanzamt, Gemeinde) und Arbeitsgänge (Bemessungsgrundlage, Zerlegung, Hebesatzanwendung) mag bereits manche konjunkturell bedingten Aufkommensspitzen bzw. -löcher verhindern. Höhere Volatilität bei aufkommensneutraler Tariferhöhung statt § 8 Nr. 1 GewStG? § 8 Nr. 1 GewStG ginge mit einem relativen Verstetigungseffekt einher, wenn der Ersatz dieser Hinzurechnungsvorschrift durch eine aufkommensneutrale Anhebung des Gewerbesteuertarifs eine Einnahmenentwicklung zur Folge hätte, die im Konjunkturverlauf volatiler wäre. Theoretisch existiert ein solcher relativer Verstetigungseffekt. Würde in einem konjunkturneutralen Jahr t0 die Gewerbesteuermesszahl um 11 % von 3,5 % auf 3,89 % erhöht, um den Wegfall der im obigen Beispielsfall mit 10 % angenommen gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen zu kompensieren41, ergeben sich hieraus ceteris paribus in konjunkturellen Hochzeiten (z. B. t2, t3) gewerbesteuerliche Mehreinnahmen. So ist die Erhöhung der Gewerbesteuermesszahl um 0,39 %-Punkte ja genau austariert, um bei der Gewinnsituation in konjunkturell ausgeglichenen Zeiten die Mindereinnahmen aus der Abschaffung der Hinzurechnung zu kompensieren. Steigen die Gewinne konjunkturbedingt, erfolgt eine Überkompensation, d. h. die Einnahmen aus der Gewerbesteuer steigen stärker als dies beim Status Quo (Messzahl 3,5 %, Hinzurechnungen gem. § 8 Nr. 1 GewStG) der Fall wäre. So findet der im konjunkturneutralen Jahr aufkommensneutral erhöhte Gewerbesteuertarif auch auf die zusätzlichen Gewinne Anwendung, die allein der konjunkturell guten Lage ge-

__________

40 So wohl auch Broer, Möglichkeiten zur Stabilisierung der kommunalen Einnahmen, Wirtschaftsdienst 2003, 132 (135). 41 Der Erhöhungsfaktor von 11,1 % ergibt sich aus der vereinfachenden und die Gewerbesteuerrealität (vgl. dazu Fn. 31) weit überzeichnenden Annahme, dass die Hinzurechnung gem. § 8 Nr. 1 GewStG für 10 % der Gewerbesteuereinnahmen verantwortlich ist. So berechnet sich der Kompensationsfaktor als Quotient 1/(1–10 %).

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Christian Dorenkamp

schuldet sind. Umgekehrt gilt in konjunkturellen Schwächephasen: Gewinnrückgänge werden nicht nur mit der Messzahl von 3,5 % gewerbesteuerrelevant, sondern mit 3,89 %, d. h. zu einem höheren Tarif. Gegen diesen theoretisch existierenden relativen Verstetigungseffekt lässt sich allerdings anführen, dass er (i) konzeptionell anderweitig darstellbar und zudem (ii) unwesentlich ist. a) Relativer Verstetigungseffekt anderweitig konzipierbar (Hebesatzanpassung im Konjunkturverlauf) Den Gemeinden als Steuergläubigern ist es konzeptionell möglich, Überkompensationen, die die Ersetzung der Hinzurechnungsvorschriften durch einen höheren Gewerbesteuertarif im Konjunkturverlauf zur Folge hat, durch – sogar nur sehr geringfügige – Hebesatzanpassungen zu neutralisieren. Werden die Hebesätze in konjunkturell schlechten Zeiten (minimal) angehoben und in konjunkturell guten Zeiten entsprechend reduziert, lässt sich ein Gewerbesteueraufkommen erzielen, das betragsidentisch mit dem Status Quo ist. Zwar mag es in gewisser Weise befremdlich wirken, in einer konjunkturellen Schwächephase den Gewerbesteuertarif zu erhöhen. Das Gewerbesteueraufkommen würde – im Vergleich zum Status Quo – aber ja gerade nicht verändert. Allein die Basis der Besteuerung würde sich leistungsfähigkeitsgerecht nach der jeweiligen Ertragslage richten. Betriebe höher zu belasten, die auch in konjunkturell schlechten Zeiten profitabel sind, ist vor dem Hintergrund des Nettoprinzips gegenüber einer Aufwandsbesteuerung aber vorzugswürdig. Um die vergleichsweise geringen Anforderungen an die Hebesatzflexibilität zu illustrieren, sei das obenstehende Beispiel fortgeführt. Wurde das angenommene Gewerbesteueraufkommen von € 30 Mrd. mit einer Gewerbesteuermesszahl von 3,5 % sowie einem durchschnittlichen Hebesatz von 400 % und damit einem Gewerbesteuertarif von 14 % generiert, erfordert der Verzicht auf die mit 10 % angenommenen Hinzurechnungstatbestände eine Anbebung der Gewerbesteuermesszahl auf 3,89 % oder alternativ des Hebesatzes auf 444 %. Der Gewerbesteuertarif betrüge jeweils 15,56 %. Wird nun ein Szenario betrachtet, in dem das Gewerbesteueraufkommen um 30 % einbricht – einen derart großen Rückgang kennt bislang nur der Erhebungszeitraum 2009, in dem das Bruttoinlandsprodukt um in der Nachkriegszeit einmalige 5 % sank; der durchschnittliche Gewerbesteuerrückgang betrug bislang 7,5 % bzw. 5,5 % ohne den 2009er Effekt42 –, so bedeutet dies bei einem 10 %igen Aufkommensanteil der ertragsunabhängigen Elemente, dass sich die gewerbesteuerpflichtigen Gewinne um ein Drittel reduziert haben, d. h. die Gewinnminderungen den Aufkommensrückgang um 3,3 %-Punkte übersteigen.

__________ 42 Das Gewerbesteueraufkommen war bislang nur in zwölf Erhebungszeiträumen rückgängig, nämlich in 1967, 1970, 1975, 1980, 1981, 1987, 1993, 1995, 2000, 2001, 2002 und 2009. Einschließlich 2009 betrug der durchschnittliche Rückgang 7,53 %, vgl. Sachverständigenrat (Fn. 27), Jahresgutachten 2009/10, S. 372.

796

Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

Zwei Drittel des Einnahmenausfalls aus dem Hinzurechnungsverzicht würden durch die Anhebung des Gewerbesteuertarifs kompensiert, ein Drittel verbliebe als Mindereinnahme – es sei denn, der Gewerbesteuerhebesatz würde im Krisenjahr entsprechend angepasst. Um auch das verbleibende Drittel zu kompensieren, wäre der Gewerbesteuertarif von 15,6 % um 5 % bzw. 0,7 %-Punkte auf 16,3 % zu erhöhen, d. h. der Hebesatz von 444 % auf 467 % zu steigern. Dann würde auch im Krisenjahr ein gleich hohes Gewerbesteueraufkommen generiert wie mit dem alten 14 %igen Gewerbesteuertarif einschließlich Aufwandshinzurechnung. Bei einem konjunkturbedingten Aufkommensrückgang von nur 10 %, der angesichts der Nachkriegsentwicklung weitaus realitätsnäher erscheint als der Sonderfall 200943, betrüge der Anpassungsbedarf im Hinblick auf den Gewerbesteuertarif lediglich 0,17 %-Punkte. Der Tarif wäre lediglich von 15,56 % auf 15,75 % zu erhöhen (Hebesatz 450 % statt 444 %), damit das Gewerbesteueraufkommen auch im Krisenjahr jenem mit § 8 Nr. 1 – Hinzurechnung entspricht. Formelmäßige Darstellung einer konjunkturneutralen Hebesatzpolitik: Mathematisch lässt sich der Anpassungsbedarf, den eine Konjunkturverstetigung an die Hebesatzpolitik stellt, eindeutig formulieren, nämlich in Abhängigkeit vom konjunkturbedingten Gewerbesteuerrückgang sowie Hinzurechnungsanteil am Gewerbeertrag. Zunächst sei der Gewerbesteuertarif tauGewSt-Neu hergeleitet, der den herkömmlichen Ttarif tauGewSt-Alt in einem konjunkturneutralen Jahr in eine aufkommensneutrale Besteuerung ohne Aufwandshinzurechnung überführt. Die Berechnung erfordert neben der Kenntnis, wann ein konjunkturneutrales Jahr, d. h. ein „normales“ Gewerbesteueraufkommen vorliegt, den Anteil der Hinzurechnungsbeträge gem. § 8 Nr. 1 GewStG (BMG§ 8 Nr. 1) an der gesamten gewerbesteuerlichen Bemessungsgrundlage (BMGGesamt). tauGewSt-Neu * (BMGGesamt – BMG§ 8 Nr. 1) = tauGewSt-Alt * BMGGesamt tauGewSt-Neu = tauGewSt-Alt * BMGGesamt/(BMGGesamt – BMG§ 8 Nr. 1) = tauGewSt-Alt/(1 – BMG§ 8 Nr. 1/BMGGesamt) Bei einem Hinzurechnungsanteil von z. B. 10 % am gesamten Gewerbeertrag ergäbe sich ein aufkommensneutraler Gewerbesteuertarif von 15,56 %, wenn der ursprüngliche Gewerbesteuersatz 14 % beträgt (Hebesatz 444 % statt 400 % bzw. Messzahl 3,89 % statt 3,5 %):

__________ 43 Vgl. zur Intensität der Gewerbesteuerrückgänge in der Nachkriegszeit Fn. 42.

797

Christian Dorenkamp

15,56 % = 14 %/(1–10 %)44 = 3,5 % Messzahl * 444 % Hebesatz = 3,89 % Messzahl * 400 % Hebesatz Aus diesem neuen Gewerbesteuertarif tauGewSt-Neu, der in einem konjunkturell ausgeglichenen Erhebungszeitraum ohne Hinzurechnungen das gleiche Aufkommen generiert wie der alte Gewerbesteuertarif tauGewSt-Alt mit § 8 Nr. 1 GewStG, lässt sich der Hebesatz tauGewSt-Neu-Stabil ableiten, der – falls gewünscht – den Verstetigungseffekt der Hinzurechnung vollumfänglich nachbildet, auch wenn dieser, wie Abschn. b) zeigt, nur sehr gering ist. Maßgeblich ist das Aufkommen nach altem und neuem Gewerbesteuerrecht im konjunkturellen Auf- oder Abschwung: Hebesatz Stabil = Hebesatz Neu * Aufkommen GewSt-Alt/Aufkommen GewSt-Neu tauGewSt-Neu-Stabil = tauGewSt-Neu* Aufkommen GewSt-Alt/Aufkommen GewSt-Neu Der konjunkturstabile Gewerbesteuerhebesatz bestimmt sich in Abhängigkeit von der Gewinnveränderung (DeltaKonjunktur) sowie dem Anteil der Aufwandshinzurechnung am einnahmenrelevanten Gewerbeertrag: tauGewSt-Neu-Stabil = tauGewSt-Neu * [tauGewSt-Alt * (BMGGesamt – DeltaKonjunktur) /tauGewSt-Neu* (BMGGesamt – DeltaKonjunktur – BMG§ 8 Nr. 1)] = tauGewSt-Neu * [tauGewSt-Alt * (1 – DeltaKonjunktur/BMGGesamt) /tauGewSt-Neu* (1 – DeltaKonjunktur/BMGGesamt – BMG§ 8 Nr. 1/BMGGesamt)] Im Ergebnis ist bei der konjunkturneutralen Hebesatzbestimmung zu berücksichtigen, dass die Anhebung des Gewerbesteuertarifs, die dem aufkommensneutralen Ersatz der Aufwandshinzurechnung geschuldet ist, auch auf die konjunkturbedingten Mehr- oder Mindergewinne Anwendung findet. Soll die hierdurch bedingte Zunahme an Volatilität rückgängig gemacht werden, ist der Hebesatz im Konjunkturverlauf entsprechend anzupassen, d. h. in schlechten Zeiten zu erhöhen und in guten Zeiten zu reduzieren. Bei einem z. B. 10 %igen Aufkommensanteil von § 8 Nr. 1 GewStG sowie einem konjunkturell bedingten Gewinneinbruch von z. B. 30 % ergibt sich demnach ein konjunkturneutraler Gewerbesteuertarif von 16,33 % bzw. Hebesatz von 467 %: tauGewSt-Neu-Stabil = 15,56 % * [14 % * (1–30 %)/15,56 % * (1–30 % – 10 %)] = 15,56 % * [(14 % * 0,7)/(15,56 % * 0,6)] = 15,56 % * (0,098/0,09336) = 16,33 %

__________

44 Die Annahme, dass § 8 Nr. 1 GewStG für 10 % des Gewerbesteueraufkommens ursächlich ist, überzeichnet die Schätzungen des BMF, die im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 angestellt wurden, um mehr als das Dreifache. Damals war ein Aufkommenseffekt prognostiziert worden, der 3,01 % des Gewerbesteueraufkommens 2008 ausmachte, vgl. Fn. 31. Bei € 30 Mrd. Gewerbesteueraufkommen beliefen sich die € 1,235 Mrd. auf 4,1 %.

798

Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

Aus einem – realistischeren45 – 3 %igen Aufkommensanteil von § 8 Nr. 1 GewStG sowie einem – ebenfalls realitätsnäheren46 – konjunkturbedingten Einnahmenrückgang von nur 7 % folgt ein aufkommensneutraler Gewerbesteuertarif von 14,43 % (= 14 %/(1–3 %)), der in einen konjunkturneutralen Gewerbesteuertarif von 14,47 % mündet (= 14,43 % * [(14 %*0,93)/(14,43 %*0,9)]. Die Hebesätze, die eine rein ertragsabhängige Gewerbebesteuerung ohne Stetigkeitsverlust ermöglichen, liegen mit 412,4 % bzw. 413,3 % sehr nahe an den ursprünglichen 400 %. Dies sei an einem abschließenden Beispiel illustriert, dass die derzeitige Gewerbesteuerrealität mit einem gewissen Sicherheitspuffer abzubilden versucht. Bei einem Aufkommensanteil von § 8 Nr. 1 GewStG i. H. v. 5 %47 ist der Tarif einer Gewerbesteuer ohne ertragsunabhängige Elemente um knapp 5,3 % zu erhöhen, und zwar entweder durch eine Anhebung des Hebesatzes von 400,0 % auf 421,1 % oder eine entsprechende Erhöhung der Gewerbesteuermesszahl – jeweils mit der Folge, dass der konjunkturneutrale Gewerbesteuertarif von 14 % auf 14,74 % steigt. Sinkt das Gewerbesteueraufkommen nun konjunkturbedingt um 10 % von € 30 Mrd. auf € 27 Mrd., sind im Vergleich zu einer Gewerbesteuer mit § 8 Nr. 1 GewStG zusätzliche Mindereinnahmen i. H. v. 0,74 % jener Bemessungsgrundlage zu verzeichnen, die für die Aufkommenseinbuße von € 3 Mrd. verantwortlich ist, d. h. im Ergebnis € 158 Mio., nämlich 0,74 % von € 21½ Mrd. gewerbesteuerlicher Mindererträge. Soll dieser Aufkommensverlust kompensiert werden, obgleich er sich mit 0,6 % nur im Promillebereich bewegt, ist der Gewerbesteuertarif zu erhöhen, nämlich von 14,74 % auf 14,82 % (Hebesatzanhebung von 421,1 % auf 423,5 %). In konjunkturellen Hochphasen wäre der konjunkturneutrale Hebesatz – ebenso unmerklich – zu reduzieren. Der Anpassungsbedarf bezüglich des Gewerbesteuertarifs ist hier deshalb so gering, weil der modifizierte Steuersatz auf die gesamte Bemessungsgrundlage Anwendung findet, für den zugrunde liegenden Aufkommensrückgang aber nur die konjunkturbedingte Ergebnisveränderung ursächlich war. b) Relativer Verstetigungseffekt unwesentlich Im vorstehenden Abschnitt wurde gezeigt, dass der relative Verstetigungseffekt der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung konzeptionell auch auf andere Weise darstellbar ist, nämlich durch eine konjunkturabhängige (minimale) Hebesatzanpassung. Einige Beispielsrechnungen, die der Illustration dieses alternativen Verstetigungsmechanismus dienten, haben wegen ihrer Anlehnung an tatsächliche Steueraufkommensgrößen bereits das geringe Ausmaß des relativen Versteti-

__________ 45 Vgl. Fn. 31. 46 Vgl. Fn. 42. 47 Vgl. Fn. 44.

799

Christian Dorenkamp

gungseffekts vor Augen geführt, der der Aufwandshinzurechnung zukommt, wenn z. B. aus Vereinfachungsgründen auf eine kompensierende Hebesatzanpassung verzichtet wird. In Ermangelung neuerer Erkenntnisse des BMF oder Statistischen Bundesamts sind Grundlage der nachfolgenden Überlegungen die Schätzungen des BMF, die Eingang in das Finanztableau zum Unternehmensteuerreformgesetz 2008 gefunden haben. Hiernach generieren die modifizierten Hinzurechnungstatbestände des § 8 Nr. 1 GewStG € 1,235 Mrd. bzw. 3,01 % der 2008’er Gewerbesteuereinnahmen i. H. v. € 41 Mrd.48 Eine solche Größenordnung erscheint auch plausibel vor dem Hintergrund des gesetzgeberischen Wunsches, § 8 Nr. 1 GewStG weitestgehend, nämlich zu 90 % aufkommensneutral zu modifizieren, sowie den Gewerbesteuerstatistiken für die Jahre 1998, 2001 und 2004. So stehen die BMF-seitig geschätzten Mindereinnahmen aus der Abschaffung der 50 %igen Hinzurechnung von Dauerschuldzinsen i. H. v. € 1,356 Mrd. in ungefährer Übereinstimmung mit dem Durchschnitt der zahlungswirksamen Hinzurechnungsbeträge gem. § 8 Nr. 1 GewStG, den die Gewerbesteuerstatistik für die Erhebungszeiträume 1998, 2001 sowie 2004 mit € 10,5 Mrd. ausweist.49 Wird auf diesen Betrag ein Gewerbesteuertarif von 15,5 % angewendet, ergibt sich ein Aufkommen von € 1,6 Mrd., das sich in einer 20 %-Bandbreite der BMF-Schätzung bewegt. Selbst wenn die BMF-Schätzungen den Aufkommenseffekt aus der Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand aber um das Doppelte, Drei-, Vier- oder Fünffache unterzeichnen sollten, würde hieraus kein nennenswerter Verstetigungseffekt resultieren. Dies wird in den nachfolgenden Schaubildern bereits dadurch deutlich, dass der auf Grundlage der BMF-Schätzungen berechnete Verstetigungseffekt wegen Geringfügigkeit kaum sichtbar ist. Die durchgezogene Linie der nachfolgenden Grafen stellt das tatsächlich vereinnahmte Gewerbesteueraufkommen dar, und zwar in zwei beispielhaft aus-

__________ 48 Vgl. Nachweise in Fn. 31. 49 Vgl. Statistisches Bundesamt, Finanzen und Steuern, Gewerbesteuer, Fachserie 14 Reihe 10.2 (1998, 2001, 2004). Neben den zahlungswirksamen gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen weist die Gewerbesteuerstatistik in ungefähr gleicher Höhe auch solche von Gewerbebetrieben ohne positiven Gewerbeertrag aus. Fraglich ist, ob diese Hinzurechnungsbeträge ebenfalls bei den Aufkommenswirkungen von § 8 Nr. 1 GewStG zu berücksichtigen sind bzw. im Finanztableau zur Unternehmensteuerreform 2008 (vgl. Fn. 31) berücksichtigt wurden. Für eine Einbeziehung auch dieser Hinzurechnungsbeträge spricht, dass sie den Aufbau gewerbesteuerlicher Verlustvorträge mindern und Verlustbetriebe somit schneller zu Gewerbesteuerzahlern werden sollten. Gegen eine jedenfalls vollumfängliche Berücksichtigung lässt sich anführen, dass ein signifikanter Anteil der Hinzurechnungsbeträge auf Gewerbebetriebe entfallen dürfte, die nicht wieder in positive Gewerbeerträge und damit die Steuerpflicht hineinwachsen (Konkurs- bzw. Dauerverlustbetriebe). Hierfür spricht z. B., dass das Verhältnis von Hinzurechnungsbeträgen zu Gewinnen aus Gewerbebetrieben, die über einen positiven Gewerbeertrag verfügen, mit 5,5 % bzw. 8 % in 2001 bzw. 2004 deutlich höher liegt als das entsprechende Verhältnis bei sämtlichen Gewerbebetrieben (jeweils rund 13 %). Ein erheblicher Anteil der Hinzurechnungsbeträge scheint somit in dauerhaft defizitären Gewerbebetrieben zu entstehen und folglich nie aufkommenswirksam zu werden.

800

Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

gewählten Konjunkturzyklen, nämlich 1996 bis 2003 sowie 2004 bis 2009. Die jeweils unterste Linie zeigt im Vergleich die Entwicklung der Gewerbesteuereinnahmen, die sich bei einem ersatzlosen Verzicht auf die 25 %ige Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand i. S. v. § 8 Nr. 1 GewStG ergeben hätte. Hierzu wurde das jeweils tatsächlich erzielte Gewerbesteueraufkommen um € 1,235 Mrd. unter der vereinfachenden Annahme gemindert, dass der Aufkommenseffekt aus der Hinzurechnung nicht nur im Konjunkturverlauf konstant ist, sondern auch in den 90er Jahren dem für 2008 geschätzten Niveau entsprach. Den eigentlich relevanten Teil der Schaubilder stellt die gepunktete Linie dar bzw. deren – faktisch kaum vorhandener – Abstand zum tatsächlich erzielten Gewerbesteueraufkommen. So zeigt diese Linie die Entwicklung der Gewerbesteuereinnahmen auf, die sich bei einem Ersatz der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung durch eine aufkommensneutrale Anpassung des Gewerbesteuertarifs, d. h. eine entsprechende Anhebung der Gewerbesteuermesszahl oder des durchschnittlichen Hebesatzes ergeben hätte. Als Ausgangsjahr wurde insoweit jeweils ein konjunkturneutraler Erhebungszeitraum gewählt, nämlich 1997 für den Konjunkturzyklus 1996 bis 2003 sowie 2006 für 2004 bis 2009. In diesen Referenzjahren entspricht das hypothetische Gewerbesteueraufkommen damit den tatsächlich erzielten Gewerbesteuereinnahmen – in konjunkturell guten Zeiten liegt es minimal darüber, in schlechten Zeiten gilt das Gegenteil. Ein Unterschied zwischen dem tatsächlichen Gewerbesteueraufkommen und den hypothetischen Einnahmen, die unter Verzicht auf die Hinzurechnung, bei Anwendung eines entsprechend höheren Gewerbesteuertarifs erzielt worden wären, existiert faktisch nicht. So ist ein Raum zwischen der durchgezogenen und der gepunkteten Linie überhaupt nur bei einer Skalierung erkennbar, die einen Bruchteil des gesamten Gewerbesteueraufkommens abdeckt (jeweils zweite Grafik), und auch hier allenfalls in den konjunkturellen Spitzen. Genau in nur diesem geringen Ausmaß verliert die Gewerbesteuer aber an Stetigkeit, wenn die Abschaffung der Hinzurechnung – z. B. aus Vereinfachungsgründen – nicht von einer entsprechenden (minimalen) Anpassung der Hebesätze im Konjunkturverlauf begleitet wird. Dies bedeutet, dass eine Gewerbesteuer ohne Hinzurechnungen faktisch ebenso (bzw. ebenso wenig) konjunkturstabil ist wie die gegenwärtige Gewerbesteuer mit § 8 Nr. 1 GewStG. In Zahlen ausgedrückt, die auch in den nachfolgenden vier Schaubildern dargestellt sind, bedeutet dies: Selbst bei dem 25 %igen Einbruch der Gewerbesteuer in 2009 ggü. dem konjunkturneutralen Jahr 2006 bzw. 30 %-Rückgang ggü. dem Boomjahr 2008 hätte die konjunkturbedingte Mindereinnahme lediglich ein zusätzliches Prozent betragen. Bei dem weit typischeren Gewerbesteuerrückgang in 2002 (um 5 % ggü. dem konjunkturneutralen 1997 und um 13 % ggü. dem Boomjahr 2000) wäre das Aufkommen nur im Promillebereich reduziert worden, nämlich um 0,3 % bzw. € 73 Mio. von € 23,5 Mrd. Diese Zahlen entsprechen dem Produkt aus Tariferhöhung und Gewinnänderung und hätten jeweils durch eine Hebesatzanpassung um 4 bzw. 2 %-Punkte auf 418 % statt 801

Christian Dorenkamp

414 % bzw. 423 % statt 421 % (bei 400 % mit Hinzurechnungen) verhindert werden können, vgl. zur Berechnung Abschn. 2.a). Modellrechnung Basis Aufkommenssicherung 2006 Quelle GewSt Aufkommen: Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrats Wirtschaft

40.000

35.000

30.000

in Mio. €

25.000

20.000

15.000

10.000

5.000

0 2004

GewSt Aufkommen

2005

2006

GewSt Aufkommen o Hinzurg.

2007

2008

2009*

GewSt Aufkommen o Hinzurg. mit modifiziertem Hebesatz

Modellrechnung Basis Aufkommenssicherung 2006 Quelle GewSt Aufkommen: Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrats Wirtschaft

41.000

39.000

in Mio. €

37.000

35.000

33.000

31.000

29.000

27.000 2004

GewSt Aufkommen

802

2005

2006

GewSt Aufkommen o Hinzurg.

2007

2008

2009*

GewSt Aufkommen o Hinzurg. mit modifiziertem Hebesatz

Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

Modellrechnung Basis Aufkommenssicherung 1997 Quelle GewSt Aufkommen: Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrats Wirtschaft

30.000

25.000

in Mio. €

20.000

15.000

10.000

5.000

0 1996

1997

1998

GewSt Aufkommen

1999

GewSt Aufkommen o Hinzurg.

2000

2001

2002

2003

GewSt Aufkommen o Hinzurg. mit Hebesatz neu

Modellrechnung Basis Aufkommenssicherung 1997 Quelle GewSt Aufkommen: Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrats Wirtschaft

28.000

27.000

in Mio. €

26.000

25.000

24.000

23.000

22.000 1996

1997

GewSt Aufkommen

1998

1999

GewSt Aufkommen o Hinzurg.

2000

2001

2002

2003

GewSt Aufkommen o Hinzurg. mit Hebesatz neu

c) „Rote Null“-Fälle in Gesamtschau ebenfalls unwesentlich Was für den Verstetigungseffekt der Hinzurechnungstatbestände insgesamt gilt, nämlich seine Unwesentlichkeit, lässt sich auch auf die Anzahl der gewinnlosen Gewerbebetriebe übertragen, die erst durch die Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand in eine Steuerzahlerposition geraten (sog. „Rote-Null“Betriebe). So ist nicht erkennbar, warum der Anteil der Hinzurechnungsbeträge 803

Christian Dorenkamp

an der gesamten gewerbesteuerrelevanten Bemessungsgrundlage lediglich 3 % – so die Schätzungen des BMF zur Unternehmensteuerreform 200850 – oder auch z. B. 10 % beträgt, die relative Anzahl der „Rote-Null“-Betriebe, die allein aufgrund ertragsunabhängiger Elemente einen positiven Gewerbeertrag ausweisen, d. h. weder über Gewinne noch über ausreichend hohe Verluste verfügen, aber signifikant höher sein sollte. Damit dürfte sich auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Verteilung dieser „Grenzbetriebe“ auf die Vielzahl der Gemeinden nicht zwingend gleichverteilt, sondern in einigen Kommunen konzentrierter sein mag, ein wesentlicher Aufkommenseffekt für einzelne Gemeinden bei einem Verzicht auf § 8 Nr. 1 GewStG ausschließen lassen. Insbesondere ist das Niveau, auf das die Gewerbesteuereinnahmen konjunkturbedingt zurückgehen, weit von dem „Sockel“ aus der Hinzurechnung entfernt, ab dem eine Abschaffung von § 8 Nr. 1 GewStG womöglich haushaltskritisch würde. So betrug das Gewerbesteueraufkommen selbst im Krisenjahr 2009 € 29 Mrd., während die Einnahmen aus der Hinzurechnung für 2008 auf nur € 1,2 Mrd. geschätzt wurden.51 Bei diesen Zahlenverhältnissen sollte auch für einzelne Gemeinden nicht zu befürchten sein, dass ihr Gewerbesteueraufkommen in konjunkturellen Schwächephasen wesentlich von „Rote-Null“-Betrieben abhängt bzw. die Gewerbesteuerlasten, das objektive Nettoprinzip achtend, nicht unter Verschonung dieser Verlustbetriebe ausgeteilt werden könnten. Bei allen anderen Gewerbebetrieben aber profitiert der Steuergläubiger faktisch aufkommensneutral von einer korrespondierenden Anhebung der Steuermesszahl und damit des Gewerbesteuertarifs, die eine Abschaffung von § 8 Nr. 1 GewStG begleiten würde. Somit erweist sich die Verstetigungsthese in Ermangelung zumindest ihrer Wesentlichkeit nicht nur im Hinblick auf die Gesamtheit der Kommunen, sondern auch bezüglich der einzelnen Gemeinden als ungeeignet, die gewerbesteuerliche Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand zu rechtfertigen. Verfehlt wäre es vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis übrigens, die gewerbesteuerliche Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand mit einer Erschwerung der „Abwanderung von Steuersubstrat“ begründen zu wollen, nämlich der Minderung des Steuervorteils von „Gewinnverlagerungen ins Ausland“52. Hierfür stehen mit dem Angemessenheitsgrundsatz des Außensteuergesetzes („at arm’s length“) sowie den Gesellschafterfremdfinanzierungsregelungen des § 8a KStG a. F. bzw. der Zinsschranke gem. §§ 4h EStG; 8a KStG n. F. ertragsteuerliche Spezialvorschriften zur Verfügung, die aus steuersystematischer

__________

50 Vgl. Fn. 31. 51 Ausweislich der Gewerbesteuerstatistik 2004 entfielen zudem nur 8,8 % der aufkommensrelevanten Hinzurechnungsbeträge auf Gewerbebetriebe, die einen Gewerbeertrag von bis zu € 48.000 € erzielten, d. h. knapp über der Gewinnschwelle lagen und damit tendenzielle „Rote-Null“-Fälle sind, vgl. Statistisches Bundesamt (Fn. 49). Für die nachfolgende Gewerbeertragsgruppe, die bis € 250.000 reicht, werden 16,4 % ausgewiesen. 52 So aber Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 27.3.2007, BTDrucks. 16/4841, 31.

804

Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung durch Hinzurechnungen

Sicht ihrerseits einen Missbrauchsbezug voraussetzen, nämlich die Gesellschafterdarlehen oder eine im Gruppenvergleich übermäßige Fremdfinanzierung im Inland53, dann aber auch für Gewerbesteuerzwecke gelten.

IV. Fazit Der (vermeintliche) Verstetigungseffekt aus der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand spielt in der politischen Diskussion um die ertragsunabhängigen Elemente der Gewerbesteuer – und damit auch um die Gewerbesteuer selbst – eine erhebliche Rolle. Das Bild einer Feuerwehr, die in konjunkturell schwierigen Zeiten oder bei Verlustunternehmen womöglich nicht löschen kann, ängstigt ebenso wie die These zunächst überzeugt, dass eine Belastung gewinnunabhängiger Elemente das Steueraufkommen glättet. Diese These hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. So konnte gezeigt werden, dass ein Verstetigungseffekt bei Betrachtung absoluter Steuermindereinnahmen gar nicht existiert (mit der Folge eines unverändert hohen Konsolidierungsdrucks in Krisenzeiten). Aus relativer Sicht, die auch eine aufkommensneutrale Erhöhung des Gewerbesteuertarifs würdigt, von der die Abschaffung von § 8 Nr. 1 GewStG begleitet würde, ist ein Verstetigungseffekt zwar theoretisch zu konstatieren, der jedoch auch unter Beachtung des Nettoprinzips konzipiert werden kann und zudem nur unwesentlich ist. So können zum einen jegliche Minder- oder Mehreinnahmen im Vergleich zum Status Quo durch (minimale) Anpassungen des Hebesatzes im Konjunkturverlauf vermieden werden. Zum anderen sind die Aufkommenswirkungen vernachlässigenswert gering, wenn z. B. aus Vereinfachungsgründen auf Hebesatzanpassungen verzichtet wird. Die Mindereinnahmen betragen z. B. 0,6 % des Gewerbesteueraufkommens und bewegen sich damit im Promillebereich, wenn der Aufkommensanteil der gewerbesteuerlichen Hinzurechnungen mit 5 % und der konjunkturbedingte Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen mit 10 % angenommen wird, jeweils im Lichte der vom BMF geschätzten gegenwärtigen Besteuerungsrealitäten nebst Sicherheitszuschlag. Zur aufkommensneutralen Abschaffung von § 8 Nr. 1 GewStG würde eine Anhebung des durchschnittlichen Hebesatzes von z. B. 400 % auf 421,1 % genügen, konjunkturbedingte Mindereinnahmen aus der Abschaffung der Aufwandshinzurechnung wären bei einer (vorübergehenden) Erhöhung auf 423,5 % ausgeschlossen. Während ein Verzicht auf die Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand, der von einer zwar aufkommensneutralen, jedoch das Nettoprinzip achtenden Erhöhung des Gewerbesteuertarifs begleitet würde, für die Gemeinden als Steuergläubiger damit keine oder zumindest allenfalls unwesentliche Konsequenzen hätte, lässt sich dieses Ergebnis unglücklicherweise nicht auf die einzelnen

__________ 53 Vgl. dazu Dorenkamp, Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung im Steuerrecht, DStJG 34 (2011), Gl.-Pkt. VI.

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Christian Dorenkamp

Gewerbesteuerpflichtigen übertragen. Da hier das „Gesetz der großen Zahl“54 nicht gilt, d. h. das ausgleichende Moment einer Durchschnittsbildung über mehrere Gewerbebetriebe fehlt, kann die Aufwandshinzurechnung trotz insgesamt nur unwesentlicher Aufkommenseffekte im Einzelfall wesentliche Verletzungen des objektiven Nettoprinzips bewirken sowie substanzverzehrend sein, nämlich in Abhängigkeit vom jeweiligen individuellen Finanzierungsaufwand und Vorsteuerergebnis. Dass sich die Betroffenen hierbei nicht einmal mit dem Gedanken trösten können, ihr gewinnunabhängiges und infolgedessen vermutlich gleichheitssatzwidriges Sonderopfer trage zur Verstetigung der Gemeindefinanzen und damit der Einsatzbereitschaft der Feuerwehr auch in konjunkturell schlechten Zeiten bei, lässt ihre Lage umso misslicher erscheinen.

__________ 54 Stochastisch gilt, dass der Einfluss einer zufälligen Verteilung eines Ereignisses (hier die Zusammensetzung der gewerbesteuerlichen Bemessungsgrundlage aus ertragsabhängigen und ertragsunabhängigen Elementen, d. h. aus Gewinn und Finanzierungsaufwand im Einzelfall) um so geringer wird, je größer die Zahl der Grundgesamtheit ist. Weiterführend z. B. Mosler/Schmid, Wahrscheinlichkeitsrechnung und schließende Statistik, 3. Aufl. 2008.

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Überpreis und Teilwertabschreibung Inhaltsübersicht I. Einführung II. Erstes Beispiel: Überpreis aus privater Veranlassung III. Zweites Beispiel: Überpreis wegen unterschiedlicher Zwecke der Anschaffung 1. Überpreisanteil als Betriebsausgabe? 2. Überpreis und Teilwertvermutung 3. Widerlegung der Teilwertvermutung 4. Keine Teilwertabschreibung, weil der Zweck des Kaufs erreicht wurde? IV. Drittes Beispiel: Überpreis und Preisverfall 1. Teilwert grundsätzlich kein Durchschnittspreis

2. Ein Überpreis kann ein Marktpreis sein 3. Unterschiedliche Teilwertabschreibung des „normalen“ und des Überpreisanteils durch den BFH 4. Keine Sonderbehandlung des Überpreisanteils V. Viertes Beispiel: Überpreis als Fehlmaßnahme 1. Fehlmaßnahme 2. Keine Fehlmaßnahme, wenn der Überpreis bewusst gezahlt wurde? 3. Abschreibung auf einen Durchschnittswert als Teilwert? VI. Zusammenfassung

Joachim Lang kenne ich seit der Zeit, in der wir an den Seminaren unseres gemeinsamen Doktorvaters Klaus Tipke teilnahmen. Abgesehen von den Begegnungen auf Fachveranstaltungen haben wir uns Jahre später in einem Arbeitskreis Steuerreform wieder getroffen, zu dem Friedrich Merz nach Berlin eingeladen hatte. In der folgenden Zeit organisierte die Stiftung Marktwirtschaft die Vorbereitung einer systematischen Steuerreform. Joachim Lang übernahm den Vorsitz des Arbeitskreises Einkommensteuer/Abgabenordnung, zu dem auch ich gehörte. Das war nicht zuletzt dank seiner behutsamen Leitung eine schöne Zeit. Joachim Lang war in vielen Bereichen des Steuerrechts tätig, darunter dem Bilanzsteuerrecht. Eine kleine Frage aus diesem Gebiet soll hier mit Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag behandelt werden.

I. Einführung Es geht um den zutreffenden Bilanzansatz von Wirtschaftsgütern des Anlageoder Umlaufvermögens, für die ein ungewöhnlich hoher Preis, ein sog. Überpreis, gezahlt wurde. Auch diese Wirtschaftsgüter werden grundsätzlich gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG bzw. § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten aktiviert. Das scheint mir gelegentlich problematisch. Darüber hinaus gestatten § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 und 4 EStG sowie § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG dem Steuerpflichtigen den Ansatz des nied807

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rigeren Teilwerts nur, wenn er nachweist, dass der Teilwert auf Grund einer voraussichtlich dauernden Wertminderung niedriger ist als die Anschaffungsoder Herstellungskosten1. Diese Einschränkungen vertragen sich schwer mit dem handelsrechtlichen Vorsichtsprinzip, besonders dem Imparitätsprinzip (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB), sowie dem Grundsatz der Bilanzwahrheit2. Denn Sinn der Teilwertregelung ist, den Steuerpflichtigen nur entsprechend dem Wert seines Betriebsvermögens zu belasten3. Schließlich stellt sich bei der Ermittlung des zutreffenden Teilwerts noch ein praktisches Problem: Bei einem Wirtschaftsgut, für das ein zu hoher Preis gezahlt worden ist, kann sich bei der Teilwertabschreibung ein hoher laufender Aufwand ergeben, wenn dabei der „Überpreis“ auf einen „normalen“ Preis oder Wert korrigiert wird. Dagegen wehrt sich die Finanzverwaltung, und die Rechtsprechung ist ihr seit den dreißiger Jahren in vielen Entscheidungen im Wesentlichen gefolgt. Im Folgenden soll diese Rechtsprechung in Frage gestellt werden. Das Thema wird der Anschaulichkeit halber anhand von Beispielen behandelt werden; für die dann nicht ganz vermeidbaren Wiederholungen und Verweisungen bitte ich um Nachsicht. In den Beispielen werden immer Kaufleute auftreten, die ihren Gewinn nach § 5 EStG oder § 4 Abs. 1 EStG ermitteln. Um den vorgegebenen Rahmen nicht zu sprengen, beschränke ich mich auf die Anschaffung von Grundstücken. Doch zunächst zum Begriff „Überpreis“4. Er bleibt vage, ebenso wie der zweite Begriff, auf den es hier ankommt: der Teilwert. Ein guter Teil der Probleme hat darin seinen Grund. Ein Überpreis also ist ein Kaufpreis, der „über dem im Geschäftsverkehr erzielbaren Preis“ liegt5, oder der das zwischen fremden Dritten übliche Entgelt überschreitet6, „ein über dem normalen Marktpreis (Wiederbeschaffungspreis) liegender Aufwand“7, „ein über den gemeinen Wert erheblich hinausgehender Betrag“8 oder ein über dem Verkehrswert liegender Preis9. Damit scheint die Bezugsgröße der Marktpreis oder Verkehrswert zu sein. Gelegentlich ist es aber auch der Bodenrichtwert10. Meistens spricht der

__________ 1 Bilanzierende Steuerpflichtige sind aufgrund des § 5 Abs. 1 EStG verpflichtet, den niedrigeren Teilwert anzusetzen, BFH v. 5.5.2004 – XI R 43/03, BFH/NV 2005, 22; im Einzelnen Ehmcke in Blümich, EStG/KStG, § 6 EStG Rz. 562 ff. 2 Dazu Weber-Grellet, Bilanzsteuerrecht, 10. Aufl., S. 31. 3 BFH v. 16.7.1968 – GrS 7/67, BStBl. II 1969, 108, zu III.3. 4 BFH v. 9.3.1951 – IV 243/50 U, BStBl. III 1951, 122, spricht von „erhöhten“ Preisen und „Überpreisen“. 5 RFH v. 16.12.1936 – VI A 587/35, RStBl. 1937, 106. 6 BFH v. 11.12.2001 – VIII R 58/98, BStBl. II 2002, 420 = FR 2002, 516 m. Anm. Kempermann. 7 BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420, verwendet dieses Wort im Zusammenhang mit Kosten der Schnellbauweise. 8 BFH v. 4.1.1962 – I 22/61 U, BStBl. III 1962, 186, betr. Grundstück. 9 BFH v. 16.2.2007 – VIII B 26/06, BFH/NV 2007, 1113, zu II.1., betr. Grundstück. 10 BFH v. 21.3.1995 – IV B 95/94, BFH/NV 1996, 211; vgl. auch BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294 = FR 2002, 626.

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Überpreis und Teilwertabschreibung

BFH allerdings nur von einem „überhöhten“11 oder „ungewöhnlich hohen“ Kaufpreis12. Offen bleibt, ob er erheblich über dem Bezugswert liegen muss. „Überpreis“ kann der gezahlte Preis insgesamt oder aber nur der Teil des Preises bedeuten, der über den „normalen“ Preis hinausgeht13 (im Folgenden: Überpreisanteil). Für die Bezeichnung als Überpreis spielt es zunächst keine Rolle, warum er so hoch ist. Für seine steuerrechtliche Behandlung ist dies aber von entscheidender Bedeutung. Das zeigt bereits das folgende Beispiel.

II. Erstes Beispiel: Überpreis aus privater Veranlassung A erwirbt ein Grundstück mit einer Berghütte. Er zahlt dafür einen Liebhaberpreis, weil eine der Kammern der Hütte mit zwei Fresken seines Großvaters F. Marc geschmückt ist14. Der Verkäufer weiß das und treibt den Preis in die Höhe. A stellt die erworbene Hütte einschließlich der Kammern den Angestellten seines Sportgeschäfts als Erholungsheim zur Verfügung. Er will die Hütte mit dem vollen Kaufpreis aktivieren. Das Beispiel hat nur scheinbar nichts mit dem Thema dieses Beitrags zu tun. Allerdings geht es hier nicht um eine Teilwertabschreibung, sondern um die Aktivierung mit den zutreffenden Anschaffungskosten gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Der Erwerb beruhte zum Teil auf persönlichen und zum Teil auf betrieblichen Gründen. Persönliche Gründe waren für die Bereitschaft ausschlaggebend, einen Preis zu zahlen, der über dem üblichen Preis für eine derartige Berghütte lag. Deshalb stellt sich zunächst die Frage, ob Grundstück und Hütte überhaupt aktiviert werden können. Sie ist zu bejahen, denn die Hütte, die grundsätzlich nur den Arbeitnehmern des A zur Verfügung steht, gehört zu dessen Betriebsvermögen, die Aufwendungen dafür sind betrieblich veranlasst15, die Fresken sind zivilrechtlich und steuerrechtlich Bestandteil der Hütte, §§ 93, 94 Abs. 2 BGB16. Andererseits können nicht betrieblich veranlasste Aufwendungen den Gewinn, auch über AfA, nicht mindern. Das heißt, soweit der Preis aus privaten Grün-

__________ 11 BFH v. 12.8.1998 – IV B 4/98, BFH/NV 1999, 305; v. 13.7.1967 – IV 138/63, BStBl. II 1968, 11; der RFH sprach meistens von „erhöhten Preisen“, z. B. RFH v. 30.8.1932 – A 2231/31, RStBl. 1933, 30. 12 BFH v. 16.12.1981 – I R 131/78, BStBl. II 1982, 320 = FR 1982, 253; so bereits der RFH v. 26.6.1935 – VI A 475/34, RStBl. 1933, 30. 13 BFH v. 16.2.2007 – VIII B 26/06, BFH/NV 2007, 1113, zu II.1. 14 Die Fresken des Großvaters haben allerdings, anders als die seines Namensvetters, keinen Marktwert. 15 Zum Veranlassungsprinzip bei Anschaffungskosten vgl. BFH v. 3.5.1967 – I 70/64, BStBl. III 1967, 463; ferner Stobbe in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 6 EStG Anm. 280; vgl. auch BFH v. 9.4.1997 – I R 20/96, BStBl. II 1997, 539 = FR 1997, 641 zu Aufwendungen für Ferienhäuser als Betriebsausgaben. 16 Vgl. Holch in Münchner Kommentar, § 94 BGB Rz. 33 betr. eingelassene Wandbilder m. N.

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den gezahlt wurde, kann er nicht aktiviert werden17. Bereits der RFH hat entschieden, dass der Kaufpreis um die Kosten zu mindern ist, die aus persönlicher Liebhaberei aufgewendet wurden18. Der zivilrechtlich vereinbarte Kaufpreis ist in diesen Fällen aufzuteilen in einen betrieblich veranlassten Teil – die Anschaffungskosten gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG; § 255 Abs. 1 HGB – und einen privat veranlassten Teil. Dies geschieht im Wege der Schätzung (§ 162 Abs. 1 AO). Die Anschaffungskosten sind zu aktivieren, der private Teil des vereinbarten Preises ist als Entnahme zu behandeln19. So hat die Rechtsprechung auch in anderen Fällen den vereinbarten Kaufpreis aufgeteilt20. Ergebnis: Der Überpreis ist aufzuteilen. Nur der betrieblich veranlasste Teil der Anschaffungskosten ist zu aktivieren, der privat veranlasste Teil ist als Entnahme zu behandeln.

III. Zweites Beispiel: Überpreis wegen unterschiedlicher Zwecke der Anschaffung A erwirbt ein Grundstück für einen Preis, der höher ist als die Verkehrswerte der umliegenden Grundstücke. Er zahlt den überhöhten Preis, weil von diesem Grundstück ein seinen Betrieb sehr störender Lärm ausgeht. Der Verkäufer nutzt die Zwangslage des A aus und treibt den Preis hoch. A will zum nächsten Bilanzstichtag eine Teilwertabschreibung auf den Verkehrswert vornehmen. 1. Überpreisanteil als Betriebsausgabe? A hätte das Grundstück nicht erworben, wenn der Lärm nicht seinen Betrieb beeinträchtigt hätte. Um weiteren Schaden zu verhüten, war er bereit, für das Grundstück mehr zu zahlen, als seinem Markt- oder Verkehrswert21 entsprach. Dieses Mehr hätte er für das Grundstück ohne den Lärm nicht gezahlt, das Mehr entspricht dem, was er für die Beseitigung des Lärms zu zahlen bereit war. Dass er dieses Ziel nur durch den Erwerb des Grundstücks erreichen konnte, verknüpfte zwar die Zahlungen, nicht aber die Gründe für die Zah-

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17 Vgl. Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 6 Rz. B 370; das ergibt sich indirekt auch aus dem Grundsatz, dass eine Teilwertabschreibung nicht möglich ist, soweit der Preis durch private Gründe veranlasst ist, BFH v. 12.8.1998 – IV B 4/98, BFH/NV 1999, 305, m. w. N. 18 RFH v. 25.9.1929 – VI A 1085/28, StuW II 1929 Nr. 977, zitiert nach BFH v. 25.10. 1972 – GrS 6/71, BStBl. II 1973, 79, zu IV.2. 19 FG München v. 27.1.2004 – 6 V 3630/03, a. E., Haufe-Index 1123244. 20 Z. B. bei verdeckten Gewinnausschüttungen, FG Hess. v. 12.2.2003 – 4 K 3858/00, EFG 2004, 292; FG München v. 27.1.2004 – 6 V 3630/03, Haufe-Index 1123244; verdeckten Entnahmen, BFH v. 11.12.2001 – VIII R 58/98, BStBl. II 2002, 420 = FR 2002, 516 m. Anm. Kempermann; Einlagen, FG Sachs. v. 28.5.2003 – 2 K 1615/00, HaufeIndex 1053104. 21 Im Folgenden werden die Bezeichnungen „Marktwert“, „Marktpreis“, „Verkehrswert“ als synonym verwendet.

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Überpreis und Teilwertabschreibung

lung. Die Ziele blieben verschieden und trennbar. Trennbar bleibt auch der Gesamtpreis, der Überpreis, denn er besteht aus einem normalen und einem über dem Normalen liegenden Anteil des Kaufpreises. Frage ist, wie sich dies in der steuerlichen Behandlung auswirkt. Dafür scheint mir entscheidend zu sein, ob der Zweck des Überpreisanteils mit seiner Zahlung erreicht war oder ob mit der Zahlung eine Wirkung in der Zukunft bezweckt war. Im ersteren Fall müsste die Ausgabe sofort abziehbar sein, richtigerweise als Betriebsausgabe, zur Not in Form der Teilwertabschreibung22. Im zweiten Fall wäre der Überpreisanteil zu aktivieren, sei es gesondert, evtl. mit dem Geschäftswert, oder als Teil der Anschaffungskosten des Grundstücks. Die Voraussetzungen der zweiten Alternative sind hier m. E. nicht gegeben. Hier erledigt sich nämlich mit dem Erwerb des Grundstücks eines der Ziele der Anschaffung sofort, die Ausgabe des Überpreisanteils hat ihren Zweck erfüllt. Der Lärm hört auf, ein normaler Zustand tritt ein. Das ist kein in die Zukunft andauernder Vorteil, denn das Ende des lauten Lärms, der Wegfall eines besonderen Nachteils also, ist ebenso wenig ein (aktivierbarer) Vorteil wie der Eintritt des Normalzustandes als solcher. Anders vielleicht, wenn selbst der normale Lärm den Betrieb z. B. eines Sanatoriums behindern würde und mit dem Erwerb des Grundstücks die Lärmfreiheit auch in Zukunft gesichert wäre. Diese ungewöhnliche Ruhe wäre auf Dauer ein besonderer Vorteil für den Betrieb23. Hätte A hier dagegen, statt das Grundstück zu kaufen, dem Nachbarn einen Betrag gezahlt und damit das Ende des Lärms endgültig erreicht, hätte er diesen Betrag wohl als Betriebsausgabe geltend machen können24. So sollte es auch hier sein. Bei der steuerrechtlichen Würdigung der gesamten Zahlung sollte der Überpreisanteil als gesonderte Betriebsausgabe behandelt und das Grundstück nur mit dem auf ihn entfallenden Kaufpreisanteil aktiviert werden25. Der BFH hat das bisher mit nicht sehr überzeugenden Gründen abgelehnt. Zwar hat der BFH im Urteil vom 26.6.2007 entschieden26, ob Aufwendungen Anschaffungskosten für bestimmte WG sind, bestimme sich nach der Zweckrichtung der Aufwendungen und nach dem erklärten Willen der Vertragsparteien. Er erkennt auch an, dass der Aufwand insofern „nicht mit dem unmittelbaren Interesse an dem Eigentum … verknüpft ist“27. Gleichwohl ver-

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22 Dazu s. unten zu V. 23 Aktivierung beim Geschäftswert wäre denkbar, wenn der Kaufpreis kein Marktpreis wäre, dazu IV. Drittes Beispiel, zu 2.; vgl. aber BFH v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/ NV 2008, 347, Aktivierung beim Geschäftswert abgelehnt bei Erwerb zu einem Überpreis, um einen Konkurrenten auszuschalten. 24 Vgl. BFH v. 3.5.1967 – I 70/64, BStBl. III 1967, 463, betrieblich veranlasster Überpreis als Betriebsausgabe bei Betriebsbeginn; obiter dictum in BFH v. 4.1.1962 – I 22/61 U, BStBl. III 1962, 186, zu einem etwas anderen Sachverhalt: wenn der Betrag gesondert gezahlt worden wäre, hätte er evtl. aktiviert und abgeschrieben werden können. 25 Zur korrespondierenden Behandlung des Grundstücks s. unten zu 4. 26 BFH v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/NV 2008, 347, zu II.1.a). 27 BFH v. 4.1.1962 – I 22/61 U, BStBl. III 1962, 186; zur finalen Determinierung bei Anschaffungskosten s. Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG § 6 Rz. B 25.

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neint er eine Aufteilung des Kaufpreises, weil es sich zivilrechtlich und „damit grundsätzlich auch steuerrechtlich um einheitlich zu beurteilende Aufwendungen zum Erwerb des Grundstücks“ handele28. Diese sehr formale zivilrechtliche Wertung wird dem Sachverhalt nicht gerecht. Wie im ersten Beispiel dargestellt, gibt es zahlreiche Fälle, in denen ein Kaufpreis unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten aufgeteilt und die Teile unterschiedlich behandelt werden. Es bleibt lediglich die praktische Frage der Aufteilung des Gesamtpreises, der allerdings nach Ansicht des BFH „beachtliche Schwierigkeiten entgegenstehen“29. Auch das scheint mir wenig überzeugend30. In den genannten Fällen wird sie durch Schätzung, § 162 Abs. 1 AO, vollzogen, die gerade bei Grundstücken keine größeren Probleme bereiten dürfte31. Im Übrigen setzt die Behauptung, ein Überpreis sei gezahlt worden, bereits einen Vergleich und eine Aufteilung in Normal- und Überpreis voraus. Mit der Weigerung, den Kaufpreis aufzuteilen, wird das Problem nur verschoben. Im Grunde wurde ein zu hoher Wert aktiviert. Wenn der Steuerpflichtige versucht, den Wert nachträglich durch eine Teilwertabschreibung zu korrigieren, sperrt sich die Verwaltung auch dagegen. Die Rechtsprechung gibt der Verwaltung grundsätzlich Recht. 2. Überpreis und Teilwertvermutung Bereits der RFH32 aber auch ihm folgend der BFH33 haben eine Teilwertabschreibung abgelehnt, wenn der Steuerpflichtige aus einer Zwangslage heraus einen ungewöhnlich hohen Preis gezahlt hatte. Eine Differenz zwischen Anschaffungskosten und Teilwert bestehe am Bilanzstichtag nicht. Zu dieser Schlussfolgerung ist die Rechtsprechung nicht aufgrund der Ermittlung des konkreten Teilwerts zum Bilanzstichtag gekommen, sondern viel-

__________ 28 BFH v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/NV 2008, 347, zu II.1.b)bb); ähnlich BFH v. 7.11.1985 – IV R 7/83, BStBl. II 1986, 176 = FR 1986, 236; v. 20.5.1988 – III R 151/86, BStBl. II 1989, 269 = FR 1988, 528 zu 1.b): keine Betriebsausgaben; v. 16.2. 2007 – VIII B 26/06, BFH/NV 2007, 1113. 29 BFH v. 4.1.1962 – I 22/61 U, BStBl. III 1962, 186. 30 Im Urteil BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420, lässt der BFH bei einer überteuerten Maschine eine Teilwertabschreibung auf den „normalen Marktpreis (Wiederbeschaffungspreis)“ zu; vgl. auch BFH v. 3.5.1967 – I 70/64, BStBl. III 1967, 463, Überpreis als Betriebsausgabe bei Betriebsbeginn; v. 16.12.1981 – I R 131/78, BStBl. II 1983, 130, m. w. N., zur Aufteilung Grundstück und Gebäude; v. 16.12.1981 – I R 131/78, BStBl. II 1982, 320 zur Aufteilung bei Überpreisen. 31 Vgl. z. B. zur Behandlung von Gebäudeteilen EStH 2008, H 4.2; R 7.1; H 4.4; vgl. im Übrigen IV. Drittes Beispiel. 32 Z. B. RFH v. 26.6.1935 – VI A 475/34, RStBl. 1935, 1496, Zwangslage; v. 16.12.1936 – VI A 587/35, RStBl. 1937, 106, um den Verkauf an Dritte zu verhindern; anders, wenn die Zwangslage nicht mehr besteht: RFH v. 30.8.1932 – VI A 2231/31, RStBl. 1933, 30, Zwangslage, um Konkurrenzbetrieb zu verhindern. 33 Z. B. BFH v. 4.1.1962 – I 22/61 U, BStBl. III 1962, 186, und noch BFH v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/NV 2008, 347, zu II.2.b).

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Überpreis und Teilwertabschreibung

mehr aufgrund einer auf der Lebenserfahrung beruhenden Vermutung34, wonach der Teilwert eines für das Betriebsvermögen erworbenen Gegenstandes seinen Anschaffungskosten entspricht35. Diese Vermutung gilt auch dann, wenn der Kaufpreis wie hier ungewöhnlich hoch ist36, „weil der Steuerpflichtige auch in diesem Fall nur so viel aufwendet, wie das Wirtschaftsgut für den Betrieb wert ist“37. Sie setzt allerdings voraus, dass der Überpreis insgesamt aus betrieblichen Gründen gezahlt worden ist38. Die Begründung des BFH spricht für die Übereinstimmung von Anschaffungskosten und Teilwert im Zeitpunkt des Erwerbs39 und kurz danach40. Bei nicht abnutzbaren Wirtschaftsgütern geht der BFH allerdings von der Geltung der Vermutung „für die folgenden Bilanzstichtage“ aus41. Das scheint mir bedenklich, denn es gibt keine Lebenserfahrung, wonach sich der aktivierte Wert bei nicht abnutzbaren Wirtschaftsgütern über eine längere Zeit nicht nach (oben oder) unten bewegt42. Einer solchen Vermutung widerspricht auch die Aussage des BFH, wonach sich der Teilwert „zu einem späteren Zeitpunkt mit den Wiederbeschaffungskos-

__________ 34 Vgl. BFH v. 21.3.1995 – IV B 95/94, BFH/NV 1996, 211, zu 1.b); v. 7.11.1990 – I R 116/86, BStBl. II 1991 342; ähnlich bereits RFH v. 7.9.1928 – VI A 724, StuW 1928, Nr. 810; v. 30.8.1932 – VI A 2231/31, RStBl. 1933, 30: Vermutung, dass der Preis aus kaufmännischen Erwägungen gezahlt und daher für den Betrieb angemessen sei. 35 St. Rspr. z. B. BFH v. 25.10.1972 – GrS 6/71, BStBl. II 1973, 79, zu IV.2, m. w. N.; so bereits RFH v. 26.6.1935 – VI A 475/34, RStBl. 1935, 1496. 36 BFH v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/NV 2008, 347, m. w. N.; so bereits RFH v. 30.8.1932 – VI A 2231/31, RStBl. 1933, 30, „… es gerade kaufmännische Erwägungen waren …“; v. 16.12.36 – VI A 587/35, RStBl. 1937, 106 „gerade bei hohen Preisen“. 37 BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294. 38 BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294, begründet die Vermutung auch auf die „Betriebsbezogenheit des Teilwertbegriffs, § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG“; unter Hinweis auf den BFH v. 21.3.1995 – IV B 95/94, BFH/NV 1996, 211, zu 1.b) m. w. N.; v. 12.8.1998 – IV B 4/98, BFH/NV 1999, 305: auch bei überhöhten oder erzwungenen Aufwendungen; ebenso BFH, Urt. v. 4.3.1998 – X R 151/94, BFH/NV 1998, 1086, m. w. N. 39 So RFH seit dem Urteil RFH v. 14.12.1927 – VI A 761, StuW 1928 Nr. 78, zu Waren; v. 14.12.1926 – VI A 575/26, RFHE 20, 87; vgl. ferner BFH v. 29.4.1999 – IV R 63/97, BStBl. II 2004, 639 = FR 1999, 906 m. Anm. Weber-Grellet; v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294 = FR 2002, 626 m. Anm. Kanzler beide betr. Grundstück; v. 4.12.1991 – I R 148/90, BStBl. II 1992, 383 = FR 1992, 330 zu II.2. betr. Konzession; v. 31.1.1991 – IV R 31/90, BStBl. II 1991, 627 = FR 1991, 526 betr. Umlaufgüter. 40 Vgl. RFH v. 11.1.1929 – VI A 1515/28, RStBl. 1929, 221; BFH v. 30.11.1988 – I R 114/84, BStBl. II 1990, 117 = FR 1989, 167 zu II.4.bb); v. 13.4.1988 – I R 104/86, BStBl. II 1988, 892 = FR 1988, 476 zu II.3: Die Vermutung gelte umso mehr, je kürzer der Kauf zurückliegt. 41 Z. B. RFH v. 9.2.1938 – VI 739/37, RStBl. 1938, 532; BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294 = FR 2002, 626 m. Anm. Kanzler; v. 12.8.1998 – IV B 4/98, BFH/NV 1999, 305; v. 21.3.1995 – IV B 95/94, BFH/NV 1996, 211; v. 4.12.1991 – I R 148/90, BStBl. II 1992, 383 = FR 1992, 330; v. 7.11.1990 – I R 116/86, BStBl. II 1991 342; vgl. aber BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420, ggf. abzgl. AfA, d. h. Fortdauer der Vermutung auch bei (abnutzbaren) Gebäuden. 42 Vgl. auch unten IV. Drittes Beispiel, zu 3.; eine Lebenserfahrung bejahend BFH v. 21.3.1995 – IV B 95/94, BFH/NV 1996, 211, zu 1.b).

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ten“ deckt43. Das ist zunächst keine Vermutung, sondern eine inhaltliche Bestimmung des Teilwerts im Rahmen einer Schätzung (§ 162 Abs. 1 AO)44. Der BFH lässt aber auch eine Vermutung dafür sprechen, dass der spätere Teilwert den Wiederbeschaffungskosten entspricht45. Sie erscheint mir nicht sinnvoll, denn wenn der Teilwert den Wiederbeschaffungskosten entspricht, läuft die Vermutung, dass der Wert des Wirtschaftsguts seinen Wiederbeschaffungskosten entspricht, darauf hinaus, dass es seinem Teilwert entspricht. Die Vermutung läuft auch deswegen ins Leere, weil nicht feststeht, wie hoch im Einzelfall die Wiederbeschaffungskosten sind, sie müssen erst ermittelt werden. Angesichts der gesetzlichen Nachweispflicht (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG) ist schließlich fraglich, ob eine Vermutung für die „folgenden Bilanzstichtage“ überhaupt noch erforderlich oder sinnvoll ist. 3. Widerlegung der Teilwertvermutung Bisher jedenfalls konnte der Steuerpflichtige die Teilwertvermutung mit dem Nachweis widerlegen, dass der Teilwert als Korrekturwert46 gegenüber den Anschaffungskosten gesunken ist (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 und Nr. 2 Satz 2 EStG)47. Der BFH hat dabei zunächst an die restriktive Rechtsprechung des RFH angeknüpft48, die Möglichkeiten der Widerlegung dann aber erweitert49. Seit dem Urteil des BFH vom 28.10.197650 hat sich die Formel eingebürgert, die Vermutung sei durch den Nachweis widerlegbar, „dass sich entweder die Zahlung als eine Fehlmaßnahme erwiesen hat oder der Wert des Wirtschaftsgutes unter

__________ 43 Z. B. BFH v. 16.12.1981 – I R 131/78, BStBl. II 1982, 320 = FR 1982, 253 zu 2. betr. Grundstück und Gebäude; ausführlicher 3. Beispiel zu a). 44 Vgl. Schmidt/Kulosa, 29. Aufl. 2010, § 6 Rz. 251 ff.; wohl auch Werndl in Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 6 Rz. B 359; 4. Beispiel zu c). 45 BFH v. 29.4.1999 – IV R 63/97, BStBl. II 2004, 639 = FR 1999, 906 m. Anm. WeberGrellet zu 2.a) m. w. N.; v. 31.1.1991 – IV R 31/90, BStBl. II 1991, 627 = FR 1991, 526 zu Umlaufvermögen; v. 7.12.1978 – I R 142/76, BStBl. II 1979, 729; v. 13.10.1976 – I R 79/74, BStBl. II 1977, 540. 46 BFH v. 16.7.1968 – GrS 7/67, BStBl. II 1969, 108, zu III.3. c) cc). 47 So war die Beweislast praktisch bereits vor dieser gesetzlichen Regelung, vgl. RFH v. 30.8.1932 – VI A 2231/31, RStBl. 1933, 30: „allerdings unter Berücksichtigung des im Steuerstreitverfahren geltenden Grundsatzes der amtlichen Ermittlung des Sachverhalts (§ 243 Abs. 1 AO)“ – heute § 88 Abs. 1 AO; § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO; zur Beweislast – Aktivierung mit den AK ist die Regel, Teilwert die Ausnahme – bei der Widerlegung der Vermutung allgemein BFH v. 7.11.1990 – I R 116/86, BStBl. II 1991, 342. 48 Dieser ließ eine Teilwertabschreibung nur zu, wenn der Steuerpflichtige „besondere Umstände (Fehlmaßnahme)“ geltend machen konnte, z. B. RFH v. 16.12.1936 – VI A 587/35, RStBl. 1937, 106; vgl. auch BFH v. 13.7.1967 – IV 138/63, BStBl. II 1968, 11; v. 25.10.1972 – GrS 6/71, BStBl. II 1973, 79, zu IV.2. 49 BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420; ferner BFH v. 13.7.1967 – IV 138/63, BStBl. II 1968, 11; v. 14.2.1956 – I 239/54 U, BStBl. III 1956, 102: bei Sinken des Baukostenindex. 50 BFH v. 28.10.1976 – IV R 76/72, BStBl. II 1977, 73; zuletzt BFH v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/NV 2008, 347.

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den seinerzeit gezahlten und aktivierten Betrag gesunken ist bzw. das Wirtschaftsgut überhaupt nicht mehr vorhanden ist“. Das läuft für die beiden ersten Alternativen zutreffend darauf hinaus, dass eine Teilwertabschreibung zulässig/geboten ist, wenn der Steuerpflichtige nachweist, dass der Teilwert deutlich51 niedriger ist als die aktivierten Anschaffungskosten (s. unten V. Viertes Beispiel, zu 3.). Der Umstand allein, dass ein überhöhter Preis gezahlt wurde, rechtfertigt eine Teilwertabschreibung zu Recht noch nicht52. Es kommt nicht auf die Höhe des Kaufpreises an, sondern auf den Teilwert des Wirtschaftsguts am Bilanzstichtag. 4. Keine Teilwertabschreibung, weil der Zweck des Kaufs erreicht wurde? Aber auch den Nachweis, dass der Teilwert niedriger ist, lässt die Rechtsprechung außer in seltenen Ausnahmen53 nicht gelten. Ähnlich wie der RFH54 hat der BFH55 die Teilwertabschreibung z. B. in einem Fall, in dem ein Grundstück zur Konkurrentenabwehr gekauft wurde, mit der Begründung abgelehnt, dass der Kaufmann nach der Lebenserfahrung für ein WG nur so viel aufwende, wie es für den Betrieb wert sei; es sei nicht festgestellt, dass die mit dem Erwerb verbundenen Erwartungen sich nicht erfüllt hätten. Das ist keine Begründung für den unveränderten Wert des Wirtschaftsguts. Der BFH legt damit vielmehr zum einen dar, dass das Wirtschaftsgut zu Recht mit den Anschaffungskosten aktiviert wurde, darum geht es aber hier nicht mehr. Zum zweiten legt er sinngemäß dar, dass die Anschaffung keine Fehlmaßnahme gewesen sei; auch darum geht es nicht. Dass der mit dem Kauf verbundene Zweck erreicht wurde, kann sich doch nur dann auf den Wert des Grundstücks auswirken, wenn das Erreichen dieses Zwecks dem Grundstück einen dauernden besonderen Wert für den Betrieb verliehen hat. Das ist hier zu verneinen. Der bloße Wegfall eines mit dem Grundstück verbundenen Nachteils ist kein bleibender Vorteil (vgl. oben zu 2.), auch nicht des Grundstücks, von dem der Lärm ausging. Es ist jetzt ein Grundstück wie andere, von denen keine Belästigung ausgeht56. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass ein Erwerber dafür – auch im Rahmen des gesamten Unternehmens – mehr als den Marktpreis zahlen würde57. Anders wäre es z. B. wenn ein Hotelier in Garmisch zu einem Überpreis ein Nachbargrundstück erwürbe, um seinem Hotel den existenzwichtigen Blick auf die Zugspitze zu

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51 BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420, a. E. 52 Vgl. BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294. 53 Z. B. BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420, Kauf einer überteuerten Maschine. 54 S. oben Fn. 29. 55 S. oben Fn. 30. 56 Vgl. BFH v. 6.12.1978 – I R 33/75, BStBl. II 1979, 259, zu 1.a), betr. einen unselbständig gewordenen zu einem Überpreis erworbenen Grundstücksstreifen. 57 Nach dem BFH, Urt. v. 4.1.1962 – I 22/61 U, BStBl. III 1962, 186, lag der Teilwert eines Grundstücks jedoch weit über dem gemeinen Wert, weil sein Erwerb die ungestörte Fortführung des Betriebs ermöglichte.

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erhalten; das würde dem Betrieb auch in Zukunft eine privilegierte Lage sichern und deshalb dem Grundstück einen besonderen Wert verleihen. Anders möglicherweise auch, wenn ein Unternehmer für einen hohen Preis ein Grundstück kauft, das ihm den seltenen Vorteil eines Zugangs zu einem Hafen oder zu Bahngleisen erschließt58. In diesen Fällen wird man allerdings kaum von Überpreisen reden dürfen, weil die Grundstücke auch für andere Betriebe diesen Kaufpreis wert sind und das auch bleiben59 (vgl. unten IV. Drittes Beispiel, zu 2.). Hier dagegen ist die Aufrechterhaltung der Teilwertvermutung ungerechtfertigt. Der BFH unterlässt es letztlich, das allein entscheidende Kriterium zu prüfen, nämlich welchen Wert das Grundstück für den Betrieb am Bilanzstichtag hatte, ob er unter den seinerzeit aktivierten Wert gesunken ist. Darauf kommt es dem BFH jedoch nicht immer an, denn in einem Beschluss von 199560 führt er aus, angesichts der Teilwertvermutung sei unerheblich, dass der Richtwert61 unter dem gezahlten Kaufpreis liege. Ergebnis: Nur der auf das Grundstück entfallende Teil darf aktiviert werden, der Überpreisanteil muss als Betriebsausgabe abgezogen werden; wird er mit dem Grundstück aktiviert, müsste eine Teilwertabschreibung zugelassen werden. Nach der Rechtsprechung des BFH ist das Grundstück jedoch mit dem Überpreis zu aktivieren. Eine spätere Teilwertabschreibung ist nicht möglich. IV. Drittes Beispiel: Überpreis und Preisverfall A hat 1986 Ackerland für 10,80 DM/qm erworben, einem Preis, der 2,05 DM/qm über dem Richtwert für Ackerland in dieser Gegend von 8,75 DM/qm lag. 1990 sind die Grundstückspreise (Richtwerte) auf 6,75 DM/qm gefallen. A nimmt zum Bilanzstichtag 1990 eine Teilwertabschreibung auf 7 DM/qm vor. Über diesen Sachverhalt hat der BFH im Urteil vom 7.2.200262 entschieden; es ist eines der interessantesten zu diesem Thema und scheint eine Wende einzuleiten63. Der BFH hat die Teilwertabschreibung zugelassen und zwar zunächst um den Betrag, um den der Richtwert gesunken war (2 DM). Sodann beim Überpreisanteil um einen Betrag, der dem Verhältnis zwischen altem und neuem Richtwert entsprach. Nach dem zuvor behandelten Beispiel überrascht

__________ 58 Aktivierung des hohen Preises möglicherweise auch bei besonders aufwendiger Bauweise, BFH v. 17.1.1978 – VIII R 31/75, BStBl. II 1978, 335; problematisch bei hohen Kosten wegen Schnellbauweise: BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420. 59 Man wird auch von Marktpreisen sprechen können, wenn der Steuerpflichtige lediglich mehr geboten hat als seine Konkurrenten. 60 BFH v. 21.3.1995 – IV B 95/94, BFH/NV 1996, 211. 61 Zur Frage, ob der Richtwert die geeignete Bezugsgröße ist, s. unten 3. Beispiel. 62 BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294, BFH/NV 2002, 1021, Anm. Kanzler, FR 2002, 628; Paus, DStZ 2002, 567; zustimmend EStH 2008 H 6.7 „Überpreis“. 63 Vgl. Kanzler, FR 2002, 628.

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die Selbstverständlichkeit, mit der der BFH die Teilwertabschreibung grundsätzlich zulässt. Frage ist nur, ob tatsächlich auf den Teilwert abgeschrieben wurde. 1. Teilwert grundsätzlich kein Durchschnittspreis Der Teilwert ist ein objektiver Wert, der von der Marktlage am Stichtag bestimmt wird64. Der BFH hat abweichend von § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG aus Gründen der Praktikabilität65 den späteren Teilwert im Wege der Schätzung zwischen den Wiederbeschaffungskosten66 und dem Einzelveräußerungspreis67 des Wirtschaftsguts angesetzt. Bei Grundstücken decken sich i. d. R. der Teilwert und Verkehrswert oder gemeiner Wert68, auch dann wenn das Grundstück wie hier zum Umlaufvermögen gehört69. Hier stellt der BFH jedoch als Bezugswert für den Teilwert nicht auf den konkreten Verkehrswert des Grundstücks ab, sondern auf den vom Gutachterausschuss ermittelten Richtwert. Von letzterem geht er als dem „ortsüblichen Kaufpreis“ bzw. den „ortsüblichen Wiederbeschaffungskosten“ aus. Das scheint mir bedenklich. Der Bodenrichtwert ist ein Durchschnittspreis, § 196 Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB), der anhand der Kaufpreissammlung, § 195 BauGB, für ein größeres Gebiet, die Richtwertzonen, unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Entwicklungszustands alle zwei Jahre, § 196 Abs. 1 Satz 3 und 5 BauGB, ermittelt wird. Der Bodenrichtwert ist also grundsätzlich etwas anderes als der Verkehrswert (Marktwert), § 194 BauGB, der für ein bestimmtes Grundstück zu einem bestimmten Zeitpunkt ermittelt wird. Allein der Umstand, dass der

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64 BFH v. 29.4.1999 – IV R 63/97, BStBl. II 2004, 639 = FR 1999, 906 m. Anm. WeberGrellet; v. 25.8.1983 – IV R 218/80, BStBl. II 1984, 33 = FR 1984, 72. 65 Vgl. BFH v. 4.12.1956 – I 99/56 U, BStBl. III 1957, 16; v. 11.7.1961 – I 311/60 S, BStBl. III 1961, 462; v. 6.12.1995 – I R 51/95, BStBl. II 1998, 781 = FR 1996, 291 m. w. N.; v. 20.7.1973 – III R 100-101/72, BStBl. II 1973, 794; v. 29.4.1999 – IV R 63/97, BStBl. II 2004, 639 = FR 1999, 906 m. Anm. Weber-Grellet; vgl. auch Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG § 6 B 329. 66 Als Obergrenze BFH v. 13.3.1964 – IV 236/63 S, BStBl. III 1964, 426, zu 1. betr. Warenlager; grundlegend RFH v. 14.12.1926 – VI A 575/26, RFHE 20, 87; v. 14.12.1927 – VI A 802/27, RFHE 21, 309; ferner BFH v. 16.4.1953 – IV 119/52 S, BStBl. III 1953, 192; v. 9.5.1998 – I R 54/97, BStBl. II 1999, 277, zu B.2.; v. 29.4.1999 – IV R 63/97, BStBl. II 2004, 639 = FR 1999, 906 m. Anm. Weber-Grellet zu 2.a) m. w. N.; allg. Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 6 Rz. 359. 67 BFH v. 25.8.1983 – IV R 218/80, BStBl. II 1984, 33 = FR 1984, 72 betr. landwirtschaftliche Grundstücke, das ist praktisch der gemeine Wert oder der Verkehrswert. 68 BFH v. 29.4.1999 – IV R 63/97, BStBl. II 2004, 639 = FR 1999, 906 m. Anm. WeberGrellet; v. 8.9.1994 – IV R 16/94, BStBl. II 1995, 309 = FR 1995, 373; v. 2.2.1990 – III R 173/86, BStBl. II 1990, 497 = FR 1990, 337; v. 25.8.1983 – IV R 218/80, BStBl. II 1984, 33 = FR 1984, 72; Schmidt/Kulosa, § 6 Rz. 271, d. h. besonders bei Grundstücken decken sich i. d. R. Einzelveräußerungspreis und Wiederbeschaffungskosten. 69 BFH v. 17.7.1956 – I 292/55 U, BStBl. II 1956, 379; v. 28.9.1962 – III 372/59 U, BStBl. III 1962, 510; v. 13.3.1964 – IV 236/63 S, BStBl. III 1964, 426: der Marktpreis ist ein Unterbegriff des Wiederbeschaffungswertes; v. 31.1.1991 – IV R 31/90, BStBl. II 1991, 627 = FR 1991, 526.

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Richtwert ein Mittel aus unterschiedlich hohen tatsächlichen Kaufpreisen ist, § 196 Abs. 1 i. V. m. § 195 BauGB, zeigt, dass ein Preis, der über (oder unter) dem Richtwert liegt, durchaus noch ein ortsüblicher Kaufpreis (Marktwert) sein kann, der dem Verkehrswert des Grundstücks entspricht; der Verkehrswert ist also grundsätzlich kein Durchschnittspreis oder -wert70. 2. Ein Überpreis kann ein Marktpreis sein Diese Frage stellt sich hier umso dringlicher, als Finanzamt, FG und BFH davon ausgingen, dass der Kaufpreis ein Überpreis war, der nach der Rechtsprechung steuerrechtlich einer besonderen Behandlung unterliegt. Nach der Lebenserfahrung – so der BFH71 – werden derartige Überpreise bezahlt, weil Mitbewerber zu überbieten sind oder ein zurückhaltender Veräußerer erst eines Anreizes bedarf; ein Aufschlag werde sich dann an den aktuellen Marktpreisen orientieren. Damit beschreiben beide Beispiele im Grunde ein übliches Marktgeschehen. Die eben erwähnten Einzelpreise, die Basis des Richtwerts, § 196 Abs. 1 i. V. m. § 195 BauGB, sind, kommen auch nicht anders zustande. Einen einheitlichen Marktpreis gibt es sowenig, wie es einheitliche Handelsobjekte und Kaufsituationen gibt. So können z. B. die gleichen Kirschen an einem Ende des Marktes mehr kosten als am anderen, trotzdem werden sie auf beiden Seiten zu Marktpreisen angeboten. Der Marktpreis ist also ein synthetischer Begriff, der sehr unterschiedliche konkrete Einzelpreise umfasst. Er ist daher weit zu fassen. Auch erheblich über dem Durchschnitt liegende Preise können also Marktpreise sein (Ausnahme Erstes und Zweites Beispiel). Nur das rechtfertigt auch die Teilwertvermutung bei hohen Anschaffungskosten sowie deren Aktivierung72. Würde man bei Grundstücken grundsätzlich von einem Durchschnittspreis wie dem Richtwert als Verkehrswert (Teilwert) ausgehen, dann müssten bei allen Grundstücken, die mit höheren Anschaffungskosten aktiviert sind, alsbald Teilwertabschreibungen vorgenommen werden73. Es gibt also in der Regel keinen Grund, besonders hohe Anschaffungskosten (einen Überpreis) anders zu behandeln als durchschnittlich hohe Anschaffungskosten. 3. Unterschiedliche Teilwertabschreibung des „normalen“ und des Überpreisanteils durch den BFH Im Beispielsfall verneinte der BFH zunächst unter Hinweis auf die Teilwertvermutung74 eine vollständige Abschreibung des gesamten Preises auf den ge-

__________ 70 71 72 73

Er kann ihm aber in Einzelfall entsprechen, vgl. V. Viertes Beispiel, zu 3. BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294, zu II.1.c). S. oben III. Zweites Beispiel, zu 2. Es ist widersprüchlich, einen Durchschnittspreis aus unterschiedlich hohen Einzelpreisen zu ermitteln und dann alle Preise, die über diesem Durchschnittspreis liegen als „außergewöhnlich hohe“ oder „Überpreise“ zu bezeichnen. 74 BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294, zu II.1. b).

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Überpreis und Teilwertabschreibung

sunkenen Richtwert. Diese Begründung scheint mir problematisch, denn es gibt wie gesagt keine Lebenserfahrung, wonach sich wie hier auch nach vier Jahren ein Wert nicht nach unten bewegt. Die Vermutung behindert zudem den Gegenbeweis gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG75. Er ließ es aber mit dem Hinweis auf die Teilwertvermutung nicht bewenden. Vielmehr erlaubte er eine gesonderte Teilwertabschreibung des Überpreisanteils in dem Verhältnis, das „dem gegenüber dem Anschaffungszeitpunkt gesunkenen Vergleichswert entspricht“, d. h. in dem Verhältnis, in dem die Richtwerte gesunken waren76. Dagegen ist im Ergebnis nichts einzuwenden. Die Frage ist nur, warum er den aktivierten Wert des Grundstücks nicht als Einheit behandelte, sondern aufteilte und die Teile unterschiedlich behandelte. Bei der Aktivierung, § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG, lehnt der BFH zu unrecht (s. oben III. Zweites Beispiel, zu 1.) eine Aufteilung des Überpreises ab, weil auch der Überpreisanteil Teil des Kaufpreises sei und damit zu den Anschaffungskosten gehöre77. Nachdem das Grundstück aber mit seinem gesamten Kaufpreis aktiviert wurde, bietet das Gesetz keine Grundlage mehr für eine gesonderte Behandlung eines Teils seines Wertes78. An die Stelle des Kaufpreises ist allein das aktivierte Wirtschaftsgut getreten, die Bilanz weist dafür nur einen Wert aus. Den Überpreisanteil könnte der BFH nur dann gesondert behandeln, wenn er ihn als vom Grundstück gesondertes WG ansehen würde, gerade das lehnt er aber bei der Aktivierung ab. Die Aufteilung des bilanzierten Wertes steht dazu in Widerspruch. 4. Keine Sonderbehandlung des Überpreisanteils Mir scheint der BFH allerdings im Ergebnis zu Recht eine Abschreibung des aktivierten Kaufpreises auf den niedrigeren Richtwert abzulehnen. Wenn man von dem Kaufpreis (Überpreis) als dem Teilwert im Zeitpunkt der Anschaffung ausgeht79 lag er über dem damaligen Richtwert. Dann ist es nur folgerichtig, beim Sinken des Richtwerts oder eines anderen Bezugswerts80 nur von einer verhältnismäßigen Minderung des konkreten Teilwerts auszugehen. Andernfalls würde man zwar bei der Aktivierung flexibel den tatsächlich gezahlten Preis (Marktpreis) als Teilwert ansehen, bei einer späteren Bewertung im Rahmen der Teilwertabschreibung jedoch die zu unterschiedlichen Preisen

__________ 75 In dem hier behandelten BFH, Urt. v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294, zu I., hatte der Kläger zudem ein Sachverständigengutachten vorgelegt, danach betrug der Wert 1990 6.68 DM/qm. 76 Vgl. BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294, zu II.2. 77 S. oben III. Zweites Beispiel, zu 1. und 2. 78 Vgl. BFH, Urt. v. 6.12.1978 – I R 33/75, BStBl. II 1979, 259, zu 1.b): eine Teilwertabschreibung kann nur von dem Wirtschaftsgut insgesamt vorgenommen werden; ferner BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420; vgl. auch BFH v. 9.2.1977 – I R 130/74, BStBl. II 1977, 412, zur Aufteilung eines Geschäftswerts. 79 Das muss man wohl, denn andernfalls hätte der niedrigere Teilwert angesetzt werden müssen, § 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG. 80 Vgl. BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420: Preisindices.

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erworbenen Grundstücke über den Kamm eines (niedrigen) Durchschnittspreises als Teilwert scheren. Im Grunde würde damit der Teilwertvermutung bei der Aktivierung der Boden entzogen. Gerade bei hohen Anschaffungskosten müsste dies regelmäßig zu unangemessenen Abschreibungen führen. Auf einen Durchschnittswert kann m. E. nur dann abgeschrieben werden, wenn die Faktoren, die zu einem überhöhten Preis geführt haben, eindeutig festgestellt sind und man schätzungsweise vom Durchschnittspreis als Teilwert ausgehen kann (dazu s. V. Viertes Beispiel, zu 3.). In unserem Beispiel wäre also die Abschreibung einmal vom Gesamtpreis und dann insgesamt nur im Verhältnis der Minderung der Richtwerte, d. h. 8.75 zu 6.75, angemessen – so wie sie der BFH gesondert beim Überpreisanteil vorgenommen hat. Im Ergebnis laufen hier beide Berechnungsmethoden auf das Gleiche hinaus81, die Sonderbehandlung des Überpreises war also hier überflüssig. Das Gesagte gilt für die vom BFH gewählte Art der Schätzung des Teilwerts; die Frage der Aufteilung des Überpreises würde sich wohl auch für den BFH nicht stellen, wenn zum Bilanzstichtag der individuelle Verkehrswert (Teilwert) des Grundstücks ermittelt würde. Ergebnis: Die Teilwertabschreibung ist in dem vom BFH festgesetzten Rahmen geboten. Sie orientiert sich zu Recht an den gesunkenen Richtwerten. Nicht gerechtfertigt ist die Aufteilung des ausschließlich betrieblich veranlassten Kaufpreises in einen Überpreisanteil und den „normalen“ Preisanteil.

V. Viertes Beispiel: Überpreis als Fehlmaßnahme A erwirbt von einem Landwirt ein Grundstück zu einem Preis, der deutlich über dem für die umgebenden landwirtschaftlichen Flächen liegt. A lässt sich hochtreiben, weil er und der Landwirt damit rechnen, dass das Grundstück demnächst als Bauland ausgewiesen wird82 und er es dann zu einem sehr viel höheren Preis weiterveräußern kann. a) Es stellt sich heraus, dass A beim Kauf falsch informiert war. b) Die Information war zutreffend, die Gemeinde hat aber ihre Absicht nach dem Kauf endgültig aufgegeben. A begehrt eine Teilwertabschreibung auf den durchschnittlichen Wert landwirtschaftlicher Grundstücke.

__________ 81 Teilwertabschreibung lt. BFH: 1. Schritt: vom „marktgerechten“ Teil des Preises, also 8.75, sind 2 DM abzuschreiben (Differenz zwischen ursprünglichen – 8.75 – und neuem Richtwert – 6.75). 2. Schritt: Abschreibung vom Überpreis i. H. v. 2.05 um (8.75: 6.75 = 23 % =) 0.47 DM; gesamte Abschreibung also (2 + 0.47 =) 2.47 DM; hier vorgeschlagene Alternative: 10.80 – (8.75: 6.75 =) 23 % = 2.48 DM. 82 Und damit im Wert steigt, vgl. BFH v. 4.12.1986 – IV R 162/85, BFH/NV 1987, 296.

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Überpreis und Teilwertabschreibung

1. Fehlmaßnahme Nach der Rechtsprechung des RFH83 und des BFH84 ist bei einer Fehlmaßnahme eine Teilwertabschreibung möglich und bei Steuerpflichtigen, die ihren Gewinn nach § 5 EStG oder § 4 Abs. 1 EStG ermitteln, verpflichtend85. Eine Fehlmaßnahme ist die Anschaffung eines Wirtschaftsguts des Anlageoder Umlaufvermögens, „wenn sein wirtschaftlicher Nutzen bei objektiver Betrachtung deutlich hinter dem für den Erwerb getätigten Aufwand zurückbleibt und demgemäß dieser Aufwand so unwirtschaftlich war, dass er von einem gedachten Erwerber des gesamten Betriebs im Kaufpreis nicht honoriert würde“86, oder kürzer: Wenn „beim Erwerb erkennbar von bestimmten in der Zukunft zu erwartenden Umsätzen und Gewinnen ausgegangen wurde und sich diese Hoffnungen nicht erfüllt haben“87. Hier hat A sich verspekuliert, seine Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Der Kauf war eine Fehlmaßnahme, denn das Grundstück hat den erhofften Wert nicht erreicht. Unerheblich ist m. E., ob sich nur der Käufer oder ob sich auch der Verkäufer oder andere Bieter (Konkurrenten) geirrt haben. Es kommt allein darauf an, ob der Teilwert zum Bilanzstichtag niedriger ist. Unerheblich ist ferner, ob die Anschaffung von vornherein88 eine Fehlmaßnahme gewesen ist – Alternative a – oder ob sie sich durch die spätere Entwicklung89 als verfehlt erweist – Alternative b90. Dementsprechend kann in unserem Beispiel der Teilwert des Grundstücks entweder bereits beim Erwerb oder erst nach der Entscheidung der Gemeinde nicht mehr den Anschaffungskosten entsprochen haben. Entscheidend ist allein, ob das der Fall ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Falls die Parteien von falschen Vorstellungen ausgegangen sind oder falls die Gemeinde später ihre Pläne änderte –

__________ 83 Z. B. RFH v. 9.2.1938 – VI 739/37, RStBl. 1938, 532. 84 St. Rspr. z. B. BFH, Urt. v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420; v. 25.10.1972 – GrS 6/71, BStBl. II 1973, 79, zu IV.2., m. w. N.; v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/NV 2008, 347. 85 Das Grundstück ist auf Dauer weniger Wert als der gezahlte Kaufpreis, § 6 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Nr. 1 Satz 3 EStG, § 5 Abs. 1 EStG, § 253 Abs. 3 und 4 HGB. 86 Vgl. z. B. BFH v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/NV 2008, 347; v. 4.3.1998 – X R 151/94, BFH/NV 1998, 1086; v. 13.3.1991 – I R 83/89, BStBl. II 1991, 595 = FR 1991, 358 zu 2.b)bb); v. 17.9.1987 – III R 201/84, III R 202/84, BStBl. II 1988, 488, zu 1. 87 BFH v. 9.2.1977 – I R 130/74, BStBl. II 1977, 412, zu 2.b); ferner v. 17.9.1987 – III R 201/84, III R 202/84, BStBl. II 1988, 488 = FR 1988, 225 zu 1.a) zur Unrentierlichkeit eines einzelnen Wirtschaftsguts. 88 BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420; v. 13.3.1991 – I R 83/89, BStBl. II 1991, 595 = FR 1991, 358 zu 2.b)bb). 89 BFH v. 17.9.1987 – III R 201/84, III R 202/84, BStBl. II 1988, 488 = FR 1988, 225 zu einer überdimensionierten Maschine; v. 5.2.1988 – III R 229/84, BFH/NV 1988, 432; v. 26.6.2007 – IV R 71/04, BFH/NV 2008, 347; v. 25.6.1985 – VIII R 274/81, BFH/NV 1986, 22, zu 5.b): Änderung des Bebauungsplans. 90 Vgl. auch EStH 2008, R 6.7: Fehlmaßnahme von Anfang an, Fehlmaßnahme aufgrund geänderter Umstände, Wiederbeschaffungskosten sind unter den vermuteten Teilwert gesunken.

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in beiden Fällen war/wurde der Teilwert des Grundstücks am Bilanzstichtag niedriger als sein aktivierter Kaufpreis91. Wenn der Irrtum bereits im Zeitpunkt der Aktivierung, also alsbald nach Abschluss des Kaufvertrags offenbar war, stellt sich die Frage, ob das Grundstück nicht bereits mit diesem niedrigeren Wert hätte aktiviert92 und der Überpreisanteil sofort als Aufwand hätte berücksichtigt werden müssen. Diese Frage kann hier offen bleiben, weil bereits zum ersten Bilanzstichtag nach der Anschaffung eine Teilwertabschreibung geboten ist. 2. Keine Fehlmaßnahme, wenn der Überpreis bewusst gezahlt wurde? A hat den überhöhten Preis bewusst geboten, er war sich möglicherweise sogar über das Risiko im Klaren. Das hindert die Teilwertabschreibung m. E. nicht. Der BFH hat allerdings die Ansicht geäußert93, dass eine Fehlmaßnahme nicht gegeben sei, wenn der Steuerpflichtige den Überpreis bewusst gezahlt habe. Wie sich aber aus dem in Bezug genommenen Urteil ergibt94, sind damit die Fälle gemeint, in denen der Steuerpflichtige mit dem Erwerb einen Nebenzweck verfolgt (dazu 2. Beispiel zu d), davon kann hier nicht die Rede sein. Im Übrigen ist fraglich, was der objektive Teilwert mit der Frage zu tun hat, ob ein Preis bewusst (bewusst wessen?) oder nicht bewusst gezahlt wurde. Selbst wenn ein Risiko bewusst in Kauf genommen wurde, kann dies m. E. eine Teilwertabschreibung nicht hindern, sofern es aus betrieblichen Gründen geschah95; im anderen Fall s. oben 1. Beispiel. 3. Abschreibung auf einen Durchschnittswert als Teilwert? Wie hoch der Teilwert am Bilanzstichtag ist, kann nur durch Schätzung ermittelt werden (§ 162 Abs. 1 AO)96. Dabei geht die Rechtsprechung im Wege der Schätzung grundsätzlich davon aus, dass der Teilwert den Wiederbeschaffungskosten und diese bei einem Grundstück seinem Verkehrswert entsprechen97. Die Ermittlung des Verkehrswerts im konkreten Fall ist also auch eine Schätzung.

__________ 91 Zur Änderung des Bebauungsplans vgl. BFH v. 25.6.1985 – VIII R 274/81, BFH/NV 1986, 22, zu 5.b). 92 Vgl. aber Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG § 6 Rz. 46 a. E.: muss mit den Anschaffungskosten aktiviert werden. 93 Vgl. BFH v. 13.7.1967 – IV 138/63, BStBl. II 1968, 11; wohl auch Schmidt/Kulosa, EStG, 29. Aufl. 2010, § 6 Rz. 246. 94 BFH v. 4.1.1962 – I 22/61 U, BStBl. III 1962, 186, Zahlung des hohen Preises aus einer Zwangslage heraus; vgl. auch BFH v. 26.8.1958 – I 80/57 U, BStBl. III 1958, 420, keine Fehlmaßnahme, wenn der Zweck erreicht ist; dazu oben III. Zweites Beispiel, zu 4. 95 Vgl. BFH v. 12.8.1998 – IV B 4/98, BFH/NV 1999, 305. 96 BFH v. 25.8.1983 – IV R 218/80, BStBl. II 1984, 33 = FR 1984, 72. 97 Z. B. BFH, Urt. v. 29.4.1999 – IV R 63/97, BStBl. II 2004, 639 = FR 1999, 906 m. Anm. Weber-Grellet unter 2.a); vgl. allgemein oben IV. Drittes Beispiel, zu 1.

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Überpreis und Teilwertabschreibung

Den Nachweis, dass der Teilwert niedriger ist als die gezahlten Anschaffungskosten, hat A zu erbringen98, d. h. er hat die Tatsachen vorzutragen und nachzuweisen, aus denen sich ergibt, wie hoch der Teilwert – hier gleich Verkehrswert – ist. Die Teilwertvermutung99 darf den Nachweis m. E. weder erschweren noch gar verhindern, denn mehr als den Nachweis verlangt das Gesetz nicht. Für den Nachweis eignen sich hier z. B. die Aussage des Verkäufers und der Beschluss der Gemeinde. Schon der ungewöhnlich hohe Kaufpreis ist mangels anderer Gründe ein Indiz für Spekulation. A muss m. E. nicht nachweisen, dass er sich geirrt und verspekuliert hat. Das ist zwar hilfreich, entscheidend allein ist aber die Differenz zwischen aktiviertem Kaufpreis und Verkehrswert am Bilanzstichtag, § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG, § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG. In diesem Beispiel ist ein bestimmter Grund dafür angegeben, warum der Kaufpreis so ungewöhnlich hoch war. Ein weiterer Anhaltspunkt dafür, warum A einen überdurchschnittlichen Preis geboten hat oder der Verkäufer einen solchen hätte verlangen können, ist nicht festgestellt. Im dritten Beispiel war der hohe Preis dagegen durch ungewöhnliche Nachfrage oder sonstige Umstände des Marktes zustande gekommen, bei denen nicht auszuschließen war, dass sie ihren Grund in wertbildenden Eigenschaften des Grundstücks hatten (s. dort zu 3.). Daher könnte man hier in einer gröberen aber einfacheren Schätzung z. B. vom Richtwert – einem durchschnittlichen Wert also – als Verkehrswert und damit Teilwert ausgehen100. Damit beantwortet sich auch die letzte Frage, ob bei der Abschreibung gemäß dem BFH-Urteil v. 7.2.2002101 (Drittes Beispiel, zu 3.) der Kaufpreis zunächst aufzuteilen ist in den „normalen“ Preis und den Überpreisanteil mit der Folge, dass die Teilwertabschreibung nur vom Überpreisanteil vorzunehmen wäre. Aber nach welchen Maßstäben sollte das geschehen? Der Umfang der Teilwertabschreibung ist durch die Differenz zwischen gezahltem Preis und Marktpreis am Bilanzstichtag bestimmt. Eine Aufteilung des Preises wäre nicht nur rechtswidrig, sondern auch sinnlos. Eine Abschreibung auf einen höheren Wert als den Marktpreis – eine verhältnismäßige Abschreibung des Überpreisanteils – wäre zudem nach dem vorher Gesagten keine Abschreibung auf den Teilwert.

VI. Zusammenfassung 1. Ist die Anschaffung eines Wirtschaftsguts zum Teil privat veranlasst, zählt der (geschätzte) privat veranlasste Teil des Kaufpreises nicht zu den zu akti-

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98 § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG ist hier wohl nicht unmittelbar anzuwenden. Der Nachweis obliegt dem Steuerpflichtigen aber in jedem Fall, vgl. oben III. Zweites Beispiel, zu 3. 99 S. oben III. 2. und 3. 100 Vgl. BFH v. 8.9.1994 – IV R 16/94, BStBl. II 1995, 309 = FR 1995, 373 zu 2.; zur Ermittlung des Grundstückswerts s. BFH, Urt. v. 2.2.1990 – III R 173/86, BStBl. II 1990, 497 = FR 1990, 337 zu 2.b). Die individuellen Verhältnisse des zu bewertenden Grundstücks sind aber zu berücksichtigen, dazu Ernst-Zinkhahn-Bielenberg, BauGB, § 196 Rz. 18; vgl. ferner §§ 13 f. WertVO und oben IV. Drittes Beispiel, zu 1. 101 BFH v. 7.2.2002 – IV R 87/99, BStBl. II 2002, 294.

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vierenden Anschaffungskosten i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG. Der Umstand, dass der gesamte Preis zivilrechtlich als Kaufpreis bezeichnet ist, hindert die Aufteilung nicht (zu II. Erstes Beispiel). 2. Wird ein Grundstück nur erworben, um die von diesem Grundstück ausgehende Störung des Betriebs, z. B. durch außergewöhnlichen Lärm zu beenden, und wird dabei ein Kaufpreis gezahlt, der über dem üblichen Marktpreis liegt, dann ist der Preis aus zwei Gründen gezahlt worden. Nur der übliche Marktpreis ist zu aktivieren, der Überpreisanteil ist als Betriebsausgabe abzuziehen (zu III. Zweites Beispiel). Ist dagegen mit dem Erwerb ein dauernder besonderer Vorteil erlangt, ist der Überpreisanteil entweder gesondert oder als Teil der Anschaffungskosten des Grundstücks zu aktivieren. 3. Der Umstand, dass der betriebliche Zweck erreicht wurde, dessentwegen der ungewöhnlich hohe Kaufpreis gezahlt wurde, kann eine Teilwertabschreibung ebenso wenig hindern (zu III. Zweites Beispiel, zu 4.), wie der Umstand, dass der hohe Preis bewusst gezahlt wurde (zu V. Viertes Beispiel, zu 2.). Voraussetzung der Teilwertabschreibung ist allein die nachgewiesene Differenz zwischen aktiviertem Kaufpreis und Teilwert am Bilanzstichtag. 4. Auch ein ungewöhnlich hoher Preis für ein Grundstück ist grundsätzlich ein Marktpreis, der dem Verkehrswert (Teilwert) des Grundstücks entspricht, sofern er aus betrieblichen Gründen gezahlt wurde. Nur das rechtfertigt die Teilwertvermutung und infolgedessen die Aktivierung mit den hohen Anschaffungskosten (zu IV. Drittes Beispiel, zu 2.). 5. Daraus folgt, dass bei der späteren Prüfung, ob die aktivierten Anschaffungskosten bzw. der Buchwert dem Teilwert entsprechen, als Teilwert nicht ohne weiteres ein Durchschnittspreis, z. B. der Richtwert, zugrunde gelegt werden darf. Die Veränderungen eines solchen Durchschnittspreises können aber bei der Schätzung des Teilwerts als Maßstab für die Veränderung des aktivierten Wertes dienen (zu IV. Drittes Beispiel, zu 3. und 4.). 6. Bei einer Fehlspekulation (Fehlmaßnahme) bestimmt sich der Umfang der Teilwertabschreibung nach der Differenz zwischen dem gezahlten und aktivierten Kaufpreis einerseits und dem durchschnittlichen Marktpreis am Bilanzstichtag (zu V. Viertes Beispiel, zu 3.) andererseits, wenn es außer der Spekulation keine sonstigen Gründe für die Zahlung des hohen Preises gibt. 7. Soweit mit einem überhöhten Kaufpreis nicht ein privater Zweck verfolgt (s. oben zu 1.) oder verschiedene trennbare betriebliche Ziele verwirklicht werden (s. oben zu 2.), besteht für die Sonderbehandlung des Überpreisanteils bei der Teilwertabschreibung weder ein Bedürfnis noch eine rechtliche Grundlage. Nach der Aktivierung des Wirtschaftsguts mit dem Kaufpreis verliert der Kaufpreis seine Bedeutung; der Wert des Wirtschaftsguts kann nicht mehr aufgeteilt und die Teile gesondert behandelt werden.

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3. Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht Jens Peter Meincke

‚Steuerfreie‘ Schenkungen Inhaltsübersicht I. Drei Wege zur Entlastung des Beschenkten II. Der zivilrechtliche Hintergrund der Entlastung III. Entlastung durch Zuwendung des erforderlichen Steuerbetrags IV. Entlastung durch Steuerübernahme V. Entlastung durch Zahlung auf die eigene Steuerschuld

VI. Die Inanspruchnahme des Schenkers bei Zusage der Steuerübernahme VII. Zivilrechtliche Anforderungen an die Zusage der Steuerübernahme VIII. Steuerliche Konsequenzen einer Zusage der Steuerübernahme IX. Voraussetzungen für das Entstehen der erhöhten Steuer aus der Steuerübernahme

I. Drei Wege zur Entlastung des Beschenkten Zum Zusammenspiel von Zivilrecht und Steuerrecht hat Joachim Lang sich in der Einführung zu den Grundlagen der Steuerrechtsordnung geäußert, mit denen er das von Klaus Tipke begründete und von ihm (in Zusammenarbeit mit Johanna Hey und Roman Seer und weiteren angesehenen Mitautoren) fortgeführte, zu Recht berühmte und aus dem Universitätsunterricht nicht mehr fort zu denkende Lehrbuch zum Steuerrecht1 beginnt. Ein besonders verwickeltes und bisher wohl auch noch nicht ganz zu Ende durchdachtes Kapitel dieses Zusammenspiels tritt bei steuerfreien Schenkungen hervor. Von ihm soll im Folgenden die Rede sein. Als ‚steuerfrei‘ kann man Schenkungen bezeichnen, die dem Erwerber zugute kommen, ohne dass er dafür selbst mit Schenkungsteuer belastet wird. Zu einer solchen Steuerfreiheit kann der Schenker dem Beschenkten verhelfen, wenn er die Steuer auf seine Rechnung nimmt. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Will der Schenker A, um ein entsprechendes Beispiel zu bilden, seinem Freund B 1 Mio. € ‚steuerfrei‘ zur Verfügung stellen, kann er nach geltendem Recht drei Wege wählen. 1. A kann dem B zusätzlich zu den ihm zugedachten 1 Mio. € den Betrag überweisen, den er aufwenden muss, um die Schenkungsteuer zu entrichten.

__________ 1 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 1 Rz. 16 ff.

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Damit B nach Steuerzahlung 1 Mio. € behält, muss A ihm 1 420 000 € überlassen. Nach Abzug des Freibetrages von 20 000 € sind dann 1 400 000 € zu versteuern. Bei einem Steuersatz von 30 % ergibt das einen Steuerbetrag von (1 400 000 x 0,30 =) 420 000 €. Nach Abzug dieses Betrages verbleiben dem B 1 Mio. €. A muss dem Geschenk von 1 000 000 € also 420 000 € zur Steuerzahlung hinzufügen. Das wäre der erste Weg. 2. A kann aber auch die Steuer für B übernehmen. Er muss dann die Steuer für 1 Mio. € zzgl. des auf 1 Mio. € entfallenden Steuerbetrages an das Finanzamt zahlen. Auf 1 Mio. € entfallen nach Abzug des Freibetrages (1 000 000 – 20 000 = 980 000 x 0,30 =) 294 000 €. A muss also die Steuer für (1 000 000 + 294 000 =) 1 294 000 € an das Finanzamt entrichten, das sind unter Abzug des Freibetrages (1 294 000 – 20 000 = 1 274 000 x 0,30 =) 382 200 €. Diesen Betrag aufzuwenden, wäre der sich A anbietende zweite Weg. 3. Ist B trotz der Zuwendung des A mittellos geblieben, weil er das Geld zur Abdeckung von Schulden verwenden musste, kann A darauf vertrauen, dass er vom Finanzamt selbst für die Schenkungsteuer in Anspruch genommen wird. In diesem Fall beläuft sich seine eigene Steuerschuld auf (1 000 000 – 20 000 = 980 000 x 0,30 =) 294 000 €. Auch durch diese Zahlung wird B von jeder Belastung dem Finanzamt gegenüber frei. Dieses Vorgehen wäre dann der dritte Weg, der A zur Verfügung steht. Blickt man auf die genannten Zahlen, so wird deutlich, dass A für die Zuwendung, die er dem B ‚steuerfrei‘ verschaffen will, mal 1 420 000 €, mal 1 382 200 € und mal 1 294 000 € aufwenden muss. Wie sind diese unterschiedlichen Zahlen zu erklären?

II. Der zivilrechtliche Hintergrund der Entlastung Um die unterschiedliche Behandlung zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass in der Entlastung des Beschenkten von der auf den Erwerb entfallenden Steuer in aller Regel eine freigebige Zuwendung des Schenkers an den Beschenkten gesehen wird. Das Schenkungsteuerrecht wendet sich wegen der Steuerzahlung in erster Linie an den Beschenkten, weil „der Zuwachs an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, die der Erwerber erfährt, Ziel und Rechtfertigung der Besteuerung ist“2. Zwar sieht das Gesetz auch den Schenker selbst als steuerpflichtig an (§ 20 Abs. 1 Satz 1 ErbStG). Nach dem Grundgedanken der Schenkungsteuer als Bereicherungsteuer3 soll die Steuerlast aber in erster Linie den Beschenkten treffen. Mit gutem Grund sieht denn auch § 10 Abs. 8 ErbStG das dort normierte Abzugsverbot nur für die „vom Erwerber zu entrichtende“ Schenkungsteuer vor. Die aus der Steuer erwachsende wirtschaftliche Belastung wird wie selbstverständlich nur mit dem Erwerber in Verbindung gebracht.

__________ 2 Begründung zum ErbStG 1974, BT-Drucks. 6/3418, 1974, S. 59; bestätigt im ErbStBeschluss des BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BStBl. II 2007, 192, 202 = FR 2007, 338. 3 BFH v. 29.11.1961 – II 282/58 U, BStBl. III 1962, 323; v.1.7.2008 – II R 2/07, BStBl. II 2008, 897 (898) = FR 2009, 246.

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‚Steuerfreie‘ Schenkungen

Die Besteuerung des Schenkers ist dagegen „rein fiskalisch motiviert“4 und rechnet nicht damit, dass der Schenker die Steuer auch im Innenverhältnis zwischen den Vertragspartnern zu tragen hat. Sie will nur das Risiko der fehlenden Erreichbarkeit oder mangelnden Zahlungsfähigkeit des Beschenkten auf den Schenker verlagern. Aus der Sicht des Steuerrechts ist der Schenker daher von Ausnahmefällen abgesehen5 „berechtigt, die von ihm bezahlte Schenkungsteuer vom Beschenkten ersetzt zu verlangen“6, so dass er, wenn er die Steuer zahlt, „Rückgriff gegen den Beschenkten hat“7. Der Beschenkte ist es, auf den die Steuerlast im Verhältnis zwischen Schenker und Beschenktem entfällt. Das gilt jedenfalls dann, wenn man die Zielsetzungen des Steuerrechts ins Auge fasst. Diese Zielsetzungen stehen jedoch, wenn es um das Innenverhältnis von Vertragspartnern geht, im Zweifel nicht im Vordergrund. Für das Innenverhältnis von Vertragspartnern ist vielmehr in erster Linie das Zivilrecht zuständig, das klären muss, wen die durch das Steuerrecht verursachte Belastung letztlich trifft, wer nach Begleichung der Steuer wegen der auf ihn entfallenden Belastung von seinem Vertragspartner Ersatz verlangen kann. Und aus der Sicht des Zivilrechts könnte sich die Lage durchaus abweichend darstellen, wenn man von allgemeinen schuldrechtlichen Grundsätzen aus argumentiert. Denn man kann die Steuer zu den Kosten der Schenkung rechnen. Und in den Motiven zum BGB8 findet sich der Satz, dass es bei den Gesetzesberatungen „insbesondere auch in Ansehung der Schenkung für selbstverständlich erachtet (wurde), dass die Kosten der Erfüllung einer Schuldverpflichtung den Schuldner treffen. Denn wer zu einer Leistung verpflichtet ist, hat auch dasjenige aufzuwenden, was erforderlich ist, um die Leistung zu bewirken“. Dieser Linie, nach der die Kosten der Schenkung auf den Schenker als Schuldner der Versprechensforderung entfallen, weil er den Erwerb veranlasst hat und weil der Beschenkte ohne den Erwerb mit den Kosten nicht belastet wäre9,

__________ 4 Seer in Tipke/Lang (oben Fn. 1), § 13 Rz. 134. 5 Als Beispiel für einen solchen Ausnahmefall erwähnt Gebel in Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG, Stand Juli 2009, § 10 Rz. 72, den Fall der Abgabe einer steuerbefreienden Erklärung nach dem Gesetz vom 23.12.2003, BGBl. I 2003, 2928. Hübner/Maurer, Erbschaft-/schenkungsteuerliche Folgen gesellschaftsvertraglicher Abfindungsbeschränkungen für die verbleibenden Gesellschafter (II), ZEV 2009, 428 (433) geben zu bedenken, ob ein Ausnahmefall auch dann vorliegen kann, wenn ein Gesellschaftsvertrag für den Fall einer gesetzlich unterstellten Schenkung nach § 7 Abs. 7 Satz 3 ErbStG die Steuerlast dem ausscheidenden Gesellschafter zugewiesen hat. 6 Stölzle, Erbschaftsteuergesetz 1925/1931, 2. Aufl. 1932, § 15 Rz. 15. Ähnlich Finger, ErbStG, 4. Aufl. 1932, § 15 Anm. 1. II b, S. 230. 7 Kipp, Kommentar zum Erbschaftsteuergesetz, 1927, § 15 Anm. 54. Moench/Weinmann, ErbStG, Stand Juli 2009, Rz. 33; Meincke, ErbStG, 15. Aufl. 2009, § 10 Anm. 24. 8 Motive zum BGB Band V, 1888, S. 193. 9 Siegemund, Mittelbare Grundstücksschenkung – Vom Schenker übernommene Nebenkosten und Umsatzsteuer, DStR 1993, 1281 (1282).

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hatte sich in einer seiner ersten Entscheidungen zwar auch noch der RFH10 angeschlossen. Doch spricht aus heutiger Sicht – bezogen auf die Schenkung – mehr für die entgegen gesetzte These. Nach ihr will der Schenker dem Beschenkten im Zweifel nur den Zuwendungsgegenstand verschaffen und nicht auch den Erwerbsaufwand11, der vielmehr den Beschenkten trifft und seine durch das Geschenk veranlasste Bereicherung mindert12. Übernimmt der Schenker dennoch die im Zusammenhang mit seinem Geschenk anfallenden Kosten, dann erhöht diese Kostenübernahme zwar nicht den Wert des Geschenks. Die Kostenübernahme schließt aber die durch die Erwerbskosten veranlasste Minderung der Bereicherung des Erwerbers aus13. Soll von einer Minderung der Bereicherung im Einzelfall nicht gesprochen werden, weil das Gesetz, wie im Fall der Schenkungsteuer (§ 10 Abs. 8 ErbStG), die Bereicherungsminderung nicht anerkennt, dann muss die Kostenübernahme auch aus zivilrechtlicher Sicht als eine Werterhöhung der Zuwendung interpretiert werden. Denn der Beschenkte wird durch sie von Verpflichtungen entlastet, die primär ihn treffen. Dass die Kosten primär den Beschenkten treffen, lässt sich aus zivilrechtlicher Sicht nicht zuletzt mit dem Satz begründen, dass derjenige, dem eine Leistung zugute kommt, auch die mit der Leistung verbundenen Nachteile zu tragen hat. So jedenfalls hatte es das Preußische Allgemeine Landrecht14 und hat es noch bis in diese Tage der französische Code Civil15 für den Fall der Vermächtnisleistung vorgesehen. Und so kann man auch heute noch argumentieren, um das unstreitige Ergebnis16 zu begründen, dass die Erben, die mit Rücksicht auf die Nachlasshaftung des § 20 Abs. 3 ErbStG für die Steuer des Vermächtnisnehmers in Anspruch genommen werden, auf zivilrechtlicher Basis vom Vermächtnisnehmer Ersatz ihrer Zahlungen verlangen können. Auch die im preußischen Recht17 noch ausdrücklich normierte und in § 20 Abs. 1 ErbStG als selbstverständlich unterstellte Konsequenz18, dass der Verpflichtete, der eine Zweckauflage zu erfüllen hat, die ihn treffende Steuer aus den dem Zweck gewidmeten Mitteln entnehmen und damit auf den begünstigten Zweck verlagern kann, liegt auf der Linie dieser Zivilrechtsinterpretation. Der Erwerber

__________ 10 RFH v. 14.5.1919 – II A 70/19, RFHE 1, 59, bestätigt durch RFH v. 5.7.1929 – Ve A 438/29, RFH 25, 250. 11 Moench/Weinmann (oben Fn. 7), § 10 Rz. 33; Högl in Gürsching/Stenger, BewG, ErbStG, Stand September 2009, § 10 ErbStG Rz. 48. 12 FG München v. 30.1.1991 – 4 K 10264/86, EFG 1991, 546. 13 Meincke (oben Fn. 7), § 7 Anm. 63. 14 Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, 1794, Teil 1, Titel 12 § 312. 15 Code Civil Art. 1016 Abs. 2. 16 Vgl. dazu Otte in Staudinger, Kommentar zum BGB, Buch 5, 2003, § 2185 BGB Rz. 3; Schlichting in MünchKomm/BGB, Erbrecht, 4. Aufl. 2004, § 2185 Rz. 4. 17 § 8 Abs. 2 Preußisches ErbStG vom 30.5.1873 (Gesetz-Sammlung S. 329) hatte vorgesehen, dass die Steuer auf Zuwendungen oder Leistungen zu gemeinnützigen Zwecken von dem Belasteten zu entrichten ist. Die Steuer, heißt es dann weiter, „kann, wenn dieserhalb keine andere Anordnung getroffen ist, auf die Zuwendung beziehungsweise Leistung selbst angerechnet werden“. 18 Kipp (oben Fn. 7), § 15 Anm. 55; Moench/Kien-Hümbert (oben Fn. 7), § 20 Rz. 11; Meincke (oben Fn. 7), § 8 Anm. 10.

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oder der dem Erwerber gleichgestellte sachliche Zweck sollen die Steuer im Ergebnis tragen. Stellt also der Schenker dem Beschenkten das Geschenk ‚steuerfrei‘ zur Verfügung und verzichtet er auf eine Erstattung der von ihm aufzubringenden oder bereits aufgebrachten Steuer, dann wendet er dem Beschenkten einen der Steuer entsprechenden Vorteil zusätzlich zu19. Weil er keine Gegenleistung für diese Zuwendung erhält, mit der er die Bereicherung des Beschenkten durch das Geschenk bewusst und willentlich erhöht, ist seine Zuwendung auch als freigebig einzustufen.

III. Entlastung durch Zuwendung des erforderlichen Steuerbetrags Diese Erkenntnis führt unmittelbar zu den an erster Stelle genannten Zahlen. Weil es als eine zusätzliche freigebige Zuwendung gilt, wenn A dem B den auf den Erwerb von 1 Mio. € entfallenden Steuerbetrag zur Verfügung stellt, genügt es nicht, wenn A dem B die Steuer zukommen lässt, die für den Erwerb von 1 Mio. € aufzubringen ist, ihm also (1 000 000 – 20 000 = 980 000 x 0,30 =) 294 000 € zusätzlich zu den primär geschenkten 1 Mio. € überweist. Denn wenn A seinem Geschenk von 1 Mio. € den Betrag von 294 000 € hinzufügt, dann hat B im Ergebnis nicht 1 Mio. €, sondern 1 294 000 € erhalten. Die darauf entfallende Steuer beträgt nicht 294 000 € sondern 382 200 €. Waren die Vertragspartner bisher von einer Steuerlast von 294 000 € ausgegangen, muss jetzt bedacht werden, dass noch (382 200 – 294 000 =) 88 200 € zusätzlich an Steuern aufzubringen sind. Ist A bereit, auch für diese Mehrsteuer einzutreten, wird ein weiterer zusätzlicher Steuerbetrag fällig, und zwar für die nun zusätzlich gezahlte Summe. Denn es zeigt sich angesichts dieser Erstattung, dass A dem B insgesamt (1 000 000 + 294 000 + 88 200 =) 1 382 200 € überlassen hat. Die Steuer darauf beträgt (1 382 200 – 20 000 = 1 362 200 x 0,30 =) 408 660 €. Hatte bisher der Betrag von 382 200 € die Berechnungsgrundlage für die von A zu übernehmende zusätzliche Steuer gebildet, so wird nun deutlich, dass B nach dieser dritten Erstattung weitere (408 660 – 382 200) = 26 460 € Schenkungsteuer aufwenden muss. Will A auch diesen Betrag dem B zur Verfügung stellen, erhöht sich die Steuerpflicht des B erneut. Und diese Reihe setzt sich fort, bis 420 000 € erreicht sind. Die zuerst genannte Zahl ergibt sich also als Steuer auf die im Vordergrund stehende Zuwendung von 1 Mio. € zzgl. der Steuer, die auf die für die Zuwendung aufgebrachten und die Bemessungsgrundlage jeweils erhöhenden Erstattungszahlungen entfällt. Man kann im Übrigen zu der an erster Stelle genannten Zahl auch auf dem Wege gelangen, dass man bei einer Zuwendung von 1 Mio. € und einem Steuer-

__________ 19 So schon das Reichsgericht in einer Entscheidung v. 3.1.1911, RGZ 75, 132; vgl. auch RG v. 22.11.1912 – 308/12 VII – Hamburg, JW 1913, 220.

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satz von 30 % den Betrag X aufsucht, der nach Abzug von (X mal 0,30) 1 Mio. ergibt. Das sind, wie oben gezeigt, 1 420 000 €.

IV. Entlastung durch Steuerübernahme Der an zweiter Stelle genannte Steuerbetrag beruht dagegen auf der Bestimmung des § 10 Abs. 2 ErbStG. Dort heißt es: „Hat … der Schenker die Entrichtung der vom Beschenkten geschuldeten Steuer selbst übernommen …, gilt als Erwerb der Betrag, der sich bei einer Zusammenrechnung des Erwerbs nach Abs. 1 mit der aus ihm errechneten Steuer ergibt“. Diese Regelung wurde – damals als § 12 Abs. 2 ErbStG 1925 – mit Gesetz vom 30.6.195120 in das Erbschaftsteuerrecht eingeführt. Sie geht auf einen Erlass des Reichsfinanzministers vom 26.6.194121 zurück, der über 1945 hinaus wirksam geblieben war22. Dieser Erlass wiederum ist vermutlich von Äußerungen inspiriert worden, die sich in dem Kommentar von Kipp23 finden. Kipp hatte gemeint, die Berechnung der auf den Schenker entfallenden Steuer müsse im Fall der Steuerübernahme so vorgenommen werden: „Zunächst wird der Steuerbetrag von dem Wert der Schenkung ohne Rücksicht auf die Steuerbefreiung gesucht. Die danach zu entrichtende Steuer wird gem. § 1324 dem Wert der Schenkung hinzugerechnet. Das Ergebnis darf kein anderes sein, als es auch sein würde, wenn der Schenker zunächst die Schenkung ohne Übernahme der Steuer machen und sodann im Schenkungswege die Steuer für den Beschenkten bezahlen würde“. Dieselbe Ansicht wird auch noch knapp fünfzig Jahre später in dem Kommentar von Troll25 vertreten. Es heißt dort: „Die Berechnung (sc. nach § 10 Abs. 2 ErbStG) führt zum gleichen Ergebnis, wie wenn der Schenker zunächst die Schenkung ohne Übernahme der Steuer gemacht hätte, dann jedoch die verauslagte Steuer nachträglich zahlen würde, so dass beide Zuwendungen nach § 14 ErbStG zusammengerechnet werden müssten“. Beide Autoren – beide zu Recht als Autoritäten auf ihrem Gebiet anerkannt – haben jedoch in ihren Bemerkungen nicht deutlich genug hervorgehoben, dass die Zusammenrechnung von Schenkung und Steuererstattung eine weitergehende Steuer auslöst, die, wenn sie wieder übernommen wird, erneut zu einem erhöhten Steuerbetrag führt. Wenn der Schenker zunächst 1 Mio. € überweist und dann im Schenkungswege die Steuer auf 1 Mio. € (= 294 000 €) für den Beschenkten zahlt, dann ist damit, wie oben gezeigt, die Steuerberechnung noch nicht beendet. Doch gerade die Beendigung der Steuerberechnung an dieser Stelle ohne Rücksicht auf den Umstand, dass die Steuer, die auf die Summe von Schenkung und Steuererstattung entfällt, wiederum erstattet wird

__________ 20 21 22 23 24 25

BGBl. I 1951, 759 (760). RStBl 1941, 461. FR 1948, 1. Kipp (oben Fn. 7), § 12 Anm. 7. Dem § 13 ErbStG 1925 entspricht der heutige § 14 ErbStG. Troll, Erbschaftsteuergesetz, 2. Aufl. 1975, § 10 Rz. 19.

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und damit eine weitergehende Steuerbelastung auslöst, hat die Regelung des § 10 Abs. 2 ErbStG zum Ziel. Die Steuerberechnung durch Summierung der Erstattungsbeträge galt vor Einführung des heutigen § 10 Abs. 2 ErbStG als „schwer“26 oder „äußerst umständlich“27. Sie wurde daher durch eine, wie sich die Gesetzesmaterialien ausdrücken, „der Vereinfachung dienende sachliche Änderung“ in die Bestimmung des geltenden Rechts umgestellt. Danach ist die Zuwendung bei der Steuerberechnung „nur um den Betrag zu erhöhen, der ohne die steuerfreie Gewähr als Steuer in Betracht käme“28. Aus Vereinfachungsgründen sollen nur das Geschenk und der auf das Geschenk entfallende Steuerbetrag zusammengerechnet die Bemessungsgrundlage für die Steuer des Schenkers bilden. Diese Berechnungsweise führt zu einer Begünstigung des Schenkers, der nicht den vollen, auf den Erwerb des Beschenkten entfallenden Steuerbetrag entrichten muss29. Sie bewirkt eine Verringerung der Steuerschuld, die der Gesetzgeber30 seinerzeit als eine nur mäßige Herabsetzung charakterisiert hatte, mit deren Hilfe sich aber, wie Moench31 betont, eine „beachtliche Ersparnis an Schenkungsteuer“ erreichen lässt, die im Einzelfall sogar deutlich mehr als 25 % der an sich verwirkten Steuer betragen kann32 und die für Buciek33 daher ein „Geschenk des Gesetzgebers“ darstellt.

V. Entlastung durch Zahlung auf die eigene Steuerschuld Wie kann es sein, dass A im Fall der Steuerübernahme 382 200 € zusätzlich aufzubringen hat, dann aber, wenn er ohne Steuerübernahmeerklärung in Anspruch genommen wird, nur 294 000 € für die Freistellung des B zahlen muss? Der Grund für diese Steuerfolge liegt darin, dass der Schenker in diesem Fall nicht die Steuerschuld des Beschenkten erfüllt, sondern auf seine eigene Steuerschuld zahlt. Er wendet daher mit seiner Zahlung dem Beschenkten nichts zu, so dass es auch nicht zu einer Erhöhung der Steuerbelastung wegen zusätzlicher Zuwendungen an den Beschenkten kommt. Dennoch bewirkt A als Schenker durch seine Zahlung auch in diesem Fall, dass B von seiner Steuerschuld gegenüber dem Finanzamt freigestellt wird. Doch ist dies eine

__________ 26 27 28 29 30 31

RStBl 1941, 461. BT-Drucks. 1/1575, 14. RStBl 1941, S. 461. Vgl. auch BFH v. 16.1.2002 – II R 15/00, FR 2002, 530 = BFH/NV 2002, 590. BT-Drucks. 1/1575, 14. Moench, Noch einmal: Ersparte Schenkungsteuer durch „Rückerstattung“ der vom Schenker getragenen Steuer?, DStR 1993, 1586. 32 Korezkij, Analyse der Vorteilhaftigkeit einer Übernahme der Schenkungsteuer nach dem neuen Erbschaftsteuertarif, DStR 1998, 784 (788) spricht, bezogen auf die Verhältnisse Ende der neunziger Jahre von einer Abweichung von maximal fast 35 %. Vgl. auch das Beispiel bei Meincke (oben Fn. 7), § 10 Anm. 24a; kritisch zu diesem „ungerechtfertigten Steuerprivileg“: Meyer, Die Freistellungsklausel in § 10 Abs. 2 ErbStG, StuW 2003, 259. 33 Buciek, Gestaltungsüberlegungen zu § 10 Abs. 2 ErbStG, DStR 1990, 228.

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gesetzliche Folge, die nicht auf einer Zuwendung beruht, die ohne jeden Willen zur Freigebigkeit eintritt und die daher auch keine zusätzliche Steuerlast auslöst34. A und B schulden nach § 44 Abs. 1 Satz 1 AO i. V. m. § 20 Abs. 1 Satz 1 ErbStG die Steuerzahlung als Gesamtschuldner. Zahlt einer von zwei Gesamtschuldnern an den Gläubiger den geschuldeten Betrag, wirkt dies, wie § 44 Abs. 2 Satz 1 AO bestätigt, auch gegenüber dem anderen Schuldner. Mit der Zahlung werden daher dem Gläubiger gegenüber beide frei. Der Gläubiger hat erhalten, was er beanspruchen konnte. Nach Zahlung der Schuld durch einen der Gesamtschuldner stehen ihm Ansprüche gegen den anderen Gesamtschuldner nicht mehr zu. Der Ansicht, die eine Zuwendung des Schenkers an den Beschenkten im Fall der Zahlung auf die eigene Steuerschuld verneint, ist neuerdings Szczesny35 entgegen getreten. Aus seiner Sicht muss § 10 Abs. 2 ErbStG auch dann zur Anwendung kommen, wenn der Schenker vom Finanzamt nach § 20 Abs. 1 ErbStG als Steuerschuldner in Anspruch genommen wird. Doch findet sich in seiner Kommentierung kein Wort der Erläuterung, der Auseinandersetzung mit dem Gesetzestext oder der sonstigen Begründung. § 10 Abs. 2 ErbStG spricht nur von dem Fall, dass der Schenker die vom Beschenkten geschuldete Steuer übernommen hat. Von der Zahlung auf die selbst geschuldete Steuer ist in § 10 Abs. 2 ErbStG nicht die Rede. Außerdem setzt § 10 Abs. 2 ErbStG voraus, dass in der Steuerübernahme durch den Schenker eine Zuwendung des Schenkers an den Beschenkten liegt. Das ist bei der Zahlung eines von zwei Gesamtschuldnern auf die beide Schuldner im selben Umfang treffende Verpflichtung nicht der Fall. Es wäre im Übrigen auch kein Grund erkennbar, der es rechtfertigen könnte, den Schenker z. B. im Fall der Insolvenz des Beschenkten noch über seine eigene Steuerschuld hinaus mit der erhöhten Steuer des § 10 Abs. 2 ErbStG zu überziehen. Einschlägige Entscheidungen zeigen, dass die Finanzrechtsprechung diese Konsequenz zu keiner Zeit ins Auge fasst36. Daher kann die Meinung von Szczesny nicht überzeugen. Der Schenker, der auf seine eigene Schuld zahlt, bereichert dadurch den Beschenkten nicht. Allerdings kann der zahlende Schuldner Rückgriff nehmen, wenn die Erfüllung der Schuld im Innenverhältnis zwischen den beiden Gesamtschuldnern allein oder anteilig dem anderen Schuldner obliegt. Und tatsächlich ist, wie schon gezeigt, im Verhältnis zwischen Schenker und Beschenktem im Zweifel anzunehmen, dass allein den Beschenkten die durch die Steuer ausgelöste Kostenlast trifft. Zahlt der Schenker, kann er daher beim Beschenkten Rückgriff nehmen. Erlässt der Schenker dann diesen Rückgriffsanspruch, wird nun durch

__________ 34 Moench/Kien-Hümbert (oben Fn. 7), § 20 Rz. 9; Viskorf in Viskorf/Glier/Knobel/ Schuck, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz, 2. Aufl. 2004, § 20 Rz. 12. 35 Szczesny in Tiedtke, ErbStG 2009, § 10 Rz. 32. 36 Als Beleg mag ein Hinweis auf die ausführlichen Entscheidungen des BFH v. 15.3.2007 – II R 5/04, BStBl. II 2007, 472 = FR 2007, 851 sowie des FG Münster v. 19.6.2008 – 3K 3145/06 Erb, EFG 2008, 1649 genügen, Entscheidungen, die den Schenker in Anspruch nehmen, dabei aber § 10 Abs. 2 ErbStG nicht erwähnen.

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diesen Erlass eine steuerpflichtige freigebige Zuwendung realisiert37. Nicht die Steuerzahlung, wohl aber der Verzicht auf den Rückgriff führt daher wegen der in dem Verzicht liegenden Freigebigkeit zu einer weitergehenden Steuerpflicht. Schließt A dagegen keinen Erlassvertrag, sondern macht er den Rückgriff lediglich nicht geltend, dann dürfte es zumindest in den Fällen, in denen der Rückgriff wegen der Mittellosigkeit des Beschenkten ohne Erfolgsaussichten ist, an einer freigebigen Zuwendung fehlen. Hinsichtlich der Steuerpflicht des Schenkers bleibt es dann bei dem niedrigeren Betrag. Der im Vergleich zur Steuerübernahme niedrigere Betrag legt die Frage nahe, ob der Schenker auch bei voller Leistungsfähigkeit des Beschenkten die Festsetzung der Steuer gegen sich beantragen und darauf bestehen kann, dass er durch Zahlung von 294 000 € nur seine eigene Steuerpflicht erfüllt und nicht die Entrichtung der vom Beschenkten geschuldeten Steuer übernimmt. Diese Frage ist zu bejahen. Der Schenker ist Steuerschuldner. Jeder Schuldner kann seine eigene Schuld erfüllen. Der Gläubiger kann ihn nicht davon abhalten. Er kann ihn nicht darauf verweisen, dass er, statt seine eigene Schuld zu erfüllen, die Schuld eines mit ihm verantwortlichen Gesamtschuldners übernehmen muss. Daher ist davon auszugehen, dass der Schenker, auch ohne dass es zu einer Inanspruchnahmeerklärung durch die Finanzverwaltung kommt, die Steuerpflicht durch Zahlung auf seine Steuerschuld, und damit also mit dem geringsten der drei genannten Beträge, erfüllen kann38. Die Finanzverwaltung steht dann allerdings vor dem Problem, die Frage einer freigebigen Zuwendung durch Rückgriffsverzicht von Seiten des Schenkers zu prüfen. Denn sie wird nur selten in der Lage sein, das weitere Verhalten der Beteiligten zu verfolgen39

VI. Die Inanspruchnahme des Schenkers bei Zusage der Steuerübernahme Will der Schenker nicht auf die eigene Steuerpflicht zahlen, sondern die Steuer des Beschenkten übernehmen, dann wird die Frage aktuell, unter welchen Umständen diese Entscheidung für den Schenker steuerliche Konsequenzen hat, die zusätzliche Steuer nach § 10 Abs. 2 ErbStG auslöst und den Beschenkten hinsichtlich der Steuerzahlung in die zweite Reihe rückt. Ein Fall, der Anfang 2008 dem FG Düsseldorf zur Entscheidung vorlag40, hat das Augenmerk in den letzten Monaten erneut auf diese Problematik gelenkt. Ein verheirateter Mann hatte seiner Freundin, mit der er in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebte, umfangreiche Zuwendungen mit der Zusage zukommen lassen, die darauf entfallende Steuer zu übernehmen. Die Zuwendungen waren ausgeführt. Der Schenker starb jedoch, bevor er irgendetwas zur Steuerzahlung unternommen hatte. Das Finanzamt nahm die Beschenkte in Anspruch. Die

__________

37 Moench/Kien-Hümbert (oben Fn. 7), § 20 Rz. 9; Hartmann in Gürsching/Stenger (oben Fn. 11), § 20 ErbStG Rz. 22; Viskorf (oben Fn. 34), § 20 Rz. 12. 38 So ausdrücklich Breit, Erbschaft- und Schenkungsteuer, 1921, S. 492. 39 Moench/Weinmann (oben Fn, 7), § 10 Rz. 39. 40 FG Düsseldorf v. 20.2.2008 – 4K 1840/07 Erb., EFG 2008, 961.

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verwies auf die Zusage des Schenkers und meinte, vorrangig müsse die Ehefrau des Schenkers als Erbin ihres Mannes für die Steuer aufkommen. Als der Schenker seiner Freundin die Geschenke zukommen ließ, hatte er vermutlich darauf vertraut, dass die Zuwendungen unbemerkt bleiben würden. Daher hatte er seinen Willen zur Steuerübernahme nicht weiter dokumentiert. Man kann es dem Finanzgericht unter diesen Umständen nicht verdenken, dass es dem nur von der eigenen Aussage getragenen Vorbringen der Beschenkten von vornherein skeptisch gegenüber stand. Hinzu kam noch die pikante Konstellation, dass eine nichteheliche Partnerin die Steuerzahlung für die ihr zugedachten Schenkungen von der Ehefrau des Schenkers verlangte. Dieser Umstand konnte das Gericht in seiner Zurückhaltung nur bestärken. Dennoch hat es seine Ausführungen unvoreingenommen an der Frage orientiert, unter welchen Voraussetzungen sich das Finanzamt in erster Linie an den Schenker zu halten hat. Bei der Beantwortung dieser Frage war eine auf das Jahr 1961 zurückreichende Rechtsprechungstradition zu beachten. Damals hatte der BFH41 entschieden, dass die „Natur der Erbschaftsteuer als einer Bereicherungsteuer in erster Linie den Beschenkten (Bereicherten) zum Steuerschuldner macht“. Daher müsse „sich die Finanzbehörde bei Anforderung der Steuer grundsätzlich an ihn halten“. Es könne „sehr wohl einen Verstoß gegen Recht und Billigkeit bedeuten, wenn die Finanzbehörde die Schenkungsteuer von dem erst in zweiter Linie in Betracht kommenden Schenker einfordert“. Der Schenker wird damit in die zweite Reihe gerückt. Er hat zwar, wie Gebel42 betont, nicht die Rolle eines Ersatzschuldners. Doch kommt der Inanspruchnahme des Beschenkten ein Vorrang zu. Soll dieser Vorrang nicht durchgreifen, soll das Finanzamt vielmehr verpflichtet sein, sich zunächst an den Schenker zu wenden, müssen besondere Gründe vorliegen. Zwei Gruppen von Gründen werden genannt. So soll der Schenker zum einen dann mit Vorrang vor dem Beschenkten in Anspruch genommen werden, wenn die Einziehung der Steuer vom Beschenkten unmöglich ist, als Folge der wirtschaftlichen Situation des Beschenkten keinen Erfolg verspricht43 oder sonst aus triftigem Grund unzweckmäßig erscheint44. Und der Schenker ist zum anderen auch dann vorrangig zur Steuerzahlung heranzuziehen, wenn er dies selbst beantragt hat oder wenn er, wie es das FG Düsseldorf45 formuliert, „dem Beschenkten gegenüber die Steuer übernommen hat (§ 10 Abs. 2 ErbStG)“. Da die Beschenkte leistungsfähig war und auch zur Steuerzahlung zur Verfügung stand, kam in dem Düsseldorfer Fall nur einer der beiden zuletzt genannten Gesichtspunkte in Betracht.

__________ 41 42 43 44 45

BFH v. 29.11.1961 – II 282/58 U, BStBl. III 1962, 323 (324). Gebel in Troll/Gebel/Jülicher (oben Fn. 5), § 20 Rz. 26. BFH v.1.7.2008 (oben Fn. 3), 898. FG Köln v. 8.5.2001 – 9 K 4175/99, EFG 2001, 1154. FG Düsseldorf (oben Fn. 40), 961 im Anschluss an eine wortgleiche Formulierung des FG Köln (oben Fn. 44), 1155 und unter Hinweis auf Gebel in Troll/Jülicher/Gebel (oben Fn. 5), § 20 Rz. 27.

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Was den Antrag des Schenkers angeht, so stand fest, dass der Schenker dem Finanzamt gegenüber in keinem Augenblick tätig geworden war. Er hatte die Zuwendungen nicht angezeigt und auch eine Festsetzung der Steuer gegen sich nicht beantragt. Damit hatte er Schritte unterlassen, die – auch unabhängig von dem Willen zur Steuerübernahme – für die Besteuerung von Schenker und Beschenktem im Besteuerungsverfahren besonders bedeutsam sind. Wird die Zuwendung vom Schenker angezeigt, entlastet die damit gewonnene Kenntnis des Finanzamts den Beschenkten von seiner Anzeigepflicht. Hat der Schenker die Anzeige der Zuwendung gleich mit dem Antrag verbunden, die Steuer gegen ihn festzusetzen, wird die Finanzverwaltung sich im Zweifel damit begnügen, auch die Abgabe der Schenkungsteuererklärung nur vom Schenker zu verlangen. Nach der Gesetzeslage kann die Finanzverwaltung zwar auch in diesem Fall eine Erklärung jedes Beteiligten, also sowohl des Schenkers als auch des Beschenkten, anfordern46. Sie wird sich aber im Fall eines entsprechenden Festsetzungsantrags im Zweifel nur an den Schenker halten. Beantragt der Schenker gegenüber dem Finanzamt, dass die Steuer gegen ihn festgesetzt werden soll, führt dies im Übrigen zu einem Steuerbescheid, der – in Abweichung von der sonst üblichen Praxis – nicht an den Beschenkten, sondern an den Schenker gerichtet ist47. Durch den Antrag des Schenkers wird es daher möglich, den Beschenkten aus dem Schriftverkehr mit dem Finanzamt heraus zu halten, ihn von allen Erklärungspflichten zu entlasten und das Besteuerungsverfahren allein auf den Schenker zu konzentrieren. Der Antrag des Schenkers, die Steuer gegen ihn festzusetzen, hat nach allem bedeutsame Wirkungen im Besteuerungsverfahren. Seine wichtigste Wirkung aber ist die: Er beeinflusst die Ermessensausübung der Finanzverwaltung, die sich auf den Antrag hin wegen der Steuerzahlung nun an den Schenker statt an den Beschenkten zu halten hat. Weil aber im Düsseldorfer Fall ein entsprechender Antrag des Schenkers fehlte, ließ sich auf diesen Gesichtspunkt eine Pflicht zur vorrangigen Inanspruchnahme des Schenkers nicht stützen. Daher hat das Finanzgericht zusätzlich erwogen, ob der Schenker „die Entrichtung der von der Klägerin geschuldeten Schenkungsteuer ihr gegenüber übernommen hat (§ 10 Abs. 2 ErbStG)“48. Auch das konnte aus der Sicht des Gerichts eine Pflicht des Finanzamts begründen, in erster Linie den Schenker in Anspruch zu nehmen.

VII. Zivilrechtliche Anforderungen an die Zusage der Steuerübernahme Die Steuerübernahme i. S. d. § 10 Abs. 2 ErbStG, von der an dieser Stelle die Rede ist, wird, so scheint das Finanzgericht die einschlägige Regelung zu verstehen, zwischen Schenker und Beschenktem vereinbart. Denn die Steuer wird, so formuliert es das Gericht, vom Schenker „ihr gegenüber“, d. h. gegenüber

__________

46 § 31 Abs. 1 Satz 1 ErbStG. 47 Moench/Weinmann (oben Fn. 7), § 10 Rz. 39. 48 FG Düsseldorf (oben Fn. 40), 962.

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der Beschenkten, nicht gegenüber der Finanzverwaltung, übernommen. Und – dieses ist eine zweite Prämisse des Gerichts – die Steuerübernahme setzt die zivilrechtliche Wirksamkeit der Vertragsabsprachen voraus49. Hiervon ausgehend hat sich das Gericht mit der Wirksamkeit der behaupteten Zusagen des Schenkers befasst. Das Ergebnis, zu dem das Gericht bei dieser Untersuchung gelangt, ist negativ. Es hält die einschlägigen Erklärungen des Schenkers, wenn sie denn abgegeben wurden, für unwirksam. In der Zusage der Steuerübernahme, so heißt es in der Entscheidung, könne „allenfalls ein neben den bereits vollzogenen Zuwendungen abgegebenes Versprechen zu sehen sein, die in der Person der Klägerin entstandene Schenkungsteuer übernehmen zu wollen“. Ein solches Versprechen sei weder beurkundet noch ausgeführt worden. Es sei daher nach § 518 BGB zivilrechtlich nicht wirksam. Folglich könne in ihm auch keine Steuerübernahme liegen. Das Gericht ist an dieser Stelle einer These gefolgt, die schon Kipp50 vorgetragen hatte. Auch für Kipp stand fest, dass die Zusage des Schenkers zur Deckung der Steuer als selbständiges Schenkungsversprechen angesehen werden muss. Die zivilrechtliche Wirksamkeit des noch nicht erfüllten Versprechens hatte Kipp allerdings offen gelassen, weil das Versprechen nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG auf jeden Fall erst mit seiner Ausführung steuerlich relevant werden konnte und weil eine Ausführung des Versprechens im Hinblick auf § 518 Abs. 2 BGB zugleich auch die zivilrechtlichen Wirksamkeitshindernisse entfallen lassen musste. Beiden Stellungnahmen liegt die Annahme zugrunde, dass Zusagen zur Steuerübernahme den Charakter eines selbständigen Schenkungsversprechens haben. Diese Annahme verdient jedoch keine Zustimmung51. Von einer derartigen zivilrechtlichen Interpretation durfte das Finanzgericht daher seine Entscheidung nicht abhängen lassen. Als selbständige Schenkungsversprechen mögen Steuerübernahmen aufgefasst werden, die erst nach Zuwendung des Hauptgeschenks zustande kommen. Für gleich im Zusammenhang mit der Zuwendung des Hauptgeschenks erklärte Zusagen passt diese Einordnung jedoch nicht. Solche Zusagen sind vielmehr als Nebenabreden und damit als unselbständiger Teil des Schenkungsversprechens selbst anzusehen, des Versprechens also, das schon mit Erfüllung der Hauptleistung wirksam wird. Dies hatte Breit bereits 1921 hervorgehoben. Es heißt bei ihm: „Das Versprechen des Schenkers, die Steuer aus eigenen Mitteln zu zahlen, … ist in Wahrheit bloß ein Annex52 der Schenkung. Die rechtliche Behandlung muss sich dieser tat-

__________ 49 Zustimmend Seer (oben Fn. 4), § 13 Rz. 133. 50 Kipp (oben Fn. 7), § 12 Anm. 7. Vorangegangen war eine Entscheidung des OLG Rostock v. 24.4.1911, Seufferts Archiv Nr. 67, 1912, S. 57. Fortgeführt wurde die These von der Steuerübernahme als Schenkungsversprechen durch Staudinger/ Kober, BGB II, 10. Aufl. 1937, § 518 Anm. 2 (t). 51 Meincke (oben Fn. 7), § 10 Anm. 25. 52 Den Ausdruck „Annex“ hat Wohlschlegel, Rückerstattung der vom Schenker getragenen Schenkungsteuer, DStR 1995, 252, aufgegriffen, wenn er in der Steuerübernahme ein „Annexgeschenk“ sieht.

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sächlichen Gestaltung anschließen. Mit der Vollziehung der Schenkung erlangt daher auch das Versprechen der Steuerzahlung Rechtsverbindlichkeit“53. Dass die Zusage eines Schenkers zur Steuerübernahme bereits mit den zugrunde liegenden Zuwendungen zivilrechtliche Wirksamkeit erlangt, lässt sich heute auch mit Blick auf § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB begründen. Denn nach dieser Vorschrift, die für Grundstücksschenkungen gilt, wird mit der Übertragung des Grundstücks der ganze beurkundungsbedürftige Vertrag einschließlich aller Nebenabreden wirksam. Dasselbe muss auch für Schenkungsversprechen gelten, die nicht auf die Zuwendung eines Grundstücks gerichtet sind.

VIII. Steuerliche Konsequenzen einer Zusage der Steuerübernahme Man wird also nach diesem Verständnis davon ausgehen können, dass die Zusage des Schenkers, wenn sie denn vorgekommen war, bereits mit den zugrunde liegenden Zuwendungen zivilrechtliche Wirksamkeit erlangt hatte. Aber war die Zusage mit ihrer zivilrechtlichen Wirksamkeit zugleich auch steuerlich relevant? Konnte sie die Merkmale der Steuerübernahme i. S. d. § 10 Abs. 2 ErbStG erfüllen und damit den Tatbestand bilden, der den Schenker im Ergebnis mit einer erhöhten Steuerpflicht überzieht? Das FG Münster54 hat diese Frage bejaht. Es hat die Auffassung vertreten, dass im Rahmen des § 10 Abs. 2 ErbStG die Zusage der Steuerübernahme mit der Ausführung dieser Zusage zusammen fällt. Mit der wirksamen Verpflichtung des Schenkers zur Steuerübernahme sei die Übernahme vollzogen, die zusätzliche Bereicherung verschafft und die aus ihr folgende erhöhte Steuer entstanden. Diese Auffassung hat in der Literatur eine nahezu einmütige Zustimmung gefunden55. Sie vermag dennoch nur schwer zu überzeugen. Richtiger erscheint es demgegenüber, zwischen der Verpflichtung, die Steuer zu übernehmen, und der Übernahme selbst zu unterscheiden. Die Verpflichtung bedeutet eine verbindliche Ankündigung. Sie ist in die Zukunft gerichtet und verwirklicht noch nicht das, was auf der Basis der Verpflichtung erst herbeigeführt werden soll. Die internen Zusagen allein erfüllen den Tatbestand der Steuerübernahme noch nicht. Es muss vielmehr noch eine Erklärung mit Außenwirkung hinzukommen, die die Finanzverwaltung in die Übernahme einbezieht und die dazu führt, dass von einer Steuerübernahme auch der Finanzverwaltung gegenüber die Rede sein kann. Im Innenverhältnis sind allerdings zweifellos auch schon die Vertragsabsprachen von Bedeutung. Aus ihnen folgt, dass der Schenker, falls er für den Beschenkten zahlt, den Beschenkten nicht auf Erstattung in Anspruch nehmen

__________ 53 Breit (oben Fn. 38), S. 493 f. 54 FG Münster v. 15.3.1978 – III 1954/77 Erb, EFG 1978, 602. 55 Zustimmend Moench/Weinmann (oben Fn. 7), § 10 Rz. 35; Gebel in Troll/Gebel/ Jülicher (oben Fn. 5), Rz. 72, Kapp/Ebeling, Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz, Kommentar, Stand Mai 2009, § 10 Rz. 57; Szczesny (oben Fn. 35), § 10 Rz. 33; Jüptner in Fischer/Jüptner/Pahlke, ErbStG, Kommentar, 2009, § 10 Rz. 71; Schuck (oben Fn. 34), § 10 Rz. 41.

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kann und dass der Beschenkte, wenn er trotz der Vertragsabsprachen zahlen muss, beim Schenker zum Rückgriff berechtigt ist. Im Außenverhältnis, dem Steuergläubiger gegenüber, können dagegen die internen Absprachen noch nicht genügen. Sie können zwar, wenn sie dem Finanzamt bekannt werden, schon die Ausübung des Auswahlermessens beeinflussen56 und waren daher unter diesem Gesichtspunkt für das Finanzgericht Düsseldorf auch relevant. Aber sie können für sich genommen noch nicht das Entstehen der erhöhten Steuer begründen und damit den Tatbestand des § 10 Abs. 2 ErbStG erfüllen, auf den das Finanzgericht Düsseldorf zusätzlich verweist. Wenn somit die Vertragsabsprachen für sich genommen noch nicht genügen, um die Wirkungen der in § 10 Abs. 2 ErbStG genannten Steuerübernahme eintreten zu lassen, dann kann es andererseits aber auch nicht richtig sein, den Tatbestand der Steuerübernahme erst mit der Freistellung des Beschenkten von seiner Steuerpflicht verwirklicht zu sehen. Das allerdings war der Standpunkt von Kipp. Kipp wollte die Ausführung des auf die Steuerübernahme gerichteten Versprechens und damit auch die Steuerübernahme selbst mit der Zahlung der vom Beschenkten geschuldeten Steuer verbinden, weil die Befreiung des Beschenkten von seiner Steuerpflicht erst mit der Steuerzahlung eintritt, so dass der Schenker dem Beschenkten auch erst mit der Steuerzahlung die in § 10 Abs. 2 ErbStG vorausgesetzte zusätzliche Bereicherung endgültig verschafft. Und Kipp zog aus seiner These die Konsequenz, dass im Fall der Steuerübernahme stets zwei im Stufenverhältnis zueinander stehende Zuwendungen angenommen werden müssen, zunächst die Zuwendung durch Zahlung der vom Beschenkten geschuldeten Steuer und dann die Zuwendung durch Zahlung der wegen der Steuerzahlung erhöhten Steuer. Die Zahlung der vom Beschenkten geschuldeten Steuer sei das Ereignis, das zum Entstehen der erhöhten Steuer nach dem heutigen § 10 Abs. 2 ErbStG führt. Wörtlich heißt es bei Kipp: „Durch die Leistung des Hauptgeschenks … wird die Steuerpflicht für dieses begründet. Durch die Zahlung der Steuer (sc. für das Hauptgeschenk) wird die Steuerpflicht für das Steuergeschenk begründet“57. Beide Zuwendungen sollten als selbständige Zuwendungen behandelt und unter Berücksichtigung des heutigen § 14 ErbStG zusammengerechnet werden. Diese These, die Kipp 1927 und damit vor der Neufassung des Gesetzes durch den heutigen § 10 Abs. 2 ErbStG entwickelt hatte, lässt auch noch das Finanzgericht Düsseldorf anklingen, wenn es das entscheidende Element für die Steuerübernahme in der mit der Steuerzahlung eintretenden Befreiung des Beschenkten sieht und damit die erhöhte Steuer erst mit der Zahlung der vom Beschenkten geschuldeten Steuer entstehen lässt. Angesichts der geänderten Gesetzesfassung erscheint diese Ansicht heute jedoch nur noch für nachträgliche Steuerübernahmen plausibel. Denn Zusagen, die gleich bei der Zuwendung abgegeben wurden, führen nach der geltenden Gesetzesfassung nicht

__________ 56 BFH v. 1.7.2008 (oben Fn. 3), 897. 57 Kipp (oben Fn. 7), § 12 Anm. 7.

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mehr zu einem vom Hauptgeschenk gelösten selbständigen „Steuergeschenk“, für das die Steuer erst mit der Steuerzahlung für das Hauptgeschenkt entsteht. § 10 Abs. 2 ErbStG sieht vielmehr in der entsprechenden Zusage des Schenkers einen Bestandteil des Grundgeschäfts, das wegen der Bereitschaft des Schenkers, die Steuer zu tragen, eine über den Nennbetrag der Zuwendung hinausgehende Bereicherung bewirkt. Das Gesetz behandelt „die Übernahme der Steuer nicht als einen zusätzlichen Steuerfall, sondern als eine Werterhöhung der Schenkung“, wie der BFH58 ausdrücklich betont. Steuerübernahmen, die im Zusammenhang mit dem Hauptgeschenk erklärt werden, führen daher nach § 10 Abs. 2 ErbStG nicht zu zwei Zuwendungen und zwei Erwerben, die nach § 14 ErbStG zusammen zu rechnen wären59. Vielmehr geht es im Rahmen des § 10 Abs. 2 ErbStG jeweils nur um einen Erwerb60, der durch die Zusammenfassung von Hauptgeschenk und Steuer gebildet wird und für den dann ein aus der Zusammenfassung von Hauptgeschenk und Steuer errechneter erhöhter Steuerbetrag zu zahlen ist.

IX. Voraussetzungen für das Entstehen der erhöhten Steuer aus der Steuerübernahme Unter diesen Umständen erscheint es geboten, die Steuerübernahme sowohl von den Absprachen der Vertragspartner, die vor der Steuerübernahme liegen, als auch von der Zahlung der vom Beschenkten geschuldeten Steuer, die aufgrund der Steuerübernahme erfolgt und damit nach ihr liegt, zu trennen. Als entscheidendes Element der Steuerübernahme bietet sich unter diesen Umständen die Übernahmeerklärung des Schenkers gegenüber der Finanzverwaltung an. Wenn § 10 Abs. 2 ErbStG von einer Steuerübernahme spricht, so ist darunter also noch nicht die bloße Absprache zwischen Schenker und Beschenktem zu verstehen. Vielmehr liegt erst in der auf entsprechende Ver-

__________ 58 BFH v. 17.11.1977 – II R 66/68, BStBl. II 1978, 220 (223); zustimmend: Jüptner (oben Fn. 55), § 10 Rz. 65. 59 Das RG hatte schon in einer Entscheidung vom November 1912 (oben Fn. 19, 220) im Hinblick auf ‚steuerfreie‘ Zuwendungen die These von zwei selbständigen Zuwendungen abgelehnt und bemerkt: „In der dem Erben gemachten Auflage, die Steuer von einem Vermächtnisse zu zahlen, ist aber nicht etwa eine neue selbständige Zuwendung zu finden, vielmehr ist die Sache so anzusehen, als wenn der Erblasser dem Bedachten gleich einen um die erforderliche Steuer erhöhten Betrag zugewendet hätte. Die Bereicherung, und folgeweise die steuerpflichtige Masse, bildet in einem solchen Fall also derjenige Betrag, welcher nach Abzug der hiervon zu berechnenden tarifmäßigen Steuer dem vom Erblasser bezeichneten Betrage gleichkommt“. 60 Moench/Weinmann (oben Fn. 7), § 10 Rz. 36. Auch wenn nur ein aus dem Geschenk und der hinzugerechneten Steuer gebildeter Erwerb vorliegt, können doch – wie beim Erbschaftserwerb des Alleinerben – für Teile des Erwerbs unterschiedliche Regeln gelten. So kann der Teil des Erwerbs, der durch Hinzurechnung der Steuer gebildet wird, von der beschränkten Steuerpflicht (FinVerw. v. 17.8.2006, DStR 2006, 1600) oder von der Wahl der Jahresversteuerung nach § 23 ErbStG ausgeschlossen sein (FinVerw. v. 9.9.2008, ZEV 2009, 503; kritisch dazu Gebel, [oben Fn. 5], § 10 Rz. 83).

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tragsabsprachen gestützten Erklärung gegenüber der Finanzverwaltung die Übernahme der Steuer, die § 10 Abs. 2 ErbStG zur Voraussetzung nimmt. Durch die so interpretierte Steuerübernahme wird der Beschenkte allerdings von seiner Steuerpflicht noch nicht unmittelbar befreit. Doch bewirkt die Steuerübernahme auch bei diesem Verständnis mit der Konzentration des Besteuerungsverfahrens auf den Schenker, die aus der Erklärung des Schenkers gegenüber der Finanzverwaltung folgt, schon einen so wichtigen Schritt hin zur Freistellung des Beschenkten, dass es vertretbar erscheint, den Schenker bereits mit diesem Schritt mit der erhöhten Steuer des § 10 Abs. 2 ErbStG zu konfrontieren. Allerdings bleibt noch zu klären, was gelten soll, wenn die Finanzverwaltung trotz der Übernahmeerklärung Anlass sieht, die Steuerzahlung – z. B. wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation des Schenkers – vom Beschenkten zu verlangen. Hat der Beschenkte nun die nach § 10 Abs. 2 ErbStG bereits entstandene erhöhte Steuer zu tragen, auch wenn er die vom Schenker zugesagte Freistellung im Ergebnis gar nicht erhält? Das kann nicht richtig sein, und man kann es verneinen, wenn man sich zu der Interpretation entschließt, dass die in § 10 Abs. 2 ErbStG angesprochene erhöhte Steuer nur den Schenker trifft. Einen anderen Standpunkt scheint allerdings der BFH in einer Entscheidung vom Mai 198761 einzunehmen. In dieser Entscheidung ging es um die Schenkung von GmbH-Anteilen von einer Mutter an ihre Kinder. Die Mutter hatte den Kindern gegenüber die Steuerübernahme zugesagt, das Finanzamt war aber dennoch zunächst an die Kinder herangetreten und hatte von ihnen die nicht nach § 10 Abs. 2 ErbStG erhöhte Steuer verlangt. Der vom Finanzamt gegen die Kinder festgesetzte Steuerbetrag, so heißt es in der Entscheidung des BFH, sei „zu niedrig“62 gewesen, zu niedrig offenbar, weil in ihm die erhöhte Steuer nach § 10 Abs. 2 ErbStG noch nicht enthalten war. Trifft diese Deutung zu, hat sich das Gericht damit auf den Standpunkt gestellt, dass der nach § 10 Abs. 2 ErbStG erhöhte Steuerbetrag auch vom Beschenkten verlangt werden kann. Ein solcher Standpunkt wäre auf den ersten Blick durchaus verständlich. Denn nach § 20 Abs. 1 ErbStG i. V. m. § 44 AO sind Schenker und Beschenkter Gesamtschuldner hinsichtlich der Schenkungsteuer. Weil die nach § 10 Abs. 2 ErbStG erhöhte Steuer ein Teil der im Einzelfall fälligen Schenkungsteuer ist, liegt es nahe, der Grundaussage des § 20 Abs. 1 ErbStG auch auf die Steuerpflicht nach § 10 Abs. 2 ErbStG zu beziehen. Das hätte zur Folge, dass der Beschenkte als Gesamtschuldner auch für die erhöhte Steuer in Anspruch genommen werden kann. Doch dürfte mehr für die gegenteilige Auffassung sprechen. Denn die Steuer wird nach § 10 Abs. 2 ErbStG erhöht, weil der Schenker verspricht, den Beschenkten von der Steuerpflicht freizustellen. Bleibt jedoch die Freistellung

__________ 61 BFH v. 13.5.1987 – II R 189/83, BStBl. II 1988, 188; vgl. dazu auch die Charakterisierung dieses Urteils bei Kapp/Ebeling (oben Fn. 55), § 20 Rz. 6: „nicht haltbar“. 62 BFH, a. a. O., 189.

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aus, wird der Beschenkte vielmehr selbst zur Steuerzahlung herangezogen, dann wird damit der Effekt der Steuerübernahme vereitelt. Eine Steigerung der Leistungsfähigkeit durch Verschonung von der Steuer, aus der allein die Rechtfertigung der erhöhten Besteuerung abgeleitet werden kann, ergibt sich für den Beschenkten gerade nicht. Die Bereicherung des Beschenkten bleibt aus. Nach dem Sinnzusammenhang des § 10 Abs. 2 ErbStG muss man daher annehmen, dass der Beschenkte, wenn er selbst zahlen soll, sich auf die Steuer beschränken kann, die von ihm unabhängig von der Steuerübernahme geschuldet wird63. Das bedeutet aber dann, dass die Erhöhung der Steuer nach § 10 Abs. 2 ErbStG keine Gesamtwirkung hat, dass sie den Umfang der Verpflichtung von Schenker und Beschenktem auseinander laufen lässt und dass die erhöhte Steuer im Ergebnis nur den Schenker, nicht aber auch den Beschenkten trifft. Dasselbe Ergebnis kann man im Übrigen auch aus der Berechnungsweise des § 10 Abs. 2 ErbStG ablesen. Denn wenn der Beschenkte als Folge der Steuerübernahme auch für die erhöhte Steuer aufkommen müsste, könnte er nicht durch die Zusammenrechnung von Geschenk und nicht erhöhter Steuer von seiner Steuerpflicht befreit werden. Es müsste dann ein zusätzlicher Betrag auch für die Freistellung von der erhöhten Steuer vorgesehen sein. Die Berechnungsweise, die § 10 Abs. 2 ErbStG vorsieht, bestätigt daher, dass die aus § 10 Abs. 2 ErbStG folgende erhöhte Steuer nur den Schenker, aber nicht auch den Beschenkten trifft.

__________ 63 Auch nach Auffassung von Jüptner (oben Fn. 55), § 20 Rz. 14, „mindert sich die Bereicherung des Beschenkten“, wenn er nach der Steuerübernahme an Stelle des Schenkers in Anspruch genommen wird.

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Begriffsverwirrung bei der erbschaftsteuerlichen Bewertung Inhaltsübersicht I. Anlass der Untersuchung II. Die Zweistufenprüfung des BVerfG III. Problematische Wertbegriffe 1. Juristische und ökonomische Wertbegriffe 2. Einzel- oder Gesamtbewertung? a) Die Anwendungsbereiche beider Verfahren b) Wandlungen des „gemeinen Werts“ 3. Ertragswert oder Substanzwert? a) Das ökonomische Begriffspaar b) Das steuerliche Begriffspaar c) Vergleich der Begriffspaare 4. Probleme der Verkehrswertermittlung a) Veräußerungspreis oder Erwerbspreis?

b) Spannungsverhältnis Verkehrswert/Ertragswert … c) Schwierigkeiten der Ertragswertermittlung; Notwendigkeit der Objektivierung für Steuerzwecke d) Kein Ansatz spekulativer Werte (Nachhaltigkeitsprinzip) IV. Kritische Würdigung der Werteentscheidung des BVerfG 1. Begründung des BVerfG für den Ansatz des Veräußerungswerts als alleinige Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuer 2. Kritik an der Argumentation des BVerfG 3. Schlussbemerkung

I. Anlass der Untersuchung Autor und Jubilar können auf eine jahrzehntelange Freundschaft und berufliche Zusammenarbeit1, vor allem im Rahmen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft zurückblicken. Der Jubilar hatte in den Jahren 1993 bis 1998 den Vorsitz der Gesellschaft als Nachfolger von Tipke, Kruse und SchulzOsterloh inne. Der Verfasser war Mitbegründer der Gesellschaft und vom Beginn an – wie später auch der Jubilar – Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft und 2000 bis 2003 dessen Vorsitzender. Es war daher naheliegend für meinen Festschriftbeitrag ein Thema zu wählen, mit dem sich die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft mehrfach beschäftigt hat und zu dem sich Joachim Lang gerade in jüngster Zeit sehr dezidiert geäußert hat, nämlich das Thema Erbschaftsteuer2. Zuletzt hat Joachim Lang

__________

1 Vgl. die freundschaftlichen Bemerkungen von J. Lang über einen gemeinsamen Segeltörn, zu dem wir uns auf der Wiener Tagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft entschlossen hatten (StuW 1996, 213). 2 J. Lang, Das verfassungsrechtliche Scheitern der Erbschaft- und Schenkungsteuer, StuW 2008, 189; Steuergerechtigkeit und Globalisierung, in FS für H. Schaumburg, Köln 2009, S. 45 (54 ff.).

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im Erscheinungsjahr dieser Festschrift (2010) die „Gleichheitswidrigkeit und gleichheitsrechtliche Ausgestaltung der erbschaftsteuerlichen Verschonung“3 kritisiert. Die Problematik der Erbschaftsteuer beruht vor allem auf der Schwierigkeit dem Belastungsziel der Erbschaftsteuer als Erbanfallsteuer entsprechend, die durch Erbfall oder Schenkung eintretende unentgeltliche Bereicherung und die daraus resultierende Steigerung der Leistungsfähigkeit des Erwerbers zu bewerten4. Die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft hat sich mit dieser Problematik auf ihren Jahrestagungen immer wieder auseinandergesetzt: – schon 1983 auf der einzigen dreitägigen Jahrestagung der Gesellschaft, eingeleitet von Kruse, mit sehr grundsätzlichen Beiträgen zum Thema „Werte und Wertermittlung im Steuerrecht“, deren Ergebnis ich im Auftrag der Gesellschaft – versehen mit einem von mir verfassten Resümee – herausgegeben habe5, und die mit Busse von Colbe und Moxter auch zwei durch ihre Veröffentlichung zur Unternehmensbewertung berühmte Ökonomen zu Wort kommen ließ, – dann wieder 1993 im Rahmen der „Grundfragen der Unternehmensbesteuerung“, herausgegeben von Franz Wassermeyer6, mit dem Beitrag von Crezelius, „Sicherung der Unternehmensnachfolge und -besteuerung“ mit Diskussion (S. 135–194), – sowie 1998 mit dem Thema „Steuern auf Erbschaft und Vermögen“, eingeleitet vom Jubilar und herausgegeben von Dieter Birk7 mit Beiträgen zur ErbSt. von Meincke (S. 39 ff.), Crezelius, (S. 73 ff.), Mellinghoff (S. 127 ff.), Lerke Osterloh (S. 177 ff.), Seer (S. 191 ff.), Ebeling (S. 227 ff.) und zu internationalen Aspekten von Michael Lang (S. 255 ff.) und Piltz (S. 275 ff.), – ferner 1999 unter dem Thema „Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung“, herausgegeben von Jürgen Pelka8, mit Beiträgen zur Erbschaftsteuer von Jachmann (S. 15, 57–64), Seer (S. 114/115) und Hüttemann (S. 130–133). Diese vier Jahresbände sind Anlass dafür, an die Erkenntnisse der darin dokumentierten Jahrestagungen zu erinnern, die zu Unrecht in der Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Erbschaftsteuer und auch in der Reformdebatte durchweg unbeachtet blieben. „Aufhänger“ für meinen Beitrag ist eine kritische Formulierung von Roman Seer, auf die sich Joachim Lang in seinem Aufsatz zur erbschaftsteuerlichen Verschonung beruft:

__________ 3 J. Lang, Gleichheitswidrigkeit und gleichheitsrechtliche Ausgestaltung der erbschaftsteuerlichen Verschonung, FR 2010, 49–58. 4 Vgl. BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 = FR 2007, 338. 5 DStJG, Bd. 7 (1984). 6 DStJG, Bd. 17 (1994). 7 DStJG, Bd. 22 (1999). 8 DStJG, Bd. 23 (2000).

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Begriffsversirrung bei der erbschaftsteuerlichen Bewertung Den Nichtverschonten werde‚ „durch das Zusammenwirken des Verkehrswertansatzes und spürbarer Steuersätze eine gesteigerte Belastung auferlegt. Damit trage eine kleine gesellschaftliche Gruppe eine Sonderlast, die sie gegenüber den verschonten diskriminiere9“

Joachim Lang sieht in der Gesetz gewordenen Verschonung eine „Überdehnung“ der dem Gesetzgeber vom BVerfG eingeräumten Subventionsfreiheit, er erstrebt eine „verfassungsfeste Verschonungsregelung“:10 Als verfassungsrechtlich bedenklich sieht Joachim Lang zu Recht an – die Ausklammerung des Grundvermögens aus der Verschonungsregelung (§ 13a Abs. 1 Satz 1 ErbStG), – das Ausscheiden des Verwaltungsvermögens aus der Verschonungsregelung gem. § 13b Abs. 2 ErbStG nach willkürlichen Regeln und – die vollständige Befreiung von der Erbschaftsteuer, die Lang gleichheitssatzmäßig nicht für zu rechtfertigen hält. Joachim Lang erstrebt – eine gleichheitsgerechte Verschonung durch Anknüpfung an den umsatzsteuerlichen Unternehmerbegriff, – den Ansatz von Realisationswerten bei Nichteinhaltung einer siebenjährigen Behaltefrist und – eine Entbürokratisierung der Verschonungsregelung.

II. Die Zweistufenprüfung des BVerfG Joachim Lang beschäftigt sich in seinem Beitrag in der Finanz-Rundschau speziell mit der steuerlichen Verschonung – im Gegensatz zu früheren Veröffentlichungen11 – dagegen nicht mit der Problematik des Ansatzes des als Substanzwert verstandenen gemeinen Werts, als alleinigem Bewertungsmaßstab. Lang nimmt also aus dem zweistufigem Prüfungsverfahren des BVerfG12 (Verkehrswert-Ansatz auf der ersten Stufe und Verschonungsregelung auf der zweiten Stufe) die zweite Stufe ins Blickfeld. Dagegen richtet das Seer-Zitat das Augenmerk auf die Folgen, die sich aus dem Zusammenwirken der beiden Stufen (Verkehrswert und Verschonungsregelung) für das Gesamtsystem ergeben. Ich möchte in meinem Beitrag der Frage nachgehen, ob die Wahl des Verkehrswerts (gemeiner Wert) als alleiniger Bewertungsmaßstab der Erbschaftsteuer wirklich so unproblematisch ist, wie das in den meisten Äußerungen im Schrifttum zu der Entscheidung des BVerfG erscheint13.

__________ 9 10 11 12 13

J. Lang, a. a. O., (s. Fn. 3), 54 unter Berufung auf Seer, GmbHR 2009, 236. J. Lang, a. a. O., (s. Fn. 3), 57/58. J. Lang, a. a. O., (s. Fn. 2). Vgl. J. Lang, a. a. O., (s. Fn. 2), StuW 2008, 191. So schon vor der Entscheidung des BVerfG v. 7.11.2006 (s. Fn. 4): Viskorf/Glier/ Hübner/Knobel/Schuck, Herne/Berlin 2002, Vor § 12 ErbStG, Rz. 1 Fn. 2 mit einer Fülle von Nachweisen.

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Mich beschleicht die Sorge, ob nicht zwangsläufig der Ansatz des Verkehrswertes (gemeiner Wert) als alleiniger Bewertungsmaßstab der Erbschaftsteuer (d. h. der Ansatz erhöhter Werte bei „spürbaren Steuersätzen“) – angesichts der praktischen Schwierigkeiten bei der Feststellung von Verkehrswerten – eine Überdehnung der Verschonungsregelung nach sich zieht. Solche Bewertungssachwidrigkeiten entstehen, wenn und soweit keine Marktpreise für gleichartige Güter vorliegen – und das ist bei der Unternehmensbewertung stets und bei der Immobilienbewertung häufig der Fall. Diese Schwierigkeiten werden seit langem diskutiert: – Schon in der Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs eines zweiten Steuerreformgesetzes zur Reform der einheitswertabhängigen Steuern (VSt., ErbSt., GrSt.) vom Mai 1972 hieß es, dass die Einführung einer Besteuerung nach Verkehrswerten bei den einheitswertabhängigen Steuern die Steuerverwaltung wegen zu starker Komplizierung des Steuerrechts überfordern würde.14 – Uelner hat dann wieder auf der Jahrestagung 1983 zum Thema „Werte und Wertermittlung im Steuerrecht“ darauf hingewiesen, bei Aufgabe der Einheitsbewertung und Ansatz von Verkehrswerten müsste die Fallzahl in Grenzen gehalten werden, damit die erforderliche Ermittlung der Verkehrswerte verwaltungsmäßig durchführbar erscheine.15 Uelner ging aufgrund statistischer Werte der Jahre 1973 – 1979 von weniger als 100.000 Fällen pro Jahr aus. Joachim Lang16 nennt rd. 150.000 Fälle pro Jahr auf der Basis des Jahres 2002. Es fragt sich, ob eine effektive Bedarfsbewertung nach Verkehrswerten bei einer wesentlichen Erhöhung der Fallzahl noch möglich ist. Außerdem ist m. E. zu befürchten, dass bei der erwünschten Ausweitung der Verschonungsregelung auf den umsatzsteuerlichen Unternehmensbegriff im Gesetzgebungsverfahren einschränkende Merkmale zur Berücksichtigung der „Arbeitsplatzwirksamkeit“ der unternehmerischen Tätigkeit „erfunden“ werden, wenn man weiterhin nur betriebsbezogen und nicht gesamtwirtschaftlich denkt. Dadurch könnten eine Reihe von umsatzsteuerlichen Unternehmern, nämlich nicht nur Vermieter als Unternehmer, sondern auch wenig lohnintensive Kleingewerbetreibende und Landwirte aus der Verschonungsregelung wieder ausgeschlossen werden. Für diese Betriebe wären dann im Erbfall die Verkehrswerte zu ermitteln, wenn sie nicht aufgrund von Freibeträgen steuerfrei blieben. Das BVerfG wollte mit der Wahl des Verkehrswerts als alleinige Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuer deren Werte in ihrer Relation realitätsgerecht abbilden. In Wahrheit fragt sich, ob das BVerfG – jedenfalls was die verwaltungsmäßige Umsetzbarkeit betrifft – eine vielleicht doch nicht so realitätsnahe Entscheidung getroffen hat, wie das gemeinhin vermutet wird. Ich teile

__________ 14 BT-Drucks. 6/3418. 15 Uelner, Die Problematik der Einheitswerte, in DStJG, Bd. 7 (1984), 289. 16 J. Lang, a. a. O., (s. Fn. 3), 54.

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Begriffsversirrung bei der erbschaftsteuerlichen Bewertung

die Auffassung des Jubilars17, dass die vom ErbStRefG v. 24.12.2008 umgesetzte Zielsetzung einer am gemeinen Wert ausgerichteten „realitätsgerechten Bewertung aller Vermögensklassen“18 sich auf dem Boden einer Utopie bewegt. Wie Joachim Lang feststellte, ist es unmöglich, ruhendes Vermögen einheitlich und gleichmäßig zu bewerten.19 Die vorläufig letzte Entscheidung des BVerfG vom 7.11.2006 erweckt den Eindruck, als habe das Gericht die Geduld mit Gesetzgeber, Finanzverwaltung und Teilen des Schrifttum verloren, die sich vom „Wertepluralismus“ der Erbschaftsteuer nicht zu lösen vermochten. Es hat offenbar kurz entschlossen den Verkehrswert als Substanzwert verstanden und zur alleinigen Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuer erklärt. Der Entscheidung ist nicht zu entnehmen, dass sich das Gericht mit den vielfältigen Schrifttumsäußerungen und mit den Schwierigkeiten auseinandergesetzt hat, die letztlich den Wertepluralismus der Erbschaftsteuer verursacht hatten. Vor allem werden die wegweisenden Beiträge zweier Mitglieder des II. Senats des BVerfG auf der Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft 1998 zum Thema „Steuern auf Erbschaft und Vermögen“ nicht gewürdigt: – Zum einen die Erkenntnis von Lerke Osterloh20, dass das juristische Schrifttum unter Ertragswerten den Ansatz von Sollerträgen versteht und ihnen eine abschirmende Wirkung gegenüber einer Substanzbewertung zuspricht, dass dagegen der ökonomische Begriff des Ertragswerts zur Identität von Verkehrs- und Ertragswert führt. Daraus folgt weiter, dass es mindestens irreführend ist, vom Verkehrswert als Substanzwert zu sprechen. Es gibt einen Gegensatz zwischen Ertragswert und Substanzwert, nicht aber zwischen Ertrags- und Verkehrswert. Allenfalls lässt sich von einem Spannungsverhältnis zwischen Verkehrs- und Ertragswert sprechen21 (s. dazu unten III 4b). – Zum anderen hat Mellinghoff22 in seinem Beitrag zum Verhältnis der Erbschaftsteuer zur Einkommen- und Körperschaftsteuer den Grundsatz der alternativen Erfassung eines Vermögenszuflusses entweder bei der Einkommen- oder der Erbschaftsteuer entwickelt. Danach schließen sich beide Steuern regelmäßig aus. Auch die Erbschaftsbesteuerung latenter Einkünfte erfordert den Ausschluss der steuerlichen Mehrfachbelastung, die daraus resultiert, dass die vom Erblasser oder Rechtsvorgänger erwirtschafteten stillen Reserven nicht diesem, sondern dem Erben bzw. Rechtsnachfolger

__________ 17 18 19 20

J. Lang, StuW 2008, 1993. RegE BT-Drucks. 16/7918, 1. J. Lang, a. a. O., (s. Fn. 17). Lerke Osterloh, Unterschiedliche Maßstäbe bei der Bewertung von Vermögen, DStJG, Bd. 22 (1999), 177 ff. 21 So Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, S. 492. 22 Mellinghoff, Das Verhältnis der Erbschaftsteuer zur Einkommen- und Körperschaftsteuer – Zur Vermeidung steuerlicher Mehrfachbelastung, DStJG, Bd. 22 (1999), 127 ff.; vgl. dazu auch Crezelius, DStJG 22 (1999), 73 und DStR 2007, 416 sowie Huber/Reimer, DStR 2007, 2042; Raupach, DStR 2007, 2038.

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Arndt Raupach

zugerechnet werden. Daher führt besonders der Ansatz von Veräußerungswerten als alleiniger Bewertungsmaßstab der Erbschaftsteuer zum Problem der Berücksichtigung latenter Einkommensteuer für die erbschaftsteuerliche Bewertung. Zu den von Lerke Osterloh und Mellinghoff aufgeworfenen Fragen wäre ebenso wie zum Problem der praktischen Bewertungsschwierigkeiten ein klärendes Wort des I. Senats erwünscht gewesen. Auch die vom BVerfG verwendeten Wertbegriffe „Substanz“- und Ertragswert, gemeiner Wert und Verkehrswert sind nicht unproblematisch, wie dies offenbar gemeinhin angenommen wird.

III. Problematische Wertbegriffe 1. Juristische und ökonomische Wertbegriffe Die Jahrestagung 1983 der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft mit dem Thema „Werte und Wertermittlung im Steuerrecht“ begann mit zwei Referaten, Jens Peter Meincke sprach über „Bewertung als Rechtsproblem“, Walther Busse von Colbe über „Bewertung als betriebswirtschaftliches Problem“. Gemeinsam ist der Bewertung in juristischer und ökonomischer Sicht, – dass es bei der Bewertung darum geht, Gütern Geldbeträge zuzuordnen23, – dass jeder Bewertung implizit ein Vergleich zugrunde liegt,24 – dass jede Bewertung zielabhängig ist; aus verschiedenen Zielen folgen unterschiedliche Werte und Wertermittlungsmethoden.25 Aus der Zielabhängigkeit der Bewertung folgt, dass für Juristen und Ökonomen Werte eine unterschiedliche Bedeutung haben: – Für das Steuerrecht dienen Werte der Ermittlung der Bemessungsgrundlage – entsprechend den Zielsetzungen des Gesetzgebers. Zusammen mit den Steuersätzen bestimmen sie den sog. Höhentatbestand26 der Besteuerung. – Für den Ökonomen dienen Werte als Entscheidungshilfe, insbesondere beim Erwerb oder der Veräußerung eines Unternehmens; Werte sind daher subjektiv bestimmt und bedürfen für Zwecke der Besteuerung der Objektivierung.27 Die Zielabhängigkeit bzw. (wie Moxter sagt) die Aufgabenrelevanz28 führt dazu, dass sich die ökonomisch für den Eigentumswechsel entwickelten Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung nicht ohne weiteres auf die Besteuerung übertragen lassen:

__________ 23 24 25 26 27 28

Meincke, DStJG, Bd. 22 (1999), 78. Busse von Colbe, DStJG, Bd. 7 (1984), 39/40. Kruse, DStJG, Bd. 7 (1984), 4. Zugmaier in Herrmann/Heuer/Raupach, § 2 EStG, Anm. 15. Moxter, DStJG, Bd. 7 (1984), 394 ff. Moxter, a. a. O., (Fn. 27), 388/389.

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Begriffsversirrung bei der erbschaftsteuerlichen Bewertung

– Ökonomisch geht es dem Käufer bei der Bewertung um die Entscheidung, ob und zu welchem Preis er erwerben soll und für den Verkäufer, ob und zu welchem Preis er verkaufen soll.29 – Bei der Benutzung von Werten für die Steuerbemessungsgrundlage geht es dagegen um die Teilhabe des Staates an entgeltlichen Vermögenszuwächsen (Einkommensteuer) oder unentgeltlichen Vermögenszuwächsen (Erbschaftsteuer). – Der veräußerungswillige Unternehmer sucht Entscheidungshilfen für einen möglichst hohen Veräußerungspreis, der nichtveräußerungswillige Erbe natürlich einen möglichst niedrigen Veräußerungspreis. – Die besonderen Bedingungen steuerlicher Bewertungen schließen allerdings eine Anwendung der für den Eigentumswechsel geltenden ökonomischen Bewertungsgrundsätze nicht generell aus, insbesondere bezüglich der Bewertungsgrundsätze, bei denen Vereinfachung und Objektivierung (Ermessensbeschränkung) im Vordergrund stehen30 (s. dazu u. 4c). 2. Einzel- oder Gesamtbewertung? a) Die Anwendungsbereiche beider Verfahren Ökonomen wie Steuerrechtler unterscheiden gleichermaßen zwischen Einzelund Gesamtbewertung. Nach dem Bewertungsziel (s. o. III 1) entscheidet sich, ob eine ökonomische Einzel- oder Gesamtbewertung erfolgen soll. Dabei hat sich für die Unternehmensbewertung die Gesamtbewertung nach der Ertragswertmethode durchgesetzt31, während die Substanzbewertung im Wege der Einzelbewertung erfolgt (s. u. III 3a). Steuerrechtlich entscheidet der Gesetzgeber, ob eine Einzel- oder Gesamtbewertung stattzufinden hat: – Hauptbewertungsmaßstab ist nach § 9 BewG der gemeine Wert. Er ist das Ergebnis einer Einzelbewertung (s. u. 2b). – Nach § 2 BewG ist jede wirtschaftliche Einheit für sich zu bewerten, ihr Wert ist im Ganzen festzustellen. Dieser Grundsatz der Gesamtbewertung gilt freilich nur, soweit nichts anderes angeordnet ist. Bis zum ErbStRefG v. 24.12.2008 wurde für das Betriebsvermögen von der Gesamtbewertung abgewichen. Der Einheitswert des Betriebsvermögens wurde im Wege der Einzelbewertung der einzelnen Wirtschaftsgüter auf der Grundlage der Teilwerte (Wiederverkäufereinkaufspreise) ermittelt (mit Ausnahme von Betriebsgrundstücken, Wertpapieren, Aktien und Kapitalforderungen). Durch das 2. StÄndG 1992 wurden aus Vereinfachungsgründen die Bilanzwerte übernommen32; stille Reserven unterlagen damit nicht der Erbschaftsteuer.

__________ 29 30 31 32

Moxter, a. a. O., (Fn. 27), 389. Moxter, a. a. O., (Fn. 27). Schultze, Methoden der Unternehmensbewertung, 2. Aufl. Düsseldorf 2003, S. 154. Vgl. zum „Für und Wider“ Uelner, a. a. O., (s. Fn. 15), 282/283 und Nolte, Vermögensaufstellung und Steuerbilanz, in DStJG, Bd. 7 (1984), 309 ff.

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Das Problem der Doppelbelastung durch eine latente Einkommensteuer war auf diese Weise gelöst. BVerfG v. 7.11.200633 erklärte diesen Effekt für nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Der Gesetzgeber hatte damit einen Schritt zur Objektivierung und Vereinfachung von Unternehmenswerten beschritten. Auch die Betriebswirtschaftslehre geht diesen Weg, indem sie bei Schwierigkeiten der Ertragswertfeststellung anstelle der Gesamtbewertung Einzelbewertungsverfahren zur Verfügung stellt, bei denen der Unternehmenswert durch eine isolierte Bewertung der einzelnen Vermögensgegenstände und Schulden zu einem bestimmten Stichtag ermittelt wird. Als Ergebnis der Bewertung erhielt man einen Substanzwert (s. u. 3.). Entscheidend ist jedoch der Bewertungsmaßstab. b) Wandlungen des „gemeinen Werts“ Der gemeine Wert nach § 9 BewG ist ein altertümelnder, aus dem Preußischen Allgemeinen Landrecht stammender Begriff, der ursprünglich keinen Unterschied zwischen Substanz und Ertrag machte, ihm war ein Gegensatz Veräußerungswert/Ertragswert noch völlig fremd.34 Der gemeine Wert wird gem. § 9 BewG nach dem Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsguts bei einer Veräußerung zu erzielen wäre; ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse sind nicht zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 BewG). Für Anteile an Kapitalgesellschaften ist im § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG bestimmt, dass sich der gemeine Wert aus Verkäufen ableiten lässt, die weniger als ein Jahr zurück liegen. Allgemein wird der gemeine Wert mit dem Verkehrswert gleichgesetzt. Gegenstand der Bewertung mit dem gemeinen Wert sind (wie § 9 Abs. 2 BewG bestätigt) Wirtschaftsgüter. Wirtschaftsgut ist ein materielles oder immaterielles selbständig bewertungsfähiges Gut, das allein oder zusammen mit anderen Gütern Gegenstand des Geschäftsverkehrs sein kann35. Die Bewertung mit dem gemeinen Wert (Verkehrswert) ist also Einzelbewertung. Für die in § 2 BewG vorgeschriebene Gesamtbewertung wirtschaftlicher Einheiten ist daher der „gemeine Wert“ nicht verwendbar. Es gab ursprünglich nach dem Verständnis des BewG keinen „gemeinen Wert“ wirtschaftlicher Einheiten, insbesondere keinen Wert von landwirtschaftlichen, gewerblichen und freiberuflichen Betrieben. Das ist auch völlig klar, denn für Unternehmen gibt es keinen Markt, auf dem Vergleichspreise i. S. d. § 9 Abs. 2 BewG ermittelt werden könnten. Es gab nur fiktive Unternehmenswerte aufgrund einer Gesamtbewertung nach der Ertragswertmethode oder einer additiven (subtraktiven) Ermittlung aufgrund von Einzelbewertungen der Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens und der Verbindlichkeiten.

__________ 33 BVerfG v. 7.11.2006, a. a. O., (s. Fn. 4). 34 Vgl. Raupach, Der Verkehrswert als alleiniger Bewertungsmaßstab für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer, DStR 2007, 238, m. w. N. 35 Gürsching/Stenger, § 9 BewG, Rz. 24/25.

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Seit dem ErbStRefG v. 24.12.2008 wird der gemeine Wert aber auch auf wirtschaftliche Einheiten bezogen. Das geschieht – in § 109 Abs. 1 BewG n. F. unter Verweisung auf § 11 Abs. 2 BewG n. F. für das Betriebsvermögen; danach gelten die Bewertungsgrundsätze für Anteile an KapGes.: Ableitung aus Verkäufen, die weniger als ein Jahr zurückliegen oder Ermittlung nach der Ertragswertmethode; die Summe der gemeinen Werte der Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens bildet die Untergrenze und – in § 162 Abs. 1 BewG n. F. für den Wirtschaftsteil land- und forstwirtschaftlicher Betriebe unter dem Gesichtspunkt der Betriebsfortführung mit dem nach der nachhaltigen Ertragsfähigkeit ermittelten Wirtschaftswert, der sich nach dem bei ordnungsmäßiger Bewirtschaftung gemeinhin und nachhaltig erzielbaren Reingewinn (§ 163 Abs. 1 BewG n. F.) oder bei Veräußerung innerhalb von 15 Jahren der Liquidationswert (§ 162 Abs. 3 i. V. m. § 166 BewG n. F.) ausgenommen bei Reinvestition in einen landwirtschaftlichen Betrieb ergibt. Der gemeine Wert wandelt sich in § 11 Abs. 2 BewG n. F. plötzlich vom Veräußerungs- in einen Erwerbspreis und zwar für die Bewertung von Kapitalanteilen und für das Betriebsvermögen (s. u. III. 4 a). 3. Ertragswert oder Substanzwert? a) Das ökonomische Begriffspaar Die Maßgeblichkeit der Ertragswertmethode für die Ermittlung von Verkehrswerten wirtschaftlicher Einheiten (z. B. Unternehmen) ergibt sich daraus, dass der Preis für den Verkauf ertragsbringender Vermögenswerte von dem subjektiven Nutzen abhängt, den das Bewertungsobjekt stiftet.36 Der ökonomische Begriff des Ertragswertes ist daher keine Spezialität der Unternehmensbewertung, sondern erklärt sich aus seinem Zweck, eine Grundlage für ökonomischrationale Entscheidungen bereitzustellen.37 Daher ist das Ertragswertprinzip in ökonomischer Betrachtung eine Selbstverständlichkeit.38 Moxter fragt zu Recht: „Was dürfte ein Erwerber vergüten oder (ein Veräußerer erwarten, vergütet zu bekommen), außer diese künftigen Erträge?“39 Dagegen beruhen Substanzwerte auf einer Einzelbewertung von Vermögenund Schuldpositionen zum am Markt beobachtbaren bzw. erzielbaren Preisen,40 und zwar – für nicht betriebsnotwendige Güter41 und

__________ 36 Schultze, a. a. O., (s. Fn. 31), S. 19. 37 Busse von Colbe, DStJG, Bd. 7 (1984), 39, 40 f.; Osterloh, a. a. O., (s. Fn. 20), 382. 38 Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung, DStJG, Bd. 7 (1984), 387 (390). 39 Moxter, a. a. O., (s. Fn. 38). 40 Schultze, a. a. O., (s. Fn. 31), S. 19. 41 IDW, Wirtschaftsprüferhandbuch, Bd. II.

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– zur Überwindung von Schwierigkeiten bei der Ermittlung von Ertragswerten wirtschaftlicher Einheiten, z. B. Unternehmen.42 Substanzwerte können in drei Formen ermittelt werden:43 – Als Reproduktionswert (Wiederbeschaffungswert) oder – auf der Grundlage der ersparten Kosten oder – als Liquidationswert im Falle der Zerschlagung des Unternehmens. Stets handelt es sich dabei um eine Einzelbewertung einzelner Wirtschaftsgüter, die im Falle der Unternehmensbewertung zu einem synthetischen Unternehmenswert zusammengefasst werden. b) Das steuerliche Begriffspaar Ohne Rücksicht auf die ökonomische Bedeutung der Begriffe Ertragswert (für die Gesamtbewertung von Unternehmen) und Substanzwert (für die Einzelbewertung von Gütern) hat sich traditionell im Steuerrecht für die Bewertung bei der Besteuerung von Vermögenswerten ein Begriffspaar „Sollertragswert/ Substanzwert“ entwickelt: – Der Sollertragswert, dem traditionell eine verschonende Wirkung im Verhältnis zum Verkehrswert beigemessen wird,44 knüpft an die Ertragsfähigkeit des ruhenden Vermögens an;45 er war Grundlage der Vermögensbesteuerung. – Der Substanzwert wird ertragsunabhängig ermittelt und stellt die Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuer dar; als Substanzwert wird dabei der gemeine Wert verstanden, den das BVerfG mit dem Verkehrswert gleichsetzt.46 c) Vergleich der Begriffspaare Die Abweichung der steuerlichen und ökonomischen Begriffsinhalte von Substanz- und Ertragswert sind bedauerlich, zumal die Kenntnis der Unterschiede nicht zum juristischen Allgemeingut zu gehören scheint, obwohl Lerke Osterloh dies eindringlich dargestellt hat.47 Zugespitzt ließe sich als Gegensatz formulieren: – Für die Unternehmensbewertung wird der Ertragswert ökonomisch als Verkehrswert angesehen, – für die Erbschaftsteuer wird der Substanzwert als Verkehrswert definiert.

__________ 42 Moxter, a. a. O., (s. Fn. 38), 395. 43 Sieben/Maltry in Peemöller (Hrsg.), Praxishandbuch der Unternehmensbewertung, 2. Aufl. Herne/Berlin 2002, S. 377 ff. 44 Vgl. Lerke Osterloh, a. a. O., (s. Fn. 20). 45 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht Köln, 20. Aufl. 2010, § 13, Tz. 11 ff. 46 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (3) = FR 2007, 338. 47 Lerke Osterloh, a. a. O., (s. Fn. 20).

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Mit der Neuregelung durch das ErbStRefG v. 24.12.2008 hat sich auch die (juristische) Sollertragsermittlung grundlegend geändert: – Nach § 36 Abs. 2 BewG war für die Ermittlung des Ertragswerts land- und forstwirtschaftlicher Betriebe von der Ertragsfähigkeit auszugehen. Dabei war der bei ordnungsmäßiger und schuldenfreier Bewirtschaftung mit entlohnten fremden Arbeitskräften gemeinhin nachhaltig erzielbare Reinertrag maßgeblich. Ertragswert war das 18-fache des Reinertrags. Zur Feststellung diente ein Vergleichswertverfahren (§§ 38 ff. BewG a. F.). – An die Stelle des Ertragswerts i. S. d. § 36 BewG tritt der gemeine Wert unter dem Gesichtspunkt der Betriebsfortführung (§ 162 Abs. 1 BewG n. F.); damit wird der Gebrauchswert als modifizierter Verkehrswert normiert.48 Zur Ermittlung des Wirtschaftswerts land- und forstwirtschaftlicher Betriebe ist vom Reinertrag bei Selbstbewirtschaftung auszugehen, ein angenommener Lohnansatz für Betriebsinhaber (Unternehmerlohn) und nicht entlohnte Arbeitnehmer ist abzuziehen. Zwar wird eine Angleichung an den Ertragswert des Betriebsvermögens erreicht, im Gegensatz zum Betriebsvermögen werden jedoch typische Ertrags- und Aufwandspositionen aus dem Teilbetriebsnetz des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) berücksichtigt.49 Das neu eingeführte Mindestwertverfahren, das auf Pachtwerte abstellt, berücksichtigt zu Lasten der Landwirtschaft nicht, dass die Pachtpreise für landwirtschaftliche Grundstücke durch die Subventionen für Biogasanlagen künstlich in die Höhe getrieben werden. Eine Schlechterstellung gegenüber der Mindestbewertung des Betriebsvermögens, bei der die Summe der gemeinen Werte der Einzelwirtschaftsgüter die Untergrenze bilden, ist verfassungsrechtlich bedenklich. 4. Probleme der Verkehrswertermittlung a) Veräußerungspreis oder Erwerbspreis? Das BVerfG identifiziert den gemeinen Wert (§ 9 Abs. 1 BewG) mit dem Verkehrswert50. Auch das Schrifttum geht davon aus, dass der steuerrechtliche Begriff des gemeinen Werts gleichbedeutend mit dem im Wirtschaftsleben verwendeten Begriffen „Verkehrswert“ oder „Marktwert“ ist.51 Zur Ermittlung von Marktwerten ist zwischen Absatz- und Beschaffungsmärkten, also zwischen Veräußerungs- und Beschaffungspreisen zu unterscheiden. Märkte sind – von Börsen einmal abgesehen – gewöhnlich nicht vollkommen; der Beschaffungspreis eines Gutes kann daher erheblich von einem Verkaufspreis zum gleichen Zeitpunkt abweichen.52

__________ 48 49 50 51 52

Vgl. Moench/Weinmann, ErbStG Erstkommentierung, Freiburg 2009, S. 154. Vgl. Moench/Weinmann, a. a. O., (s. Fn. 48), S. 157. BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (3) = FR 2007, 338. Vgl. Gürsching/Stenger, § 9 BewG, Rz. 2. Busse von Colbe, a. a. O., (s. Fn. 37), 43; s. dazu auch Lang, a. a. O., (s. Fn. 2), StuW 2008, 194.

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Der Erbschaftsteuer als Erbanfallsteuer, die den unentgeltlichen Vermögenszuwachs erfassen will, entspricht die Bewertung mit dem Erwerbspreis besser als die mit dem Veräußerungspreis. Obwohl nach § 9 Abs. 2 BewG der gemeine Wert ein Veräußerungswert ist, ist in § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG n. F. für die Ermittlung des Ertragswerts von Anteilen an Kapitalgesellschaften bestimmt, dass die Methode anzuwenden ist, „die ein Erwerber der Bemessung des Kaufpreises zugrunde legen würde.“ Dies gilt nicht nur für Anteile an Kapitalgesellschaften, sondern auch für die Bewertung von Betrieben (§ 109 Abs. 1 BewG n. F.). Auch bei Bewertung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe wird mit dem Fortführungswert der Wert eines Betriebes aus der Sicht des Erwerbers gemeint.53 Objektive Werte sind nur zu erwarten, wenn das zu bewertende Gut zeitnah veräußert oder erworben wurde (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG) oder wenn zur Bewertung wenigstens ein Markt für vergleichbare Güter besteht. Bei Unternehmen ist das nicht der Fall. Es bedarf dann für Steuerzwecke besondere Objektivierungen (s. u. c). b) Spannungsverhältnis Verkehrswert/Ertragswert … … überschreibt Seer54 einen Abschnitt zur „Rechtsentwicklung und Zweck des BewG“. Dabei versteht er Ertrags- und Verkehrswert als „zwei leitende Wertbegriffe, die einander nicht über- bzw. untergeordnet, sondern nebengeordnet sind. Dabei wird – der Verkehrswert – unter Außerachtlassung des Umstandes, dass es auch einen Beschaffungsmarkt gibt – als „Veräußerungs-, Verkaufs-, Markt- und Tauschwert“ verstanden und mit dem gemeinen Wert § 9 BewG als fundamentalem (leitenden) Bewertungsmaßstab gleichgesetzt; – der Ertragswert als Wert verstanden, bei dem die Erträge des Erwerbsvermögens zwar den Verkehrswert beeinflussen, gleichwohl bilde sich im Verkehrswert mehr als der Ertragskraft eines Wirtschaftsgutes ab; als Beispiel nennt Seer „unbebaute Grundstücke, Edelmetalle, Kunstgegenstände u.Ä.“. Zu Recht mag man ein Spannungsverhältnis zwischen Verkehrswert und Ertragswert annehmen. Das Begriffspaar verdeutlicht jedenfalls die durchaus unterschiedlichen Schwierigkeiten der Bewertung ruhenden Vermögens, für das es keinen Markt gibt. Je nachdem, ob es ertragsbringend oder ertragslos ist: – Bei ertragsbringenden Einheiten wie z. B. Unternehmen, stellt die Ertragswertmethode wegen der fehlenden Marktpreise eine Hilfe für die subjektive Preisbestimmung von Veräußerer und Erwerber, die aber i. d. R. nicht zu einem „richtigen“ Unternehmenswert führt, sondern zu einer Bandbreite von Ertragswerten, aufgrund deren durch ein Mittelwertverfahren, durch branchenübliche Bewertungsverfahren oder mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens ein objektivierter Unternehmenswert geschätzt werden kann.

__________

53 Moench/Weinmann, a. a. O., (s. Fn. 48), S. 154. 54 Seer in Tipke/Lang, a. a. O., (s. Fn. 21).

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Begriffsversirrung bei der erbschaftsteuerlichen Bewertung

– Bei der Möglichkeit eines Nutzungswechsels Beispiel: Ein betriebsnotwendiges landwirtschaftliches Grundstück wird Bauerwartungsland.

ergibt sich die Frage, ob der gegenüber dem landwirtschaftlichen Unternehmenswert erhöhte Verkaufspreis des Bauerwartungslandes nach dem Bewertungsziel des ErbStG erfasst werden darf: Eine Bewertung mit dem Wiederbeschaffungswert würde zum Ansatz des landwirtschaftlichen Ertragswerts des Grundstückes führen, nicht zum höheren Verkehrswert. – Bei nicht ertragsbringenden Wirtschaftsgütern werden kaum sichere Vergleichspreise zu ermitteln sein, daher werden Kunstgegenstände kaum objektiv bewertbar sein, bei Wirtschaftsgütern mit Börsenwert (Edelmetalle) entsteht das noch zu erörternde Problem der Berücksichtigung von Spekulationspreisen. c) Schwierigkeiten der Ertragswertermittlung; Notwendigkeit der Objektivierung für Steuerzwecke Die Ertragserwartungen eines Unternehmens zu bestimmen, ist ungemein schwierig.55 Werden Unternehmenswerte nach dem Ertragswertverfahren als fiktive Veräußerungswerte ermittelt, dann handelt es sich um von Verkäufer-, bzw. Käuferinteressen – also subjektiv – geprägte Werte. So entstehen Grenzpreise für die Verhandlung der Vertragspartner, nämlich Maximalpreise im Interesse des Käufers und Mindestpreise im Interesse des Verkäufers. Sie sind Verhandlungsgegenstand, nicht Verhandlungs- oder Beratungsergebnis.56 Entscheidenden Einfluss gewinnen daher Angebot und Nachfrage; diese sind unter Umständen Konjunktur und Saisonbedingungen unterworfen und krisenanfällig. Mit Schiedspreisermittlungen objektiver Sachverständiger kann versucht werden, die subjektive Bewertung zu objektivieren. Die Betriebswirtschaftslehre hat eine Reihe von Vereinfachungs- und Objektivierungsprinzipien entwickelt.57 Die Gegenwart erklärt sich aus der Vergangenheit und die Gegenwart ist die Basis der Zukunft; Vergangenheitsergebnisse sind daraufhin zu analysieren, ob sie eine Grundlage für die Schätzung des Zukunftsertrages bilden. Es bedarf dazu einer Vergangenheitsanalyse für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren, die die Einbettung des Betriebs in den Markt berücksichtigt sowie die Gesamtund Branchenmarktentwicklung.58 Ferner bedarf es einer Bereinigung der Vergangenheitserfolge, um außerordentliche und für die Zukunft nicht repräsentative Chancen und Risiken. Zu eli-

__________ 55 56 57 58

Moxter, a. a. O., (s. Fn. 38), 391. Moxter, a. a. O., (s. Fn. 38), 389. Moxter, a. a. O., (s. Fn. 38), 391; Peemöller, a. a. O., (s. Fn. 43), S. 34 ff. Peemöller, a. a. O., (s. Fn. 43), S. 36 ff.; vgl. dazu auch Drukarzcyk/Ernst, Branchenorientierte Unternehmensbewertungen, 2. Aufl. 2007.

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minieren ist auch das bilanzielle Vorsichtsprinzip, das dem Gläubigerschutz dient und von einer unterschiedlichen Bewertung von Chancen und Risiken geprägt ist. An Unsicherheit gewinnt die Ertragsbewertung durch den erforderlichen Zukunftsbezug. Dieser lässt sich zunächst für einen Zeitraum detaillierter Planung von drei bis fünf Jahren festlegen und dann entweder nach einer unendlichen oder begrenzten Lebensdauer des Unternehmens. Während sich die Ermittlung entscheidungsbezogener subjektiver Unternehmenswerte nach dem Kapitalzinssatz gemäß den individuellen Verhältnissen des Investors richtet, kommt es für Ertragswertverfahren für objektivierte Unternehmenswerte auf eine Alternativanlage an. Preisfindung für das ganze Unternehmen bedeutet stets Preisschätzung; ein Weg zur Objektivierung stellt der Übergang zur Methode der Einzelbewertung dar.59 Erforderlich ist dafür, dass nur solche Einzelwirtschaftsgüter berücksichtigt werden, deren Ertragswerte hinreichend konkretisiert sind. Das wird dem Umstand gerecht, dass ökonomisch gesehen der aufgrund von Einzelwerten ermittelte Unternehmenswert ein Substanzwert ist. Besonders schwer zu bewerten sind immaterielle Wirtschaftsgüter. In der Regel bleibt nichts übrig, als hier ein isoliertes Ertragswertverfahren anzuwenden, so etwa bei der Bewertung der Kundschaft oder Patenten und Erfahrungen. Zu einem Zusammentreffen von Ertrags- und Substanzwert kommt es auch bei einer Ertragsbewertung von Unternehmen und der Bewertung des nichtbetriebsnotwendigen Vermögens im Wege der Einzelbewertung. d) Kein Ansatz spekulativer Werte (Nachhaltigkeitsprinzip) Der gemeine Wert i. S. d. § 9 ist ein Einzelveräußerungspreis. Sein Ansatz begegnet Bedenken, wenn es nicht um die Bewertung einzelner Wirtschaftsgüter, sondern einer wirtschaftlichen Einheit geht (§ 2 BewG) und wenn nach dem Ziel der Bewertung nicht der Veräußerungswert, sondern der Beschaffungswert maßgebend sein sollte. Sieht man von dem letzteren Vorbehalt (Ansatz von Beschaffungswerten) ab, dann erscheint auf den ersten Blick die Bewertung von Kapitalvermögen mit Einzelveräußerungspreisen, also dem gemeinen Wert folgerichtig zu sein, jedenfalls insoweit, als es dafür vollkommene Märkte gibt, wie das bei Börsen bejaht werden kann:60 Hier werden Veräußerungs- und Erwerbspreis (abgesehen von der Courtage) einheitlich gebildet. Dagegen bestehen aber unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten gerade bei der Stichtagsbewertung erhebliche Bedenken, wegen der Abhängigkeit der Börsenpreise von wechselndem Angebot und Nachfrage. Rein spekulative Werte ohne nachhaltige Werterhöhung dürften der Erbschaftsteuer, wenn man ihrer Zielbestimmung folgt, nicht zugrunde gelegt werden.

__________ 59 Moxter, a. a. O., (s. Fn. 38), 395. 60 Vgl. Busse von Colbe, a. a. O., (s. Fn. 37), 43.

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Die langfristige Anlage in Wertpapieren dient in erster Linie der Erzielung von Zinsen und Dividenden, also der Vermögensnutzung;61 dabei wurde traditionellerweise der Börsenwert als diskontierter Wert zukünftiger Erträge verstanden.62 Insofern konnte in der Vergangenheit die irrtümliche Vorstellung aufkommen, dass der Börsenkurs im Grunde ein objektivierter Ertragswert sei. Die Wirtschaftskrise und die von ihr geprägte Börsenentwicklung dürfte diese Vorstellung endgültig zunichte gemacht haben. Das entstandene erhebliche Unsicherheitspotential schlägt sich in folgendem journalistischen Satz nieder: „Börsenkurse sind nichts anderes als die Summe aller Wetten auf die wirtschaftliche Zukunft eines Unternehmens, eines Landes oder der Weltwirtschaft. Das Problem: Egal wie viele Menschen in eine Richtung spekulieren, sie handeln aufgrund von Prognosen und die sind per definitionem unsicher.“63

Dass Börsenkurse ohne Rücksicht auf den „inneren Wert“ der Aktien zustande kommen, war auch dem BVerfG aus einem von ihm entschiedenen Fall bekannt, dem Beschluss des BVerfG vom 22.6.199564 „1. Die Beschwerdeführerin erhielt 1987 aufgrund eines testamentarischen Vermächtnisses ein Bankdepot mit verzinslichen Wertpapieren und Aktien zugewendet. Die mit dem Vermächtnis belastete Erbin sperrte dieses Depot zunächst, gab es erst nach mehreren Monaten teilweise und nach fast einem Jahr vollständig frei. 2. Mit Erbschaftsteuerbescheid vom 19.9.1988 wurde gegen die verstorbene Beschwerdeführerin Erbschaftsteuer i. H. v. 440.625 DM festgesetzt. Das Finanzamt legte dabei den Wert des Depots zum Todestag der Erblasserin i. H. v. 938.530 DM zugrunde; im Zeitpunkt der Freigabe des Depots betrug der Wert des unveränderten Depots nur noch 499.200 DM.“

Dem Erben verblieben also von seinem nachhaltigen Erwerb im Wert von einer halben Mio. DM nur 1/10. M. E. rechtfertigt die Stichtagsbewertung nicht jeden Ansatz vom Stichtag, vielmehr muss eine willkürliche Bewertung vermieden werden, nur der Ansatz nachhaltig erzielbarer Werte erscheint zur Bewertung des unentgeltlich erworbenen Vorteils geeignet. Das Nachhaltigkeitsprinzip ist auch sonst anerkannt, so bei der Ertragsbewertung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (§ 162 Abs. 1 BewG n. F.).

__________ 61 Dagegen entspricht es dem Angelsächsischen Prinzip, dass der Anleger seinen shareholder value zu realisieren versucht. Dies geschieht in erster Linie nicht durch Dividenden, sondern durch Veräußerung von Aktien und durch Kapitalrückzahlungen mit dem Ziel der Wiederanlage; der amerikanische Kapitalmarkt ist stärker als der deutsche ein Eigenkapitalmarkt (vgl. dazu Raupach, Das Verhältnis zwischen Gesellschaftsrecht und Bilanzrecht unter dem Einfluss international anerkannter Rechnungslegungsgrundsätze, in FS für Volker Röhricht, 1037/1038). 62 So z. B. Moxter, Jahresabschluss im Widerstreit der Interessen – Ziel und Zielerreichung –, in Baetge (Hrsg.), Vortragsreihe des Instituts für Revisionswesen an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 1982, WS 1982/1983, Düsseldorf 1983; dagegen aber Schreib, Der Jahresabschluss aus der Sicht der Streubesitzaktionäre, in Baetge (Hrsg.), Der Jahresabschluss im Widerstreit der Interessen, a. a. O., S. 320. 63 Böhringer, Gefahr einer Blase, SZ vom 5.3.2007. 64 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BStBl. II 1995, 671.

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IV. Kritische Würdigung der Werteentscheidung des BVerfG 1. Begründung des BVerfG für den Ansatz des Veräußerungswerts als alleinige Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuer Das BVerfG begründet den Ansatz des Veräußerungspreises als gemeinen Wert und alleiniger Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuer wie folgt: – Die Erbschaftsteuer besteuere als Erbanfallsteuer die bei dem jeweiligen Empfänger mit dem Erbfall eintretende Bereicherung. – Der durch den Erbfall anfallende Vermögenszuwachs sei jeweils mit seinem Wert zu erfassen und die daraus resultierende Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit dem Wert des Erwerbs zu besteuern. – Diese Belastungsentscheidung des Gesetzgebers sei gewährleistet, wenn sich das Gesetz am gemeinen Wert als maßgebenden Bewertungsmaßstab orientiert. – Denn die durch den Vermögenszuwachs beim Erwerber entstandene finanzielle Leistungsfähigkeit bestehe darin, dass der Erwerber aufgrund des Vermögenstransfers über Geld oder Wirtschaftsgüter mit Geldwert verfügt; letzterer könne durch den Verkauf der Wirtschaftsgüter realisiert werden. – Auch bei Wirtschaftsgütern, deren Wert typischerweise durch ihren regelmäßig anfallenden Ertrag realisiert würde, sei nicht der Ertragswert der einzige „wahre“ Wert, es bedürfe bei der generell am Substanzwertzugewinn orientierten Erbschaftsteuer des Rückgriffs auf den Verkehrswert, auch wenn die Ermittlungsmethode durch die zu erwartenden Erträge bestimmt werde. – Die Grundkonzeption der Erbschaftsteuer entspreche diesen Vorgaben, da es den gemeinen Wert als Regelbemessungsgrundlage vorsehe. Das BVerfG betrachtet also, wie ein großer Teil des Schrifttums, die Erbschaftsteuer als Substanzsteuer, die den Transfer von Vermögenssubstanz als Substanzerwerb mit den Bestandszugängen bewertet. Es deutet daher den Verkehrswert im Gegensatz zum Ertragswert – (mit dem aber offenbar nur der juristische Sollertragswert gemeint war, nicht der ökonomische Ertragswert) – als Substanzwert. 2. Kritik an der Argumentation des BVerfG Die Argumentation des BVerfG verwundert: – Die Qualifikation der deutschen Erbschaftsteuer als Erbanfallsteuer, die den jeweiligen Erwerber belastet, würde es nahelegen, den Erwerb und nicht die Veräußerung zugrunde zu legen. Daher begegnet die Wahl des gemeinen Werts als Bewertungsmaßstab für die Erbschaftsteuer Zweifeln, da er einen Einzelveräußerungswert aufgrund von Marktpreisen darstellt, die es für wirtschaftliche Einheiten, wie Betriebe, nicht gibt. – Das BVerfG entscheidet sich für den Veräußerungswert offenbar deshalb, weil es den Verkehrswert für einen bei der Veräußerung unter objektivier858

Begriffsversirrung bei der erbschaftsteuerlichen Bewertung

ten Bedingungen erzielbaren Preis hält. Abgesehen davon, dass daran häufig Zweifel bestehen, rechtfertigt dies nicht den Ansatz von Veräußerungspreisen, da für die Erbschaftsteuer als Ergänzung für die auf den entgeltlichen Erwerb bezogene Einkommensteuer die Bewertung mit dem Erwerbspreis näher liegt (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 2 BewG n. F.). – Besteht für das zu bewertende Gut kein Markt, wie das bei Betrieben (Unternehmen) der Fall ist, dann ist nur eine fiktive Gesamtbewertung auf der Grundlage der Ertragswertmethode oder eine Zusammenführung der einzelbewerteten Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens und der Verbindlichkeiten möglich. – Die Rechtfertigung des Ansatzes von gemeinen Werten (Verkehrswerten) mit der Begründung des BVerfG, die Erben erlangten ja durch den Erbfall die Verfügungsgewalt und damit die Veräußerungsmöglichkeit für die ererbten Güter, gerät an die Grenze der verfassungsrechtlichen Erbrechtsgarantie nach Art. 14 GG.65 Das gilt besonders dann, wenn die ererbten Wirtschaftsgüter stille Reserven enthalten, die bei der Veräußerung realisiert werden, so dass es nach geltendem Recht zu einer Doppelbelastung mit Erbschaftund Einkommensteuer kommt. Nicht zuletzt führt der Entschluss, Veräußerungswerte anzusetzen, zur Notwendigkeit von Verschonungsregelungen, um die Zerschlagung liquiditätsschwacher Unternehmen oder von Unternehmen in der Krise und damit die Vernichtung von Arbeitsplätzen zu vermeiden. 3. Schlussbemerkung Das BVerfG geht von der realitätsfernen Annahme aus, für ertragsbringende und ertragslose Güter, für die Marktpreise bestehen oder nicht, und die fungibel sind oder nicht, könne eine gleichheitssatzkonforme Besteuerung dadurch erreicht werden, dass der Ansatz von tatsächlichen oder fiktiven Veräußerungspreisen erfolgt, wobei die Preise entweder auf einem geordneten Markt nach Angebot und Nachfrage oder in Zeiten einer Krise oder aufgrund reiner Spekulation erzielt oder auch geschätzt werden.

__________ 65 Vgl. Lang, a. a. O., (s. Fn. 2), StuW 2008, 203.

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4. Umsatzsteuerrecht Wolfram Reiß

Steuergerechtigkeit und Umsatzbesteuerung im Europäischen Binnenmarkt Inhaltsübersicht I. Joachim Lang zur Gerechtigkeitsqualität der Umsatzbesteuerung II. „Verbrauchsortprinzip“ und internationale Verteilungsgerechtigkeit nach dem Äquivalenzprinzip III. Subjektive Leistungsfähigkeit, soziokulturelles Existenzminimum und Verteilungsgerechtigkeit IV. Steuerbefreiungen und ermäßigte Steuersätze – europarechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben

V. Gleichheitssatzgemäße Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit VI. Durchbrechungen einer gleichheitssatzgemäßen Besteuerung unter Lenkungsgesichtspunkten VII. Der EuGH und der Gleichheitssatz: Alle Endverbraucher sind gleich, aber Unternehmer sind gleicher VIII. Resümee

I. Joachim Lang zur Gerechtigkeitsqualität der Umsatzbesteuerung Ganz in der Tradition seines akademischen Lehrers Klaus Tipke stehend, fordert Joachim Lang ein gerechtes, ethisch fundiertes Steuerrecht1. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung und systemtragender Vergleichsmaßstab identifiziert. Der verfassungsrechtlich im allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG verankerte Grundsatz der Steuergerechtigkeit verlange, dass die Steuerlasten auf die Steuerpflichtigen im Verhältnis ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilt werden2. Erkennbar problematisch erscheint Joachim Lang jedoch die Offenheit des Prinzips der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit für eine Übermaßbesteuerung bei einseitiger Betonung der sozialethischen Komponente eines sozialstaatlichen Verständnisses unter dem Gesichtspunkt einer „Gerechtigkeit der Umverteilung“. Auf verfassungsrechtlicher Ebene müsse daher die

__________ 1 J. Lang, Über das Ethische in der Steuertheorie von Klaus Tipke, in J. Lang (Hrsg), Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, FS für K. Tipke, Köln 1995, 3 f. 2 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 81 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG, u. a. BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, Familienlastenausgleich; vgl. auch BVerfG v. 12.6.1990 – 1 BvL 72/86, BVerfGE 82, 198 und v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 273.

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Steuerordnung kompatibel mit den Eigentümer- und Freiheitsgrundrechten ausgestaltet werden. Unter Aufnahme namentlich der Lehren von Paul Kirchhof und der durch diesen maßgeblich geprägten Rechtsprechung des 2. Senates des BVerfG3 sei zu verlangen, dass Sozialstaatlichkeit und Freiheitlichkeit der Besteuerung ausbalanciert werden4. Wohl auch im Sinne einer Mäßigung des steuerlichen Zugriffes sieht Joachim Lang inzwischen im „finanzwissenschaftlichen Äquivalenzprinzip“ eine komplementäre Ergänzung zum Leistungsfähigkeitsprinzip5. Dabei geht es ihm nicht um eine Äquivalenz zwischen konkret auferlegter Steuerlast und dafür gewährter Gegenleistung. Ein solches auch quantitativ konkret ausgeglichenes do ut des verbietet sich schon aus der Funktion der Steuer als der Auferlegung von Geldleistungen ohne Gegenleistung zum Zwecke der allgemeinen Finanzierung staatlicher Aufgabenerfüllung. Wohl aber bedürfe die Auferlegung von Steuern der Rechtfertigung auch nach einem besser als „Nutzenprinzip“ zu bezeichnenden Äquivalenzprinzip im Sinne einer generellen Äquivalenz zwischen der Auferlegung steuerlicher Lasten und dem generellen Nutzen, den der Steuerzahler aus der steuerfinanzierten Gemeinschaft zieht. Idealiter erfolge nach dem Nutzenprinzip die Rechtfertigung von Steuern dadurch, dass für den Steuerzahler die Vorteilhaftigkeit der Zugehörigkeit zur steuerfinanzierten Gemeinschaft die Steuerlast überwiegt6.

__________ 3 Vgl. dazu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, Vermögensteuer – Halbteilungsgrundsatz, und BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97, ESt und GewSt, kein Halbteilungsgrundsatz. Auch in der Entscheidung v. 18.1.2006 folgt der 2. Senat weiterhin dem Ansatz, dass bei der Auferlegung steuerlicher Zahlungspflichten der Schutzbereich des Art. 14 GG betroffen ist, lehnt allerdings eine quantifizierende Begrenzung im Sinne eines Halbteilungsgrundsatzes jedenfalls für die Einkommen- und Ertragsbesteuerung ab. Das Urteil betont im Unterschied zum Urteil vom 22.6.1995 die grundsätzliche Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers für Bemessungsgrundlage und Tarif. Auch bei – zulässiger, aber nicht gebotener – Wahl eines progressiven Tarifes dürfe die steuerliche Belastung hoher Einkommen für den Regelfall nicht so weit gehen, dass der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt wird. 4 J. Lang, in FS K. Tipke, a. a. O., (Fn. 1), 3 (20, 21) unter Hinweis auf P. Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), 213 (231 f.); P. Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, S. 87, 116 ff., 123 ff. und P. Kirchhof, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, Gutachten (F) zum 57. Deutschen Juristentag, München 1988; vgl. auch P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, Tübingen, 2000, 50 f.; vgl. auch J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 214 f., 226 (zum „Prinzip eigentumsschonender Besteuerung“ zur Abschirmung des Gleichheitssatzes gegen „umverteilungsideologische Fehlentwicklungen“). 5 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 86. 6 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, in Spindler/Tipke/Rödder (Hrsg.), Steuerzentrierte Rechtsberatung, FS Harald Schaumburg, Köln 2009, 45 (47). Die Gegenüberstellung von einem Schweizer Steuerhimmel und der „deutschen Steuerhölle“ im Anschluss an wohl auch nicht so ganz unparteiliche kritische Schweizer Pressestimmen im Gefolge des gegen Entgeltzahlung erfolgenden Erwerbs von durch die Veräußerer unrechtmäßig erlangten Daten einer Liechtensteiner Bank wird freilich nicht jeden überzeugen.

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Lang hat für die Prinzipien des Internationalen Steuerrechtes zur Aufteilung von Steuersubstrat auf mehrere Staaten Rekurs sowohl auf das Leistungsfähigkeitsprinzip als auch ergänzend auf das Nutzenprinzip genommen. Die Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip im Wohnsitzstaat werde modifiziert durch die dem Nutzenprinzip folgende Besteuerung nach dem Territorialitätsprinzip im Quellenstaat7. Den Prinzipien der Aufteilung von (Einkommen-)Steuersubstrat auf Quellenund Wohnsitzstaat ist im Rahmen dieses Beitrages zur Steuergerechtigkeit der Umsatzbesteuerung nicht weiter nachzugehen. Auf die aus dem Nutzenprinzip abgeleitete Zuweisung des Steueraufkommens bei den indirekten Steuern zu dem Staat, dessen Ordnung und Sicherheit der Konsument in Anspruch nimmt, wird zurückzukommen sein. Sieht man von dem positiv bewerteten Zusammenwirken von Leistungsfähigkeitsprinzip und Nutzenprinzip bei der Aufteilung des (Einkommen-)Steuersubstrates zwischen Quellen- und Wohnsitzstaat ab, so stellt sich das Verhältnis von Leistungsfähigkeitsprinzip und Nutzenprinzip nach Lang wie folgt dar. Dem Steuerwettbewerb sei geschuldet, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip gegenüber dem Nutzenprinzip an Boden verliere. Für die Einkommensbesteuerung wird gefolgert, dass Steuern auf das Einkommen, besonders Steuern auf Unternehmensgewinne und Kapitalerträge reduziert werden müssten. Die Nutzenrelation der Belastung durch Steuern auf das Einkommen müsse zu den übrigen Standortfaktoren akzeptabel sein. Innerhalb dieses Rahmens sei die Besteuerung des Einkommens allerdings weiterhin strikt am Leistungsfähigkeitsprinzip auszurichten, um in der Steuerrechtsordnung den Wert gerechter Zuteilung der Steuerlasten nach der Fähigkeit zur Steuerzahlung zu bewahren8. Angemahnt wird von Lang insoweit für die Einkommensbesteuerung die strikte Einhaltung des objektiven Nettoprinzips. Die „Gegenfinanzierung“ von dem Steuerwettbewerb geschuldeten Tarifsenkungen durch das objektive Nettoprinzip verletzende „Verbreiterungen der Bemessungsgrundlage“ wird scharf kritisiert und als verfassungswidrig und europarechtswidrig gebrandmarkt9. Sehr viel ernüchternder fällt Joachim Langs Stellungnahme zur Gerechtigkeitsqualität und zur Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips als systemtragendem Vergleichsmaßstab und als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung für die Umsatzbesteuerung aus. Die Umsatzsteuer wird im Einklang mit der allgemeinen Auffassung als indirekte Steuer auf den Konsum eingeordnet. Konstatiert wird, dass unter dem Einfluss des Steuerwettbewerbs der Anteil der indirekten Steuern am Steueraufkommen zunimmt10. Lang verweist insoweit speziell auch auf die Umsatz-

__________ 7 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, a. a. O., (Fn. 6), 47 (48). 8 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, a. a. O., (Fn. 6), 50 (58 f.). 9 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, a. a. O., (Fn. 6), 58 f.; vgl. auch J. Lang, Kritik der Unternehmenssteuerreform 2008, in P. Kirchhof/H. Nieskens/ D. Dürrschmidt/H. Weggenmann (Hrsg.), Festschrift W. Reiss, Köln 2008, 379 (389 f.). 10 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, a. a. O., (Fn. 6), 51 (52); J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 88, 111.

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steuer und die dort erfolgten Tariferhöhungen auf nunmehr 19 %. In der Tat hat sich der Tarif der Umsatzsteuer seit Einführung der Umsatzsteuer vom Typ (europäische) Mehrwertsteuer im Jahre 1968 von 10 % (und 5 %) auf nunmehr 19 % (und 7 %) nahezu verdoppelt. Prophezeiungen über weitere Tariferhöhungen im Bereich der Umsatzbesteuerung noch in dieser Legislaturperiode zwecks Gegenfinanzierung etwaiger Entlastungen im Bereich der Ertragsbesteuerung oder sonst zur Schließung von Haushaltslöchern erscheinen derzeit nicht als besonders gewagt. Für die indirekten Steuern auf den Konsum einschließlich der Umsatzsteuer hält Lang fest, dass die Konsumleistungsfähigkeit zwar unbestreitbar eine Art von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit darstelle. Auch die Einkommensverwendung für den Konsum indiziere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Allerdings belasteten indirekte Steuern die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht zielgenau. Anders als eine direkte konsumorientierte (Einkommens-)Besteuerung sei die indirekte Besteuerung der Einkommensverwendung für den Konsum blind für die Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse. Namentlich belasteten indirekte Steuern auf den Konsum auch das Existenzminimum. Für die Verwirklichung des Besteuerungstatbestandes sei es irrelevant, ob der indirekt steuerbelastete Verbrauch überhaupt aus Einkommen bestritten oder auf Kredit finanziert werde. Irrelevant sei, ob das verbrauchsteuerlich belastete Brot vom Millionär oder vom Bettler erworben werde. Zwischen dem Erwerb von Gütern und Dienstleistungen für den existenznotwendigen Lebensbedarf und der Bestreitung von Luxuskonsum werde nicht differenziert. Daher lasse sich steuerliche Leistungsfähigkeit bei der indirekten Besteuerung des Verbrauchs allenfalls vermuten oder typisiert annehmen11. Die Schlussfolgerung Joachim Langs aus diesem Befund fällt ambivalent aus. Einerseits heißt es, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip für alle Steuern gilt, auch für die indirekten Steuern auf den Konsum12. Andererseits wird ausgeführt, dass sich indirekte Steuern schwerlich am Leistungsfähigkeitsprinzip ausrichten lassen. Es sei höchst zweifelhaft, ob eine indirekte Besteuerung des Konsums noch als gerechte Belastung steuerlicher Leistungsfähigkeit verstanden werden könne. Es diene daher dem gerechten Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips, wenn seine Herrschaft im Bereich der indirekten Steuern nicht künstlich aufrechterhalten werde. In diesem Bereich „alter Steuern“13 herrsche noch das herkömmliche Nutzenprinzip. Steuern seien der Preis für die staatliche Ordnung und Sicherheit, die der Konsument in Anspruch nimmt.

__________ 11 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, a. a. O., (Fn. 6), 51, 52; J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 85, 111 unter Berufung auf P. Kirchhof, 40 Jahre Umsatzsteuergesetz, DStR 2008, 1 (3); Umsatzsteuer Gesetzbuch – Vorschlag zur Reform der Umsatzsteuer und der Verkehrsteuern, Heidelberg, 2008, 20. 12 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 85. 13 Lang, a. a. O., (Fn. 11), nimmt hier unter Berufung auf Schmölders, Verbrauch und Aufwandssteuersystem, in HdB der Finanzwissenschaft2, Bd. II, Tübingen 1956, 635, 636 Bezug auf die Akzisen als Vorläufer der heutigen Verbrauchsteuern. Zur Vorläufereigenschaft und Verwandtschaft mit der Umsatzbesteuerung s. auch Reiß, Der Belastungsgrund der Umsatzsteuer, DStJG 13 (1990), 3 (36).

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Den Gerechtigkeitsgehalt des insoweit für die indirekten Steuern aktivierten Nutzenprinzips schätzt Lang erkennbar geringer ein als den des Leistungsfähigkeitsprinzips. Führt er doch aus, dass die Gerechtigkeit der direkten Steuern lediglich durch die Unmerklichkeit der indirekten Konsumsteuern ergänzt wird, dass durch Verteilung des Steueraufkommens auf die verschiedenen Steuerarten erreicht werde, dass keine Steuer als zu drückend empfunden werde. Unter spezieller Hervorhebung der Umsatzsteuer wird als Vorzug der indirekten Besteuerung ausgeführt, dass sie jedenfalls dafür sorge, dass auch der Einkommensteuerhinterzieher über die Belastung seines Konsums zur Finanzierung des Staates beiträgt14. Dies ist zweifellos eine zutreffende Beschreibung des Zusammenwirkens von direkter Einkommensbesteuerung und indirekter Besteuerung von Konsumaufwendungen (auch) durch die Umsatzbesteuerung. Fraglich erscheint dem Verfasser dieser Zeilen aber doch, ob diese tatsächlichen für die Aufkommenserzielung vorteilhaften Auswirkungen einer ergänzend zur direkten Besteuerung des Einkommens erfolgenden indirekten Besteuerung der Einkommensverwendung auf die Betroffenen und ihre Psyche ausreichen, um die Umsatzsteuer als eine gerechte Steuer zu rechtfertigen. Isoliert gesehen ergeben sich an einer auf diese Gründe beschränkten Rechtfertigung doch erhebliche Zweifel. Die Gans so zu rupfen, dass sie es nicht merkt, ist zweifellos schon seit den Zeiten Ludwigs des XIV. ein Gebot steuerpolitischer Klugheit. Dasselbe gilt dafür, die den Einzelnen treffende Steuerlast dadurch zu verschleiern, dass er mit verschiedenen Steuerarten belastet wird und ihm dadurch das Gefühl einer als besonders drückend empfundenen Steuerbelastung zu nehmen. Und den ehrlichen Steuerzahler wird nicht unbedingt überzeugen, dass auch er mit Umsatzsteuer zu belasten ist, damit auch der Steuerhinterzieher belastet werden kann. Das dürfte auch Joachim Lang so sehen. Führt er doch unter Bezugnahme auf die Besteuerungsmaximen von Adam Smith15 zum Verhältnis Gerechtigkeit, Ergiebigkeit, Unmerklichkeit und Praktikabilität für die Steuerarten aus, dass die indirekten Steuern auf die Verwendung von Einkommen wohl unmerklich, praktikabel und ergiebig seien, dies allerdings zu Lasten der Gerechtigkeit. Gleichwohl sei aber auch bei den indirekten Steuern darauf zu achten, dass die Grundanforderungen der Steuergerechtigkeit nicht ausgehöhlt würden16. Wenn nun Unmerklichkeit, Praktikabilität und Ergiebigkeit nicht ausreichen, die Grundanforderungen an die Steuergerechtigkeit zu erfüllen, andererseits aber die Umsatzsteuer als indirekte Steuer sich schwerlich am Leistungsfähigkeitsprinzip ausrichten lasse und dessen Herrschaft im Bereich der indirekten Steuern daher nicht künstlich aufrechterhalten werden soll, so bedarf es eines anderen rechtfertigenden Prinzips. Joachim Lang hat insoweit auf das Nutzenprinzip verwiesen. Nachfolgend ist daher der Frage nachzugehen, ob das Nut-

__________ 14 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 94. 15 A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Ausgabe H. C. Recktenwald, München 1974 und dtv Nachdruck 2003. 16 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 8 Rz. 16.

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zenprinzip die Rechtfertigung der Umsatzbesteuerung tragen kann oder ob nicht doch die Rechtfertigung der Umsatzbesteuerung aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip rechtswissenschaftlich nicht nur weiterhin versucht werden sollte, sondern erforderlich ist17, um der Umsatzsteuer ihren Gerechtigkeitsgehalt zu erhalten.

II. „Verbrauchsortprinzip“ und internationale Verteilungsgerechtigkeit nach dem Äquivalenzprinzip Ebenso wie für die Ertragsbesteuerung stellt sich auch für die Umsatzbesteuerung die Frage nach der internationalen Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf den möglichen Steuerzugriff durch eine Mehrzahl von Staaten. Dabei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Einmal geht es dabei um eine Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Staaten selbst im Hinblick auf den Steuerzugriff dem Grunde und dem Umfang nach. Bei Zugriff durch mehrere Staaten bedarf es gegebenenfalls der Regelungen darüber, welchem Staat der vorrangige Zugriff zukommt oder wie sonst eine Verteilung zwischen den Staaten im Hinblick auf das Steuersubstrat vorzunehmen ist. Zum anderen geht es darum, dass und wie die Staaten sodann jeweils im Verhältnis zum Steuerpflichtigen oder Steuerträger zu berücksichtigen haben, dass ein (berechtigter) Zugriff auf das Steuersubstrat auch durch einen anderen Staat erfolgt. Das weit verstandene Äquivalenz- oder Nutzenprinzip im Sinne der Steuer als „Preis“ für den dem Steuerträger zukommenden Nutzen aus der Inanspruchnahme der Infrastruktur, des Schutzes und der Rechtsordnung eines Staates wird zutreffend sowohl für die Einkommensbesteuerung als auch für die Umsatzbesteuerung zur Rechtfertigung des Steuerzugriffes durch den Staat jedenfalls dem Grunde nach anerkannt18. Freilich ergeben sich in concreto unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die generalisierende Annahme eines der Steuerbelastung gegenüberstehenden Nutzens. Die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte für den steuerlichen Zugriff der Staaten bei der Einkommensbesteuerung einerseits und der Umsatzbesteuerung andererseits sind ausschließlich dem Umstand der unterschiedlichen Belastungskonzeption der Besteuerung einmal des Erzielens von Einkommen und andererseits der Verwendung von Einkommen (Vermögen) für den Endverbrauch (Konsum) geschuldet.

__________ 17 So Verfasser in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 14 Rz. 1 im Anschluss an K. Tipke, StRO II2, 979 f.; H. G. Ruppe, UStG3, Wien 2005, Einf. Rz. 39; ders. in Doralt/Ruppe, Steuerrecht I9, Wien 2007, Rz. 1202; vgl. auch Reiß, Die harmonisierte Umsatzsteuer im nationalen Wirtschaftsverkehr, in R. Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im europäischen Binnenmarkt, DStJG 32 (2009), 9 (11 f.); K. Tipke, Das Folgerichtigkeitsgebot im Verbrauch- und Verkehrsteuerrecht, in P. Kirchhof/H. Nieskens/D. Dürrschmidt/ H. Weggenmann (Hrsg.), Festschrift W. Reiss, Köln 2008, 9 (12 f.); J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Tübingen 2008 (Kölner Habilitationsschrift), 563 f.; 585 f.; vgl. auch BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (unter C II 4a allerdings zu den Verbrauchsteuern). 18 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, a. a. O., (Fn. 6), 47 (52).

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Für die Einkommensbesteuerung erfolgt insoweit die Anknüpfung für die beschränkte Steuerpflicht im Grundsatz danach, dass vom Steuerpflichtigen die Infrastruktur und Rechtsordnung des Staates in Anspruch genommen wird, in dem der Steuerpflichtige zur Erzielung des Einkommens tätig wird. Schon nach einseitig nationalem Recht und weitergehend nach Doppelbesteuerungsabkommen wird allerdings nicht jede Berührung mit der Rechtsordnung und jede Inanspruchnahme der Infrastruktur des Staates zum Anlass genommen, für die Einkommensbesteuerung den Zugriff zu eröffnen. So wird für den Zugriff auf unternehmerische Einkünfte regelmäßig verlangt, dass die Erstellung der die Einkünfte generierenden Leistung im betreffenden Staat erfolgte, während der bloße Absatz der Leistung gerade nicht den Zugriff eröffnet. Darüber hinausgehend wird der Zugriff auf Konstellationen beschränkt, bei denen jedenfalls typisierend davon ausgegangen werden kann, dass dem Steuerpflichtigen für die Erzielung der Einkünfte die Infrastruktur und der Schutz durch die Rechtsordnung des betreffenden Staates in nicht nur unwesentlichem Umfange zugute kommt. Davon kann etwa ausgegangen werden, wenn ein Zugriff nur für solche Einkünfte eröffnet wird, für deren Erzielung im Inland eine Betriebsstätte oder feste Einrichtung unterhalten wird. Auch bei der unbeschränkten Steuerpflicht gründet der Steuerzugriff dem Grunde nach auf einem weit verstandenen Äquivalenzprinzip. Die Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft begründet eben nicht nur die Pflicht zur Steuerzahlung, sondern dieser steht für den Ansässigen und/oder Staatsangehörigen auch der „Nutzen“ gegenüber, als Person unter dem Schutz der Rechtsordnung zu stehen und die Infrastruktur in Anspruch nehmen zu können. Anders als bei der beschränkten Steuerpflicht ist hier die „Äquivalenz“ nicht auf den „Nutzen“ beschränkt, den Infrastruktur und Schutz durch die Rechtsordnung des Staates für die Erwirtschaftung der Einkünfte bieten, sondern erstreckt sich – darüber hinausgehend – auch auf die persönliche Lebenssphäre. Den unterschiedlichen Bezugspunkten des Äquivalenzprinzips wird bei Zusammentreffen von unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht im Grundsatz dadurch Rechnung getragen, dass der Besteuerung im Staat der beschränkten Steuerpflicht lediglich die dort erwirtschafteten Einkünfte als zu besteuerndes Einkommen zugrunde gelegt werden. Dabei handelt es sich der Sache nach um einen Teilausschnitt des objektiven (Netto) Einkommens19. Dem Staat der unbeschränkten Steuerpflicht wird hingegen im Grundsatz auch die Berücksichtigung von in der persönlichen Lebenssphäre liegenden Umständen für die Bestimmung des letztlich der Besteuerung zu unterwerfenden subjektiven (Netto-)Einkommens zugewiesen. Der Besteuerung eines Teiles des objektiven Nettoeinkommens durch den Staat der beschränkten Steuerpflicht wird entweder durch Anrechnung der Steuer oder durch Freistellung Rechnung ge-

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19 Die häufig anzutreffende Quellenbesteuerung von Bruttobezügen berücksichtigt jedenfalls der Idee nach die Gewinnungsaufwendungen pauschalierend im Steuersatz. Das ist freilich eine höchst problematische „Vereinfachung“. Der europarechtlichen Unzulässigkeit einer abgeltenden Quellenbesteuerung von Bruttobezügen nur für beschränkt Steuerpflichtige ist in den §§ 50, 50a EStG inzwischen Rechnung getragen worden.

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tragen. Insoweit wird im Ergebnis unter dem Aspekt der internationalen Verteilungsgerechtigkeit dem Quellenstaat der Vorrang eingeräumt. Für das hier für den Vergleich zur Umsatzbesteuerung interessierende Verhältnis von Äquivalenz – und Leistungsfähigkeitsprinzip im Rahmen der internationalen Verteilungsgerechtigkeit ist insoweit festzuhalten: Die dem Äquivalenzprinzip geschuldete Verteilung des Zugriffes auf das Steuersubstrat dem Grunde nach ist voll mit dem den Umfang und Höhe des Zugriffes bestimmenden Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbar, soweit im Ansässigkeitsstaat die das subjektive Nettoeinkommen beeinflussenden persönlichen Umstände berücksichtigt werden können und die Besteuerung durch den Quellenstaat durch Anrechnung oder Freistellung berücksichtigt wird. Auch die Besteuerung im Quellenstaat steht dann nicht im Widerspruch zum Leistungsfähigkeitsprinzip. Der Steuerpflichtige wird im Ergebnis entsprechend seiner objektiven und subjektiven Leistungsfähigkeit (von beiden Staaten) mit Einkommensteuer belastet. Äquivalenzprinzip und Leistungsfähigkeitsprinzip wirken wie folgt zusammen. Das Äquivalenzprizip bestimmt die Berechtigung des Zugriffs auf das Steuersubstrat dem Grunde nach. Der genaue Umfang und Höhe des Zugriffes werden jeweils durch das Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisiert. Problematisch unter dem Aspekt einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist allein die Konstellation, dass dem Ansässigkeitsstaat mangels ausreichendem, seiner Besteuerung unterliegenden Steuersubstrat die Möglichkeit fehlt, die im Quellenstaat erfolgte Besteuerung zu berücksichtigen. Ob hier den Quellenstaat eine besondere Verpflichtung trifft, für eine Besteuerung nach der (Gesamt-)Leistungspflicht des Steuerpflichtigen zu sorgen und wie dieser durch den Quellenstaat zu genügen wäre, mag hier dahinstehen. Bei der Umsatzbesteuerung nach Maßgabe der europäischen MehrwertsteuerSystemrichtlinie (MwStSystRL)20 und des diese umsetzenden Umsatzsteuergesetzes können äquivalenztheoretische Überlegungen zur internationalen Verteilungsgerechtigkeit nicht bei der Person des leistenden Unternehmers ansetzen, sondern sie haben bei der Person des Verbrauchers der Leistung anzusetzen. Dies folgt daraus, dass die Umsatzbesteuerung auf die Belastung der Einkommens/Vermögensverwendung des (End-)Verbrauchers für seinen Verbrauch/Konsum abzielt. Die Person des leistenden Unternehmers spielt lediglich insoweit eine Rolle, als er als Werkzeug für die Einsammlung der den Endverbraucher belastenden Steuer eingesetzt wird. Im Ausgangspunkt müssen die äquivalenztheoretischen Überlegungen zur Berechtigung des Zugriffes der Staaten auf das Steuersubstrat daher daran anknüpfen, welcher Staat bei generalisierender Betrachtung dem Verbraucher einen Nutzen dadurch zuwendet, dass er ihm den Erwerb und Verzehr des Konsumgutes unter Nutzung seiner Infrastruktur und unter dem Schutz seiner Rechtsordnung ermöglicht. Unter diesem Aspekt stellt das „Verbrauchsortprinzip“ den äquivalenztheoretisch zutreffenden Anknüpfungspunkt für die

__________ 20 Richtlinie 2006/112/EG v. 28.11.2006, ABl. EG Nr. L 347, 1 in der Fassung der Richtlinie 2008/8/EG v.12.2.2008 zum Ort der Dienstleistung, ABl. EG Nr. L 44, 11.

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internationale Verteilungsgerechtigkeit bei einer Umsatzsteuer dar, der die Einkommens/Vermögensverwendung für den nichtunternehmerischen (privaten) Verbrauch als (leistungsfähigkeitskonformer) Belastungsgrund zugrunde liegt21. Diese Grundannahme liegt auch den Regelungen der MwStSystRL und des darauf aufbauenden UStG über die umsatzsteuerliche Behandlung des internationalen Warenverkehrs im Verhältnis zu Drittstaaten sowie des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs zugrunde22. Vermittels des Systems der Befreiung für die Ausfuhrlieferung und für die innergemeinschaftliche Lieferung einerseits und der Besteuerung der Einfuhr sowie des innergemeinschaftlichen Erwerbs andererseits und des Vorsteuerabzugs für Unternehmer wird im Ergebnis prinzipiell erreicht, dass der Endverbraucher nur mit der Umsatzsteuer des Staates belastet wird, in dem das Wirtschaftsgut dem Endverbrauch zugeführt wird. Für den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr wird dieses Ergebnis nicht erst über ein System der Befreiungen der Ausfuhr und Belastung der Einfuhr zu erreichen versucht, sondern unmittelbar über die Regelungen zum Ort der Dienstleistung. Der theoretisch richtige Ort der Dienstleistung unter dem Aspekt der internationalen Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Staaten ist der Ort, an dem die Dienstleistung vom Verbraucher konsumiert wird. Zutreffend wird daher nunmehr in den Begründungserwägungen zur Richtlinie 2008/8/EG zum Ort der Dienstleistung auch ausgeführt, dass „alle Dienstleistungen grundsätzlich an dem Ort besteuert werden sollten, an dem der tatsächliche Verbrauch erfolgt“23. Der für die internationale Verteilungsgerechtigkeit theoretisch richtigen Anknüpfung an den Ort des tatsächlichen Verbrauchs des Liefergegenstandes oder der Dienstleistung durch den Endverbraucher sind freilich erhebliche praktische Grenzen gesetzt. Es handelt sich primär um erhebungstechnische Grenzen, die gerade daraus resultieren, dass die Umsatzsteuer die Einkommensverwendung des Endverbrauchers für den Konsum von Gütern und Dienstleistungen indirekt besteuert. Die indirekte Besteuerung schließt es aus, bei der Besteuerung auf Merkmale abzustellen, die sich der (einfachen und rechtssicheren) Überprüfung und Verifizierung schon durch den als Steuerschuldner in Anspruch genommenen Unternehmer und letztlich auch durch die fisci entziehen. Auf den Ort des tatsächlichen Verbrauchs kann daher nur insoweit abgestellt werden, als er sich unmittelbar, einfach und rechtssicher schon für den leistenden Unternehmer bei der Leistungsabgabe an den Verbraucher fest-

__________ 21 So auch J. Englisch, Die territoriale Zuordnung von Umsätzen, in R. Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, DStJG 32 (2009), 165 f. und in der Diskussion, a. a. O., S. 277; zweifelnd Kube, a. a. O., S. 277. 22 Vgl. dazu M. Tumpel, Prinzipien, Systemschwächen und Reformbedarf bei der Umsatzbesteuerung des internationalen Güter- und Dienstleistungsverkehrs, in R. Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, DStJG 32 (2009), 52 f. 23 RL v. 12.2.2008 zur Änderung der RL 2006/112/EG bezüglich des Ortes der Dienstleistung.

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stellen lässt. Dies trifft beispielsweise auf die von Lang im Zusammenhang mit dem Nutzenprinzip betrachteten Restaurant- und Beherbergungsleistungen an Touristen zu24. Soweit dies nicht möglich ist, bedarf es hilfsweise der Anknüpfung an solche Merkmale, die typischerweise auf den Ort des tatsächlichen Verbrauchs hinweisen. Die nunmehrige Ausgestaltung des MwStSystRL trägt diesem Grundsatz einer am Verbrauchsortprinzip ausgerichteten internationalen Verteilungsgerechtigkeit unter Berücksichtigung erhebungstechnisch bedingter Modifikationen in weitem Maße Rechnung. Unter Verzicht auf Details seien insoweit folgende Grundzüge hervorgehoben25: Für den kommerziellen Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen voll vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmern ergeben sich wegen des ausgleichenden Vorsteuerabzugs ohnehin keine Aufkommensauswirkungen. Die Regelungen über die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen, die Erwerbsbesteuerung bei Lieferungen und über den Ort der Dienstleistung am Sitz des Empfängers, verbunden mit der Umkehr der Steuerschuldnerschaft (reverse charge), sorgen hier lediglich, aber immerhin, für die technische „Erleichterung“ der Erhebung. Die Finanzverwaltungen brauchen jeweils nur für die Erhebung bei „heimischen Unternehmern“ zu sorgen, die „heimischen Unternehmer“ brauchen sich jeweils nur mit „ihren Finanzverwaltungen“ auseinanderzusetzen. Bei den für das Aufkommen allein relevanten Lieferungen und Dienstleistungen an Endverbraucher (einschließlich der als solche behandelten nicht vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmer) wird dem Verbrauchsortprinzip beim Warenverkehr lediglich für Abhollieferungen mangels Kontrollmöglichkeit nicht entsprochen. Dies kann dann im Einzelfall dazu führen, dass das Steueraufkommen nicht dem Staat des „tatsächlichen Verbrauchs“, sondern dem Herkunftsstaat zukommt. Bei den Dienstleistungen wird über die speziellen Ortsregelungen in § 3a Abs. 3 bis Abs. 6 UStG und in § 3b UStG (Art. 46 bis Art. 59 MwStSystRL) teils wirklich an den beobachtbaren Ort des tatsächlichen Verbrauchs, teils an den jedenfalls präsumtiv zu vermutenden Ort des tatsächlichen Verbrauchs angeknüpft. Hier wie bei der Ortsbestimmung nach der Auffangregel des § 3a Abs. 1 UStG (Art. 45 MwStSystRL) am Sitzort des leistenden Unternehmers kann es im Einzelfall ebenso wie bei den Abhollieferungen dazu kommen, dass das Steueraufkommen nicht dem Staat des „tatsächlichen Verbrauchs“ zukommt, sondern dem Staat der Ansässigkeit des leistenden Unternehmers. Diese den Notwendigkeiten einer praktikablen und verifizierbaren Erhebung der Umsatzsteuer geschuldeten Einschränkungen der internationalen Auf-

__________ 24 J. Lang. Steuergerechtigkeit und Globalisierung, a. a. O., (Fn. 6), 52. 25 Vgl. dazu im Einzelnen: M. Tumpel, Prinzipien, Systemschwächen und Reformbedarf bei der Umsatzbesteuerung des internationalen Güter- und Dienstleistungsverkehrs und J. Englisch, Die territoriale Zuordnung von Umsätzen, in R. Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, DStJG 32 (2009), 52 f. und 165 f.

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kommensverteilung zwischen den Staaten nach dem Ort des tatsächlichen Verbrauches sind erkennbar für die Staaten selbst unter dem Aspekt der internationalen Verteilungsgerechtigkeit akzeptabel. Denn zu Abweichungen vom Zuteilungsmaßstab des Ortes des tatsächlichen Verbrauchs kommt es nur in geringfügigem Umfange. Auch insoweit kommt es dann noch zu sich ausgleichenden gegenläufigen Effekten. Gegenüber den Endverbrauchern als den mit der Umsatzsteuer zu belastenden Steuerträgern führt das modifizierte Zuteilungsprinzip des Ortes des tatsächlichen Verbrauchs auch unter dem Aspekt einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu keiner Verletzung der Steuergerechtigkeit. Der Verbraucher wird entsprechend seiner Einkommensverwendung für den Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen belastet. Diese Belastung erfolgt freilich bei grenzüberschreitendem Verbrauch durch mehrere Staaten gemäß deren Recht, so dass der Umfang der Belastung gegenüber einem Verbrauch nur im Staat der Ansässigkeit des Verbrauchers unterschiedlich sein kann. Die sich daraus ergebende unterschiedliche Belastung gegenüber einem Verbrauch nur im Staat der Ansässigkeit verletzt nicht den Grundsatz der Gleichbehandlung nach Maßgabe der Konsumleistungsfähigkeit. Es stellt jedenfalls auch einen sachgerechten Maßstab für die Steuerbemessungsgrundlage dar, nur das für den Verbrauch im jeweiligen Staat verwendete Einkommen zu berücksichtigen. Es handelt sich insoweit um eine Aufteilung, die einer Aufteilung des Einkommensteuersubstrates nur zwischen Staaten der beschränkten Steuerpflicht oder zwischen Ansässigkeitsstaat und Quellenstaat bei Anwendung der Freistellungsmethode entspricht. Die Frage eines Progressionsvorbehaltes stellt sich für die Umsatzsteuer wegen der proportionalen Belastung nicht. Eine Besteuerung des „Weltkonsums“ im Staat der Ansässigkeit unter Anrechung der in anderen Verbrauchstaaten erfolgten (indirekten) Steuerbelastung ist verwaltungstechnisch schon nicht durchführbar26. Aber auch materiell besteht dafür bei einer proportionalen Besteuerung und Wahl des Leistungsfähigkeitsmaßstabes tatsächliche Konsumaufwendungen für den Verbrauch im jeweiligen „Verbrauchsstaat“ weder Notwendigkeit, noch Berechtigung.

III. Subjektive Leistungsfähigkeit, soziokulturelles Existenzminimum und Verteilungsgerechtigkeit Joachim Lang konstatiert eine mindere Gerechtigkeitsqualität27 der Umsatzsteuer im Vergleich zur Einkommensteuer namentlich deshalb, weil bei der indirekten Besteuerung die persönlichen Verhältnisse des Endverbrauchers nicht berücksichtigt werden. Es fehle jedenfalls an einer zielgenauen Belastung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, weil seine mangelnde subjektive Leistungsfähigkeit nicht (ausreichend) berücksichtigt werde. Zumindest die

__________ 26 So zutreffend J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit, a. a. O., (Fn. 17), 630. 27 J. Lang, Steuergerechtigkeit und Globalisierung, a. a. O., (Fn. 6), 51 (52); J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 85, 111.

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Verschonung des existenznotwendigen Lebensbedarfes des Endverbrauchers28 sei erforderlich. Zutreffend wird davon ausgegangen, dass durch die Besteuerung nicht das (sozialrechtlich bestimmte) Existenzminimum29 entzogen werden darf. Das dürfe nicht nur für die Einkommensteuer30 gelten, sondern beanspruche gegenüber jeder Besteuerung Geltung. Der Verschonung des Existenzminimums für den Steuerpflichtigen und seiner ihm gegenüber unterhaltsberechtigten Familienangehörigen kann bei der der Umsatzsteuer zugrunde liegenden Technik der indirekten Besteuerung allerdings praktisch nicht schon dadurch Rechnung getragen werden, dass bereits der Bezug von Gütern und Dienstleistungen des existenznotwendigen Lebensbedarfes und eines soziokulturellen Existenzminimums beim leistenden Unternehmer von der Besteuerung freigestellt wird. Bei diesem Ausgangspunkt ist umstritten, wie und in welchem Umfange dem auch verfassungsrechtlichen Gebot einer Verschonung des materiellen und soziokulturellen Existenzminimums im Bereich der Umsatzbesteuerung nachzukommen ist. Umstritten ist insoweit namentlich, ob es ausreicht, dass im Rahmen der Einkommensbesteuerung die umsatzsteuerliche Vorbelastung des soziokulturell und existentiell notwendigen Lebensbedarfes bei der Bemessung des einkommensteuerlichen Grundfreibetrages und der Freibeträge für das sächliche Existenzminimum sowie den Betreuungs- Erziehungs- und Ausbildungsbedarf von Kindern berücksichtigt wird. Soweit kein Einkommen oder nur ein unterhalb der so bemessenen Grund- und Kinderfreibeträge liegendes Einkommen erzielt wird, scheidet eine (teilweise) Kompensation für die umsatzsteuerliche Belastung auch des Existenzminimums bei der Einkommensbesteuerung allerdings aus. Insoweit ist umstritten, ob es für die Belastung auch des Existenzminimums mit Umsatzsteuer als einer indirekten Steuer zur Rechtfertigung genügt, dass die durch die Umsatzbesteuerung eintretende Besteuerung des Existenzminimums im Rahmen des Leistungsrechtes der Sozialhilfe auszugleichen ist31. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist ausrei-

__________ 28 Dass auf das steuerliche Existenzminimum des Endverbrauchers und nicht des leistenden Unternehmers abzustellen ist, ist unstrittig. Vgl. insoweit Leipold, UR 2009, 584 f.; Tipke, StuW 1992, 103; Steuerrechtsordnung2 II, Köln 2003, 1000 (1004); ders., in P. Kirchhof/H. Nieskens/D. Dürrschmidt/H. Weggenmann (Hrsg.), FS W. Reiß, a. a. O., (Fn. 17), 2008, 9; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 85; ders., Entwurf eines Steuergesetzbuches, BMF-Schriftenreihe, Bd. 49, Bonn 1993, 101 (103); Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Tübingen 2008, 594 ff.; Reiß, DStJG 13 (1990), 3 f.; DStJG 33 (2008), 9. 29 Dazu zuletzt BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09 zit. nach www. bverfg.de. 30 Vgl. insoweit BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = BStBl. II 1993, 413, Gundfreibetrag; vgl. zuvor schon BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, Kindergeld, sowie v. 23.1.1973 – 1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108, Kindergeld; vgl. auch BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 = BStBl. II 1999, 174. 31 Vgl. dazu u. a. H. Stadie in R/D, Komm. UStG, Einführung Anm. 192 bis 194; weitergehend (volle Steuervergütung verlangend) K. Tipke, Das Folgerichtigkeitsgebot im Verbrauch- und Verkehrsteuerrecht, in Kirchhof/Nieskens (Hrsg.), FS für W. Reiß, 2008, S. 9 f. (16/17) und J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg

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chend, dass der Belastung des Aufwandes auch für den Bezug existenznotwendiger Güter und Dienstleistungen im Rahmen einer Kompensation bei der direkten Besteuerung durch die Einkommensteuer Rechnung getragen werden wird. Die Belastung auch existenznotwendigen Aufwandes und die relativ stärkere Belastung von Familien durch die Umsatzbesteuerung sei im System der indirekten Steuern notwendig angelegt und gesetzessystematisch folgerichtig32. Der Steuergesetzgeber habe jedoch gerade deshalb stets darauf zu achten, dass eine Erhöhung indirekter Steuern und Abgaben den Lebensbedarf vermehrt. Die existenzsichernden Abzüge bei der Einkommensteuer seien dann diesem erhöhten Bedarf anzupassen. Im Ergebnis verlangt das Grundgesetz nach Auffassung des BVerfG mithin nicht, dass existenzsichernder Aufwand nicht zunächst mit Umsatzsteuer belastet werden darf. Vom Gesetzgeber wird lediglich verlangt, dass dem durch die Umsatzbesteuerung erhöhten Aufwand im Rahmen der Verschonung bei der Einkommensbesteuerung Rechnung zu tragen ist33. Soweit dies mangels ausreichenden Einkommens nicht möglich ist, verbleibt es dann bei der Belastung mit Umsatzsteuer ohne Kompensation im einkommensteuerlichen Bereich. Sofern mangels Einkommens und Vermögens staatliche Sozialtransfers zu erfolgen haben, ist dabei dann der durch die Umsatzsteuerbelastung eintretende höhere finanzielle Bedarf zu berücksichtigen. Auch wenn man der Auffassung des BVerfG folgt, dass das für die direkte Einkommensbesteuerung aus Art. 1 GG i. V. m. Art. 20 GG abgeleitete Gebot, den Bürger nicht zunächst durch die Besteuerung zum Sozialhilfefall zu machen, um ihm sodann im Rahmen der Sozialhilfe die für ein menschenwürdiges Dasein erforderlichen Mittel durch Sozialtransfers wieder zur Verfügung zu stellen34, für die Umsatzsteuer wegen der Technik der indirekten Steuererhebung nicht uneingeschränkt gelten könne35, erscheint die Umsatzbesteuerung unter

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zum europäischen Binnenmarkt und zur deutschen Einheit, StuW 1990, 107 (126); ders., in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 111; J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit, a. a. O., (Fn. 17), 594 f. (598 f.); zur Abschaffung einer in § 14 UStG 1919 vorgesehenen Umsatzsteuervergütung an die Bezieher geringerer Einkommen mangels Praktikabilät vgl. allerdings bereits J. Popitz, Einführung in das neue Umsatz- und Luxussteuerrecht, Berlin 1920, S. 11 und ders., UStG-Kommentar2, 1921, Einl. B II, 49. BVerfG v. 6.12.2007 – 1 BvR 2129/07, UR 2008, 159. So auch bereits BVerfG v. 23.8.1999 – 1 BvR 2164/98, UR 1999, 501 = HFR 2000, 44 = NJW 1999, 3478 unter Berufung auf P. Kirchhof, Ehe und Familie im staatlichen und kirchlichen Steuerrecht, in Essener Gespräche, Band 21, 1986, S. 117 (122, 133) und BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1852, 1853/97; 2 BvR 1220/93; 2 BvL 42/93 sowie 2 BvR 1057, 1226 und 980/91, BVerfGE 99, 273; 99, 268; 99, 246, und BStBl. II 1999, 182. Vgl. dazu auch P. Kirchhof in Kirchhof/Söhn, EStG, § 2 Rz. A 129 f.; R. Mellinghoff, Verfassungsgebundenheit des Steuergesetzgebers, in T. Siegel u. a. (Hrsg.), FS Peter Bareis, 2005, S. 171 (178); ders., Soziale Gerechtigkeit im Steuerrecht, in J. Brandt (Hrsg.), Für ein gerechtes Steuerrecht, 2006, 31 f. So Reiß, Der Belastungsgrund der Umsatzsteuer, a. a. O., (Fn. 13), S. 3 (6) und ders., Die harmonisierte Umsatzsteuer im nationalen Wirtschaftsverkehr, a. a. O., (Fn. 17), S. 9 (13); so auch J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit, a. a. O., (Fn. 17), 595 f. bezüglich der Subsidiarität nach dem Grundsatz: Steuerverschonung geht vor Sozialleistung. Der von ihm, S. 598, konstatierte Verstoß gegen die horizontale Steuergerechtigkeit liegt freilich nicht vor. Im Rahmen der Einkommensbesteuerung erhält auch der

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dem Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit gleichwohl problematisch. Fraglich kann allerdings sein, inwieweit insoweit europarechtliche Vorgaben zu beachten sind.

IV. Steuerbefreiungen und ermäßigte Steuersätze – europarechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben Die zur Erreichung der erstrebten Ziele einer Unmerklichkeit, Praktikabilität und Ergiebigkeit der Steuer erfolgende indirekte Besteuerung der Aufwendungen des Endverbrauchers für seinen Konsum im Wege der Umsatzbesteuerung beim leistenden Unternehmer schließt es aus, den Bezug von Gütern und Dienstleistungen schon auf der Ebene des leistenden Unternehmers von der Umsatzbesteuerung auszunehmen, soweit die Güter und Dienstleistungen zur Deckung des notwendigen Lebensbedarfes des Erwerbers und seiner unterhaltsberechtigten Familienangehörigen erworben werden. Eine entsprechende Überprüfung, ob und inwieweit nach den persönlichen Verhältnissen des Erwerbers ein zur Deckung des Existenzminimums erfolgender Bezug vorliegt, ist bei Leistungsabgabe weder dem leistenden Unternehmer möglich, noch wäre dies für den Fiskus später nachprüfbar. Denkbar wäre freilich, Aufwendungen für den Bezug von der Art nach bestimmten Gütern und Dienstleistungen, die zur Deckung des existenziellen Lebensbedarfes zwingend erforderlich sind, vollständig von der Besteuerung durch eine Befreiung auszunehmen oder jedenfalls nur ermäßigt zu besteuern. Dies betrifft namentlich Aufwendungen für Essen, Trinken und die Unterkunft. Das deutsche Umsatzsteuergesetz befreit in § 4 Nr. 12 UStG insoweit die Vermietung von Wohnungen und unterwirft die Lieferung von Lebensmitteln in § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG in Verbindung mit der Anlage 2 lediglich dem ermäßigen Steuersatz36. Auch die Befreiung führt freilich nicht zu einer vollständigen Entlastung der Aufwendungen für den existentiellen Wohnbedarf von jeder Umsatzsteuerbelastung. Denn mit der Befreiung ist zwingend der Ausschluss des Vorsteuerabzugs verbunden. Für den Bezug von Lebensmitteln verbleibt es ohnehin bei der Belastung mit dem ermäßigten Steuersatz. Diese Regelungen des nationalen Umsatzsteuergesetzes beruhen weitgehend auf der Umsetzung von zwingenden Vorgaben des Gemeinschaftsrechtes, namentlich der Richtlinie 2006/112/EG37. Danach ist der Kreis der zu befreienden Umsätze abschließend festgelegt. Andere als die in der Richtlinie zugelas-

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reiche Prasser den die Umsatzsteuervorbelastung berücksichtigenden Grundfreibetrag und als Familienvater im Unterschied zum kinderlosen Prasser umgekehrt die Entlastung über die die umsatzsteuerliche Vorbelastung umfassenden Kinderfreibeträge. 36 Ausgenommen davon werden freilich die Lieferungen von Langusten, Hummer, Austern, Schnecken und Kaviar, Anlage 2 Nrn. 3 und 28. Die auf „Luxuslebensmittel“ abzielende Ausnahme ist angesichts anderer nicht ausgenommener „Luxuslebensmittel“ erkennbar reichlich willkürlich. 37 V. 28.11.2006, ABl. EG Nr. L 347 v.11.12.2006, S. 1 geändert durch RL 2006/69/EG v. 25.6.2009, ABl. EG Nr. L 175, 12 v. 4.7.2009.

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senen Befreiungen dürfen die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Umsatzsteuerrecht nicht vorsehen. Umgekehrt müssen sie die in der Richtlinie in Titel IX (Art. 131 bis Art. 153) vorgesehenen Steuerbefreiungen auch im nationalen Recht einführen38. Den Mitgliedstaaten ebenfalls zwingend vorgeschrieben ist der Ausschluss des Vorsteuerabzugs bei den (unechten) Steuerbefreiungen. Auch hinsichtlich der Steuersätze sind die Mitgliedstaaten an gemeinschaftsrechtliche Vorgaben gebunden. Zwar ist insoweit keine vollständige Harmonisierung erfolgt, sondern prinzipiell ist der Steuersatz für die steuerpflichtigen Umsätze weiterhin vom jeweiligen nationalen Gesetzgeber zu bestimmen. Allerdings verlangt die Richtlinie zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen eine Annäherung der Steuersätze zwischen den Mitgliedstaaten bezüglich ihrer Anzahl und Höhe39. Insoweit sieht Titel VIII Kapitel 2 (Art. 96 bis Art. 105) hinsichtlich Struktur und Höhe der Steuersätze einen Normalsteuersatz und maximal zwei ermäßigte Steuersätze vor. Für den Normalsteuersatz ist gegenwärtig eine Mindesthöhe von 15 % der Bemessungsgrundlage vorgeschrieben, für den (oder die) ermäßigten Steuersatz (-sätze) beträgt die Mindesthöhe 5 %40. Anders als bei den Befreiungen ist die Anwendung ermäßigter Steuersätze den Mitgliedstaaten allerdings nicht zwingend durch die Richtlinie vorgeschrieben. Die Richtlinie gibt in Art. 98 Abs. 2 i. V. m. der Anlage III lediglich vor, für welche Kategorien von Lieferungen und Dienstleistungen ermäßigte Steuersätze von den Mitgliedstaaten angewendet werden dürfen. Für andere als die in der Richtlinie vorgesehenen Kategorien von Lieferungen und Dienstleistungen dürfen ermäßigte Steuersätze von den Mitgliedstaaten nicht verwendet werden. Ob überhaupt und in welchem Umfange die Mitgliedstaaten innerhalb der von der Richtlinie für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes zugelassenen Kategorien von Lieferungen und Dienstleistungen davon Gebrauch machen wollen, die entsprechenden Umsätze mit einem ermäßigten Steuersatz zu besteuern, ist von den Mitgliedstaaten autonom selbst zu entscheiden. Insoweit müssen sie lediglich beachten, durch ihre Auswahl nicht den der Richtlinie zugrunde liegenden auch gemeinschaftsrechtlich verbindlichen Grundsatz der (Wettbewerbs-)Neutralität zu verletzen41. Es steht den Mitgliedstaaten insbesondere auch frei, insgesamt von der Anwendung ermäßigter Steuersätze abzusehen. Mit den europarechtlichen Vorgaben der MwStSystRL unvereinbar wäre es demzufolge, zwecks Nichtbelastung des Existenzminimums etwa die Vermie-

__________ 38 Vgl. aber die Übergangs- und Ausnahmeregelungen in Titel XIII Kapitel 1 Art. 370 bis 390 i. V. m. Anhang X Teil A und B. 39 Vgl. Erwägungsgrund 28 der Richtlinie 2006/112/EG, a. a. O., (Fn. 37). 40 Art. 97 und 99 RL 2006/112/EG. Die Mindesthöhe für den Normalsatz ist zunächst nur befristet bis zum 31.12.2010 vorgeschrieben. Mit einer Verlängerung durch Ratsbeschluss ist zweifelsfrei zu rechnen. 41 Siehe dazu EuGH v. 8.5.2003 – C 384/01 – Komm./Frkr., Slg. 2003, I-4395, Elektrizität; v. 3.5.2001 – C 481/98 – Komm./Frkr., Slg. 2001, I-3369, Arzneimittel.

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tung von Wohnungen und die Lieferung von Lebensmitteln insgesamt oder bis zu bestimmten Grenzen von der Umsatzbesteuerung vollständig auszunehmen. Entsprechendes gilt für die Befreiungen im Bereich der Gesundheitspflege und für bestimmte kulturelle Dienstleistungen. Nach der Rechtsprechung des EuGH genießt das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt Anwendungsvorrang vor entgegen stehendem nationalem Recht einschließlich des Verfassungsrechtes42. Das BVerfG folgt dieser Ansicht vom uneingeschränkten Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes auch vor nationalem Verfassungsrecht bekanntlich nicht in dem Umfange, wie es der EuGH annimmt. Allerdings geht es davon aus, dass die Prüfung von auf Gemeinschaftsrecht – oder von auf dem dieses umsetzenden innerstaatlichem Recht – beruhenden behördlichen Hoheitsakten und Gerichtsentscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes durch das BVerfG einzuschränken ist. Über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit nicht mehr aus. Es überprüft dieses Recht nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz jeweils unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der jeweiligen Grundrechte generell verbürgt. Auch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie in deutsches Recht umsetzt, wird nach diesen Grundsätzen insoweit nicht mehr an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, als das Gemeinschaftsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern zwingende Vorgaben macht43. Die Rücknahme der Prüfungsbefugnis des BVerfG endet allerdings dort, wo auch die Bindungswirkung der europarechtlichen Vorgaben endet. Jenseits dessen unterliegen die Entscheidungen von Gesetzgeber, Behörden und Gerichten, auch wenn sie Gemeinschaftsrecht anwenden, wieder der uneingeschränkten Überprüfung durch das BVerfG. Das gilt uneingeschränkt auch, soweit Behörden und Gerichte das UStG richtlinienkonform anzuwenden haben44. Konsequenterweise kann auch das UStG selbst, soweit es zwingende Vorgaben des Gemeinschafts(richtlinien)rechtes umsetzt, nicht mehr unmittelbar am Maß-

__________ 42 Vgl. zuletzt EuGH v. 19.11.2009 – RS. C 314/08 – Krzysztof Filipiak, unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 9.3.1978 – 106/77 – Simmenthal, Slg. 1978, 629; v. 4.6.1992 – C-13/91 und C-113/91 – Debus, Slg. 1992, I-3617; v. 18.7.2007 – C-119/05 – Lucchini, Slg. 2007, I-6199; v. 27.10.2009 – C-115/08 – „EZ; v. 22.10.1998, – C-10/97 bis C-22/97 – IN.CO.GE. ’90 u. a., Slg. 2000, I-6307. 43 BVerfG v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (387); v. 7.6.2000 – 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (162 ff.). 44 BVerfG v. 31.5.2007 – 1 BvR 1316/04, UR 2007, 737, Nichtüberprüfung der Anwendung von § 4 Nr. 14 und 16 UStG am Maßstab des Art. 3 GG!

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stab der Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes überprüft werden. Das BVerfG sieht insoweit wegen des Vorranges der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen allenfalls subsidiär noch seine Prüfungskompetenz als gegeben an, wenn adäquater gemeinschaftsrechtlicher Rechtsschutz versagt würde. Davon geht es gegenwärtig erkennbar nicht aus. Unter verfassungs- und europarechtlichen Aspekten ergeben sich daher zunächst folgende Zwischenergebnisse: Der nationale Gesetzgeber hat nach dem Gemeinschaftsrecht vorgesehene Befreiungen uneingeschränkt zu gewähren, umgekehrt darf er keine Befreiungen gewähren, wenn diese nicht im Gemeinschaftsrecht vorgesehen sind45. Eine Erweiterung der mit dem ermäßigten Steuersatz zu besteuernden Umsätze über den Kreis der Umsätze hinaus, für die nach der Richtlinie 2006/112/EG eine ermäßigte Besteuerung zulässig ist, kann von Verfassung wegen nicht verlangt werden. Insoweit ist der Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Festlegungen vom nationalen Gesetzgeber uneingeschränkt zu respektieren. Im Rahmen der den Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2006/112/EG zukommenden Wahlmöglichkeit zur Anwendung oder Nichtanwendung ermäßigter Steuersätze für bestimmte von der Richtlinie zugelassene Kategorien von Umsätzen ist der Gesetzgeber uneingeschränkt an die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes gebunden. Insoweit unterliegt er auch der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Wenngleich die auch verfassungsrechtlich zu respektierenden europarechtlichen Vorgaben es nicht gestatten, durch echte Befreiungen den Mindestbezug von Gütern und Dienstleistungen zur Deckung des existenznotwendigen und soziokulturellen Lebensbedarfes von der Umsatzbesteuerung schon beim leistenden Unternehmer technisch auszunehmen, steht es den Mitgliedstaaten europarechtlich frei, die durch die Umsatzbesteuerung eintretende Belastung des Endverbrauchers durch unmittelbar bei diesem angesiedelte Maßnahmen aufzuheben oder jedenfalls zu mildern. So stehen die europarechtlichen Vorgaben der MwStSystRL zur umsatzsteuerlichen Behandlung der Aufwendungen auch für den existenznotwendigen Bezug von Gütern und Dienstleistungen beim leistenden Unternehmer nicht Regelungen entgegen, die eine Vergütung des auf die Umsatzsteuer entfallenden Teiles der Aufwendungen im Rahmen von Sozialtransfers oder seine Berücksichtigung im Rahmen der Einkommensbesteuerung vorsehen. Durch derartige Maßnahmen eines Mitgliedstaates werden weder das Funktionieren des Binnenmarktes, noch die finanziellen Interessen der Gemeinschaft beeinträchtigt. Insbesondere sind keine Wettbewerbsbeeinträchtigungen für die leistenden Unternehmer oder sonstige Neutralitätsverletzungen zu befürchten.

__________ 45 So auch ausdrücklich BVerfG v. 6.12.2007 – 1 BvR 2129/07, UR 2008, 159 unter Hinweis auf Beschluss BVerfG v.13.3.2007 – 1 BvF 1/05, NVwZ 2007, 937 = BVerfGE 118, 79.

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V. Gleichheitssatzgemäße Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit Wählt der Gesetzgeber zulässigerweise (auch) die Aufwendungen für den Konsum als Leistungsfähigkeitsindikator für die (indirekte) Besteuerung46, so folgt aus dieser grundsätzlichen Belastungsentscheidung zunächst einmal, dass grundsätzlich alle Aufwendungen für den Konsum zu erfassen sind. Eine progressive Besteuerung nach Maßgabe der Höhe der gesamten Konsumaufwendungen des Verbrauchers scheidet für eine indirekte Steuer per se schon erhebungstechnisch aus. Für die harmonisierten Umsatzbesteuerungen in der Gemeinschaft ist auch von vornherein vorgesehen worden, dass die Umsatzsteuer nur als eine proportionale Steuer auf den Verbrauch erhoben wird47. Eine gleichheitssatzgemäße Besteuerung nach Maßgabe der dokumentierten tatsächlichen Konsumleistungsfähigkeit verlangt daher im Ausgangspunkt, dass die durch den Bezug von Gütern und Dienstleistungen für den Konsum tatsächlich getätigten Aufwendungen als Bemessungsgrundlage für die Steuer einem einheitlichen proportionalen Steuersatz unterworfen werden und der Verbraucher dementsprechend (indirekt im Preis) belastet wird. Auch der Konzeption einer Belastung der Einkommens/Vermögensverwendung durch den Endverbraucher für seinen Konsum entspricht es freilich – und dies ist auch verfassungsrechtlich geboten – eine Konsumleistungsfähigkeit insoweit zu verneinen, als lediglich der existentielle und soziokulturelle (Mindest-)Lebensbedarf gedeckt werden kann. Wie bereits oben ausgeführt, bestehen aber weder verfassungsrechtliche, noch europarechtliche Bedenken, dass diesem Aspekt fehlender subjektiver Leistungsfähigkeit nicht schon im Rahmen der technisch bei dem leistenden Unternehmer ansetzenden Umsatzbesteuerung Rechnung getragen wird, sondern erst durch Berücksichtigung der durch die Umsatzbesteuerung eintretenden Belastung im Rahmen von ohnehin zu leistenden Sozialtransfers und im Rahmen der Besteuerung des Einkommens des Verbrauchers als des Steuerträgers. Unproblematisch ist insoweit, dass an die Art des Leistungsgegenstandes anknüpfende unechte Befreiungen und Steuersatzermäßigungen, auch soweit sie Güter und Dienstleistungen für den existentiellen Bedarf betreffen, isoliert gesehen nicht zu einer vollständigen Freistellung, sondern lediglich einer Verminderung der steuerlichen Belastung führen. Für eine solche begünstigte verminderte Belastung von Gütern und Dienstleistungen für den existentiellen Lebensbedarf scheint dennoch auf den ersten Blick ein Argument der Verteilungsgerechtigkeit nach Maßgabe der subjektiven Leistungsfähigkeit zu sprechen. Denn bei dem weniger Begüterten entfällt regelmäßig ein höherer Anteil seiner Gesamtaufwendungen für den Konsum auf den Bezug von Gütern des existentiellen Lebensbedarfes.

__________

46 Dazu J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 95, 110 f. 47 Vgl. den in Art. 1 Abs. 2 der MwStSystRL (RL 2006/112/EG) übernommenen Grundsatz aus Art. 2 der (1. EWG) RL 77/227/EWG v. 11.4.1967, ABl. EWG v.14.4.1967, S. 1301/67. Zur (besseren?) Vereinbarkeit einer lediglich proportionalen Steuer mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip s. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 186.

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Problematisch ist jedoch demgegenüber, dass durch unechte Befreiungen und Steuersatzermäßigungen für bestimmte Leistungen eine Entlastung entsprechenden Aufwandes weit über den existentiellen und soziokulturellen Lebensbedarf hinaus erfolgt. Soweit umsatzsteuerlich die Lieferung des existentiell für den Lebensbedarf notwendigen Brotes gleichermaßen für den Bettler, den Bürger mit durchschnittlichem Einkommen und den Einkommensmillionär entlastet wird, ist dagegen auch unter dem Gesichtspunkt der verteilungsgerechten, gleichheitssatzgemäßen Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit nichts einzuwenden. Aufwendungen für ermäßigt besteuerte Lebensmittel und für die befreite Nutzung von Wohnungen können und werden freilich häufig weit über das existentiell notwendige Maß hinaus getätigt werden. Die insoweit erfolgende geringere Belastung der Aufwendungen für diese Güter führt zu einer unter gleichheitsrechtlichen Aspekten problematischen Privilegierung derjenigen Endverbraucher, die einen vergleichbar hohen Konsum dieser Güter gegenüber einem Konsum anderer, normal besteuerter Güter bevorzugen. Dies lässt sich weder mit einer Verschonung der Aufwendungen zur Deckung des existentiellen Lebensbedarfes noch unter dem Aspekt einer Verteilungsgerechtigkeit isoliert gesehen rechtfertigen. Von daher ist eine Lösung vorzugswürdig, die generell auf unechte Befreiungen und ermäßigte Steuersätze verzichtet. Der Verschonung des existentiellen Lebensbedarfs sowie der Verteilungsgerechtigkeit kann erheblich zielgenauer durch Vergütungen des in den notwendigen Aufwendungen für den Lebensunterhalt enthaltenen Umsatzsteueranteils Rechnung getragen werden. Die europarechtlich zu beachtenden Vorgaben lassen es freilich nicht zu, auf die unechten Steuerbefreiungen zu verzichten. Unter Berücksichtigung dieser Beschränkung des Handlungsspielraumes für den deutschen Gesetzgeber ließe sich aber immerhin der ermäßigte Steuersatz für die Lieferung von Lebensmitteln beseitigen und damit auch so manche Abgrenzungsschwierigkeit gegenüber nicht ermäßigt zu besteuernden Restaurations- und Verpflegungsdienstleistungen48. Die Höhe der für den existentiellen und soziokulturellen Lebensbedarf notwendigen Aufwendungen muss ohnehin für Sozialtransfers einschließlich der im Familienlastenausgleich für Kinder zu gewährenden Leistungen bestimmt werden. Zwischen diesen und den im Einkommensteuerrecht zu berücksichtigenden Grundfreibeträgen sowie den nach § 32 EStG zu gewährenden Freibeträgen für das sächliche Existenzminimum und den Betreuungs- und Ausbildungsbedarf von Kindern besteht ein auch der Höhe nach zu beachtender Zusammenhang. Insoweit ließe sich zunächst einmal ohne größere Schwierigkeiten typisierend bestimmen, wie hoch der Umsatzsteueranteil in den notwendigen Aufwendungen ist, die auch für Sozialtransfers zugrunde zu legen sind. Soweit eine Vergütung des in den für den Lebensunterhalt notwendigen Aufwendungen enthaltenen Umsatzsteueranteils nicht ohnehin bereits im Rahmen

__________ 48 Vgl. dazu die Vorlagen des XI. und V. Senates an den EuGH, BFH v. 15.10.2009 – XI R 6/08, UR 2010, 61 und BFH v. 15.10.2009 – XI R 37/08, UR 2010, 65 sowie BFH v. 27.10.2009 – V R 35/08, UR 2010, 68 und BFH v. 27.10.2009 – V R 3/07, UR 2010, 72.

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von Sozialtransfers erfolgt, könnte die Vergütung im Rahmen der Einkommensbesteuerung durch einen Abzug von der Steuerschuld erfolgen. Ein solcher Abzug ließe sich auch bereits im Lohnsteuerabzugsverfahren berücksichtigen. Im Ergebnis ist daher Joachim Lang zuzustimmen, dass eine Vergütung der umsatzsteuerlichen Belastung erfolgen sollte, soweit der existenznotwendige Lebensbedarf umsatzsteuerlich vorbelastet wird49. Der maßgebliche Gesichtspunkt dafür ist allerdings nicht, dass andernfalls eine gegen Art. 1 GG i. V. m. Art. 20 GG verstoßende verfassungswidrige Besteuerung unter Missachtung des subjektiven Leistungsfähigkeitsprinzipes erfolgen würde, solange die umsatzsteuerliche Vorbelastung im Rahmen von Sozialtransfers und von einkommensteuerlichen Grund- und Freibeträgen berücksichtigt wird. Vielmehr verlangt eine am Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG ausgerichtete systemgerechte Besteuerung nach Maßgabe der getätigten Konsumausgaben im Grundsatz, dass alle über den existenznotwendigen Lebensbedarf hinausgehenden Konsumaufwendungen in proportional gleicher Höhe belastet werden. Dagegen verstoßen – vorbehaltlich anderweitiger Rechtfertigung etwa unter Lenkungsgesichtspunkten – Befreiungen und Steuersatzermäßigungen für Aufwendungen des nicht existenznotwendigen Konsums. Die Beschränkung auf eine Vergütung des Umsatzsteueranteils in den existenznotwendigen Aufwendungen erscheint darüber hinausgehend auch unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten geboten. Die (gleich hohe) Vergütung wirkt sich, auch wenn sie zutreffend allen (inländischen) Konsumenten als Steuerträgern gewährt wird, sowohl bezogen auf das gesamte Einkommen als auch nur auf das für Konsumausgaben verwendete Einkommen oder Vermögen, stärker bei den Steuerpflichtigen mit geringerem Einkommen aus.

VI. Durchbrechungen einer gleichheitssatzgemäßen Besteuerung unter Lenkungsgesichtspunkten Steuersatzermäßigungen wie auch (die hier wegen der europarechtlich zwingenden Vorgaben nicht weiter zu problematisierenden unechten) Steuerbefreiungen können – unter Abweichung von der Besteuerung nach der Konsumleistungsfähigkeit – auch zur Verfolgung von besonderen Lenkungszwecken, etwa ökologischer, wirtschaftspolitischer oder sozialpolitischer Zwecke eingesetzt werden. Art. 3 GG verlangt die Gleichbehandlung aller Menschen vor dem Gesetz. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der Gleichheitssatz um so strikter zu beachten, je mehr er den Einzelnen als Person betrifft. Er ist umso mehr für gesetzgeberische Gestaltungen offen, als allgemeine, für rechtliche Gestaltungen zugängliche Lebensverhältnisse geregelt werden. Für den Sachbereich des Steuerrechtes steht dem Steuergesetzgeber nach Auffassung des BVerfG ein

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49 J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht20, § 4 Rz. 111 und 85; ders., Entwurf eines Steuergesetzbuches, BMF-Schriftenreihe, Bd. 49, Bonn 1993, 101 (103); J. Lang, Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg zum europäischen Binnenmarkt und zur deutschen Einheit, StuW 1990, 107 (126).

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weiter Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Auswahl des Steuergegenstandes und der Bestimmung des Steuersatzes zu. Nach Regelung dieses Ausgangstatbestandes habe er die einmal getroffene Belastungsentscheidung sodann allerdings folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen50. Für die Umsatzsteuer geht das BVerfG davon aus, dass ihr in ihrem Ausgangstatbestand der Besteuerung von gegen Entgelt von Unternehmern im Inland erbrachten Umsätzen die Belastungsentscheidung zugrunde liegt, den Konsumenten nach Maßgabe der von ihm aufgewendeten Kaufkraft zu belasten. Sie sei darauf angelegt, auf den Endverbraucher überwälzt zu werden. Systemgerecht seien daher nur Vergünstigungen im Interesse der Verbraucher, nicht hingegen einzelner Unternehmergruppen. Soweit das Umsatzsteuerrecht nach Umsatzarten unterscheide und daran unterschiedliche Rechtsfolgen knüpfe, bedürfe es besonderer sachlicher Gründe zu deren Rechtfertigung51. Auch für die Umsatzbesteuerung geht das BVerfG allerdings davon aus, dass der Gesetzgeber seine Steuergesetzgebungskompetenz auch ausüben dürfe, um Lenkungswirkungen zu erzielen52. Der Lenkungszweck muss dann aber von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen sein. Auch dann bleibt der Gesetzgeber allerdings innerhalb der Verfolgung des Lenkungszweckes an den Gleichheitsgrundsatz gebunden. Das bedeute dann, dass er seine Leistungen nicht willkürlich verteilen dürfe. Der Gesetzgeber dürfe sachliche Gesichtspunkte jedoch in weitem Umfange berücksichtigen. Der Kreis der von der (subventionellen) Lenkungsmaßnahme Begünstigten müsse aber sachgerecht, d. h. unter Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes, abgegrenzt werden53. Bezüglich der vom deutschen Gesetzgeber selbst autonom zu treffenden Entscheidung, ob ein ermäßigter Steuersatz für bestimmte, nach der Richtlinie zugelassene Kategorien von Umsätzen Anwendung finden soll, unterliegt der Gesetzgeber in vollem Umfange der sich aus Art. 3 GG ergebenden Bindung an den Gleichheitsgrundsatz. Dafür besteht auch weiterhin die uneingeschränkte Überprüfungskompetenz des BVerfG. Insoweit ist uneingeschränkt auch zu überprüfen, ob die gesetzgeberische Entscheidung zur Gewährung (oder Versagung) des ermäßigten Steuersatzes eine folgerichtige Umsetzung der Belastungsentscheidung ist, respektive ob, etwa aus Lenkungsgesichtspunkten, sachliche Rechtfertigungsgründe für eine Abweichung bestehen und ob dann der Kreis der Begünstigten zutreffend abgegrenzt worden ist.

__________ 50 BVerfG v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BStBl. II 2000, 160 = UR 1999, 498 unter Bezugnahme auf BVerfGE 93, 121; BVerfGE 99, 88; vgl. ebenso BVerfG v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BStBl. II 2000, 155 = UR 1999, 494 m. Anm. Widmann; v. 10.12.1999 – 2 BvR 1820/92, BStBl. II 2000, 158. 51 BVerfG v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BStBl. II 2000, 160 = UR 1999, 498; v. 29.10. 1999 – 2 BvR 1264/90, BStBl. II 2000, 155 = UR 1999, 494 m. Anm. Widmann. 52 BVerfG v. 18.3.2005 – 1 BvR 1822/00, HFR 2005, 696, zur (Nicht-)Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG 1993 auf die Lieferung von Knochenplatten zur Heilbehandlung von Knochenbrüchen. 53 Vgl. dazu näher auch BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274, zur Öko(Strom)steuer.

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Legt man die sich aus Art. 3 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen für die begünstigende Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Umsatzgruppen zugrunde, für die gemeinschaftsrechtlich nach Art. 98 der RL 2006/112/EG in Verbindung mit dem Anhang III ein ermäßigter Steuersatz eingeführt oder aufrechterhalten bleiben darf, so ergibt sich für die „alten“ Steuersatzermäßigungen nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 und Nr. 9 und 10 UStG, dass durch sie im Grundsatz der Bezug der dort begünstigten Leistungen insoweit „systemgerecht“ erfolgt, als die Begünstigung dem Verbraucher als dem Abnehmer der Leistung zugute kommen soll. Das betrifft namentlich die ermäßigte Besteuerung der Lieferung von Lebensmitteln nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG und von kulturellen und unterhaltenden Dienstleistungen nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 UStG. Wie oben unter V. ausgeführt, ist die generelle ermäßigte Besteuerung aller Lebensmittellieferungen weit über den existenznotwendigen Bedarf hinaus dennoch weder unter gleichheitsrechtlichen noch unter verteilungspolitischen Aspekten völlig unbedenklich. Sieht man von der eher unter Kuriosa einzuordnenden Ausnahme für Kaviar, Hummer, Langusten, Austern und Schnecken ab, kann allerdings weder von einer willkürlichen, noch von einer sonst nicht sachgerechten Abgrenzung der begünstigten Personen und Leistungen die Rede sein. Bewegt man sich nur innerhalb des technischen Systems der Umsatzbesteuerung als indirekter Besteuerung der Einkommensverwendung für Konsumgüter, kann die durchaus sachgerechte Entlastung von Aufwendungen für den existentiellen Lebensbedarf nur dadurch erfolgen, dass der Bezug von der Art nach zur Deckung des Lebensbedarfes notwendigen Gütern ermäßigt besteuert wird, ohne dass eine Begrenzung auf die dafür erforderliche Menge, Anzahl und Qualität der Güter erfolgt. Erst unter Einbeziehung von Sozialtransfers und Vergütungen im Rahmen der Einkommensbesteuerung ergeben sich zielgenauere Möglichkeiten der Freistellung des existentiellen Lebensbedarfes. Entsprechendes gilt für die Steuersatzermäßigungen in § 12 Abs. 2 UStG für Dienstleistungen im Bereich der Deckung des soziokulturellen Lebensbedarfes. Hinsichtlich der Gewährung eines ermäßigten Steuersatzes nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG in der Fassung des Art. 5 des Gesetzes zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums54 für kurzfristige Beherbergungen (im Hotelgewerbe) bestehen bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerfG hingegen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Erkennbar wird der ermäßigte Steuersatz hier nicht deshalb gewährt, weil es sich der Art nach um Leistungen handelt, die zum existentiellen Grundlebensbedarf gehören. Im Gegenteil handelt es sich bei den Beherbergungsleistungen in Hotels eher um Leistungen, die einem gehobenen Lebensbedarf entsprechen. Es handelt sich auch nicht um Leistungen auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge, für die eine vollständige oder partielle Entlastung von der Umsatzbesteuerung sowohl unter dem Aspekt der Deckung eines existentiellen Bedarfs an entsprechenden Leistungen wie auch zur Entlastung der Systeme der sozialen Sicherheit zu rechtfertigen ist.

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54 V. 22.12.2009, BGBl. I 2009, 3950 = BStBl. I 2010, 2.

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Ebenfalls scheidet eine Rechtfertigung für eine subventionierende ermäßigte Besteuerung unter dem Aspekt einer Ermöglichung des Bezuges kultureller Dienstleistungen zur Deckung des soziokulturellen Mindestbedarfes und darüber hinausgehend allgemein zur Förderung der Inanspruchnahme kultureller Dienstleistungen erkennbar aus. Da die Förderung der Leistungsabgabe durch Gewährung einer ermäßigten Besteuerung erkennbar nicht systemgerecht dem Interesse der Verbraucher am Bezug gerade solcher Leistungen zu dienen bestimmt ist, bedarf die Ausnahmeregelung gegenüber der grundsätzlichen Belastungsentscheidung, alle Aufwendungen für den Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen proportional gleich zu belasten, einer besonderen Rechtfertigung. Es versteht sich, dass eine derartige Rechtfertigung nicht darin liegen kann, dem Hotelgewerbe bessere Gewinnmöglichkeiten durch einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf seine Leistungen einzuräumen. Dabei ist gleichgültig, ob dies durch Nichtweitergabe der Ermäßigung an die Verbraucher erfolgt oder durch eine Steigerung der Nachfrage und damit der Umsätze wegen einer Weitergabe der Ermäßigung im Preis. Eine solche Vorzugsbehandlung der Umsätze des Hotelgewerbes führt erkennbar eine Ungleichbehandlung gegenüber in anderen Branchen tätigen Steuerpflichtigen herbei, denen nicht die Möglichkeit einer Gewinn – und Umsatzsteigerung vermittels ermäßigter Steuersätze eingeräumt wird. Als besondere Rechfertigungsgründe könnten allenfalls arbeitsmarktpolitische Gründe und eine besondere Lage im Hinblick auf die Wettbewerbssituation gegenüber Anbietern von Hotelleistungen aus anderen Staaten in Betracht zu ziehen sein. Hinsichtlich einer arbeitsmarktpolitischen Rechtfertigung gilt ebenfalls, dass nicht eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Branchen herbeigeführt werden darf. Darzulegen wäre mithin, weshalb gerade die Sicherung oder ein erweitertes Angebot von Arbeitsverhältnissen im Hotelgewerbe durch Steuersatzermäßigung zu fördern ist, bzw. dort besonders gute Ergebnisse erzielt werden können. Selbst wenn man insoweit davon ausgehen könnte, dass eine Steuersatzermäßigung für das Hotelgewerbe geeignet ist, dort in nennenswertem Umfange Arbeitsplätze zu sichern oder zu schaffen, ist jedenfalls die Beschränkung auf einen ermäßigten Steuersatz ausschließlich für die Leistungen des Hotelgewerbes, wie es nunmehr der deutsche Gesetzgeber in § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG vorsieht, nicht zu rechtfertigen. Denn eine sachgerechte Abgrenzung des Kreises der zu Begünstigenden verlangt dann, dass für die Leistungen aller Branchen, in denen in nennenswertem Umfange mehr Arbeitskräfte bei Umsatzsteigerung beschäftigt werden können, Steuersatzermäßigungen vorgesehen werden. Die Beschränkung nur auf das Hotelgewerbe verstößt insoweit ihrerseits gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil auch bei subventionierenden, die grundsätzliche Belastungsentscheidung an sich systemwidrig durchbrechenden Maßnahmen jedenfalls der Kreis der Begünstigten nicht willkürlich ausgewählt werden darf. Für die Rechtfertigung einer unter Lenkungsgesichtspunkten ausnahmsweise zulässigen, an sich system- und damit 883

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gleichheitssatzwidrigen Durchbrechung der grundsätzlichen Belastungsentscheidung ist zu verlangen, dass die Durchbrechung ihrerseits nicht willkürlich auf lediglich einzelne Begünstigte begrenzt wird, sondern allen zugute kommt, die den Lenkungszwecken genügen55. Für die ermäßigte Besteuerung von Beherbergungsleistungen im Hotelgewerbe wird weiter geltend gemacht, dass sie aus Wettbewerbsgründen zum Schutz der in Deutschland ansässigen Anbieter entsprechender Leistungen gegenüber entsprechenden Leistungen ausländischer Anbieter erforderlich sei. Dem liegt u. a. zugrunde, dass sowohl in Österreich als auch in der Schweiz entsprechende Leistungen mit einem ermäßigten Steuersatz besteuert werden. Das BVerfG hat grundsätzlich anerkannt, dass steuerliche Verschonungssubventionen in Gestalt einer ermäßigten Besteuerung oder gar Freistellung auch bei indirekten Steuern zum Schutz der heimischen Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz als Rechtfertigung für eine ungleiche Behandlung in Betracht kommen. Freilich ging es dabei um eine „ungleiche“ Behandlung nicht der Steuerschuldner, sondern der mit der Steuer (Ökosteuer) über den Preis belasteten Verbraucher der betreffenden Güter (Strom/Mineralöl)56. Gleichwohl dürfte davon auszugehen sein, dass unter verfassungsrechtlichen Aspekten der Schutz im Inland ansässiger Unternehmen vor ausländischer Konkurrenz jedenfalls insoweit einen Rechtfertigungsgrund für begünstigende (steuerliche) Regelungen darstellen kann als lediglich Nachteile ausgeglichen werden, die sich daraus ergeben, dass die ausländische Konkurrenz ihrerseits in ihrem Heimatland begünstigenden steuerlichen Regelungen unterliegt. Auch wenn mithin der Schutz der heimischen Hotellerie vor im Ausland ansässigen Wettbewerbern prinzipiell als rechtfertigender Grund für die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes in Betracht kommt und für die dadurch erfolgende „ungleiche“ Behandlung dieser Umsätze gegenüber den mit dem Normalsteuersatz zu besteuernden Umsätzen anderer Unternehmer, erscheint sehr zweifelhaft, ob dann die Abgrenzung zutreffend erfolgte. Das BVerfG hat insoweit bezüglich der Strom und Mineralölsteuer (Ökosteuer) eine Differenzierung nicht beanstandet, wonach eine steuerliche Begünstigung nur dem Güter produzierenden Gewerbe gewährt wurde, nicht aber inländischen Dienstleistern. Es hat dies damit begründet, dass wegen der Standortgebundenheit der Erbringung der Dienste typischerweise bei den standortgebundenen Dienstleistungen eine Wettbewerbslage gegenüber an einem anderen Ort leistenden Dienstleistern ausscheide. Daher bedürften standortgebundene Dienstleister unter dem Gesichtspunkt des Schutzes vor im Ausland ansässigen Wettbewerbern gerade keiner steuerlichen Vergünstigungssubventionen. Aus ähnlichen Erwägungen heraus geht die Kommission davon aus, dass Leistungen im Hotelgewerbe auch bei unterschiedlichen Steuersätzen in den Mitgliedstaaten und namentlich auch bei Anwendung ermäßigter Steuersätze als quasi lokale Dienstleistungen das Funktionieren des Binnenmarktes nicht be-

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55 Siehe dazu BVerfG v. 18.3.2005 – 1 BvR 1822/00, HFR 2005, 696. 56 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274, zur Öko[Strom-] steuer.

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einträchtigen, weil sie nicht zwischen den Leistungen heimischer und ausländischer Anbieter diskriminieren und wegen der Standortgebundenheit keine steuerinduzierten Verlagerungen zu befürchten sind. Diese Überlegungen treffen weitgehend für Beherbergungsleistungen in der Hotellerie auch zu. Die Beherbergungsleistungen werden standortgebunden erbracht, so dass für den Regelfall keine echte Wettbewerbssituation zu an anderen Orten erbrachten Beherbergungsleistungen besteht. Wer Geschäfte in Köln zu erledigen hat oder dort Verwandte besucht oder den Dom besichtigen will, hat nicht die Wahl, statt in einem Kölner Hotel in einem Wiener oder Berner Hotel zu übernachten, selbst wenn die Übernachtungen dort wegen niedrigerer Umsatzbesteuerung preiswerter wären. Eine Wettbewerbssituation zwischen den Leistungsangeboten der Hoteliers besteht insoweit regelmäßig nicht. Für nahe aneinander grenzende touristische Feriengebiete kann freilich etwas anderes gelten. Unter dem rechtlichen Aspekt der zutreffenden Bestimmung des Kreises der durch steuerliche Lenkungsmaßnahmen zu begünstigenden Steuerpflichtigen stellt sich hier die Frage, ob es – auch bei Anerkennung einer großen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und der Notwendigkeit einer Typisierung unter Vernachlässigung von Besonderheiten des Einzelfalles aus Gründen der Praktikabilität und Vollziehbarkeit des Steuergesetzes57 – zulässig ist, für Beherbergungsleistungen generell den ermäßigten Steuersatz vorzusehen, obwohl im Regelfall gerade keine wettbewerblichen Benachteiligungen auszugleichen sind. Das BVerfG verlangt insoweit, dass der Vorteil der Typisierung im rechten Verhältnis zur notwendig damit verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung steht. Die begünstigende steuerliche Regelung dürfe sich nicht auf eine der Lebenserfahrung widersprechende Würdigung der jeweiligen Lebenssachverhalte stützen. Legt man diese Kriterien an, erscheint doch sehr zweifelhaft, ob eine teilweise für die Beherbergung von Touristen in grenznahen Regionen zu Österreich und der Schweiz aufgrund der dortigen Umsatzbesteuerung bestehende nachteilige Wettbewerbssituation es rechtfertigt, generell alle in Deutschland erbrachten Beherbergungsleistungen in Hotels gegenüber allen übrigen mit dem Normalsteuersatz zu besteuernden Leistungen zu subventionieren. Die Grenzen einer zulässigen Typisierung sind hier weit überschritten. Die Lebenserfahrung spricht gerade nicht dafür, dass in Deutschland erbrachten Beherbergungsleistungen im Regelfall einem Preiswettbewerb zu Beherbergungsleistungen ausgesetzt sind, die in anderen Staaten erbracht werden. Soweit dies ausnahmsweise der Fall ist, bestehen auch Zweifel, ob eine Besteuerung mit dem ermäßigten Steuersatz insoweit überhaupt eine geeignete Maßnahme ist, um die Wettbewerbssituation grundlegend zu verbessern. Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Fragwürdigkeit ist mit Joachim Lang jedenfalls zu bedauern, dass das „Umsatzsteuergeschenk an das Hotelgewerbe“ einen bedauerlichen Rückfall in eine von Lobbyinteressen bestimm-

__________ 57 Vgl. zu diesen Kriterien BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274, zur Öko[Strom-]steuer mit weiteren Nachweisen.

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te Subventionspolitik darstellt58, die ganz unvereinbar mit dem Gebot der Steuervereinfachung und einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist.

VII. Der EuGH und der Gleichheitssatz: Alle Endverbraucher sind gleich, aber Unternehmer sind gleicher Joachim Lang hat für die Einkommensteuer auf die Bedeutung der Einhaltung des objektiven Nettoprinzips hingewiesen und die insoweit erfolgten Verstöße dagegen durch den Gesetzgeber moniert59. Verstöße gegen das objektive Nettoprinzip durch Versagung des Abzugs erwerbsbedingter Aufwendungen führen zu einer gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip verstoßenden gleichheitssatzwidrigen Überbesteuerung. Zu einer gleichheitssatzwidrigen privilegierenden Unterbesteuerung durch Verletzung des objektiven Nettoprinzips käme es hingegen, wenn der Gesetzgeber nur für bestimmte Klassen von Einkünftebeziehern zuließe, dass diese Aufwendungen für den privaten Konsum als einkünftemindernden Aufwand behandeln dürfen. Eine dem objektiven Nettoprinzip für die Einkommensbesteuerung vergleichbare Bedeutung kommt für die Umsatzsteuer dem Neutralitätsprinzip zu. Im hier interessierenden Zusammenhang besagt es, dass die Umsatzbesteuerung für den Unternehmer (bezüglich der materiellen Belastungswirkungen) „neutral“ zu sein hat. Technisch wird diese Neutralität dadurch hergestellt, dass dem Unternehmer der uneingeschränkte und sofortige Vorsteuerabzug für alle Bezüge zu gewähren ist, die ihm ihrerseits zur Ausführung seiner zu besteuernden Umsätze dienen. Die Rechtsprechung des EuGH hat an der uneingeschränkten Durchsetzung dieses der MwStSystRL und ihrer Vorgänger zugrunde liegenden Neutralitätsgrundsatzes immer festgehalten. Sie ist zutreffend allen Versuchen der Mitgliedstaaten entgegengetreten, den Vorsteuerabzug für Unternehmer zu beschränken60. Ebenso wie für das objektive Nettoprinzip bei der Einkommensteuer gilt, dass privater Aufwand gerade nicht einkünftemindernd behandelt werden darf, muss für das Neutralitätsprinzip bei der Umsatzbesteuerung gelten, dass Aufwendungen für den nichtunternehmerischen Konsum nicht vollständig oder partiell durch einen Vorsteuerabzug von einer umsatzsteuerlichen Belastung verschont werden dürfen. Völlig zutreffend geht der EuGH daher auch davon aus, dass im Grundsatz der steuerlichen Neutralität für den Mehrwertsteuerbereich der Grundsatz der

__________ 58 J. Lang, Editorial zu StuW Nr. 1/2010, S. 2. 59 J. Lang, Kritik der Unternehmenssteuerreform 2008, in P. Kirchhof/H. Nieskens, Festschrift W. Reiß, Köln 2008, 379 (389 f.). 60 Vgl. u. a.: EuGH v. 14.2.1985 – Rs. 268/83 – Rompelmann, Slg. 1985, 655; v. 21.2.2000 – Rs. C-110/98-147/98, Slg. 2000, I-1577; v. 22.2.2001 – Rs. C-408/98 – Abbey National, Slg. 2001, I-1361; v. 21.4.2005 – Rs. C-25/03 – HE, Slg. 2005, I-3123; v. 4.6.2009 – Rs. C-102/08 – Salix, UR 2009, 484; v. 29.10.2009 – Rs. C-29/08 – Skatteverket gegen AB SKF, UR 2010, 107.

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Gleichbehandlung seinen Ausdruck finde61. Dass ein europarechtlich auch für den Mehrwertsteuerrichtliniengeber zu beachtender Grundsatz der Gleichbehandlung besteht und dass dem EuGH die Prüfungskompetenz zukommt, ob dieser Grundsatz bei der „Richtliniengesetzgebung“ beachtet wurde, nimmt der EuGH implizit ebenfalls an. Denn er nimmt die entsprechende Überprüfung vor. Damit wird jedenfalls formal den nach Ansicht des BVerfG für eine Zurücknahme seiner Prüfungskompetenz bestehenden Anforderungen an einen durch die Organe der Gemeinschaft zu gewährenden „Grundrechtsschutz“ auf europäischer Ebene genügt. In der Sache freilich offenbart allerdings zumindest die Begründung des EuGH in der Rechtssache Sandra Puffer62 erhebliche Defizite im Verständnis der Anforderungen des Gleichheitssatzes an steuerliche Regelungen im Bereich der Mehrwertsteuer. Der EuGH hatte die Frage zu beantworten, ob es mit dem europarechtlichen Gleichheitsgrundsatz vereinbar sei, dass ein Unternehmer (Steuerpflichtiger) wegen des ihm zunächst zu gewährenden Vorsteuerabzugs für die Errichtung oder den Erwerb eines (auch) für private Wohnzwecke genutzten Grundstückes einen erheblichen Liquiditätsvorteil gegenüber einem Nichtunternehmer erlangt. Der Frage liegt zugrunde, dass nach der 6. EGRichtlinie 77/388/EWG63 in der Auslegung durch den EuGH dem Unternehmer für den Erwerb eines gemischt teils für steuerpflichtige entgeltliche Ausgangsumsätze, teils für private Zwecke verwendeten Gegenstandes das Zuordnungswahlrecht zustehen soll, den Gegenstand in vollem Umfange seinem Unternehmen zuzuordnen. Folge dieser Zuordnung ist nach eben dieser Rechtsprechung des EuGH, dass dem Unternehmer der Vorsteuerabzug im vollen Umfange zusteht. Die private Nutzung ist im Gegenzug als steuerbarer und steuerpflichtiger Umsatz zu behandeln64. Da der Vorsteuerabzug sofort bei Erwerb geltend zu machen ist, während die private Nutzung erst pro rata temporis entsprechend der zeitlich nachfolgenden privaten Verwendung zu versteuern ist, ergeben sich, namentlich bei gemischt genutzten Grundstücken, erhebliche Liquiditätsvorteile, wenn eine volle Zuordnung zum Unternehmen erfolgt. Der EuGH geht davon aus, dass die Richtlinienregelung in der von ihm erfolgten Auslegung ermöglicht, dass hinsichtlich der privaten Verwendung eines gemischt genutzten Gegenstandes eine Gleichbehandlung des Unternehmers (Steuerpflichtiger) zu einem Nichtunternehmer (Nichtsteuerpflichtigen) nicht

__________ 61 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-460/07 – Sandra Puffer, UR 2009, 410. 62 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-460/07 – Sandra Puffer, UR 2009, 410 mit Anmerkung Widmann. 63 Die entsprechenden Vorschriften der Art. 6 Abs. 2 und Art. 17, 19, 20 wurden materiell unverändert in die Art. 26, 168, 173, 184 f. der MwStSystRL übernommen. 64 EuGH v. 11.7.1991 – Rs. C-97/90 – Lennartz, Slg. 2000, I-3795 = UR 1991, 291 m. Anm. Widmann; v. 8.3.2001 – Rs. C-415/98 – Bakcsi, Slg. 2001, I-1831 = UR 2001, 149; zu Grundstücken s. EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-269/00 – Seeling, Slg. 2003, I-4101 = UR 2003, 288 m. Anm. Burgmaier; v. 14.7.2005 – Rs. C-434/03 – Charles und Charles Tijmens, Slg. 2005, I-7037 = UR 2005, 563; v. 14.9.2006 – Rs. C-72/05 – Wollny, Slg. 2006, I-8297 = UR 2006, 638 m. Anm. Widmann.

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gewährleistet ist, weil letzterem kein Liquiditätsvorteil durch Vorsteuerabzug zustehe. Es sei nicht auszuschließen, dass die Entlastung durch den vollen Vorsteuerabzug „hinsichtlich der privaten Verwendung dieser Gegenstände durch die Steuerpflichtigen zu einem finanziellen Vorteil führen“ könne65. Gleichwohl verneint der EuGH einen Verstoß gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung mit einer Begründung, die es ob ihrer Armseligkeit verdient, hier wörtlich wieder gegeben zu werden: „Somit ergibt sich ein etwaiger Unterschied in der Behandlung der Steuerpflichtigen und der Nichtsteuerpflichtigen aus der Anwendung des Grundsatzes der Neutralität, der in erster Linie die Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen gewährleistet. Dieser potentielle Unterschied ergibt sich überdies daraus, dass die Steuerpflichtigen ihren wirtschaftlichen Tätigkeiten i. S. v. Art. 4 Abs. 2 der 6. EGRichtlinie nachgehen. Schließlich hängt er mit der besonderen Stellung der Steuerpflichtigen nach der 6. EG-Richtlinie zusammen, die u. a. darin zum Ausdruck kommt, dass sie nach Art. 21 der 6. EG-Richtlinie Schuldner der Mehrwertsteuer sind und diese zu vereinnahmen haben“66. Diese Begründung ist nicht nur armselig, sondern sie ist geradezu skandalös. Auf die Frage, ob eine Regelung, wonach Steuerpflichtigen gegenüber Nichtsteuerpflichtigen im Hinblick auf das private Wohnen ein erheblicher finanzieller Liquiditätsvorteil eingeräumt wird, dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz entspricht, antwortet der EuGH schlicht damit, dass der einfachrechtliche Richtliniengrundsatz der Neutralität in erster Linie (nur) die Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen gewährleiste. Abgesehen davon, dass dieses Verständnis des Neutralitätsgrundsatzes schon für die Richtlinienauslegung unzutreffend sein dürfte, ist es methodisch geradezu abenteuerlich, die Frage, ob eine Richtlinienregelung dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz als einer „Grundrechtsverbürgung“ entspricht, damit zu beantworten, die Gleichbehandlung sei nun mal in der Richtlinie nur für den Personenkreis der Steuerpflichtigen vorgesehen. Dass der EuGH die Richtlinienregelung in der von ihm zu verantwortenden (bezüglich eines Zuordnungswahlrechtes sehr problematischen) Auslegung gar nicht am gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz misst, sondern umgekehrt das Verständnis des Gleichheitsgrundsatz auf die Richtlinienregelung ausrichtet und dadurch verfälscht, zeigt sich auch am übrigen Aufbau der Begründung. Der EuGH beginnt seine Argumentation „erstens“ mit der Richtlinienregelung in seinem Verständnis, die er als gottgegeben schildert. Erst danach folgt dann unter „zweitens“ eine (auch erheblich kürzere) Hinwendung zur bisherigen Rechtsprechung zum gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung67. Dass auch nach dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung ein Verstoß dagegen vorliegt, wenn unterschiedliche Vorschriften auf vergleich-

__________ 65 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-460/07 – Sandra Puffer, UR 2009, 410 m. Anm. Widmann (Rz. 55). 66 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-460/07, a. a. O., (Fn. 65), Rz. 56. 67 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-460/07 – Sandra Puffer, UR 2009, 410 m. Anm. Widmann, zu „Erstens“ Rz. 39 bis 51; zu „Zweitens“ Rz. 52–60.

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Steuergerechtigkeit und Umsatzbesteuerung im Europäischen Binnenmarkt

bare Situationen angewendet werden oder wenn umgekehrt dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewendet wird, ist tröstlich. Wenn der EuGH diesen Grundsatz vorliegend aber dahingehend konkretisiert, dass Unternehmer und Nichtunternehmer sich dadurch unterscheiden, dass nur der eine einer (unternehmerischen) wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht, der andere aber nicht, so verschlägt einem diese Begründung die Sprache. Denn es geht doch um die Frage, ob eine unterschiedliche umsatzsteuerliche Behandlung mit der Folge der Gewährung eines finanziellen Vorteils im Hinblick auf das für beide Gruppen gleichermaßen dem privaten Bedarf dienende Wohnen mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar ist. Diese Begründung des EuGH hat die gleiche Qualität wie eine Begründung, die etwa bei der Wohngeldgewährung zwischen Männern und Frauen mit der unbestreitbaren Begründung differenzieren wollte, dass Männer keine Frauen sind68. Dass dem Steuerpflichtigen als Belohnung für seine Tätigkeit als Steuereinsammler in Gestalt der Gewährung eines finanziellen Liquiditätsvorteils quasi eine Vergütung für die Lasten der Steuerschuldnerschaft zu gewähren ist, sollte der EuGH auch dann nicht zur Begründung verwenden, wenn verfehlterweise bereits die Kommission so argumentierte. Die Entscheidung des EuGH ist allerdings vor dem Hintergrund seiner Rechtsprechung zu sehen, wonach nur durch die Wahl der vollen Zuordnung zum Unternehmen bei einem gemischt genutzten Gegenstand – auch bei späterer Minderung der privaten und Erhöhung der unternehmerischen Nutzung – die vollständige Entlastung durch einen Vorsteuerabzug zu gewährleisten sei69. Auch diese zunächst plausibel erscheinende Begründung vermag die Entscheidung letztlich nicht zu tragen. Insoweit hätte der EuGH jedenfalls hinterfragen müssen, ob es mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar ist, dass – gemäß seiner Auslegung zu Art. 20 der 6. EGRichtlinie – ein Vorsteuerabzug trotz (späterer) Verwendung im Unternehmen für zu besteuernde Umsätze endgültig verloren bleibt, wenn Gegenstände dem Unternehmen zunächst nicht zugeordnet werden konnten, weil sie zunächst nur privat genutzt wurden. Dasselbe trifft zu, wenn zunächst eine private Verwendung nur neben einer Verwendung zu den Vorsteuerabzug ausschließenden steuerbefreiten Umsätzen erfolgte, weil insoweit die private Verwendung gerade nicht den Vorsteuerabzug eröffnet und nicht zu besteuern ist70. Auch wenn man mit dem EuGH verfehlterweise annehmen wollte, die Richtlinie

__________ 68 Vgl. insoweit auch den Hinweis in der zutreffend kritischen Anmerkung von W. Widmann, UR 2009, 420 (421). 69 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-460/07 – Sandra Puffer, UR 2009, 410, Rz. 43, 44, 51; zur Nichtanwendbarkeit des Art. 20 Abs. 2 der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 184 i. V. m. Art. 187 MwStSystRL) zur Vorsteuerberichtigung bei einer „Einlage“ in das Unternehmen vgl. auch EuGH v.2.6.2005 – Rs. C-378/02 – Waterschap Zeeuws, Slg. 2005, I-4696 = UR 2005, 437; v. 4.10.1995 – Rs. C-291/92 – Armbrecht, Slg. 1995, I-2775 = UR 1995, 465, UR 1995, 485; v. 11.7.1991 – Rs. C-97/90 – Lennartz, Slg. 1991, I-3795 = UR 1991, 291 m. Anm. Widmann. 70 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-460/07 – Sandra Puffer, UR 2009, 410 m. Anm. Widmann (Rz. 59); vgl. auch BFH v. 11.3.2009 – XI R 69/07, UR 2009, 421; v. 8.10.2008 – XI R 58/07, UR 2009, 167.

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genüge schon dann dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz, wenn nur die Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen gewährleistet sei, so fehlt es in diesen Konstellationen auch daran. Nachdem der EuGH sich weder willens noch in der Lage zeigte, eine dem Konsumleistungsfähigkeitsprinzip genügende gleichheitsatzgemäße Besteuerung des privaten Wohnens von Unternehmern und Nichtunternehmern auf dem eigenen Grundstück herbeizuführen, hat nunmehr der Richtliniengemeinschaftsgeber eingegriffen. Mit dem durch die Richtlinie 2009/162/EU71 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG eingeführten und bis zum 1.1.2011 umzusetzenden neuen Art. 168a wird nunmehr bestimmt, dass bei gemischt genutzten Grundstücken der Vorsteuerabzug auf den Teil zu begrenzen ist, der auf die Verwendung für unternehmerische Zwecke (for purposes of the taxable person’s business) entfällt. Der Teil der Vorsteuern, der auf die Verwendung für den privaten Bedarf (for his private use) entfällt, berechtigt nicht zum Vorsteuerabzug. Bei einer späteren Änderung des Umfanges der Verwendung für unternehmerische Zwecke und für den privaten Bedarf sind (spätestens) ab 2011 Vorsteuerkorrekturen entsprechend den dafür nach den Art. 184 f. MwStSystRL geltenden Grundsätzen vorzunehmen. Die Mitgliedstaaten werden im Übrigen ermächtigt, diese Regelung nicht nur für die gemischte Nutzung von Grundstücken anzuwenden, sondern auch für die gemischte Nutzung anderer Gegenstände vorzusehen. Die Neuregelung ist jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung. Der deutsche Gesetzgeber sollte von der Ermächtigung Gebrauch machen, auch für die Anschaffung anderer gemischt genutzter Gegenstände die Vorsteueraufteilung zu verlangen, soweit dabei erhebliche Vorsteuerbeträge anfallen. Unbefriedigend bleibt das Abstellen auf eine Zuordnung zum Unternehmen und eine gemischte Nutzung. Man darf gespannt sein, was der Gesetzgeber und anschließend die Rechtsprechung, namentlich die des EuGH, aus diesen Vorgaben machen wird. Eine der Konsumleistungsfähigkeit entsprechende Umsatzbesteuerung verlangt unter verfassungs- und europarechtlichen Gleichheitsaspekten, dass Aufwendungen für den privaten Bedarf von Steuerpflichtigen (Unternehmern) und von Nichtsteuerpflichtigen (Nichtunternehmern) gleich behandelt werden. Anders als in Orwells animal farm für die Tiere darf für die Umsatzbesteuerung nicht gelten, dass Unternehmer in Bezug auf ihren Konsum gleicher sind als andere Konsumenten. Zu hoffen ist, dass dieser Maxime nach Umsetzung des Art. 168a dann auch die Rechtsprechung des EuGH zur Gleichbehandlung von Unternehmern und Nichtunternehmern im Hinblick auf ihren privaten Konsum gerecht werden wird.

__________ 71 Richtlinie 2009/162/EU v. 22.12.2009 zur Änderung verschiedener Bestimmungen der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. EU, L Nr. 10 S. 15 v. 15.1.2010.

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VIII. Resümee Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab für eine gerechte und gleichheitssatzgemäße Ausgestaltung bleibt auch für die harmonisierte Umsatzsteuer im europäischen Binnenmarkt unverzichtbar. Die für den (nichtunternehmerischen, privaten) Verbrauch getätigten Aufwendungen sind – jedenfalls neben dem erzielten Einkommen – ein Indikator für Leistungsfähigkeit. Das (generelle) Äqivalenz- oder Nutzenprinzip taugt – nicht anders als bei der Einkommensbesteuerung – zwar dafür, die Umsatzbesteuerung durch den jeweiligen Staat dem Grunde nach zu rechtfertigen. Ihm lässt sich aber kein Maß für den Umfang einer gleichheitssatzgemäß auszugestaltenden Besteuerung entnehmen. Das Nutzenprinzip rechtfertigt lediglich die prinzipielle Zuweisung des Besteuerungsrechtes an die Staaten nach dem Verbrauchsortprinzip. Die Ausgestaltung als indirekte Steuer steht einer die objektive und subjektive (Konsum-)Leistungsfähigkeit beachtenden gleichheitssatzgemäßen Ausgestaltung der Umsatzsteuer nicht entgegen. Soweit durch die Umsatzbesteuerung der Bezug des existentiellen und soziokulturellen Lebensbedarfes belastet wird, ist dies im Rahmen von Sozialtranfers auszugleichen, soweit kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen vorhanden ist. Bei Steuerpflichtigen mit ausreichendem Einkommen ist die umsatzsteuerliche (Vor-)Belastung jedenfalls im Rahmen des Grundfreibetrages für den Steuerpflichtigen sowie ihm zu gewährender Abzüge/Freibeträge für ihm gegenüber unterhaltsberechtigten Personen zu berücksichtigen. Unabhängig davon, ob es verfassungsrechtlich geboten ist, eine bestehende umsatzsteuerliche Vorbelastung auf den notwendigen Aufwendungen für den existentiellen und soziokulturellen Lebensbedarf allen ansässigen Personen zu vergüten, könnte eine derartige auch von Joachim Lang vorgeschlagene Vergütung erheblich dazu beitragen, die Verteilungsgerechtigkeit der Umsatzbesteuerung zu erhöhen. Im Gegenzug könnte und sollte auf Steuersatzermäßigungen verzichtet werden. Damit würde eine systemwidrige Entlastung von über den existentiellen Lebensbedarf hinausgehenden Konsumaufwendungen vermieden werden, die denjenigen privilegiert, der über den existentiellen Lebensbedarf hinaus den Konsum dieser begünstigten Güter bevorzugt. Eine an der objektiven Konsumleistungsfähigkeit des Endverbrauchers ausgerichtete Umsatzbesteuerung steht nicht nur Steuerermäßigungen entgegen, die – wie der ermäßigte Steuersatz für das Hotelgewerbe – lediglich den Zweck verfolgen, den leistenden Unternehmer zu begünstigen. Sie verbietet es auch, einen privaten Verbrauch des Unternehmers günstiger zu behandeln als den eines Nichtunternehmers. Zutreffend versagt die MwStSystRL daher zukünftig den Abzug von Vorsteuern für zu privaten Wohnzwecken genutzte Grundstücksteile. Die von Joachim Lang konstatierten Mängel hinsichtlich der Gerechtigkeitsqualität der Umsatzsteuer als indirekter Steuer ließen sich jedenfalls nach Maßgabe der obigen Ausführungen weitgehend beseitigen. Auch dann mag für eine konsumorientierte direkte Besteuerung des Einkommens noch genügend 891

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Raum bleiben72. Modernen, wohl auch durch Lobbyarbeit inspirierten Sirenenklängen, wonach weder Vermögen noch Erbschaften zu besteuern seien und auch Kapital- und Unternehmenseinkünfte nur einer flachen (und niedrigen) Einkommensbesteuerung unterworfen werden dürfen, hingegen der Ausgleich für entsprechende Mindereinnahmen uneingeschränkt durch Erhöhung der Umsatzbesteuerung (und anderer indirekter Steuern) herbeigeführt werden sollte, bleibt aber mit Skepsis zu begegnen.

__________ 72 So J. Lang, Prinzipien und System der Besteuerung von Einkommen, in I. Ebling (Hrsg.), Die Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001), S. 49 f. (Text S. 78 und Fußnote 96); zur makroökonomischen Übereinstimmung der Mehrwertsteuer vom Typ Konsumsteuer mit einer Investition und Ersparnis ausnehmenden konsumorientierten Einkommensteuer s. Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Komm. EStG, Bd. I, Einf. EStG, Anm. 420 und Anm. 45, 46; skeptisch gegenüber einer ausschließlich konsumorientierten Besteuerung auch K. Tipke, Steuerrechtsordnung2, 638 f. und 982 f., 1009, Umsatzsteuer nur als Komplement zur Einkommensteuer!

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Anmerkungen zum Umsatzsteuergesetzbuch, einem Vorschlag zur Umsatzsteuerreform Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Nichtsteuerbarkeit der Leistungen an Unternehmer 1. Darstellung des Vorschlags 2. Zur Bedeutung des Umsatzsteuerbetrugs 3. Traditionelle Rechtfertigungen der Mehrwertsteuer 4. Rechtfertigung der Endphasensteuer im UStGB 5. Zusammenfassende Beurteilung

III. Nichtsteuerbarkeit der Leistungen an die öffentliche Hand IV. Steuerbefreiungen 1. Gesundheitsleistungen 2. Wohnraumvermietung 3. Finanzdienstleistungen 4. Sachversicherungsleistungen V. Einheitlicher Steuersatz VI. Fazit

I. Einleitung Fiskalisch gehört die Umsatzsteuer zusammen mit der Einkommensteuer zu den beiden großen deutschen Steuerquellen. Ihr Aufkommen betrug 2008 (einschließlich Einfuhrumsatzsteuer) 176 Mrd. Euro, das Aufkommen der Einkommensteuer (einschließlich ihrer Gliedsteuern) 205 Mrd. Euro; weit abgeschlagen folgte die Gewerbesteuer mit 41 Mrd. Euro auf dem dritten Platz. Im Schrifttum findet diese Augenhöhe von Umsatzsteuer und Einkommensteuer indes keine rechte Entsprechung; vielmehr fristet die Umsatzsteuer im Verhältnis zur Einkommensteuer ein Schattendasein. Der Rechtsanwender wird zwar auch auf umsatzsteuerlichem Gebiet ausreichend mit Richtlinien, Erlassen und Urteilen versorgt, doch sind dogmatische Arbeiten zur tieferen Durchdringung dieser Steuer unterrepräsentiert. Angesichts dieser Lage bietet der Vorschlag eines Umsatzsteuergesetzbuchs (UStGB) durch Paul Kirchhof1 einen willkommenen Anlass zur Auseinandersetzung mit dem derzeit bestehenden Umsatzsteuersystem und den Möglichkeiten, es zu verbessern. Zur Ehrung des Jubilars Joachim Lang, der wie sein Lehrer Klaus Tipke steuerlichen Grundfragen stets den Vorzug vor Formfragen gibt und nie vor der schwierigen Erörterung des „warum“ zurückweicht – statt nur positivistisch das „was“ zu beschreiben –, erscheint eine solche Erörterung angemessen. Ein zweiter Grund, warum wir dieses Thema gewählt haben, besteht darin, dass die Umsatzsteuer ökonomisch diffiziler ist als jede andere

__________ 1 P. Kirchhof, 2008, Umsatzsteuergesetzbuch, Heidelberg.

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Steuer und viele konzeptionelle Fußfallen enthält. Dies wird im weiteren Text deutlich werden. Das seit gut einem Jahr vorliegende UStGB besteht aus einem ausformulierten Gesetzestext nebst Rechtsverordnung (UStVO) und Kommentierung. Diese von P. Kirchhof gewohnte2 Art, Reformentwürfe zu präsentieren, verdient uneingeschränktes Lob, weil sie Kritik3 ermöglicht, sogar provoziert, und sich damit von jenen wohlfeilen Vorschlägen abhebt, die es – weil nicht zu Ende gedacht und schon gar nicht in Textform gegossen – leicht haben, Überlegenheit gegenüber dem status quo zu beanspruchen. Bisher hat das UStGB nicht viel Resonanz in der Literatur erfahren4, doch dürften seine Grundzüge allgemein bekannt sein. Der Entwurf ersetzt das bestehende Recht durch einen relativ kurzen Text, der zahlreiche Übereinstimmungen mit dem Umsatzsteuergesetz (UStG) aufweist und einige wichtige Unterschiede. Zu den Unterschieden gehören die Integration der Verkehrsteuern in die Umsatzsteuer, die Nichtsteuerbarkeit von Leistungen an Unternehmer und die öffentliche Hand, ein einheitlicher Steuersatz sowie der Wegfall zahlreicher echter und aller unechten Steuerbefreiungen. Die Umsetzung des Vorschlags erfordert also Änderungen der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL), er ist sogar eher ein Richtlinien- denn ein Gesetzesvorschlag. Wie schon im EStGB setzt P. Kirchhof eine klare Diktion, prägnante Generalisierungen und kühne Abstraktionen gegen die angelsächsische Rechtstradition endloser Spiegelstriche und kleinteiliger Definitionen; sprachlich ist das Werk ausgezeichnet. Dieser Beitrag in der Festschrift für Joachim Lang kann den 335-seitigen Vorschlag des UStGB natürlich nicht erschöpfend rezipieren; daher beschränken wir uns in den folgenden Abschnitten auf vier ausgewählte Aspekte und beschließen die Arbeit mit einem Fazit.

II. Nichtsteuerbarkeit der Leistungen an Unternehmer 1. Darstellung des Vorschlags Im geltenden Recht ist die Umsatzsteuer erhebungstechnisch als Mehrwertsteuer ausgestaltet. Aufgrund des Vorsteuerabzugs entsteht die Steuer nicht erst zum Zeitpunkt des Erwerbs der Ware oder Dienstleistung durch Verbraucher, sondern sie wird in fraktionierter Form schon auf den Vorstufen erhoben. Lehrbücher illustrieren dieses Allphasenprinzip durch Waren, die vom Produzenten über den Groß- und Einzelhandel zum Verbraucher gelangen, verstellen damit aber den Blick auf den viel weiteren Anwendungsbereich der Fraktionierung: Dieser betrifft nicht nur Waren, die in unveränderter Form mehrere Handelsstufen durchlaufen, sondern vor allem Stoffe, die durch Weiterverarbeitung ihre Eigenschaften ändern oder verlieren. So mag beispielsweise ein Käufer sein neues Automobil über zwischengeschaltete Händler erwerben.

__________ 2 P. Kirchhof, 2003, Einkommensteuergesetzbuch, Heidelberg. 3 Bolik/Homburg, BB 2005, 2330. 4 Vgl. aber Widmann, UR 2009, 9.

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Kauft er es aber direkt bei einer Niederlassung des Herstellers, greift die Fraktionierung gleichwohl, weil das Automobil letztlich aus Erz und Kohle (für die Stahlproduktion) besteht, Kupfer (für die Elektrokabel), seltenen Erden (für Halbleiterelemente) oder Rohöl (für die Kunststoffproduktion). Weil Erzbergwerke und Kohlezechen, Kupfer- und andere Minen sowie die Mineralölwirtschaft allesamt in die Umsatzsteuer einbezogen sind, steuert die Grundstoffindustrie einen erheblichen Teil des Aufkommens bei, die Zwischenproduktund Zulieferindustrie einen weiteren Teil und der Automobilproduzent den Rest. Die auf die Branchen entfallenden Anteile am Steueraufkommen verhalten sich zueinander wie die Differenzen der Output- und Inputwerte (values added); darauf beruht die treffende Bezeichnung Mehrwertsteuer5. Diese Erhebungstechnik schafft einen Gleichklang mit den direkten Steuern, die ebenfalls fraktioniert auf die in der Wertschöpfungskette entstehenden Einkommen erhoben werden. Eine weitere Parallele besteht darin, dass direkte Steuern ebenso wie die Mehrwertsteuer grundsätzlich das Nettoprinzip6 verwirklichen und Steuerkumulationen vermeiden. Im ersteren Fall geschieht dies durch den Betriebsausgabenabzug, im letzteren durch den Vorsteuerabzug. Das UStGB, und hierin liegt der wichtigste Unterschied zum geltenden Recht, lässt Leistungen von Unternehmern an Unternehmer grundsätzlich unbesteuert und weicht von diesem Grundsatz nur ab, wenn der Leistungsempfänger bar, per EC-Karte oder Kreditkarte zahlt oder wenn er keine Umsatzsteueridentifikationsnummer verwendet (§ 5 UStGB); in diesen Ausnahmefällen bleibt es beim offenen Steuerausweis in der Rechnung und beim Vorsteuerabzug auf Seiten des Empfängers (§ 8 UStGB). Im Grundfall unbarer Zahlung und der Verwendung einer Umsatzsteueridentifikationsnummer entsteht die Umsatzsteuer erst bei Leistung an Verbraucher, außerdem bei Leistungsentnahmen und der Einfuhr von Gegenständen, § 1 UStGB. Bezogen auf das vorige Beispiel würden Kohle, Erz, Kupfer, seltene Erden und Rohöl nach Inkrafttreten des UStGB unbesteuert an die Zwischenprodukt- und Zulieferindustrien geliefert, diese würden ihrerseits unbesteuert an den Hersteller liefern, und die gesamte Umsatzsteuer entstünde erst nach Auslieferung des Automobils an den privaten Endkunden. Genauer gesagt entstünde sie sogar erst nach Zufluss des Entgelts, denn § 21 UStGB ersetzt die Besteuerung nach vereinbarten Entgelten (Sollprinzip) durch eine konsequente Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (Istprinzip). In der Grundkonzeption ersetzt das UStGB das Allphasenprinzip durch ein, wie man es nennen könnte, Endphasenprinzip; die Steuer entsteht erst bei Leistungen an die Endverbraucher. Für diesen weitreichenden Systemwechsel sprechen nach Ansicht des Autors vier Gründe. Erstens erzeuge die heutige Erhebungstechnik Liquiditätsverluste bei den Unternehmen. Soweit damit Liquiditätsverschiebungen zwischen Leistendem

__________ 5 Lohse/Peltner, 2007, Mehrwertsteuersystem-Richtlinie, Einführung, 5, verlangen mit Recht, dass der deutsche Gesetzgeber endlich den irreführenden Begriff „Umsatzsteuer“ durch „Mehrwertsteuer“ ersetze. 6 Hierzu grundlegend Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, 247 f.

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und Leistungsempfänger gemeint sind7, schaden diese nicht, weil die Vertragsparteien Zinsvorteile und -nachteile bei der Preisgestaltung berücksichtigen können. In Wirklichkeit bedingt die Erhebungstechnik jedoch ein veritables zinsloses Darlehen des Unternehmenssektors an den Staat, das beim Wechsel zum UStGB aufgedeckt würde. Während einer mehrmonatigen Übergangszeit hätte der Staat Mindereinnahmen zu verkraften, denen keine späteren Mehreinnahmen gegenüberstünden. Denn im Anschluss an den letzten mehrwertsteuerpflichtigen Automobilverkauf würden die Grundstoff-, Zwischenprodukt- und Zulieferindustrien ihre Umsatzsteuervorauszahlungen einstellen, und der Fiskus müsste warten, bis das erste Automobil nach den neuen Spielregeln vom Endverbraucher bezahlt ist. Anders ausgedrückt sind die von Kirchhof beschriebenen Liquiditätsvorteile des Systemwechsels für den Unternehmenssektor – die milliardenschwer sein dürften – mit einem Liquiditätsnachteil des Staates in exakt gleicher Höhe verbunden. Darin liegt kein grundsätzlicher Einwand, doch dürfte dieser Umstand die politische Realisationschance des Vorschlags schmälern. Zweitens soll der Systemwechsel Unternehmer und Verwaltung entlasten. Die Zurückhaltung der Wirtschaft gegenüber dem UStGB deutet eher auf das Gegenteil hin. Immerhin müssen die Unternehmer im neuen System nicht nur bei jedem zwischenunternehmerischen Einzelumsatz die Berechtigung des Erwerbers überprüfen und diese Überprüfung dokumentieren, um Gutglaubensschutz für die steuerfreie Leistung zu genießen8, sondern auch zusätzliche Gewährkonten (§ 6 Abs. 1 Satz 1 UStGB) einrichten9 und sämtliche zwischenunternehmerischen Umsätze zumindest aufgeschlüsselt nach Leistenden bzw. Empfängern anmelden10 statt, wie im geltenden Recht, nur die Summen. Damit wird der Anwendungsbereich des § 18a UStG (Zusammenfassende Meldung) geographisch auf innerstaatliche Leistungen und sachlich auf Eingangsleistungen erweitert. Drittens passe das UStGB gut zum Ziel eines europäischen Binnenmarktes. In der Tat werden Inlandslieferungen nach denselben Grundsätzen wie Lieferungen in das übrige Gemeinschaftsgebiet besteuert. Darin liegt freilich auch ein Warnhinweis, denn in den 1990er Jahren wurde der zeitweilige Umsatzsteuerrückgang u. a. der innergemeinschaftlichen Erwerbsbesteuerung zugeschrieben11, die wie eine Befreiung zwischenunternehmerischer Lieferungen wirkt. Viertens schließlich, und dieser Punkt ist der eigentlich interessante, soll der Wechsel vom Allphasenprinzip zum Endphasenprinzip den Umsatzsteuerbetrug verringern. Über Unregelmäßigkeiten bei der Umsatzsteuererhebung wurde in den vergangenen Jahren derart viel – auch Unsinniges – publiziert, dass dieser Anspruch eine genauere Prüfung verdient.

__________

7 So die Beispiele in P. Kirchhof (Fn. 1), 34. 8 P. Kirchhof (Fn. 1), 82. 9 Die Funktion dieser Gewährkonten bleibt unklar, weil sie laut P. Kirchhof (Fn. 1), 93, gerade keinen „gläsernen Unternehmer“ schaffen und von den Finanzbehörden nur im Rahmen von Betriebsprüfungen einsehbar sind. 10 P. Kirchhof (Fn. 1), 87. 11 Mittler, UR 2001, 385.

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2. Zur Bedeutung des Umsatzsteuerbetrugs Als Einstieg in das Thema zeigt Abbildung 1 die Entwicklung der Umsatzsteuerquote, also des Verhältnisses von Umsatzsteueraufkommen und Bruttoinlandsprodukt, seit die Umsatzsteuer in ganz Deutschland in Kraft ist12. Diese Quote stieg von 6 auf 7,4 Prozent (um 23 Prozent), während der Normalsatz von 15 auf 19 Prozent (um 26 Prozent) zunahm, der ermäßigte Satz mit 7 Prozent konstant blieb und auch die zahlreichen Steuerbefreiungen kaum geändert wurden. USt/BIP 7,5% 7,3% 7,1% 6,9% 6,7% 6,5% 6,3% 6,1% 5,9% 5,7% 5,5%

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Aufgrund der komplizierten Interaktion gespaltener Steuersätze mit echten und unechten Steuerbefreiungen liegen die Ursachen der starken Schwankungen weitgehend im Dunkeln. Indes lässt sich der Graphik kein besorgniserregender Trend entnehmen. Der zwischenzeitliche Rückgang der Umsatzsteuerquote vor 1997 wurde zwar umgehend von der Deutschen Bundesbank beklagt13, während der Bundesrechnungshof die Entwicklung zwischen 1999 und 2003 zum Anlass für einen Bericht nach § 99 BHO über eine „Angelegenheit besonderer Bedeutung“ nahm14, doch haben die bemerkenswerten Zunahmen dieser Quote vor 1994 und nach 2007 (bei jeweils konstanten Steuersätzen) keine Beachtung gefunden. Im Rezessionsjahr 2009 ist das Umsatzsteueraufkommen sogar absolut gestiegen. Rückblickend erscheint ein Teil der

__________

12 Im Jahre 1990 galt im Beitrittsgebiet das UStG-DDR, s. Birkenfeld, UR 1993, 321. Quellen: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2009) Jahresgutachten, Tab. 11* und Tab. 21*. Für 2009: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Dezember 2009 (BIP) und Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht Dezember 2009 (USt). 13 Deutsche Bundesbank, Monatsbericht August 1997, 94 f. 14 BT-Drucks. 15/1495 v. 3.9.2003.

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Veröffentlichungen zur angeblichen Erosion des Umsatzsteueraufkommens etwas alarmistisch. Aufgrund aufgebauschter Vermutungen und kurzfristiger Evidenz wurde ein Riesenproblem konstruiert, das in der Folge einschneidende Rechtsänderungen und Freiheitsbeschränkungen zeitigte, wie etwa die „Fahndung ohne Anfangsverdacht“ gem. § 27b UStG. 3. Traditionelle Rechtfertigungen der Mehrwertsteuer Jedoch soll die Bedeutung der Umsatzsteuerhinterziehung nicht heruntergespielt werden und ist selbstverständlich jeder Vorschlag willkommen, der diesem Delikt entgegenwirkt. Leider enthält die Kommentierung des UStGB keinerlei historische oder rechtsvergleichende Auseinandersetzung mit den Argumenten der Befürworter des Allphasenprinzips, die diese Erhebungstechnik gerade mit der Hinterziehungsanfälligkeit des Endphasenprinzips begründeten. Daher sei zunächst die Logik des bestehenden Systems betrachtet. In der modernen Industriegesellschaft wandern Leistungen typischerweise, wie oben am Beispiel der Automobilwirtschaft illustriert, von wenigen großen Unternehmen der Grundstoffindustrie über große und mittlere Zwischenproduktindustrien in Richtung der Einzelhändler und Dienstleister. Allphasensteuern erzielen einen beträchtlichen Teil des Gesamtsteueraufkommens durch verbraucherferne größere Unternehmen, die relativ einfach kontrollierbar sind und vergleichsweise selten insolvent werden. Analog setzt die Erhebung der speziellen Verbrauchsteuern bei den regelmäßig wenigen und größeren Produzenten an. Schwierig ist die Steuererhebung nämlich dort, wo kleine und kleinste Unternehmen wie Gastronomen, Tankstellen, Ex- und Importhändler oder Gärtner unmittelbaren Kontakt mit dem Verbraucher haben. Das Erhebungsproblem einer Endphasensteuer wurde schon vom großen Popitz in seinem Grundlagenartikel zur allgemeinen Verbrauchsteuer klar gesehen: „Die Kleinhandelsteuer legt die Steuer in die letzte Wirtschaftsstufe. … Eine technische, allerdings sehr große Schwierigkeit bleibt die Umgrenzung des Begriffs Kleinhandel und die Bekämpfung der sicherlich sehr zahlreichen Umgehungsversuche.“15 Heute ist hierfür der Begriff „Ameisenkriminalität“ geläufig. Nach traditioneller Auffassung mindert der Vorsteuerabzug den Anreiz zur Hinterziehung in den hierfür anfälligen verbrauchernahen Sektoren, indem er ihre effektive Steuerbelastung senkt16. Diese Sichtweise vertritt auch die Europäische Kommission. Dem Vorschlag Deutschlands und Österreichs, die Steuerschuld generell auf den Leistungsempfänger zu verlagern – was wirtschaftlich zum gleichen Belastungsergebnis führt wie die Nichtsteuerbarkeit zwischenunternehmerischer Leistungen, obwohl rechtstechnisch ein Unterschied besteht –, trat die Kommission wie folgt entgegen: „Bei der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft wäre die Mehrwertsteuer größtenteils von den Endliefe-

__________ 15 Popitz, Allgemeine Verbrauchsteuer, 1927. In Gerloff/Meisel, Handbuch der Finanzwissenschaft, Zweiter Band, Tübingen, 194. 16 International Bureau of Fiscal Documentation, The EEC Reports on Tax Harmonization, Amsterdam 1963, 57 und 65.

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ranten in der Produktionskette zu entrichten, die in vielen Ländern möglicherweise kleiner und weniger zuverlässig sind als die wenigen Großunternehmen, die gegenwärtig in den meisten Mitgliedstaaten einen großen Teil der Mehrwertsteuer zahlen. Die Kontrolle des Einzelhandels erfordert aufgrund der Wesensmerkmale dieses Sektors mehr Ressourcen, insbesondere wenn alle Einzelhändler steuerfreie Lieferungen erhalten.“17 Sämtliche Begründungen und Erwägungen, die seinerzeit zur Schaffung der europäischen Mehrwertsteuer durch die 1. und 2. Mehrwertsteuer-Richtlinie führten, gaben dem Allphasenprinzip den Vorzug, weil sie dieses für erhebungssicherer hielten als das Endphasenprinzip. Bei der Abwägung zwischen Brutto- und Netto-Allphasensteuer fiel die Entscheidung zugunsten der letzteren, weil sie die Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips per Grenzausgleich gestattet und zum Neutralitätsgebot passt. 4. Rechtfertigung der Endphasensteuer im UStGB Nach dieser kurzen Rekapitulation der traditionellen Sicht seien nun die erhebungstechnischen Argumente zugunsten der Endphasenbesteuerung gemustert. Die Kommentierung des UStGB erwähnt einige Betrugsarten im geltenden System und nähert sich dabei gefährlich der schlichten Sicht Mittlers, „dass Vorsteuerbetrug dort nicht möglich ist, wo keine Umsatzsteuer berechnet wird“18. Das ist natürlich irreführend, soweit der Leistungsempfänger nur jenen Betrag hinterzieht, den der Leistende endgültig an den Fiskus gezahlt hat. Um Gefahren für das Steueraufkommen zu begründen, bedarf es zusätzlicher Argumente. Die heutigen Hinterziehungsformen sind vielfältig. Gebauer nennt Ohne-Rechnung-Geschäft, unvollständige Umsatzerklärung, falsche Anwendung des ermäßigten Satzes, grenzüberschreitendes Kfz-Geschäft, Export über den Ladentisch, betrügerische Globalzession, betrügerische Optionsausübung, unterlassene Vorsteuerkorrektur, gefälschte Eingangsrechnung, Geltendmachung der Vorsteuer Dritter, unversteuerten Endverbrauch, Vortäuschung der Unternehmereigenschaft, Betrug im Vorsteuervergütungsverfahren, Scheinrechnung, betrügerische Insolvenz, Karussellgeschäft und Kettenbetrug im Baugewerbe19. Aufgrund der Vielfalt der Hinterziehungstechniken kommen die Gefahren für den Fiskus aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Wünschenswert wäre eine quantitative Aufgliederung, die es jedoch aus naheliegenden Gründen nicht gibt. Vielmehr werden die ausfallenden Steuerbeträge gewöhnlich per Annahme gesetzt. Das gilt auch für die das Publikum am meisten faszinierende, in der Praxis aber wohl wenig bedeutsame Verkürzungstechnik, nämlich das Karussellgeschäft20. Kirchhof widmet ihm einen eigenen Abschnitt, betrachtet

__________ 17 Europäische Kommission, Mitteilung über mögliche Maßnahmen zur Bekämpfung von MwSt-Betrug vom 22.2.2008 KOM (2008) 109 endg., 9. 18 Mittler, UR 2004, 5. 19 Gebauer, Steuerausfälle im Bereich der Mehrwertsteuer, München 2008, 101. 20 Auch Gebauer (Fn. 19), 126, ordnet geschätzte Steuerausfälle per Annahme den Karussellgeschäften zu.

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als Beispiel jedoch kein Karussellgeschäft, sondern ein Streckengeschäft, das zudem nicht bis zum Ende durchgerechnet ist. Inwieweit der Systemwechsel einen erhebungstechnischen Fortschritt bedeuten soll, wird nicht klar. Eine genauere Analyse der verschiedenen Hinterziehungsformen einschließlich der Karussell- und Streckengeschäfte fördert als deren gemeinsames Merkmal die Insolvenz (seltener: das Verschwinden) eines Steuerschuldners zutage. Die Insolvenz ist insbesondere gemeinsames Merkmal aller vom Bundesrechnungshof identifizierten Verkürzungstechniken. Zur Illustration sei Großhändler G betrachtet, der Ware gegen ein Entgelt von 100 an Einzelhändler E liefert, der dieselbe Ware wiederum gegen ein Entgelt von 200 an den Verbraucher liefert. Bei normalem Geschäftsgang schulden G und E dem Finanzamt im Mehrwertsteuersystem je 19, bei einer Endphasensteuer schuldet G nichts und E die gesamte Steuer von 38. Das geltende System bedingt negative Steuereinnahmen, wenn E die Ware auf Ziel einkauft, die Vorsteuer abzieht und sofort vergütet bekommt, den Vergütungsbetrag entnimmt, bis zum nächsten Voranmeldungszeitraum wartet, die Ware erst dann zum Preis von 238 an den Verbraucher verkauft und sofort danach in Insolvenz geht. Bei Masselosigkeit entgeht dem Staat unter diesen Annahmen nicht nur der Steuerbetrag von 38, sondern zusätzlich die entnommene Vorsteuer von 19, weil G nach Insolvenz des E seine Umsatzsteuerschuld gem. § 17 UStG berichtigt und die korrespondierende Vorsteuerberichtigung des E wegen Insolvenz leerläuft. Zusammengefasst steht dem Aufkommen von -19 gemäß UStG ein Aufkommen von Null nach UStGB gegenüber, weil nach den Spielregeln des UStGB lediglich der Steuerbetrag 38 uneinbringlich wird. Dieses Beispiel liefert ein valides, wenngleich nur punktuelles Argument gegen das geltende Recht. Genauer betrachtet spricht es jedoch – entgegen der Ansicht P. Kirchhofs – nicht gegen das Allphasenprinzip, sondern allein gegen das Sollprinzip. Bei einer konsequent nach dem Istprinzip erhobenen Mehrwertsteuer würde das Steueraufkommen nicht negativ, weil E die Vorsteuer erst nach Bezahlung des G abziehen könnte. Vergleicht man die Allphasensteuer unter sonst gleichen Annahmen – nämlich bei jeweiliger Geltung des Istprinzips – mit der Endphasensteuer, ergibt sich in beiden Systemen nach Insolvenz des E ein Steueraufkommen von Null. Damit kann die Endphasenbesteuerung selbst unter extremen Annahmen keine größere Erhebungssicherheit beanspruchen. Die Erschwerung bestimmter Formen des Vorsteuerbetrugs im UStGB beruht nicht auf dem Wechsel vom Allphasen- zum Endphasenprinzip, sondern auf der Umstellung vom Sollprinzip auf das Istprinzip. Ohnehin basiert das vorige Beispiel auf recht gekünstelten Annahmen über den zeitlichen Ablauf. Finanzbehörden pflegen Vorsteuern selten sofort auszuzahlen und sind dazu auch nicht verpflichtet, § 168 Satz 2 AO. Im typischen Fall liegt der erhebungstechnische Vorteil eindeutig beim Allphasenprinzip. Man betrachte hierzu einen Automobilhändler. Im Mehrwertsteuersystem erwirbt er die Automobile steuerpflichtig und vermag die in der Eingangsrechnung enthaltene Vorsteuer nur unter Mitwirkung des Finanzamts zurückzubekommen, das dadurch auf ihn aufmerksam wird. Im System des UStGB 900

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kann der Händler die Automobile hingegen ohne Mitwirkung des Finanzamts unbesteuert erwerben, wiederverkaufen und dabei Umsatzsteuerschulden anhäufen. Bei nachfolgender Insolvenz ist die geschuldete Umsatzsteuer für den Fiskus verloren. Ein letzter Gesichtspunkt kommt hinzu. Während die derzeitige Mehrwertsteuer aus Sicht der Unternehmer zwangsläufig entsteht, eröffnet ihnen § 5 UStGB de facto eine Wahlmöglichkeit zwischen Allphasen- und Endphasenbesteuerung, weil die Nichtsteuerbarkeit zwischenunternehmerischer Leistungen durch Weglassen der Umsatzsteueridentifikationsnummer oder mittels Barzahlung außer Kraft gesetzt werden kann. Es bedarf wenig Phantasie sich auszumalen, dass findige Täter zwischen den beiden parallelen Erhebungsformen arbitragieren und die für ihre Zwecke geeignete Form wählen werden. 5. Zusammenfassende Beurteilung Ein Übergang vom Allphasenprinzip zum Endphasenprinzip würde einesteils temporäre Steuerausfälle bedingen, wie weiter oben beschrieben, aber auch dauerhafte Mindereinnahmen, weil das traditionelle Argument zugunsten der Mehrwertsteuer – die Abschöpfung beträchtlicher Aufkommensanteile bei verbraucherfernen Großunternehmen – nach wie vor sticht, während die dagegen vorgebrachten Argumente auf einer Verwechslung von Allphasenprinzip und Sollprinzip beruhen. Mit Ausnahme Deutschlands und Österreichs haben wohl alle EU-Mitgliedstaaten diesen eminent wichtigen Gesichtspunkt verstanden und halten am Mehrwertsteuersystem fest, dessen Abqualifizierung als „Nullsummenspiel“ von mangelnder Problemdurchdringung zeugt21. Allein dort, wo Leistungen atypisch von vielen Kleinunternehmen in Richtung weniger Großunternehmen erbracht werden, kann die Endphasenbesteuerung bzw. die ihr ähnelnde Umkehrung der Steuerschuldnerschaft angebracht sein. Diesem Gesichtspunkt trägt § 13b Abs. 1 Nr. 4 UStG für das Baugewerbe Rechnung, das durch viele kleine Subunternehmer und wenige große Generalunternehmer geprägt ist. Die in der Literatur wort- und bildreich geschilderten Vorsteuerbetrügereien sind nicht dem Allphasenprinzip anzulasten, sondern dem Sollprinzip. Der Staat kann dem Vorsteuerbetrug, wenn er ihn für quantitativ wichtig erachtet, durch Wechsel zum Istprinzip begegnen22. Dabei müsste der Anwendungsbereich des Istprinzips freilich auch das Recht zum Vorsteuerabzug umfassen und nicht wie im bestehenden Recht auf die Ausgangsumsätze beschränkt bleiben. Demnach dürfte der Empfänger erst dann die Vorsteuer abziehen, wenn er die Rechnung des Leistenden bezahlt hat. Zwar würde der hier aufgezeigte Weg ebenfalls vorübergehende Steuerausfälle mit sich bringen, doch könnten diese – durch allmähliche Anhebung des Schwellenwerts nach § 20

__________ 21 So aber Mittler (Fn. 11), Kirchhof (Fn. 1), 21. 22 Gl. A. Reiß in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, 676. Das Istprinzip ist auch ökonomisch dem Sollprinzip vorzuziehen, s. hierzu Hiller, Cash-Flow-Steuer und Umsatzsteuer, Wiesbaden 2003, 313.

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UStG – über mehrere Jahre gestreckt werden. Der Wechsel zum Istprinzip würde in gewisser Weise der Ablösung der Konkursordnung durch die Insolvenzordnung Rechnung tragen, die mitursächlich für die Vorsteuerproblematik ist, weil Steuergläubiger früher die zweite von sechs Rangstellen innehatten (§ 61 KO), während sie heute ihre Forderungen gleichauf mit den übrigen Insolvenzgläubigern geltend machen. Weil echter Vorsteuerbetrug im Kern auf Insolvenz beruht, war das Inkrafttreten der Insolvenzordnung am 1.1.1999 vielleicht die bisher größte Herausforderung für das Umsatzsteueraufkommen.

III. Nichtsteuerbarkeit der Leistungen an die öffentliche Hand Gegenwärtig belastet die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer privaten und staatlichen Verbrauch gleichermaßen. Soweit staatliche Stellen nicht ausnahmsweise unternehmerisch handeln, können sie aus dem Rechnungsbetrag keine Vorsteuer ziehen, unterliegen aber auch keinen umsatzsteuerlichen Pflichten. Nach der Konzeption des UStGB kann die öffentliche Hand, wie im geltenden Recht, zwar ausnahmsweise Unternehmer sein, doch ist sie niemals Verbraucher, § 4 UStGB. Leistungen eines Unternehmers an die öffentliche Hand sind grundsätzlich nicht steuerbar, § 9 UStGB, wobei auch hier Ausnahmen für Bargeschäfte usw. vorgesehen sind. Die Begründung zum UStGB rechtfertigt die Herausnahme des staatlichen Verbrauchs aus der allgemeinen Verbrauchsbesteuerung wie folgt. Erstens setze der Staat beim Erwerb von Leistungen nicht privat erwirtschaftete Kaufkraft ein, sondern Steuermittel und erwerbe die Leistungen zum Nutzen Dritter23. Nach dem Telos der Verbrauchsbesteuerung spielt die Mittelherkunft aber ebenso wenig eine Rolle wie die Fremdnützigkeit der Leistung: Ein Verbraucher soll auch belastet werden, wenn er den Leistungsbezug aus Erbschaft, Transfer oder Unterschlagung finanziert, und unabhängig davon, ob er die Leistung für sich erwirbt oder für Dritte wie Kinder und Freunde24. Zweitens enthält der Text die befremdliche Feststellung, Umsatzsteuern auf staatliche Tätigkeit belasteten den Haushalt, korrigiert dies aber sogleich dahingehend, die Nichtbesteuerung des staatlichen Verbrauchs sei aufkommensneutral25. Natürlich ist die letztere Einschätzung richtig: Gesamtstaatlich erbringt eine Besteuerung des Staatsverbrauchs weder Mehr- noch Mindereinnahmen; sie führt lediglich zu einer ausgaben- und einnahmenseitigen Budgetverlängerung. An dieser Stelle ist der Ausdruck „Nullsummenspiel“ durchaus angebracht, und hier liegt zugleich ein Ansatzpunkt für die Beurteilung der Besteuerung des Staatsverbrauchs, die – weil Aufkommenseffekte keine Rolle spielen – allein an der Praktikabilität ansetzen kann. Das bestehende Recht zielt auf

__________ 23 P. Kirchhof (Fn. 1), 76. 24 „Nicht nur die Aufwendungen für die eigene Lebensführung werden mit Umsatzsteuer belastet, sondern auch die Aufwendungen für fremde Lebensführung“, P. Kirchhof (Fn. 1), 69. 25 P. Kirchhof (Fn. 1), 77 bzw. 78.

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Einfachheit für den Verbraucher ab, der die Rechnung bezahlt und sonst nichts mit der Umsatzsteuer zu schaffen hat; alle Beurteilungs-, Aufzeichnungs- und Berichtspflichten liegen beim Unternehmer. In den Genuss dieser Einfachheit kommen derzeit nicht nur die privaten, sondern eben auch die staatlichen Verbraucher. Demgegenüber unterliegen staatliche Verbraucher laut UStGB ähnlichen Regeln wie die Unternehmen. Jeder Verwaltungseinheit, so der steuertechnische Fachbegriff des UStGB, wird eine eigene Umsatzsteueridentifikationsnummer zugeordnet, deren Führung im Geschäftsverkehr zum nichtsteuerbaren Erwerb berechtigt. Dazu bedarf es einer Abgrenzung. Das UStGB definiert Verwaltungseinheiten als Stellen, die finanziert durch Steuern öffentliche Aufgaben wahrnehmen und dabei am Rechtsverkehr im eigenen Namen teilnehmen26. Dies soll bei jeder Schule, Universität, Finanzbehörde oder Beschaffungsstelle der Bundeswehr der Fall sein, nicht aber bei Kirchen, die als Verbraucher eingestuft werden27. Für manche öffentlich-rechtliche Stelle dürfte die Qualifikation ihrer Einnahmen als „Steuern“ zur Schicksalsfrage werden, denn die Steuerfinanzierung gehört zum Definiens der Verwaltungseinheit und entscheidet über die Möglichkeit des unbesteuerten Erwerbs. Alle Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die sich aus Beiträgen, Gebühren oder Sonderabgaben finanzieren, werden vom UStGB auf Verbraucherstatus zurechtgestutzt und können damit nur besteuerte Leistungen erwerben. Zur Besteuerung im Fall der Mischfinanzierung durch Steuern und andere Abgaben schweigt der Entwurf vielsagend. Insgesamt erscheint die begriffliche Verknüpfung von Verwaltungseinheit und Steuerfinanzierung, die für das Budget der Verwaltungseinheit enorme Konsequenzen haben kann, infolge des fragilen Steuerbegriffs als verfehlt. Verwaltungseinheiten, die im Einzelfall steuerpflichtige Leistungen beziehen, etwa bei Barzahlung, können die gezahlte Vorsteuer durch ein besonderes Vergütungsverfahren von der Finanzbehörde zurückverlangen, § 10 UStGB, und zwar „unbürokratisch“28. Unbürokratisch ist die vorgeschlagene Lösung aber keineswegs. Ganz im Gegenteil bezieht das UStGB hunderttausende Verwaltungseinheiten, darunter Schulen und andere kleine Dienststellen, in das System des unbesteuerten Leistungsbezugs ein und unterwirft sie Pflichten, die sie bisher nicht hatten. Hierzu gehören die Beantragung der Umsatzsteueridentifikationsnummer, das Vorsteuervergütungsverfahren, auf Dauer sicher auch unternehmerähnliche Aufzeichnungs- und Berichtspflichten, die im Entwurf unscharf konturiert bleiben. Der Begriff der Verwaltungseinheit schafft neue Abgrenzungsprobleme, und zudem wird die Abgrenzung zwischen hoheitlicher und unternehmerischer Tätigkeit wichtiger und damit streitanfälliger als im geltenden Recht: Während derzeit nämlich eine staatliche Stelle, die hoheitlich tätig ist, für ihre erbrachten Leistungen weder Umsatzsteuer schuldet noch Vorsteuer abziehen kann, mithin nur die Steuerfreiheit des von ihr

__________ 26 P. Kirchhof (Fn. 1), 122. 27 P. Kirchhof (Fn. 1), 123 bzw. 125. 28 P. Kirchhof (Fn. 1), 128.

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geschaffenen Mehrwerts genießt, schuldet sie im Rahmen des UStGB für ihre Ausgangsleistungen weiterhin keine Umsatzsteuer, kann jedoch für ihre Eingangsleistungen die Vorsteuer abziehen (bzw. unbesteuert erwerben). Dadurch bleiben bei Bejahung hoheitlicher Tätigkeit auch die in den Vorstufen geschaffenen Mehrwerte unbesteuert. Bei Leistungen wie der kommunalen Daseinsvorsorge, deren Hoheitscharakter umstritten ist, wird dies die bestehenden Auseinandersetzungen und Wettbewerbsverzerrungen verschärfen. Schließlich würde die Herausnahme des Staatsverbrauchs aus der Umsatzsteuer immense Anpassungsprobleme erzeugen, weil das obige Bild einer aufkommensneutralen Budgetverlängerung streng genommen nur im unitarischen Staat stimmt. Im gegliederten Staat – und hierbei kommt es nicht nur auf die Gliederung in Länder an – wirkt die Besteuerung des Staatsverbrauchs wie ein impliziter Finanzausgleich, auf den der über Jahrzehnte gewachsene explizite Finanzausgleich Rücksicht nimmt. Bei Wegfall der Besteuerung des Staatsverbrauchs müsste erstens der Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geändert werden, und zweitens hätte jede Gebietskörperschaft die Budgets ihrer Verwaltungseinheiten anzupassen. Um Friktionen zu vermeiden, wäre jedes Einzelbudget um die von der Verwaltungseinheit bisher gezahlte Umsatzsteuer zu kürzen. Nach zwei Föderalismuskommissionen, die einiges zuwege gebracht haben, in der Frage der Neuordnung des Finanzausgleichs aber vollständig gescheitert sind, erscheint ein so weitreichendes innerstaatliches Umverteilungsmanöver utopisch. Insgesamt beurteilen wir den Vorschlag der Herausnahme des Staatsverbrauchs aus der Umsatzbesteuerung negativ: Er hätte keinen einzigen Vorteil, aber eine Reihe nennenswerter Nachteile. Dazu gehören ein Zuwachs an Bürokratie, verschärfte Abgrenzungsprobleme zwischen hoheitlicher und unternehmerischer Tätigkeit sowie politisch kaum lösbare Übergangsfragen.

IV. Steuerbefreiungen Das geltende Recht kennt zahlreiche Umsatzsteuerbefreiungen und unterscheidet in § 4 und dem darauf verweisenden § 15 UStG echte Befreiungen, die den Leistenden zum Vorsteuerabzug berechtigen, und unechte Befreiungen, die den Vorsteuerabzug ausschließen. Das UStGB bricht mit dieser Tradition in zweifacher Hinsicht. Es vermindert die Gesamtzahl der Befreiungen, § 11 UStGB, und schafft zugleich das Institut der unechten Befreiung ab, § 8 UStGB, welches im bestehenden Recht die Belastung unternehmerischer Investitionen und Zwischenprodukte in großem Ausmaß bedingt29. Sämtliche verbleibenden Befreiungen berechtigen den Unternehmer zum Vorsteuerabzug bzw. zum unbesteuerten Bezug der Eingangsleistungen. Damit wird die sog. Nullsatzbesteuerung (zero-rating) allgemeingültiges Prinzip.

__________ 29 Nach Schätzungen von Gottfried/Wiegard, JPubEc 1991, 307, entfiel im Jahre 1988 rund ein Drittel des deutschen Umsatzsteueraufkommens auf Investitionen und Zwischenprodukte.

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Die vom UStGB vorgesehenen Befreiungen für Ausfuhren ins Drittlandsgebiet und zollbefreite Einfuhren entsprechen weitgehend dem geltenden Recht. Ähnliches gilt für den Wegfall der Befreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen, der aufgrund der allgemeinen Nichtsteuerbarkeit zwischenunternehmerischer Umsätze folgenlos bleibt. Anders verhält es sich insbesondere bei Gesundheitsleistungen, Wohnraumvermietung sowie Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, die nachfolgend getrennt erörtert werden, weil die hierfür geltenden Sonderregelungen unterschiedliche Gründe haben. 1. Gesundheitsleistungen Unter diesem untechnischen Titel fassen wir die geltenden Umsatzsteuerbefreiungen nach § 4 Nrn. 14, 15a–17 UStG zusammen, die Leistungen der Ärzte und Krankenhäuser und ähnliche Tätigkeiten betreffen. § 11 Nr. 5 UStGB befreit demgegenüber „heilmedizinische Leistungen am Menschen, Medikamente, medizinische Hilfsgeräte und Prothesen sowie die Krankenversicherung“ und fasst den Katalog damit, insbesondere bei den Medikamenten, etwas weiter. Die wesentliche Änderung ergibt sich aber nicht aus einem vergleichenden Textstudium der Vorschriften des § 4 UStG bzw. § 11 UStGB, sondern sie beruht darauf, dass die Befreiungen nach bestehendem Recht den Vorsteuerabzug ausschließen, während laut UStGB die mit der Befreiung zusammenhängenden Eingangsleistungen unbesteuert bleiben. Somit können Ärzte und Krankenhäuser, die Pharmaindustrie und die Prothesenhersteller ihre Eingangsleistungen nichtsteuerbar beziehen bzw. darauf gezahlte Vorsteuern abziehen. Fiskalisch ist diese Änderung fraglos außerordentlich bedeutsam. Zugleich fällt eine Beurteilung nicht leicht. Hinsichtlich der Belastung der Bürger mit Steuern und Abgaben spielt die Befreiung der Gesundheitsleistungen keine Rolle, weil die mit dem UStGB intendierte Gesamtreform aufkommensneutral angelegt ist. Zwar würden Gesundheitsleistungen für sich genommen billiger, andere Leistungen aber entsprechend teurer, weil der Steuersatz bei gegebenem Aufkommen höher sein müsste. Der eigentliche Vorteil des Fortfalls unechter Befreiungen liegt darin, dass solche Befreiungen wirtschaftliche Entscheidungen verzerren und damit, obschon gut gemeint, als Kardinalfehler der MwStSystRL anzusehen sind. Die unechten Befreiungen hemmen den Fortschritt im Gesundheitswesen, indem sie die Leistungserbringer tendenziell von wirtschaftlich sinnvollen Auslagerungen abhalten. Während ein umsatzsteuerpflichtiger Unternehmer Auslagerungsentscheidungen ohne steuerliche Hintergedanken allein unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit trifft, verzerrt das geltende Recht die Dispositionen der Leistungserbringer im Gesundheitswesen zugunsten des Selbermachens. Ein Krankenhaus, das bisher 90.000 Euro Arbeitslohn und 10.000 Euro Materialentgelt für die Gebäudereinigung aufwendet, zahlt 1.900 Euro nicht abziehbare Vorsteuer. Überträgt das Krankenhaus die Reinigung einem darauf spezialisierten Unternehmen mit identischer Kostenstruktur, das hierfür ein steuerpflichtiges Entgelt von 100.000 Euro berechnet, steigt die nicht abzieh905

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bare Vorsteuer auf 19.000 Euro, weil die Umsatzsteuer auf die Gesamtleistung einschließlich der darin enthaltenen Arbeitsleistung berechnet wird. Einzelwirtschaftlich ist die Auslagerung erst dann vorteilhaft, wenn der Effizienzvorsprung des Reinigungsunternehmens mindestens dem Steuernachteil entspricht. Volkswirtschaftlich wäre die Auslagerung aber schon bei einem geringen Effizienzvorteil angezeigt. Dieses Prinzip ist nicht auf die Gebäudereinigung beschränkt, sondern gilt analog für Auslagerungsentscheidungen über die Buchhaltung, IT-Leistungen und ähnliches. Unter dem Gesichtspunkt der Produktionseffizienz – dem Grundsatz, unternehmerische Entscheidungen steuerlich nicht zu verzerren – ist der im UStGB vorgesehene Wegfall unechter Steuerbefreiungen für Gesundheitsleistungen richtig. Allerdings könnte dasselbe Ergebnis durch Einbeziehung der Gesundheitsleistungen in die allgemeine Steuerpflicht erreicht werden. Bei einem Start von Null aus wäre diese Lösung auch die bessere, doch ist der Vorschlag des UStGB an dieser Stelle wohl realistischer. 2. Wohnraumvermietung An der Steuerfreiheit der Wohnraumvermietung will das UStGB „festhalten“30, um Mietwohnraum nicht zu verteuern. Diese Passage beruht auf einem grundlegenden Denkfehler. Weil die bestehende Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 12 UStG den Vorsteuerabzug ausschließt, das UStGB ihn aber zulässt, bedeutet der formale Fortbestand der Steuerbefreiung für Mietwohnraum kein Festhalten am status quo, sondern eine materielle Rechtsänderung mit nicht hinnehmbaren Konsequenzen. Um dies in leicht fasslicher Art zu verdeutlichen, sei eine Neubauwohnung betrachtet, für die ein (gedanklich konstant gehaltenes) Entgelt von 100.000 Euro aufzuwenden ist. Ein Selbstnutzer zahlt 119.000 Euro für den Erwerb der Wohnung, das ist im UStG nicht anders als im UStGB. Nach bestehendem Recht zahlt ein Vermieter, der die Wohnung erwirbt, ebenfalls 119.000 Euro, weil er die im Kaufpreis enthaltene Vorsteuer nicht abziehen darf. Unter wettbewerblichen Bedingungen, wie sie am Wohnungsmarkt vorherrschen, setzt der Vermieter die Miethöhe so an, dass der Barwert seiner Mieteinnahme – die Summe der abgezinsten Mietzahlungen während der zu erwartenden Lebensdauer des Bauwerks – 119.000 Euro beträgt. Ein geringerer Barwert würde ein Verlustgeschäft bedeuten, ein höherer Barwert einen Extragewinn, der im Wettbewerb meist rasch verschwindet. Auf diese Weise zahlt der Mieter denselben Steuerbetrag wie der Selbstnutzer, allerdings nicht in einer Summe, sondern über einen längeren Zeitraum. Dabei wird der Steuerbetrag gegenüber dem Mieter nicht offen ausgewiesen, vielmehr ist er in der Grundmiete als nicht abziehbare Vorsteuer versteckt. Gemäß UStGB erwirbt der Vermieter die Wohnung für 100.000 Euro, weil er Unternehmer ist und Lieferungen an Unternehmer unbesteuert bleiben. Folg-

__________ 30 P. Kirchhof (Fn. 1), 142.

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lich kann der Vermieter den Barwert der Miete auf ebenfalls 100.000 Euro mindern. Im Ergebnis ist der Mieter im Vergleich zum Selbstnutzer um 19.000 Euro besser gestellt und erleidet der Staat eine Mindereinnahme in gleicher Höhe. Sowohl die gleichheitswidrige Diskriminierung des Selbstnutzers gegenüber dem Mieter wie auch die damit verbundene Steuermindereinnahme sind schlechterdings unannehmbar, und erstere ist vom Autor, der an späterer Stelle die Bedeutung des Wohnungseigentums herausstreicht31, offenbar auch gar nicht gewollt. Die steuersystematisch richtige und zum UStGB passende Lösung besteht in der Aufhebung der Steuerfreiheit von Wohnungsmieten bei neu errichteten Gebäuden. Sie hat keine negativen Folgen, weil der Mieter nunmehr 100.000 Euro Grundmiete zzgl. darauf entfallender und offen ausgewiesener Umsatzsteuer i. H. v. 19.000 Euro schuldet, statt wie bisher 119.000 Euro Grundmiete. Diese Reform wäre durch einen Bestandsschutz für vor dem Systemwechsel errichtete Gebäude zu ergänzen, weil die betroffenen Vermieter keine Vorsteuer abziehen konnten und dies nachträglich nicht mehr in praktikabler Weise rückgängig gemacht werden kann. 3. Finanzdienstleistungen Der Rechtfertigung der Umsatzsteuerfreiheit von Kreditzinsen gem. § 4 Nr. 8 UStG durch Reiß, dessen Ansicht nach die Kreditnahme keinen Verbrauchsakt darstellt, sondern einen Verbrauch erst vorbereitet32, tritt P. Kirchhof mit dem Argument entgegen, der vorzeitige Besitz von Kapital sei ein eigenständiger Vorteil. P. Kirchhof hält die Besteuerung von Kreditzinsen daher grundsätzlich für gerechtfertigt und schlägt eine Steuerbefreiung nur deshalb vor, weil der „weltweite Kreditmarkt“ dies erzwinge33. Beide Positionen überzeugen nicht. Die europäische Mehrwertsteuer wurde in der Nachkriegszeit als „Mehrwertsteuer vom Konsumtyp“ konzipiert. Sie unterscheidet sich von einer – ebenfalls erwogenen – „Mehrwertsteuer vom Einkommenstyp“ dadurch, dass die auf Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens entfallenden Vorsteuern sofort abgezogen und nicht über die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer verteilt werden34. Ertragsteuerlich entspricht dies der Sofortabschreibung im Rahmen einer Cash-Flow Steuer. Weil Cash-Flow Steuern und Zinssteuern inkompatibel sind35, ist die Steuerfreiheit der Zinsen im System der europäischen Mehrwert-

__________ 31 P. Kirchhof (Fn. 1), 144. Als Folge der von P. Kirchhof vorgeschlagenen Steuerbefreiung würden übrigens die Altbaumieten, die stets durch das Niveau der Neubaumieten reguliert werden, entsprechend sinken. Darin läge eine milliardenschwere Umverteilung von Hausbesitzern zu Mietern. 32 Reiß (Fn. 22), 622. 33 P. Kirchhof (Fn. 1), 145. 34 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 6. Aufl., München 2010, 88. Drittens könnte die Steuer als Mehrwertsteuer vom Wertschöpfungstyp ausgestaltet werden; dabei wären die auf Kapitalgüter entfallenden Vorsteuern überhaupt nicht abziehbar. 35 Bradford, Untangling the Income Tax, Cambridge 1986, 217 ff.

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steuer selbst begründet und nicht Folge globalisierungsbedingter Erhebungsschwierigkeiten36. Das alles mag ein wenig kompliziert klingen. Unterschwellig ist aber selbst dem Buchhalter oder Steuerfachgehilfen klar, dass die europäische Mehrwertsteuer als „R-based tax“37 ausgestaltet wurde, die eben nur reale (deshalb „R“) Waren und Dienstleistungen einbezieht. Im Umsatzsteuerformular gibt es, anders als in der Anlage EÜR, weder Felder für Finanzerträge und -aufwendungen noch Felder für Abschreibungen. Als Zwischenfazit bleibt, dass das UStGB wie das UStG auf dem Konzept einer „R-based tax“ beruht. Die explizite Steuerbefreiung von Kreditzinsen in § 11 Nr. 7 UStGB erscheint daher, wie schon in Art. 135 Abs. 1 Buchstabe b) MwStSystRL, als lässlicher Schönheitsfehler; im Grunde sind Zinsen in beiden Fällen gar nicht steuerbar. Dies vorausgeschickt bleibt als eigentlich spannende Frage, warum § 11 Nr. 7 UStGB, hierbei ebenfalls Art. 135 MwStSystRL folgend, neben den Kreditzinsen auch andere Leistungen der Banken von der Umsatzsteuer befreit, die durchaus als reale Dienstleistungen anzusehen sind. International wird dieser Punkt seit Jahren heftig diskutiert38 und war sogar Generalthema eines IFAKongresses, da Befreiungen gem. Art. 135 MwStSystRL den Vorsteuerabzug ausschließen und in einer wichtigen Wachstumsbranche das Neutralitätsgebot verletzen. Bei vorsteuerberechtigten Bankkunden, also Unternehmen, führen die weitgefassten Steuerbefreiungen für Finanzdienstleistungen, ähnlich wie im oben diskutierten Fall der Gesundheitsleistungen, zu massiven Verzerrungen. Diese betreffen Auslagerungsentscheidungen (etwa IT), die Rechtsformwahl (soweit Organschaft nicht möglich ist) und Finanzierungsentscheidungen (soweit nicht abziehbare Vorsteuern das von Banken vermittelte Fremdkapital im Vergleich zu anderen Finanzierungsinstrumenten verteuern). Darüber hinaus verzerrt die unechte Steuerbefreiung den internationalen Wettbewerb, weil die Umsatzsteuer innerhalb des Gemeinschaftsgebiets mit unterschiedlichen Sätzen erhoben wird, außerhalb des Gemeinschaftsgebiets unter Umständen gar nicht, etwa im Fall der USA39. Die Entscheidung des Europäischen Rats 1977, neben den Zinsen weitere Dienstleistungen der Banken von der Umsatzsteuer zu befreien, war indes durchaus wohlerwogen. Sie beruhte auf „Praktikabilitätsgesichtspunkten, weil die technischen Schwierigkeiten einer Mehrwertbesteuerung nicht gelöst werden konnten“40. Diese Schwierigkeiten werden deutlich41, wenn man für einen

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36 Kreditnehmer könnten einer Umsatzbesteuerung von Zinsen, wenn sie systematisch in Betracht käme, aufgrund der Ortsbestimmung in § 18 UStGB nicht ausweichen. 37 Meade Committee, The Structure and Reform of Direct Taxation, London 1978, 230; Hiller (Fn. 22), S. 312. 38 Reiß, UR 2003, 209; Henkow, Financial Activities in European VAT, Alphen aan den Rijn 2008; Wäger, UR 2008, 102. 39 Grambeck, UR 2009, 541. 40 Europäische Kommission, Konsultationspapier zur Modernisierung der Mehrwertsteuerpflichten für Finanzdienstleistungen und Versicherungsleistungen, 2006, 1. 41 Vgl. hierzu bereits Meade Committee (Fn. 37), 259.

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Moment annimmt, die Banken würden ihren Sparern den Interbankenzinssatz Euribor zahlen und ihren Kreditnehmern denselben Zinssatz berechnen, also keine Zinsmarge erwirtschaften, sondern beiden Parteien explizite Gebühren für die Verwahrung der Spareinlagen bzw. für die Überwachung der Kredite berechnen. Derartige Gebühren wären geeignete Umsatzsteuer-Bemessungsgrundlagen; ihre Summe entspräche dem von der Bank geschaffenen „value added“. In der Realität sind die offen ausgewiesenen Gebühren aber weit geringer, oft Null, und verdienen die Banken vornehmlich an der Zinsmarge. Infolge der Grundentscheidung zugunsten einer Mehrwertsteuer vom Konsumtyp gehört die Zinsmarge nicht zur Bemessungsgrundlage und würde die Umsatzsteuerpflicht der expliziten Gebühren zu einem insoweit negativen Steueraufkommen führen; der Bankensektor wäre ein „fiscal drain“. Zusammengefasst widersprechen die unechten Steuerbefreiungen für Finanzdienstleistungen dem Neutralitätsgebot, doch würde ihre Aufhebung das Steueraufkommen aufgrund der um die Zinsmarge gekürzten Bemessungsgrundlage mindern und private Nachfrager von Finanzdienstleistungen gegenüber anderen privaten Nachfragern, die Umsatzsteuer auf die volle Bemessungsgrundlage zahlen, in Vorteil setzen. Die Europäische Kommission arbeitet sich am Problem der Finanzdienstleistungen seit mittlerweile 20 Jahren ab. In den 1990er Jahren legte sie als steuersystematisch befriedigende Lösung die TCA-Methode (tax calculation account) vor, wonach Finanzdienstleistungen mit Ausnahme der Zinsen umsatzsteuerpflichtig sind und die Bemessungsgrundlage um eine fiktive Zinsspanne erweitert wird. Nach Durchführung diverser Planspiele wurde diese Idee aber verworfen, weil sie sich als zu komplex erwies. Im aktuellen Richtlinienentwurf42 schlägt die Kommission einen neuen Art. 137a MwStSystRL vor, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Finanzdienstleistungsunternehmen eine allgemeine Option zur Umsatzsteuerpflicht einzuräumen. Derzeit kennen neben Deutschland nur Belgien, Estland, Frankreich und Litauen ein Optionsrecht. Der Vorschlag der Kommission geht aber über § 9 Abs. 1 UStG hinaus, indem er das Wahlrecht nicht auf Umsätze gegenüber anderen Unternehmern beschränkt. Das Europäische Parlament hat in seiner Stellungnahme43 vorgeschlagen, das Optionsrecht auf zwischenunternehmerische Umsätze zu beschränken. Weil die Kommission diese Stellungnahme wiederum abgelehnt hat, bleibt derzeit unklar, wohin die Reise geht. Unserer Auffassung nach ist der vom Europäischen Parlament vorgeschlagene Weg der richtige. Die oben aufgezeigten Neutralitätsverletzungen erledigen sich weitgehend, wenn Finanzdienstleister das Recht erhalten, für zwischenunternehmerische Leistungen zur Steuerpflicht zu optieren, wie dies nach deutschem Recht bereits möglich ist. Eine darüber hinausgehende Option begünstigt private Nachfrager von Finanzdienstleistungen in systemwidriger Weise und kostet Steueraufkommen. Erst recht ist die vom UStGB vorgesehe-

__________ 42 KOM (2007), 747 endg. 43 Europäisches Parlament, Legislative Entschließung 25.9.2008, T6-0457/2008.

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ne Nullsatzbesteuerung abzulehnen44. Das einzige von P. Kirchhof hierfür angeführte Argument, demzufolge „kein Staat der Welt“45 die Verwahrleistung einer Bank besteuert, übersieht, dass diese nur unecht befreite Leistung derzeit sehr wohl besteuert wird, wenn auch in unvollkommener Art. 4. Sachversicherungsleistungen Die vergleichsweise selten thematisierte46 Besteuerung von Versicherungsleistungen wirft noch schwierigere konzeptionelle Fragen auf als die Besteuerung von Finanzdienstleistungen. Aus Raumgründen beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Sachversicherung, weil Lebens-, Renten- und Krankenversicherungen anderen Prinzipien folgen und getrennte Erörterung verlangen. Nach geltendem Recht gehören Sachversicherungsleistungen neben Alkoholund Tabakwaren zu den am schärfsten besteuerten Produkten. Dies gilt insbesondere im zwischenunternehmerischen Bereich, wo der Versicherungsumsatz infolge der unechten Befreiung nach § 4 Nr. 10 UStG nicht nur systemwidrig mit Umsatzsteuer befrachtet wird, sondern außerdem mit Versicherungsteuer und gegebenenfalls Feuerschutzsteuer. Eine Begründung für diese Demeritorisierung der Sachversicherung ist nirgends ersichtlich, denn die gelegentlich zu vernehmende Behauptung, die Versicherungsteuer schaffe lediglich einen Ausgleich für die Umsatzsteuerbefreiung, geht offensichtlich fehl. Das UStGB will die Benachteiligung der Sachversicherung durch Integration der Versicherungsteuer und der Feuerschutzsteuer in die Umsatzsteuer beseitigen, was auch ein gutes Stück weit gelingt. Unternehmen, die die Versicherungsleistung steuerfrei erwerben oder die gezahlte Vorsteuer abziehen, bleiben im neuen Recht von Belastungen verschont. Was private Verbraucher angeht, ergibt sich der intendierte Belastungserfolg jedoch nicht, weil die Versicherungsprämie mangels entgegenstehender Sondervorschrift als Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuer herangezogen wird, für diese Aufgabe aber nicht taugt. Der vom Sachversicherer geschaffene Mehrwert entspricht dem Unterschiedsbetrag von Prämieneinnahmen und Schadensaufwand. Soweit der Versicherer Umsatzsteuer auf die Prämieneinnahme erhebt, müsste er die auf den Schadensaufwand entfallende Umsatzsteuer abziehen können. Das kann der Versicherer aber nicht, weil er im Schadensfall, etwa nach einem Wohnungsbrand, eine Versicherungsentschädigung auszahlt, statt die zerstörten Güter für eigene Rechnung zu erwerben und dem Verbraucher auszuhändigen. Auf diese Weise läuft die Möglichkeit des Versicherungsunternehmens zum unbesteuerten Erwerb ins Leere, und Sachversicherungen werden nach wie vor stärker besteuert, als es der Verbrauchsteueridee entspricht. Auf der Schwierigkeit, den Mehrwert der Sachversicherungsbranche

__________ 44 A. A. Reiß (Fn. 38); Friedrich-Vache, UR 2006, 207. 45 P. Kirchhof (Fn. 1), 146. 46 Siehe aber Barham, Poddar und Whalley, NTJ 1987, 171.

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Anmerkungen zum UStGB, einem Vorschlag zur Umsatzsteuerreform

zu ermitteln, beruht übrigens die Steuerbefreiung nach Art. 135 Abs. 1 Buchstabe a) MwStSystRL. Zusammengefasst sind die Integration der Versicherungsteuer und Feuerschutzsteuer und die Aufhebung der unechten Steuerbefreiung von Sachversicherungsleistungen zu begrüßen. In Bezug auf Versicherungsnehmer, die selbst Unternehmer sind, ist die vom UStGB vorgeschlagene Lösung ideal, bei Verbrauchern stellt sie zumindest einen Schritt in die richtige Richtung dar. Um auch im letzten Fall die Belastungsidee der Verbrauchsteuer zu verwirklichen, wäre eine Vorsteuervergütung für Verbraucher erforderlich, soweit der Verbraucher Versicherungsentschädigungen für die Wiederbeschaffung einsetzt.

V. Einheitlicher Steuersatz Der gut begründete Vorschlag eines einheitlichen Steuersatzes (§ 14 UStGB), der beispielhaft mit 19 Prozent angenommen wird, bei aufkommensneutraler Einführung des UStGB aber infolge der Erweiterung echter Steuerbefreiungen höher liegen dürfte, verdient uneingeschränkte Unterstützung. Jeder Rechtsanwender, der sich mit dem schier unerschöpflichen Thema des Anwendungsbereichs des ermäßigten Steuersatzes herumplagen muss, wird diesen Standpunkt verstehen47. Mancher indes mag aus dem Glauben heraus, der ermäßigte Steuersatz habe eine wertvolle soziale Funktion, skeptisch bleiben. Dem ist folgendes entgegenzuhalten. Erstens hat die jüngste Diskussion um das sog. „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“, in dessen Folge jetzt auch der geneigte Gast des Hotels Adlon sein Haupt zu 7 Prozent aufs Ruhekissen betten (und die Wirtschaft damit ein wenig entschleunigen) darf, jedermann gezeigt, dass der ermäßigte Steuersatz eher allgemeinpolitischen bzw. Lobbyinteressen dient. Wer sich einen echten Picasso leisten kann, zahlt 7 Prozent (Anlage 2, Nr. 53 a) zu § 12 UStG), wer die Wohnung heizt, zahlt 19 Prozent. Diese Beispiele für Inkonsistenzen könnten fast beliebig fortgeführt werden, man denke nur an Tiernahrung (7 Prozent) vs. Babywindeln (19 Prozent). Ausschlaggebend für die Befürwortung eines einheitlichen Steuersatzes – wie im vorbildlichen Sozialstaat Dänemark – sind aber nicht diese Inkonsistenzen, die man im Prinzip bereinigen könnte. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass indirekte Steuern für Umverteilungszwecke prinzipiell ungeeignet sind und dafür von keinem Staat eingesetzt werden sollten, dem überlegene Instrumente wie direkte Steuern und Transfers zu Gebote stehen. Es mag ja sein, dass gewisse Güter „eher“ von Reichen gekauft werden, andere Güter „eher“ von Armen. In der Mikroperspektive aber steckt mancher Arme für den Erwerb bestimmter Luxusgüter zurück, an denen ihm besonders liegt, und umgekehrt. Zielgenau umverteilen kann der Staat nur durch Transfers und direkte Steuern.

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47 Vgl. etwa BFH v. 18.2.2009 – V R 90/07, UR 2009, 807, zu Kino-Finger-Food, darin erhellende Ausführungen, warum „Zubereitung von Speisen“ im Umsatzsteuerrecht etwas anderes bedeutet als im Zollrecht. Zu weiteren Beispielen Weber, DB 2007, 1997.

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Stefan Homburg / Carolin Rublack

VI. Fazit Insgesamt macht das UStGB einen durchwachsenen Eindruck. Eine hypothetische Wahl zwischen UStG und UStGB wäre schwierig, ist aber auch keine relevante Alternative, weil eine dritte Lösung auf der Hand liegt, die beiden überlegen ist. Diese dritte Lösung besteht im Ersatz der mittlerweile gut 400 Artikel starken MwStSystRL bzw. der entsprechenden Bestimmungen des UStG durch eine Norm, die dem viel stringenteren und kürzeren UStGB ähnelt, jedoch in wichtigen Punkten davon abweicht. Das uns vorschwebende modifizierte UStGB würde am Allphasenprinzip festhalten – vor dessen Abschaffung uns die übrigen EU-Mitgliedstaaten gottlob bewahrt haben – und es bei der Umsatzsteuerpflicht des Staatsverbrauchs belassen. Außerdem wäre die Wohnungsvermietung bei Neubauten steuerpflichtig, würden unechte Steuerbefreiungen bestimmter Finanzdienstleistungen (mit Option) bestehen bleiben und wären Sonderregelungen für die Versicherungswirtschaft vorzusehen, deren Leistungen sich nicht ohne weiteres in das Mehrwertsteuersystem einfügen. Auf jeden Fall hätte die aus unserer Sicht ideale Umsatzsteuer einen einheitlichen Satz und so wenige unechte Steuerbefreiungen wie möglich.

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Werner Widmann

Vertrauensschutz im Umsatzsteuerrecht Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Allgemeines 2. Spezielle Situation der Umsatzsteuer 3. Systematische Gegebenheiten 4. Rechtsprechung des EuGH 5. Rechtsprechung des BFH

II. Bestandsaufnahme im geltenden Recht 1. § 6a Abs. 4 UStG 2. EU-rechtliche Vorgaben 3. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 4. BMF-Schreiben vom 6.1.2009 III. Neue systematische Ansätze zur Modernisierung der Mehrwertsteuer IV. Schlussbemerkung

I. Einführung 1. Allgemeines Der Vertrauensschutz oder auch der Schutz des guten Glaubens ist in jüngster Zeit besonders im Umsatzsteuerrecht Gegenstand oftmals grundsätzlicher Auseinandersetzungen geworden1. Er ist in unserer Rechtsordnung ein Gerechtigkeitselement, das immer auch ungeschrieben gilt. Nicht selten ist es ausdrücklich kodifiziert. Die vielleicht bekannteste Vorschrift des Zivilrechts, die sich mit dem guten Glauben beschäftigt, ist § 932 BGB – gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten. Die Juristen sind also keinesfalls nur im (Umsatz-) Steuerrecht mit Fragen des Vertrauensschutzes beschäftigt. Als Ausfluss übergesetzlicher Billigkeit, an der jeder Rechtsakt zu messen ist, stellt sich die Frage nach der Anerkennung schutzwürdigen Vertrauens im Rechtsalltag auch ohne explizite gesetzliche Vorgabe. Das Rechtsinstitut des Vertrauensschutzes als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und speziell des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist ein Feld, das allerdings gerade im Steuerrecht als einer klassischen Eingriffsberechtigung in die Eigentums- und Wirtschaftsfreiheit der Bürger zu bestellen ist. Hier zeigt sich besonders deutlich, wo sich der Fiskus in bestimmten Situationen mit seinem immer dem Grunde nach gerechtfertigten Eingriff zurücknimmt zugunsten einer schützenswerten Position des Bürgers, die aus einem guten Glauben erwachsen ist2.

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1 Vgl. z. B. Achatz, Formale Voraussetzungen, materielle Berechtigung und Gutglaubensschutz, in Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, DStJG 32 (2009), S. 461. 2 Der vorliegende Beitrag will sich nicht diesen allgemeinen Fragen widmen, sondern den sich aus dem Mehrwertsteuersystem ergebenden spezifischen Problemen nachspüren. Immerhin erscheint es bemerkenswert, dass der BFH in dem Beschluss BFH v. 26.9.2007 – V B 8/06, BStBl. II 2008, 405 = UR 2008, 183 anhand der Untätigkeit der

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2. Spezielle Situation der Umsatzsteuer Umso erstaunlicher ist der Befund, dass auf der 28. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft im Jahr 2003, die sich ausdrücklich mit dem Vertrauensschutz im Steuerrecht beschäftigte, die Umsatzsteuer praktisch keine Rolle spielte. Im Register des Bandes DStjG 273 werden zum Stichwort Umsatzsteuer nur zwei Fundstellen aufgeführt und diese beschäftigten sich überhaupt nicht mit den Besonderheiten des Vertrauensschutzes im Umsatzsteuerrecht. Übrigens ergibt sich das gleiche Bild zu der vom Jubilar in seiner damaligen Eigenschaft als Vorsitzender der DStjG ausgerichteten 19. Tagung in Köln im Jahr 1993, als die ersten umsatzsteuerlichen Erfahrungen mit dem Europäischen Binnenmarkt diskutiert wurden4. Damals waren die vielfältigen Fragen des § 6a Abs. 4 UStG mit der ausdrücklichen Regelung des Vertrauensschutzes noch nicht am Horizont der Praxis sichtbar – man konnte sich – objektiv – bestenfalls oder – subjektiv – schlimmstenfalls vor diesen Problemen nur fürchten. Mag diese Zurückhaltung daran liegen, dass die schon vor 80 Jahren von Johannes Popitz beklagte „wissenschaftliche Ächtung der Umsatzsteuer“5 auch heute noch nachwirkt? Dafür wäre der Jubilar jedenfalls nicht verantwortlich, denn er hat im Jahr 1993 die schon erwähnte Kölner Jahrestagung der DStJG zum Thema „Steuerrecht im Europäischen Binnenmarkt“ organisiert, bei der die Umsatzsteuer eine wichtige Rolle spielte. Der Verfasser betrachtet es noch heute als eine große Ehre, damals vom Jubilar zu einem Referat eingeladen worden zu sein6.

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Verwaltung im Zusammenhang mit der Umsatzbesteuerung von Schönheitsoperationen u. a. zu folgenden Leitsätzen kam: „Ein schützenswertes Vertrauen, das die Pflicht zum Erlass einer Übergangsregelung oder Billigkeitsmaßnahme im Einzelfall auslöst, ist nur gegeben, wenn als Vertrauensgrundlage eine gesicherte, für die Meinung des Steuerpflichtigen sprechende Rechtsauffassung bestand und die Rechtslage nicht als zweifelhaft erschien. Eine gesicherte Rechtsauffassung kann aus einem schlichten Verwaltungsunterlassen – vorliegend bei jahrelanger Nichtbesteuerung von Schönheitsoperationen – nicht hergeleitet werden.“ Es darf hier vermerkt werden, dass der Jubilar anlässlich der Erstellung eines Gutachtens zur umsatzsteuerlichen Abgrenzung von (steuerpflichtigen) Schönheitsoperationen zu den steuerbefreiten Heilbehandlungen mit dem Verfasser einen intensiven Meinungsaustausch pflegte, der an die vielen Begegnungen im Rahmen der Arbeit der „Kommission Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft unter dem Vorsitz des Jubilars anknüpfte (vgl. Stiftung Marktwirtschaft vom 30.1. 2006: Steuerpolitisches Programm – Einfacher, gerechter, sozialer: Eine umfassende Ertragsteuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung). Auch den menschlichen Ertrag dieser Arbeit verbucht der Verfasser dankbar gegenüber dem Jubilar auf der Habenseite seines Berufslebens – mit dem Wunsch und der Hoffnung auf eine Fortsetzung bei weiteren Gelegenheiten. Vgl. Pezzer (Hrsg.), Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004). Vgl. Lehner (Hrsg.), Steuerrecht im Europäischen Binnenmarkt, DStJG 19 (1996). Johannes Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz in der Fassung vom 8.5.1926, Ergänzungsband zur 3. Aufl. 1930, S. 20; s. dazu List, Der Systemwandel im Umsatzsteuerecht, in Lohse/Schöll (Hrsg.), Umsatzsteuerkongress-Bericht 1982/83, S. 7 (21). S. Widmann, Die Entwicklung der Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt – Fehlentwicklungen und Perspektiven, in Lehner, vgl. oben Fn. 4, S. 219.

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Man muss es einfach konstatieren, wie es ist: Die Umsatzsteuer hat es sich in ihrer häufig als buchhalterisch-formalistisch bezeichneten Strenge der Tatbestände leisten können, das eher offene Feld des Vertrauensschutzes weitestgehend anderen Steuerarten zu überlassen. Das schlug sich denn auch im Inhalt von DStJG Bd. 27 nieder, wo die Ertragsteuern unübersehbar dominieren. Und auf der ersten Tagung der DStJG, die sich ausschließlich mit der Umsatzsteuer beschäftigte im Jahr 1989, war von unserem Thema überhaupt nicht die Rede; man findet im Stichwortverzeichnis weder etwas zum Gutglaubenschutz noch zum Vertrauensschutz7. Nicht zu übersehen ist freilich der Umstand, dass die Umsatzsteuer regelmäßig bereits mit Ausführung des Umsatzes entsteht, vgl. § 13 UStG, und nicht erst mit Ablauf des Veranlagungszeitraums wie beispielsweise bei der Einkommensteuer gem. § 36 EStG. Damit besteht bei ihr eher selten Bedarf für Vertrauensschutz unter dem Gesichtspunkt der Planungssicherheit bei langfristigen Dispositionen. 3. Systematische Gegebenheiten Die lange Zeit währende Abstinenz der Umsatzsteuer hinsichtlich des Vertrauensschutzes ist allerdings durchaus als rechtsstaatliches Defizit zu betrachten, denn wenn das Mehrwertsteuersystem z. B. den Vorsteuerabzug zwar braucht und ohne ihn gar nicht funktioniert, ihn aber nur gewährt, wenn die Steuer von einem Unternehmer in einer ordnungsgemäßen Rechnung gem. § 14 UStG ausgewiesen wird für einen steuerpflichtigen Umsatz (vgl. § 15 Abs. 1 UStG), dann drängt sich unschwer die Frage auf, ob es für den Leistungsempfänger als den Adressaten dieser Rechnung einen Schutz des guten Glaubens an die Unternehmereigenschaft des Rechnungsausstellers gibt oder geben müsste. Der BFH hat dies schon im Urteil vom 24.4.19868 ausdrücklich verneint. Der Umstand, dass der Rechnungsaussteller damals gem. § 14 Abs. 3 UStG für die unerlaubt ausgewiesene Steuer in Anspruch genommen werden konnte (heute § 14c Abs. 2 UStG), war für den BFH ebenfalls kein Grund zur Gewährung des Vorsteuerabzugs. Das ist nur ein Beispiel für den Bedarf an klaren Bekenntnissen zum Vertrauensschutz im Umsatzsteuerrecht. 4. Rechtsprechung des EuGH Es ist hier daran zu erinnern, dass erst der EuGH die vom Gesetzgeber vorbestimmte deutsche Praxis korrigierte, wonach nicht jede Rechnung berichtigungsfähig war. Bekanntlich hatte § 14 Abs. 3 UStG i. d. F. bis Ende 2003 vom Wortlaut her keine Berichtigungsmöglichkeit bei unerlaubt ausgestellten Rechnungen gekannt.

__________ 7 Vgl. Woerner (Hrsg.), Umsatzsteuer in nationaler und europäischer Sicht, DStJG Bd. 13 (1990). 8 BFH v. 24.4.1986 – V R 110/76, UR 1988, 188.

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Der EuGH hingegen erklärte im Urteil vom 6.11.20039 einfach, dass die von einem Nichtunternehmer in einer Rechnung ausgewiesene Steuer nicht als Mehrwertsteuer qualifiziert werden dürfe. Daher ist eine Rückerstattung dieser Steuer durch die Finanzbehörden an den Rechnungsaussteller möglich, wenn die Rechnung entsprechend berichtigt wird. Damit wird letztlich der gute Glaube des Rechnungsausstellers an seine Unternehmereigenschaft in der Weise geschützt, dass ihm die Rechnungsberichtigung erlaubt wird. Es gibt damit den guten Glauben an eine fehlerhafte Rechtsinterpretation. Bereits im Urteil vom 19.9.200010 hatte der EuGH (in einem aus Deutschland kommenden Sachverhalt) die Rechnungsberichtigung in jedem Fall, mithin ohne Rücksicht auf den guten Glauben des Rechnungsausstellers, für zulässig erklärt. Das bedeutet, dass sogar kriminelle Aktivitäten bezüglich der Rechnungserteilung zu keiner endgültigen Steuerschuld führen, wenn sichergestellt ist, dass die von der Rechnung ausgehende Gefährdung des Steueraufkommens „rechtzeitig und vollständig beseitigt“ worden ist11. Der EuGH hat den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer als Begründung für seine Interpretation angeführt – konkrete EU-Vorgaben zur Rechnungsberichtigung gab es nämlich in der 6. MWSt-Richtlinie nicht und auch jetzt enthält sich die seit dem 1.1.2007 geltende MWSt-Systemrichtlinie einer Regelung hierzu. Nach Meinung des EuGH darf es zur Sicherstellung der Neutralität der Mehrwertsteuer in der Unternehmerkette auf den guten Glauben des Rechnungsausstellers z. B. hinsichtlich der Steuerbarkeit des Umsatzes oder seiner Unternehmereigenschaft überhaupt nicht ankommen, was natürlich nicht ausschließt, dass dieser tatsächlich gutgläubig war. Aber auch dann muss er die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigen. Sein guter Glaube bringt ihm gegenüber dem bösgläubigen Rechnungsaussteller keinerlei Vorteile. Der Neutralitätsgrundsatz ist danach objektiv zu begreifen. Die subjektiven Fragen des guten Glaubens sind für die Bestimmung seiner Reichweite insofern unbeachtlich.

__________ 9 EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-78/02, Rs. C-79/02, Rs. C-80/02 – Karageorgou, Petrova und Vlachos, UR 2003, 595; s. dazu Stadie, UR 203, 600; Widmann in Plückebaum/ Widmann, UStG, § 14c, Rz. 34 ff. 10 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 – Schmeink & Cofreth und Manfred Strobel, UR 2000, 470. 11 Die Bundesregierung hat dies ausdrücklich in ihrer Begründung für ein Steueränderungsgesetz 2003 (BT-DrS 15/1562), durch das § 14c anstelle der bisherigen Abs. 2 und 3 des § 14 in das UStG eingefügt wurde, betont.

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5. Rechtsprechung des BFH Im Urteil V R 15/07 vom 30.4.200912 erklärt der BFH erneut13, dass § 15 UStG nicht den guten Glauben an die Erfüllung der Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug schützt. Im konkreten Fall fehlte in der Rechnung die zutreffende Angabe der Anschrift des Leistenden. Allerdings hat der BFH in diesem Urteil auch entschieden, dass bei unzutreffenden Angaben in der Rechnung unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes ein Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren gem. §§ 163, 227 AO in Betracht komme. Die Entscheidung hierüber sei gem. § 163 Abs. 3 AO bereits mit der Steuerfestsetzung zu verbinden. Seine formale Strenge bei den Voraussetzungen der Tatbestandsmäßigkeit des Vorsteuerabzugs gleicht der BFH also mit einer Billigkeitsmaßnahme, für die er sich auf die Grundsätze des Vertrauensschutzes beruft, wieder aus14. Im Urteil vom 30.4.2009 grenzt der BFH seine Auffassung gegen das EuGHUrteil vom 6.7.200615 ab, in dem der EuGH durchaus Vertrauensschutz für möglich hielt in einem Fall, in dem die objektiven Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nicht fehlten, sondern der Steuerpflichtige zu Unrecht im Verdacht stand, an einem Umsatzsteuerbetrug mitgewirkt zu haben. Der BFH hatte in seinem Folgeurteil vom 19.4.200716 zu der EuGH-Entscheidung in gleichem Sinne entschieden. Ein Leitsatz des BFH lautete wie folgt: „Ein Unternehmer, der alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass seine Umsätze nicht in einen Betrug – sei es eine Mehrwertsteuerhinterziehung oder ein sonstiger Betrug – einbezogen sind, kann auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen, ohne Gefahr zu laufen, sein Recht auf Vorsteuerabzug zu verlieren.“

Der BFH versteht diese Rechtsprechung nicht als Erweiterung des Rechts auf Vorsteuerabzug im Wege des Vertrauensschutzes, sondern – im Gegenteil – als dessen systematisch notwendige Begrenzung, weil eine „betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht … nicht erlaubt ist.“17.

__________ 12 BFH v. 30.4.2009 – V R 15/07, UR 2009, 816 = DStR 2009, 1427. S. dazu Braun/ Matheis, Vorsteuerabzug künftig auch ohne ordnungsgemäße Rechnung?, UVR 2009, 310. Sie empfehlen den Unternehmern zur Dokumentation ihrer Sorgfalt, die allenfalls einen Gutglaubensschutz rechtfertigt, die Einrichtung eines Risiko-Managementsystems. 13 Ebenso bereits BFH v. 24.4.1986 – V R 110/76, UR 1988, 188: Kein Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers hinsichtlich der Unternehmereigenschaft des Leistenden. 14 Zur Notwendigkeit eines besonderen Verfahrens hierfür s. BFH v. 12.8.2009 – XI R 48/07, NV (juris). 15 EuGH v. 6.7.2006 – Rs. C-439/04, C-440/04 – Axel Kittel und Recolta Recycling SPRL, UR 2006, 594 mit Anm. Geiger. 16 BFH v. 19.4.2007 – V R 48/04, BStBl. II 2009, 315 = UR 2007, 693. 17 So der BFH in dem Urteil vom 19.4.2007. Im Beschluss BFH v. 6.11.2008 – V B 126/07, BFH/NV 2009, 234, verweigert der BFH die Prüfung des guten Glaubens, wenn dieser nach den tatsächlichen Umständen wegen Auffälligkeiten des Geschäftsablaufs nicht in Betracht kam. Daher hat er es im Urteil BFH v. 23.4.2009 – V R 52/07, UR 2009, 858 = BFH/NV 2009, 1726, auch offen gelassen, ob die Differenz-

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II. Bestandsaufnahme im geltenden Recht 1. § 6a Abs. 4 UStG Eine bis heute geltende Regelung zum Vertrauensschutz enthält der schon eingangs erwähnte § 6a Abs. 4 UStG18: Auch wenn die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung gem. § 6a Abs. 1 UStG nicht erfüllt sind, bleibt die innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei, wenn der Unternehmer die Steuerbefreiung aufgrund unrichtiger Angaben seines Abnehmers in Anspruch genommen hat, aber die Unrichtigkeit der Angaben bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte19. Diese Norm, die vor allem auf Drängen der deutschen Wirtschaft mit der sog. Binnenmarkt-Übergangsregelung zum 1.1.1993 in das UStG aufgenommen wurde20 – es gibt innerhalb der EU nur noch in Österreich eine vergleichbare Regelung, hatte keine ausdrückliche Grundlage in der 6. EG-UmsatzsteuerRichtlinie. Auch in der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie findet sich keine Vorschrift, die unmittelbar als Vorgabe für § 6a Abs. 4 UStG dienen kann. Der Bundesrechnungshof hat im Rahmen seiner Beiträge zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung daher gefordert21, § 6a Abs. 4 UStG ersatzlos aufzuheben, da er nicht selten gerade von Betrügern reklamiert werde, man diesen Betrügern den Betrug aber eben letztlich nicht nachweisen könne, so dass er womöglich die Falschen schütze. Der Gesetzgeber ist diesem Vorstoß nicht gefolgt – zu recht, denn § 6a Abs. 4 UStG verlangt den guten Glauben in Form der Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns – eine Hürde, die auch unter Beweislastgesichtspunkten nicht einfach zu überwinden ist22. Aber selbst wenn der deutsche Gesetzgeber dem Bundesrechnungshof gefolgt wäre und § 6a Abs. 4 UStG abgeschafft hätte, wäre doch das Problem nicht beseitigt worden, ob es unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes notwendig ist, den gutgläubigen Lieferer, der schließlich nur als Steuereinsammler für den Fiskus agiert, die Steuer-

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besteuerung gem. § 25a UStG aus Vertrauensschutzgründen von einem Wiederverkäufer auch dann angewendet werden kann, wenn die Vorlieferung – für den Wiederverkäufer erkennbar – zu Unrecht der Differenzbesteuerung unterworfen wurde. Siehe dazu Schwarz in Plückebaum/Widmann, UStG, Kommentar, § 6a, Rz. 228 ff. Ob diese tatsächlich beachtet wurde, ist nach dem BFH, Beschl. v. 28.9.2009 – XI B 103/08, BFH/NV 2009, 73, nicht als grundsätzliche Rechtsfrage, sondern nur im Einzelfall durch Würdigung dessen Umstände klärbar. S. dazu Widmann, Das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz, UR 1992, 249 (261). Vgl. Bericht des Bundesrechnungshofs, BT-DrS 15/1495, 25; ebenso in der öffentlichen Anhörung im Deutschen Bundestag am 10.11.2004, vgl. Widmann, Über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Umsatzsteuerrecht, UR 2006, 108. Zustimmend zum Bundesrechnungshof: Ammann, Betrugsresistenz der Umsatzsteuer sowie Vertrauensschutz für Steuerfreiheit und Vorsteuerabzug sind gleichzeitig möglich, UR 2005, 533. Ablehnend: Winter, Ende des Vertrauensschutzes bei innergemeinschaftlichen Lieferungen?, UR 2005, 247; Kraeusel, Die Zukunft der Umsatzsteuer, in FS für Wolfram Reiss, 2008, 297 (319) enthält sich einer eigenen Aussage dazu. Vgl. z. B. BFH v. 6.10.2005 – V B 140/05, UR 2006, 401.

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freiheit zu gewähren, wenn er auch bei äußerster Anspannung seiner Sorgfalt die Täuschung durch seinen Abnehmer, z. B. durch Verschleierung der Nichtverbringung der Ware über die deutsche Grenze, nicht erkennen konnte. Es versteht sich von selbst, dass nur der wirklich Gutgläubige Anspruch auf die Gewährung von Vertrauensschutz erheben kann; bei der Möglichkeit, die falschen Angaben des Geschäftspartners zu erkennen, fehlt es am guten Glauben23. 2. EU-rechtliche Vorgaben Symptomatisch ist es deshalb, dass der EuGH zur Frage der Gewährung des Vertrauensschutzes aus einem EU-Land im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens befragt wurde, in dem keine der deutschen Norm des § 6a Abs. 4 UStG vergleichbare Vorschrift existiert. Aus Großbritannien kamen zwei Fälle zum EuGH, in denen es genau um diese Fragen ging. Im Fall Twoh24 hat der EuGH am 27.9.2007 entschieden, dass die Mitgliedstaaten der EU nicht verpflichtet sind, im Rahmen des bilateralen Auskunftsverkehrs das tatsächliche Gelangen von Waren in das Bestimmungsland zu untersuchen. Der Steuerpflichtige bleibt also selbst zuständig für den Beweis der Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferung. Das kann er grundsätzlich nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes oder der Verhältnismäßigkeit auf die Finanzbehörden überwälzen. § 6a Abs. 4 UStG ist mithin von diesem Urteil nicht wirklich in seiner Anwendungsbreite tangiert. Aber in seinem Teleos-Urteil25 hat der EuGH mit aller wünschenswerter Deutlichkeit gezeigt, dass das Anliegen – und die tatbestandmäßige Ausgestaltung – des § 6a Abs. 4 UStG von der 6. EG-Umsatzsteuer-Richtlinie gedeckt ist. Der zweite Leitsatz des Teleos-Urteils lautet wie folgt: „Art. 28 c Teil A, Buchst. a) Unterabs. 1 der 6. Richtlinie 77/388 i. d. F. der Richtlinie 2000/65 ist dahin auszulegen, dass die zuständigen Behörden des Liefermitgliedsstaates nicht befugt sind, einen gutgläubigen Lieferanten, der Beweise vorgelegt hat, die dem ersten Anschein nach sein Recht auf Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von Gegenständen belegen, zu verpflichten, später Mehrwertsteuer auf diese Gegenstände zu entrichten, wenn die Beweise sich als falsch herausstellen, jedoch nicht erwiesen ist, dass der Lieferant an der Steuerhinterziehung beteiligt war, soweit er alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die von ihm vorgenommene innergemeinschaftliche Lieferung nicht zu seiner Beteiligung an einer solchen Steuerhinterziehung führt.“

__________ 23 Im Beschluss BFH v. 12.3.2008 – XI B 206/06, BFH/NV 2008, 1212, hat der BFH daher die Revision in einem Fall nicht zugelassen, in dem der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit einer Rechnung erkennen konnte. Damit gab es keinen Weg zum „gutgläubigen Vorsteuerabzug“ i. S. d. EuGH-Rechtsprechung. 24 EuGH v. 27.9.2007 – Rs. C-184/05 – Twoh, BStBl. II 2009, 83 = UR 2007, 782; s. dazu Küffner/Langer, Nachweispflichten bei innergemeinschaftlichen Lieferungen, DB 2008, 1116. 25 EuGH v. 27.9.2007 – Rs. C-409/04 – Teleos, BStBl. II 2009, 70 = UR 2007, 774; s. dazu Küffner/Zugmaier, DStR 2007, 1807.

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Man könnte es nach dieser EuGH-Entscheidung nun auch so sagen: Selbst wenn es im UStG keinen § 6a Abs. 4 UStG gäbe – oder der deutsche Gesetzgeber ihn zwischenzeitlich abgeschafft hätte –, müsste die Verwaltung nach dem Teleos-Urteil die Entscheidungen über die Steuerfreiheit einer Lieferung genau so treffen, wie es § 6a Abs. 4 UStG vorschreibt. Eine bessere EUrechtliche Fundierung einer Norm kann man sich gar nicht wünschen26. Der EuGH leitet die Steuerfreiheit für den gutgläubigen Lieferanten, der Beweise für das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung vorlegt, die sich später aber als falsch herausstellen, her aus der Überlegung, dass die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit zwar grundsätzlich vom Unternehmer bewiesen werden müssen. Wenn der Unternehmer aber alle ihm zur Verfügung stehenden und zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um die Beweise zu erbringen, dann darf sich die später festgestellte Fälschung der Beweise unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht gegen den Lieferanten kehren. 3. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Zum gleichen Ergebnis führt gewiss auch die Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Der Staat darf nichts Unverhältnismäßiges von dem Unternehmer verlangen, der erlaubter Weise Geschäfte über die Grenze macht. Die dabei wegen der Steuerfreiheit derartiger Umsätze als Ausnahme von der generellen Steuerpflichtigkeit aller Umsätze notwendigen Voraussetzungen dürfen nicht durch Beweisanforderungen, die unerfüllbar sind, praktisch ins Leere gehen. Das lässt sich bereits auch aus dem EuGH-Urteil vom 14.7.198827 herauslesen, in dem der EuGH das Recht zum Vorsteuerabzug zwar vom Besitz einer Rechnung abhängig gemacht, gleichwohl verlangt hat, dass die Angaben in einer Rechnung durch ihre Anzahl oder ihre Technizität die Ausübung des Abzugsrechts praktisch nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen. Dieser Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit muss durch die gesamte Vollzugsbreite des Umsatzsteuerrechts gewährleistet sein28. Hatte der BFH noch im Beschluss V R 101/03 vom 6.5.200429 entschieden, dass § 6a Abs. 4 UStG nicht analog auf die Steuerbefreiung gem. § 6 UStG für Ausfuhrlieferungen angewendet werden darf – diese Entscheidung war rechtsmethodisch gewiss richtig, denn es liegt bei § 6 UStG keine analogiefähige Lücke im Gesetz vor – ist auch hier durch den EuGH ein neues Kapitel unter dem Stichwort Vertrauensschutz geschrieben worden. Im Fall der Netto-Supermarkt GmbH & Co. KG ging es darum, ob die dem Unternehmer vorgelegten Ausfuhrbescheinigungen, die zunächst – auch für die Verwaltung – unerkennbar gefälscht waren, der Steuerfreiheit der Ausfuhr

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26 Ebenso Winter, EuGH bestätigt Vertrauensschutzregelung gem. § 6a Abs. 4 UStG, UR 2007, 881. 27 EuGH v. 14.7.1988 – Rs. C-123/87, Rs. C-330/87 – Jeunehomme, UR 1989, 380. 28 Vgl. Widmann, Vollzugsdefizite und Vollzugslasten im Umsatzsteuerrecht, in Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, DStJG 32 (2009), 103 (110). 29 BFH v. 6.5.2004 – V R 101/03, DStRE 2004, 908.

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entgegenstehen. Aparterweise hatte in diesem Fall der Unternehmer selbst die Finanzbehörden über seine Zweifel an den Belegen aufmerksam gemacht und zuerst die Auskunft erhalten, die Belege seien echt. Erst später stellte sich bei einer erneuten Überprüfung heraus, dass es sich um offenbar technisch nahezu perfekt gefälschte Ausfuhrbescheinigungen handelte. Der EuGH hat in seinem Urteil Rs. C-271/06 vom 21.2.200830 die Ausfuhrsteuerbefreiung hier für grundsätzlich zulässig erklärt. Wenn trotz Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns die Fälschung der Ausfuhrbelege nicht erkennbar war, dann sei es aus Gründen des Vertrauensschutzes geboten, die Ausfuhrsteuerbefreiung gleichwohl zu gewähren. Der BFH kam in seinem Folgeurteil vom 30.7.200831 im ersten Leitsatz ausdrücklich „aus den im Steuerrecht allgemein geltenden Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes“ auch zur Steuerfreiheit der fraglichen Umsätze. Dabei hat er aber fairer Weise darauf aufmerksam gemacht, dass er damit seine Rechtsprechung – freilich im Gefolge des EuGHUrteils vom 21.2.2008 – ändere. Nur nebenbei: Der BFH war jetzt nicht mehr völlig davon überzeugt, dass die Netto-Supermarkt GmbH & Co. KG wirklich alle zumutbaren Prüfungen vorgenommen hatte. Das schien ihm hinsichtlich des Sachverhalts nochmals klärungsbedürftig, so dass er die Sache an das Finanzgericht zurück verwiesen hat. Eigentlich darf man erwarten, dass der EuGH von obersten Bundesgerichten nur zu unstreitigen Sachverhalten angerufen wird. Aber offenbar waren nur einige der Ausfuhrnachweise im Fall Netto-Supermarkt vielleicht doch nicht völlig zweifelsfrei, so dass die vom BFH aufgeworfene Grundsatzfrage sich anhand eindeutiger Belege so aufdrängte, dass die Vorlage an den EuGH gerechtfertigt war. 4. BMF-Schreiben vom 6.1.2009 Die Verwaltung hat durch das BMF-Schreiben v. 6.1.200932 zur Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen gem. § 4 Nr. 1 UStG i. V. m. § 6a UStG nun die Vertrauensschutzregelung in § 6a Abs. 4 UStG einen eigenen Abschnitt33 gewidmet, in dem erstaunlicherweise die Netto-Supermarkt-Urteile von EuGH und BFH nicht erwähnt werden. Zu Recht wird in dem BMF-Schreiben vom Unternehmer zunächst verlangt, die Erfüllung seiner Nachweispflichten gem. §§ 17a ff. UStDV zu belegen. Fehlt

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30 EuGH v. 21.2.2008 – Rs. C-271/06, UR 2008, 508; s. dazu Widmann, Aktuelles zur Umsatzsteuer aus Berlin, Brüssel, Luxemburg und München, DStR 2009, 1061. 31 BFH v. 30.7.2008 – V R 7/03, UR 2009, 161 = DB 2009, 321. 32 BMF v. 6.1.2009 – IV B 9 - S 7141/08/1001, BStBl. I 2009, 1107. Kritisch dazu Lembke, Umsatzsteuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen – BMF v. 6.1.2009, DStR 2009, 1290. S. dazu Englisch/Becker/Kurzenberger, BMF-Schreiben zu innergemeinschaftlichen Lieferungen, UR 2010, 285. Das BMF-Schreiben v. 6.1.2009 wurde inzwischen ersetzt durch das BMF-Schreiben v. 5.5.2010 – IV DB - S 7141/ 08/1001, Beihefter zu DStR 19/2010 mit Anm. Küffner/Streit. 33 Rz. 50 ff.

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es hieran, soll Vertrauensschutz erst gar nicht in Frage kommen, denn wenn der Unternehmer seine Nachweise nicht ordnungsgemäß führt, lässt er es an der Sorgfalt des ordentlichen Kaufmannes ohnehin fehlen. Die an Bargeschäfte gestellten „besonders hohen Anforderungen“ hinsichtlich der Nachweispflichten – u. a. soll die Vertretungsmacht überprüft werden, wenn Vertreter des Abnehmers Waren abholen –, hat der BFH in den Urteilen vom 23.4.2009 und vom 12.5.200934 – entsprechend der von der Wirtschaft und ihren Beratern geäußerten Kritik35 als zu weitgehend und vom Gesetz nicht gedeckt verworfen. Das ist nicht zu kritisieren. Wenn das Gesetz bestimmte Maßnahmen zum Nachweis nicht verlangt, darf die Verwaltung sie nicht einfach selbst dazu erfinden. Das ist dann keine Frage der Verhältnismäßigkeit, sondern nur die erwartbar unvermeidliche Folge der Gesetzesbindung der Verwaltung. Allerdings solle nicht unerwähnt bleiben, dass der BFH selbst die Formulierung „hohe Anforderungen“ an die Sorgfalts- und Nachweispflichten bei Bargeschäften verwendet, so z. B. in einem Urteil vom 30.4.200936 unter Berufung auf frühere Urteile vom 15.7.200237, vom 12.7.200638 und vom 3.8.200739. Dabei erstaunt doch, dass sich der BFH bei diesen wichtigen Fragen durchweg auf nicht amtlich veröffentlichte Entscheidungen beruft. Man findet diese Erkenntnisse allerdings in der von Bundesrichtern herausgegebenen Zeitschrift BFH/NV.

III. Neue systematische Ansätze zur Modernisierung der Mehrwertsteuer Die vorstehend geschilderten Praxisfälle zeigen, dass die Gewährung von Vertrauensschutz im Umsatzsteuerrecht nicht konsistent ist. Außer in § 6a Abs. 4 UStG gibt es keine normative Fundierung dieses Rechtsinstituts. Allerdings finden sich auch Verwaltungsanweisungen, die zwar als „Vereinfachungsregelungen“ bezeichnet werden, aber nichts anderes als Regelungen zur Gewährung von Vertrauensschutz sind. Ein markantes Beispiel steht in Abschn. 182a Abs. 23 UStR 2008: Wenn sich der Leistende und der Leistungsempfänger „über die Anwendung von § 13b UStG einig waren und der Umsatz vom Leistungsempfänger in zutreffender Höhe versteuert wird“, dann „ist diese Handhabung beim Leistenden und beim Leistungsempfänger nicht zu bean-

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34 BFH v. 23.4.2009 – V R 84/07, UR 2009, 717 = DStR 2009, 1634 und BFH v. 12.5.2009 – V R 65/06, UR 2009, 719 = DStR 2009, 1639. S. dazu Wäger, Nachweis der Steuerfreiheit bei Ausfuhrlieferungen und innergemeinschaftlichen Lieferungen, DStR 2009, 1621. 35 S. z. B. Matheis/Braun, Wann endet die Debatte um den Buch- und Belegnachweis? – Überlegungen zur aktuellen BFH-Rechtsprechung aus der Sicht der Praxis, UVR 2009, 296. Das BMF-Schreiben vom 5.5.2010 (vgl. Fn. 32) folgt jetzt diesen BFH-Urteilen. 36 BFH v. 30.4.2009 – V R 15/07, UR 2009, 816 = DStR 2009, 1427. 37 BFH v. 15.7.2002 – V R 1/04, UR 2005, 212 = BFH/NV 2005, 81. 38 BFH v. 12.7.2006 – V B 213/05, BFH/NV 2006, 2139. 39 BFH 3.8.2007 – V B 73/07, UR 2007, 944 = BFH/NV 2007, 2368.

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standen“. Konkret bedeutet dies, dass sich die Geschäftspartner über den Übergang der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger – ohne Rücksicht auf die korrekte Anwendung des § 13b UStG – verständigen können und in ihrem Vertrauen auf dieses Tun geschützt sind. Es ist daher bemerkenswert, dass sowohl die Mainzer Vorschläge zur Umsatzsteuer vom August 200140 als auch der Entwurf eines Umsatzsteuergesetzbuches von Paul Kirchhof aus dem Jahr 200841 dem Unternehmer, der steuerfrei – so im Mittler-Modell – oder nicht steuerbar – so im UStGB von Kirchhof – leisten will, bei Beachtung bestimmter, praktisch recht mühelos zu erfüllender Formalien ausdrücklich Vertrauensschutz gewähren, wenn er von seinem Geschäftspartner über die Voraussetzungen der Steuerfreiheit oder der Nichtsteuerbarkeit getäuscht wurde und er dies mit der Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte. Die Rechtfertigung für diese fiskalisch gewiss nicht triviale Regelung leitet sich ab aus dem Verständnis der Mehrwertsteuer als Massensteuer, die den Verbrauch belasten möchte, aber dafür grundsätzlich den leistenden Unternehmer, und nicht den eigentlichen Steuerträger, also den Verbraucher selbst als Steuerschuldner heranzieht und in Pflicht nimmt. Die aus dieser Indienstnahme für den Fiskus resultierenden Risiken müssen fair verteilt werden, und deshalb ist es rechtsstaatlich geboten, den Unternehmer da aus seiner Steuerpflicht zu entlassen, wo er als bloßer Steuereinnehmer stellvertretend für den Fiskus in einer Weise betrogen wurde, wie es auch dem Staat selbst ergangen wäre, wenn er den Abnehmer des Unternehmers als Steuerschuldner herangezogen hätte. Dann wäre es z. B. auch nicht ausgeschlossen, dass der Abnehmer dem Fiskus gegenüber gefälschte Belege vorlegt, die nicht unverzüglich als gefälscht erkannt werden können und der Fiskus deshalb durch die Nichtrealisierbarkeit der Steuerforderung gegenüber dem Steuerschuldner einen Schaden erleidet.

__________ 40 Sog. Mittler-Modell, benannt nach dem damaligen Finanzminister von RheinlandPfalz, Gernot Mittler, s. Einführung von Vorstufenbefreiungen als Mittel der Umsatzsteuer-Betrugsbekämpfung; Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz v. 8.8. 2001, UR 2001, 835; s. dazu Widmann, Die Mainzer Vorschläge zur Umsatzsteuer, in Nieskens (Hrsg.), Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2001/2002, 63; Widmann, Chancen und Risiken eines Umsatzsteuer-Systemwechsels – Vermeidung des Umsatzsteuerbetrugs durch das Mittler-Modell, UR 2002, 588; Kirchhof, Reform der Umsatzsteuer im Rahmen von Verfassungs- und Europarecht, in Nieskens (Hrsg.), Deutsche Umsatzsteuer im europäischen Kontext, – Festgabe 25 Jahre UmsatzsteuerForum, 2008, 55. 41 Paul Kirchhof, Umsatzsteuergesetzbuch – Ein Vorschlag zur Reform der Umsatzsteuern und der Verkehrsteuern – Kommentierung der Ausgabe mit Rechtsverordnung und Glossar, Schriftenreihe des Instituts für Finanz- und Steuerrecht – Forschungsstelle Bundessteuergesetzbuch, Bd. III, Heidelberg 2008, s. dazu Wagner, DStR 6/2009, XVIII; Widmann, Mehrwertsteuer geht auch anders! – Zum Entwurf eines Umsatzsteuergesetzbuches von Paul Kirchhof, UR 2009, 9; Das Umsatzsteuergesetzbuch als Beitrag zur Vollendung des europäischen Binnenmarkts, BB 2009, 927.

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IV. Schlussbemerkung Es ist mithin ein Gebot der rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeit, im Umsatzsteuerrecht den guten Glauben des redlichen Unternehmers da zu schützen, wo er gegen Täuschung machtlos ist. Das ist keine Schwäche des Steuerstaates, sondern dies ist die zwingende Folge einer Systemschwäche der Mehrwertsteuer mit ihrem Allphasenprinzip. Sie beruht auf einer bewussten Entscheidung des europäischen Richtliniengebers und des nationalen Gesetzgebers und daher müssen die Folgen dieser systematisch nicht vermeidbaren Risiken den Fiskus, nicht den gutgläubigen Steuerpflichtigen treffen.

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Die positive Bedeutung von Nichtanwendungserlassen Der Nichtanwendungserlass als Element und Teil eines demokratischen Rechtsanwendungsdiskurses

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Praxis der Finanzverwaltung III. Literaturäußerungen IV. Argumente und Gegenargumente 1. Ursachen und Entwicklung des „antijustiziellen“ Verhaltens 2. Rechtskraftwirkung 3. Gesetzeskraft 4. Richterrecht 5. Pflicht zur Rechtsfortbildung 6. Art. 20 Abs. 3 GG 7. Vermutung der Richtigkeit von BFH-Urteilen

8. Gewaltenteilung 9. Das Wesen der Rechtsanwendung und die Aufgabe der Rechtsprechung 10. Wesen von Gerichtsentscheidungen 11. Ausgestaltung der Gewaltenteilung 12. Höchstrichterliche Entscheidungen keine Rechtsquelle V. Ergebnisse und Konsequenzen VI. Zusammenfassung

I. Einleitung Über den Nichtanwendungserlass ist in letzter Zeit schon viel geschrieben worden1. Die Notwendigkeit eines weiteren Beitrags könnte man daher mit Fug und Recht in Frage stellen. Andererseits weist der Nichtanwendungserlass in seiner ganzen dialektischen Vielfalt eine Vielzahl von Aspekten auf, die es durchaus rechtfertigen, ihn ein weiteres Mal zu untersuchen und einer besonderen Betrachtung zu unterziehen.

II. Praxis der Finanzverwaltung Die Finanzverwaltung (das BMF) kann in unterschiedlicher Weise BFH-Urteile nicht anwenden. Zum einen geschieht dies durch einen sog. Nichtanwendungserlass, der den nachgeordneten Behörden vorschreibt, bestimmte Urteile bei der Steuerveranlagung nicht anzuwenden. Dabei besteht noch die Besonderheit, dass die Verwaltung der Steuern Ländersache ist, der Erlass eines

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1 J. Lang, Reaktion der Finanzverwaltung auf missliebige Entscheidungen des BFH, DRiZ 1992, 365, identisch in StuW 1992, 14; Spindler, Der Nichtanwendungserlass im Steuerrecht, DStR 2007, 1051; Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung – Bindungen und Grenzen für Nichtanwendungserlasse, Habilitationsschrift 2010.

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Nichtanwendungserlasses eigentlich gar nicht in die Kompetenz des BMF fällt. Die Verwaltung erreicht das gewünschte Ergebnis, indem sich die Landesfinanzverwaltungen mit dem Bund auf eine bestimmte Praxis verständigen. Zum anderen kann die Verwaltung versuchen, so auf die 1. Gewalt einzuwirken, dass diese eine entsprechende gesetzliche Änderung oder Klarstellung bewirkt.2 Das Parlament ist natürlich frei, entsprechende Vorschläge aufzunehmen und entsprechende Gesetzgebungsverfahren durchzuführen. Diese Praxis entspricht dem parlamentarischen System; die Gestaltungsmacht hat der Gesetzgeber. Der berühmte Ausspruch von Kirchmann3 ist hinreichend bekannt. Weitere Reaktionen der Verwaltung sind die Verzögerung der Veröffentlichung im BStBl. sowie die Vermeidung einer (weiteren) höchstrichterlichen Entscheidung.4 Das BMF5 hat sich zu einer heftigen Reaktion veranlasst gesehen: Nichtanwendungserlasse seien keine Willkür des Bundes; immer wieder werde die Behauptung aufgestellt, das Bundesministerium der Finanzen würde mit seiner Praxis der Nichtanwendungserlasse das Gebot rechtstaatlichen Verhaltens verletzen. Dieser Vorwurf werde entschieden zurückgewiesen: 1. Der BFH sei nicht das BVerfG: In einem Verfahren vor dem BFH ergangene und rechtskräftig gewordene Urteile bänden nur die am Rechtsstreit Beteiligten (§ 110 Abs. 1 FGO). Nur eine Entscheidung des BVerfG, die eine Gesetzesnorm für mit dem Grundgesetz vereinbar oder nicht vereinbar erkläre, habe allgemeinverbindliche Wirkung. 2. Das Bundesministerium der Finanzen entscheide nicht allein, sondern im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle entscheide sich die Finanzverwaltung für eine allgemeine Anwendung des BFH-Urteils. Ziel eines Nichtanwendungserlasses sei es dabei, dem BFH Gelegenheit zu geben, in einem neuen Verfahren seine Rechtsauffassung zu überprüfen. 3. Es gebe nur einen verschwindend geringen Anteil von Nichtanwendungserlassen, nämlich ca. 1,6 %: Von 1.237 (Stand 18.10.2005 bis 17.6.2009) durch den BFH zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten Entscheidungen hätten die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder nur in 20 Fällen die Notwendigkeit gesehen, einen Nichtanwendungserlass zu beschließen, also nur in ca. jedem 60. Fall. 4. Entgegen oft geäußerter Kritik könne ein Nichtanwendungserlass auch zugunsten der Steuerpflichtigen wirken, so z. B. im Fall des BFH-Urteils v. 18.4.2002 – III R 15/00; dazu BMF v. 20.1.2003, BStBl. I 2003, 89.

__________ 2 Im Einzelnen Spindler, a. a. O., (Fn. 1), 1063 f. 3 Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1847: Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers, und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur. 4 Dazu Spindler, a. a. O., (Fn. 1), 1062 f. 5 Pressemitteilung Nr. 29 v. 6.7.2009.

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Die positive Bedeutung von Nichtanwendungserlassen

5. Gelegentlich sei ein Nichtanwendungserlass unumgänglich, weil sich der BFH selbst widerspreche: Ein Nichtanwendungserlass sei geboten, wenn verschiedene Senate des BFH unterschiedliche Rechtsauffassungen verträten und keine Anrufung des Großen Senats erfolge.6 Einzelfälle: (1) BMF v. 15.2.2010, EStG-Kartei NW § 17 Nr. 9 zu BFH v. 25.6.2009 – IX R 42/08, DStR 2009, 1843 (Abzugsverbot gem. § 3c Abs. 2 EStG bei Aufgabegewinnen i. S. v. § 17 EStG). (2) BMF v. 12.8.2009, BStBl. I 2009, 890 zu BFH v. 11.10.2007 – IV R 52/04, BStBl. II 2009, 705: Bei Verpflichtung zur Rücknahme der veräußerten Neuwagen im Rahmen von „Auto-Leasing“ soll eine Verbindlichkeit zu bilden sein. (3) BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671 zu BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464: Aufgabe der finalen Entnahmetheorie. (4) BMF v. 4.8.2008, DStR 2008, 1588 zu BFH v. 29.1.2008 – I R 85/06, BStBl. II 2008, 671: Abzugsausschluss von Fremdenverkehrsleistungen gem. § 2a EStG 1990 gemeinschaftsrechtswidrig. (5) BMF v. 5.10.2007, BStBl. I 2007, 743 zu BFH v. 7.2.2007 – I R 5/05, BStBl. II 2007, 796: Auflösung passiver Ausgleichsposten bei Beendigung einer Organschaft. (6) BMF v. 2.4.2007, BStBl. I 2007, 441 zu BFH v. 7.6.2006 – IX R 4/04, BStBl. II 2007, 294: Steuerliche Anerkennung von Verträgen zwischen Angehörigen. (7) BMF v. 21.3.2007, IStR 2007, 340 zu BFH v. 9.8.2006 – I R 95/05, IStR 2006, 864: Anwendbarkeit von § 8b Abs. 1 bis 5 i. V. m. Abs. 6 KStG 2002 a. F. bei der Ermittlung des Gewerbeertrags einer zwischengeschalteten Personengesellschaft; Verstoß gegen die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsteuerfreiheit durch § 8b Abs. 5 KStG 2002 a. F. (8) BMF v. 14.2.2007, DStR 2007, 442 zu BFH v. 22.9.2005 – IX R 21/04, BStBl. II 2007, 158: Verrechenbarkeit von Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften i. S. d. § 23 EStG. (9) BMF v. 30.3.2006, DStR 2006, 652 zu BFH v. 14.12.2004 – IX R 24/02, BFH/NV 2005, 877: Erbauseinandersetzung; Anschaffungskosten bei Übernahme von Verbindlichkeiten über die Erbquote hinaus. (10) BMF v. 18.9.2003, ZEV 2003, 502 zu BFH v. 5.9.2002 – III R 37/01, BStBl. II 2003, 772: Anspruchsberechtigung des Nießbrauchers für die Gewährung einer Investitionszulage nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 InvZulG 1999. (11) BMF v. 20.5.2003, DStR 2003, 939 zu BFH v. 8.8.2001 – I R 106/99, BStBl. II 2003, 487: Durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasste Durchführung von Risikogeschäften mit einer Kapitalgesellschaft. (12) BMF v. 21.1.2003, BStBl. I 2003, 125 zu BFH v. 27.6.2001 – I R 45/07, BStBl. II 2003, 121: Rückstellungen für sog. Anpassungsverpflichtungen (nach TA Luft). (13) BMF v. 11.12.2002, DStR 2003, 250 zu BFH v. 7.11.2001 – I R 14/01, BStBl. II 2002, 861: Steuerabzug bei beschränkt Steuerpflichtigen gem. § 50a Abs. 4 EStG in den Fällen der „Liebhaberei“.

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6 Unter der Rubrik „Steuervereinfachung“ heißt es im Koalitionsvertrag vom 26.10.2009: „Wir werden insbesondere … dafür sorgen, dass sich BMF-Schreiben auf die Auslegung der Gesetze beschränken und die Praxis der Nichtanwendungserlasse zurückgeführt wird, …“

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Heinrich Weber-Grellet (14) BMF v. 19.11.2002, DStR 2002, 2084 zu BFH v. 17.8.2001 – V R 1/01, BStBl. II 2002, 833: Vorsteuerabzug bei gemischt genutzten Grundstücken. (15) BMF v. 17.10.2002, DStR 2002, 2079 zu BFH, 29.11.2000 – I R 85/99, BStBl. II 2002, 720: Auslegung des Begriffs „Geschäftsbeziehung“ in § 1 AStG. (16) BMF v. 17.6.2002, BStBl. I 2002, 629 zu BFH v. 8.8.2001 – I R 29/00, BStBl. II 2002, 392: Überwiegend neues Betriebsvermögen i. S. v. § 8 Abs. 4 KStG. (17) BMF v. 7.6.2001, DStR 2001, 1482 zu BFH v. 27.7.2000 – X R 135/97, BStBl. II 2001, 435: Kinderzulage nach § 9 Abs. 5 EigZulG. (18) BMF v. 19.3.2001, DStR 2001, 659 zu BFH v. 19.1.2000 – I R 94/97, BStBl. II 2001, 222 und BFH v. 19.1.2000 – I R 117/97, BFH/NV 2000, 824: Steuerliche Behandlung der Beteiligung an irischen Kapitalanlagegesellschaften.

III. Literaturäußerungen In der Literatur wird die Praxis der Nichtanwendungserlasse von Anfang an kritisch begleitet; vielfach wird der Nichtanwendungserlass als Fremdkörper und als rechtsstaatliches Ärgernis verstanden. Nach Auffassung von Jakob/Jüptner7 seien Nichtanwendungsverfügungen zulässig, wenn die Verwaltung der Auffassung sei, eine ebenso chancenreiche Alternativlösung zu haben. Dies bedürfe der substantiierten Begründung in der Nichtanwendungsverfügung selbst sowie eines Hinweises in dem Steuerbescheid, der der Nichtanwendungsverfügung folge. – Joachim Lang8 hat sein auf dem Richtertag 1991 gehaltenes Referat in vier Abschnitte unterteilt: 1. Die Methoden des Nichtanwendungserlasses und der rechtsprechungsbrechenden Steuergesetzgebung, 2. Antijustizielles Verhalten der Finanzverwaltung als Folge der Emanzipation der Finanzgerichtsbarkeit, 3. Antijustizielles Verhalten der Finanzverwaltung im Gefüge der Staatsgewalten, 4. Verantwortung aller Staatsgewalten für ein rechtsstaatliches Steuerrecht. Zusammenfassend stellt Lang fest, dass antijustizielles Verhalten der Finanzverwaltung mit verfassungsrechtlichen Argumenten kaum zu Fall gebracht werden könne. Die rechtsstaatliche Verantwortung der Finanzverwaltung sei vom Grundsatz der Gewaltenteilung geprägt. Die Rechtsprechung teile das Schicksal der Wissenschaft, dass drei berichtigende Worte des Gesetzgebers ganze Bibliotheken zur Makulatur machen könnten. Allerdings müsse sich der Gesetzgeber loyal verhalten, er dürfe aber die Rechtfortbildungsfunktion der Gerichte nicht missachten und damit das Recht verschlechtern. – Nach

__________ 7 Jakob/Jüptner, Zur Problematik sog. Nichtanwendungsverfügungen im Steuerrecht, StuW 1984, 148. 8 J. Lang, Reaktion der Finanzverwaltung auf missliebige Entscheidungen des BFH, StuW 1992, 14 = J. Lang, DRiZ 1992, 365.

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Die positive Bedeutung von Nichtanwendungserlassen

Rüfner9 gebe es kein Monopol der Rechtsprechung für die Fortbildung und Fortentwicklung des Rechts. Die Rechtsprechung könne nur punktuell zugreifen, aber in der Regel darauf vertrauen, dass die materielle Präjudizwirkung höchstrichterlicher Entscheidungen künftige gerichtliche Entscheidungen und mit Rücksicht darauf auch das Verhalten der Verwaltung bestimme. Diese allgemeine Wirkung sei nicht immer unproblematisch; deshalb versuchten die Prozessparteien, Grundsatzentscheidungen zu verhindern. – Obwohl die formelle Bindungswirkung von Urteilen auf die jeweiligen Prozessparteien beschränkt sei, gelte es als Pflicht aller Behörden, die höchstrichterliche Rechtsprechung zu beachten. In den Prozessordnungen sei die Absicht zu erkennen, eine für die Praxis maßgebende einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten, freilich ohne eine förmliche Bindung, um einer Versteinerung des Rechts entgegen zu wirken. Gegen eine ständige Rechtsprechung, müssten neue Gründe vorgebracht werden; regelmäßig sei anzunehmen, dass der Gesetzgeber eine ständige Rechtsprechung billige, wenn er keine Abhilfe schaffe. Die Verwaltung müsse die höchstrichterliche Rechtsprechung beachten und dürfe sie nicht verschweigen; ihre andere Auffassung darzulegen, sei ihr nicht verwehrt. – Lange10 ist der Auffassung, dass die Finanzverwaltung grundsätzlich alle Urteile, die der erkennende Senat des BFH durch die Bestimmung zur Veröffentlichung als besonders wichtig qualifiziert habe, im Bundessteuerblatt unverzüglich zu veröffentlichen habe. Die Finanzverwaltung müsse ihren Nichtanwendungserlass nachvollziehbar begründen; fehle eine ausreichende Begründung, sei der Erlass rechtswidrig. Wende die Finanzverwaltung ein Urteil (entscheidungserheblich) nicht an, so habe sie darauf im Steuerbescheid hinzuweisen. – Wieland11 hält Nichtanwendungserlasse der Finanzverwaltung für rechtmäßig. Die Finanzverwaltung sei nicht an einzelne Urteile des BFH gebunden, wohl aber an durch ihn geschaffenes Richterrecht. Eine Vermutung der Richtigkeit von BFH-Entscheidungen des BFH lasse sich methodisch nicht begründen. – Nach Auffassung von Schaumburg12 seien Nichtanwendungserlasse grundsätzlich zulässig. Sie bedürften allerdings einer nachvollziehbaren Begründung. In Steuerbescheiden sei ggf. auf die Nichtanwendung hinzuweisen. Ebenfalls zulässig seien Nichtanwendungsgesetze; die Abweichung sollte in der Gesetzesbegründung erläutert werden. – Nach Auffassung von Spindler13 sei die Finanzverwaltung grundsätzlich an die Entscheidungen des BFH gebunden; ein Nichtanwendungserlass komme ausnahmsweise dann in Betracht, wenn im Einzelfall eine BFH-Entscheidung nach Ansicht der Verwaltung zu einem offensichtlich unzutreffenden, nicht vertretbar erscheinenden Ergebnis gelange; die Finanzverwaltung habe diese Voraussetzung im konkreten Fall darzulegen. Nichtanwendungserlasse seien dann rechtswidrig, wenn sie allein aus fiskalischen Gründen erlassen würden. – Aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes sei es unverzichtbar, dass die Finanz-

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Rüfner, DRiZ 1992, 457. Lange, NJW 2002, 3657 (3659). Wieland, DStR 2004, 1. Schaumburg, 1. Deutscher Finanzgerichtstag, 2004, 73. Spindler, DStR 2007, 1061.

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verwaltung in Steuerbescheiden, die auf einem Nichtanwendungserlass beruhten, auf die abweichende Rechtsprechung des BFH hinweise.

IV. Argumente und Gegenargumente Auf den ersten Blick scheint die Rechtslage ganz einfach: Die Verwaltung – als Teil der Exekutivgewalt – ist für die Rechtsanwendung zuständig, der BFH hingegen – als oberstes Steuergericht – für die verbindliche Auslegung von Steuergesetzen und deren Tatbestandsmerkmale. Mit diesem Befund ist das Problem allerdings nicht gelöst: Es gibt eine Vielzahl von Aspekten, die diesen Grundtatbestand in einem differenzierten Licht erscheinen lassen und eine differenzierte Betrachtung erfordern. 1. Ursachen und Entwicklung des „antijustiziellen“ Verhaltens Das „antijustizielle“ Verhalten der Finanzverwaltung ist nicht zuletzt eine Folge der Emanzipation der Finanzgerichtsbarkeit; in der Weimarer Zeit entsprach die Anbindung von Finanzgerichten an die Finanzverwaltung noch den damaligen rechtsstaatlichen Vorstellungen;14 die Finanzgerichtsbarkeit war die „Hausgerichtsbarkeit“ der Verwaltung. Das hat sich grundlegend geändert; die Finanzgerichtsbarkeit versteht sich als Teil einer unabhängigen Justiz.15 2. Rechtskraftwirkung Gemäß § 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile (nur) die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden ist. Im Rahmen des Prozessrechtsverhältnisses sind die Beteiligten gebunden; das gilt natürlich auch für die Verwaltung. Über das konkrete Prozessrechtsverhältnis hinaus besteht keine Bindung.16 3. Gesetzeskraft Die Entscheidungen des BFH haben keine Gesetzeskraft; diese Wirkung kommt nur den Entscheidungen des BVerfG zu.17 4. Richterrecht Es kann der Fall eintreten, dass Entscheidungen des BFH zu Richterrecht erstarken18; diese Folge hat aber nicht jede Entscheidung. Insbesondere wenn die

__________ 14 J. Lang, a. a. O., (Fn. 1), 365 (366). 15 Zur weiteren „Emanzipation“ der Justiz durch Selbstverwaltung vgl. Weber-Grellet, Selbstverwaltung der Justiz, ZRP 2007, 137. 16 Wieland, Bedeutung der Rechtsprechung des BFH für die Finanzverwaltung, DStR 2004, 1 (3). 17 § 31 Abs. 1 BVerfGG.

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Verwaltung der Auffassung des BFH nicht folgt, ist dies ein wesentlicher Anhaltspunkt, dass eine unangefochtene rechtliche Einschätzung nicht besteht. 5. Pflicht zur Rechtsfortbildung Dass die obersten Bundesgerichte zur Rechtsfortbildung berechtigt und verpflichtet sind, ist keine Frage (vgl. nur § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Aus dieser Verpflichtung lässt sich aber nicht ableiten, dass jedes BFH-Urteil als rechtsfortbildendes Gesetz einzuordnen ist. Das Nichtanwendungsgesetz ist seinem Inhalt nach ein Maßnahmegesetz, das den schöpferischen Fortentwicklungsprozess des Rechts abschneidet. Rechtsprechungsbrechende Steuergesetzgebung stört die rechtsstaatliche Rollenverteilung19. Während beim Nichtanwendungserlass der Diskurs fortgesetzt wird, sind im Fall des Nichtanwendungsgesetzes Konstellationen denkbar, in denen der Diskurs abgeschnitten und beendet wird. 6. Art. 20 Abs. 3 GG Art. 20 Abs. 3 GG ordnet die Bindung von vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht an. Die vollziehende Gewalt ist daher nur gebunden, soweit die Rechtsprechung „Gesetz und Recht“ darstellt. Das aber ist gerade die Frage. Eine Bindung der Verwaltung bedeutete daher insoweit eine „petitio principii“. 7. Vermutung der Richtigkeit von BFH-Urteilen Wie die vielen Rechtsprechungsänderungen zeigen, kann ein Urteil immer nur für sich in Anspruch nehmen, dass die beteiligten Richter im Augenblick der Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen entschieden haben. Und dass die Kategorien „richtig/falsch“ eher unangemessen sind und nicht passen, zeigt der Umstand, dass manche Entscheidungen nur mit knapper Mehrheit getroffen werden. So kann der Große Senat des BFH durchaus mit einer Mehrheit von 6:5 entscheiden; die fünf überstimmten Richter würden sich wohl zu Recht dagegen wehren, wenn ihr Entscheidungsvorschlag als falsch bezeichnet werden würde. Die Mehrheit entscheidet; ob richtig oder falsch ist ohne Bedeutung. Aber selbst wenn eine solche Vermutung der Richtigkeit bestünde,20 könnte sie die Wertungen des § 110 FGO und des § 31 Abs. 1 BVerfG nicht aus den Angeln heben.

__________ 18 Vgl. z. B. die Rücklage für Ersatzbeschaffung (vgl. Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 29. Aufl. 2010, § 5 Rz. 501). 19 J. Lang, a. a. O., (Fn. 1), 365 (369). 20 Zu Recht kritisch Wieland, a. a. O., (Fn. 11), 5, gegen Rüfner, DRiZ 1992, 457 (460); Lange, NJW 2002, 3657 (3659).

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8. Gewaltenteilung Das Prinzip der Gewaltenteilung verlangt die wechselseitige Kontrolle und Hemmung der Staatsfunktionen im Interesse des Rechtsstaats. Wenn sich Verwaltungen gegen missliebige Rechtsprechung zur Wehr setzen, dann ist dies Ausdruck der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG statuierten Gewaltenteilung.21 Die Methode der Nichtanwendungserlasse bewegt sich im System der Gewaltenteilung. Macht die Finanzverwaltung ihren Einfluss auf die Gesetzgebung geltend, so setzt sie sich dem Vorwurf aus, das System der Gewaltenteilung zu unterlaufen, indem sie das Parlament zur „Leihmutter“ von Gesetzen der Finanzverwaltung instrumentalisiert.22 9. Das Wesen der Rechtsanwendung und die Aufgabe der Rechtsprechung Rechtsanwendung ist ein dialektischer Prozess. Diese Dialektik kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass die Größe der Spruchkörper im (aufsteigenden) Instanzenzug zunimmt. Diese Besetzung bringt zum Ausdruck, dass Rechtsanwendung nicht die einfache „Extraktion“ eines bestimmten Ergebnisses aus einer bestimmten Norm darstellt. Rechtsanwendung ist vielmehr der Versuch, ein sachlich angemessenes Ergebnis aus dem Gesetz zu entwickeln und herzuleiten. Es gibt (idealtypisch) kein „richtig oder falsch“, sondern nur die angemessene Einbeziehung aller für die Rechtsanwendung wesentlichen Gesichtspunkte. Eine größere Besetzung begünstigt das Erkennen und die Einbringung aller relevanten Gesichtspunkte. Diese Wertungen sind natürlich auch im Steuerrecht von Bedeutung. Auch die Auslegung von Steuerrecht kann nicht durch schlichte Ableitung, durch einen logischen Formalakt, vorgenommen werden. Dies gilt selbst dann, wenn man den eingriffsrechtlichen Charakter des Steuerrechts betont. Auch Eingriffsrecht bedarf der wertenden Auslegung. Verstärkt wird die Notwendigkeit wertender Auslegung, wenn man den verteilungsrechtlichen Charakter des Steuerrechts berücksichtigt. Entgegen einer immer noch vertretenen Auffassung ist Steuerrecht nicht gegen den Einzelnen gerichtetes Fiskalrecht; es gibt keine Entscheidungen (nur) zugunsten oder zu Lasten des Steuerpflichtigen. – Die einzelne Entscheidung steht immer im Spannungsverhältnis zwischen dem einzelnen Steuerpflichtigen und allen anderen Steuerpflichtigen. Was der eine weniger leistet, müssen alle anderen mehr leisten. Aufgabe des Steuerrechts ist vor allem die angemessene Lastenverteilung zwischen den Bürgern. Dass die Inanspruchnahme des Einzelnen nur nach Maßgabe eines rechtsstaatlichen Verfahrens vorzunehmen ist, versteht sich von selbst. Bei der Heranziehung zu einer Steuer ist aber nicht nur der Einzelne in das Blickfeld zu nehmen, sondern die Wirkung auf die Gemeinschaft aller Steuerzahler ist von entscheidender Bedeutung. Die

__________ 21 J. Lang, a. a. O., (Fn. 1), 365 (366). 22 J. Lang, a. a. O., (Fn. 1), 365 (366).

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„eindimensionale Eingriffsbetrachtung“ ist unzureichend und kann im demokratischen Rechtsstaat keinen Platz haben. Die Verwaltung ist daher nicht der fiskalische Büttel des Staates, sondern – wenn man so will – der Vertreter des allgemeinen Interesses. 10. Wesen von Gerichtsentscheidungen Aus diesem Grund sind auch die Entscheidungen von Bundesgerichten (nur) wohl begründete Versuche einer angemessenen Entscheidung. Wer die Entscheidungsfindung in einem großen Spruchkörper miterlebt hat, kennt deren Ambivalenz. Das ist auch der Grund, warum der Gesetzgeber berechtigterweise darauf verzichtet hat, den Entscheidungen der Bundesgerichte Gesetzeskraft beizumessen. Trotz all ihrer Prägnanz sind Gerichtsurteile nur begrenzte Aussagen über einen Einzelfall. Eine Verallgemeinerung ist rechtlich nicht zwingend; Gerichte sind kein Gesetzgeber. Die Gegenauffassung, die in Nichtanwendungserlassen einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 und 3 GG sieht, verkennt diesen zwischen Gesetzen und Gerichtsentscheidungen bestehenden Unterschied. 11. Ausgestaltung der Gewaltenteilung Gewaltenteilung ist im „gewaltengeteilten Verfassungsstaat“ nicht in dem Sinne geregelt, dass die Verwaltung im Rahmen ihrer Rechtsanwendung auf eine eigene Prüfung verzichten kann und darf. Gerade die in Art. 20 Abs. 3 GG konstituierte Bindung aller Staatsgewalten an Recht und Gesetz verpflichtet die Verwaltung zu eigener Prüfung. Die Rechtsbindung der Verwaltung ist ein eindeutiger Beleg für die Notwendigkeit eigener und selbstverantwortlicher Prüfung. Das System der wechselseitigen Kontrolle und Hemmung der Staatsfunktionen setzt Autonomie der Rechtssetzung voraus.23 Die Gewaltenteilung ist ein für das GG tragendes Organisations- und Funktionsprinzip. Sie dient der Mäßigung der Staatsherrschaft, verhindert eine Konzentration der Staatsgewalt und ermöglicht, dass die jeweiligen Entscheidungen von den am besten geeigneten Organen getroffen werden.24 Das Verhältnis von Gerichten und Verwaltung wird nicht durch Befehl und Gehorsam geprägt. Die jeweiligen Gewalten müssen sich in eigener Verantwortung ihre eigenen Gedanken machen. Die Gewaltenteilung besteht in einem hochdifferenzierten und stark elaborierten System von „checks and balances“; der „Einheitsstaat“ ist jedenfalls abgeschafft.25

__________ 23 J. Lang, a. a. O., (Fn. 1), 365 (369). 24 Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 20 GG, Rz. 81. 25 Dieser Aspekt ist übrigens auch der tiefere Grund für die Aufteilung der Gerichtsbarkeiten; es geht nicht um besondere Fachkenntnisse, sondern um Gewaltenteilung, um die die Begrenzung und die Verteilung der Justizmacht.

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Zu diesen checks and balances gehört auch, dass die jeweilige Staatsgewalt, sofern keine ausdrückliche Bindung besteht, in ihrem Bereich in eigener Kompetenz die Auslegung der Gesetze vornehmen muss. Die Verwaltung kann und darf nicht auf eine eigene Prüfung verzichten. Hat sie Zweifel an einer bestimmten Auslegung, muss sie im Rahmen ihrer Gewalt diese Zweifel berücksichtigen. Die Verwaltung ist danach zur Nichtanwendung geradezu verpflichtet. Hintergrund dieser Prüfung ist die Selbständigkeit der Staatsgewalten und deren eigene Verantwortung. Es dient der Sicherung rechtsstaatlicher Ergebnisse, dass die Verwaltung ihre eigenen Überlegungen anstellt. Diese doppelte Prüfung bedeutet eine rechtsstaatliche Sicherung. Der Nichtanwendungserlass ist ein notwendiges Korrektiv im Rahmen des dialektischen Rechtsauslegungsprozesses. Aus dem Gebot der Gewaltenteilung folgt in bestimmten Konstellationen der Zwang zur Nichtanwendung.26 12. Höchstrichterliche Entscheidungen keine Rechtsquelle Entgegen der Auffassung von Leisner haben auch höchstrichterliche Entscheidungen keine Rechtsqualität. Der BFH selbst hat eine solche Bindungswirkung verworfen27.

V. Ergebnisse und Konsequenzen 1. Rechtsanwendung, Rechtsinterpretation und Rechtsfortbildung vollziehen sich in einem diskursiven und dialektischen (Entwicklungs-)Prozess, an dem alle Rechtsanwender und Interpreten im Rahmen ihrer jeweiligen Funktion beteiligt sind; Nichtanwendungserlasse sind Teil dieser funktionalen Vielfalt. 2. Die Auslegung von Gesetzen ist kein statischer Vorgang, sondern ein dynamischer Erkenntnisprozess, der von den Beteiligten aus unterschiedlicher Perspektive wahrgenommen und geführt wird. Unter diesem Aspekt sind Nichtanwendungserlasse (legitimer) Teil des gemeinsamen Rechtserkenntnisprozesses. 3. Die Verwaltung ist rechtlich nicht verpflichtet, der höchstrichterlichen Rechtsprechung bedingungslos zu folgen. Andererseits ist die Verwaltung ebenso wenig berechtigt, sich nach Belieben über die höchstrichterliche Rechtsprechung hinwegzusetzen. 4. Der Nichtanwendungserlass ist kein Problem; hitziges Geschrei ist vollkommen unangebracht. Dass in jüngerer Zeit zwischen Verwaltung und Rechtsprechung Meinungsverschiedenheiten auftreten, beruht auch auf der weiteren Emanzipation der Finanzrechtsprechung, die ihre Aufgabe zu verfassungsgeleiteter Interpretation verstärkt wahrnimmt.

__________

26 A. A. Spindler, Das Steuerrecht im gewaltengeteilten Verfassungsstaat, Bezirksnachrichten der hessischen Finanzämter 2/2008, 13 (17 f.). 27 J. Lang, a. a. O., (Fn. 1), 365 (366); BFH v. 9.6.1953 – I 34/53 S, BStBl. III 1953, 250.

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5. Die Aufgabe der Verwaltung besteht vor allem darin, die verteilungsrechtlichen Aspekte im Auge zu behalten. „Fiskalische Aspekte“ existieren nicht mehr; das Steuerrecht dient nicht dem Staat, sondern allein der demokratischen Gesellschaft und regelt, welchen Anteil der einzelne am gesamtgesellschaftlichen Aufkommen zu tragen hat. Staat und Recht sind (nur noch) Funktionen der demokratischen Gesellschaft. Der Staat hat seine (frühere) Bedeutung als (autonomer) Herrschaftsapparat und Fiskus vollkommen verloren. 6. Was die Rechtsauslegung angeht, sitzt die Rechtsprechung gegenüber der Verwaltung immer am längeren Hebel; alle Nichtanwendungserlasse können durch (nachfolgende) Einzelfall-Urteile zu Fall gebracht werden. – Im Verhältnis zum Gesetzgeber ist das Verhältnis umgekehrt; der Gesetzgeber kann die Rechtsprechung durch Gesetzesänderungen korrigieren. 7. Noch auf dem alten Antagonismus von Staat und Bürger beruht die Auffassung, dass Nichtanwendungserlasse dann rechtswidrig seien, wenn sie allein aus fiskalischen Gründen erlassen würden. Die Verwaltung vertritt nicht den Fiskus, sondern ihre Aufgabe besteht in dem gesetzeskonformen Gesetzesvollzug im Interesse aller Bürger; sie hat die gleichmäßige Anwendung des Steuerrechts sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass die Steuerpflichtigen im Verhältnis zu allen Mitsteuerpflichtigen gleichheitsgerecht herangezogen werden. 8. Es ist ein Gebot der rechtsstaatlichen Fairness, Steuerpflichtige im gegebenen Einzelfall auf eine entgegenstehende Rechtsprechung hinzuweisen. 9. Sog. Nichtanwendungserlasse sind prinzipiell zulässig. Das Gewaltenteilungsprinzip verpflichtet jede Gewalt, in ihrem Verantwortungsbereich im Rahmen von Recht und Gesetz eigenverantwortlich zu handeln. Der Nichtanwendungserlass ist die Folge der Verteilung der Rechtsanwendung auf „mehrere Autoritäten“. 10. Der Richter „erträgt“ den Nichtanwendungserlass in dem Bewusstsein, dass die eigene Erkenntnisfähigkeit nicht unbegrenzt ist; er verlangt nicht Gehorsam, sondern versucht, seine guten und besseren Argumente deutlich zu machen. 11. Die Verwaltung ist in den Fällen, in denen sie meint, die Rechtsauffassung des BFH nicht mittragen zu können, verpflichtet, einen Nichtanwendungserlass zu erlassen. 12. Wie jeder Verwaltungsakt und jedes staatliche Handeln bedarf auch der Nichtanwendungserlass einer Begründung. 13. In den Fällen, in denen eine bestimmte Rechtsauffassung zu Richterrecht erstarkt ist, ist ein Nichtanwendungserlass unzulässig. 14. Es ist der falsche Weg, Rechtssicherheit durch Kappung rechtsdogmatischer Reifeprozesse erreichen zu wollen.28 Die Teilnahme an solchen Reifeprozessen kann keiner Staatsgewalt versagt werden, auch nicht der Finanzverwaltung.

__________ 28 J. Lang, a. a. O., (Fn. 1), 365 (373).

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Die Beschneidung dieses Prozesses ist wissenschaftsfeindlich; die Entwicklung der Auslegung ist ein dialektischer Prozess, der von allen Staatsgewalten getragen werden muss.

VI. Zusammenfassung Nichtanwendungserlasse sind notwendiger und positiver Teil der Rechtsordnung und der Steuerrechtspraxis; sie sind ein Instrument, mit dessen Hilfe sich die Verwaltung an der Gesetzesauslegung beteiligt. Allerdings darf die Nichtanwendung nicht zu einer Kompetenzverschiebung im Rahmen der „multipolaren Institutionenordnung“ führen. Daher ist die Nichtanwendung nur in bestimmten Grenzen zulässig: – Nur das BMF darf die Nichtanwendung von BFH-Entscheidungen verfügen. – Die Nichtanwendung muss in betroffenen Steuerbescheiden kenntlich gemacht werden. – Eine Nichtanwendung kommt nur in Betracht, wenn das BMF innerhalb von 3 Monaten nach Veröffentlichung der Entscheidung die Nichtanwendung verfügt. Allein die Nichtveröffentlichung des Urteils durch das BMF bewirkt nicht die Befugnis oder die Verpflichtung nachgeordneter Behörden zur Nichtanwendung.

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Der Beitrag der Economic Analysis of Law zur Methodologie des Steuerrechts Inhaltsübersicht I. Die Entwicklung der Economic Analysis of Law in den USA 1. Die erste Phase (60er Jahre des 20. Jahrhunderts) 2. Die zweite Phase (70er Jahre des 20. Jahrhunderts) 3. Die dritte Phase (seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts) II. Die vorhergehende Ausarbeitung der wirtschaftsrechtlichen Methode in Europa (erste Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts) 1. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise in Deutschland 2. Die Gegenüberstellung von integralistischer und substantieller Schule in Italien III. Die Economic Analysis of Law knüpft an den in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den USA entstandenen Realismus an 1. Der Realismus in den USA und in Schweden 2. Die Unbegründetheit des Formalismus und der intermediären Konzeption

IV. Deutungsvorrang im Gesetzestext dessen, was am besten die Effizienz und Neuverteilungsgerechtigkeit garantiert 1. Die Effizienz betont das Gemeinwohl, und die Umverteilungsgerechtigkeit teilt es aus 2. Effizienz und Gemeinwohl als Werte der Verfassung V. Die Umverteilungsgerechtigkeit schadet der Effizienz 1. Das Steuerrecht schafft eine Umverteilungsgerechtigkeit mit geringerem Schaden für die Effizienz 2. Die durch den Beitrag der europäischen Methodologie ergänzte Economic Analysis of Law gestattet die korrekte Anwendung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bei der Auslegung des Steuergesetzes VI. Ausblick

I. Die Entwicklung der Economic Analysis of Law in den USA 1. Die erste Phase (60er Jahre des 20. Jahrhunderts) Zu Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts entstand in den Vereinigten Staaten eine in verschiedene Bereiche gegliederte Denkrichtung, die als Economic Analysis of Law oder auch Law and Economics bezeichnet wird1. Sie

__________

1 Rodolfo Sacco, L’interpretazione in Le fonti del diritto italiano, 2 Le fonti non scritte e l’interpretazione. Trattato di diritto civile, hrsg. von Rodolfo Sacco, Turin 1999, S. 230.

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betrachtet Rechts- und Wirtschaftswissenschaft als selbständige Disziplinen, stellt jedoch bedeutende Berührungspunkte zwischen diesen beiden fest2. Korrekterweise müssen vor allem die Methodologie und nicht so sehr die Forschungsergebnisse der Wirtschaftsrechtler betrachtet werden. Der englische Wirtschaftswissenschaftler Ronald H. Coase3 unterrichtet von 1935 bis 1951 an der London School of Economics und danach in den USA, wo er der Chicago Law School angehörte. Sein Werk über das Problem der sozialen Lasten von 1960 ist eines der Hauptbeiträge zur Methodenbildung der Economic Analysis of Law der ersten Generation. Diese sich über die 60er Jahre erstreckende Ursprungsphase4 der Bewegung geht auf die ersten wirtschaftsrechtlichen Denker5 zurück; nicht nur auf Coase, sondern nach kurzer Zeit auch auf Guido Calabresi6, der Professor an der Yale Law School war7. Zu Coase und Calabresi gesellten sich die Beiträge zu speziellen Bereichen der Bewegung. Dazu gehören die von Armen Alchian8 über die Mikroökonomie der Eigentumsrechte, und anderer Forscher, darunter Aaron Director9 mit seiner Analyse des Konkurrenzschutzes nach der neoklassischen Mikroökonomie der Schule von Chicago, George M. Humprey10 mit seiner Untersuchung von Interessengruppen und Regelungen beim Privatunternehmen, sowie schließlich Gordon Tullock und der Nobelpreisträger James Buchanan11 mit ihrer vertiefenden Darstellung der öffentlichen Entscheidungen und der ökonomischen Logik des Rechts.

__________ 2 Michele Abrescia, Einleitung zum Band von David D. Friedman, L’ordine del diritto. Perché l’analisi economica può servire al diritto. Bologna 2004 [it. Übers. von Law’s Order. What economy has to do with law and why it matters, Princeton University, 2000]. 3 The Firm, the Market and the Law, University of Chicago 1988. 4 The Origins of Law and Economics, hrsg. von Francesco Parisi und Charles K. Rowley: The Locke Institute and George Mason University, Cheltenham, 2005; Pierluigi Chiassoni, Law and economics, l’analisi economica del diritto negli Stati Uniti, Turin 1992, S. 300. 5 Cento Veljanovski, The New Law and Economics. A Research Review, Oxford: Centre for Socio-Legal Studies 1982. 6 The Cost of Accidents, Yale University 1970. 7 Guido Calabresi, Cosa è l’analisi economica del diritto?, in Riv. dir. fin. .sc. fin. 2007, I, S. 343. 8 Some Economics of Property Rights, in Il Politico, 30, 1965, S. 816. 9 The Parità of the Economic Market Place, in Journal of Law and Economics, 7, 1964, S. 1. 10 The Law and Economics of Public Policy: A Plea to Scholars, in Journal of Legal Studies, 1, 1972, S. 1. 11 The logic of the Law, New York: Basic Books 1971, mit einem Postskript After Twenty-Five Years, Fairfax, VA: The George Mason University; James Buchanan und Gordon Tullock, (Manifest von Virginia) School of Public Choise, The Calculus of Consent: Logical Foundations of Constitucional Democracy, University of Michigan 1962.

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Der Beitrag der Economic Analysis of Law zur Methodologie des Steuerrechts

Die wirtschaftsrechtliche Methode wurde allmählich zur Analyse des Verfassungs-12 und Verwaltungsrechts13 für am geeignetsten gehalten. Aus Letzterem geht das eng mit der Finanzwissenschaft verbundene Finanzrecht hervor, und daraus wiederum das Steuerrecht, welches besonders bezüglich der föderalen Ordnung am besten die Effektivität, Vertretbarkeit und die Durchführungsformen gewährleistet. Daher gehört das Steuerrecht zur letzten der drei Generationen, die den genannten Zweigen des Rechts entsprechen und im Rahmen eines sich nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollziehenden intensiven Prozesses aufeinander folgen. Aus diesem Grunde erweckte das Steuerrecht schon bei den ersten Ausarbeitungen dieser Methode durch Coase14 großes Interesse. Das Entstehen von Chicagos Auffassung der Economic Analysis of Law wurde durch eine Ideologie angeregt, die sich auf die Logik der „Interventionsökonomie“ bezog. Die von Coase und Oliver Williamson erstellte ökonomische Analyse des Rechts gründete sich auf die „Transaktionskosten“, die den steuertechnischen Aspekten, das heißt dem technisch-strategischen Element entsprechen. Coase stellte fest, dass auch die Steuern einerseits Ermittlungs- und Einzugskosten sowie Kosten zum Kampf gegen deren Hinterziehung und Umgehung einschließen, und andererseits Kosten zur Erfüllung der Steuerpflicht und zu deren Planung seitens des Steuerzahlers. 2. Die zweite Phase (70er Jahre des 20. Jahrhunderts) Die aus den USA stammende Denkrichtung der zweiten Generation, welche mit der Expansionsphase15 der 70er Jahre zusammenfiel, war gekennzeichnet durch eine breitere interdisziplinäre – rechts- und wirtschaftswissenschaftliche – Annäherung an traditionell als juristisch betrachtete Problematiken. An dieser zweiten Phase war zu einem gewissen Teil einerseits noch Calabresi beteiligt, und andererseits grundlegend Richard A. Posner16, der als Professor der University of Chicago Law School die ökonomische Analyse des Steuerrechts vertiefte.

__________ 12 Economics of Constitutional Law, hrsg. von Richard A. Epstein (University of Chicago), Cheltenham 2009. 13 Economics of Adminitrative Law, hrsg. von Susan Rose Ackerman, in Economic Approaches to Law series, hrsg. von Richard Posner und Francesco Parisi, Bd. 15, Cheltenham 2007. 14 The Problem of Social Cost, in Journal of Law and Economics, 3, 1960, S. 1, wieder veröffentlicht bei Ronald H. Coase, The Firm, the Market and the Law, a. a. O., S. 283. 15 In den 70er Jahren entwickelt sich eine ideologiekritische Sekundärliteratur zur Economic Analysis of Law. Zu den ersten Autoren gehört Edwin Baker, The ideology of the Economic Analysis of Law, in Philosophy and Public Affairs, 5, 1975, S. 3. 16 Economic Analysis of Law, 1. Aufl. Boston, 1973, S. 6. Aufl. New York 2003.

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Calabresi vertrat die an der Yale Law School entwickelte „normative“ Auffassung, welche der „positiven“ Vorstellung Posners von der University of Chicago17 gegenüberstand. Nach Calabresis Meinung besteht das Wesen der Anwendung der ökonomischen Theorie auf das Recht in der Textanalyse, um die Rechtsvorschrift zur wirksamen und effizienten Lösung eines juristischen Problems anzuwenden. Nach Posner ging die ökonomische Analyse darüber hinaus und enthülle die innerste Natur des Rechts, welches bereits für sich schon effizient sei. Daraufhin erarbeitete Calabresi eine pragmatische, funktionale und axiologische Auffassung, Posner hingegen stellte die Wissenschaftlichkeit der Economic Analysis of Law in den Vordergrund, welche unter Erneuerung des Positivismus in der Lage ist, Mechanismen zur Regelung einer funktionierenden Rechtsordnung zu beschreiben sowie durch Analogie und mit Hilfe der ideologisch neutralen Naturwissenschaften die Vorschrift zu interpretieren. Im Wesentlichen nähert sich Posner daher dem Normativismus von Calabresi18. Die Economic Analysis of Law verfolgte in dieser Phase das Ziel, Vorschriften zur Gewährleistung von Transaktionen (Handel, Zuteilungen materieller und immaterieller Ressourcen wie dem Erdboden, der Stille, der reinen Luft und Meinungsfreiheit) aufzustellen, welche die Maximierung des Gesamtwohls ermöglichen. Diese Methode setzte bei der Auflistung aller ihrer eigenen Strömungen die Knappheit der Ressourcen und die Maximierung des Wohlstands voraus. Daher gebrauchte die Methode der zweiten Generation mit einer fortgeschritteneren Technik bei der Auslegung des Rechts ökonomische Regeln und Hilfsmittel. Man neigte dazu festzulegen, ob Rechtsvorschriften korrekt und effizient angewendet werden, also das Gemeinwohl zu steigern imstande sind, und ob es möglich ist, geeignetere Vorschriften zu erlassen, um diese Ziele zu erreichen. Die zweite Generation der Methode der Economic Analysis of Law schlug vor allem vor, das Rechtsphänomen19 näher mit einer ökonomischen Logik20 zu studieren.

__________ 17 Richard A. Posner, Review of Guido Calabresi. The Cost of Accidents. A legal and Economic analysis, in University of Chicago Law Review 1970; Werner Z. Hirsh, Law and Economics: an Introductory Analysis, 1979; John MacDonald Oliver, Law and Economics, London: Allan and Unwin 1979; Heinz-Dieter Assmann, Christian Kirchner, Heinrich Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, München, 1978. 18 Roberto Pardolesi, Luci ed ombre nell’analisi economica del diritto, in Riv. dir. civ., 1982; Robert Cooter, Ugo Mattei, Pier Giuseppe Monateri, Roberto Pardolesi u. Thomas Ulen, in Il mercato delle regole. Analisi economica del diritto civile, Bologna 1999. Vgl. auch Analisi economica del diritto, Art. Digesto civile, Bd. I, Turin 1987, S. 309; Paolo Gallo, Introduzione al diritto comparato, Bd. III: Analisi economica del diritto, Turin 1998. 19 Guido Calabresi, Cosa è l’analisi economica del diritto, a. a. O. 20 George Stigler, The Law and Economics of Public Policy: A Plea to Scholaris, in Journal of Legal Studies, 1, 1972, S. 1.

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Der Beitrag der Economic Analysis of Law zur Methodologie des Steuerrechts

Posner21 widmete in seinem grundlegenden Werk zu dieser Methode ein Kapitel der „Taxation“22 und stellte darin fest, dass „die Steuergesetzgebung bisweilen dazu neigt, die Verteilung der Ressourcen oder des Wohlstands zu verändern, vor allem jedoch darauf abzielt, die Kosten für öffentliche Dienstleistungen zu decken, obwohl Verteilungs- und Neuverteilungsfolgen unvermeidlich sind“. Denn wenn der Gesetzgeber nur das Ziel von (Steuer)-Einnahmen verfolgt, dann ruft das Steuergesetz unkontrollierte außersteuerliche (ökonomische und soziale) Auswirkungen hervor. In diesem Sinne behauptete sich – unter falschen Voraussetzungen – das Primat der Wirtschaft über das Recht, welches als ein passiver Gegenstand von Analyse und eventueller Kritik verstanden wurde. In diesem Zeitraum führte man in den juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der USA Kurse über Economic Analysis of Law ein, die an die traditionellen Kurse angeglichen wurden und von der sich verschiedene Fachzeitschriften haben inspirieren lassen23. 3. Die dritte Phase (seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts) In den 80er Jahren begann eine Phase der Reifung und Konsolidierung. Sie vollzog sich durch die Ausarbeitung juristischer, ökonomisch effizienter Regeln seitens der Ökonomen, den Beitrag von Wirtschafts- und Rechtswissenschaftlern, und – in den Vereinigten Staaten – die Übernahme der Economic Analysis of Law seitens der Bundesverwaltung sowie Nominierung einiger Vertreter dieser Bewegung zum Bundesrichter. Auch die Ideologiekritik der positiven Auffassung Posners und anderer Äußerungen der Chicago Law School gehören in diesen Zusammenhang. Seit dem Aufbau der Bewegung in der Anfangszeit (60er Jahre) und der Debatte, die in der Expansionsphase der 70er Jahre zwischen der von Calabresi vertretenen normativen Schule der Yale Law School und der von Posner repräsentierten positiven Schule der Chicago Law School stattfand, gehen aus letzterer Impulse für die Reifungs- und Konsolidierungsphase (seit den 80er Jahren) hervor. Diese gestatten das völlige Entfaltung der Potentialität dieser innovationsreichen Bewegung. Coase und Director ist das Buch des aus Chicago gebürtigen David Friedmann gewidmet, der die lokale Law School repräsentiert und Schüler von Milton, des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften von 1976 ist. Es erweist sich von besonderer Relevanz für die Entwicklung der Economic Analysis of Law. David Friedman analysiert darin24 Posners Theorien, und ihm gebührt

__________ 21 Economic Analysis of Law, a. a. O.; Rodolfo Sacco, L’interpretazione, a. a. O., S. 159. 22 Thomas J. Micell, The Economic Approach to Law, in Taxas Law Review, 53, 1975, S. 776. 23 James Krier, Review of Richard Poster. Economics Analysis of Law, in University of Pennsylvania Law Review, 122, 1974, S. 1664. 24 David Friedman, Richard Poster, in The New Palgrave Dictionary of Law and Economics, New York, 1998.

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der Verdienst, diese dritte Generation begründet zu haben, die interessante Anregungen zur Vertiefung bietet. Seit den 80er Jahren wurden neue wirtschaftsrechtliche Richtungen hervorgebracht. Susan Rode Ackerman25 schreitet zur ökonomischen Neugründung des Verwaltungsrechts, von dem – wie zuvor verdeutlicht – das Finanzrecht und schließlich das Steuerrecht stammen. Besonders interessant ist die Methodenwahl von Williamson26, die Forschungen zur „law economics-organization theory“ im Hinblick auf die kontraktualistische Logik in der Ökonomie der Transaktionskosten. Die Untersuchungen der österreichisch-evolutionistischen Rechtswirtschaftler27 widerlegen hingegen von innen heraus die Kriterien wirtschaftlicher Effizienz. Diese Methode greift auf die neuen ökonomischen Verfahrensweisen wie die game theory oder die behavorial economics28 zurück, welche die Economic Analysis of Law sehr interessant machen. Die Methode der ersten Generation ging davon aus, dass der Wirtschaftswissenschaftler an der Eignung des ökonomischen Modells zur Interpretation der realen Welt zweifelte. Er versuchte daher, eine neue ohne diese Mängel zu schaffen. Diese Voraussetzung erschien bereits den Wissenschaftlern der zweiten Generation nicht überzeugend. Eine solche kritische Analyse verstärkt sich in der Phase der dritten Generation. Korrekterweise ist das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Recht im paritätischen Sinne zu verstehen. Die Methode gewährleistet die jeweils selbständige wissenschaftliche Entwicklung, so dass die Wirtschaft interessanter und das Recht effizienter wird. Das ökonomische Modell neigt dazu, sich dem Rechtsphänomen anzugleichen und die altruistische Logik, welche die Neuverteilung durch öffentliches Eingreifen in die Wirtschaft anregt, zu stärken. Die interdisziplinäre Forschung von Rechts- und Wirtschaftswissenschaft vermag die Entwicklung beider Fächer zu begünstigen. Aus der Berührung der Rechtswissenschaft mit dem ökonomischen Begriffsapparat entsteht eine immer ausgefeiltere Methodologie. Das Verhältnis zwischen juristischer und rechtswirtschaftlicher Methode ist integrativ und nicht substitutiv. Die zweite ist komplementär zur ersten. Das grundlegende Thema besteht in der Identifizierung der Modalitäten, mit denen die beiden Ansätze synergetisch wirken können. Recht und Wirtschaft stehen im Einklang. Nach einem halben Jahrhundert der Analyse des Verhältnisses zwischen dem ökonomischen und juristischen

__________ 25 Progressive Law and Economics – And the Administrative Law, in Yale Law Journal 98, 1988. 26 Economic Organization. Firms, Markets and Policy Control, New York 1986. 27 Mario Rizzo, Uncertainty, Subjectivity and the Economic Analysis of Law; Time, Uncertainty and Disequilibrium, hrsg. von Rizzo, Lexington 1979; A. Friedrich Hayek, Individualism and Economic Order, London u. Henley 1949: Israel M. Kirzner, Competition and Entrepreneurship, University of Chicago 1973. 28 Behavorial Law and Economics, hrsg. von Jeffrey J. Rachlinski von der Cornell University, in Economic Approaches to Law Series, Cheltenham 2009.

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Der Beitrag der Economic Analysis of Law zur Methodologie des Steuerrechts

Modell an den Universitäten von Yale und Chicago bleibt jedoch noch viel zu erforschen. Das Recht erscheint effizienter, und die Wirtschaft interessanter. Die Rolle der Economic Analysis of Law beschäftigt die allgemeine Auslegungstheorie, und die Lösungen ändern sich infolge der Überzeugung vom Inhalt des Auslegungsvorgangs. Die Analyse, welche das Haften an der wörtlichen Bedeutung der Vorschrift widerlegt, und jedes dogmatische Axiom verfolgen die Absicht, den metajuristischen Faktor aufzuwerten, dessen Optionen die Lösungen beeinflussen. In diesem Sinne entwickelt sich der traditionelle hermeneutische Ansatz weiter. Für den Gesetzgeber fungiert das rationale Recht als Modell für das positive Recht, und für den Interpreten29 als Quelle zur Verdeutlichung des Textes. Die Economic Analyis of Law greift durch ihren Mechanismus des Eindringens in das Recht einige Aspekte des vernunftrechtlichen Maßstabs auf. Gerade vom rationalen Recht her müsste sich das Prinzip ableiten, nach dem kein juristischer Maßstab anwendbar ist, wenn er dem Rechtssubjekt, auf die sich die Vorschriften auswirken, nicht gestattet, Entscheidungen zu treffen. Der Konzeptualismus betrachtet nicht die Zielsetzung der Institute und die soziale Realität, auf die das Recht wirkt. Und in diesem Sinne unterscheidet er sich von der Economic Analysis of Law, deren primäre Voraussetzung die Rationalität ist und deren Hauptziel die Verwendung des aus wirtschaftswissenschaftlichen Studien gewonnenen Begriffsapparates, um die Gründe für die Existenz der Vorschrift zu verstehen. Der wirtschaftsrechtliche Ansatz vermag jedenfalls die Kenntnis der Gründe dafür, dass die Rechtsordnung eine bestimmte Struktur angenommen hat, zu fördern. Diese Methode überprüft, ob die Rechtsvorschrift dazu geeignet ist, die Ziele zu erreichen, welche der Gesetzgeber sich gesetzt hat. Sie erfüllt auch die Funktion, das Verhalten der Rechtssubjekte zu beeinflussen, um die Erreichung jener Ziele zu garantieren. Deshalb erleichtert das ökonomische Modell in seiner Struktur dem Interpreten die Voraussicht, wie die Vorschrift sich auf das Verhalten des Rechtssubjekts auswirkt, für die sie bestimmt ist. Durch diese Methode versteht der Interpret auch die etwaige Heterogenese der normativen Zwecke. Es ist leichter, einem Instrument einen festen Sinn zuzuweisen, wenn man die Verwendung kennt, für die es bestimmt ist. Daher bestimmt sich das Verhältnis zwischen dieser Methode und der Ökonomie nicht dadurch, dass die juristische Forschung eine beliebige, von der Wirtschaftswissenschaft erarbeitete Methode verwendet. Diese Methode nimmt vielmehr die Herausforderung an, eine ökonomische Theorie zu gebrauchen, um den Inhalt der Rechtsvorschriften zu bilden und kennenzulernen.

__________ 29 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin/Heidelberg/New York 1991; Rolf Wank, Die Auslegung von Gesetzen. Eine Einführung, Köln 2001.

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Die Ziele lassen sich ermitteln, indem man das gesetzliche Instrument der Wirtschafts-30 und Sozialpolitik in Betracht zieht. Die Kenntnis der vom Gesetz verfolgten Ziele wird durch die Analyse der möglichen Wirkungen31 durch seine Anwendung ermöglicht. Zur Erreichung der für die Gesellschaft nützlichen Ziele ist die Mitwirkung des Richters erforderlich. Sie vollzieht sich durch sachkundige, vorhersehbare und einheitliche Entscheidungen, die die Wirkungen berücksichtigen sollen32. Der Handelsrechtler Francesco Denozza33, der bei der Anwendung der Postulate der Economic Analysis of Law auf das Wirtschaftsrecht stets aufmerksam ist, beginnt mit der Feststellung, dass die Wirkungsanalyse der Vorschriften zur Kenntnis der Ziele ein wesentlicher Bereich der Tätigkeit des Juristen als „Helfer des Gesetzgebers“, als „Kritiker des Gesetzes“ und als „Interpret des Gesetzes“ darstellt. Er bemerkt jedoch, dass dessen ungeachtet die bekundete Aufmerksamkeit seitens der Juristen zum allgemeinen Thema der Bewertungskriterien im Hinblick auf die Wirkungen der Vorschriften gering war. Letztere müssen, unter Ermittlung der Wirkungen, mit Hilfe der verschiedenen Methodologien interpretiert werden. Es bedarf, dem Interpreten eine Orientierung zu geben, damit er positive oder negative Urteile über die durch die Vorschriften ermöglichten Wirkungen formulieren kann. Die Economic Analysis of Law beschränkt sich nicht darauf, die Verbindungen des Rechts mit der Wirtschaft aufzuzeigen. Auch die Sozialwissenschaften gestatten dem Interpreten, seine Funktion korrekt zu erfüllen. Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Soziologie bei den Juristen ein beachtliches Interesse ausgelöst. Durch die Vermittlung des Interpreten drückt das Gesetz ein in der Gesellschaft verbreitetes Streben aus und bezieht dabei die Kriterien des guten Glaubens, der Sitte, Schuld, des Unrechts und des Missbrauchs mit ein. Das volle Verständnis der Rechtsvorschrift ergibt sich durch Interpretation des Sozialanspruchs, dessen Adressat der Gesetzgeber ist. Ökonomische Analyse, Dogmatik und soziale Realität vertreten Kriterien von ursprünglicher „Gültigkeit“, indem sie Lösungen fordern, die ihnen suggeriert werden durch die bestmögliche Verteilung der Ressourcen (eines öffentlichen Gutes), durch das sich unterhalb der Bewertungsanalyse entwickelnde Wissen des Juristen, und durch den Sozialanspruch, auf den sich jede Bewertung gründet34. Aber das soziale Bewusstsein bildet keinen Leerraum, der mit der Ideologie des Interpreten auszufüllen ist. Sprachanalyse und Argumentationslehre geben

__________ 30 Felix S. Cohen, Ethical Systems and Legal Ideals. An Essaay on the Foundations of Legal Criticism, New York 1933 (Cornell University). 31 Karl N. Llewellyn, Some Realism about Realism. Responding to Dean Pound, in Harvard Law Review 44, 1930–31, S. 1222. 32 Michele Abrescia, Einleitung zum Band von David D. Friedman, L’ordine del diritto. Perché l’analisi economica può servire al diritto, a. a. O., S. 25, 39, 583. 33 Norme efficienti. L’analisi economica del diritto, Mailand 2002, S. 2. 34 Norberto Bobbio, Über den Begriff der Natur der Sache, in Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1958, S. 305.

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Entstellungen seitens des Interpreten, der sich der Rolle der Soziologie voll bewusst werden muss, nicht nach. Deshalb ist die Forschung, unter Berücksichtigung der Wirkungen und der nicht nur ökonomischen, sondern auch sozialen Zwecke von grundlegender Bedeutung. Letztere stehen in Wechselwirkung zueinander, um die inhaltliche Kenntnis der Rechtsvorschrift zu ermöglichen. Diese Forschungen sind keine Methoden, sondern Phasen eines einzigen Verfahrens, dem sich die Methode der Economic Analysis of Law ganz oder teilweise einfügt. Zwar ist sie noch nicht vollkommen effizient, aber gegenwärtig fehlen alternative Methoden. Friedman bestimmt die Rolle der Economic Analysis of Law neu, was durch die jüngste rechtswirtschaftliche Literatur rezipiert wird. Dabei wird die Debatte zwischen den Schulen von Yale und Chicago ihrer Inhalte entleert. Die Methode der dritten Generation entfernt sich nicht weit von derjenigen der zweiten, gebraucht jedoch neuere Verfahren. Friedman lehnt sich an Coase an, aber drückt eine fortschrittlichere Auffassung der Economic Analysis of Law aus, die man als post Chicago ansehen kann. Es ist ein Irrtum zu denken, dass die ökonomische Rechtsanalyse ausschließlich in Ländern mit common law-Ordnungen, in denen Recht von Richtern gebildet wird, nützlich sein könne. Denn nach jenen ersten Jahrzehnten wurde sie von der Rechtslehre der Länder mit civil law35-Ordnungen rezipiert. Die Economic Analysis of Law verbreitete sich in den römisch geprägten Rechtsordnungen des europäischen Kontinents, bei denen die Hermeneutik der zentrale Punkt36 ist, und infolgedessen die Aufgabe des Juristen in der Anwendung einer korrekten Interpretationsmethode besteht. Faszinierend war für die Gelehrten des römischen Rechts37 der ökonomische Ansatz mit Hilfe der Economic Analysis of Law, welche in den wirtschaftlichen und sozialen Zielsetzungen des Gesetzes das Instrument sieht, um die Bedeutung des Gesetzestextes zu bestimmen.

II. Die vorhergehende Ausarbeitung der wirtschaftsrechtlichen Methode in Europa (erste Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts) 1. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise in Deutschland Auch in einem vom römischen Recht geprägten System, das nicht auf die Regeln des „Präzedenzfalles“ gegründet ist und bei dem eine richterlichen Entscheidung allenfalls bei den interessierten Rechtssubjekten Signale auslöst,

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35 Gary Minda, Teorie postmoderne del diritto, Bologna 2001. 36 Robert Cooter/James Gordley, Law and Economics, in Inter. Rev. Law and Econ., 1991. 37 Guido Alpa, Franco Pulitini, Stefano Rodotà und Franco Romani (Hrsg.), Interpretazione giuridica e analisi economica, Mailand 1982.

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hatten die europäischen Juristen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Jurisprudenz herausgestellt, wenngleich mit Bezug auf den spezifischen Bereich des Finanzrechts im Allgemeinen, und des Steuerrechts im Besonderen. In Europa begann in jener Epoche eine interessante wissenschaftliche Entwicklung. Diese galt den Beziehungen zwischen der wirtschaftlichen Untersuchungsmethode und der finanzrechtlichen Forschung, da letztere direkt mit der ökonomischen Disziplin der Finanzwissenschaft verbunden war. Als bedeutsam erweist sich der Betrag von Gesetzgebung und Rechtslehre in Deutschland und Spanien, sowie die integralistische Auffassung der Schule von Pavia und der teleologisch-ökonomischen Ansichten der neapolitanischen Schule. Das erste Handbuch des Finanzrechts in deutscher Sprache (Grundriss des Finanzrechts) wurde 1906 vom Österreicher Myrbach Rheinfeld verfasst. Grundlegend in Deutschland ist der Beitrag von Rudolf von Ihering38 aus dem Jahre 1893 zur teleologischen Rechtsauffassung. In diesem theoretischen Kontext bestimmte die Reichsabgabenordnung von 1919 in § 1: „Bei Auslegung der Steuergesetze sind der Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“39 Deshalb ist dort, ein halbes Jahrhundert vor der Entstehung der Economic Analysis of Law in den Vereinigten Staaten, von der Gesetzgebung her die wirtschaftliche Betrachtungsweise des Steuergesetzes entstanden. Die zwanziger Jahre in Deutschland bildeten das erste, mit Recht als goldenes Jahrzehnt bezeichnete der neuen Wissenschaft des Steuerrechts als Hauptspezialbereich des Finanzrechts. Klaus Tipke40 hebt hervor, dass nach 1933 infolge der Rassengesetze Deutschland seine bedeutende Position verlor, die es bei der systematischen Interpretation des Finanzrechts erreicht hatte. § 3 des ersten Kapitels der Abgabenordnung bestimmt, dass „die Erzielung von Einnahmen“ (Besteuerungsziel) „Nebenzweck sein [kann]“; infolgedessen wird das wirtschaftliche und soziale Ziel (außersteuerlich) im allgemeinen als das primäre betrachtet. Das deutsche BVerfG41 hat erlassen, dass die Verfassung die in der Abgabenordnung enthaltene Steuerrechtsauffassung aufnimmt und dass das Steuergesetz verfassungskonform ist, wenn es sich zur Verfolgung wirtschafts- und sozialpolitischer Ziele eignet, die mit den von der Verfassung garantierten Werten zusammenfällt.

__________ 38 Der Zweck im Recht, Leipzig 1893 [it. Übers. Lo scopo del diritto, Turin 1972]. 39 Klaus Tipke/Joachim Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., Köln 2008, S. 155. 40 Die Entwicklung von Forschung und Lehre im Steuerrecht, in Steuer und Wirtschaft 1981, Nr. 3. 41 Andrea Amatucci, Konzepte der Besteuerung in Italien und in Deutschland, in Steuer und Wirtschaft 2007, Nr. 3; La ratio economica del concetto giuridico di tributo, in Riv. dir. trib. internaz. 2007, S. 37; Lerke Osterloh, Il concetto di tributo, la capacità economica e l’interpretazione economica. Concetti base del diritto fiscale nella giurisprudenza della Corte Costituzionale federale tedesca, in Riv. dir. trib. internaz, 2007, S. 17.

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2. Die Gegenüberstellung von integralistischer und substantieller Schule in Italien In Italien war man in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts davon überzeugt, dass das Finanzrecht unter Zuhilfenahme der Finanzwissenschaft erforscht werden müsse; allerdings diskutierte man über die Art und Weise, in der die Kooperation zwischen beiden Wissenschaften zu erfolgen habe. Benvenuto Griziotti42, Begründer der Schule von Pavia, trug nach Ansicht von Francesco Forte43 dazu bei, das Fundament der Economic Analysis of Law fünfzig Jahre vor ihrer Entstehung in den USA gelegt zu haben. Er erarbeitete die Methode der finanzrechtlichen Forschung, mittels derer die juristischen, ökonomischen, technischen und sozialen Fragen des Finanzphänomens gleichzeitig von einem einzigen Wissenschaftler, dem „Finanziere“, untersucht werden sollen, der sowohl Jurist als auch Ökonom, Techniker und Soziologe ist. Nach Griziottis Meinung besteht die interdisziplinäre Arbeit in der vollständigen Untersuchung der Finanzgegebenheiten, und diese veranlasste ihn dazu, die Methode der funktionalen Auslegung der finanzrechtlichen Vorschriften auszuarbeiten. Es ist ein allgemeines Prinzip, das jeden juristischen Zweig betrifft, wobei das Handels- und Verwaltungsrecht für die ökonomische Rechtsanalyse besonders geeignet sind. Die teleologische Deutung, welche den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck in Betracht zieht, ist ein grundlegender Bestandteil von Griziottis funktionaler Interpretation, aber erschöpft sie nicht. Das ökonomische Element der von Griziotti erarbeiteten funktionalen Analyse ist hinsichtlich der Methodologie rechtswissenschaftlicher Forschung das „principio della realtà economica“. Die juristischen Institute müssen auf ihre Substanz hin überprüft werden. Das ist Griziottis bemerkenswerter Beitrag, noch bevor dieses Prinzip von der Verfassung aufgenommen wurde. Er griff auf die angleichende Interpretation zurück, auch wenn der Grundsatz der wirtschaftlichen Realität ausreichend ist, um das juristisch nicht streng definierte „diritto economico“ zu identifizieren. Die Schule von Pavia entstand, wie diejenige von Chicago, aufgrund der Anregung durch eine Ideologie. Griziottis Auffassung des Finanzphänomens war eine politische, während die seines Lehrers Luigi Einaudi und von De Viti De Marco sich als eine wirtschaftliche erwies, und diejenige zahlreicher Jünger von Walfredo Pareto eine soziologische war. Einaudi befürchtete, dass der Wirtschaftswissenschaftler sich auf den verschlungenen Wegen der von den einzelnen Gesetzen vorgesehenen konkreten Fällen verirren würde und die Lösung der grundlegenden Probleme aufgäbe. Griziottis Studien richteten sich nach dem Modell des intervenierenden Staates, und daher vertrat er auf der Basis einer ökonomischen Analyse der Steuergesetze deren entsprechende und angleichende Interpretation. Einaudi, der zum Modell eines liberalen Staates

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42 Principi di politica, diritto e scienza delle finanze, Padua 1919; Sul metodo di ricerca e critica negli studi finanziari, in La riforma sociale, Nr. 2, 1933, wieder veröffentlicht in Studi di scienza delle finanze e diritto finanziario, II, Mailand 1956, S. 94. 43 Il contributo seminale di Benvenuto Griziotti all’analisi economica del diritto, in Riv. dir. fin. sc. fin. 2006, I, S. 435.

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neigte, befürwortete Griziottis Thesen nicht ganz. In der Tat bildete die wirtschaftliche Rechtsanalyse von Griziotti die Frucht einer glänzenden Eingebung, aber enthielt wie jede Pionierleistung einige Mängel: Er ging nämlich von einer Ideologie als Voraussetzung aus, unterschied nicht genau den Gesichtspunkt de jure condendo von demjenigen de jure condito, und akzeptierte zudem nicht mit Stringenz den Rechtspositivismus und den Gesetzesvorbehalt. Oreste Ranelletti veröffentlichte in den Jahren 1912 und 1915 in Neapel ein grundlegendes Werk über das Verwaltungsrecht44 – ein Fach, das er dann an der hiesigen Universität Federico II lehrte. In der Folgezeit publizierte er dann als Dozent für „Diritto finanziario e scienza delle Finanze“ an der Staatlichen Universität Mailand 1928 dort die dritte Auflage des ersten italienischen Handbuchs des Finanzrechts45. Obwohl er darin das Zusammengehen der juristischen Forschung mit der ökonomischen ausschloss, betonte er deren enge Verbindung. In der Tat präzisierte er, dass die Wirtschaftswissenschaft „Grundlage und Voraussetzung“ für die Studien des Finanzrechts sein muss. Dies bedeutet, dass die Auffassung Ranellettis, wie auch die zeitgenössischen Beiträge von Enno Becker und Benvenuto Griziotti, das auf ökonomischen Grundlagen errichtete finanzrechtliche System darstellen und damit die Entstehung der Economic Analysis of Law vorwegnehmen. Daraus folgt, dass die juristische Forschung sich zwar nicht mit der ökonomischen vereinigt, aber letztere angemessen berücksichtigen muss. Deshalb stellte sich Ranelletti, im Gegensatz zu Griziotti, einen Wirtschaftsrechtler vor, der Rechtswissenschaften studiert oder aber eine juristische Methode gebraucht hätte. An der Juristischen Fakultät der Universität Neapel Federico II bemühten sich in den 30er, 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zuerst Francesco D’Alessio46 und dann Gustavo Ingrosso47, unter Anlehnung an Ranelletti, um die Festigung der selbständigen und einheitlichen Ordnung des Finanzrechts, welches sich ganz auf eine zusammenhängende ökonomische Disziplin gründet: die Finanzwissenschaft. Seit D’Alessio und Ingrosso werden an dieser Fakultät fortlaufend eine große Zahl von Lehrbüchern des Finanzrechts publiziert. Und mit ihnen entwickelte sich die zu Beginn von Ranelletti ausgearbeitete Methodologie weiter. Bemerkenswert ist der Beitrag zur Entwicklung der Methodologie von Vincenzo Romanelli Grimaldi48 in seiner Einführung, die 1960 zur Vorlesung „Scienza delle finanze e diritto finanziario“ an der gleichen Juristischen Fakultät stattgefunden hat. Er ermittelte nicht, wie Griziotti, ein einziges, unter juristischen und ökonomischen Gesichtspunkten erforschtes „Finanzphänomen“, sondern

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44 Principi di diritto amministrativo. Introduzione e nozioni fondamentali, Bd. I, in Scienze giuridiche e sociali, Neapel 1912; Del diritto amministrativo in generale. L’organizzazione della Pubblica Amministrazione. L’azione amministrativa, Bd. II, a. a. O., Neapel 1915. 45 Diritto finanziario, 3. Aufl., Mailand 1928. 46 Corso di diritto finanziario, Neapel 1937. 47 Diritto finanziario, Neapel 1954. 48 Metodologia del diritto finanziario, in Rassegna di diritto pubblico 1960.

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zwei verschiedene: ein juristisches und ein ökonomisches. Gleichwohl bedarf die Erforschung des juristischen Phänomens der Kenntnis des ökonomischen und umgekehrt. Die juristische Forschung, die eine solche bleibt, muss die Finanzwissenschaft quantitativ und nicht qualitativ höher einschätzen als die Verwendung anderer metajuristischer Wissenschaften. Seiner Ansicht nach müssen zum Zwecke einer korrekten Auslegung der Normen infolgedessen die ökonomischen Hilfsmittel so auf das Finanzrecht angewendet werden, dass die Rechtsnatur derselben Interpretation nicht verschleiert wird. Die nachfolgenden Beiträge aus den 60er und 70er Jahren von den Dozenten des gleichen Faches an derselben Fakultät der Universität Neapel „Federico II“, Vincenzo Sica49 und Giuseppe Abbamonte50, sind darauf gerichtet, die Verfassungsgrundlage dieser Methodologie aufzuzeigen. Sica stellte die verfassungsgemäße Rolle des Staatshaushaltes als Instrument der Wirtschaftsplanung heraus, und Abbamonte analysierte besonders den Auslegungsmodus der Finanzrechtsvorschrift als Wirtschaftsobjekt sowie die Zielsetzung der Neuverteilung, die das Gesetz durch die Steuerprogression und die Sozialausgaben auf der Basis verfassungsmäßiger Prinzipien verfolgen muss. Die Forschungen von D’Alessio, Ingrosso, Romanelli-Grimaldi, Sica und Abbamonte setzten keine Ideologie voraus. Sie betrachteten lediglich die Fragen de jure condito und waren dem Positivismus und dem Prinzip des Gesetzesvorbehalts verpflichtet. Dabei unterstrichen sie den Rechtsinhalt, gemäß der nachfolgenden Logik von Arthur Kaufmann51. Die neapolitanische Schule widerlegte die verständlichen, in Übermaß vorhandenen Fehler in der wegbereitenden Theorie Griziottis, die jedenfalls einen wertvollen Ausgangspunkt darstellt. Darüber hinaus vertiefte sie weiter die teleologisch-ökonomische Methode52, die durch die Economic Analysis of Law vervollständigt wurde, und hat die Vernunft53 ihrer Existenz zur Geltung gebracht. Ferner widerlegte die neapolitanische Schule auch die Fehler wegen Mangels an Formalismus, der jegliche Bedeutung des ökonomischen Inhalts der Steuervorschrift leugnet. Mit Recht bemerkt Gustavo Zagrebelsky54, dass eine sich vollständig in den

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Bilancio dello Stato e programmazione economica. Profili giuridici, Neapel 1964. Principi di diritto finanziario, Neapel 1975. Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1997. Franco Fichera, Imposizione ed extrafiscalità nel sistema costituzionale, Neapel 1973; Raffaele Perrone Capano, L’imposizione e l’ambiente, in: Trattato di Diritto tributario, hrsg. von Andrea Amatucci, [Jahrbuch] Padua 2001, S. 121; Manlio Ingrosso, Divisione e classificazione nella Scienza giuridica finanziaria, Neapel 1977; Enzo Pace, La legge finanziaria, Neapel 1983; Andrea Amatucci, L’interpretazione della norma di diritto finanziario, Neapel 1965; L’interpretazione della legge tributaria, in Trattato di Diritto tributario, a. a. O., S. 255; Funzioni e disciplina del bilancio dello Stato, Neapel 1970; L’ordinamento giuridico della finanza pubblica, 8. Aufl., Neapel 2007. 53 Der hl. Thomas von Aquin, Professor für Teleologie an der Universität Neapel Federico II von 1272 ab, legte präzise dar, dass das Gesetz nicht das Recht selbst ist, sondern eine gewisse Vernunft des Rechts (Summa Theologica I/II: questio 57, articulus 1). 54 Il diritto mite. Legge, diritto, giustizia, 7. Aufl., Turin 1992.

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Bereich der Rechtsformeln einschließende Rechtslehre, ohne sich der Phänomene bewusst zu werden, die die normative Kraft lenken, „extravagante“ Werke „reiner Juristen“ hervorbringt, die ohne Interesse sind. Die Erforschung der ökonomischen Ziele der Finanznorm, und daher auch der Steuernorm, erlaubt es, deren reale Bedeutung und Anwendbarkeit auf konkrete Fälle zu verstehen, sowie durch Verifizierung ihrer Wirkungen auf effiziente Weise die Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Im Europa der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Juristen, bezüglich der vom Finanzrecht im allgemeinen und vom Steuerrecht im besonderen abweichenden Disziplinen, mit dogmatischen Forschungen befasst und blieben gleichgültig gegenüber den Erklärungen des Rechtsphänomens durch die Methode der Economic Analysis of Law. Nur einige von ihnen stellten Fragen nach der vermeintlichen konservativen Natur dieser Methode, die hier als kulturelle Haltung verstanden wurde, aber dagegen in den USA tiefe Wurzeln hatte.

III. Die Economic Analysis of Law knüpft an den in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den USA entstandenen Realismus an 1. Der Realismus in den USA und in Schweden Der Interpret erlebt das Gesetz im eigenen Geiste neu, um es zu verstehen. Die Wärme des Lebens begleitet die Tätigkeit sowohl des Gesetzgebers als auch des Interpreten55, welcher die Rechtsvorschrift durch Vorstellungsformen rekonstruiert, die Quellen oder Gegenstand juristischer Bewertungen sind56. Die Auslegung erkennt die dem Gesetz zuzuordnende Bedeutung, welche das Ergebnis, und nicht die im Voraus gebildete Wirkung der Tätigkeit des Interpreten ist57. Das Problem der Gesetzestreue des Interpreten kann man entweder „realistisch“ lösen, und bezeichnet dies als „nicht kognitivistisch“, das heißt „skeptisch“ und „wirklichkeitsgetreu“, oder „formalistisch“, also „kognitivistisch“ betrachtet, oder aber „eklektisch“ in einer „intermediären“ Logik. Auf der Grundlage einer realistischen Auffassung, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entstand, besteht die Interpretation in einer Tätigkeit der Erkenntnis. Als solche ist sie auch die Tätigkeit eines starken Willens, die stets eine Entscheidung herbeiführt, bzw. eine auch unbewusste Wahl von Seiten des Interpreten. Die juristische Über-

__________ 55 Gino Gorla, L’interpretazione del diritto, Mailand 1941, S. 33. 56 Emilio Betti, L’interpretazione della legge e degli atti giuridici, in Teoria generale e dogmatica, Mailand 1949, S. 3. 57 Giovanni Tarello, L’interpretazione della legge, Mailand 1980, S. 63.

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legung muss ein wirksames Mittel zur Kontrolle der Bewertungstätigkeit des Richters bilden58. Der Interpret fällt Werturteile59, um im Rahmen des Erkenntnisprozesses die im Gesetzestext enthaltenen Werturteile aufzunehmen, damit er die Bedeutung des Gesetzes erklären kann. Deshalb hat die Auslegung eine schöpferische Natur60. Gemäß dem technologischen Realismus, der eine funktionale Konzeption des positiven Rechts vertritt, müssen die Rechtsstudien theoretisch und praktisch sein. Im Lichte des technologischen Realismus bilden ferner die Regeln, Werte und Auffassungen des positiven Rechts das fortdauernde Ergebnis der Tätigkeit, welche den wirtschaftlich und technologisch fortgeschrittenen Teil der Gesellschaft betrifft61. Gegenwärtig ist die Überzeugung verbreitet, dass die Bedeutung des Textes nicht eindeutig ist62. Diese Überzeugung ist zweifach motiviert. Vor allem erweist sich die Auslegung des Gesetzes von Natur aus als ein Entscheidungsverfahren. Es vollzieht sich keine Bedeutungsanalyse eines Gesetzes, sondern es wird begrifflich „konstruiert“, indem man seine Bedeutung festlegt. Der Gesetzestext enthält bestimmte Anregungen, auf welche der Interpret spontan reagiert63.

__________ 58 Karl Llewellyn, Some Realism about Realism, a. a. O., S. 1239; The Case Law System in America, übers. von Karl Nickerson, mit Einl. von Paul Gewirtz, University of Chicago, 1989; vgl. John H. Schlegel, American Legal Realism and Empirical Social Science, in Studies in Legal History, University of North Carolina 1995 (man überprüfe darin bes. den Beitrag von William Underhill Moore); Vgl. Wesley Alba Surges und Samuel Clark, Legal Theory and Real Property Mortgages, 37 Yale L. J. 691, 1928; Hermann Oliphant, A Return to Stare Decisis, in American Bar Association Journal 14, 1928. 59 Luigi Caiani, I giudizi di valore nell’interpretazione giuridica, Padua 1954; Giovanni Tarello, Orientamento analitico – linguistica e teoria dell’interpretazione, in Riv. trim. dir. proc. civile, 1971. 60 Lina Bigliazzi-Geri/Umberto Breccia/Francesco D. Busnelli/Ugo Natoli, Il sistema giuridico italiano. I, Norma, soggetti e rapporto giuridico. 1986, S. 58. 61 Felix S. Cohen, Transcendental Nonsense and the Functional Approach, in Columbia Law Review, 35, 1935, S. 809. 62 Patrick Nerhot, Il diritto, lo scritto, il senso, 1992, S. 47; Riccardo Guastini, Le fonti del diritto e l’interpretazione, in Trattato di diritto privato, hrsg. von Judica und Zatti, S. 393; Gaetano Carcaterra, L’argomentazione nell’interpretazione giuridica, in Ermeneutica e critica, Kgr.Ber. 135 der Accademia dei Lincei: Rom, 1998, S. 109. 63 Claudio Luzzati, La vaghezza delle norme. Un’analisi del linguaggio giuridico, Mailand 1990; Mario Jori, Semiotica giuridica, in M. Jori u. A. Pintore, Manuale di teoria generale del diritto, Turin, 2. Aufl. 1995, S. 305; Claudio Luzzati, L’interprete e il legislatore, Mailand 1999; Pierluigi Chiassoni, L’ineluttabile scetticismo della „Scuola genovese“, in P. Comanducci u. R. Guastini (Hrsg.), Analisi e diritto 1998. Ricerche di giurisprudenza analitica, Turin 1999, S. 21 ff.; Paolo Comanducci, L’interpretazione delle norme giuridiche: la problematica attuale, in M. Bessone (Hrsg.), Interpretazione e diritto giudiziale. I: Regole, metodi, modelli, Turin 1999, S. 9 ff.; Frederick Schauer, Le regole del gioco. Un’analisi filosofica delle decisioni prese secondo le regole nel diritto e nella vita quotidiana, Bologna 2000; Mauro Barberis, Lo scetticismo immaginario, in P. Comanducci u. R.Guastini (Hrsg.), Ana-

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Jedes Gesetz ist problematisch, weil es mindestens zwei verschiedene Auslegungsmöglichkeiten gibt: auf Grund der Vielfalt der unter sich konkurrierenden hermeneutischen Methoden64, wegen der verschwommenen Rechtssprache infolge begrifflicher Unbestimmtheit sowie semantischer und pragmatischer Mehrdeutigkeit65, und wegen des systematischen Zusammenhangs, in den die Gesetze eingefügt sind, welcher sich auf die einzelnen Gesetzestexte auswirkt66; darüber hinaus auch wegen der dogmatischen Konstruktion von Seiten der Lehre67, wegen der evolutionären Auslegung, die die Bedeutungsveränderung des Gesetzestextes im Laufe der Zeit fasst, und schließlich wegen des Pluralismus der ethisch-normativen Werte, hervorgerufen durch den Gebrauch der hermeneutischen Methoden und der unterschiedlichen Verwendung ein und derselben Methode68. Aus der realistischen Konzeption folgt die korrekte Methode, welche den Interpreten zur Wahl einer bestimmten Bedeutung veranlasst69. Der intuitionistische Realismus überzeugt deshalb nicht, da gemäß ihm die gesetzgebende Tätigkeit stark durch die Ermittlung von Umgehungstaten bedingt sei und nicht auf die Realisierung der Rechtssicherheit, sondern der Gerechtigkeit im Einzelfall abzielen müsse. Außerdem dürfte nach dieser Ansicht die Rechtslehre nicht zukünftigen Urteilen zuvorkommen und die Interpretationsverfahren eine „Nebel“-Funktion erfüllen70. Die realistische Auffassung ist zwar begründet, darf sich aber nicht als „nicht kognitivistisch“ erweisen. Denn die Kenntnis schließt die vom Realismus hervorgehobene schöpferische Tätigkeit mit ein. Anders ist der Inhalt des nordischen Realismus71, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand und sich in Dänemark, aber namentlich in Norwegen entwickelte. Dieser Realismus unterscheidet sich jedoch vom berühmten skandinavischen Realismus aus Schwe-

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lisi e diritto 2000. Ricerche di giurisprudenza analitica, Turin 2001, S. 1; Pierluigi Chiassoni, Archimede o Eraclito? Sul primato teorico dello scetticismo, in Materiali per una storia della cultura giuridica, Turin 2001, S. 31. Adolf Merkl, Sul problema dell’interpretazione, in A. Merkl, Il duplice volto del diritto.Il sistema kelseniano e altri saggi, Mailand 1987, S. 255 ff.; Robert Alexy/Ralf Dreier, Statutory Interpretation in the Federal Republic of Germany, in N. D. MacCormick u. R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes. A Comparative Study, Dartmouth 1991, S. 73. Claudio Luzzati, La vaghezza delle norme. Un’analisi del linguaggio giuridico, a. a. O.; Timothy Endicott, Vagenuess in Law, Oxford University 2000. Pierluigi Chiassoni, La giurisprudenza civile. Metodi di interpretazione e tecniche argomentative, Mailand 1999, S. 597; Vito Velluzzi, Interpretazione sistematica e prassi giurisprudenziale, Turin 2002, S. 123. Riccardo Guastini, Realismo e antirealismo nella teoria dell’interpretazione, in Ragion Pratica, 17, 2001, 43; Riccardo Guastini, Variaciones sobre temas de Carlos Alchourrón y Eugenio Bulygin. Derrotabilidad, lagunas axiológicas y interpretación, Juni 2006, §§ 1–3. Robert Alexy/Ralf Dreier, Statutory Interpretation in the Federal Republic of Germany, a. a. O., S. 78; Robert Alexy, Teoria dell’argomentazione giuridica. La teoria del discorso razionale come teoria della motivazione giuridica, Mailand 1998, Kap. 1. Pierluigi Chiassoni, Tecnica dell’interpretazione giuridica, Bologna 2007. Jerome Frank, Courts on Trial. Myth and Reality in American Justice, Princeton University 1949, S. 12. Alessandro Sepe, Realismo nordico e diritti umani, Neapel 2008.

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den. Ungefähr ein Jahrhundert trennt sie voneinander. Der nordische Realismus zeigt eine tiefe Wechselwirkung zwischen Rechtstheorie und Rechtspraxis und gibt den praktischen Erörterungen in der juristischen Beweisführung breiten Raum. Dagegen gehört der skandinavische Realismus wegen der Beachtung, die er der Aktualität und Materialität des Rechts schenkt, jenseits der die soziale Realität und Rechtspsychologie verdunkelnden Normativität und begrifflichen Formen, zum weiten Phänomen der Auflehnung gegen den Formalismus. 2. Die Unbegründetheit des Formalismus und der intermediären Konzeption Die andere, formalistische Konzeption, erweist sich infolgedessen als unbegründet. Nach dieser Auffassung ist die Interpretation eine Tätigkeit der Erkenntnis, die im Herausfinden der „wahren“ (eindeutigen und bestimmten) Bedeutung des Gesetzes besteht und welcher ihrerseits der „wahre“ Willen oder die „wahre“ Absicht des Gesetzgebers entsprechen. Der Rechtsformalismus repräsentiert das positive Recht als zusammenhängendes und vollständiges System72. Er unterscheidet sich durch den Deskriptivismus der in den Gesetzestexten zum Ausdruck kommenden Regeln, Werten und Auffassungen sowie durch seine Überzeugung, dass man sich zur Vermeidung subjektiver Werturteile streng an die vom Gesetzgeber gewählten sprachlichen Formulierungen halten müsse73. Daraus folgen ein theoretischer Interpretationsformalismus, der mechanisch und nicht wertend ist74, und ein normativer Interpretationsformalismus75, welcher dem Richter keine Bewertung gestattet. Es sind der Automatismus der Rechtselemente und die methodologische Unabhängigkeit der Rechtslehre, die den Formalismus charakterisieren76. Diese Methode, welche im kognitivistischen Sinne der Treue zu einer gänzlich und eindeutig vor der Interpretation gebildeten Bedeutung verstanden wird, gelangt zu einer irrealen Vorstellung. So gesehen begeht der Formalismus einen Fehler dadurch, dass er bei der Rechtsauslegung zu wenig ökonomische Begriffe verwendet, während die Paveser Schule dies im Übermaß tut. Deshalb ist der formalistische Standpunkt „ein transzendentaler Unsinn“ zum Schaden der Gesellschaft, da er zu vage und fern jedem empirischen Bezug ist. Die Rechtsmethodologie muss durch Beiträge der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bereichert werden. Die im Wesentlichen korrekt verstandene

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72 Grant Gilmore, The Ages of American Law, Yale University 1977 [ital. Übers. von I. Mattei (hrsg. von A. Gambaro u. U. Mattei), Le grandi epoche del diritto americano, Mailand 1988]. 73 Riccardo Guastini, Dalle fonti alle norme, Turin 1990; Grant Gilmore, The Ages of American Law, a. a. O. 74 Herbert L. A. Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, Kap. 2 [ital. Übers. Il concetto di diritto, Turin 1998]. 75 David B. Lyons, Constitutional Interpretation and Original Meaning, in Social Philosophy and Policy, 4, 1987, S. 75. 76 Ronald M. Dworkin, Political Judges and the Rule of Law (1978), in A Matter of Principle, hrsg. von Ronald M. Dworkin, 1985, S. 316; Andrea Amatucci, L’interpretazione della norma di diritto finanziario, cit., a. a. O.

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juristische Regel muss, unabhängig von den Konsequenzen und der Ungerechtigkeit, die sie verursacht, getreu befolgt werden77. Das Befolgen der juristischen Regel setzt voraus, dass man deren Inhalt vor allem im Vergleich der Auswirkungen und des mit den unterschiedlichen Bedeutungen verbundenen Rechts versteht. Der Interpret bedient sich dabei seiner eigenen Kenntnisse, Informationen, Bestrebungen und Gefühle. Die Treue des Interpreten muss auf die Grundwerte des positiven Rechts bezogen und infolgedessen mit dem Gesetz verbunden sein, jedoch unmittelbar in einer substantiellen Logik78, die reich an wirtschaftlichen und sozialen Inhalten ist. Zu Teilen unbegründet ist die eklektische oder intermediäre Konzeption, welche dagegen die Interpretation manchmal in realistischen Begriffen, manchmal in formalistischer Logik darstellt In Zweifelsfällen, bei denen der Interpret zwischen mehreren konkurrierenden Deutungen wählen muss, die Auslegung des Gesetzestextes erst „erschafft“, sollte die Interpretation realistisch erfolgen. Im Gegensatz dazu sollte sie in den anderen, klaren Fällen formalistisch sein, dann wenn ein Gesetzestext eine geeignete Bedeutung annimmt, um eine bestimmte quaestio juris auf der Grundlage empirisch feststellbarer semantischer Regeln zu lösen, in deren Licht der Text eine präzise Bedeutung zeigt, oder auf der Basis des unmissverständlichen Willens des Gesetzgebers. In Bezug auf das hermeneutische Verfahren ist einem Gesetzestext weder eine klare noch eine unklare Bedeutung zuzusprechen. Die intermediäre Konzeption erweist sich in sofern als falsch, da die Auslegung des Gesetzestextes niemals formalistisch sein darf. Die Kenntnis offenbart eine schöpferische Komponente, indem sie die rhetorische Natur des Rechtsstandpunkts neu entdeckt: mit dem Vorverständnis seitens des Interpreten, mit der Rechtspolitik als gegensätzliche Neuauslegung der Texte, sowie mit dem alternativen Gebrauch des Rechts; darüber hinaus auch mit der unendlichen auslegungsfähigen Natur der Texte, und schließlich mit der Willkürlichkeit von Deutungsausschließungen bei der Anwendung der Vorschriften (Dekonstruktivismus). Auf Grund einer ethisch-politische Motivation tritt der Interpret für den Vorrang eines Elementes gegenüber eines anderen ein, das in einem voluntaristischen Zusammenhang wie ein Beweis oder Indiz für die psychologischen Bestandteile des Gesetzes erscheint79.

__________ 77 Norberto Bobbio, Formalismo giuridico e formalismo etico, in Studi sulla teoria generale del diritto, hrsg. von Norberto Bobbio, Turin 1955, 145; David B. Lyons, On Formal Justice, in Cornell Law Review, 58, 1973, S. 883. 78 Gustavo Zagrebelsky, Principi e voti. La Corte costituzionale e la politica, Turin 2005, S. 59; Neil MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law. A Theory of Legal Reasoning, Oxford: The Oxford University Press 2005. 79 Uberto Scarpelli, L’interpretazione (Diritto), in Grande dizionario enciclopedico. Gli strumenti del sapere contemporaneo, II: I concetti, Turin 2. Aufl. 1997, S. 422.

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Der Beitrag der Economic Analysis of Law zur Methodologie des Steuerrechts

Die Probleme, denen die Lehre besondere Aufmerksamkeit schenkt, bestehen gegenwärtig in der Eindeutigkeit bzw. Nichteindeutigkeit der Bedeutung des Gesetzestextes, in der reproduktiven oder kreativen Natur der Tätigkeit des Interpreten, und in seiner Auffassung von Gesetzestreue. Die Interpretation bildet eine Tätigkeit der Erkenntnis und gleichzeitig eine Willensäußerung80, da der Interpret unter verschiedenen Bedeutungen diejenige auswählen muss, die er dem Gesetzestext zuordnet. Auf diese Weise bringt die Economic Analysis of Law die Ausdrucksfähigkeiten des Rechts durch die Wirtschaftswissenschaft zur Geltung. Folglich knüpft an die von der Economic Analysis of Law aufgenommene Konzeption an den vorausgehenden Realismus und an die sich nachfolgend entwickelnde allgemeine, vertretbare Auslegungstheorie an, insofern sie die Erkenntnisnatur der Interpretation nicht verändert. Maßgebend ist der Beitrag der teleologisch-ökonomischen Methode, die von der neapolitanischen Schule erarbeitet wurde. Es ist kein Zufall, dass man letztere als substantiell bezeichnete, so wie die Economic Analysis of Law gleichwohl realistisch ist. Beide haben, in Übereinstimmung mit dem skandinavischen Realismus, gegen den Formalismus Stellung bezogen.

IV. Deutungsvorrang im Gesetzestext dessen, was am besten die Effizienz und Neuverteilungsgerechtigkeit garantiert 1. Die Effizienz betont das Gemeinwohl, und die Umverteilungsgerechtigkeit teilt es aus Die Economic Analysis of Law führt zur Begrenzung der Mehrdeutigkeit, indem sie genaue Kriterien aufstellt, die dem Interpreten bei der Wahl zwischen verschiedenen Deutungen des Textes helfen. Dies wird vom Realismus in den USA und gegenwärtig verstärkt von der allgemeinen Lehre anerkannt. Die Economic Analysis of Law beschreitet den vom Realismus eingeschlagenen Weg weiter, liefert dem Interpreten ausreichende Kriterien, um bei den verschiedenen Bedeutungen des Gesetzestextes die richtige Wahl zu treffen, und gibt als zu bevorzugenden Wert das „Gemeinwohl“ an. Effizienz und Umverteilungsgerechtigkeit wirken sich auf das Gemeinwohl aus. Friedman vermeidet die Wachstumskrise der Economic Analysis of Law und übertrifft die Schule von Chicago81, indem er vor allem die Rolle der Effizienz unterstreicht und sich nicht auf kritische Betrachtungen zum Denken Posners beschränkt. Die Effizienz besteht in den Wirkungen der Betonung des Gemeinwohls, während die Umverteilungsgerechtigkeit sich mit den angemessenen Folgen der

__________ 80 Francesco Viola/Giuseppe Zaccaria, Diritto e interpretazione. Lineamenti di teoria ermeneutica del diritto, Rom-Bari-Catania 1999, S. 113–126. 81 Aristide Hatzis, Norms and Values in Law and Economics, London-New YorkRouthledge 2009.

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erklärten Rechtsvorschriften auf die Rechtssubjekte und mit der Austeilung des Gemeinwohls identifiziert. Naturrechtslehre, Gesetzespositivismus und soziologische Konzeption sind nach Ansicht von Norberto Bobbio82 die drei Konzeptionen des Rechts. Die Naturrechtslehre betrachtet nur die normativen Werte und im Besonderen die Gerechtigkeit als Legitimation des Rechts. Der Gesetzespositivismus von Kelsen zieht das System von Vorschriften des geltenden positiven Rechts in Betracht, wobei er von den Werten, und somit von der Gerechtigkeit und dem für das Recht sinnstiftenden Moment absieht. Die soziologische Auffassung hebt die Effizienz des Rechts hervor, mit dessen realem Gesellschaftsbezug. Zur soziologischen Konzeption gesellt sich der nordamerikanische Realismus mit seinem für das Recht sinnstiftenden Moment. Dabei läuft er jedoch Gefahr, dem Richter die Befugnis zuzuweisen, ein Gesetz auf der Grundlage dieses Moments zu schaffen, unabhängig davon, ob es gegen oder für das positive Recht spricht. Der Wert der Umverteilungsgerechtigkeit darf folglich bei der Rechtsauffassung nicht isoliert betrachtet werden. 2. Effizienz und Gemeinwohl als Werte der Verfassung Die Verfassungen der wichtigsten Staaten garantieren das Gemeinwohl. Denn ihr Streben ist darauf gerichtet, die Grundbedürfnisse des Menschen, mit dem Ziel, für ihn optimaler Bedingungen zu befriedigen, die wirtschaftlichen und sozialen oder Eigentums-Rechte zu schützen, auch das Recht auf Bildung sowie die Freiheit wirtschaftlicher Initiative. Die sozialen Rechte rechtfertigen die angemessene Begrenzung der wirtschaftlichen, die sich jedoch nachfolgend im Zusammenhang der ökonomischen und sozialen Entwicklung wieder ausweiten. Die wirtschaftlichen Rechte dürfen begrenzt werden, wobei aber diese nicht eingefordert werden können. So wird eine für jeden einzelnen Menschen gleiche Ausgangsbedingung geschützt, die die wirtschaftliche Initiative fördert. Außerdem wird damit das direkte Engagement zum vollständigen und wirksamen Schutz der wirtschaftlichen und sozialen sowie kulturellen Rechte und – soweit möglich – auf den ökonomischen Fortschritt. Die sozialen Leistungen des Staates für diejenigen, die sich nicht in der gleichen Ausgangssituation befinden, müssen natürlich wirkungsvoll sein. Die Verfassungen zwingen auch zur wirtschaftlichen Effizienz, durch welche das Gemeinwohl wächst, und gewährleisten, durch die Prinzipien der Progressivität und Gleichheit de facto darüber hinaus die Umverteilungsgerechtigkeit, die das Gemeinwohl mit Wirkung auf die Rechtssubjekte austeilt. Rationalität, Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit, Externalität und Lebensqualität sind wirtschaftliche Begriffe auf der Grundlage von Verfassungswerten. Letztere bilden das Fundament der Umverteilungsgerechtigkeit und der

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82 Teoria generale del diritto, Turin 1993.

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Der Beitrag der Economic Analysis of Law zur Methodologie des Steuerrechts

Effizienz, welche die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte schützen, und an die folglich das Gesetz gebunden ist. Die Anerkennung der wirtschaftlichen und sozialen sowie kulturellen Rechte stellte, wie Norberto Bobbio bemerkt83, den Übergang von der nur liberalen oder formalen zur sozialen Demokratie dar. Interessant ist die Rolle der rechtspublizistischen Disziplinen im Hinblick auf die grundlegende Frage nach der Trennung von Verteilungsfragen, welche die Modi zur potentiellen Maximierung der Gesamtzufriedenheit betreffen, und Neuverteilungsfragen bezüglich der Art und Weise, die Zufriedenheit auszuteilen: ein Thema, das Forschungsgegenstand von Coase war. Diese Methode setzt die Trennung der Verteilungsfragen von den Neuverteilungsfragen voraus, jenseits der Ressourcenknappheit, die Konfliktsituationen schaffen kann. Jede Umverteilungsmaßnahme verringert das Effizienzniveau. Dies erfolgt durch Austeilung des durch die Verteilung maximierten Gesamtwohls, das heißt durch die Redistribution oder Korrektur einer effizienten Vorschrift, um die Neuverteilungsleistungen zu verbessern. Eine Umverteilungsgerechtigkeit bringt im Allgemeinen doppelte Ineffizienz mit sich: die mit jeder Form der Redistribution verbundene bzw. die sich von der Annahme einer ineffizienten Vorschrift ableitende.

V. Die Umverteilungsgerechtigkeit schadet der Effizienz 1. Das Steuerrecht schafft eine Umverteilungsgerechtigkeit mit geringerem Schaden für die Effizienz Im Bereich der wirtschaftlichen Rechtspublizistik erfüllt das Steuerrecht wegen des andauernden Interesses bei den Wissenschaftlern der Economic Analysis of Law, besonders mit Bezug auf die Effizienz und Umverteilungsgerechtigkeit, eine tragende Rolle. Die von der Politik der Umverteilungsgerechtigkeit hervorgerufenen negativen Wirkungen auf die Effizienz, das heißt auf den wachsenden Wohlstand, sind stets geringer als diejenigen, die durch verschiedene Rechtsvorschriften ausgelöst werden. Die Ziele der Umverteilungsgerechtigkeit, welche mit den Effizienzzielen in Konflikt stehen, können – wenn auch nicht ausschließlich, so aber doch besser – mit Hilfe von darauf spezialisierten Rechtszweigen erreicht werden, wie dem Steuerrecht. Demnach teilt das Steuerrecht das Gemeinwohl mit geringfügigeren Schäden für dessen Wachstum aus. Man steigert den Wohlstand für alle mit demselben Grad von Umverteilungsgerechtigkeit, aber mit größeren Ressourcen aus der besseren Effizienz. Die Methode der Economic Analysis of Law ist für das gesamte Finanzrecht besonders wirkungsvoll, und daher ist das Steuerrecht davon ein grundlegen-

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83 Teoria generale della politica, Turin 1999, S. 456.

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der Bestandteil. Denn dieser Rechtszweig gründet sich auf eine besondere Richtung der Wirtschaftswissenschaften: die Finanzwissenschaft. Lerke Osterloh84 präzisiert, dass die wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen, namentlich die Finanzwissenschaft und die Betriebssteuerwirtschaftslehre, einen Beitrag leisten, der dem Inhalt des Steuerrechts eine wesentliche Prägung gibt. Der Gesetzgeber wird deshalb dazu veranlasst, zum Zwecke der Effizienz und Neuverteilungsgerechtigkeit das Steuerinstrument zu bevorzugen. Infolgedessen ist der Interpret der Steuergesetze intensiver damit beschäftigt, die geeignetste Bedeutung zu suchen, um das Ziel der Effizienz und Umverteilungsgerechtigkeit zu verfolgen. Das Steuerphänomen ist ein juristisches und unterscheidet sich vom ökonomischen, obwohl es – wie Posner feststellt – eng mit jenem verbunden ist. Juristische und ökonomische Methoden ergänzen sich, aber verschmelzen nicht miteinander. 2. Die durch den Beitrag der europäischen Methodologie ergänzte Economic Analysis of Law gestattet die korrekte Anwendung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bei der Auslegung des Steuergesetzes Wie David A. Weisbach85 von der University of Chicago Law School genauer darlegt, lässt der Interpret der Steuergesetze die wirtschaftlichen Entscheidungen des Gesetzgebers müheloser an sich vorüberziehen, versteht deren ratio und Ziele und bewertet dabei auch die Wirkungen und folglich die Bedeutung der Vorschriften. Er rekonstruiert die öffentlichen Entscheidungen mit Hilfe der Wirtschafts- und Rechtslogik besonders auf dem Hintergrund des Beitrags von Buchanan. Die Verwendung dieser Methode bringt keinen regelwidrigen Sprung über die Grenzen der von den Juristen traditionsgemäß übernommenen

__________ 84 Methodenprobleme im Steuerrecht, in Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, hrsg. von Peter Häberle, Bd. 56, [Tübingen] 2008, S. 151, ein am 28.6.2007 anlässlich des Forums an der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Beirut gehaltenes Referat; Giuseppe Melis, L’interpretazione nel diritto tributario, Padua 2003; Luigi Ferlazzo Natoli, La teoria dell’interpretazione nel diritto tributario: spunti introduttivi, in Dir. prat. trib., 1996, I, S. 335; Andrea Amatucci, L’interpretazione della legge tributaria, in Trattato di diritto tributario (Annuario), hrsg. von Andrea Amatucci, Padua 2001, S. 255. 85 Economics of Tax Law, in Economic Approaches to Law Series, Nr. 19, hrsg. von Richard A. Posner (United States Court of Appeals for the Seventh Circuit/University of Chicago Law School) und Francesco PARISI (University of Minnesota Law School/Universität Bologna), Cheltenham 2008; Vgl. auch die Referate der von Giuseppe Sobbrio organisierten Tagung Searching for New Models in The Economic Analysis of Law vom 25.–27.3.2007 an der Universität Messina. Diese Referate, mit einer Einführung von Guido Calabresi, werden seit Heft 3 von 2007 nach und nach in der Rivista di diritto finanziario e scienza delle finanze veröffentlicht. Charles Adams, For Good and Evil, – The Impact of Taxes on the course of Civilization, Maryland 2008, analysiert die Steuerpolitik im Laufe der Geschichte, die in der Lage ist, den Blick auf die Zivilisation zu richten. Der Autor behauptet, dass die Geschichte der Steuerrechtssysteme die Menschen weise macht.

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Der Beitrag der Economic Analysis of Law zur Methodologie des Steuerrechts

Aufgaben mit sich, noch bedeutet sie ein Zurücktreten der Rechtswissenschaft zugunsten der Wirtschaftswissenschaft. Das Steuergesetz gestattet dem geschulten Interpreten als einem Rechtstheoretiker und praktischen Fachmann die korrekte Entscheidung. Er identifiziert die gegensätzlichen Interessen von Steuerpflichtigem und Staat in dem vom Steuergesetz bestimmten Rechtszusammenhang. Diese Methode beachtet die Grundsätze des Steuerrechts, aber stellt ihm die Lösung zur Seite, welche sich dem aus dem Kriterium der Kosten-Nutzen-Analyse ergibt. Der Interpret des Steuergesetzes gewährleistet die Umverteilungsgerechtigkeit, bewertet die öffentlich entschiedenen Soziallasten und findet heraus, wer sie trägt und wer davon profitiert. Das Steuerverfahren gehört zu den Transaktionskosten. Der Jurist schätzt die Vor- und Nachteile für den Steuerpflichtigen und den Staat ab. Von den möglichen Lösungen bevorzugt er diejenige, welche die Vorteile erhöht und die Nachteile verringert. Er verteilt beide und verhindert, dass der Steuerempfänger die Kosten auf andere abwälzt. Bei mehreren Lösungen zieht der Interpret diejenige vor, welche die Gesamtzufriedenheit zugunsten des Staates oder des Steuerpflichtigen maximiert.

VI. Ausblick Dank der, bei der gegenwärtigen Motivation der dritten Generation in Betracht gezogenen Economic Analysis of Law, wählt der Interpret mit verschiedenen Instrumenten, wie z. B. den sozialen Ansprüchen, zu denen er verhilft, und den Werten, aber nicht mit eigenen Ideologien, unter gegebenenfalls mehreren Lösungen die korrekte und bei Kosten und Nutzen die teilweise effizientere. Dabei verändert er allerdings nicht den Inhalt des Steuergesetzes und gewährleistet Effizienz und Umverteilungsgerechtigkeit. Steuerrecht und Wirtschaftslehre arbeiten zusammen, um die Tätigkeit des Interpreten zu erleichtern. Dieser greift auf ein Kriterium zurück, das die Folgenanalyse der verschiedenen Bedeutungen zur Geltung bringt. Er wählt aufgrund der Wirkungen und folgt dabei einem genauen Ordnungskriterium aus der Finanzwissenschaft. Zum Zweck der Anwendung betrachtet er, ob die Wirkungen mit den Gesetzeszielen zusammenfallen und garantiert damit die Umverteilungsgerechtigkeit und Effizienz dieser Gesetze. Der Interpret betrachtet „die Natur der Dinge“, das heißt die soziale Realität, wie beispielsweise der Tatbestand. Der Faktualismus muss vollständig wiederhergestellt werden, weil der Tatbestand namentlich Quelle des Steuerrechts ist. In diesem Sinne wird mit Recht die Korrektheit des Verfahrens der Tatbestandskenntnis seitens des Richters hervorgehoben. Diese schließt verallgemeinerte Formen rechtlicher Vermutungen aus. Der Richter gelangt zur Auslegung der Steuergesetze in Funktion seiner Anwendung auf den konkreten Fall und wählt, unter Berücksichtigung der Wirkungen, unter den verschiedenen Bedeutungen diejenige aus, die ihn am meisten überzeugt, da sie gegenüber den anderen stärker die Umverteilungsgerechtigkeit und Effizienz verwirklicht. 961

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Das Steuergesetz wird zu einem Instrument, mit welchem die Wissenschaftler der Economic Analysis of Law bezüglich der Austeilung des Wohlstands weitere Ergebnisse zu erzielen anstreben; und zwar genauer gesagt die Fähigkeit zur erheblichen Beeinflussung der Verhaltensweisen. Damit sollen die von der Rechtsordnung gesteckten Ziele erreicht werden. Ihre Realisierung erfolgt durch Festlegungsverfahren kollektiver Entscheidungen, bei denen gegenüber anderen Gesetzen der wirtschaftliche und soziale Wohlstand weniger gesenkt wird. Vor allem die Steuerbegünstigungen, wie etwa die Ausgabevorschriften zur Anerkennung von Beiträgen, fördern bestimmte Entscheidungen von öffentlichem Interesse, wie z. B. die Einrichtung einer Wirtschaftsinitiative in einem nur schwach entwickelten Gebiet, oder etwa ein umweltfreundliches Verhalten. Das Modell der Finanzwissenschaft in seiner Struktur gestattet dem Interpreten des Steuergesetzes, die reale Auswirkung auf das Verhalten der Steuerpflichtigen vorherzusehen. Die Förderung86 wirkungsvoller Verhaltensweisen fällt mit der Zuteilung von Ressourcen an diejenigen zusammen, die sie mit größter Effizienz verwalten, so dass der Schaden für das Wachstum des Gemeinwohls begrenzt ist. Die durch Umverteilungsgerechtigkeit und Effizienz garantierten wirtschaftlichen Konzepte erlauben die Erkenntnis und Lösung der Steuerrechtsproblematiken. Dort, wo die Auslegung des Steuerrechts mit der korrekten traditionellen Methode zu mehreren Lösungen führt, verwendet der Interpret die Economic Analysis of Law auf der höchsten Entwicklungsstufe. Und indem er diese Methode durch die Beiträge der europäischen Schulen ergänzt, vermag er die Wahl der Lösung zu begründen, die bezüglich ihrer Wirkungen die Umverteilungsgerechtigkeit am besten verwirklicht, mit dem geringsten Schaden für die Effizienz. Natürlich muss man die Verträglichkeit des von dieser Methode angezeigten Ergebnisses mit den Angaben aus dem Text des Steuergesetzes, aus den allgemeinen Grundsätzen und aus der Dogmatik überprüfen. Diese überwiegen die Methodenresultate. Mit dem gleichzeitigen Gebrauch aller Instrumente gelangt man zu einem mehr oder weniger eindeutigen Ergebnis. Es wird das für die Steuerrechtsordnung geeignetste Resultat ausgewählt. Der Interpret der EU-Steuervorschriften darf sich nicht an das Charisma der Steuerrechtsordnung seiner Nation und auch nicht an die in einigen nationalen Steuerrechtsordnungen dominierenden Prinzipien anlehnen. Er muss die in allen Mitgliedsstaaten verbreiteten Wirkungen betrachten und dabei die vier Grundfreiheiten und den Grundsatz der steuerlichen Nichtdiskriminierung bevorzugen, als Fundamente des Gemeinwohls. Gereinigt von den Elementen, welche die kognitive Natur der Auslegung beeinträchtigen, bildet die in den Vereinigten Staaten ausgearbeitete Economic Analysis of Law eine wertvolle Ergänzung der von den Realismen der Ver-

__________ 86 David Friedman, Law’s Order. What economy has to do with law and why it matters, Princeton University 2000.

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einigten Staaten und Skandinaviens geschaffenen Methode wirtschaftlicher Analyse. Und mit Bezug auf das Finanzrecht im allgemeinen und das Steuerrecht im besonderen gilt dies auch von den deutschen, spanischen sowie italienischen Doktrinen, in deren Bereich die neapolitanische Schule hervorsticht. Die Steuerrechtslehre entwickelt sich – unter Gewährleistung des effizienten Systems und der Neuverteilungsgerechtigkeit – fort, wenn deren Analyse das Finanzrecht berücksichtigt, dem sie entstammt. Letzteres ist reich an einer, von einem spezifischen Zweig der Wirtschaftswissenschaften ausgearbeiteten außerrechtlichen Motivation, die für den streng an das korrekte Methodologiekriterium gebundenen Juristen unerlässlich ist. Vor der Verbreitung des Rechtsrationalismus erschloss der Interpret zwar den Sinn des Textes, aber gegenwärtig wacht er auch über die Effizienz und Umverteilungsgerechtigkeit des Steuerrechts. Letzteres Prinzip, das auf die Steuerpflichtigen zur gerechten Austeilung des Wohlstands angewendet wird und dabei progressive Steuern und Soziallasten erfordert, stellt das angemessene Verständnis des Steuerrechts unter der Bedingung sicher, dass das Konzept gerechter und ungerechter Steuervorschriften sich als klar erweist. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit repräsentieren die Beziehungen zwischen den Steuervorschriften. Die Economic Analysis of Law bietet einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Konzepts von Gerechtigkeit, das mit dem entsprechenden Verfassungswert zusammenfällt. Tatsächlich gestattet diese Methode die verfassungsmäßige Auslegung des Steuergesetzes in der Weise, dass man dazu neigt, die Effizienz und die durch die Verfassung qualifizierte Umverteilungsgerechtigkeit zu definieren. Und in Übereinstimmung mit Letzterer wählt der Interpret die korrekte Bedeutung der Steuerrechtsvorschrift. Das US-amerikanische Modell der Economic Analysis of Law verbreitet sich nun weltweit87. Es erreicht Lateinamerika, Japan, China88 und Europa, wo es namentlich in Deutschland, den Niederlanden, in der Schweiz und in den skandinavischen Ländern – auch wegen deren wirtschaftlicher Organisation – eine positive Aufnahme findet. Diese besteht nicht in der bloßen unkritischen Aufnahme eines US-amerikanischen Modells in den europäischen Kontext. Es werden die strukturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Systemen untersucht, insbesondere zwischen civil law und common law.

__________ 87 The Law and Economics of Globalization, hrsg. von Linda Yueh, Cheltenham 2009. 88 Economic Analysis of Law in China, hrsg. von Thomas Eger, Michael Faure und Zhang Naigen, Cheltenham 2007. Darin enthalten sind hervorragende Beispiele für „Law and Economics“, die nützlich sind, um das anwendbare Gesetz in den für die Wirtschaft wesentlichen Dimensionen zu ermitteln.

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Effektiver Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Steuergesetze Zugleich ein Aufruf für den Einsatz des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die grundgesetzwidrige pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG* Inhaltsübersicht I. Zum engagierten Versuch des Jubilars, ein verfassungswidriges Steuergesetz im letzten Moment vor seinem Inkrafttreten aufzuhalten II. Zum entschlossenen Aufruf des Jubilars, Steuerbürger mögen massenhaft vor den Finanzgerichten klagen III. Zur Effektuierung des Protestes des Jubilars gegen das neue ErbStG sowie allgemein zum effektiven Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Steuergesetze 1. Viel zu oft verhindert die profuturo-Rechtsprechung des BVerfG

den effektiven Rechtsschutz des Steuerbürgers – anders (rechtsschutzeffektiv) der EuGH 2. Gewährter vorläufiger Rechtsschutz als Mittel gegen die pro-futuroRechtsprechung des BVerfG und als Bestandteil des effektiven Rechtsschutzes 3. Beispiele a) Berufspendlerpauschale b) Häusliches Arbeitszimmer c) Ungleiche Erbschaft- und Schenkungsteuer IV. Fazit und Ausblick

I. Zum engagierten Versuch des Jubilars, ein verfassungswidriges Steuergesetz im letzten Moment vor seinem Inkrafttreten aufzuhalten Erfreulich war der engagierte Versuch des Jubilars Joachim Lang im Dezember 2008, den Bundespräsidenten mit einem Appell von der Unterschrift zum neuen Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz abzuhalten und damit das Inkrafttreten eines erneut verfassungswidrigen Steuergesetzes1 zu verhindern. Leider ist dieser Versuch gescheitert.

__________ * Meinem Freund und Richterkollegen Dr. Gerhard Habscheidt danke ich sehr für die konstruktiv-kritische Durchsicht des Manuskripts. 1 Insbesondere wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG. Daneben verweisen R. Wernsmann/ V. Spernath, FR 2007, 829 ff. und D. Murswiek auf die möglicherweise nicht mehr vorhandene „Bundeskompetenz für die Erbschaftsteuerreform“ und Letzterer auf drei Verfassungsbeschwerden, die sich direkt gegen das Erbschaftsteuerreformgesetz richten (Az. beim BVerfG: 1 BvR 3196/09, 1 BvR 3197/09, 1 BvR 3198/09), Gastkommentar im steuertip 4/2010, S. 3.

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Nachdem der Steuergesetzgeber wieder einmal kluge Erneuerungsvorschläge, etwa den von Paul Kirchhof (hohe Eingangsfreibeträge, keine Behaltefristen, niedrige Steuersätze, höchstens 10 %), ignoriert hatte, wäre es in der Tat für unser Land besser gewesen, wenn es ab 1.1.2009 für eine Übergangszeit keine Erbschaft- und Schenkungsteuer oder wenn es – wie neuerdings in Österreich – überhaupt keine Erbschafts- und Schenkungsbesteuerung mehr gegeben hätte. Stattdessen müssen wir mit einem neuen, erneut verfassungswidrigen Steuergesetz umgehen. So werden nun einerseits sehr viele Erben von Grundbesitz und Betriebsvermögen sowie entsprechend Beschenkte versuchen, mit einem enormen Beratungsaufwand (wegen der komplizierten Verschonungsregelungen und Behaltefristen) der Erbschaft- und Schenkungsteuer auszuweichen. Andererseits ist den verhältnismäßig wenigen Erbschaft- und Schenkungsteuerpflichtigen, die die Nachlass-Zeche für viele andere mitzahlen sollen, zu raten, sich gegen die erneut verfassungswidrige Steuerbelastung mit allen zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln zu wehren. Der Vorstoß von Joachim Lang war die bisherige Spitze des Erbschaft- und Schenkungsteuer-Protestes. Vorher haben er und viele andere Steuerexperten die Auffassung von der Verfassungswidrigkeit der Erbschaftsteuer-Neuregelungen öffentlich dargelegt. Die verfassungsrechtliche Kritik an dem neuen Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz ist nachhaltig, sie wurde und wird im Fachschrifttum und in Fachveranstaltungen (etwa am 25.4.2009 in der Universität zu Münster2 oder am 28.4.20093 in der Bundesfinanzakademie in Brühl) immer wieder betont. So schreibt Roman Seer: „Ein Steuertorso, der sich nur auf wenige Steuerzahler, die das ‚falsche‘ Vermögen erben, erstreckt, hat in einem rechtsstaatlichen Steuersystem nichts zu suchen.“

Und: „Eine Steuer, die nur eine verschwindende Minderheit zu zahlen hat, besitzt keine innere Legitimität“4.

Zusätzlich stellt Walter Frenz, Maître en Droit Public, wegen der langen nationalen erbschaftsteuerlichen Haltefristen die Frage der Vereinbarkeit mit den europäischen Grundfreiheiten und kommt zu dem Fazit: „Die europäischen Grundfreiheiten erfassen Wegzugsfälle und stehen auch faktischen sowie indirekten Beeinträchtigungen entgegen. Solche können daraus erwachsen, dass Häuser zehn Jahre nach einem Erbfall nur unter Inkaufnahme hoher Steuernachzahlungen verkauft werden können …“5.

__________ 2 Symposion Erbschaftsteuer – Aktuelle Entwicklungen mit Beiträgen von H.-U. Viskorf, Tim Seegebrecht, A. Richter, J. Lutter, D. Birk. 3 Vortrags- und Diskussionsveranstaltung – Die Erbschaftsteuerreform 2009 mit Beiträgen von B. Noll, R. Halaczinsky, M. Balke. 4 R. Seer, GmbHR 2009, 225 (237). 5 W. Frenz, DStZ 2009, 334 (336).

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Effektiver Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Steuergesetze

II. Zum entschlossenen Aufruf des Jubilars, Steuerbürger mögen massenhaft vor den Finanzgerichten klagen Joachim Lang ruft alle durch die neue Erbschaft- und Schenkungsteuer benachteiligten Bürger auf, vor den Finanzgerichten zu klagen: „Je mehr Finanzgerichte mit derartigen Fällen befasst werden, desto größer ist die Chance, dass das BVerfG vor einem Revisionsverfahren und damit früher als nach einem halben Jahrzehnt mit dem neuen Recht befasst wird.“6

Mit diesem Aufruf verfolgt Joachim Lang dasselbe Durchsetzungsziel in Sachen Steuergerechtigkeit wie zwei weitere wissenschaftliche Vordenker, nämlich Klaus Tipke und Paul Kirchhof. Klaus Tipke verlautbarte schon in seiner wegweisenden Steuergerechtigkeitsschrift von 1981, dass – so wörtlich – „letztlich nur die Richter die Gerechtigkeitsfunktion des Steuerrechts sichern können“7. Bevor allerdings der Finanzrichter seiner Verantwortung für ein gerechtes Steuerrecht nachkommen kann, muss der zu Unrecht belastete Steuerbürger einen Antrag gestellt haben. Dazu ermunterte Paul Kirchhof, auch als Bundesverfassungsrichter, die Rechtsschutzsuchenden immer wieder öffentlich: Zwar sei das Verfassungsgericht ein Staatsorgan „mit gefesselten Händen“, aber jeder Rechtschutzsuchende könne diese Fesseln durch seinen Antrag lösen8. Ich bekenne, bei mir als Richter des Niedersächsischen Finanzgerichts kamen und kommen weiterhin diese Aufrufe, Steuergerechtigkeit durchzusetzen, sehr gut an. In dem von gewichtigen Teilen der Steuerrechtswissenschaft gedachten Sinne versuche ich, meinen richterlichen Beitrag zu leisten9. Bei diesem Durchsetzungsgedanken bezüglich der Steuergerechtigkeit geht es um die Verwirklichung von Grundrechten im Steuerrecht. Es geht um möglichst vollumfängliche Fairness für alle Steuerbürger, insbesondere nach Art. 1, 2, 3, 6, 14 GG. Es geht um Rechtsschutzgarantie, um effektiven Rechtsschutz, und um den Anspruch auf ein faires Verfahren nach Art. 19 Abs. 4, 101, 103 GG. Dabei geht es auch um den Schutz der Gerechtigkeit vor der (demokratischen) Mehrheit. Demokratie allein reicht nicht, der Rechtsstaat muss dominieren. Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Gleichbehandlungsgrundsatz und zu den Freiheitsrechten kann dem Steuerbürger konkreten Rechtsschutz vermitteln. Erinnert sei etwa an die Entscheidungen zur Zinsbesteuerung, zu den

__________ 6 DATEV Magazin 2/2009, 25 (26). Auch nach E. Tohde sollte niemand „Erbschaftsund Schenkungsteuerveranlagungen rechtskräftig werden lassen“, ZSteu 1/2009, 2 (3). 7 K. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, Vorwort VIII, vgl. auch S. 164, 188; dazu auch K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer Wirrwarr!? Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, 2006, S. 192 ff.; K. Tipke in Brandt (Hrsg.), Mitverantwortung von Bürger und Staat für ein gerechtes Steuerrecht, Deutscher Finanzgerichtstag, 2007, S. 21, 38 ff. 8 Vgl. dazu M. Balke, Laudatio zur Verleihung des Deutschen Mittelstandspreises 2005 an Professor Dr. Paul Kirchhof, ZSteu 2006, 352. 9 Näher dazu K. Tipke, Michael Balke: Der „Richter aus Hannover“, steuertip, 50/2009, 3. Vgl. auch Balke-Interview im SteuerberaterMagazin 5/2008, S. 22 ff. Weiteres unter www.drmichaelbalke.de.

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Grund- und Kinderfreibeträgen, zu den Einheitswerten bei der Vermögen- und Erbschaftsteuer, zur doppelten Haushaltsführung, zu den privaten Veräußerungsgeschäften sowie zum Grenzbetrag beim Kindergeld für volljährige Kinder. Danach müsste sich der Steuerbürger verlassen können auf eine untere und obere Besteuerungsgrenze sowie auf steuerliche Nettoprinzipien (objektiv und subjektiv) mit dem Abzug des erwerbs- und existenzsichernden Aufwands. Verbindlich könnte danach auch das steuerliche Konsequenzgebot (die Folgerichtigkeit) und das steuerliche Privilegienverbot sein. Es sollte die aus der Verfassung abgeleitete Erkenntnis, dass die Privilegierung des einen zugleich die Diskriminierung des anderen Steuerbürgers ist, auch für das einfache Steuergesetz gelten. Die Ausnahme von der Regel (das BVerfG lässt Steuerbefreiungen zu, wenn diese prinzipienbasiert und aus Gemeinwohlgründen gerechfertigt sind) muss dabei wirklich Ausnahme bleiben10.

III. Zur Effektuierung des Protestes des Jubilars gegen das neue ErbStG sowie allgemein zum effektiven Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Steuergesetze 1. Viel zu oft verhindert die pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG den effektiven Rechtsschutz des Steuerbürgers – anders (rechtsschutzeffektiv) der EuGH Wie unter II. skizziert, hat das BVerfG einerseits dem Gesetzgeber immer wieder Grenzen des Steuerzugriffs – für die Zukunft – aufgezeigt. Andererseits (gleichzeitig) hat es den Gesetzgeber viel zu sehr geschont durch seine sog. profuturo-Rechtsprechung, damit den Bürger bei seiner aktuellen Rechtsschutzsuche zum zweiten Sieger erklärt. Gemeint sind die Weitergeltungsanordnungen des BVerfG mit den rechtsschutzverkürzenden, weiträumigen Übergangsfristen vom Unrecht zum Recht. Der Steuerbürger, der nach vielen Jahren vom BVerfG den Bescheid erhält, etwa bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer, er sei wegen eines verfassungswidrigen Steuergesetzes zu Unrecht steuerlich belastet worden, er habe aber die Belastung hinzunehmen, weil das verfassungswidrige Gesetz noch eine Zeitlang anzuwenden sei, verliert leicht den rechten Glauben an seinen Rechtsstaat. Es kann doch nicht Recht sein, ein großes Unrecht nicht wieder gutmachen zu müssen, also die Grundrechte zeitweise nicht anzuwenden, nur weil es viel Geld kostet11. In einem Rechtsstaat hat vielmehr das Recht, insbesondere die

__________ 10 Zur Mitverantwortung der Steuerrichter in Sachen Steuergerechtigkeit vgl. M. Balke, Finanzrichter als Garanten für Steuergerechtigkeit? Vortrag zum 10. Finanzrichtertag im BFH am 21.3.2006, ZSteu 2006, 432; M. Balke, Unfaire Steuern – wer ist verantwortlich? Wege zur Steuergerechtigkeit (dazu Bericht von C. Ossola-Haring im Magazin „VerbandIntern“, 3/2007, 1–9). 11 Dieses in der Finanzrechtsprechung immer wieder verwendete Argument ist umso fragwürdiger geworden, seitdem wir in der aktuellen Finanzkrise erkennen müssen, mit welchen Riesengeldbeträgen der Fiskus systemrelevante Akteure unserer Volkswirtschaft vor dem wirtschaftlichen Untergang abschirmt.

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Gesamtheit der Grundrechte, grundsätzlich immer (Ausnahme: drohende Staatsinsolvenz) über dem Geld (Haushalt) zu stehen und nicht umgekehrt12. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Steuersachen ist insoweit weiter, vermittelt dem Bürger wirklich effektiven Rechtsschutz. Folgende Ausführungen der Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof Christine Stix-Hackl zum gerichtlichen Rechtsschutz auf europäischer Ebene verdeutlichen dies13: „Ein rein wirtschaftliches Ziel kann … nie einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer Beschränkung der Grundfreiheiten darstellen. Gleiches gilt für die Sicherung nationaler Haushaltsaufkommen. Folgerichtigerweise befand der Gerichtshof daher hinsichtlich der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkung, dass die finanziellen Konsequenzen, die sich aus einer Vorabentscheidung für einen Mitgliedstaat ergeben können, für sich allein genommen nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkungen des betreffenden Urteils rechtfertigen. Anderenfalls würden gegebenenfalls die schwersten Vorwürfe gegen das Gemeinschaftsrecht günstiger behandelt, da gerade diese die bedeutendsten finanziellen Auswirkungen für die Mitgliedstaaten haben könnten. Zudem liefe eine allein auf solche Erwägungen gestützte Beschränkung der zeitlichen Wirkungen eines Urteils darauf hinaus, dass der gerichtliche Rechtsschutz wesentlich eingeschränkt wäre.“

Im Vergleich zum BVerfG ist der Europäische Gerichtshof ein starker Steuergerechtigkeitsmotor. Dies führt mitunter zu skurillen Reflexen in der hohen nationalen Politik. Bestimmte Politiker wünschen eine „deutsche Abwehrgesetzgebung“ gegen rechtsschutzeffektive (bürgerfreundliche), weil haushaltswirksame, Urteile des Europäischen Gerichtshofs14. Der einstige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück kritisierte den Europäischen Gerichtshof mit den Worten: „Manches hätten wir uns angesichts der zum Teil recht hohen Risiken für die jeweiligen Haushalte in der Rechtsprechung des EuGH anders gewünscht“. Und: Die Steuerurteile des Europäischen Gerichtshofs würden „zunehmend zum Problem“; er werde dies thematisieren15. In einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestags-Fraktion „Die Linke“ wollte die frühere Bundesregierung „in geeigneten Fällen eine zeitliche Begrenzung von Urteils-

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12 Umfassend dazu: G. Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, Bochumer Dissertation, 2003. Vgl. auch M. Balke, Der Spiegel 43/1992, 156 (157); Finanzrichter als Garanten für Steuergerechtigkeit?, in Harzburger Steuerprotokoll 1993, Köln 1994, S. 85, 97; ebenso schon G. Habscheidt, BB 1992, 1322. Folgend R. Seer und viele andere – vgl. Nachweise bei R. Seer, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 22 Rz. 287, 221, 307; a. A. C. Moes (Mitarbeiter im 2. Senat des BVerfG), StuW 2008, 27 – danach evtl. neue (schwammige) Rechtsentwicklung: pro-futuro-Rechtsprechung zwar nicht mehr bei bedeutender Finanzwirksamkeit, aber bei Vertrauen auf Richtigkeit der gesetzlichen Maßnahme – meint wohl, dass der Gesetzgeber stets einen Fehlversuch frei habe, vor der roten Karte gäbe es wohl zunächst die gelbe – dies alles auf Kosten der rechtsschutzsuchenden Bürger. Auch das ist absurd! 13 Schlussanträge der Generalanwältin C. Stix-Hackl vom 5.10.2006 in der Rechtssache C-292/04 – Näheres bei M. Balke, Stbg. 2007, 1 (2). 14 Kritisch zu Falthauser: M. Balke – vgl. Berichte über die Münchner Steuerfachtagung 2005 in ‚immobilien intern‘ vom 23.3.2005, 4; ‚steuertip‘ vom 2.4.2005, S. 3, und in Consultant 5/2005, 26. 15 Laut Handelsblatt vom 16.5.2007, 4.

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wirkungen“ beantragen; sie wollte sich auch dafür einsetzen, „dass der EuGH die Einräumung von Übergangsfristen für die nationalen Gesetzgeber in Betracht zieht. Dies entspräche der ständigen Rechtsprechung des BVerfG“16. Zum Glück sah man noch die Grenzen eigener Rechtsmacht: „Unmittelbare Einflussmöglichkeiten der gesetzgebenden Organe auf einzelne Entscheidungen des EuGH bestehen aus Gründen der Gewaltenteilung nicht. Für die an der Steuergesetzgebung beteiligten Stellen kommt es daher vielmehr darauf an, dass bereits im Vorfeld bei der Gesetzgebung auf Konformität mit dem Europarecht zu achten ist. Sofern in Reaktion auf eine sich fortentwickelnde Rechtsprechung Anpassungen des nationalen Rechts erforderlich werden, müssen frühzeitig gesetzgeberische Maßnahmen geprüft und ggf. ergriffen werden, auch um die finanziellen Auswirkungen einzelner Entscheidungen zu beeinflussen.“

Immerhin – aber das heißt doch wohl auch: Würde das BVerfG ähnlich konsequent entscheiden wie der Europäische Gerichtshof und würde es dem Steuerbürger grundsätzlich auch den vollen effektiven Rechtsschutz gewähren (ohne pro-futuro-Praxis), hätte der Gesetzgeber die Verfassungstauglichkeit neuer Steuervorschriften genau zu prüfen. Die (steuerliche) Gewaltenteilung würde dann auch im nationalen Bereich wieder vollen Umfangs funktionieren17. Auch die von Walter Drenseck, einstiger Vorsitzender des 6. Senats des BFH, wiedergegebene Einschätzung zur Haltung des derzeitigen Steuergesetzgebers macht deutlich, wie rechtsstaatlich wohltuend eine konsequente Rechtsprechung des BVerfG wäre17a : „Der Gesetzgeber setzt sich zunehmend zu Lasten der Bürger über verfassungsrechtliche Zweifel hinweg. Er scheint immer häufiger darauf zu spekulieren, dass, wenn das BVerfG erst nach mehreren Jahren ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, die Verfassungswidrigkeit aus Gründen der Staatsfinanzen nur für die Zukunft ausgesprochen wird, der Staat damit die verfassungswidrig einkassierten Steuern für die Vergangenheit behalten darf. Wie sonst ist es erklärlich, dass Anhörungsverfahren abgehalten werden und selbst bei massivsten Warnungen vor drohender Verfassungswidrigkeit die Bedenken beiseite gewischt werden?“

2. Gewährter vorläufiger Rechtsschutz als Mittel gegen die pro-futuroRechtsprechung des BVerfG und als Bestandteil des effektiven Rechtsschutzes Die Steuerbürger sollten nicht allein auf die (bloße) Anfechtung von Steuerbescheiden, die auf der Grundlage verfassungswidriger gesetzlicher Vorschriften z. B. des neuen Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes ergehen, vertrauen. Wegen der oftmals praktizierten pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG reichen für einen wirklich effektiven Steuerrechtsschutz die traditionellen Rechtsmittel des Offenhaltens eines Steuerbescheides, wie Einspruch, Klage, Revision (Nichtzulassungsbeschwerde), Ruhen des Verfahrens, Verfassungsbeschwerde

__________ 16 So BT-Drucks. 16/5371 vom 15.5.2007. 17 Dazu M. Balke, Bundesregierung und effektiver Rechtsschutz, Beratung Aktuell, NWB 33/2007 vom 13.8.2007, 2813 f. 17a W. Drenseck, DStR 2009, 1877 (1878).

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(oder von der Klägerseite angeregte Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse der Finanzgerichte) nicht aus. Vielmehr sollten betroffene Steuerbürger auch den Weg des vorläufigen Rechtsschutzes, etwa mit dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, gehen, zunächst beim Finanzamt (§ 361 Abs. 2 Satz 2 AO) dann beim Finanzgericht (§ 69 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 FGO). Aufhebung der Vollziehung kommt auch in Betracht, wenn ein Finanzgericht einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 GG gefasst hat18. Soweit ersichtlich hat zum Thema „Kürzung der Berufspendlerpauschale“ erstmals das Niedersächsische Finanzgericht in einem Beschluss zum vorläufigen Rechtsschutz die Problematik der pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG offen angesprochen und sich entscheidungserheblich dagegen gestellt. Mit seinem Beschluss hat der 7. Senat des Finanzgerichts in Hannover ein deutliches Zeichen gegen die rechtsschutzaushöhlende pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG gesetzt; es geht über die zeitnahe Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz einen neuen Weg hin zu effektiverem Steuerrechtsschutz in Verfassungsstreitverfahren19. Nachdem der 8. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts mit seinem Vorlagebeschluss vom 27.2.200720 die Kürzung der Berufspendlerpauschale ab 1.1.2007 für verfassungswidrig hielt und ein Verfahren über die Lohnsteuerermäßigung dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt hatte21, beschloss der 7. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts mit der Entscheidung vom 2.3.2007 im Zusammenhang mit einem anderen Lohnsteuerermäßigungsverfahren die Aussetzung der Vollziehung, d. h. die Eintragung eines Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte nach altem Recht (ohne Kürzung) wurde angeordnet. Dies zum einen, weil ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der damaligen Neuregelung bestanden. Und, das ist das Besondere: Um zum anderen der „pro-futuro-Rechtspechungspraxis“ des BVerfG zu begegnen. Dazu führt das Niedersächsische Finanzgericht aus22: „Vor dem Hintergrund der ‚pro-futuro-Rechtsprechung‘ des BVerfG hält das Gericht die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für notwendig. Gemeint sind die Entscheidungen, die – nach Erschöpfung des Rechtswegs zwangsläufig mit erheblicher Verzögerung – feststellen, eine gesetzliche Regelung sei verfassungswidrig und dem Gesetzgeber weiträumige Übergangsfristen einräumen, um die verfassungswidrigen Regelungen zu beseitigen. Darauf konnte sich der Fiskus in der Vergangenheit mehr und mehr verlassen. Mit der vorliegenden Entscheidung soll frühzeitig verhindert werden, dass der Fiskus womöglich verfassungswidrige Steuern vereinnahmt, verplant und später nicht mehr er-

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18 Vgl. § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO; BFH v. 22.12.2003 – IX B 177/02, BStBl. II 2004, 367; BMF, Schr. v. 6.10.2009 – IV A 3 - S 0623/09/10001 – DOK 2009/0650100, BStBl. I 2009, 1148 = FR 2009, 1020 in Verbindung mit Nr. 4.6.1 vierter Absatz des Anwendungserlasses zu § 361 AO, BMF – Amtliches Handbuch, AO-Handbuch 2009. 19 Schon vorher hatte der 4. Senat des Niedersächsischen FG in seinen drei Aussetzungs- und Vorlagebeschlüssen zur Gewerbesteuer die pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG kritisiert – vgl. zuletzt FG Nds. v. 21.4.2004 – 4 K 317/91, EFG 2004, 1065 ff. 20 FG Nds. v. 27.2.2007 – 8 K 549/06, EFG 2007, 690 = ZSteu 2007, R 263. 21 Vgl. auch FG Saarl. v. 22.3.2007 – 2 K 2442/06, EFG 2007, 853, sowie BFH v. 10.1.2008 – VI R 17/07, BFHE 219, 358 = BStBl. II 2008, 234 = FR 2008, 326 m. Anm. Fuhrmann. 22 FG Nds. v. 2.3.2007 – 7 V 21/07, EFG 2007, 773 = ZSteu 2007, 77.

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Michael Balke statten muss, so dass der verfassungsrechtliche Steuerrechtsschutz für die Bürger im Ergebnis weitgehend leer läuft.“

Das Niedersächsische Finanzgericht stützt sich dabei insbesondere auf die Dissertation von Gerhard Habscheidt23 und auf die Erkenntnis, wonach es nicht richtig sein kann, dass das Unrecht nur groß genug sein muss, um es nicht mehr gutmachen zu müssen24. Gerhard Habscheidt kommt u. a. zu folgenden Ergebnissen: „Solange das BVerfG aus Gründen budgetären Dispositionsschutzes verfassungswidrige Steuergesetze für eine Übergangszeit für weiter anwendbar erklärt, führt die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu einer vollständigen und endgültigen Beseitigung des Individualrechtsschutzes; sie verletzt Art. 19 Abs. 4 GG. In solchen Fällen sind die Fachgerichte verpflichtet, vorläufigen Rechtsschutz gegen das vermutlich verfassungswidrige Steuergesetz zu gewähren. … Die Unterordnung der Grundrechte der Bürger unter das Diktat des Staatshaushalts stellt einen tiefgreifenden Wandel bisher gefestigt erschienener Auffassungen dar. In der Rechtsprechung des BVerfG hat eine Werteverschiebung stattgefunden in Bezug auf den Rang der Grundrechte im Verfassungsgefüge und das Verhältnis der Bürger als Grundrechtsträger zum Staatsganzen. Diese Rechtsprechungsänderung markiert eine substantielle Entwertung der Grundrechte zugunsten von Staatswohlbelangen“.

Der VI. Senat des BFH hat den vorläufigen Rechtsschutz-Vorstoß aus Hannover mit Beschluss vom 23.8.2007 bestätigt25. Denn, so der BFH, das „Aussetzungsinteresse der Antragsteller wird dadurch verstärkt, dass das BVerfG … nach seiner bisherigen Praxis möglicherweise nicht die Nichtigkeit des § 9 Abs. 2 EStG n. F. feststellen, sondern die Vorschrift lediglich für grundgesetzwidrig ansehen und dem Gesetzgeber mit geräumiger Frist eine Änderung für die Zukunft aufgeben könnte“.

Gleichzeitig hat der BFH dem Versuch des Bundesfinanzministeriums, dem Eilverfahren beizutreten und dieses womöglich verzögern zu wollen, eine Absage erteilt: In einem Verfahren über den vorläufigen Rechtsschutz sei ein Beitritt der Spitze der Finanzverwaltung unzulässig. Der BFH betont seine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Wegfalls der ersten 20 Entfernungskilometer bei der Berufspendlerpauschale, wie vorher schon das Niedersächsische Finanzgericht, auch mit Hinweisen auf aktuelle verfassungsrechtliche Analysen von Klaus Tipke26. Nach Gewährung der Aussetzung der Voll-

__________ 23 G. Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, kritische Untersuchung der grundrechtseinschränkenden Rechtsfolgenaussprüche des BVerfG und Hinweise für den Weg zurück zum effektiven Rechtsschutz in Steuersachen, 2003, S. 75 ff., 85 ff.; dazu K. Tipke, StuW 2004, 187; B. Sangmeister, FR 2004, 857. 24 Vgl. M. Balke, Der Spiegel 43/1992, 156 (157); M. Balke, Finanzrichter als Garanten für Steuergerechtigkeit?, in Harzburger Steuerprotokoll 1993, Köln 1994, S. 85 (97); ebenso schon G. Habscheidt, BB 1992, 1322. 25 BFH v. 23.8.2007 – VI B 42/07, BFHE 218, 558 = BStBl. II 2007, 799 = FR 2007, 960 m. Anm. Tipke. Die Neue Zürcher Zeitung vom 7.9.2007 kommentierte: „Beim Fehlen einer schlagkräftigen parlamentarischen Opposition setzen wenigstens die Gerichte solch obrigkeitlicher Willkür Grenzen“. 26 K. Tipke, FS für Raupach, 2006, S. 177 ff.; K. Tipke, BB 2007, 1525.

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ziehung durch das Niedersächsische Finanzgericht und den BFH konnten viele Millionen Steuerbürger auf die Rückkehr der ungekürzten Berufspendlerpauschale nach altem Recht vom 1.1.2007 an, damit auf eine geringere Einkommensteuer hoffen27. Wichtig war allerdings noch, dass mit dem Schwung der Eilbeschlüsses des Niedersächsischen Finanzgerichts und des BFH die „richtige“ Faktenlage für künftige Entscheidungen des BVerfG in den genannten Vorlageverfahren zur Berufspendlerpauschale, für das vielzitierte „letzte Wort“, geschaffen wurde. Klaus Tipke hatte mit seinem Fachbeitrag vom 9.7.2007 zu Recht vor den Faktoren „Zeit“ und „staatliches Abkassieren“ gewarnt: „Je länger die Entscheidung des BVerfG sich hinauszögert, desto mehr wird die Zuversicht des Finanzministers wachsen, das Gericht könnte das ‚Werkstorprinzip‘ allenfalls für unvereinbar mit der Verfassung erklären und der Staatskasse die inzwischen von den Pendlern kassierten Einnahmen belassen.“28

Möglichst viele betroffene Berufspendler sollten möglichst schnell ihre Lohnsteuerkarten 2007 beim Arbeitgeber anfordern, dann beim Finanzamt einreichen und die Eintragung der (ungekürzten) Pauschale nach altem Recht beantragen. Mit den Lohnsteuerkarten 2008 sollte ebenso verfahren werden. Dazu hatte ich die Bürger in einem Fachbeitrag aufgerufen29. Zwar bestand nach gewährter Aussetzung der Vollziehung ein Zinsrisiko. Hätte das BVerfG die gesetzliche Neuregelung für verfassungsgemäß erklärt, dann hätten Einkommensteuern nachgezahlt werden müssen, zzgl. sechs Prozent Aussetzungszinsen pro Jahr. Durch dieses Risiko sollten sich betroffene Bürger aber nicht von einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz abhalten lassen. Denn ohne gewährten (massenhaften) vorläufigen Rechtsschutz hätte wieder die große Gefahr bestanden, dass das BVerfG – im Falle einer gegen die Neuregelung ausfallenden Entscheidung – die Weitergeltung des verfassungswidrigen Steuergesetzes angeordnet, also die „pro-futuro-Rechtsprechung“ des BVerfG den effektiven Steuerrechtsschutz wieder komplett verhindert hätte. 3. Beispiele a) Berufspendlerpauschale Bekanntlich hat das BVerfG die Kürzung der Berufspendlerpauschale für verfassungswidrig erklärt und dies, und das wird als die eigentliche Sensation angesehen, ab dem 1.1.2007, also von Beginn des geänderten Anwendungszeit-

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27 Es ging um geschätzte 2,5 Mrd. Euro Einkommensteuern pro Jahr. Und es ging um weitere erhebliche Beträge: Für Eltern von erwachsenen Kindern, die zur Ausbildungsstätte pendeln, waren wieder Kindergeld und/oder Kinderfreibeträge wegen Nichtüberschreitens des Grenzbetrags (damals jährlich 7.680 Euro) aufgrund der Fahrtkosten als Werbungskosten möglich. Andere Entlastungen, auch in anderen Rechtsgebieten, etwa: Familien- und Ortszuschläge für im öffentlichen Dienst stehende Eltern, konnten hinzukommen. 28 K. Tipke, BB 2007, 1525, 1533. 29 Vgl. M. Balke, NWB Nr. 39 vom 24.9.2007, 3397 (3399 ff.); über diesen Fachbeitrag berichtete die F.A.Z. vom 26.9.2007, S. 14: „Finanzrichter ruft zu Einspruch auf“.

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raums an. Das BVerfG hat damit seine eigene (unsägliche) pro-futuro-Rechtsprechungspraxis in einem bedeutenden haushaltswirksamen Verfahren erstmals nicht angewandt. Das BVerfG begründet dies im vorletzten Absatz seiner Ausführungen (eher etwas umständlich) wie folgt30: „Danach ist auch hinsichtlich des § 9 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 EStG der verfassungswidrige Zustand rückwirkend ab dem 1.1.2007, dem Beginn des Anwendungszeitraums des Steueränderungsgesetzes 2007, zu beseitigen. Eine mögliche Ausnahme von dieser Regelfolge der Unvereinbarkeit, wie sie bei haushaltswirtschaftlich bedeutsamen Normen vom BVerfG wiederholt bejaht worden ist (vgl. BVerfGE 93, 121 ; 105, 73 ; 117, 1 ), scheidet vorliegend aus. Es handelt sich um einen vergleichsweise kurzen Anwendungszeitraum der Neuregelung, deren Verfassungsmäßigkeit stets umstritten war und für den auch die Finanzverwaltung bereits auf Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit mit vorläufigen Regelungen reagiert hatte (vgl. u. a. BMF, Schr. v. 4.10.2007, BStBl. I S. 722, zur Stattgabe bei Anträgen auf Aussetzung der Vollziehung; BMF, Schr. v. 8.10.2007, BStBl. I S. 723, u. a. zur vorläufigen Steuerfestsetzung; BMF-Schreiben v. 18.1.2008, BStBl. I S. 278, zur vorläufigen Steuerfestsetzung).“

Zwar zitiert das BVerfG nicht die Entscheidungen des 7. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts und des 6. Senats des BFH zur Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes (Aussetzung der Vollziehung im Lohnsteuerermäßigungsverfahren). Jedoch ist klar, dass es ohne die genannten Finanzgerichtsentscheidungen die vom BVerfG zitierten Schreiben des Bundesfinanzministeriums nicht gegeben hätte. Die raschen Entscheidungen des Niedersächsischen Finanzgerichts und des BFH im vorläufigen Rechtsschutzverfahren haben wohl insgesamt dafür gesorgt, dass auch das BVerfG relativ schnell entschieden hat, somit der Anwendungszeitraum der verfassungswidrigen Neuregelung (gekürzte Berufspendlerpauschale) vergleichsweise kurz war (knapp zwei Jahre). Somit erhielten die betroffenen Steuerbürger endgültigen effektiven Rechtsschutz vom BVerfG bei einer Steuerstreitigkeit mit verfassungsrechtlicher Dimension durch Gewährung raschen vorläufigen Rechtsschutzes von den Fachgerichten. Der vorläufige Rechtsschutz wird so zum notwendigen Teil des effektiven Rechtsschutzes: eine besondere Erfolgsgeschichte des Steuerprozessrechts31. Mit anderen Worten: Die erfolgreiche Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes bei der Berufspendlerpauschale vereitelt eine pro-futuro-Entscheidung des BVerfG und gewährleistet so effektiven Steuer-Rechtsschutz.

__________ 30 Urteil des BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 = FR 2009, 74 mit Anm. Greite. 31 M. Mann begrüßt ausdrücklich die rechtsschutzwahrenden AdV-Entscheidungen der Fachgerichte in einem bemerkenswerten Diskussionsbeitrag in: Widmann, Steuervollzug im Rechtsstaat, DStJG 31 (2008), S. 229 (230). K.-D. Drüen, a. a. O., S. 231, schließt sich dem an. Dazu auch klarsichtig und die neue Rechtsschutz-Entwicklung mitbeeinflussend: R. Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 22 Rz. 221 mit weiteren Nachweisen und mit dem besonderen Hinweis auf die (von den Finanzbehörden nach § 361 Abs. 2 Satz 1 AO von Amts wegen) zu gewährende Aussetzung der Vollziehung als ein staatliches Mittel „budgetärer Risikovorsorge“.

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Wer dieses Zusammenwirken verschiedener Antrags- und Entscheidungsmöglichkeiten in Sachen Steuerrechtsschutz verstanden hat32, neigt zur Wiederholung, wie folgender Abschnitt beweist. b) Häusliches Arbeitszimmer Nach dem Beschluss des 7. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 2.6.2009 in einem weiteren Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist es ernstlich zweifelhaft, ob das ab 2007 geltende (fast komplette) Werbungskostenabzugsverbot für häusliche Arbeitszimmer verfassungsgemäß ist33. Schon vor und mit der Einführung der Neuregelung zur (fast vollständigen) Nichtabzugsfähigkeit der beruflichen Arbeitszimmerkosten wird in der Fachöffentlichkeit erörtert, dass diese Vorschrift insbesondere gegen das objektive Nettoprinzip verstößt34. Das Finanzgericht greift diese verfassungsrechtlichen Zweifel auf und betont – wie schon bei der Aussetzung der Vollziehung zum Thema „Berufspendlerpauschale“ – dass der effektive Steuer-Rechtsschutz über den staatlichen Haushaltsinteressen steht. Originalton des Niedersächsischen Finanzgerichts35: „Auch vor dem Hintergrund der bisherigen Weitergeltungsanordnungen für verfassungswidrige gesetzliche Vorschriften, der sog. pro-futuro-Rechtsprechungspraxis des BVerfG (zur Problematik auch Bendixen, ZRP 2009, 85, 86) hält der beschließende Senat die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes – wie bei der Berufspendlerpauschale … – für erforderlich.“

Walter Drenseck folgt dieser Einschätzung „uneingeschränkt“36. Und mit Beschluss vom 25.8.2009 hat der 6. Senat des BFH die Rechtsprechung des 7. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts zum vorläufigen Steuer-Rechtsschutz mit verfassungsrechtlichem Hintergrund erneut bestätigt37. Das BVerfG hat über den Aussetzungs- und Vorlageschluss des Finanzgerichts Münster

__________ 32 Dazu gehören offensichtlich nicht bestimmte Richter des FG München – vgl. deren Beschluss FG München v. 5.10.2009 – 4 V 1548/09, DStR 2009, 2420, wonach die von den Richtern prognostizierte (künftige) pro-futuro-Entscheidung des BVerfG im Hinblick auf eine etwaige Verfassungswidrigkeit der Neuregelung des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes zur Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung von Erbschaftsteuerbescheiden führt. Mit Beschluss vom 1.4.2010 hat der 2. Senat des BFH den unsäglichen Beschluss des FG München bestätigt, vgl. BFH v. 1.4.2010 – II B 168/09, DStR 2010, 749. 33 FG Nds. v. 2.6.2009 – 7 V 76/09, EFG 2009, 1548; vgl. auch FG Düsseldorf v. 21.8.2009 – 11 V 2481/09 A, EFG 2009, 1839. Im Anschluss an einen Aussetzungsund Vorlagebeschluss des FG Münster an das BVerfG: FG Münster v. 8.5.2009 – 1 K 2872/08 E, DStR 2009, 1024 – Az. des BVerfG: 2 BvL 13/09. 34 So hat auch der Jubilar nach grundlegenden Ausführungen zum „Stellenwert des objektiven Nettoprinzips im deutschen Einkommensteuerrecht“, auf die sich das Finanzgericht stützt, die neue Vorschrift zu den Arbeitszimmerkosten kritisiert: J. Lang, StuW 2007, 3 (7, 14); vgl. auch J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 254 ff. 35 FG Nds. v. 2.6.2009 – 7 V 76/09, EFG 2009, 1548 (1552). 36 W. Drenseck, DStR 2009, 1877 (1878). 37 BFH v. 25.8.2009 – VI B 69/09, BStBl. II 2009, 826.

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vom 8.5.200938 mit Beschluss vom 6.7.201038a entschieden und den Gesetzgeber verpflichtet, Arbeitszimmeraufwendungen rückwirkend zum VZ 2007 wieder abziehbar zu stellen, soweit dem Steuerpflichtigen für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Die Finanzverwaltung gewährt bis zu einer gesetzlichen Neuregelung vorläufig den begrenzten Abzugsbetrag i. H. v. 1.250 Euro38b. c) Ungleiche Erbschaft- und Schenkungsteuer Auch wegen des Schwungs des öffentlichen Protestes des Jubilars ist sicher, dass das neugefasste Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz in und nach entsprechenden finanzgerichtlichen Verfahren auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand gestellt wird39. Kaum ein Grundbesitz- und/oder BetriebsvermögensErbe wird – im Gegensatz zu Erben von Geldvermögen und/oder Pflichtteilsberechtigten – Erbschaftsteuer zu zahlen haben. Die Erbschaft- und Schenkungsbesteuerung ist – aufgrund weitgehender Steuerfreistellungen – die Ausnahme. Das galt (im Ergebnis) vor der letzten Entscheidung des BVerfG zur Erbschaft- und Schenkungsteuer40 und das gilt – trotz der Entscheidung des BVerfG – fort. Im Kern hat sich beim erneut verfassungswidrigen Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz nicht viel verändert: Die Entscheidungen des BVerfG zur Erbschaft- und Schenkungsteuer in den Jahren 199541 und 200642 haben das jeweilige Gesetz wegen der unterschiedlichen (gleichheitssatzwidrigen) Bewertungen verschiedener Vermögensarten für verfassungswidrig erklärt, gleichwohl die verfassungswidrigen Regelungen für eine bestimmte Übergangszeit für weiterhin anwendbar erklärt. Die Kläger der jeweiligen Ausgangsverfahren haben keinen effektiven Rechtsschutz erfahren, weil die pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG dort nicht – durch Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes – aufgehalten worden ist. Der 2. Senat des BFH hätte leicht für eine Durchbrechung sorgen können. Denn nachdem er im Jahre 2002 zum Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz einen Vorlage- und Aussetzungsbeschluss nach Art. 100 Abs. 1 GG43 gefasst hatte, beantragte der Kläger des dem BVerfG vorgelegten Verfahrens beim 2. Senat des BFH vorläufigen Rechtsschutz in Form der Aufhebung der Vollziehung. Aber: Der 2. Senat des BFH hat den vorläufigen Rechtsschutz nicht gewährt, er hat den für den vorläufigen Rechtsschutz erforderlichen „ernstlichen rechtlichen Zweifel“ i. S. d. § 69 FGO nicht angenommen, obwohl das Gericht

__________ 38 FG Münster v. 8.5.2009 – 1 K 2872/08, DStR 2009, 1024. 38a BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, FR 2010, 804 m. Anm. Greite. 38b BMF v. 12.8.2010 – IV A3 - S 0338/07/10010-03, FR 2010, 814. 39 Vgl. zuletzt auch J. Lang, Gleichheitswidrigkeit und gleichheitsrechtliche Ausgestaltung der erbschaftsteuerlichen Verschonung, FR 2010, 49. 40 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1. 41 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165. 42 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1. 43 BVerfG v. 22.5.2002 – II R 61/99, BStBl. II 2002, 598 = FR 2002, 1060 m. Anm. Birk.

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kurz vorher in derselben Rechtssache bei seinem Aussetzungs- und Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 GG die rechtliche „Überzeugung“ von der Verfassungswidrigkeit des dem Bescheid zugrunde liegenden Gesetzes zum Ausdruck gebracht hatte. Wie passt das zusammen? Der 2. Senat des BFH begründete die Ablehnung des vorläufigen Rechtsschutzes damit, dass beim BVerfG im Hauptverfahren nur mit einer „pro-futuro-Entscheidung“ zu rechnen sei44. Was soll das und was ist das? Vorauseilender Gehorsam, eine selbsterfüllende Prophezeihung oder schlicht eine Fehlspekulation? Wie auch immer – eins jedenfalls hat der 2. Senat des BFH nicht gemacht: Er hat sich nicht wirklich bei der Behandlung aller Rechtsmittel um effektiven Steuer-Rechtschutz bemüht, vielmehr ist er auf halbem Weg stehengeblieben und war schließlich zufrieden, dass der eigene Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom BVerfG nicht für unzulässig gehalten worden ist. Wie es ganz anders laufen kann, zeigt deutlich die oben beschriebene Rechtsschutzentwicklung bei der Berufspendlerpauschale und bei den Arbeitszimmerkosten, ausgehend von der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch den 7. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts, über die Bestätigung durch den 6. Senat des Bundesfinanzhofs bis zur endgültigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit dem vollen effektiven Rechtsschutz für die Berufspendler und die Inhaber von Arbeitszimmern. Aktuell sollten alle Bescheidempfänger, die mit Erbschaftsteuer und/oder Schenkungsteuer belastet werden, sich mit allen rechtsstaatlichen Mitteln wehren, auch mit der Suche nach vorläufigem Rechtsschutz bei bestimmten Finanzgerichten, um einer erneuten pro-futuro-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Erbschaft- und Schenkungsteuer vorzubeugen. Dies, obwohl soeben der 2. Senat des Bundesfinanzhofs in einem Verfahren wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes wieder einmal vorläufigen Rechtsschutz versagt hat. Der 2. Senat des Bundesfinanzhofs argumentiert: Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung sei abzulehnen, weil der Steuerpflichtige nicht das unter den besonderen Umständen des Streitfalls erforderliche (besondere) Aussetzungsinteresse dargetan hat. Auf die Frage, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Schenkungsteuerbescheides im Sinne des § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO bestehen, komme es danach nicht an. Hier sei an der langjährigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, nach der wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorausgesetzt werde, festzuhalten. Auch dieser neue (abschlägige) Beschluss des 2. Senats des Bundesfinanzhofs zum vorläufigen Rechtsschutz im Zusammenhang mit der verfassungswidri-

__________

44 BFH v. 17.7.2003 – II B 20/03, BStBl. II 2003, 380 = FR 2003, 1096. Ähnlich verworren der AdV-Beschluss des FG München v. 5.10.2009 – 4 V 1548/09, DStR 2009, 2420; sowie die Bestätigung durch den 2. Senat des BFH mit Beschluss v. 1.4.2010 – II B 168/09, DStR 2010, 749.

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gen Erbschaft- und Schenkungsbesteuerung kann aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Zum einen wird eine veraltete Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zitiert, die noch nie eine Grundlage im Wortlaut des § 69 FGO finden konnte; von einem erforderlichen (besonderen) Aussetzungsinteresse des Antragstellers bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei Steuerverfassungsstreitfragen ist in § 69 FGO nicht die Rede. Zweitens setzt sich der 2. Senat des Bundesfinanzhofs mit der einschlägigen Dissertation von Gerhardt Habscheidt nicht auseinander; im Gegensatz zum 2. Senat des Bundesfinanzhofs erkennt Gerhardt Habscheidt: „Nach der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf nur ausnahmsweise und nur für den Zeitraum, den der Staat benötigt, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls in die Wege zu leiten, der vorläufige Rechtsschutz einstweilen zurückgestellt werden. Wenn etwa die Haushaltslage so beengt ist, dass die durch die Aussetzung der Vollziehung befürchteten Einnahmeausfälle zu einer staatlichen Notlage führen würden, muss vorläufiger Rechtsschutz zurückstehen, bis der Staat Maßnahmen zur Verhinderung der Notlage, zum Beispiel durch eine erhöhte Kreditaufnahme oder zeitweilige Steuererhöhungen, ergriffen hat … Nach diesem Zeitpunkt gibt es keine Rechtfertigung mehr für die Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes. Ein genereller Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes wegen der im Steuerrecht zwangsläufigen Breitenwirkung und der damit verbundenen Haushaltsbelastung führt de facto zu einer Suspendierung der vom verfassungswidrigen Gesetz verletzten Grundrechte und verletzt den Anspruch des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz … Wenn ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Steuernorm mit fiskalischer Breitenwirkung deutlich werden, muss der Staat, wenn er Schritte zur Anpassung der Gesetzeslage noch nicht unternehmen will, zumindest Vorsorge für den Fall treffen, dass die betreffende Norm für verfassungswidrig erklärt wird … Weil er die primäre Verantwortung für das Recht hat, darf er nicht einfach nur zuwarten … Der Staat hat kein schützenswertes Interesse, eine verfassungswidrige Steuer zu verplanen und auszugeben. Aussetzung der Vollziehung darf mit Rücksicht auf öffentliche Belange deshalb nur so lange versagt werden, wie der Staat noch keine Gelegenheit hatte, sich auf die Lage einzustellen und Vorsorge zu betreiben … Die Schranken-Schranke zeigt deutlich die Dimensionen des Verbots der Umkehrung des vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Der Staat muss unverzüglich tätig werden, um die Hindernisse auszuräumen, die der Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes entgegenstehen. Nur einstweilen, das heißt so lange, wie der Staat benötigt, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten, darf vorläufiger Rechtsschutz versagt werden. Bleibt der Staat hingegen – entsprechend der heute vorherrschenden Praxis – untätig und stellt er dem Rechtsschutzbegehren des Bürgers jene öffentlichen Belange als dauerndes Hindernis entgegen, dann macht er die Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes zur Regel. Das ist nicht nur der gesetzgebenden Gewalt und der vollziehenden Gewalt, sondern auch den Gerichten verwehrt.“

Zum Dritten übersieht der 2. Senat des Bundesfinanzhofs einen stattgebenden Beschluss der 1. Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22.9.2009 (Az. 1 BvR 1305/09), nach dem zu den Rechtsbehelfen, deren Effektivität Art. 19 Abs. 4 GG schützt, auch die Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung gehört. Danach umfasst die Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG insbesondere auch effektiven vorläufigen Rechtsschutz. Namentlich – so das 978

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Bundesverfassungsgericht – muss in Eilverfahren gerichtlicher Rechtsschutz so weit wie möglich der Schaffung vollendeter, irreversibler Tatsachen zuvorkommen. Das Bundesverfassungsgericht führt im Einzelnen aus: „Art. 19 Abs. 4 GG verbietet es, den Zugang zu einem Rechtsbehelf – dazu gehört auch die Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung – in aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 49, 329 ). Die jeweils geltende Prozessordnung muss Vorkehrungen dafür treffen, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann. Ein Rechtsbehelf darf nicht ineffektiv gemacht werden und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ (vgl. BVerfGE 96, 27 zur Berufszulassung). Art. 19 Abs. 4 GG garantiert insbesondere auch effektiven vorläufigen Rechtsschutz. Denn wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz … Sind dem Richter im Interesse einer angemessenen Verfahrensgestaltung Ermessensbefugnisse eingeräumt, so müssen diese im konkreten Fall im Blick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden. Sie dürfen nicht zu einer Verkürzung des grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf einen effektiven Rechtsschutz führen (vgl. BVerfGE 49, 220 ).“

IV. Fazit und Ausblick Joachim Lang hat mit seinem bundesweit vernehmbaren Protest gegen die unzureichende Neuregelung des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes wieder einmal zu Recht den Finger in die Wunde gelegt. Viele Steuerbürger werden dem Jubilar dankbar sein für die deutliche Kennzeichnung der verfassungsrechtlichen Mängel des neuen Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes. Seinem Aufruf, gegen die verfassungswidrige Erbschaft- und Schenkungsteuerbelastung zu klagen, werden wohl viele Steuerbürger folgen. Dabei können die erbschaft- und schenkungsteuerbelasteten Bürger auf die jüngsten (guten) Erfahrungen zur finanzgerichtlichen Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Aussetzung der Vollziehung) bei der Berufspendlerpauschale und bei den Arbeitszimmerkosten aufbauen. Die Bürger sollten nicht allein auf die (bloße) Anfechtung der derzeitigen Erbschaft- und Schenkungsteuerbescheide und auf andere Mittel des Offenhaltens eines Bescheides vertrauen. Vielmehr sollten sie – wie gezeigt – auch den Weg des vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (ggf. Aufhebung der Vollziehung) wählen, zunächst beim Finanzamt (§ 361 Abs. 2 Satz 2 AO) dann beim Finanzgericht (§ 69 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 FGO). Je mehr vorläufiger Rechtsschutz (Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung) beantragt und von den Finanzgerichten gewährt wird, desto größer ist die Chance, dass das BVerfG Weitergeltungsanordnungen (pro-futuro-Entscheidungen) unterlässt und die Bürger wirklichen effektiven Steuer-Rechtsschutz erfahren. 979

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In diesem Zusammenhang sollten sich Finanzrichter mehr Gedanken über den § 76 FGO machen, wonach darauf hinzuwirken ist, dass sachdienliche Anträge gestellt werden. Wenn, wie geschehen, ein Steuerbürger in einem Lohnsteuerermäßigungsverfahren wegen der gesetzlich verunstalteten Berufspendlerpauschale eine Klage einreicht, dann können sich die zuständigen Richter darauf beschränken, die Möglichkeiten der Klageabweisung oder des Aussetzungsund Vorlagebeschlusses zu prüfen. Die zuständigen Richter könnten aber auch zusätzlich dem klagenden Steuerbürger einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, erst beim Finanzamt, dann beim Finanzgericht, nahelegen. Auch weil ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes neben einem Klageverfahren oder Einspruchsverfahren im (vorläufigen) Lohnsteuerermäßigungsverfahren seitens der Bürger mit Ihren Beratern oft als verfahrensrechtliches Hochreck empfunden wird, sollten die zuständigen Finanzrichter über § 76 FGO für Aufklärung und Erleichterung sorgen. Der Suchende nach effektivem SteuerRechtsschutz wird einen richterlichen Hinweis auf den möglichen vorläufigen Rechtsschutz als Bestandteil des effektiven Steuer-Rechtsschutz als sachdienlich ansehen45. Hoffnung auf Beendigung der nicht zu rechtfertigenden pro-futuro-Rechtsprechungspraxis des BVerfG vermittelt auch Rechtsanwalt Reinhard Patzina mit seinem Beschwerdeschreiben vom 14.1.2010, gerichtet an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Patzina rügt die pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG zur steuerlichen Abzugsfähigkeit von Krankenversicherungsbeiträgen als „verfassungswidrige Verfassungsrechtsprechung“ und verlangt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wegen Verletzung verschiedener Grundsätze der Menschenrechtskonvention (Art. 5, Freiheit der Person; Art. 8, Privat- und Familienleben; Art. 6, Verfahrensgarantien; Art. 14, Diskriminierungsverbot) die Bundesrepublik Deutschland zum Schadenersatz zu verurteilen (das Patzina-Verfahren wird unter der Beschwerdenummer 2795/10 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt).

__________ 45 Ähnlich bereits M. Balke, Diskussionsbeitrag, in Widmann, Steuervollzug im Rechtsstaat, DStJG 31 (2008), S. 239.

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Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht Zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nach der VwGO

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Überblick über die bisherige Rechtsbehelfsdichotomie im Abgabenrecht 1. Finanzrechtsweg und Verwaltungsrechtsweg 2. Einspruchs- und Widerspruchsverfahren III. Änderungen durch die Beschränkung des Widerspruchsverfahrens 1. Überblick über die Widerspruchsverfahrensreformen der Länder 2. Kritische Überprüfung der Beschränkung des Widerspruchsverfahrens im Steuerrecht a) Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, Art. 3 Abs. 1 GG b) Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie, Art. 19 Abs. 4 GG aa) Rechtsschutzgarantie im Allgemeinen bb) Rechtsschutzfunktion des Vorverfahrens cc) Anforderungen an die Rechtsschutzgarantie im Steuerrecht

c) Verstoß gegen höherrangiges Bundesrecht, Art. 31 GG IV. Verfassungsrechtliche Fragen bei einer Rückkehr zum alten Recht 1. Effektivität des Rechtsschutzes in zeitlicher Sicht 2. Effektivität des Rechtsschutzes aus Kostengründen 3. Effektivität des Rechtsschutzes in tatsächlicher Hinsicht V. Vision eines einheitlichen Einspruchsverfahrens im Steuerrecht 1. Gründe für ein einheitliches steuerrechtliches Einspruchsverfahren 2. Gründe für ein einheitliches Gerichtsverfahren 3. Prüfung der Gesetzgebungskompetenz a) Fragen zur Gesetzgebung des Steuerverfahrens b) Fragen zur Gesetzgebung der Finanzgerichtsbarkeit VI. Zusammenfassung und Schlussbemerkung

I. Einleitung Das Widerspruchsverfahren als außergerichtliches Vorverfahren gegen behördliche Maßnahmen wurde jüngst durch landesgesetzliche Ausnahmevorschriften teilweise abgeschafft oder weitestgehend beschränkt, die die seit dem 1.1.1997 geltende Öffnungsklausel des § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO in Anspruch genommen haben. Fachliteratur1, Rechtsprechung2 und auch die

__________ 1 Z. B. Ch. Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 ff.; H. Mayer, NdsVBl. 2009, 7 ff.; G. Beaucamp/P. Ringermuth, DVBl. 2008, 426 ff.; H. van Nieuwland, NdsVBl. 2007, 38 ff.; M. Kamp, NWVBl. 2008, 41 ff.; T. Holzner, DÖV 2008, 217 ff. 2 BayVerfGH, NVwZ 2009, 716 ff.

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Medien3 haben bereits ausgiebig die rechtlichen und tatsächlichen Konsequenzen dieser Verwaltungsverfahrensreformen bewertet. Dabei wurde auch auf die rechtlichen Anforderungen an diese Form des Rechtsschutzes sowie auf die qualitativen Unterscheidungen zwischen vorgerichtlichen und gerichtlichen Rechtsbehelfen hingewiesen und die Reform zudem unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und der Kosten- und Zeitersparnis beurteilt. Bisher ungeachtet blieb ein vergleichender Blick auf das im Steuer- und Abgabenrecht vorherrschende und verfahrensrechtlich mit dem Widerspruchsverfahren verwandte vorgerichtliche Rechtsbehelfsverfahren, das Einspruchsverfahren nach §§ 347 ff. AO. Dieses Unterlassen ist erstaunlich, und wohl nur dadurch erklärlich, dass sich mit dieser Thematik bisher nur Verwaltungsrechtler, nicht aber Steuerrechtler befasst haben. Letzteren drängt sich bei der für das Steuerrecht relevanten Abschaffung des Widerspruchsverfahrens, insbesondere in dem Bereich der Realsteuern bzw. der Kommunalsteuern und -abgaben, der vergleichende Blick auf das im Abgabenrecht viel häufiger einschlägige Einspruchsverfahren auf. Ziel dieses Beitrages ist die Untersuchung, wie die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens im Abgabenrecht nach verfassungsrechtlichen Maßstäben zu bewerten ist. Weiterhin soll dieser Beitrag die Regelungen des Einspruchsverfahrens beleuchten. Aus Sicht des Steuerjuristen bietet sich dieses Verfahren als Muster eines vorgerichtlichen Rechtsbehelfs und damit auch als eine Alternative zum bisherigen Widerspruchsverfahren an. Dieser Beitrag soll daher die anhaltende Diskussion um die weiterhin ungeklärte Zukunft4 des Widerspruchsverfahrens insbesondere aus steuerrechtlicher Sicht bereichern. Er geht davon aus, dass es im Steuerrecht unter rechtlichen und systemtragenden Gesichtspunkten, insbesondere aus Gründen eines effektiven Rechtsschutzes nicht sachgerecht ist, gegen Verwaltungsakte der Finanz- und Steuerbehörden als ersten Rechtsbehelf je nach Bundesland oder Steuerart den Einspruch, den Widerspruch oder die Klage zum FG oder zum VG vorzusehen. Sachgerechter ist es, die Rechtsbehelfssysteme zu harmonisieren und ein Rechtsschutz-System zu schaffen, das für alle Steuerarten und in allen Bundesländern einheitlich gilt. Steuerrecht ist Massenverfahrensrecht. Daher bewirkt jede Beschneidung des vorgerichtlichen Rechtsbehelfes im Abgabenrecht eine Verkürzung des Rechtsschutzes des Steuerbürgers. Der Jubilar selbst hat in dem Eröffnungsvortrag zur 18. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft zum Rechtsschutz in Steuersachen die große Bedeutung eines funktionierenden Rechtsschutzes herausgestellt:

__________ 3 Vgl. z. B. die 3sat-Sendung „Recht brisant“ v. 3.9.2008 – Informationen unter: http:// www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/specials/125737/index.html; ZDF-Sendung „Frontal 21“ am 1.7.2008 – Informationen unter http://frontal21.zdf.de/ZDFde/inhalt/ 1/0,1872,1001633_idDispatch:7764351,00.html. 4 Die Zukunft ist insbesondere deshalb ungeklärt, da viele Reformbundesländer die Änderungsregelungen zum Widerspruchsverfahren zeitlich begrenzt haben, so z. B. NRW.

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Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht „Was hat die Aufgabe, den Rechtsgedanken im materiellen Steuerrecht zu verwirklichen, mit dem Rechtsschutz in Steuersachen zu tun? Die Antwort auf diese Frage scheint mir einfach zu sein. Der Wert der Justizgrundrechte im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsprozess lebt davon, dass mit den Institutionen des Rechtsschutzes das Recht verwirklicht wird und dass die Institutionen des Rechtsschutzes nicht zu bloßen Instrumenten der Interessenverwirklichung herabgewürdigt werden. Die Funktion des Verwaltungsprozesses ist die Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung. … Der Rechtsstaat fordert zweierlei, materiell ein gerechtes, vornehmlich an der Gleichheit ausgerichtetes Recht, „equal justice under law“, und formell den Rechtsschutz, der dem Bürger sein Recht sichern soll“5.

Auch andere Mitglieder der Kölner Steuerrechtsschule haben die Notwendigkeit eines erreichbaren Rechtsschutzes in Steuersachen unterstrichen6. Dieser Beitrag soll dazu beitragen, die von dem Jubilar stets betonten Anforderungen an das Steuerrecht, folgerichtig und systemkonform zu sein, in Bezug auf die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens im Steuerrecht zu prüfen. Wiederum sei der Jubilar zitiert, dessen Worte das Thema dieses Beitrags treffend beschreiben: „Was hat der Rechtsstaat im Steuerrecht zu leisten? Wie sieht die Wirklichkeit des Rechtsschutzes im Steuerrecht aus? Und was ist zu tun, um die Anforderungen des Rechtsstaats in Einklang zu bringen mit der Wirklichkeit des Rechtsschutzes im Steuerrecht?“7

II. Überblick über die bisherige Rechtsbehelfsdichotomie im Abgabenrecht Der Rechtsschutz im Abgabenrecht ist, auch wenn dies in der einschlägigen steuerrechtlichen Literatur nicht oder nur im Ansatz dargestellt wird8, zweigeteilt, nämlich in finanzrechtliche und verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe. Dies gilt sowohl für das gerichtliche als auch für das vorgerichtliche Verfahren. 1. Finanzrechtsweg und Verwaltungsrechtsweg Es gibt keinen einheitlichen Finanzrechtsweg im Steuerrecht. Grundsätzlich ist in Steuersachen gem. § 33 FGO das FG als besonderes VG zuständig. Davon abweichend ist bei Kommunalabgaben der allgemeine Verwaltungsrechtsweg nach § 40 VwGO eröffnet.

__________ 5 J. Lang, DStJG 18 (1995), S. 1 ff. (5 f.). 6 R. Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22; K. Tipke, StRO III, § 31; StuW 2004, 3 ff.: „Das Verfahrensrecht hat die Aufgabe, die faktische Umsetzung des materiellen Rechts zu ermöglichen, damit dieses nicht papierenes Recht bleibt. Verfahrensrecht wird insbesondere benötigt zur Sachaufklärung und zur ordnungsgemäßen Prüfung von Rechtsbehelfen. Nur umgesetztes, verwirklichtes Recht ist Recht; nicht umgesetztes oder durchgesetztes Recht ist totes Recht, es verliert seinen Rechtcharakter, ist verfassungswidrig.“ 7 J. Lang, DStJG 18 (1995), S. 2. 8 Nur beispielhaft genannt seien D. Birk, Steuerrecht, § 5 Abschnitt D; L. Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, Einführung.

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2. Einspruchs- und Widerspruchsverfahren Die Zweiteilung des Rechtsweges gilt auch für den außergerichtlichen Rechtsbehelf, welcher bisher vor jeder abgabenrechtlichen Klage durchgeführt werden musste. Verfahrensrechtlich wird die Zweiteilung hergestellt über eine beschränkende Anwendung der Abgabenordnung, die vom Grundsatz her als leges speciales zum allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz das besondere Verwaltungsverfahren im Steuerrecht regelt. Gemäß § 1 Abs. 1 AO gilt die Abgabenordnung einschließlich der Vorschriften über das Einspruchsverfahren, §§ 347 ff. AO, für alle Steuern, die durch Bundesrecht oder Recht der Europäischen Gemeinschaften geregelt sind, soweit sie durch Bundesfinanzbehörden oder Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Für Realsteuern nach § 3 II AO, d. h. für Grundsteuer und Gewerbesteuer, gilt die Abgabenordnung nur im begrenzten Umfang. Nach § 1 Abs. 1 AO gilt die Abgabenordnung nur insoweit, wie sie durch die den Ländern unterstehenden Finanzämter verwaltet werden, also für die Festsetzung und die Zerlegung des Steuermessbetrages, §§ 22 Abs. 1, 184 Abs. 3, 185 AO. Soweit die Festsetzung, Erhebung und Beitreibung dieser Steuern in Ausübung von Art. 108 Abs. 4 Satz 2 GG den Gemeinden zugewiesen ist9, erklärt § 1 Abs. 2 AO einige Teile der Abgabenordnung für anwendbar; der Siebente Teil der Abgabenordnung (über das Einspruchsverfahren) bleibt aber auch in diesem Fall unanwendbar. Es verbleibt insoweit bei der allgemeinen Anwendung der Verwaltungsverfahrensgesetze, § 1 VwVfG, so dass gegen solche Steuerbescheide der Gemeinden das Widerspruchsverfahren nach § 68 VwGO zulässig ist. Für die von den Gemeinden verwalteten sonstigen kommunalen Steuern, z. B. die Hundesteuer, die Vergnügungssteuer, die Jagdsteuer oder die Zweitwohnungssteuer, ist die Abgabenordnung nicht unmittelbar anwendbar. Auch die landesrechtlichen Kommunalabgabengesetze erklären nur einen Teil der Abgabenordnung für anwendbar, wobei die Vorschriften über das Einspruchsverfahren hiervon ausgenommen werden10. Auch insoweit war – bzw. ist teilweise immer noch – das Widerspruchsverfahren statthaftes Vorverfahren.

III. Änderungen durch die Beschränkung des Widerspruchsverfahrens Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens hat der Bundesgesetzgeber seit dem 1.1.1997 durch die Öffnungsklausel des § 68 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 VwGO ermöglicht: Hiernach bedarf es eines Vorverfahrens nicht, wenn ein Gesetz dies bestimmt. Der Bundesgesetzgeber hat auf der Grundlage dieser Norm selbst nicht die Abschaffung des Vorverfahrens angeordnet, sondern lediglich in § 68 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VwGO das Vorverfahren für Verwaltungsakte der obersten Bundesbehörde bzw. obersten Landesbehörde und für verbösernde Widerspruchs-/Abhilfebescheide ausgeschlossen.

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9 Dies ist nur in den deutschen Stadtstaaten nicht der Fall, vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 2 Rz. 12; H. Siekmann in Sachs, GG, Art. 108 Rz. 31 ff. 10 H. Siekmann in Sachs, GG, Art. 108 Rz. 32.

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Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht

1. Überblick über die Widerspruchsverfahrensreformen der Länder In jüngerer Zeit haben die Länder umfangreiche Änderungen bis hin zum prinzipiellen Ausschluss des Vorverfahrens erlassen. Einen allumfassenden Überblick über die einzelnen Landesgesetze zu verschaffen, ist schwierig11. Das liegt insbesondere daran, dass das Widerspruchsverfahren in keinem Land gänzlich abgeschafft wurde. Zumeist wurde die Anwendung des Widerspruchsverfahrens grundsätzlich beibehalten, aber für einzelne Bereiche ausgeschlossen12 oder vice versa grundsätzlich ausgeschlossen, aber ausnahmsweise für einzelne Bereiche angeordnet13. Weiterhin haben viele der Reformländer ihre Änderungsgesetze zeitlich oder räumlich beschränkt14, so dass auch für einzelne Länder selbst eine einheitliche Beurteilung nur schwer möglich ist. Zudem haben nicht alle Länder ihre Vorschriften in einem namentlichen Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung, dem sog. AG VwGO, beschlossen, sondern diese in anderen Gesetzeswerken „versteckt“15. Weiterhin sind die Systematik und der Wortlaut der verschiedenen Regelungen derart unterschiedlich, dass selbst Fachleuten eine eindeutige Auslegung der einzelnen Ausschlusstatbestände nicht immer zweifelsfrei möglich ist16. Da darüber hinaus die meisten Länder in der jüngsten Vergangenheit schon wieder Änderungen an ihren Reformen vorgenommen haben17 und die betreffenden Gesetze aller Länder selbst im Zeitalter des Internets nur mühevoll in aktueller Form zu beschaffen sind, wird selbst einem professionellem Rechtsanwender ein umfassender und detaillierter Einblick in die Regelung des Widerspruchsverfahrens in Deutschland erschwert. Dies rechtfertigt den Begriff „Rechtsbehelfs-Wirrwarr“ in dem Titel dieses Beitrages. Umfangreich ausgeschlossen, d. h. insbesondere auch für Verwaltungsakte in Abgabenangelegenheiten, sind Vorverfahren in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen, auch wenn dieser Ausschluss teilweise zeitlich beschränkt wurde, wohl um der Justizverwaltung Gelegenheit zu geben, die Neuregelung zu erproben18. Andere Länder wie Sachsen-Anhalt und Bayern haben Wider-

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11 Versucht haben dies z. B. M. Kamp, NWVBl. 2008, 41 (42), sowie H. Biermann, NordÖR 2007, 139 (142), deren Übersichten – zwangsweise – von der Gültigkeit her zeitlich beschränkt und von der Darstellung her lediglich schematisch bleiben. Beide haben die Regelungen der Bundesländer zurecht als „föderalistischen Flickenteppich“ bezeichnet. 12 So z. B. in Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Thüringen. 13 So z. B. in Bayern, Niedersachen und Nordrhein-Westfalen. 14 Beispielsweise NRW, Niedersachen und Mecklenburg-Vorpommern. 15 Zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern im Gerichtsstrukturgesetz-Ausführungsgesetz, kurz AGGerStrG M-V. 16 Hier hat sich insbesondere Hessen hervorgetan, wo das Vorverfahren in den in der Anlage zur HessAGVwGO genannten Fällen entfällt. Das Land hat dort 68 Ausnahmeregelungen aufgenommen, wovon sich viele Anwendungsbereiche sprachlich nicht auf den ersten Blick erschließen lassen. 17 Z. B. NRW mit den verschiedenen Bürokratie-Abbaugesetzen, die zudem teilweise örtlich und zeitlich begrenzt sind. 18 § 6 AG VwGO NW für zwischen dem 1.11.2007 und 31.10.2012 bekanntgegebene Verwaltungsakte; § 8a Nds. AG VwGO für zwischen dem 1.1.2005 und 31.12.2009 bekanntgegebene Verwaltungsakte; § 16a HessAGVwGO i. V. m. der Gesetzesanlage.

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spruchsverfahren ebenfalls weitgehend abgeschafft oder begrenzt, nicht jedoch in Abgabenangelegenheiten19. In Baden-Württemberg und Thüringen werden Gesetzesentwürfe zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens erarbeitet20. Mecklenburg-Vorpommern hatte das Widerspruchsverfahren teilweise abgeschafft und es dem Bürger zudem – allerdings nur zeitlich befristet – zur Wahl gestellt, ob er erst Widerspruch einlegt oder direkt klagt21. Brandenburg, Bremen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Sachsen und SchleswigHolstein haben das Widerspruchsverfahren bislang noch nicht ausgeschlossen22. Dort gilt die bundesgesetzliche Regelung, wonach zunächst Widerspruch eingelegt werden muss, bevor eine Klage vor dem VG statthaft wird. 2. Kritische Überprüfung der Beschränkung des Widerspruchsverfahrens im Steuerrecht Die Abschaffung und Beschränkung des Widerspruchsverfahrens muss sich sowohl an einer verfassungsrechtlichen Überprüfung als auch am höherrangigen Bundesrecht (Art. 31 GG) messen lassen. Die Reformvorhaben der Bundesländer sind daher einer kritischen Kontrolle zu unterziehen, inwieweit die Differenzierung durch die verschiedenen Bundesländer verfassungswidrig ist oder ob ein rechtlicher Anspruch auf ein vorgerichtliches Rechtsbehelfsverfahren in Abgabensachen besteht. a) Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, Art. 3 Abs. 1 GG Der föderalistische Flickenteppich23 des vorgerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens im Abgabenrecht muss sich im Ergebnis nicht an Art. 3 Abs. 1 GG messen lassen. Art. 3 Abs. 1 GG ist zwar in den Fällen einschlägig, in denen wesentlich Gleiches ungleich behandelt wird24. Unabhängig von der Frage, ob die genannten Unterschiede zwischen Einspruchs- und Widerspruchsverfahren eine Ungleichbehandlung in dem in Art. 3 Abs. 1 GG geforderten Maße nach sich ziehen, spricht die Grundrechtsnorm nur Ungleichbehandlungen durch denselben Rechtsträger an25. Die verschiedenen Rechtsbehelfsverfahren werden kompetenzrechtlich aber von verschiedenen Rechtsträgern geregelt. So wird die Abgabenordnung einschließlich des Einspruchsverfahrens durch den Bund geregelt, vgl. Art. 108 Abs. 5 Satz 1 GG, und das Verwaltungsverfahren im Allgemeinen sowie das Widerspruchsverfahren im Besonderen jedoch durch

__________ 19 Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 BayAGVwGO; § 8a AG VwGO LSA. 20 http://www.vrv-bw.de/sonstiges/brief-im-2008-10-wivf.pdf; Thüringer Landtag, Drucksache 4/3714 vom 16.1.2008. 21 §§ 13a, 13b, 29 AGGerStrG M-V. 22 Bis auf wenige Ausnahmen in Spezialgesetzen, vgl. M. Kamp, NWVBl. 2008, 41 (42). 23 M. Kamp, NWVBl. 2008, 41 (42); H. Biermann, Nord-ÖR 2007, 139 (142). 24 Z. B. L. Osterlohn in Sachs, GG, Art. 3 Rz. 13 ff. 25 Vgl. z. B. H. Jarass/B. Pieroth, GG, Art. 3 Rz. 4a.

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Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht

die Länder26. Insoweit besteht für die einzelnen Länder keine Pflicht zur Gleichbehandlung27. b) Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie, Art. 19 Abs. 4 GG Zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der Änderungen hinsichtlich des Widerspruchsverfahrens sind die systemtragenden Prinzipien herauszuarbeiten, an denen sich die Reformen messen lassen müssen. Zur Beantwortung der Frage, was der Rechtsschutz zu leisten hat, sind daher die Anforderungen an den Rechtsschutz gegen behördliche Maßnahmen aufzuzeigen. Inwieweit diese Anforderungen im Steuerrecht zu modifizieren sind und ob diese Anforderungen vor und nach der Reform des Widerspruchsverfahrens eingehalten wurden und werden, soll sodann dargestellt werden. aa) Rechtsschutzgarantie im Allgemeinen Den Schutz gegen Rechtsverletzungen der Verwaltung gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG28, der einen lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen der Rechte des Einzelnen durch die öffentliche Gewalt gewährt29. Dabei sichert Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur die Eröffnung des gerichtlichen Rechtsweges an sich zu, sondern er verbürgt auch einen wirksamen und effektiven Rechtsschutz mit Anforderungen an Verfahrensdauer, Vollständigkeit der Nachprüfung, Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit der Entscheidung sowie vorläufigen und vorbeugenden Rechtsschutz30. Im Öffentlichen Recht ist dem gerichtlichen Verfahren zumeist ein Vorverfahren vorgeschaltet. Dieses vorgerichtliche Rechtsbehelfsverfahren wird jedoch im Allgemeinen nicht dem in Art. 19 Abs. 4 GG genannten Rechtsweg zugeordnet. Mit dem Begriff „Rechtsweg“ soll ausschließlich der Zugang zu den Gerichten i. S. v. Art. 92, 97 GG gemeint sein31. Da das behördliche Vorverfahren nicht vor den Gerichten geführt wird, ist dieses grundsätzlich nicht Teil des verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsweges. Als Schlussfolgerung dieser Ansicht ist das vorgerichtliche Verfahren nicht von der Rechtsweggarantie

__________ 26 Da der Bund seine Ermächtigung nach Art. 108 Abs. 5 Satz 2 GG nicht auch für das Rechtsbehelfsverfahren für die Gemeindesteuern ausgeübt hat, sind insoweit nicht die AO, sondern die VwVfG und die VwGO-Ausführungsgesetze der Länder einschlägig. 27 Inwieweit eine Pflicht des Bundes zur einheitlichen Regelung besteht, wird noch im Folgenden zu begutachten sein. 28 Für den Landesgesetzgeber gelten zudem die entsprechenden Vorschriften der jeweiligen Landesverfassung, z. B. Art. 4 I Verf NRW. 29 Insbesondere P. Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17 (20 ff.). Siehe auch M. Sachs in Sachs, GG, Art. 19 Rz. 134 ff.; G. Leibholz/H.-J. Rinck, GG, Art. 19 Rz. 346. 30 H. Jarass/B. Pieroth, GG, Art. 19 Rz. 62 ff.; M. Sachs in Sachs, GG, Art. 19 Rz. 143 ff. 31 M. Sachs in Sachs, GG, Art. 19 Rz. 134 ff.; G. Leibholz/H.-J. Rinck, GG, Art. 19 Rz. 346.

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nach Art. 19 Abs. 4 GG umfasst und wird daher im Allgemeinen verfassungsrechtlich als nicht notwendig erachtet32. Das Vorverfahren steht damit zwar außerhalb der Rechtsschutzgarantie, aber es darf den Anspruch des Bürgers auf den gerichtlichen Rechtsweg nicht unzulässig beschränken. So darf das dem gerichtlichen Verfahren vorgelagerte Verwaltungsverfahren nicht so angelegt werden, dass dadurch der gerichtliche Schutz vereitelt oder unzumutbar erschwert wird33. Die Effektivität des Rechtsweges muss gewahrt bleiben, um nicht durch etwaige Auflagen oder Beschränkungen den Weg zu den Gerichten zwar nicht rechtlich, aber tatsächlich auszuschließen34. Aus verfassungsrechtlicher Sicht scheinen somit die Reformen der Bundesländer rechtsstaatlichen Anforderungen – jedenfalls im Bereich des allgemeinen Verwaltungsrecht – zu genügen. bb) Rechtsschutzfunktion des Vorverfahrens Ungeachtet der Frage, ob aus verfassungsrechtlicher Sicht ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren notwendig ist oder nicht, werden dem vorgerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren durch den Gesetzgeber drei Funktionen attestiert, nämlich dem Rechtsschutzinteresse des Bürgers zu dienen, die Selbstkontrolle der Verwaltung zu ermöglichen und die Gerichtsbarkeit zu entlasten35. Das Widerspruchsverfahren im Verwaltungsrecht dient diesen drei Zwecken36. J. Stolterfoht spricht dem Verwaltungsverfahren jedoch die Rechtsschutzfunktion ab37. Er spricht zwar von einem notwendigen Durchgangsstadium, damit der Steuerpflichtige zu Gericht gelangen kann. Aufgrund der Gewaltenteilung und der Zuweisung der Aufgaben der Rechtsprechung an das Richteramt gem. Art. 92 GG könnten die Handlungen der Exekutive nicht Rechtsschutzprinzipien folgen. Während das Verwaltungsverfahren bipolar und der Bürger hierbei der Verwaltung untergeordnet sei, sei das Gerichtsverfahren typischerweise dreiseitig, weil sich hier die Behörde und der Betroffene vor dem unabhängigen Richter auf der Ebene der Gleichordnung treffen. Daher sei die Widerspruchsbehörde kein Gericht und gewähre deshalb keinen Rechtsschutz.

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32 H. Jarass/B. Pieroth, GG, Art. 19 Rz. 68 m. V. a. BVerfGE 35, 65 (73 f.) und BVerfG v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/81, BVerfGE 60, 253 (290 f.) zur Frage, ob im Asylverfahren ein Widerspruchsverfahren verfassungsrechtlich geboten ist: „Der Ausschluss des Widerspruchsverfahrens bedeutet zwar im Vergleich zu anderen Verwaltungsverfahren, für die § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO eingreift, eine Minderung der dem gerichtlichen Verfahren vorgeschalteten Kontrolle auch der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns durch die Verwaltung selbst; doch gebieten weder Art. 19 Abs. 4 Satz 1 noch Art. 16 … GG ein derartiges Vorverfahren.“ 33 BVerfG v. 8.7.1982 – 2 BvR 1187/80, BVerfGE 61, 82 (110); 69, 1 (49). 34 M. Sachs in Sachs, GG, Art. 19 Rz. 140, 143. 35 BT-Drucks. 1/4278, 40 zu § 70; BT-Drucks. 3/1094, 7 f., 40 f. 36 R. Seer in Tipke/Lang, § 22 Rz. 9 ff.; K. Tipke in Tipke/Kruse, Vor § 347 Rz. 10 ff.; D. Birk, Steuerrecht, Rz. 495. 37 J. Stolterfoht, DStJG 18 (1995), S. 77 (85 ff.); Replik hierzu K. Tipke in Tipke/Kruse, Vor § 347 Rz. 10.

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J. Stolterfoht spricht damit einen zentralen Punkt an. Trotz der Richtigkeit seiner Feststellung, dass Widerspruchsbehörde und Gerichte verschiedenen Staatsgewalten zuzuordnen sind und damit auch andere Rechtsgrundlagen zu beachten haben, ist aber seine Schlussfolgerung, das Widerspruchsverfahren diene keinen Rechtsschutzzwecken, zu weitgehend. Würde das Rechtsbehelfsverfahren lediglich verwaltungsinternen Zwecken, nicht aber auch subjektiven Zwecken des Bürgers dienen, so hätte dieser in dieser Instanz keinen Anspruch auf eine richtige Entscheidung gegenüber der Behörde. Da aber auch die Rechtsbehelfsbehörden an das Recht gebunden sind und der Bürger einen aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiten Anspruch auf eine rechtmäßige Rechtsbehelfsentscheidung hat, dient auch das Vorverfahren dem Rechtsschutz. Belegt wird dies auch dadurch, das der Bürger im Erfolgsfalle eines anschließenden Gerichtsverfahrens seine – notwendigen – Kosten auch für das Vorverfahren erstattet erhält, vgl. §§ 139 Abs. 1, Abs. 3 Satz 3 FGO, 162 VwGO. Eine falsche Rechtsbehelfsentscheidung bedeutet damit eine Rechtsverletzung des Bürgers. Zu einer Kostenerstattung könnte die unterlegene Behörde nicht verpflichtet werden, wenn der Bürger nicht bereits im Vorverfahren gegenüber der Behörde einen Anspruch auf eine rechtmäßige Entscheidung hätte. Auch wenn im Vorverfahren der Bürger von der Behörde als Teil der Exekutive die Durchsetzung seiner Rechte verlangt, so ist dies doch Teil des Rechtsschutzsystems. Die Behörde ist nicht Gegner in dem Verwaltungsverfahren, sondern als beteiligter Entscheidungsträger durch Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden. Dies wird durch den Amtsermittlungsgrundsatz oder die Hinweispflicht einfachgesetzlich ausgestaltet, wonach die Behörde auch im Vorverfahren alle erheblichen Tatsachen zu ermitteln und gegebenenfalls Hinweise zu erteilen hat, §§ 88, 91 AO bzw. 24 VwVfG. Art. 19 Abs. 4 GG entfaltet zur Sicherung der Effektivität der Gerichtskontrolle Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren38. Insoweit wird z. B. gefordert, dass zu überprüfende Maßnahmen begründet und das behördliche Vorgehen dokumentiert werden. Aus diesen Anforderungen lässt sich erkennen, dass das behördliche Vorverfahren auch Rechtsschutzzwecken dient. Die Rechtsschutzfunktion des Vorverfahrens im Allgemeinen wie auch im abgabenrechtlichen Verwaltungsverfahren ist somit verfassungsrechtlich begründet, wenn auch nicht durch Art. 19 Abs. 4 GG, sondern durch das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG39. Daraus folgt aber noch nicht, dass es verfassungsrechtlich geboten ist, grundsätzlich dem Gerichtsverfahren ein Vorverfahren vorzuschalten. Wenn der Gesetzgeber aber ein Vorverfahren dem gerichtlichen Verfahren vorschaltet, muss dies rechtsstaatlichen Anforderungen genügen, muss also folgerichtig und widerspruchsfrei ausgestaltet werden.

__________ 38 BVerfG v. 8.7.1982 – 2 BvR 1187/80, BVerfGE 61, 82 (110); M. Sachs in Sachs, GG, Art. 19 Rz. 140, 143; G. Leibholz/H.-J. Rinck, GG, Art. 19 Rz. 396; H. Jarass/B. Pieroth, GG, Art. 19 Rz. 67 ff. 39 Vgl. auch M. Sachs in Sachs, GG, Art. 20 Rz. 162.

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cc) Anforderungen an die Rechtsschutzgarantie im Steuerrecht Wenn zuvor dargestellt wurde, dass im allgemeinen Verwaltungsrecht aus der Rechtsschutzgarantie kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf ein vorgerichtliches Rechtsbehelfsverfahren abgeleitet werden kann, so muss diese Aussage für den Bereich des Steuerrechts überdacht werden. Dass das Vorverfahren im Steuerrecht verfassungsrechtlich einen anderen Stellenwert hat, folgt aus den besonderen Anforderungen dieses Rechtsgebiets. Steuerrecht ist Massenfallrecht40. Auch wenn die Gesamtanzahl der jährlichen Ausgangsbescheide im Steuer- und Abgabenrecht nicht veröffentlicht wird, so dürfte diese eine dreistellige Millionenhöhe betragen41. Das im Rahmen der Einschränkung des Widerspruchsverfahrens in Bayern durchgeführte Pilotprojekt zur probeweisen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens im Regierungsbezirk Mittelfranken ergab bei einer Einwohnerzahl von 1,7 Mio. jährlich zwischen 90.500 und 170.500 Ausgangsbescheide allein im kommunalen Steuerrecht42, ungeachtet der ungleich höheren Anzahl von Bescheiden im Bereich der von den Ländern verwalteten Steuerarten. Weitere Auswertungen liegen für die Anzahl der Einspruchsverfahren vor. Hiernach gingen in 2008 5,3 Mio. Einsprüche bei den deutschen Finanzämtern ein43. Für das Widerspruchsverfahren in Abgabensachen bestehen keine gesamtdeutschen Kennzahlen. Sie dürften zwar wesentlich unter den Zahlen der Finanzämter liegen, dennoch im Vergleich zum sonstigen Verwaltungsrecht einen erheblichen Umfang haben44. Insbesondere im Bereich der Gewerbesteuer werden nicht nur sehr viele Steuerbescheide erlassen, sondern es unterlaufen den Gemeinden dabei eine Vielzahl von Fehlern, eine große Zahl davon fast unvermeidlich. Ob es sich dabei um Schreibfehler, Adressenverwechslungen, Unkenntnis über Gewerbeab- oder ummeldungen oder andere Fehler handelt, ist dabei unerheblich. Massenfallverfahren führen auch zu einer großen Zahl von fehlerhaften Bescheiden. Auch bei solchen, im Regelfall völlig eindeutigen und nahezu banalen Fehlern muss der Steuerpflichtige nach Abschaffung des Widerspruchsverfahrens sogleich Klage vor dem VG erheben, da es die kommunalen Steuerverwaltungen durchweg schon aus zeitlichen Gründen nicht schaffen können, den fehlerhaften Steuerbescheid innerhalb der Rechtsbehelfsfrist zu korrigieren.

__________ 40 R. Seer in Tipke/Lang, § 22 Rz. 9; K. Tipke in Tipke/Kruse, FGO, Einf. Rz. 52. 41 R. Seer in Tipke/Lang, § 21 Rz. 5, wonach die Finanzämter jährlich mehr als 120 Mio. Verwaltungsakte erlassen. 42 Bayerischen Staatsministerium des Innern, Abschlussgutachten, Probeweise Abschaffung des Widerspruchsverfahrens im Regierungsbezirk Mittelfranken, http:// www.bayerisches-innenministerium.de/imperia/md/content/stmi/service/gesetzes entwuerfe/abschlussbericht_gutachten.pdf, S. 60, 188. 43 BMF, Statistik über die Einspruchsbearbeitung in den Finanzämtern im Jahr 2008, http://www.bundesfinanzministerium.de/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Steuern /Veroeffentlichungen__zu__Steuerarten/Abgabenordnung/025__Statistik__Einspruchs bearbeitung__2008.html. 44 Vgl. die Untersuchung des Bayerischen Staatsministerium des Innern, Abschlussgutachten, a. a. O., S. 188.

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Anschaulich wird dieser Befund dadurch belegt, das eine Vielzahl von kommunalen Steuerämtern ihrer Rechtsbehelfsbelehrung eine im Gesetz nicht vorgesehene Belehrung beifügen, wonach sie den Bürger bitten, bei etwaigen Fehlern im Bescheid kurzfristig bei der Behörde anzurufen, damit diese vielleicht doch noch innerhalb der Rechtsmittelfrist den Fehler beseitigen kann und dadurch das für die Behörde kostenträchtige Gerichtsverfahren vermieden wird. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG wird dadurch dann berührt, wenn der Bürger aus Scheu vor einem Gerichtsverfahren davon abgehalten wird, fehlerhafte Bescheide anzufechten. Längst nicht jeder Gewerbetreibende wird durch einen Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe betreut. Selbst viele Steuerberater scheuen den ihnen nicht vertrauten Gang zum VG. Würden tatsächlich alle Steuerpflichtigen oder ihre Steuerberater gegen fehlerhafte Kommunalsteuerbescheide das VG anrufen, wären die Verwaltungsgerichte hoffnungslos überlastet und sicher nicht mehr in der Lage, die Fälle innerhalb angemessener Zeit zu bearbeiten. Zur Übernahme aller Aufgaben des Vorverfahrens sind die Richter nicht nur aufgrund der personellen Besetzung, sondern auch aufgrund des im Gericht fehlenden Organisationsapparates, wie ihn Finanzämter oder Gemeindesteuerämter aufweisen, tatsächlich gar nicht in der Lage, erst recht nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Kürze der Zeit45. Beispielsweise kam es während der probeweisen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Mittelfranken im ersten Jahr der Abschaffung zu einer Verzwanzigfachung der Eingänge beim VG, im nächsten Jahr sogar zu einer Vervierzigfachung46. Auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat die Möglichkeit des Vorverfahrens im Bereich der kommunalen Steuern nach Art. 15 Abs. 1 Nr. 1 BayAGVwGO befürwortet. In diesen Fällen sei wegen der „sehr häufig komplizierten Berechnungen, … der besonders hohen Anzahl an Ausgangsbescheiden“ und „der damit verbundenen Fehleranfälligkeit“ „die Mehrbelastung für die Verwaltungsgerichte in Grenzen zu halten und der Widerspruch weiterhin als kostengünstigen Rechtbehelf anzubieten. … In annähernd der Hälfte aller Fälle erfolgte eine Abhilfeentscheidung der Kommunen. Demgegenüber würde eine Abhilfe im Rahmen eines Klageverfahrens die Kommunen mit erheblichen Kosten belasten.“47 Insoweit spricht auch die vergleichbare Statistik des BMF für die Einspruchsverfahren vor den Finanzämtern eine deutliche Sprache. Im Jahre 2008 (2007) wurden 5,5 Mio. (3,8 Mio.) Einsprüche erledigt. Davon wurden 42 % (64 %) durch Abhilfe, 21 % (21 %) durch Rücknahme, 13 % (2 %) durch Teil-Einspruchsentscheidung sowie 24 % (13 %) durch Einspruchsentscheidung erledigt. Noch deutlicher sind die Zahlen der bei den Finanzgerichten eingegangenen Verfah-

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45 Vgl. auch K. Tipke in Tipke/Kruse, FGO, Einf. Rz. 23. 46 Bayerischen Staatsministerium des Innern, Abschlussgutachten, a. a. O., S. 188: Die Anzahl der Eingänge stieg von 5 auf 108, im nächsten Jahr sogar auf 196 Fälle an. 47 BayVerfGH, NVwZ, 2009, 716 (718 f.) unter Verweis auf das Abschlussgutachten und Gesetzesbegründung, LT-Dr. 15/7252, S. 2 f. (7).

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ren. In 2008 gingen 70.176 Klagen deutschlandweit ein, dass sind 1,3 % der durch Einspruch erledigten Verfahren. Diese Zahlen zeigen deutlich die befriedigende und filternde Wirkung des Einspruchsverfahrens48. Sie belegen, dass die in Art. 19 Abs. 4 GG genannte Rechtsschutzgarantie durch die Gerichte im Abgabenrecht letztlich ein Vorverfahren zwingend bedingt, da anderenfalls tatsächlich kein effektiver Rechtsschutz möglich ist. Diese Zahlen erlauben drei Rückschlüsse: Erstens ergibt sich, dass fast die Hälfte der Vorverfahren begründet sind, was die hohe Fehleranfälligkeit der Massenverfahren belegt. Zweitens ist ein hoher Prozentsatz und damit eine hohe Anzahl an Vorverfahren unbegründet, so dass die vorgerichtliche Filterwirkung zu einer schnellen und kostengünstigen Erledigung des Verfahrens führt. Drittens, und das ist wohl der auffälligste Rückschluss, ist das Gerichtsverfahren zumindest im Steuerrecht unbeliebt. Es wird nur selten von den Steuerberatern und den Steuerpflichtigen durchgeführt49. Auch wenn über die Gründe an dieser Stelle nur spekuliert werden kann50, muss man doch feststellen, dass nur vergleichsweise wenige Steuerverfahren den verfassungsrechtlich garantierten Rechtsweg erreichen. Ein effektiver Rechtsschutz wird aber auch dann versagt, wenn der Weg zu den Gerichten aus organisatorischen Gründen tatsächlich vereitelt oder unzumutbar erschwert wird. Im Bereich des Steuerstaats – als der jeden Bürger betreffenden und damit intensivsten Eingriffsverwaltungen überhaupt – wird durch die Abschaffung des Vorverfahrens der Rechtsschutz verfassungsrechtlich eingeschränkt. Ein solcher Eingriff in die Grundrechte des Steuerbürgers ist weder durch eine Kostenersparnis noch durch eine Zeitersparnis gerechtfertigt. Wie bereits der Bayerische Verfassungsgerichtshof ausgeführt hat, führt im Bereich der Massenverwaltung die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens entgegen der Erwartung des Gesetzgebers nicht zu einer Kostenersparnis, sondern vielmehr zu einer Kostenintensivierung. Zwar werden die Kosten der Widerspruchsbehörden eingespart. Diese Einsparung wird aber durch die wesentlich höheren Kosten des dadurch zahlenmäßig erheblich gestiegenen Verwaltungsgerichtsverfahrens einschließlich der dem Bürger im Falle des Obsiegens zu erstattenden Kosten überkompensiert. Eine Zeitersparnis entsteht durch die Abschaffung des Vorverfahrens auch nicht. Ein Verwaltungsgerichtsverfahren dauert wesentlich länger als ein Vorverfahren. Eine Zeitersparnis würde allenfalls in den Fällen eintreten, in denen der Steuerpflichtige aus Scheu oder wegen des Kostenrisikos für ihn einen gerichtlichen Rechtsbehelf nicht durchführt und den fehlerhaften Steuerbescheid

__________ 48 Vgl. K. Tipke in Tipke/Kruse, FGO, Einf. Rz. 23; AO, Vor § 347 Rz. 12 ff. 49 Vgl. insoweit auch K. Tipke in Tipke/Kruse, FGO, Einf. Rz. 52 f. 50 Motive könnten sowohl in der überlangen Verfahrensdauer, den drohenden Gerichtsgebühren und den Kosten des Bevollmächtigten wie auch in den Bedenken der Verschlechterung der oft lebenslangen „Beziehung“ mit der Finanzbehörde liegen.

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duldet. Diese Zeitersparnis darf aber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht als Rechtfertigung der Abschaffung des Vorverfahrens herangezogen werden, was auf der Hand liegt. Andere Rechtfertigungsgründe für die Abschaffung des Vorverfahrens sind nicht ersichtlich. Daraus folgt, dass im Bereich des Steuerrechts mit seinen Massenverfahren das außergerichtliche Vorverfahren verfassungsrechtlich notwendig ist. Die Abschaffung des Vorverfahrens auch in diesem Bereich verletzt Art. 19 Abs. 4 GG. Die Reformländer wie Bayern oder Sachsen-Anhalt, in denen das Widerspruchsverfahren im Abgabenrecht weiterhin statthaft ist, haben die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen beachtet. In Ländern wie NordrheinWestfalen, Niedersachsen und Hessen, die eine umfassende Abschaffung – teilweise zumindest zeitlich beschränkt – vorgenommen haben, sind diese Mindestanforderungen aber nicht erfüllt. Dem Bürger wird so der verfassungsrechtlich garantierte effektive Rechtsschutz verwehrt. Die entsprechenden Landesgesetze verletzen Art. 19 Abs. 4 GG51. In den anstehenden Reformvorhaben der Länder, z. B. bei der Nachbewertung zeitlich auslaufenden Reformen oder bei der noch geplanten Beschränkung des Widerspruchsverfahrens ist dies zu berücksichtigen. c) Verstoß gegen höherrangiges Bundesrecht, Art. 31 GG Viele Abhandlungen in der jüngsten Literatur haben die teilweise Abschaffung des Widerspruchsverfahrens durch die Länder als Verstoß gegen § 68 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO angesehen52 mit der Folge der Nichtigkeit dieser Sonderregelungen der Länder, Art. 31 GG53. Schließlich habe der Bundesgesetzgeber bei der Reform des § 68 Abs. 1 VwGO bindend entschieden, dass die Länder den Widerspruch „bereichsspezifisch“ ausschließen können54. Insoweit stelle das Widerspruchsverfahren die Regel dar, der Wegfall des Vorverfahrens nur die Ausnahme, so dass eine grundsätzlich Abschaffung mit wenigen Ausnahmen gegen die bundesgesetzliche, vorrangige Grundsatzentscheidung verstoße. Das BVerfG hatte zur Vorgängerregelung des § 68 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO ausgeführt, dass eine völlige Abschaffung des Widerspruchsverfahrens dem Wortlaut und dem Sinn der Bestimmung des Bundesrechts entgegensteht55. Allerdings lautete die Formulierung der Vorgängerregelung zu § 68 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO damals noch anders: „Einer solchen Nachprüfung bedarf es nicht, wenn ein Gesetz dies für besondere Fälle bestimmt oder …“. Der Zusatz „für besondere Fälle“ ist im Hinblick auf den Beschluss des BVerfG aus der Vorschrift des § 68 VwGO gestrichen worden, so dass aus der genannten Entscheidung für die Beantwortung der Frage, ob eine generelle Abschaffung

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51 Bzw. die entsprechenden Regelungen der Landesverfassungen. 52 Z. B. H. Geiger, BayVBl. 2008, 161 m. w. N.; S. Müller-Grune/J. Grune, BayVBl. 2007, 65 (66 ff.); F. Koehl, JuS 2009, 145 (146 f.); H. van Nieuwland, NdsVBl. 2007, 38; a. A. M. Kamp, NWVBl. 2008, 41 (43 f.). 53 M. Huber in Sachs, GG, Art. 31 Rz. 20. 54 Vgl. BT-Drucks. 13/5089, 23. 55 BVerfGE 35, 65 (75 f.).

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des Widerspruchsverfahrens durch ein Bundesland einer etwaigen Entscheidung des Bundesgesetzgebers entgegensteht, nur wenig Brauchbares zu entnehmen ist. Es ist richtig, dass die Streichung des Passus „für besondere Fälle“ durch den Bundesgesetzgeber in Kenntnis des genannten Beschlusses des BVerfG nur Sinn macht, wenn auch eine umfangreiche Abschaffung des Widerspruchsverfahrens von dem Bundesgesetzgeber für möglich erachtet wird56. Andererseits sind die Gesetzesbegründung mit der Einschränkung „bereichsspezifisch“ sowie das generelle Regel-Ausnahmeverhältnis von § 68 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 VwGO bei der Auslegung des Willens des Bundesgesetzgebers nicht vollkommen beiseite zu schieben. Insoweit hat auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof jüngst angedeutet, dass der Bundesgesetzgeber eine Grundsatzentscheidung zugunsten eines Vorverfahrens getroffen hat57. Eine vollständige Abschaffung des Widerspruchsverfahrens durch ein Bundesland würde daher auch einen Verstoß gegen höherrangiges Bundesrecht darstellen.

IV. Verfassungsrechtliche Fragen bei einer Rückkehr zum alten Recht Die flächendeckende Reanimierung des Widerspruchsverfahrens im Abgabenrecht wäre eine Möglichkeit, die verfassungsmäßige Rechtsschutzgarantie zu gewährleisten. 1. Effektivität des Rechtsschutzes in zeitlicher Sicht Das Gebot der Effektivität verlangt einen wirksamen Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit58. Zunächst mag man bei einer Gegenüberstellung von Einspruchs- und Widerspruchsverfahren an den unterschiedlichen Verfahrensablauf denken, da das Widerspruchsverfahren vor einer besonderen Widerspruchsbehörde länger dauert. Während im Einspruchsverfahren nur das beteiligte Finanzamt als Einspruchsbehörde fungiert, §§ 357 Abs. 2 Satz 1, 367 Abs. 1 Satz 1 AO, ist das Widerspruchsverfahren zweigeteilt. Der Widerspruch wird zunächst der Ausgangsbehörde vorgelegt, die dadurch die Gelegenheit erhält, den von ihr erlassenen Bescheid durch Abhilfe zu ändern, § 72 VwGO. Sollte die Ausgangsbehörde hiervon nicht Gebrauch machen, wird das Verfahren an die Widerspruchsbehörde abgegeben, die sodann über den Widerspruch zu entscheiden hat, § 73 Abs. 1 VwGO. Eben dieser Unterschied war einer der Auslöser der Reform, da die Beteiligung von mehreren Behörden im Widerspruchsverfahren sowohl die Verfahrensdauer verlängert als auch die staatlichen Kosten des Verfahrens erhöht hat59.

__________ 56 57 58 59

M. Kamp, NWVBl. 2008, 41 (44). BayVerfGH, NVwZ, 2009, 716 (717). R. Seer in Tipke/Lang, § 22 Rz. 2 ff. T. Holzner, DÖV 2008, 217 (220); G. Beaucamp/P. Ringermuth, DVBl. 2008, 426 (427) mit umfangreichen Verweisen auf diverse Gesetzesmaterialien der Ländern.

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Dieser Unterschied der Verfahrensabläufe besteht aber speziell im Abgabenrecht nicht. Zum einen ist auch im Einspruchsverfahren faktisch eine Zweiteilung gegeben. Auch hier wird der Bescheid im Finanzamt innerorganisatorisch zunächst der Veranlagungsstelle vorgelegt, die eine Abhilfe zu prüfen hat. Wird eine solche Abhilfe nicht in Erwägung gezogen, legt die Veranlagungsstelle den Einspruch der Rechtsbehelfsstelle im Finanzamt vor. Zum anderen ist gem. § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwGO im Bereich der Kommunalverwaltung, also in Selbstverwaltungsangelegenheiten, die Selbstverwaltungsbehörde gleichzeitig auch Widerspruchsbehörde60. Insoweit waren im Abgabenrecht auch bisher die Verfahrensabläufe weitgehend deckungsgleich, so dass eine zeitlich längere Verfahrensdauer des Einspruchsverfahrens und des Widerspruchsverfahrens nicht zu erwarten ist. Insoweit bestehen keine Bedenken zur Rückkehr oder Aufrechterhaltung des Widerspruchsverfahrens. 2. Effektivität des Rechtsschutzes aus Kostengründen Ein weiterer Unterschied zwischen Einspruchs- und Widerspruchsverfahren im Abgabenrecht besteht bei den Verfahrenskosten. Das Einspruchsverfahren ist kostenfrei. Zudem kommt keine Verrechnung der Kosten der Beteiligten in Betracht. Dies bedeutet, dass der Steuerpflichtige – von den Sonderfällen einer Amtspflichtverletzung abgesehen – seine eigenen Aufwendungen zu tragen hat, auch wenn das Finanzamt dem Einspruch abhilft61. Im Gegensatz dazu kann das Widerspruchsverfahren grundsätzlich gebührenpflichtig ausgestaltet werden, d. h. die Länder können bestimmen, dass die Widerspruchsbehörde Verwaltungsgebühren für den Erlass des Widerspruchsbescheides erhebt. Einige Länder haben hiervon Gebrauch gemacht62. Außerdem kommt bereits im vorgerichtlichen Verfahren eine Erstattung von Aufwendungen in Betracht, §§ 72, 73 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Insoweit kann der Steuerpflichtige bereits im Vorverfahren die Kosten seines Bevollmächtigten erstattet erhalten, soweit diese notwendig waren, § 80 Abs. 3 Satz 2 VwVfG. Da im Einspruchsverfahren nur der Einspruchsführer Rechtsberatungskosten zu zahlen hat, wird dieser durch die mangelnde Kostenverteilung im Vergleich zum allgemeinen Verwaltungsverfahren benachteiligt63. Allerdings fallen im Gegensatz zu der Rechtslage in einigen Bundesländern keine Gebühren für das

__________ 60 Die Verwaltung der eigenen Einnahmen ist eine Selbstverwaltungsangelegenheit, Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG. 61 Nur in dem Fall, in dem der Einspruch zurückgewiesen, einer anschließenden Klage vor dem FG stattgegeben und die vorgerichtlichen Kosten der Rechtsverfolgung vom Gericht als notwendig erachtet werden, kommt eine Kostenerstattung in Betracht, vgl. § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. 62 Vgl. z. B. § 5 Abs. 3 KAG NRW bzw. § 15 Abs. 3 GebG NRW, wonach Gebühren nur erhoben werden, soweit auch für den Ausgangsbescheid eine Gebührenpflicht besteht und der Widerspruchsführer unterliegt. Gemäß § 15 Abs. 4 RhPfGebG entstehen Gebühren nur bei erfolglosem Widerspruch. Eine Übersicht über Widerspruchsgebühren gibt R. Pietzner/M. Ronellenfitsch, Assessorexamen im Öffentlichen Recht, § 44 II 3. 63 R. Seer in Tipke/Lang, § 22 Rz. 51.

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vorgerichtliche Rechtsbehelfsverfahren an. Auch wird der Nachteil der fehlenden Kostenerstattung spätestens in einem anschließenden Gerichtsverfahren eliminiert, § 139 Abs. 1 FGO. Bei der Abwägung der unterschiedlichen Kostenregelungen für das Einspruchsund das Widerspruchsverfahren gibt es jedenfalls wegen dieses Punkts keinen verfassungsrechtlich gebotenen Vorrang des einen oder des anderen Verfahrens. 3. Effektivität des Rechtsschutzes in tatsächlicher Hinsicht Wie bereits dargelegt, ist eine Ausstrahlungswirkung von Art. 19 Abs. 4 GG auf das vorgerichtliche Rechtsbehelfsverfahren verfassungsrechtlich anerkannt64. Die Effektivität des Rechtsschutzes verlangt, dass bei den Massen von gleichartigen Verfahren im Abgabenrecht auf der Ebene der Behörden eine Filterwirkung eintritt, die Unrichtigkeiten möglichst vor dem gerichtlichen Verfahren abhilft65. Die Gerichte wären überfordert, wenn die Sachverhaltsaufklärung durch das Vorverfahren entfällt und diese Sachverhaltsermittlung von den Gerichten selbst durchgeführt werden müsste. Diese Erwägungen gelten aber gleichermaßen für das Widerspruchsverfahren wie das Einspruchsverfahren. Aus verfassungsrechtlichen Gründen bestehen somit keine Hindernisse, auch im Bereich der Abgaben zum Widerspruchsverfahren zurück zu kehren oder dieses beizubehalten66.

V. Vision eines einheitlichen Einspruchsverfahrens im Steuerrecht 1. Gründe für ein einheitliches steuerrechtliches Einspruchsverfahren Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die verfassungsrechtlich begründete Rechtsschutzgarantie im Bereich des Steuerrechts ein Vorverfahren verlangt. Dies gilt sowohl für den Bereich des Einspruchsverfahrens nach der Abgabenordnung als auch den Bereich des bisherigen Widerspruchsverfahrens. Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens im Steuerrecht ist ein nicht gerechtfertigter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Die Bundesländer sollten dieses Konzept jedenfalls nicht weiter verfolgen. Die Untersuchung hat aber auch gezeigt, dass die bisherige Zweiteilung der vorgerichtlichen Rechtsbehelfe in Einspruchs- und Widerspruchsverfahren unbefriedigend ist. In kommunalen Steuersachen gibt es zwar keine besonderen Widerspruchsbehörden, die vermeidbare Kosten auslösen, so dass die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens folgerichtig nicht zur Einsparung von Verwaltungskosten solcher Behörden führen kann. Auch das Rechtsschutzsystem verlangt aber nach Folgerichtigkeit.

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64 M. Sachs, GG, Art. 19 Rz. 140, 143; G. Leibholz/H.-J. Rinck, GG, Art. 19 Rz. 396. 65 K. Tipke in Tipke/Kruse, FGO, Einf. Rz. 23 f. 66 Zur Notwendigkeit besonders qualifizierter Fachkräfte im Finanzverfahren bereits K. Tipke in Tipke/Kruse, FGO, Einf. Rz. 51 ff., 55, 60.

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Im Steuerrecht verlangt das Massenverfahren ein Vorverfahren, durch das die Verwaltung in die Lage gesetzt wird, die eigenen Verwaltungsakte nach Erlass noch einmal überprüfen zu können, bevor das kostenträchtige und zeitaufwendige Gerichtsverfahren beginnt. Das entspricht nicht nur den Interessen der Verwaltung. Auch der Steuerbürger hat einen verfassungsrechtlich begründeten Anspruch darauf, dass die ihn belastenden Steuerbescheide vor der Einleitung von Gerichtsverfahren im Rahmen eines Vorverfahrens überprüft werden können. Das Einspruchsverfahren nach der Abgabenordnung hat sich im Steuerrecht bewährt. Es führt ohne Überlastung der Gerichte dazu, dass die überwiegende Zahl der Steuerverwaltungsakte, die fehlerhaft sind, schnell und kosteneffektiv korrigiert werden können. Das aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitete Gebot der Folgerichtigkeit – eine Forderung, die der Jubilar stets betont hat67 – verlangt nun, dass auch im Bereich der Kommunalsteuern das Vorverfahren durch den Bundesgesetzgeber nach den Grundsätzen der Abgabenordnung bestimmt wird. Unterschiedliche Verfahrensvorschriften für die von Finanzämtern verwalteten Steuern und für die von Gemeinden verwalteten Steuern verlangen eine Rechtfertigung. Die Untersuchung hat gezeigt, dass eine solche Rechtfertigung nicht ersichtlich ist. Die von den jeweiligen Landesgesetzgebern erwartete Zeit- oder Kostenersparnis tritt nicht ein. Andere Gründe für diese unterschiedlichen Verfahren sind nicht ersichtlich. Dann ist es aber nur sachgerecht, anstelle des zum Teil abgeschafften und zum Teil noch bestehenden Widerspruchsverfahrens auch für die Kommunalsteuern und Kommunalabgaben das Einspruchsverfahren nach den Regeln der AO als Vorverfahren vorzusehen. Dadurch soll nicht gesagt werden, dass Art. 3 Abs. 1 GG das Einspruchsverfahren auch für Kommunalabgaben zwingend vorschreibt und die früher geltende Regelung über das Widerspruchsverfahren einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG bedeutet hat. Rechtspolitisch ist es aber angezeigt, dem Gebot der Folgerichtigkeit folgend das Rechtsbehelfsverfahren in allen Bereichen des Steuerrechts zu harmonisieren. 2. Gründe für ein einheitliches Gerichtsverfahren Auch bei einer Einführung der Vorschriften der Abgabenordnung für das Einspruchsverfahren im Bereich der Kommunalabgaben und Kommunalsteuern ist das Rechtsschutzsystem im Bereich des Steuerrechts noch nicht einheitlich. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen Einspruchsentscheidungen der Gemeinden wird auch dann durch die Verwaltungs- und nicht durch die Finanzgerichte gewährt. Um auch dies zu vereinheitlichen, müsste auch die Finanzgerichtsordnung geändert werden. Aus Art. 19 Abs. 4 GG lässt sich ein Anspruch des Bürgers nicht ableiten, gegen Einspruchsentscheide der kommunalen Steuerbehörden Klage zum FG zu erheben und nicht zum VG. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt nur, dass die Maß-

__________ 67 J. Lang in Tipke/Lang, § 4 Rz. 77 m. V. a. K. Tipke, StRO I², Rz. 327 ff.

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nahmen der öffentlichen Gewalt durch Gerichte überprüft werden können, gibt aber keine Anspruch darauf, dass dies ein bestimmter Gerichtszweig tut68. Es wird auch – soweit ich sehe – von niemandem ernsthaft gefordert, dass die Verwaltungsgerichte die Überprüfung von Kommunalsteuerbescheiden an die Finanzgerichte abgeben müssen. Es lässt sich sicherlich auch nicht feststellen, dass die Verwaltungsgerichte für diesen Bereich nicht kompetent sind. Die mit Steuersachen betrauten Kammern und Senate der Verwaltungsgerichtsbarkeit haben sich im Allgemeinen die notwendige Sachkompetenz angeeignet. Gleichwohl erscheint es mir sehr bedenkenswert, alle Steuersachen bei den Finanzgerichten zu konzentrieren. Komplizierte Steuersachen im Bereich der Kommunalabgaben sind zwar selten. Kommen sie jedoch vor, was z. B. bei Erlassfällen insbesondere im Bereich des Umwandlungssteuerrechts aber auch bei anderen Gestaltungen der Fall ist, sind die Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit häufig aus fachlichen Gründen überfordert. Bei immer wieder vorkommenden Umbesetzungen der Richter innerhalb eines VG fehlt darüber hinaus zunächst auch die Fachkompetenz des berufenen Richters, was wiederum im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG problematisch ist. Bei Richtern der Finanzgerichtsbarkeit ist dies nicht der Fall, da diese Richter durchweg durch ihre bisherige Berufstätigkeit fachlich gut ausgebildet sind. De lege ferenda halte ich es daher für richtiger, auch das gerichtliche Verfahren zu harmonisieren und alle Steuersachen bei den Finanzgerichten zu konzentrieren. 3. Prüfung der Gesetzgebungskompetenz a) Fragen zur Gesetzgebung des Steuerverfahrens Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Bund die Vorschriften der Abgabenordnung für das gesamte Steuerverfahren für anwendbar erklärt, Art. 108 Abs. 5 Satz 2 GG. Insoweit kann der Bund bestimmen, dass die Abgabenordnung für alle Steuerarten, auch für die Steuerarten, die der Landeseigen- und Auftragsverwaltung sowie der Kommunalverwaltung unterstehen, anwendbar ist, selbst wenn der Bund nicht für die betreffenden Steuerarten eine materielle Gesetzgebungskompetenz besitzt69. Damit kann der Bund die Geltung der Abgabenordnung nicht nur für die gesamte Verwaltung der Realsteuern, sondern auch für die übrigen kommunalen Steuern regeln. Allerdings muss der Bundesrat der Änderung der Abgabenordnung zustimmen, vgl. Art. 108 Abs. 5 Satz 2 GG. Diese haben zwar bisher einer solchen Änderung kritisch gegenüber gestanden70. Da aber die Abgabenordnung ohnehin bereits weitestgehend auch auf Gemeindesteuern anwendbar ist und das Widerspruchsverfahren von den Ländern – wie aufgezeigt – mehrheitlich ohnehin wesentlich eingeschränkt wurde, ist ein Stimmungsumschwung bei den

__________ 68 BVerfGE 4, 331 (344); G. Leibholz/H.-J. Rinck, GG, Art. 19 Rz. 346, insbesondere 347 f. 69 H. Siekmann in Sachs, GG, Art. 108 Rz. 32 ff. 70 R. Seer in Tipke/Kruse, AO, § 1 Rz. 1.

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Rechtsbehelfs-Wirrwarr im Abgabenrecht

Ländern nicht unwahrscheinlich. Der Bund darf und sollte somit eine Vereinheitlichung des Steuerverfahrensrechts vornehmen und auch die Vorschriften der Abgabenordnung über das Einspruchsverfahren für das gesamte Steuerrecht für anwendbar erklären. b) Fragen zur Gesetzgebung der Finanzgerichtsbarkeit Die Vorschriften der FGO stehen der Regelung eines einheitlichen Einspruchsverfahrens nicht entgegen. Nach § 33 FGO ist der Finanzrechtsweg zu den Finanzgerichten gegen Steuerbescheide der Kommunalsteuerbehörden nicht eröffnet, so dass auch bei Einführung des Einspruchsverfahrens in Kommunalsteuersachen weiterhin der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist und damit die Vorschriften der VwGO gelten71. Wenn man den hier gemachten Vorschlag aufgreift und den gerichtlichen Rechtsschutz auch in Kommunalabgaben und Kommunalsteuern den Finanzgerichten zuweist, muss § 33 FGO geändert werden, was der Bund gemäß Art. 108 Abs. 6 GG ohne weiteres könnte.

VI. Zusammenfassung und Schlussbemerkung Durch eine Änderung der VwGO wurden die Länder ermächtigt, Widerspruchsverfahren abzuschaffen. Dies haben einige Länder gemacht, manche nur zeitlich befristet und manche nur für bestimmte Bereiche. Insbesondere im Bereich des kommunalen Abgabenrechts und des kommunalen Steuerrechts gibt es innerhalb des Bundesgebiets völlig unterschiedliche Regelungen über das außergerichtliche Vorverfahren, was ich als Rechtsbehelfs-Wirrwarr beschreibe. Die Steuerverwaltungen auch der Kommunen haben Massenverfahren zu bearbeiten. Solche Massenverfahren haben unvermeidlich auch eine große Zahl fehlerhafter Steuerbescheide zur Folge. Durch die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens wird nicht nur den Steuerverwaltungen eine erhebliche und von diesen gar nicht gewünschte Mehrarbeit und Mehrkosten aufgebürdet, sondern auch der Rechtsschutz des Bürgers eingeschränkt. Wenn auch Art. 19 Abs. 4 GG für sich noch keinen Anspruch des Bürgers begründet, gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt einen außergerichtlichen Rechtsbehelf einlegen zu können, gilt für den Bereich des Steuerrechts etwas anderes. Bei Massenverfahren führt die Versagung des Vorverfahrens aus tatsächlichen

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71 Einige Kommentare stützen sich zur Auslegung des Begriff der Finanzgerichtsbarkeit auf das „herkömmliche Begriffsverständnis“, wonach die Entscheidung sämtlicher Streitigkeiten in Steuersachen umfasst ist, mit Ausnahme der traditionell den Verwaltungsgerichten zugewiesenen Streitigkeiten über Steuerbescheide der Gemeinden, vgl. z. B. V. Schlette in v. Mangoldt/Klein/Stark, GG, Art. 108 Rz. 106. Inwieweit aber die tatsächliche Aufteilung des Steuerrechtsweges die einzige zulässige verfassungsrechtliche Auslegung von Art. 108 Abs. 6 GG sein soll, ist nicht ersichtlich, insbesondere dann nicht, sollte das Rechtsbehelfsverfahren im Steuerrecht einheitlich durch die AO geregelt und sollten die Landesfinanzbehörden einheitlich zur Verwaltung aller Steuern berufen sein.

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Gründen zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen Verkürzung der Rechtsschutzgarantie. Die entsprechenden Gesetze der Länder, die das Vorverfahren auch für den Bereich der Abgaben abgeschafft haben, sind verfassungswidrig. Wenn auch die bundesweite Einführung des Widerspruchsverfahrens verfassungsrechtlich zulässig ist, erscheint es dem Verfasser aus Gründen der Folgerichtigkeit logischer, durch eine Änderung von § 1 der Abgabenordnung in allen Bundesländern anstelle des zum Teil abgeschafften und zum Teil noch bestehenden Widerspruchsverfahrens für Steuersachen einheitlich das Einspruchsverfahren vorzusehen, so dass die Gemeinden in der Lage sind, ihre Steuerbescheide auf den Einspruch hin noch einmal zu überprüfen und bei Fehlern nicht sofort das Gericht angerufen werden muss. Aus systematischen Gründen erscheint es dem Verfasser de lege ferenda sinnvoll, § 33 FGO zu ändern und den Finanzgerichten auch die Kontrolle über die Steuer- und Abgabenbescheide der kommunalen Steuerbehörden zuzuweisen. Eine solche Vereinheitlichung des Rechtsbehelfsverfahrens würde die systematisch nicht zu rechtfertigende Unterschiedlichkeit beseitigen. Die entsprechenden Regelungen könnten vom Bundesgesetzgeber erlassen werden. Da das Widerspruchsverfahren von den Ländern offenbar ohnehin nicht mehr favorisiert wird, sollte die Zustimmung des Bundesrats dazu erreichbar sein. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Gemeinden mit der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht glücklich zu sein scheinen und daher die Wiedereinführung des Vorverfahrens in Form eines Einspruchsverfahrens sicherlich auf die Zustimmung der Gemeinden stößt. Ziel dieses Beitrags ist, einen Anstoß zur Vereinheitlichung des Steuerrechts – hier im Bereich des Rechtsschutzverfahrens – zu geben. In Zeiten, in denen Steuerreformen politisch nur als Tarifreformen verstanden werden, die dann mangels Geld leider ausfallen müssen, erscheint es wichtig, deutlich zu machen, dass eine Steuerreform auch und in erster Linie etwas anderes bedeutet. Die von Klaus Tipke begründete und Joachim Lang fortgeführte Kölner Steuerrechtsschule hat sich zur Aufgabe gemacht, das Steuerrecht systemgerechter, d. h. folgerichtiger zu machen. Dieser Beitrag trägt diesem Gedanken dadurch Rechnung, dass er eine Vereinheitlichung des Rechtsbehelfsverfahrens und dadurch ein systematischeres und damit gerechteres Steuerrecht fordert.

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1. Europäisches Steuerrecht Michael Lang

Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts* Inhaltsübersicht I. Die Verpflichtung zur Umsetzung von EuGH-Urteilen II. Mögliche Kriterien zur Wahl der unionsrechtskonformen Lösung 1. Absicht des Gesetzgebers? 2. Geringstmöglicher Eingriff? 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben 4. Nichtanwendung einzelner Tatbestandselemente? III. Die maßgebenden Fallgruppen 1. Die aus unionsrechtlichen Gründen zu regelnden Sachverhalte

2. Die aus unionsrechtlichen Gründen gebotene Einschränkung des Anwendungsbereichs nationaler Rechtsvorschriften 3. Die Suche nach der „passenden“ Rechtsfolge für die aus unionsrechtlichen Gründen zu regelnden Sachverhalte 4. Die Suche nach den „passenden“ Rechtsfolgen in Fällen, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Vorschrift aus unionsrechtlichen Gründen einzuschränken ist IV. Zusammenfassende Würdigung

I. Die Verpflichtung zur Umsetzung von EuGH-Urteilen Joachim Lang greift – ebenso die von ihm maßgebend mitgeprägte Kölner Schule des Steuerrechts – zur Lösung konkreter steuerrechtlicher Fragen meist auf grundlegende Prinzipien der Steuerrechtsordnung zurück. Sein wissenschaftliches Werk zeigt eindrucksvoll, dass die Klärung steuerlicher Praxisprobleme auch die Beschäftigung mit fundamentalen Grundfragen der Rechtsordnung voraussetzt. Wer sich mit den Wirkungen des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten auseinandersetzt, muss sich zwangsläufig dem Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht widmen und dabei auch grundlegende methodische Fragen ansprechen. Ich hoffe daher, mit der Wahl des Themas dem von mir hochgeschätzten Jubilar Freude bereiten zu können.

__________ * Für die kritische Diskussion des Manuskripts und für wertvolle Anregungen danke ich Mag. Elke Aumayr, MMag. Thomas Ecker, Mag. Christian Massoner, Mag. Johannes Prillinger, Mag. Birgit Stürzlinger und Prof. Dr. Alexander Rust, Frau Mag. Aumayr darüber hinaus auch für die Unterstützung bei der Literaturrecherche und der Fahnenkorrektur. Das Manuskript wurde am 20.1.2010 abgeschlossen.

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Der EuGH hat auf dem Gebiet des Unionsrechts das Auslegungsmonopol. Seinen Urteilen kommt verbindliche Wirkung zu. Alle von den Wirkungen eines EuGH-Urteils erfassten staatlichen Organe sind an dessen Tenor gebunden. Dies trifft Verwaltungsbehörden und Gerichte ebenso wie den Gesetzgeber. Gesetzgebungsorgane, Gerichte und Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaates sind verpflichtet, eine unionsrechtskonforme Rechtslage herbeizuführen, wenn aus einem Urteil des EuGH die Konsequenz zu ziehen ist, dass die Vorschriften des Staates gegen eine Grundfreiheit verstoßen. Mitunter lässt sich dies durch unionsrechtskonforme Interpretation der bisher unionsrechtswidrig angewendeten Vorschriften erreichen.1 Der Anspruch des Unionsrechts, von den Mitgliedstaaten befolgt zu werden, spricht dafür, Vorschriften des nationalen Rechts die Bedeutung beizumessen, die sie mit diesen Vorgaben übereinstimmen lässt. Die aus dem Unionsrecht gewonnenen und den Rechtsanwendern erst durch die Rechtsprechung des EuGH deutlich gewordenen Argumente können dazu beitragen, der nationalen Rechtsvorschrift ein anderes Verständnis als zuvor beizumessen. Diese unionsrechtskonforme Interpretation ist eine Spielart der systematischen Interpretation.2 Bei der Auslegung sind zusätzlich auch der Wortlaut sowie historische, teleologische und andere systematische Argumente zu berücksichtigen. Diese Argumente können auch in gegensätzliche Richtungen führen. Die neue – in Übereinstimmung mit der Grundfreiheit stehende – Deutung der Vorschrift ist geboten, wenn die durch Berücksichtigung des Unionsrechts gewonnenen zusätzlichen Argumente – allenfalls im Zusammenhalt mit den schon bisher in dieselbe Richtung weisenden anderen Argumenten – so überzeugend sind, dass sie die in die gegenteilige Richtung führenden Argumente in den Hintergrund treten lassen. Scheitert die unionsrechtskonforme Interpretation allerdings, weil gewichtigere Argumente – oft wird hier der Wortlaut ins Treffen geführt – zu einem unionsrechtswidrigen Auslegungsergebnis führen, ist der Gesetzgeber des betroffenen Mitgliedstaates gefordert. Dem EuGH genügt es nicht, wenn die nationalen Behörden und Gerichte den unionsrechtskonformen Zustand bloß durch Anwendung von Billigkeitsvorschriften herstellen.3 Der Gesetzgeber hat

__________ 1 Dazu jüngst Ehrke-Rabel, ÖStZ 2009, 189 (189 ff.); s. auch Terra/Wattel, European Tax Law5 (2008), 89 f.; Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht3 (2006), 91 f.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994), 76; Ranacher/Frischhut, Handbuch Anwendung des EU-Rechts (2009) 64 f. und 115 f.; vgl. auch EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-929, Rn. 109. 2 Vgl. Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht3 (2006) 88 f.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994) 75 f.; Ranacher/Frischhut, Handbuch Anwendung des EU-Rechts (2009), 255 f. 3 Vgl. Rust, IStR 2009, 382 (383); Ranacher/Frischhut, Handbuch Anwendung des EURechts (2009) 65 f. und 300 f.; vgl. auch jüngst EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-457/07 – Kommission gegen Portugal, Rn. 28: „Zwar gibt Art. 228 EG keine Frist an, innerhalb deren ein Urteil des Gerichtshofs, mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt wird, durchgeführt sein muss. Nach ständiger Rechtsprechung verlangt jedoch das Interesse an einer sofortigen und einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts, dass diese

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Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts

oft mehrere Möglichkeiten, die Rechtslage unionsrechtskonform zu gestalten: Ergibt sich der Verstoß gegen die Grundfreiheiten daraus, dass in allen oder bestimmten grenzüberschreitenden Konstellationen Steuerpflichtige nachteiliger behandelt werden als sonst, kann der Gesetzgeber die Unionsrechtswidrigkeit dadurch sanieren, indem er die vorteilhafte Vorschrift auf alle vom Anwendungsbereich der Grundfreiheit erfassten Konstellationen erstreckt oder aber ausnahmslos die Anwendung der bisher nachteiligen Vorschrift verfügt oder aber gänzlich neue – grundfreiheitenkonforme – Vorschriften erlässt4. Die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten erlassen ihre Rechtsvorschriften im Regelfall für die Zukunft. Auch wenn ein Gesetzgeber äußerst rasch die aus einem EuGH-Urteil erwachsenden Vorgaben umsetzt, werden diese gesetzlichen Änderungen für den Anlassfall des EuGH-Verfahrens und andere gleichgelagerte Fälle, die sich schon in der Vergangenheit abgespielt haben, noch keine Auswirkungen haben. Selbst wenn sich der Gesetzgeber – nach Maßgabe der ihn treffenden verfassungsrechtlichen Vorgaben – entschließt, den unionsrechtskonformen Zustand rückwirkend herbeizuführen, können Verwaltungsbehörden und Gerichte schon vor der Kundmachung der neuen Regelungen gezwungen sein, in den sich schon früher ereigneten Fällen Entscheidungen zu treffen. Die Verwaltungsbehörden und Gerichte sind dabei verpflichtet, diesen Entscheidungen eine unionsrechtskonforme Rechtslage zugrunde zu legen. Diese aus dem Unionsrecht erwachsende Verpflichtung trifft sie auch dann, wenn die zum Zeitpunkt der Entscheidung geltenden und – wie sich nun angesichts der EuGH- Rechtsprechung zeigt – bisher unionsrechtswidrig gedeuteten Vorschriften keiner unionsrechtskonformen Auslegung zugänglich sind. Sie müssen sich daher über die geltenden – nicht unionsrechtskonform interpretierbaren und daher unionsrechtswidrigen – Rechtsvorschriften ihres Mitgliedstaates hinwegsetzen. Dieselbe Verpflichtung trifft die Verwaltungsbehörden nicht bloß im Anlassfall des EuGH-Verfahrens, sondern auch in allen gleich gelagerten Fällen. Ob das EuGH-Urteil zur Rechtslage in diesem Mitgliedstaat selbst oder nur zu vergleichbaren Rechtsvorschriften in einem anderen Mitgliedstaat erging, ist nicht von Bedeutung5. Ebenso wenig macht es einen Unterschied, ob die Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Vorschriften erst durch ein Urteil des EuGH deutlich wird oder ob die Unionsrechtswidrigkeit so offenkundig ist, dass eine Befassung des EuGH durch das letztinstanzlich zuständige Gericht des Mitgliedstaates gar nicht erforderlich ist. Sind – zur Anrufung des EuGH nicht

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Durchführung sofort in Angriff genommen und innerhalb kürzestmöglicher Frist abgeschlossen wird (vgl. insbesondere Urteil EuGH v. 9.12.2008 – C-121/07 – Kommission/Frankreich, Slg. 2008, I-0000, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).“ 4 Dazu auch Rust, IStR 2009, 382 (384); Reimer, Rechtsschutz durch den EuGH: Setzt die deutsche Verfassung Schranken?, in Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche internationale Steuerrecht? (2009), 31 f. 5 Vgl. EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 – Meilicke, Slg. 2007, I-01835, Rn. 32 f., wo der EuGH – im Rahmen seiner Begründung zur Unzulässigkeit der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen deutlich machte, dass bereits die Urteile Verkooijen und Manninen eine Bindungswirkung für alle Mitgliedstaaten auslöste. Dazu M. Lang, IStR 2007, 235 (235).

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verpflichtete – Untergerichte oder – zur Einholung einer Vorabentscheidung nicht einmal befugte – Verwaltungsbehörden zur Rechtsanwendung zuständig, werden sie die unionsrechtswidrige Rechtslage schon dann nicht zur Grundlage ihrer Entscheidung machen dürfen, wenn die bei der Interpretation der Grundfreiheit gewonnenen überzeugenderen Argumente die Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Vorschrift erweist.6 Zwar trifft in all diesen Konstellationen zusätzlich den Gesetzgeber selbst die Verpflichtung zur Bereinigung der unionsrechtswidrigen Rechtslage, doch kann es – insbesondere dann, wenn weder die Kommission noch der EuGH die gesetzlichen Änderungen einfordern – durchaus dauern, bis der Gesetzgeber aktiv geworden ist. In dieser – je nach Fall unterschiedlich langen – „Übergangszeit“ sind vor allem die Verwaltungsbehörden und Gerichte gefordert. Verwaltungsbehörden und Gerichte scheinen sich dann in einer ähnlichen Situation wie sonst der Gesetzgeber zu befinden, der im Falle eines Verstoßes gegen eine Grundfreiheit bei der Neugestaltung der Rechtslage häufig aus mehreren unionsrechtskonformen Möglichkeiten wählen kann. Der Gesetzgeber ist dazu legitimiert, in dem ihm durch die Verfassung gesetzten Rahmen eine Entscheidung zu treffen, die ihm politisch opportun erscheint. Im Gegensatz dazu haben Verwaltungsbehörden und Gerichte diese Entscheidungsspielräume in aller Regel nicht. Sie sind an das geltende Gesetz gebunden. An dessen Anwendung sind sie aufgrund der geschilderten unionsrechtlichen Vorgaben aber gerade gehindert. In einer solchen Situation stehen Verwaltungsbehörden und Gerichte daher vor der Herausforderung, einerseits aufgrund der Gesetze zu entscheiden, andererseits dem Unionsrecht zum Durchbruch zu verhelfen. Zwar haben die unionsrechtlichen Normen gegenüber den nationalen Rechtsvorschriften den Vorrang.7 Doch diese Normen lassen oft nicht erkennen, welcher von mehreren unionsrechtskonformen Lösungen der Vorzug zu geben ist. Der Spielraum von Verwaltungsbehörden und Gerichten ist jedenfalls in einer Hinsicht eingeschränkt: Während der Gesetzgeber die für die nicht unter die Grundfreiheit fallenden – meist internen – Konstellationen maßgebende Rechtslage auch „verbösern“ kann und den Grundfreiheiten dadurch zum Durchbruch verhelfen kann, indem er die Vorschriften für die Zukunft für alle Steuerpflichtigen „gleich schlecht“ gestaltet, ist den Verwaltungsbehörden und den Gerichten diese Möglichkeit verwehrt. Die Verwaltungsbehörden und Gerichte sind nur befugt, sich der unter den Anwendungsbereich der Grundfreiheit fallende Rechtslage anzunehmen. Rein interne Konstellationen können zwar den Maßstab für die grundfreiheitenrechtliche Beurteilung abgeben und insoweit entscheidend sein8, auf sie selbst sind die Grundfreiheiten aber nicht an-

__________ 6 Vgl. aber Reimer, in Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht? (2009), 31 f., der die Verwaltungsbehörde – nicht aber das Gericht – im Zweifel zur gemeinschaftsrechtsfeindlichen Auslegung berechtigt erachtet. 7 Vgl. aber die – hier nicht inhaltlich weiter zu kommentierende – „Solange II“-Rechtsprechung des BVerfG: BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339. 8 Darauf weist Rust, IStR 2009, 382 (384) zutreffend hin.

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wendbar.9 Behörden und Gerichte können lediglich im Anwendungsbereich der Grundfreiheit nach einer unionsrechtskonformen Lösung suchen. Ein vergleichsweise unproblematisches Beispiel kann illustrieren, wie groß die Zahl der möglichen Deutungen einer unionsrechtskonformen Rechtslage häufig ist: Die dem Urteil Royal Bank of Scotland zugrunde liegende griechische Rechtslage sah einen 30 %igen Körperschaftsteuersatz für inländische Banken und einen 35 %igen Steuersatz für inländische Betriebsstätten ausländischer Banken vor.10 Der EuGH sah in dieser Diskriminierung einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Unionsrechtskonform ist in dieser Konstellation zweifellos die Anwendung eines Steuersatzes von 30 % auf inländische Betriebsstätten von Steuerausländern, aber ebenso auch die Anwendung jedes unter 30 % liegenden Steuersatzes. Die völlige Steuerfreistellung würde den grundfreiheitenrechtlichen Vorgaben zweifellos genauso entsprechen wie die Anwendung eines 10 oder 20 %igen Steuersatzes und jedes anderen zwischen 0 und 30 % liegenden Satzes. Das Unionsrecht selbst enthält aber – klammert man die allenfalls in Erwägung zu ziehenden Möglichkeit des Verstoßes gegen das Beihilfeverbot aus11 – keinen Anhaltspunkt, welche dieser Lösungen vorzuziehen ist.12 Gegen dieses Ergebnis lässt sich auch nicht der Wortlaut einiger einschlägiger Vorschriften des AEU-Vertrags ins Treffen führen: So gibt etwa Art. 45 Abs. 3 lit. c AEUV den Arbeitnehmern das Recht, eine Beschäftigung nach den für die Arbeitnehmer diese Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften auszuüben. Nach Art. 49 AEUV umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine Angehörigen. Nach Art. 57 AEUV kann eine Dienstleistung im Empfängerstaat unter den Voraussetzungen erbracht werden, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt. Aus diesen Vorschriften lässt sich aber dennoch nicht ableiten, dass nur eine bestimmte Regelung den unionsrechtlichen Anforderungen entspricht. Gerichte oder Verwaltungsbehörden, die für den grenzüberschreitenden Fall vorteilhaftere Rechtsfolgen vorsehen, als dies in diesen unionsrechtlichen Regelun-

__________ 9 Anders aber offenbar Gosch, Ubg 2009, 73 (78 f.), der sich bei „Steuerverteilungsleistungen“ dagegen ausspricht, die „Wohltaten auf alle zu erstrecken“. 10 Vgl. EuGH v. 29.4.1999 – Rs. C-311/97 – Royal Bank of Scotland, FR 1999, 822 m. Anm. Dautzenberg = Slg. 1999, I-02651. 11 Dazu M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilfeverbots auf das Steuerrecht, Gutachten zum 17. Österreichischen Juristentag 2009 (2009), 8 f. 12 Der EuGH bezieht diese Frage aber dennoch – ohne dass dies in seine Zuständigkeit fallen würde – immer wieder in seine Überlegungen ein (dazu auch Rust, IStR 2009, 382 [383 f.]): In CLT UFA (EuGH v. 23.2.2006 – Rs. C-253/03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831 = FR 2006, 590, Rz. 10) gab er den nationalen Organen zumindest die Richtung ihrer Umsetzungsentscheidung vor: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, den Steuersatz, der auf die Gewinne einer Zweigniederlassung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuwenden ist, nach Maßgabe des Steuersatzes zu ermitteln, der im Fall der Ausschüttung der Gewinne einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft insgesamt anzuwenden gewesen wäre.“

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gen angesprochen ist, handeln nämlich zweifellos nicht unionsrechtswidrig. Die Regelungen des AEU-Vertrags sehen nur einen Mindeststandard vor.

II. Mögliche Kriterien zur Wahl der unionsrechtskonformen Lösung 1. Absicht des Gesetzgebers? Überlegt werden könnte, nach der Intention des Gesetzgebers zu fragen und auf diese Weise die Varianten an möglichen unionsrechtskonformen Lösungen einzuschränken. Dieses Unterfangen ist allerdings im Regelfall nicht aufschlussreich: Dem historischen Gesetzgeber kann nur jene Rechtslage zugesonnen werden, die er seinerzeit selbst geschaffen hat und die sich eben als unionsrechtswidrig erwiesen hat. Die Frage, welche Vorschriften der Gesetzgeber geschaffen hätte, wenn er geahnt hätte, dass sich die tatsächlich erzeugten Normen als unionsrechtswidrig herausstellen, ist rein spekulativ.13 Welche Vorschriften für den Gesetzgeber die „zweitbesten“ gewesen wären, lässt sich fast nie aus den Gesetzesmaterialien erkennen. Selbst wenn etwa einige am Gesetzgebungsverfahren Beteiligte bereits damals unionsrechtliche Bedenken hatten, werden sich dazu in den Gesetzesmaterialien keine Hinweise finden. Noch weniger ist zu erwarten, dass die Gesetzesverfasser ausdrücklich angeben, welche Alternativregelung sie vorgeschlagen hätten. Selbst dann könnte es aber als keineswegs gesichert angenommen werden, dass die Alternativregelung auch die erforderliche parlamentarische Zustimmung erhalten hätte. Wenn die parlamentarische Opposition schon damals unionsrechtliche Bedenken aufgezeigt und eine andere Lösung vorgeschlagen hätte, könnte noch weniger davon ausgegangen werden, dass gerade diese Regelung auch für die damalige parlamentarische Mehrheit die „zweitbeste“ Lösung gewesen wäre.14 Genauso wenig hilfreich sind Hinweise in den Gesetzesmaterialien, die darauf schließen lassen, dass der damalige Gesetzgeber die für den grenzüberschreitenden Fall vorgesehene Vorschrift nur als Ausnahmevorschrift angesehen hatte. Keineswegs kann dann nämlich automatisch davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber im Falle der Unionsrechtswidrigkeit der sog. Ausnahmenorm den Anwendungsbereich der für Inlandssachverhalte maßgebenden Vorschrift auf die anderen Fallkonstellationen erstreckt hätte. Denn mit der Qualifikation einer Vorschrift (A) als Regel und einer anderen Vorschrift (B) als Ausnahme ist nichts anderes gesagt, als dass der Gesetzgeber einen Teil der Sachverhalte der Vorschrift A und einen anderen Teil der Sachverhalte der Vorschrift B unterstellt hat. Ob er – hätte er die Unzulässigkeit der Anordnung vorausgesehen – den gesamten Sachverhalt ausschließlich der Vorschrift A oder ausschließlich der Vorschrift B unterstellt oder eine ganz andere Lösung

__________ 13 Vgl. auch Rust, IStR 2009, 382 (383), der für den Fall der Verfassungswidrigkeit ebenfalls darauf hinweist, dass „regelmäßig unklar“ ist, ob der Gesetzgeber bei Kenntnis von der Verfassungswidrigkeit die Regelung A oder B auf beide Gruppen erstreckt oder für beide eine Lösung C gefunden hätte. 14 Dazu M. Lang, SWI 2009, 216 (220).

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Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts

gefunden hätte, lässt sich aufgrund der bloßen Kennzeichnung einer Vorschrift als Regel und einer anderen als Ausnahme nicht sagen.15 Keinesfalls kann berechtigt vermutet werden, dass für jeden Gesetzgeber im Zweifel immer jene Regelung die zweitbeste gewesen wäre, die gegenüber der von ihm tatsächlich erlassenen Regelung den geringsten Verlust an Steuereinnahmen bewirkt hätte. Dies erinnert an die früher gelegentlich vertretene Auffassung, Steuergesetze wären generell in dubio pro fisco auszulegen. Heute gilt als gesichert, dass dies methodisch unhaltbar ist.16 Diese These ist genauso abzulehnen, wie die – z. B. von südafrikanischen Gerichten mitunter unter Berufung auf die Schutzbedürftigkeit des Eigentums vertretene17 – gegenteilige Auffassung, wonach Steuergesetze im Zweifel contra fiscum auszulegen wären. Die Interpretation von Steuervorschriften ist anhand jener Wertungen vorzunehmen, die sich aus der Systematik, der Teleologie und der Rechtsentwicklung der jeweils auszulegenden Vorschrift gewinnen lassen. Zur Annahme, dass dem Gesetzgeber generell jeweils die fiskalisch ergiebigste Lösung zuzusinnen ist, besteht genau so wenig Berechtigung wie zur Annahme des Gegenteils.18 So ist auch im Falle eines 30 %igen Steuersatzes für Ansässige und eines 35 %igen Steuersatzes für Steuerausländer keinesfalls gesichert, dass der Gesetzgeber einen 30 %igen Steuersatz für beide Gruppen Steuerpflichtiger eingeführt hätte, wenn er die Unionsrechtswidrigkeit seiner Lösung vorhergesehen hätte. Genauso ist denkbar, dass er einen 35 %igen oder gar einen 32,5 %igen Steuersatz für beide Gruppen oder aber eine ganz andere Lösung geschaffen hätte. Sofern die Gesetzesmaterialien keine stichhaltigen Anhaltspunkte enthalten, welche Lösung der Gesetzgeber als zweitbeste präferiert hätte, besteht auch keine Berechtigung zu irgendwelchen Vermutungen darüber. Sollte sich bereits eine gesetzgeberische Lösung über die künftige unionsrechtskonforme Gestaltung der Rechtslage abzeichnen oder sie sogar – mit ausschließlicher Wirkung für die Zukunft – in Geltung stehen, kann ebenfalls nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass diese Regelung auch auf bereits in der Vergangenheit verwirklichte Sachverhalte „zurückstrahlt“. Über die Intention des seinerzeitigen Gesetzgebers, der die sich als unionsrechtswidrig erwiesen habende Regelung verfügt hat, lassen sich daraus keine Rückschlüsse ziehen. Wenn der nunmehrige Gesetzgeber seine Neuregelung bloß mit künftiger Wirkung versieht, richten sich die mit dieser Regelung verfolgten Intentionen eben auch nur auf die Zukunft. Dem Gesetzgeber kann gerade nicht unterstellt werden, diese Rechtsfolge auch für die Vergangenheit bewirkt haben zu wollen, denn sonst hätte er es getan. Wenn die Regelung aber den

__________ 15 Dazu M. Lang, Der Sitz der Rechtswidrigkeit, in Holoubek/M. Lang (Hrsg.), Das verfassungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen2 (2009), 269 f.; vgl. jedoch die bei Rust, IStR 2009, 382 (383) referierte Rechtsprechung des BVerfG. 16 Vgl. dazu auch M. Lang, SWI 2009, 216 (221). 17 Dazu mit ausführlichen Nachweisen West, The Taxation of International (nonresident) Sportspersons in South Africa, PhD University of Cape Town (2009), 18. 18 Dazu ausführlich M. Lang, SWI 2009, 216 (221).

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von den Verwaltungsbehörden und Gerichten zu entscheidenden Fall erfassen und somit auch für die Vergangenheit wirken soll, kann sie erst und nur dann berücksichtigt werden, wenn das Gesetzgebungsverfahren zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits abgeschlossen ist und gilt.19 Denn es besteht keine Gewissheit, dass ein bloßer Gesetzesentwurf tatsächlich verabschiedet wird. 2. Geringstmöglicher Eingriff? Eng verwandt mit der oben untersuchten und verworfenen Argumentation, wonach dem Gesetzgeber im Zweifel zu unterstellen wäre, das fiskalisch ergiebigste Ergebnis gewollt zu haben, ist die Figur vom geringstmöglichen Eingriff. Zorn scheint davon auszugehen, dass klar ist, wie die Rechtslage im Falle der Verdrängung einer nationalen Rechtsvorschrift durch eine Grundfreiheit zu beschaffen sein hat:20 „Bei Steuergesetzen ist stets die Reduktion der Steuer (durch Anpassung des Steuersatzes, Anpassung der Bemessungsgrundlage, Gewährung von Absetzbeträgen etc.) der geringere Eingriff als die Beseitigung des Steuertatbestandes“. Zorn nimmt an, dass die Verwaltungsbehörden und Gerichte immer jene Lösung zu wählen hätten, die zwar unionsrechtskonform ist, aber gleichzeitig für den Fiskus den geringstmöglichen Einnahmeverlust bewirkt.21 Im Ergebnis läuft diese Gedankenführung ebenfalls auf eine Interpretationsregel in dubio pro fisco hinaus.22 Eine Begründung dafür, nach dem für den Fiskus geringstmöglichen Eingriff zu fragen, ist nicht erkennbar. Die Argumentationsfigur des geringeren Eingriffs, die ursprünglich aus dem grundrechtlichen Bereich stammt23, wird in ihr Gegenteil verkehrt: Nicht der Eingriff der staatlichen Gewalt in die Rechtsposition des Einzelnen soll möglichst gering gehalten, sondern die staatliche Gewalt vor dem sich auf die Rechtsprechung des EuGH berufenden Einzelnen geschützt werden.24 Rust hat unlängst angedeutet, dass sich sogar in die gegenteilige Richtung argumentieren ließe:25 Der Gesetzgeber hat nämlich keinen Anreiz zu einer

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19 Vgl. aber BFH v. 22.7.2008 – VIII R 101/02, BFH/NV 2008, 1747, wo auf einen bloßen Regierungsentwurf abgestellt wird. 20 Siehe Zorn, RdW 2009, 171 (174). 21 Dazu Zorn, RdW 2009, 171 (174). 22 Diese Überlegung findet sich im Kern auch in einem jüngsten Beitrag von Zorn (in Kofler u. a. (Hrsg.), Gedenkschrift für Quantschnigg (2010, 557), wenn er zwar von einer „behutsamen Anwendung der Verdrängung“ spricht, dann aber als entscheidend ansieht, dass der „primäre Zweck des Steuerrechts […] nun einmal darin [liegt], dem Gemeinwesen Einnahmen zu schaffen“. Dabei handelt es sich um eine m. E. unzulässige Verkürzung der teleologischen Interpretation: Bei der Interpretation steuerrechtlicher Vorschriften kann nicht nur generell oder primär auf den Einnahmenerhebungszweck des Steuerrechts abgestellt werden. Vielmehr sind die – meist äußerst vielschichtigen – Zielsetzungen jeder einzelnen Rechtsvorschrift zu ermitteln. 23 Vgl. Berka, Die Grundrechte (1999) 156 f.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994) 77. 24 Näher M. Lang, SWI 2009, 216 (221 f.). 25 Vgl. Rust, IStR 2009, 382 (383 f.).

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zügigeren Bereinigung der Unionsrechtswidrigkeit, wenn die Gerichte und Verwaltungsbehörden „zu einer mit dem Gemeinschaftsrecht gerade noch vereinbaren und damit fiskalfreundlicheren Rechtsfolge kommen“. Er ist zwar unionsrechtlich verpflichtet, aber mangels drohender Einbußen an Steueraufkommen aus politischer Sicht nicht so stark gefordert, die Rechtslage umgehend selbst neu zu gestalten. Der österreichische Verfassungsgerichtshof stellt in seiner Rechtsprechung zum Sitz der Verfassungswidrigkeit im Falle der von ihm aufzuhebenden Vorschriften ähnliche Überlegungen an:26 Es kann als Ausdruck der richterlichen Zurückhaltung und des Respekts vor der Prärogative des Gesetzgebers verstanden werden, wenn der VfGH den Kreis der von ihm aufzuhebenden Vorschriften im Zweifel weiter zieht und auf diese Weise die Rechtslage vordergründig viel einschneidender ändert.27 Durch Aufhebung größerer Regelungsbereiche wächst nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Gesetzgeber selbst zum Handeln gezwungen sieht. In diesem Fall wird die künftige Rechtslage mittel- und langfristig nicht vom VfGH, sondern vom Gesetzgeber selbst bestimmt.28 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben Weitere Ansätze, um die Vielzahl von unionsrechtskonformen Lösungen einzuschränken, die Gerichten und Verwaltungsbehörden scheinbar offen stehen, und damit deren Handeln gleichzeitig näher zu determinieren, können sich aus dem Verfassungsrecht ergeben. Zwar haben selbst verfassungsrechtliche Vorschriften den unionsrechtlichen Vorgaben zu entsprechen. Wenn aber das Unionsrecht den Verwaltungsbehörden und Gerichten mehrere alternative Lösungen eröffnet, die alle in gleicher Weise unionsrechtskonform sind, spricht nichts dagegen, subsidiär auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen abzustellen. Von Verwaltungsbehörden und Gerichten ist zu verlangen, dass sie ihnen zustehende Entscheidungsspielräume unter Beachtung der aus dem Verfassungsrecht gewonnenen Wertungen füllen. Der in vielen Verfassungen enthaltene Gleichheitssatz kann in diesem Zusammenhang Bedeutung erlangen: Wenn es gleichheitsrechtlich geboten ist, inländische Betriebsstätten ausländischer Körperschaften und inländische Körperschaften demselben Steuersatz zu unterwerfen, kann dies zur Folge haben, dass die unionsrechtlichen und gleichheitsrechtlichen Anforderungen so miteinander zu verknüpfen sind, dass inländische Betriebsstätten ausländischer Körperschaften demselben Steuersatz wie inländische Körperschaften unterworfen werden müssen: Die Anwendung eines geringeren Steuersatzes für die inländischen Betriebsstätten ausländischer Körperschaften wäre zwar unionsrechts-

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26 Dazu ausführlich M. Lang, in Holoubek/M. Lang (Hrsg.), Das verfassungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen2 (2009), 269. 27 Zur Notwendigkeit richterlicher Zurückhaltung aus dem Blickwinkel des englischen Rechts in diesem Zusammenhang auch Farmer/Coutinho, Marleasing vs. Disapplication, The Tax Journal (23. November 2009), 17 (17 ff.). 28 M. Lang, in Holoubek/M. Lang (Hrsg.) Das verfassungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen2 (2009), 269 f.

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konform, würde allerdings nicht den Vorgaben des Gleichheitsgrundsatzes entsprechen.29 Allerdings lassen sich keinesfalls alle derartigen Entscheidungsspielräume durch Heranziehung verfassungsrechtlicher Wertungen füllen: Wenn es darum geht, ob eine CFC-Besteuerung zumindest für „wholly artificial arrangements“ aufrechterhalten bleiben soll oder aber überhaupt nicht mehr zum Tragen kommen soll30, lässt sich diese Frage wohl auch nicht anhand des Gleichheitsgrundsatzes alleine klären. Gleiches gilt für die Beurteilung der Frage, ob im Falle eines auf inländische Unternehmensgruppen beschränkten Systems des Verlustabzugs den unionsrechtlichen Anforderungen durch generelle Ausdehnung des Verlustabzugs auf in anderen EU-Staaten ansässige Auslandsgesellschaften oder nur auf jene, in denen sich der Verlust als endgültig und im Ausland nicht mehr verwertbar erweist, Rechnung getragen werden soll.31 Selbst in den Fällen, in denen die aus dem Verfassungsrecht – und insbesondere aus dem Gleichheitsgrundsatz – gewonnenen Wertungen geeignet erscheinen, die unionsrechtlich offen stehenden Entscheidungsspielräume zu füllen, tun sich Fragen auf: Verfassungsrechtliche Wertungen fließen in den Auslegungsvorgang im Rahmen der verfassungsrechtskonformen Interpretation ein. So wie die unionsrechtskonforme Interpretation ist aber auch die verfassungsrechtskonforme Interpretation eine Spielart der systematischen Interpretation.32 Im Falle eines für inländische Körperschaften vorgesehenen Steuersatzes von 30 % und eines für inländische Betriebsstätten ausländischer Körperschaften vorgesehenen Steuersatzes von 35 % ist die Rechtslage zwar unionsrechtswidrig, aber eindeutig: Anhaltspunkte dafür, dass die nun aus dem Verfassungsrecht zu gewinnenden gleichheitsrechtlichen Argumente das – vermutlich – dem Wortlaut und der Rechtsentwicklung nach eindeutige Interpretationsergebnis in Frage stellen, lassen sich nicht ohne weiteres finden. Nach den sonst gewohnten Maßstäben lässt sich kaum annehmen, dass die verfassungskonforme Interpretation dazu beitragen kann, dass der dem Wortlaut und anderen für die Auslegung maßgebenden Argumenten nach 35 %ige Steuersatz nunmehr als 30 %iger Steuersatz zu verstehen ist. Aus ähnlichen Gründen ist auch Zurückhaltung gegenüber der immer wieder vorgebrachten Forderung angebracht, wonach die Wirkung der Verdrängung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts vor dem Hintergrund des Gebots der Rechtssicherheit beurteilt werden müsste und dass es für die von der nationalen Verwaltungsbehörde oder dem Gericht angewendete Rechtsfolge aus rechtsstaatlichen Gründen einer Rechtsgrundlage im nationalen Recht bedarf:33

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29 Vgl. jüngst zur Gleichheitswidrigkeit der Differenzierung zwischen unionsrechtlich bedingten und anderen Durchbrechungen der Rechtskraft öVfGH v. 22.6.2009, G 5, 6/09 u. a. 30 Zur unionsrechtlichen Zulässigkeit der CFC-Besteuerung s. EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-07995 = FR 2006, 987 m. Anm. Lieber. 31 Zu den unionsrechtlichen Anforderungen vgl. EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 = FR 2006, 177. 32 Siehe Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994), 76 f. 33 Vgl. z. B. Jochum, IStR 2006, 621 (623); Stahl, Intertax 2008, 548 (549).

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Soweit dieses Postulat der Rechtssicherheit auf verfassungsrechtlichen Erwägungen beruht, sind diese schon deshalb zu relativieren, da die vermeintliche oder tatsächliche Rechtsunsicherheit ja nur für den „Übergangszeitraum“ besteht, in dem der Gesetzgeber noch nicht selbst – seiner unionsrechtlichen Verpflichtung entsprechend – den unionsrechtskonformen Zustand hergestellt hat. Viel gewichtiger ist aber, dass diesen verfassungsrechtlichen Überlegungen jedenfalls nicht im Wege der verfassungskonformen Interpretation zum Durchbruch verholfen werden kann. Denn die nationale Rechtsvorschrift, um deren verfassungskonforme Auslegung es gehen könnte, ist eben aus unionsrechtlichen Gründen gar nicht mehr anwendbar und daher auch nicht verfassungskonform auslegbar. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts verbietet den Rechtsanwendern, auf die als unionsrechtswidrig erkannten Vorschriften zurückzugreifen und darin die gesetzliche Grundlage für staatliches Handeln zu sehen. Die vom Gesetzgeber für den Sachverhalt geschaffene Rechtsgrundlage ist verdrängt. Eine andere Rechtsgrundlage stellt das nationale Recht für den „Übergangszeitraum“ nicht bereit. Die Verdrängung der unionsrechtswidrigen nationalen Vorschrift wird durch das Unionsrecht selbst – in diesem Fall durch den unionsrechtlich gebotenen Anwendungsvorrang – bewirkt. Dadurch wird das Unionsrecht unmittelbar zur Rechtsgrundlage staatlichen Handelns. Das Unionsrecht selbst scheint aber eben keine konkreten Vorgaben zu machen, welcher unionsrechtskonformen Lösung Verwaltungsbehörden und Gerichten den Vorzug geben sollen. 4. Nichtanwendung einzelner Tatbestandselemente? Die deutsche Rechtsprechung erweckt gelegentlich den Eindruck, den Wortlaut der maßgebenden nationalen Rechtsvorschrift in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen: Das „europarechtswidrige Tatbestandsmerkmal“34 oder das „Merkmal ‚inländisch‘“35 dürfe „nicht beachtet“ werden. Aus dem EuGH-Urteil Schwarz und Gootjes-Schwarz ist daher offenbar zu folgern, dass in der die Abzugsfähigkeit von Schulgeld damals regelnden Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG die Wortfolge „gemäß Art. 7 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) staatlich genehmigten oder nach Landesrecht erlaubten Ersatzschule sowie einer nach Landesrecht anerkannten allgemein bildenden Ergänzungsschule“ in den Fällen, in denen der Anwendungsvorrang zum Tragen kommt, „nicht zu beachten“ ist.36 Noch deutlicher kommt die Betonung des Wortlauts in englischen Urteilen zum Ausdruck: Erst jüngst hat der englische Court of Appeal in Vodafone 2 vs. HMRC zur Frage, ob die britische CFC-Regelung im Lichte der EuGH-Judika-

__________ 34 Vgl. BFH v. 17.7.2008 – X R 62/04, FR 2009, 228 m. Anm. Kanzler = BFH/NV 2008, 1927. 35 Vgl. BFH v. 22.7.2008 – VIII R 101/02, FR 2009, 236 = BFH/NV 2008, 1747. 36 Vgl. EuGH v. 11.9.2007 – Rs. C-76/05 – Schwarz/Gootjes-Schwarz, Slg. 2007, I-6849.

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tur weiter angewendet werden können, wie folgt entschieden:37 „In the present case the words which the Revenue suggest should be inserted into the Act to ensure its compliance with Article 43 of EU Treaty do not create a new and different scheme nor do they offend any of the Act’s cardinal principles; still less do they remove the core and essence of the Act.“ Würde es tatsächlich auf den Wortlaut ankommen, wäre das erwähnte Urteil des BFH in sich widersprüchlich: Der BFH geht nämlich davon aus, dass der Abzug von Schuldgeldzahlungen in das EU-Ausland auch voraussetzt, dass „durch die Höhe der gezahlten Beträge keine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern gefördert wird“. Dieses Sonderungsverbot ergibt sich aber aus Art. 7 Abs. 4 GG. Gerade der Verweis auf Art. 7 Abs. 4 GG in § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG gehört offenbar zu den Tatbestandsmerkmalen, die im Falle der Zahlungen an Schulen im EU-Ausland „nicht zu beachten“ sind. Der BFH hält dazu nur fest:38 „Zwar ist das Sonderungsverbot kein Tatbestandsmerkmal des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG; bei dem Besuch einer Schule im EU-Ausland ist aber fiktiv zu prüfen, ob sie nach deutschem Recht anerkannt worden wäre; in diesem Zusammenhang ist das Sonderungsverbot von Bedeutung.“ Wie könnte aber das Sonderungsverbot „von Bedeutung“ sein, wenn seine normative Relevanz für Zwecke des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG auf jenes Tatbestandsmerkmal zurückzuführen ist, das „nicht zu beachten“ ist? Dies macht bereits deutlich, dass die Fokussierung auf den Wortlaut verfehlt wäre:39 Der Wortlaut einer Vorschrift darf nicht mit ihrem Inhalt gleichgesetzt werden. Der Auslegungsvorgang beginnt zwar sinnvollerweise beim Wortlaut einer Vorschrift.40 Gerade eine ausführlichere Befassung mit dem Wortlaut einer Regelung zeigt oft schon auf, wie schillernd dieser ist. Die Berücksichtigung der weiteren für den Auslegungsvorgang maßgebenden Aspekte macht dann erst deutlich, welcher Inhalt der im Rahmen der vom Wortlaut gedeckten Möglichkeiten der auszulegenden Vorschrift zugrunde gelegt werden kann oder – wenn man nicht von der Auffassung ausgeht, dass der Wortlaut die äußerste Grenze der Interpretation absteckt41 – ob historische, systematische oder telelogische Argumente den Wortlaut gar in den Hintergrund treten lassen und der Vorschrift ein ganz anderer Inhalt als ursprünglich angenommen beizumessen ist. Wer einzig den Wortlaut der Vorschrift berücksichtigt, verkürzt den Auslegungsvorgang in unzulässiger Weise. Ein am Wortlaut der nationalen Vorschrift orientierter Ansatz wäre auch einem weiteren Einwand ausgesetzt: Es hängt von den Zufälligkeiten der Legistik ab, ob es der Wortlaut der nationalen Vorschrift überhaupt ermöglicht, zu einem unionsrechtskonformen Ergebnis zu gelangen, indem eine bestimmte

__________ 37 Siehe British Court of Appeal v. 22.5.2009, Vodafone 2 v HMRC, [2009] EWCA Civ 446, Rz. 71; Hervorhebung nicht im Original. 38 BFH v. 17.7.2008 – X R 62/04, FR 2009, 228 m. Anm. Kanzler = BFH/NV 2008, 1927. 39 Zuletzt auch Zorn, in Kofler u. a. (Hrsg.), Gedenkschrift für Peter Quantschnigg (2010), 557 f. 40 Vgl. M. Lang, ÖStZ 2001, 65 (68 f.). 41 Kritisch M. Lang, ÖStZ 2001, 65 (68 f.).

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Wortfolge einfach ignoriert wird.42 Dies kann am Beispiel der Regelung des Steuerabzugs von Schulgeldern erläutert werden: Der deutsche Gesetzgeber hätte die seinerzeit in § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG angeordnete – und später als unionsrechtswidrig erkannte – Rechtsfolge auch dadurch herbeiführen können, indem er alle unter diese Vorschrift fallende deutschen Schulen abschließend aufgezählt hätte. Dies wäre zwar aus legistischer Sicht nicht zweckmäßig und hätte auch laufende gesetzliche Anpassungen erfordert. Undenkbar wäre dies aber nicht gewesen. Wenn der Gesetzgeber die als anerkannt angesehenen Institutionen allerdings namentlich genannt hätte, wäre es nicht möglich gewesen, das unionsrechtskonforme Ergebnis durch gedankliche Streichung einzelner Worte dieser Vorschrift zu erreichen. Am Beispiel des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG soll auch verdeutlicht werden, worin der Verstoß gegen die Grundfreiheit liegt: Weder die Abzugsfähigkeit von Zahlungen an bestimmte inländische Schulen noch die fehlende Abzugsfähigkeit von Zahlungen an ausländische Schulen sind per se unionsrechtswidrig. Der Verstoß gegen die Grundfreiheit liegt darin, dass der Gesetzgeber Zahlungen an ausländische Schulen nicht zumindest die gleichen Begünstigungen wie Zahlungen an inländische Schulen eingeräumt hat. Während die Beurteilung, ob ein Verstoß gegen Grundfreiheit vorliegt, somit den Vergleich der beiden Regelungen verlangt, kann sich nur der Steuerpflichtige auf die Grundfreiheit berufen, der – meist innerhalb der Union – einen grenzüberschreitenden Sachverhalt verwirklicht hat. Nur er kann von den Wirkungen des Anwendungsvorrangs profitieren. Der Anwendungsvorrang verlangt, dass für ihn eine Rechtslage zum Tragen kommt, die ihn zumindest mit Steuerpflichtigen gleichstellt, die sich in einer bloß internen Situation befinden. Während der Verstoß gegen die Grundfreiheit vom Gesetzgeber auch durch „Verböserung“ der Regelungen für Steuerpflichtige, die sich in einer internen Situation befinden, beseitigt werden kann, kann der Anwendungsvorrang für diese Steuerpflichtigen mangels Anwendbarkeit der Grundfreiheit auch keine – negativen – Auswirkungen haben. Entgegen der Annahme des BFH war die Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG auch nicht partiell vom Anwendungsvorrang umfasst.43 Der Umstand, dass Zahlungen an bestimmte inländische Schulen abzugsfähig sind, verstößt nämlich weder per se gegen die Grundfreiheit noch kann der Anwendungsvorrang an dieser Rechtsfolge etwas ändern. Der BFH hatte daher auch keine Befugnis, die Nichtbeachtung einzelner Tatbestandselemente anzuordnen. Für den Anwendungsvorrang ist hingegen entscheidend, dass keine Vorschrift besteht, die den Abzug von Schulgeldern an vergleichbare ausländische Schulen ermöglicht. Überlegungen zu den Wirkungen des Anwendungsvorrangs des Unions-

__________ 42 Zutreffend die auch von Zorn, EG-Grundfreiheiten und dritte Länder, in Quantschnigg/Wiesner/Mayr (Hrsg.) Steuern im Gemeinschaftsrecht, FS für Nolz (2008), 211 (217) geäußerte Kritik, wonach Fragen des Anwendungsvorrangs oft unzulässigerweise mit der aus der verfassungsgerichtlichen Praxis bekannten Lokalisierung der Verfassungswidrigkeit innerhalb des Wortlauts der Vorschrift vermengt werden. 43 Vgl. BFH v. 21.10.2008 – X R 15/08, BFH/NV 2009, 559 (NV).

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rechts haben somit in diesem Fall am Fehlen einer diese Sachverhalte abdeckenden Regelung anzusetzen. Die Einsicht, dass der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten ausschließlich in grenzüberschreitenden Konstellationen zum Tragen kommt und es in manchen dieser Konstellationen an einer Regelung fehlt, und in anderen grenzüberschreitenden Konstellationen die Regelung zu weit reicht, weist den Blick in die richtige Richtung: Es erscheint sinnvoll, nach diesen Fallgruppen zu differenzieren und dann zu überlegen, ob und welche anderen Rechtsfolgen in diesen beiden Fallgruppen zum Tragen kommen sollen, um den unionsrechtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen.

III. Die maßgebenden Fallgruppen 1. Die aus unionsrechtlichen Gründen zu regelnden Sachverhalte Die Konstellation in Marks & Spencer gehört zur selben Fallgruppe wie jene des Abzugs von ins Ausland gezahltem Schulgeld:44 Nach Auffassung des EuGH stehen die „Art. 43 EG und 48 EG […] beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die es einer gebietsansässigen Muttergesellschaft allgemein verwehrt, von ihrem steuerpflichtigen Gewinn Verluste abzuziehen, die einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dort entstanden sind, während sie einen solchen Abzug für Verluste einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft zulässt. Es verstößt jedoch gegen die Art. 43 EG und 48 EG, der gebietsansässigen Muttergesellschaft eine solche Möglichkeit dann zu verwehren, wenn die gebietsfremde Tochtergesellschaft die im Staat ihres Sitzes für den von dem Abzugsantrag erfassten Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat, gegebenenfalls durch Übertragung dieser Verluste auf einen Dritten oder ihre Verrechnung mit Gewinnen, die die Tochtergesellschaft in früheren Zeiträumen erwirtschaftet hat, und wenn keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbesondere im Fall der Übertragung der Tochtergesellschaft auf ihn, berücksichtigt werden.“ Somit war die britische Regelung, die den Abzug inländischer Verluste zugelassen hat, unionsrechtlich unbedenklich. Der Abzug bestimmter Auslandsverluste wurde britischen Gesellschaften nicht gestattet. Ausgangspunkt der Überlegungen zum Anwendungsvorrang ist somit das Fehlen einer Regelung, die in bestimmten – vom EuGH bezeichneten – grenzüberschreitenden Konstellationen den Abzug von Auslandsverlusten ermöglicht. Die Fälle, in denen der Abzug von Auslandsverlusten unionsrechtlich geboten ist, wurden vom EuGH selbst umschrieben. Somit ergeben sich in Marks & Spencer unmittelbar aus dem Unionsrecht die Tatbestandsvoraussetzungen,

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44 Siehe EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 = FR 2006, 177.

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unter denen Verwaltungsbehörden und Gerichte Auslandsverluste zu berücksichtigen haben. Zweifellos wäre es auch mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn Auslandsverluste – darüber hinaus – in anderen Konstellationen abgezogen werden können. Doch unionsrechtlich geboten ist bloß der Abzug von Auslandsverlusten in den vom EuGH bezeichneten Fällen. Weiter reicht die aus dem Unionsrecht erwachsende Verpflichtung nicht. Verwaltungsbehörden und Gerichte, die aus einem Urteil des EuGH die Folgen zu ziehen und dem Unionsrecht zum Durchbruch zu verhelfen haben, verfügen nur insoweit über eine Rechtsgrundlage für ihre Entscheidungen, als sich dies aus dem Unionsrecht ergibt.45 Unzulässig wäre es hingegen, wenn Behörden oder Gerichte Auslandsverluste abziehen, ohne dazu nach nationalem Recht oder nach Unionsrecht verpflichtet zu sein.46 2. Die aus unionsrechtlichen Gründen gebotene Einschränkung des Anwendungsbereichs nationaler Rechtsvorschriften Daneben gibt es aber auch Fallgruppen, in denen nicht das Fehlen einer nationalen Regelung problematisch ist, sondern deren Existenz: Wenn die Niederlassungsfreiheit die Anwendung von CFC-Regelungen bloß bei „wholly artificial arrangements“ zulässt, liegt ein Verstoß gegen das Unionsrecht vor, wenn ein Mitgliedstaat generell die Gewinne aller ausländischen Gesellschaften mit niedrig besteuerten passiven Einkünften deren inländischen Gesellschaftern zurechnet und bei ihnen besteuert. Die CFC-Regelung ist aber nur insoweit unionsrechtswidrig, als sie nicht „wholly artificial arrangements“ trifft. In Fällen von „wholly artificial arrangements“ untersagt das Unionsrecht die Anwendung der nationalen Vorschrift nicht. Die nationale Vorschrift bleibt anwendbar. Verwaltungsbehörden und Gerichte sind an die Anordnung ihres Gesetzgebers gebunden. Es gibt keine Grundlage, in diesen Fällen von der Anwendung der CFC-Regelung Abstand zu nehmen. Die in einem jüngst veröffentlichten Urteil des englischen Court of Appeal enthaltene Überlegung geht in dieselbe Richtung:47 „By paragraph 4 of his order Evans-Lombe J ordered that the CFC Legislation ‚be disapplied as being contrary to Community law‘. It is common ground that such order cannot stand because it goes beyond the obligation of a member state and disapplies the CFC Legislation in situations falling outside the scope of Community law, see IRC v Colmer 72 TC 56 paras 34 and 35.“ In diesem Kontext könnte der vom BFH so häufig ins Spiel gebrachte Begriff der „normerhaltenden Auslegung“ wohl zu Recht verwendet werden.48 Ähnliches gilt für die Bemessungsgrundlage der Quellensteuer bei Einkünften von Nicht-Ansässigen: Aus Scorpio ist abzuleiten, dass von der für den Steuer-

__________ 45 Zutreffend daher die von Stahl, Intertax 2008, 548 (550) referierte schwedische Rechtsprechung. 46 Anders Jochum, IStR 2006, 621 (623). 47 Vgl. British Court of Appeal v. 22.5.2009, Vodafone 2 v HMRC, [2009] EWCA Civ 446, Rz. 61. 48 Vgl. BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, FR 2007, 184 m. Anm. Pezzer = BFH/NV 2007, 158.

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abzug maßgebenden Bemessungsgrundlage mit den Einnahmen unmittelbar in Zusammenhang stehende Aufwendungen abzugsfähig sind, wenn Einnahmen von Ansässigen zwar keiner Quellensteuer unterliegen, aber von diesem Staat zumindest im Veranlagungsverfahren besteuert werden.49 Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheit kann jedoch nur die Verdrängung entgegenstehender nationale Vorschriften bewirken, wenn es sich um Konstellationen handelt, in denen unmittelbar zusammenhängende Aufwendungen geleistet wurden. In den Fällen, in denen keine oder nur mittelbar mit den Einnahmen zusammenhängende Aufwendungen anfallen, ist eine auf dem Bruttoabzug basierende Steuerabzugsvorschrift unionsrechtlich unbedenklich. Sie kann daher insoweit weiter angewendet werden.50 Als weiteres Beispiel können die Regelungen über die Wegzugsbesteuerung bei Beteiligungen herangezogen werden: Wenn die sofortige Besteuerung der bei einem Wegzug in einen anderen Mitgliedstaat bis dahin entstandenen Wertsteigerungen unionsrechtswidrig ist, bedeutet dies nicht, dass dies auch für einen Wegzug in einen Drittstaat gilt. Sofern die Kapitalverkehrsfreiheit oder eine andere Regelung – wie jene des Freizügigkeitsabkommens – dem nicht entgegensteht51, spricht nichts dagegen, Regelungen über die Wegzugsbesteuerung in diesen Fällen weiterhin anzuwenden. 3. Die Suche nach der „passenden“ Rechtsfolge für die aus unionsrechtlichen Gründen zu regelnden Sachverhalte Zumindest in jenen Fallkonstellationen, in denen das Fehlen einer nationalen Regelung für grenzüberschreitende Sachverhalte die Wirkungen des Anwendungsvorrangs auslöst, verpflichtet das Unionsrecht Verwaltungsbehörden und Gerichte, eine Rechtsfolge vorzusehen, die der – insoweit in unionsrechtswidriger Weise untätig gebliebene – Gesetzgeber gerade nicht angeordnet hatte. Die Fälle weiterhin ungeregelt zu lassen, ist aus unionsrechtlicher Sicht nicht ausreichend. Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten verpflichtet Verwaltungsbehörden und Gerichte zumindest zur Gleichbehandlung mit bloß internen Konstellationen. Er steht aber einer noch besseren Behandlung auch nicht im Wege. Auf den ersten Blick wäre es naheliegend, auf Rechtsfolgenebene ähnliche Überlegungen wie auf Tatbestandsebene anzustellen: Der Anwendungsbereich der nationalen Regelung wird nur insoweit verdrängt als unionsrechtlich gefordert. Genauso könnte auf Rechtsfolgenebene angenommen werden, dass Verwaltungsbehörden und Gerichte bloß jene Rechtsfolge vorsehen dürfen, die mindestens unionsrechtlich gefordert ist. Sie bräuchten den Steuerpflichtigen nicht darüber hinaus zu begünstigen.52 Wer so argumentiert, übersieht aber einen wesentlichen Unterschied: Für jene Fallkonstellationen, in denen die

__________ 49 50 51 52

Siehe EuGH v. 16.5.2006 – Rs. C-290/04 – Scorpio, Slg. 2006, I-09461. Vgl. BFH v. 24.4.2007 – I R 39/04, BFH/NV 2007, 2419. Dazu M. Lang/Lüdicke/Reich, IStR 2008, 709 (709 f.). So Zorn in Kofler u. a. (Hrsg.) Gedenkschrift für Quantschnigg (2010), 557 f.

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nationale Vorschrift aus unionsrechtlicher Sicht unbedenklich ist, hatte der Gesetzgeber – schon seinerzeit – eine Rechtsvorschrift geschaffen, die vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfasst ist und daher weiterhin angewendet werden kann. In den Fällen jedoch, in denen das Fehlen einer Regelung des grenzüberschreitenden Sachverhalts gegen eine Grundfreiheit verstößt, hat der Gesetzgeber eben keine Vorschrift geschaffen, die weiterhin angewendet werden kann. Wer automatisch jene Rechtsfolge zum Tragen lassen kommen will, die gerade noch den unionsrechtlichen Anforderungen entspricht, kann sich daher nicht unmittelbar auf nationale Rechtsvorschriften berufen. Genauso wenig kann er sich aber unmittelbar auf Unionsrecht berufen: Das Unionsrecht verpflichtet nur, mindestens die Gleichbehandlung zu gewähren, enthält aber kein Verbot, darüber hinaus zu gehen und den sich in der grenzüberschreitenden Situation befindlichen Steuerpflichtigen großzügiger zu behandeln. Wenn der BFH somit im Falle des Schulgeldes davon ausgeht, dass „dann, wenn die Schule im EU-Ausland zu einem im Inland ohne Abstriche anerkannten Schulabschluss führt, der Abzug des für den Besuch dieser Schule gezahlten Schulgeldes […] dem Grunde nach in Betracht zu ziehen ist“, fordert er letztlich die sinngemäße Anwendung der in § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG damals enthaltenen Rechtsfolge – über den vom deutschen Gesetzgeber vorgesehenen Anwendungsbereich dieser Vorschrift hinaus. Dem unionsrechtlichen Postulat, wonach in den vergleichbaren Konstellationen mindestens die Abzugsfähigkeit in dem Umfang gewährleistet sein muss, in dem sie auch in inländischen Situationen vorgesehen ist, wird dadurch entsprochen, indem die Rechtsfolge des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG über die inländischen Konstellationen hinaus erstreckt wird. Die Regelungslücke, die bei grenzüberschreitenden Situationen gegeben war, musste aus unionsrechtlichen Gründen geschlossen werden. Implizit geht der BFH genau so vor, wie es sonst im Falle der Lückenschließung geboten wäre: Er sucht nach der systematisch und teleologisch „passenden“ Vorschrift – was im vorliegenden Fall keine großen Schwierigkeiten bereitet – und wendet diese Vorschrift sinngemäß auf den ungeregelten Fall an. Dies versetzt den BFH auch in die Lage, die aus dieser Vorschrift gewonnenen Wertungen – wie die Ausführungen über das Sonderungsverbot gezeigt haben53 – zu berücksichtigen.54 In dieselbe Kategorie gehört die vom EuGH in Persche entschiedene Konstellation:55 Unionsrechtlich ist es geboten, dass „der Steuerpflichtige unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit [hat], auch Spenden an eine Einrichtung, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, abzuziehen“.56 Im konkreten Fall hat der BFH dem FG aufgetragen, zu prüfen, „ob die nach natio-

__________ 53 Vgl. BFH v. 17.7.2008 – X R 62/04, FR 2009, 228 m. Anm. Kanzler = BFH/NV 2008, 1927. 54 Vgl. auch BFH v. 3.12.2008 – X R 26/08, BFH/NV 2009, 902: Hier verweigerte der BFH die Abzugsfähigkeit des Schulgeldes. 55 Siehe EuGH v. 27.1.2009 – Rs. C-318/07 – Persche, FR 2009, 230. 56 Vgl. BFH 27.5.2009 – X R 46/05, BFH/NV 2009, 1633.

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nalem Recht zu stellenden Anforderungen erfüllt sind, ob also der begehrte Spendenabzug dem Grunde und der Höhe nach berechtigt ist.“57 Dies zeigt, dass der BFH im Ergebnis auf durchaus vertraute methodische Ansätze zurückgreift: Das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung für einen bestimmten Sachverhalt führt auch sonst nicht zwingend dazu, den Auslegungsvorgang abzubrechen. Vorschriften, die ihrem Wortlaut nach zumindest nicht auf den ersten Blick oder auch gar nicht auf einen bestimmten Sachverhalt anwendbar sind, müssen – nicht bloß im unionsrechtlichen Kontext – mitunter darauf hin untersucht werden, ob die Rechtsfolgen auch auf diesen Sachverhalt zu erstrecken sind. Entscheidend ist, ob der ausdrücklich geregelte Sachverhalt dem nicht ausdrücklich geregelten Sachverhalt so ähnlich ist, dass die für den ausdrücklich geregelten Sachverhalt vorgesehenen Rechtsfolgen auf den nicht ausdrücklich geregelten Sachverhalt erstreckt werden sollen. Die Ähnlichkeit ist anhand der Wertungen zu beurteilen, die jenen Vorschriften entnommen werden, aus denen sich diese Rechtsfolgen ergeben.58 Die Grenze zwischen Auslegung (im engeren Sinn) und Analogie ist dabei – sofern sie sich überhaupt ziehen lässt – fließend. So wie im Falle von Regelungslücken auch sonst die sinngemäße Anwendung der – nach systematischen und teleologischen Gesichtspunkten festgestellten – „passenden“ bestehenden Vorschriften zu erwägen ist, gilt dies auch für die aufgrund Unionsrechts anzunehmende und zu schließende Lücke.59 Im Rahmen dieser Überlegungen können dann auch verfassungsrechtliche Wertungen einfließen. Schließlich ist die verfassungskonforme Interpretation Bestandteil der systematischen Interpretation.60 Wenn es darum geht zu erkennen, welche Rechtsfolge die für die nach nationalem Recht ungeregelte, aber aus unionsrechtlichen Gründen zu regelnde Konstellation die systematisch „passende“ Rechtsfolge ist, sind beispielsweise gleichheitsrechtliche Argumente durchaus am Platz. Die Erstreckung einer Rechtsfolge auf den ungeregelten Sachverhalt, deren Anwendung auch gleichheitsrechtliche Anforderungen erfüllt, ist jener Rechtsfolge vorzuziehen, bei deren Erstreckung auf den ungeregelten Fall dies nicht der Fall ist.61

__________ 57 Vgl. BFH 27.5.2009 – X R 46/05, BFH/NV 2009, 1633. 58 Dazu auch Klamert, JBl 2008, 158 (162). 59 Vgl. auch die Überlegungen bei Rust, IStR 2009, 382 (386) zur Umsetzung des Urteils Gerritse (EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-234/01 – Gerritse, Slg. 2003, I-05933), der zwar im Gegensatz zum FG Berlin (dessen Urteil dann auch vom BFH aufgehoben wurde: BFH v. 10.1.2007 – I R 87/03, BFH/NV 2007, 1241) „anstelle der analogen Anwendung anderer Sondervorschriften […] [den] Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen für beschränkt steuerpflichtig selbständig Tätige“ vorgezogen hätte, dem es aber letztlich wohl dem Grunde nach ebenso wie dem FG Berlin darum ging, die sinngemäß anwendbare Vorschrift aufzuspüren. 60 Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994), 76 f.; Ranacher/Frischhut, Handbuch Anwendung des EU-Rechts (2009), 285. 61 Vgl. auch Gosch, DStR 2007, 1553 (1557), der davon spricht, dass der BFH „das gemeinschaftsrechtlich Gebotene mit dem verfassungsrechtlichen Anforderungsprofil einer prinzipiellen Inländergleichbehandlung“ verschränkt.

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Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts

Macht man sich bewusst, dass der Anwendungsvorrang der Grundfreiheit letztlich bloß zur Schließung der als unionsrechtswidrig erkannten Regelungslücken verpflichtet und Verwaltungsbehörden und Gerichte dabei so vorzugehen haben wie dies im Falle der als geboten erachteten Lückenfüllung auch sonst der Fall ist, ist der gelegentlich ins Treffen geführte Widerspruch zu den Postulaten der Rechtssicherheit zumindest entschärft: Zwar haben aus unionsrechtlichen Gründen Rechtsfolgen in Fällen zum Tragen zu kommen, die vom Anwendungsbereich der Regelung nach ihrem Wortlaut nicht erfasst sind. Der geforderten Rechtssicherheit steht es aber auch sonst nicht entgegen, wenn neben dem Wortlaut auch andere Aspekte bei der Auslegung zu berücksichtigen sind und diese den Wortlaut sogar gelegentlich in den Hintergrund drängen. Die hier beschriebene Konstellation unterscheidet sich daher nicht grundlegend von anderen Fällen der Gesetzesauslegung. Der Rechtssicherheit ist jedenfalls gedient, wenn Verwaltungsbehörden und Gerichte im Rahmen der von ihnen vorzunehmenden Lückenfüllung darzulegen haben, aus welchen Gründen die von ihnen angewendete Rechtsfolge die systematisch und teleologisch „passende“ ist und diese Entscheidung damit auch nachprüfbar und gegebenenfalls gerichtlich korrigierbar ist. Mit rechtsstaatlichen Anforderungen – und damit auch mit dem Postulat der Rechtssicherheit – wäre es nicht in Einklang zu bringen, wenn Verwaltungsbehörden und Gerichte in ihrem Bemühen, den unionskonformen Zustand herzustellen, völlig frei wären, die ihnen angebracht erscheinende Rechtsfolge zu finden und die Steuerpflichtigen dann auch nicht wüssten, welche Grundsätze für Behörden und Gerichte bei dieser Suche maßgebend sind und jede Behörde zulässigerweise anders entscheiden könnte.62 4. Die Suche nach den „passenden“ Rechtsfolgen in Fällen, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Vorschrift aus unionsrechtlichen Gründen einzuschränken ist Andere Überlegungen sind anzustellen, wenn der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht zur Regelung eines Sachverhaltes verpflichtet, sondern den Anwendungsbereich der nationalen Vorschrift einschränkt. In diesem Fall ist die vom Gesetzgeber seinerzeit geschaffene Regelung unionsrechtswidrig und daher nicht anwendbar. Die Verwaltungsbehörden und Gerichte scheinen daher über keine Rechtsgrundlage zu verfügen, Rechtsfolgen vorzusehen. Unionsrechtlich sind sie in diesem Fall auch nicht dazu verpflichtet. Den Grundfreiheiten ist auch entsprochen, wenn der Fall ungeregelt bleibt. Darf also die Vorschrift, die für beschränkt Steuerpflichtige einen 35 %igen Steuersatz vorsieht und diese Gruppe auf diese Weise gegenüber den bloß in der Höhe von 30 % besteuerten Ansässigen benachteiligt, nicht angewendet

__________ 62 Tendenziell anders allerdings Öhlinger, Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union (1999), 156, der davon ausgeht, dass der Spielraum der nationalen Organe aufgrund der Verpflichtung, dem Anwendungsvorrang Rechnung zu tragen, „erheblich erweitert“ wird.

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werden, scheint es auf den ersten Blick an einer anderen anwendbaren nationalen Regelung zu fehlen. Der 30 %ige Steuersatz wurde bloß für Ansässige geschaffen. Würden beschränkt Steuerpflichtige daher gar nicht besteuert, gibt es aus unionsrechtlicher Sicht keinen Einwand dagegen. Diese Regelungslücke unterscheidet sich somit von der oben beschriebenen Fallgruppe: Während es in den oben erwähnten Fällen dem Gesetzgeber zuzuschreiben ist, dass die Konstellation ungeregelt geblieben ist und sich das Fehlen einer Regelung als unionsrechtswidrig erweist, ist in den zuletzt behandelten Fällen die „Lücke“ ausschließlich auf das Unionsrecht zurückzuführen und aus unionsrechtlicher Sicht nicht zwingend zu schließen. Die Grundfreiheiten verlangen keine Besteuerung des Nichtansässigen. Die vom Gesetzgeber geschaffene Regelung hat sich aus unionsrechtlichen Gründen als untauglich und unanwendbar herausgestellt, so dass keine nationale Vorschrift zu existieren scheint, die eine Rechtsgrundlage für eine Besteuerung abgibt. Wer aber erkannt hat, dass es in der erstgenannten Fallgruppe darum geht, eine für den – aus Gründen des nationalen Rechts – ungeregelten Fall sinngemäß anzuwendende andere Rechtsvorschrift zu suchen, deren Rechtsfolge zum Tragen kommen soll, wird in dieser Konstellation nach ähnlichen Grundsätzen vorgehen: Im Falle einer durch den Anwendungsvorrang gerissenen Regelungslücke können überzeugende Gründe dafür sprechen, diese Lücke ebenfalls zu schließen und auch für diese Sachverhalte nach der „passenden“ Rechtsfolge zu suchen. Nicht anders ist nämlich vorzugehen, wenn der Gesetzgeber – außerhalb jeglichen unionsrechtlichen Kontextes – selbst bestimmte Fallgruppen scheinbar ungeregelt gelassen hat. Auch dann kann sich die Notwendigkeit ergeben, diese scheinbare Lücke im Interpretationsweg zu schließen. In diesen Fällen ist aber auch zu untersuchen und zu begründen, ob die Lücke überhaupt zu schließen ist oder ob nicht vielmehr die NichtRegelung die ohnehin passende Rechtsfolge ist.63 Dies gilt auch in jenen hier behandelten Fällen, in denen der unionsrechtlich bedingte Anwendungsvorrang die Lücke reißt. Ob eine aus einer anderen nationalen Vorschrift ergebende Rechtsfolge als „passend“ anzusehen ist, bedarf noch sorgfältigerer Prüfung und Begründung als in jenen Fällen, in denen das Unionsrecht zur Schließung der – national verursachten – Lücke zwingt. Verwaltungsbehörden und Gerichte haben sich bei der Erstreckung von aus anderen Vorschriften entnommenen Rechtsfolgen noch größere Zurückhaltung aufzuerlegen. Schließlich fehlt es an jeder unionsrechtlichen Verpflichtung zur Lückenschließung, so dass unionsrechtliche Argumente zur Begründung nicht herangezogen werden können.64 Umgekehrt kommen jene Bedenken, die sonst – außerhalb des unionsrechtlichen Kontextes – gegen die Füllung von Lücken durch die Erstreckung belas-

__________ 63 Vgl. auch Jud, ÖJZ 2003, 521 (526), die betont, dass zwischen der Feststellung einer Lücke und ihrer Ausfüllung zu differenzieren ist. 64 Zurecht macht Coutinho, Comment, H&I 2008, 1.15, 76 (76) darauf aufmerksam, dass es eine dünne Linie zwischen „interpretation and legislation“ gibt.

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Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts

tender Rechtsfolgen auf nicht geregelte Sachverhalte sprechen65, hier nicht zum Tragen: Letztlich geht es hier nicht um die analoge Anwendung von Rechtsvorschriften zu Lasten des Steuerpflichtigen. Die Rechtslage, die sich ohne Berücksichtigung des Unionsrechts ergeben würde, wäre nämlich für den Steuerpflichtigen noch viel nachteiliger als die, die sich aufgrund der Annahme einer zunächst durch das Unionsrecht gerissenen Lücke in das nationale Recht und die gleichzeitig vorgenommene – nur gedanklich davon getrennte – Schließung dieser Lücke durch Erstreckung einer in einer anderen Vorschrift enthaltenen Rechtsfolge ergibt. Der Anwendungsvorrang kann in grundfreiheitenrechtlichen Fällen die Rechtslage insgesamt nur zugunsten des Steuerpflichtigen verbessern. Die deutsche Rechtsprechung bietet Anschauungsmaterial für Konstellationen, in denen das Unionsrecht der nationalen Regelung zwar eine Lücke gerissen, die aber nicht durch Erstreckung einer in einer anderen Vorschrift enthaltenen Rechtsfolge zu schließen war. Die Umsetzung des EuGH-Urteils Stauffer kann als Beispiel dienen:66 Der BFH konnte die Befreiung des § 5 Abs. 1 Nr. 9 Satz 1 KStG nicht anwenden, da gem. § 5 Abs. 2 Nr. 3 KStG Körperschaften, die weder ihre Geschäftsleitung noch ihren Sitz im Inland haben, von ihrer Anwendung ausgeschlossen waren. Der BFH hat entschieden, dass „diese Rechtsfolge gegen die Grundfreiheiten des Kapitalverkehrs […] verstößt“. Im Ergebnis hat er angeordnet, dass die Befreiung des § 5 Abs. 1 Nr. 9 Satz 1 KStG auch auf in Italien ansässige Stiftungen auszudehnen ist, wobei „Ausgangspunkt und Maßstab für die Beurteilung als gemeinnützig […] allein das (innerstaatliche) deutsche Recht“ ist.67 Folge des Anwendungsvorrangs war somit, dass die Steuerpflicht auch für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Stiftungen mit vergleichbaren Einkünften zu entfallen hatte. Ein weiteres Beispiel dafür ist die vom BFH vorgenommene Umsetzung des EuGH-Urteils Jundt.68 Der EuGH hatte folgende Entscheidung getroffen:69 „Die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, die darin liegt, dass nach einer nationalen Regelung nur das Entgelt, das im Inland ansässige Universitäten, die juristische Personen des öffentlichen Rechts sind, als Gegenleistung für eine nebenberufliche Lehrtätigkeit zahlen, von der Einkommensteuer befreit ist, während diese Befreiung versagt wird, wenn ein solches Entgelt von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Universität gezahlt wird, ist nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt.“ Der BFH ist

__________ 65 Siehe Woerner, Die Steuerrechtsprechung zwischen Gesetzeskonkretisierung, Gesetzesfortbildung und Gesetzeskorrektur, in Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht (1982), 23 (35 f.); Doralt/Ruppe, Steuerrecht Band II5 (2006), 212 f.; anders aber überzeugend Tanzer, StuW 1981, 201 (201 ff.); zur Zulässigkeit steuerverschärfender Analogie auch Werndl, ÖJZ 1997, 298 (298 ff.). 66 Siehe EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-386/04 – Stauffer, FR 2007, 242, Slg. 2006, I-08203. 67 Vgl. BFH v. 20.12.2006 – I R 94/02, FR 2007, 387 = BFH/NV 2007, 805. 68 Vgl. BFH 22.7.2008 – VIII R 101/02, FR 2009, 236 = BFH/NV 2008, 1747. 69 Siehe EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-281/06 – Jundt, Slg. 2007, I-12231.

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zwar fälschlich davon ausgegangen, dass er den „Tatbestand des § 3 Nr. 26 EStG in normerhaltender Weise zu reduzieren“, die „einschlägige Regelung als solche weiter anzuwenden“ hätte und dass das „Merkmal ‚inländisch‘ in § 3 Nr. 26 EStG bei der Rechtsanwendung nicht zu beachten“ wäre. In Wahrheit kann die Regelung des § 3 Nr. 26 EStG uneingeschränkt weiterhin angewendet werden. Zusätzlich zwingt der Anwendungsvorrang, die Besteuerung auch in jenen Fällen auszusetzen, in denen die Vergütung von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Universität gezahlt wird. Auf den ersten Blick ähnlich ist ein Fall, den der österreichische VwGH zu entscheiden hatte: Es ging um die Wirkungen des Anwendungsvorrangs im Falle von ausländischen Portfolio-Dividenden, die von einer österreichischen Körperschaft bezogen wurden.70 Inländische Dividenden sind – unabhängig vom Beteiligungsausmaß – generell steuerbefreit, während dies bei Auslandsdividenden nur bei mindestens 25 %iger Beteiligung der Fall war. In Sonderfällen wurden derartige Beteiligungen auch bei gleichzeitiger indirekter Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer besteuert. Ausländische Portfolio-Dividenden waren hingegen immer steuerpflichtig, ohne in den Genuss einer Anrechnung oder Befreiung zu gelangen. Die generelle Steuerpflicht dieser Portfoliodividenden erachtete der VwGH als unzulässig. Er sah es aber als ausreichend an, dem Anwendungsvorrang durch Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer Rechnung zu tragen. Geht man davon aus, dass es jedenfalls zutreffend ist, in einem ersten gedanklichen Schritt den Anwendungsbereich der Körperschaftsteuer einzuschränken und ausländische PortfolioDividenden nicht einzubeziehen, stellt sich zunächst die Frage, aus welchen Gründen es geboten ist, nach der Anwendung einer in einer anderen Rechtsvorschrift enthaltenen Rechtsfolge zu suchen, oder ob es nicht bei der Nichtbesteuerung bleiben soll. Erachtet man es für erforderlich, nach einer Rechtsfolge zu suchen, die auf den nunmehr ungeregelten Fall erstreckt werden kann, sprechen gewichtige Gründe dafür, bloß im Falle von Dividenden von Auslandsgesellschaften, die vorwiegend niedrigbesteuerte passive Einkünfte beziehen, die Anrechnung der ausländischen Steuer vorzunehmen, sonst aber die sowohl für alle Inlands- als auch für die meisten Fälle von Auslandsdividenden vorgesehene Befreiung anzuwenden.71 Verwaltungsbehörden und Gerichte gehen in Konstellationen, in denen der Gesetzgeber Inlandsfälle gegenüber Auslandsfällen begünstigt, aber immerhin auch im Inlandsfall die Erhebung von Steuern vorsieht, ohne darüber besonders zu reflektieren, davon aus, dass der niedrigere der beiden Steuersätze auch für den Auslandsachverhalt oder den Nicht-Ansässigen zum Tragen kommen

__________ 70 Vgl. VwGH 17.4.2008, 2008/15/0064; dazu Massoner/Stürzlinger, SWI 2008, 400 (400); SWI 2009, 280 (280); Ranacher/Frischhut, Handbuch Anwendung des EU-Rechts (2009), 61 f. 71 Dazu Massoner/Stürzlinger, SWI 2008, 400 (403 f.); SWI 2009, 280 (280 f.); M. Lang, SWI 2009, 216 (216 f.); kritisch zu diesem Erkenntnis des VwGH auch Ehrke-Rabel, ÖStZ 2009, 189 (194 Fn. 55).

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Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts

soll. Der österreichische VwGH hat die für Inlandsdividenden vorgesehene Rechtsfolge, die in der Besteuerung zum halben Durchschnittssteuersatz bestand, auch auf Auslandsdividenden erstreckt72, nachdem sich herausgestellt hat, dass die Besteuerung zum vollen Steuersatz unionsrechtswidrig war.73 Kaum anders würden die meisten Gerichte wohl vorgehen, wenn es um unterschiedliche Steuersätze für Ansässige und Nicht-Ansässige geht: Nicht-Ansässigen würde nicht völlige Steuerfreiheit, sondern – bloße – Inländerbehandlung zuteil. Eine Begründung für eine derartige Lückenschließung kann zum einen darin gesehen werden, dass in vielen Staaten verfassungsrechtliche – insbesondere aus dem Gleichheitsgrundsatz gewonnene – Wertungen nahelegen, die völlige Steuerfreiheit nicht hinzunehmen. Zum anderen hat in diesen Fällen schon der EuGH selbst auf den Inlandsfall verwiesen und gerade aus der unterschiedlichen Behandlung den Verstoß gegen die Grundfreiheiten abgeleitet. Die für den Inlandsfall maßgebende Rechtsfolge passt – wie die in diesen Fällen bereits vom EuGH aufbereiteten Argumente zeigen – für den Auslandssachverhalt ideal. Viel schwieriger war die passende Rechtsfolge in der Konstellation zu finden, die dem EuGH-Urteil CLT UFA zugrunde gelegen ist. Es ging dort um die höhere Besteuerung von Betriebsstätten ausländischer Körperschaften, die generell bei 42 % gelegen war, während sich die Besteuerung inländischer Körperschaften – je nach Ausschüttung – zwischen 30 und 45 % bewegte. Der EuGH machte bloß folgende Vorgaben:74 „Art. 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 43 EG) und Art. 58 EG-Vertrag (jetzt Art. 48 EG) stehen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegen, wonach die Gewinne einer Zweigniederlassung einer Gesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, mit einem höheren Steuersatz belastet werden als die Gewinne einer Tochtergesellschaft einer solchen Gesellschaft, die ihre Gewinne voll an die Muttergesellschaft ausschüttet. […] Es ist Sache des nationalen Gerichts, den Steuersatz, der auf die Gewinne einer Zweigniederlassung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuwenden ist, nach Maßgabe des Steuersatzes zu ermitteln, der im Fall der Ausschüttung der Gewinne einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft insgesamt anzuwenden gewesen wäre.“ Der EuGH nahm offenbar bereits an, dass das nationale Gericht die durch Unionsrecht gerissene Lücke zu schließen und nach einer dafür passenden Rechtsfolge zu suchen hat75, obwohl sich dies allerdings nicht unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt. Er ging aber zumindest nicht soweit, die Frage des vorlegenden Gerichtes nach dem anzuwendenden Steuersatz konkret zu beantworten. Die Frage ist auch alles andere als einfach. Der BFH ist im Ergebnis von einem 33,5 %igen Steuersatz ausgegangen:76 „Im Aus-

__________ 72 73 74 75

Vgl. VwGH v. 28.9.2004, 2004/14/0078. Siehe EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-315/02 – Lenz, Slg. 2004, I-07063. Vgl. EuGH v. 23.2.2006 – Rs. C-253/03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831 = FR 2006, 590. Vgl. EuGH v. 23.2.2006 – Rs. C-253/03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831, FR 2006, 590 Rn. 36 f. 76 Siehe BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, FR 2007, 184 m. Anm. Pezzer = BFH/NV 2007, 158.

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gangspunkt besteht unter den Verfahrensbeteiligten insoweit Einigkeit darüber, dass die Klägerin dem auch für Tochtergesellschaften im Vollausschüttungsfall maßgeblichen Steuersatz nach § 27 Abs. 1 KStG 1991 i. H. v. 30 v. H. zu unterwerfen ist. Dieser Steuersatz ist sodann um die Quellensteuer i. H. v. 5 v. H. auf die anzunehmende Gewinnausschüttung von 70 v. H. zu erhöhen. Bezogen auf das zu versteuernde Einkommen von 100 ergeben sich daraus rechnerisch […] weitere 3,5 v. H., insgesamt also 33,5 v. H.“ Die Anwendung eines zumindest 30 %igen Steuersatzes ist – angesichts der auch oben dargelegten Argumente – einleuchtend. Darüber, ob auch die Regelungen über die Quellensteuer, die die Steuerpflicht des Gesellschafters betrifft, sinngemäß anzuwenden sind, lässt sich trefflich streiten.77 Dem Grundsatz nach ist dem BFH aber kein Vorwurf zu machen: Er hat die vom Anwendungsvorrang nicht berührten nationalen Rechtsvorschriften untersucht und nach „passenden“ Rechtsfolgen gesucht, die auf den aus unionsrechtlichen Gründen nunmehr ungeregelten Sachverhalt anzuwenden sind. Zu dieser Rechtsprechung passen auch zwei Urteile des BFH v. 18.11.2008 zu § 18 AuslandsInvestmG:78 In beiden Entscheidungen hat der BFH ausgeführt, dass „die nationalen Behörden und Gerichte die dem Art. 73b EGV (Art. 56 EG) entgegenstehenden diskriminierenden Regelungen des § 18 AuslInvestmG unangewendet zu lassen haben, ohne dass sie die vorherige Beseitigung dieser Norm durch den Gesetzgeber abwarten müssten“. In einem Fall wies der BFH darauf hin, dass die „Einkünfte der Kläger aus den ausländischen Fonds […] entsprechend den für inländische Fonds geltenden Regelungen des KAGG und des § 20 EStG festzustellen“79 sind, im anderen Fall sind sie „entsprechend den für inländische Fonds geltenden Regelungen des KAGG und den für registrierte ausländische Fonds (‚weiße Fonds‘) geltenden Vorschriften des AuslInvestmG zu besteuern“80. In einem der Rechtssache Scorpio ähnlichen Fall hat der österreichische VwGH zur damals geltenden nationalen Rechtslage, die einen Bruttosteuerabzug von 20 % für beschränkt Steuerpflichtige vorsah, folgende Aussage getroffen:81 „Sollte die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU vorliegen, müssten Betriebsausgaben (Werbungskosten), die N der Beschwerdeführerin mitgeteilt hat und die – i. S. d. Urteils des EuGH FKP Scorpio Konzertproduktionen GmbH – im unmittelbaren Zusammenhang mit den Tätigkeiten von N in Österreich stehen, bei Berechnung der Bemessungsgrundlage für die Abzugsteuer berücksichtigt werden.“ Dagegen ist kein Einwand zu erheben:82 Bei den Regelungen über die Betriebsausgaben und Werbungskosten handelt es

__________ 77 Kritisch Gosch, Ubg 2009, 73 (77), der davon spricht, dass der BFH „letztlich freihändig einen eigenen Betriebsstätten-Gewinnabführungssteuersatz kreiert hat“. 78 Siehe BFH v. 18.11.2008 – VIII R 24/07, BFH/NV 2009, 633; BFH v. 18.11.2008 – VIII R 2/06, BFH/NV 2009, 731 (NV). 79 Vgl. BFH v. 18.11.2008 – VIII R 24/07, BFH/NV 2009, 633. 80 Vgl. BFH v. 18.11.2008 – VIII R 2/06, BFH/NV 2009, 731 (NV). 81 Siehe VwGH v. 19.10.2006, 2006/14/0109; dazu M. Lang, SWI 2007, 17 (17 f.). 82 Vgl. im Ergebnis auch BFH v. 24.4.2007 – I R 39/04, BFH/NV 2007, 2419.

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sich um die sinngemäße Anwendung der auch im Veranlagungsverfahren für unbeschränkt wie beschränkt Steuerpflichtige maßgebenden Vorschriften. Umstrittener ist allerdings, ob es überzeugt, wenn der VwGH dann auf die dem Steuerabzug unterworfenen Nettoeinkünfte nicht den Steuersatz von 20 % anwendet, sondern den Tarifsteuersatz des § 33 EStG. Geht man von dem hier zugrunde gelegten Ansatz aus, ist dies nur dann zulässig, wenn die Auslegung zeigt, dass der aus den Vorschriften über den im Veranlagungsverfahren zu gewinnende maßgebende Steuersatz sinngemäß anzuwenden ist.83 Spannend sind auch jene Folgen, die aus dem Urteil Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation abgeleitet werden können.84 In diesem Urteil ist es um auf ausschließlich grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbare Unterkapitalisierungsregeln gegangen. Der EuGH hat zwar zugestanden, dass derartige Rechtsvorschriften Praktiken zu verhindern mögen, „deren einziges Ziel die Umgehung der Steuer ist, die normalerweise auf die durch Tätigkeiten im Inland erzielten Gewinne zu zahlen ist“, aber dann geprüft, „ob diese Rechtsvorschriften nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist“. Dies ist dann nicht der Fall, wenn „in jedem Fall, in dem eine solche Konstruktion nicht auszuschließen ist, dem Steuerpflichtigen, ohne ihn übermäßigen Verwaltungszwängen zu unterwerfen, die Möglichkeit eingeräumt wird, Beweise für etwaige wirtschaftliche Gründe für den Abschluss dieses Geschäfts beizubringen.“ Unterkapitalisierungsvorschriften, die nicht nur „speziell bezwecken, rein künstliche Konstruktionen, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung dieser Rechtsvorschriften zu entgehen, von einem Steuervorteil auszuschließen“, sondern „generell jede Situation erfassen, in der die Muttergesellschaft – aus welchem Grund auch immer – ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat“, sind somit unionsrechtswidrig.85 Fraglich könnte nun sein, ob von den Verwaltungsbehörden und Gerichten unter Berufung auf den Anwendungsvorrang statt den für ausschließlich grenzüberschreitenden Sachverhalten geschaffenen Unterkapitalisierungsvorschriften, die weiter reichen als nach diesen Maßstäben unionsrechtlich zulässig ist, widerlegbare Vermutungen, die eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechende Form der Beweislastumkehr nach sich ziehen, aufgestellt werden können. In Rechtsordnungen, die für vergleichbare nationale Sachverhalte solche Regelungen nicht kennen, wird es schwer fallen, eine – in diese Richtung – sinngemäß anzuwendende Rechtsvorschrift aufzuspüren.86 Anders wäre es hingegen, wenn sich eine derartige Vorgangsweise auf Regelungen über die erhöhte Mitwirkungspflicht bei Auslandsbeziehungen stützen lässt, sofern diese selbst unionsrechtlichen Anforderungen entsprechen.87

__________ 83 Ablehnend M. Lang, SWI 2007, 17 (25 f.). 84 Siehe EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-02107. 85 Vgl. EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-02107. 86 Im Ergebnis ebenfalls skeptisch Stahl, Intertax 2008, 548 (552). 87 Vgl. aber EuGH v. 28.10.1999 – Rs. C-55/98 – Veestegaard, FR 1999, 1386, Slg. 1999, I-07641.

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Interessant ist die von Stahl aufgeworfene Frage zur Wegzugsbesteuerung:88 Geht man von einer nationalen Rechtslage aus, nach der bei Ansässigkeit des Anteilseigners im Inland erst die Beteiligungsveräußerung zur Besteuerung führt, im Falle des Wegzugs in einen anderen EU-Mitgliedstaat aber ein Veräußerungsvorgang fingiert und sogleich Steuer erhoben wird, und erweist sich diese sofortige Besteuerung als unionsrechtswidrig und lediglich ein Aufschub der Besteuerung bis zur tatsächlichen Veräußerung als unionsrechtskonform, ist zwar unbestritten, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs die sofortige Wegzugsbesteuerung zu unterbleiben hat. Fraglich könnte aber sein, ob sie – ohne dass dafür noch eine explizite Rechtsgrundlage geschaffen wurde – zum späteren Veräußerungszeitpunkt nachgeholt werden kann. Stahl hält dies für unzulässig.89 Wer nach einer sinngemäßen anwendbaren Vorschrift sucht, wird zum selben Ergebnis kommen. Die Regelungen über die Veräußerung selbst eignen sich nämlich nicht, da sie zur Besteuerung aller bis zur Veräußerung entstandenen stillen Reserven führen und die Besteuerung im Veräußerungszeitpunkt abkommensrechtlichen Einwänden ausgesetzt sein kann.90 Ein anderes Ergebnis kann nur begründen, wer soweit geht, die für den Veräußerungsfall maßgebenden Regelungen in sinngemäßer Anwendung so zu modifizieren, dass sie nur die bis zum Wegzug entstandenen Wertsteigerungen erfassen. Weniger problematisch wäre es wohl auf dem Boden einer Rechtsordnung, in der für den Wegzug innerhalb der Union bereits der Steueraufschub ausdrücklich verankert ist, diese Regelungen auch für den Wegzug in Drittstaaten anzuwenden, falls sich zeigen sollte, dass der Wegzug auch von der Kapitalverkehrsfreiheit erfasst ist und dies nach dieser unionsrechtlichen Vorschrift erforderlich ist. In diesem Fall existiert bereits eine Vorschrift, deren Rechtsfolge auf den Drittstaatensachverhalt erstreckt werden kann.

IV. Zusammenfassende Würdigung Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten ist eine unionsrechtliche Vorgabe. In etlichen Mitgliedstaaten haben sich in letzter Zeit Unsicherheiten bei der Beurteilung der Frage, wie dem Anwendungsvorrang Rechnung zu tragen ist, gezeigt. Die häufig gestellte Frage, ob „disapplication“ oder „downreading“ am Platz ist91, trifft nicht den Punkt. Die hier angestellten Überlegungen haben nämlich gezeigt, dass zwischen verschiedenen Fallgruppen zu differenzieren ist. Entscheidend ist dabei die Unterscheidung zwischen Tatbestandsund Rechtsfolgenebene: Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann zunächst dazu zwingen, Rechtsfolgen für Sachverhalte vorzusehen, die nach nationalem Recht bisher ungeregelt waren. Von einer Unionsrechtswidrigkeit der nicht so weit reichenden Vorschrift, der die Rechtsfolge entnommen wird,

__________ 88 89 90 91

Dazu Stahl, Intertax 2008, 548 (552 f.). Siehe Stahl, Intertax 2008, 548 (553). Vgl. M. Lang, SWI 2006, 565 (565 f.). So z. B. Douma, Comment, H&I 2009, 1.5, 50 (53).

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Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts

kann dabei keine Rede sein. Davon zu unterscheiden sind Fälle, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Rechtsvorschrift zu weit reicht und der Anwendungsvorrang zu dessen Einschränkung zwingt. Der Anwendungsvorrang gegenüber einer partiell unionsrechtswidrigen nationalen Rechtsvorschrift reicht nur insoweit als deren Anwendung unionsrechtswidrig ist. Nationale Rechtsvorschriften sind daher in den Fällen, in denen sich die aus ihnen ergebende Rechtsfolge als unionsrechtskonform erweist, weiterhin anzuwenden. In den Fällen, in denen es an einer nationalen Regelung fehlt, ist die für vergleichbare Fälle maßgebende Regelung sinngemäß heranzuziehen. Verwaltungsbehörden und Gerichte haben dabei nach der aus systematischer und teleologischer Sicht passendsten Regelung zu suchen. Nach der sinngemäß heranzuziehenden Vorschrift kann auch dann zu suchen sein, wenn der Anwendungsvorrang zur Einschränkung des Anwendungsbereichs einer Vorschrift zwingt. Keineswegs ist nämlich automatisch davon auszugehen, dass dann gar keine Rechtsfolge – und dies wäre meist gleichbedeutend mit Nichtbesteuerung – zum Tragen kommt. Mitunter sind die Grenzen zwischen jenen Fällen, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Vorschrift aus unionsrechtlicher Sicht zu eng ist, und in denen er zu weit ist, nicht einfach zu ziehen. Entscheidend ist gelegentlich, wie man das zu lösende unionsrechtliche Problem beschreibt. Die der Rechtssache Jundt zugrunde liegende Konstellation illustriert dies:92 Wer seine Überlegungen anhand der – im Falle von aus dem Ausland bezogenen Vergütungen nicht gegebenen – Steuerfreiheit der von inländischen Universitäten gezahlten Vergütungen beginnt, wird die sinngemäße Anwendung dieser Regelung auf Vergütungen ausländischer Universitäten – und damit die Erstreckung des Anwendungsbereichs der Vorschrift über die Steuerfreiheit – erwägen. Wer die – bei inländischen Vergütungen nicht vorgesehene – Steuerpflicht der von ausländischen Universitäten erhaltenen Vergütungen zum Ausgangspunkt nimmt, wird zunächst annehmen, dass der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten die Besteuerung dieser Vergütungen verhindert und dann nach der sinngemäß anwendbaren nationalen Regelung – im vorliegenden Fall naheliegender Weise eben jene über die Steuerfreiheit inländischer Vergütungen – fragen. Jedes der beiden Erklärungsmodelle, mit denen die Wirkungen des Anwendungsvorrangs im konkreten Fall beschrieben werden, ist legitim. Der Inhalt der nach Berücksichtigung des Anwendungsvorrangs bestehenden Rechtslage kann aber nicht davon abhängen, für welchen dieser beiden Zugänge man sich entscheidet. Das Ergebnis der rechtsdogmatischen Analyse darf nämlich nicht von der Wahl des rechtstheoretischen Erklärungsmodells abhängen. Die Konstellationen, in denen der Anwendungsbereich einer nationalen Regelungen aus unionsrechtlicher Sicht zu eng ist, und jene, in denen er zu weit ist, sind somit nahe verwandt und gelegentlich sogar austauschbar: In all diesen Fällen bedarf

__________ 92 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-281/06 – Jundt, Slg. 2007, I-12231.

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Michael Lang

es der sinngemäßen Anwendung anderer Rechtsvorschriften. Die Frage, aus welchen Vorschriften die heranzuziehenden Rechtsfolgen gewonnen werden, ist anspruchsvoll, aber letztlich in gleicher Weise wie jede andere Auslegungsfrage dem rationalen Diskurs zugänglich.93

__________ 93 Anders offenbar Zorn (in Kofler u. a (Hrsg.), Gedenkschrift für Peter Quantschnigg (2010), 557 f.), der seine Grundskepsis gegen die sinngemäße Anwendung von Rechtsvorschriften – zumindest in derartigen Konstellationen – nicht verbergen kann: Die Auswahl der Rechtsfolgen stünde dann „im Belieben des nationalen Richters“. Es würde sich um eine „dermaßen unbestimmte Rechtsfigur“ handeln, „dass möglicherweise jeder nationale Richter zu einer anderen Rechtsfolge gelangte“. Dass Rechtsanwender – und auch Richter – oft zu unterschiedlichen Auslegungsergebnissen gelangen, ist häufig der Fall und auch sonst gar nicht zu vermeiden. Zweck der verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen Aufsichts- und Rechtsschutzeinrichtungen ist es auch, derartige unterschiedliche Auffassungen zu harmonisieren. Dies ist im Falle der Portfoliodividenden auch geschehen, als sich der VwGH über die gegenteilige Auffassung des UFS zum Inhalt des Anwendungsvorrangs hinweggesetzt hat (VwGH v. 17.4.2008, 2008/15/0064), wobei nunmehr der EuGH prüft, ob dies auch eine gemeinschaftsrechtliche Frage darstellt.

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María Teresa Soler Roch

Tax Avoidance – ECJ Doctrine and Spanish Tax Law: A comparative Analysis Table of content I. ECJ Doctrine

III. Conclusion

II. Spanish Court decisions

I. ECJ Doctrine Over the last decade the doctrine of the ECJ concerning tax avoidance or abuse of law has become consolidated and forms a significant body of doctrine despite the fact that the actual number of judgements issued is not very large1 and in no way comparable to the case law created by the national courts of Member States. In its Communication2 the European Commission stated that Member States should apply the doctrine of the ECJ on these matters and was particularly concerned about the need to harmonize or approximate certain anti-abuse rules (in this case, special rules that have been brought into question by the judgements of the Court, such as thin capitalization or CFC rules). The ECJ case law on these matters may be divided into three distinct sections: First, judgements concerning indirect taxes which have been harmonized, in particular VAT. In these judgements, the concept of “abusive practices” and prohibition of abuse of Community law is underlined. Secondly, judgements concerning indirect taxes in relation to matters dealt with in specific directives. These judgements refer to the interpretation of anti-abuse rules provided in such directives (judgement of their transposition into national law), as well as national anti-abuse rules applicable under the compatibility clause envisaged in the directive.

__________

1 The most significant judgements in this respect (of which, in our opinion, the ones marked in bold have maximum importance) are the following 17 October 1996 (C-283/94, C-291/94 and C-292/94, Denkavit-Vitic-Vormeer); 17 July 1997 (C-28/95, Leur-Bloem); 9 March 1999 (C-212/97, Centros); 14 December 2000 (C-110/99, Emsland-Stärke); 12 December 2002 (C-324/00, Lankhorst-Hohorst); 13 December 2005 (C-446/03, Marks & Spencer); 21 February 2006 (C-25/02, Halifax); 12 September 2006 (C-196/04, Cadbury-Schweppes); 12 December 2006 (C-374/04, ACT Group); 13 March 2007 (C-524/04, Thin Cap Group); 5 July 2007 (C-321/05, Kofoed); 8 November 2007 (C-251/06, Auer); 21 February 2008 (C-425/06, Part Services). Vid.: Ribes Ribes, A. “La doctrina del TJCE sobre el abuso del Derecho en materia tributaria” in the journal Quincena Fiscal nº 1, 2009. 2 COM(2007) 0785 final.

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Thirdly, judgements concerning taxes that have not been harmonized, in particular, direct taxes in relation to situations not affected by directives. In this case, the judgements of the Court refer to the compatibility of national antiabuse rules with the fundamental freedoms and principles enshrined in the Treaty (non-discrimination and non-restriction). The doctrine of the ECJ has recognized a general principle of prohibition of abuse of Community law which basically boils down to the following criterion: a Member State has the power to adopt measures to prevent its nationals from abusively avoiding application of domestic legislation and abusively or fraudulently invoking Community law by taking advantage of the possibilities offered by the treaty. Pursuant to its repeated jurisprudence, in order to justify national anti-abuse measures such measures must be applied non-discriminatingly and due to an overriding reason in the public interest (a fall in tax revenue is not considered a good enough reason). In addition, they must be compatible with the objective pursued and go no further than is necessary to achieve this objective (principle of proportionality). As mentioned above, in the case of indirect taxation, the ECJ has made use of the concept of abusive practices, and in this respect considers that three elements must exist: An objective element, which occurs when despite the fact that the conditions envisaged in Community legislation (e.g: the VAT directive) are formally respected, the objective pursued by that legislation (e.g: neutrality of tax or freedom of establishment) has not been attained. A subjective element, consisting of the intention to obtain a benefit envisaged in Community legislation by artificially creating the necessary conditions (for example, depending on the case: relations between the parties, base or conduit companies with no effective economic activity); artificiality may be proved by evidence verifiable by third parties. A teleological element (the inherent purpose of the operation as a criterion for determining the existence of abusive practices): abusive practices may be said to exist when the main purpose of the arrangement is to obtain a tax advantage. Regarding evidence of abuse, the ECJ has established two procedural criteria that under certain conditions refer this question to domestic legislation: the first is that the national courts are responsible for verifying the existence of the elements (objective and subjective) of abusive practices and, according to the second, evidence should be adduced pursuant to domestic law rules, provided that they are not detrimental to the efficacy of Community law. In the obiter dicta of some of its judgements, the ECJ has declared that abusive conduct is not sanctionable (using a similar argument to that put forward in this respect by the Spanish Constitutional Court, as we shall see below). The European Court holds that the effect of the correction (application of the tax avoided) is not a sanction, which would require a clear unambiguous legal 1032

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basis, but rather the simple consequence of verifying that the conditions for obtaining the advantage under Community law were artificially created. This idea corresponds to the requisite of legal certainty proclaimed by the ECJ, according to which Community law should be precise and its application predictable by all taxpayers. This imperative of legal certainty is imposed so that the parties in question may know the precise scope of their obligations. With regard to the anti-abuse clauses in certain directives concerning direct taxes3, the ECJ has also established various criteria. Hence, in relation to the anti-abuse rule in article 11.1(a) of Directive 90/434 which, as we know, requires that business restructuring be carried out for a valid economic reason in order to be able to apply the tax advantages envisaged in the Directive, the ECJ connects this rule with the general principle of prohibition of abuse and uses the concept of abusive practices mentioned above when it recognizes that this precept reflects a general principle of Community law under which the abuse of law is prohibited. Therefore, the Directive does not cover abusive practices that are not carried out in the framework of normal economic transactions but simply to abusively take advantage of the benefits provided under Community law. Regarding transposition of this precept into the laws of the Member States, the ECJ has established two criteria: The first is that these domestic laws must respect the principle of proportionality, since a general rule that automatically deprives certain operations of a tax advantage would go beyond what is necessary to prevent tax evasion or avoidance and be detrimental to the objective pursued by Directive 90/434. The second is that Member States may provide that the fact that the operation was not carried out for valid economic reasons constitutes a presumption of tax evasion or avoidance. Regarding the concept of valid economic reasons the Court holds that it should be interpreted in a broader sense than the intention to simply obtain a tax advantage4. Also in relation to the interpretation of the anti-abuse rule in article 11.1(a) of Directive 90/434, the closing speech of the Advocate General (J. Kokott) in the Zwijnenburg case has been published. In addition to stating that this rule is only applicable to the advantages envisaged in the Directive as regards company tax, she repeats that the precept is grounded in the general principle of prohibition of abuse of Community law, while clarifying that “simply making

__________ 3 In particular. Directives 90/434 and 90/435. 4 Section 96(2) of the Companies Tax Act provides that the regime envisaged in the Directive “shall not be applied when the main reason for the operation is tax evasion or avoidance. In particular, the regime is not applied when the operation is not carried our for valid economic reasons, such as restructuring or rationalizing the activities of the entities that take part in the operation, but simply for the purpose of obtaining a tax advantage”.

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use of the possibilities offered by Community law – in this case Directive 90/434 – cannot be grounds for suspecting tax evasion or abuse”5. With regard to interpretation of the rule envisaged in article 3.2 of Directive 90/435 which provides, as a precautionary anti-abuse measure, a temporal requisite of participation in the parent company/subsidiary relationship in order to be able to enjoy the regime applicable to intercompany dividends, the ECJ holds that this requisite does not authorise a Member State to make exemption subject to the condition that when benefits are distributed, the parent company has owned the participation for at least the time stipulated by the Member State6. As mentioned initially, the doctrine of the ECJ concerning anti-abuse rules has been extended to the analysis of such rules envisaged in the tax legislations of the Member States7, in so far as, when applied in intracommunity situations, they may be incompatible with the principles and freedoms enshrined in the Treaty. At the same time, the question of whether the concept of abuse of Community law may likewise be understood in relation to an abusive use of these freedoms is also raised. In this respect, the conditions under which the ECJ recognizes the validity of national anti-abuse rules may be summarized as follows: Member States are free to adopt or maintain rules, the purpose of which is specifically to deny a tax advantage to artificial arrangements whose purpose is to avoid domestic tax law. Nevertheless, the requisite of proportionality when applying the anti-abuse clause is established. The intention to take advantage of a more favourable legislation is not in itself sufficient to reach the conclusion that an abusive use has been made of a freedom granted in the Treaty.

__________ 5 Conclusions of 16 July 2009, case C-352/08. 6 Section 14.1.h) of the Non-Residents’ Income Tax Act governing the exemption of dividends paid by subsidiaries resident in Spain to the parent company resident in another Member State in application of Directive 90/435 contains an anti-abuse clause that limits application of the Directive. Under this clause the exemption of such dividends “shall not be applicable when the majority of voting rights in the parent company are held, directly or indirectly, by legal or natural persons who do not reside in Member States of the European Union, unless the parent company effectively carries out a business activity directly related to the business activity of the subsidiary or its purpose is to run and manage the subsidiary company by means of the appropriate organization of human and material means or demonstrates that it was incorporated for valid economic reasons and not in order to wrongly take advantage of the regime envisaged herein”. 7 Although not the only ones, two of the anti-abuse rules affected were those of thin capitalization (judgements: 12 December 2002, case C-324/00 Lankhorst-Hohorst and 13 March 2007, case C-525/04 Thin Cap) and CFC (judgement 12 December 2006, case C-196/04 Cadbury Schweppes). Under the Spanish Company Tax Act, although both anti-abuse clauses (thin capitalization and CFC) are maintained in force, they have not been applicable in the European Union since January 2004.

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Tax Avoidance ECJ Doctrine and Spanish Tax Law

As far as justification of this type of rules is concerned, it is provided that for a restriction on a freedom recognized in the Treaty to be justified on the grounds of combating abusive practices, the specific purpose of the restriction should be to prevent purely artificial arrangements lacking in economic reality whose purpose is to avoid tax. This is the main justification repeated in various judgements, although the Court has sometimes recognized other cases of tax planning (such as the transfer of losses to less favourable tax jurisdictions). Finally, it may be mentioned that the ECJ has likewise pronounced on the anti-abuse clauses in double taxation treaties. Specifically, the problem arises with the limitation on benefits clauses, which the Court has held to be fully valid as a logical consequence of the bilateral nature of such treaties. Furthermore, regarding the differences in the treatment applied under these clauses in the Contracting States, the Court – reiterating the precedent it set in case D8 – has held that the principle of most favoured nation is not applicable between Member States of the European Union.

II. Spanish Court decisions In Spanish law, the majority opinion expressed in administrative decisions, case law and literature considers tax avoidance to be a subspecies of abuse of law governed in section 6(4) of the Spanish Civil Code9. Nevertheless, a minority of experts disagree and consider that the concept of abuse of law is inapplicable in the field of tax law, since tax planning consisting of private acts or transactions that generate the lowest possible tax cost is a totally legitimate option for taxpayers and hence cannot be considered a fraud. In accordance with the majority opinion, the Central Economic Administrative Court (CEAC) in various of its decisions has declared that, in tax matters, the requisites which pursuant to civil jurisprudence are necessary for a conduct to be considered fraus legis are applicable, that is: an act or acts contrary to the practical purpose of the rule avoided; a cover rule not expressly intended to protect the act, and the notorious manifestation of a result contrary to the fundamental rule regulating the matter. In my opinion, tax avoidance may be said to be not different to fraus legis envisaged in this Civil Code provision. However, it is important to point out that the latter concept and consequently tax avoidance have traditionally been identified with the idea of avoiding a tax rule by juggling with two rules (the avoided rule and the cover rule). Nowadays, this concept has been extended to include conduct consisting in applying a special favourable regime or accessing tax advantages by means of mechanisms that allow the taxpayer such access.

__________ 8 Judgement issued on 5 July 2005 (case C-376/03 D). 9 Section 6(4) of the Civil Code provides: “Acts performed in accordance with a rule that pursue a result prohibited by or contrary to the law shall be considered abuse of law and shall not prevent the rule it was intended to avoid from being applied”.

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This is another aspect of the concept that, as we shall see later, has already been envisaged in recent case law. Due to its special interest, the decision of the CEAC delivered on 16 March 2006 should be mentioned. In this decision, the Court connects tax avoidance with non-fulfilment of the constitutional duty to pay tax. The CEAC held that tax avoidance “implies making use of what the Supreme Court refers to as tricks or artificial mechanisms which contravene the spirit of the rule and tend to procure a benefit for those who make use of them, thus failing to fulfil the general duty to pay tax in accordance with their ability to pay.” I do not, however, believe that the position adopted in this decision should be generalized, as opposed to what has occurred recently in Italian case law. The latter advocates the “anti-avoidance” interpretation of tax rules, based directly on the principles of equality and ability to pay enshrined in the Constitution, that is, even in the absence of anti-abuse rules10. Obviously, this jurisprudential position has been criticized by experts who reject this anti-avoidance interpretation, especially if the intention is to reclassify acts or transactions in the absence of an anti-abuse rule, since this would entail serious infringement of the legal certainty for taxpayers. It is difficult to distinguish between tax avoidance and legitimate tax planning; however, the Spanish Supreme Court has established a distinguishing criterion in some of its judgements. For example, in its judgement issued on 22 March 2005, the court held that legitimate tax planning is grounded in the principle of free will and results in tax savings that are not contrary to law; the intention of fraus legis is to avoid tax or obtain advantages “by means of an anomaly in relation to the objective pursued by the parties, and normally involves using the technique of a sham transaction”. The General Tax Act currently in force envisages three anti-abuse rules (GAAR) which refer to the techniques of reclassification (sections 13 and 16) and declaration of conflict (section 15 which, as we shall see later on, refers to fraus legis, abuse or avoidance in the strict sense). Although when applying antiabuse rules the case law frequently makes reference to the provisions of the old GTA, the jurisprudential doctrine on the matter continues to be substantially valid following the reform of the Act in 2003. The first of these rules, section 13, provides that: “Tax obligations shall be imposed in accordance with the legal nature of the event, act or transaction carried out, whatever the form or denomination given it by the parties involved and disregarding any defects that may affect its validity”. The Supreme Court in its judgements issued on 11 May 2004 and 31 March 2008 held that, under the classification rule, the “economic interpretation” has been eliminated from our law and the intention of the rule is “to examine the economic reality of the operation (classification of the events)”.

__________ 10 See: “Elusione nel Diritto Tributario” (a cura di G. Maisto) in Quaderni della Rivista di Diritto Tributario. Ed. Giuffré, Milano 2009.

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In its judgement handed down on 7 June 2005, the Supreme Court appears to consider that, compared with other anti-abuse techniques, reclassification is the simplest and most effective (which is quite true). The Court held that it is not necessary to have recourse to “simulated or dissimulated transactions, fraudulent transactions, indirect transactions and/or any other type of anomalous transactions”, since classification in accordance with the legal nature and, in this specific case, the inefficacy of the transaction apparently carried out is sufficient. The second anti-abuse rule is an innovation of the GTA 2003 and under the debatable heading of “Conflicts in application of the tax rule” envisages in section 15(1) the essential elements of tax avoidance: “A conflict in application of the tax rule shall be understood to exist when realization of the taxable event is totally or partially avoided or the tax base or tax debt is reduced by means of acts or transactions of the following nature: a) Individually or as a whole, they are notoriously artificial or inappropriate to achieve the result obtained. b) No relevant legal or economic effects other than tax savings and those that would have been obtained with the normal, appropriate transactions are obtained by using them.” One of the reasons why I mentioned before that the administrative decisions and case law produced so far may be considered substantially applicable to the regulation of this matter under the GTA currently in force is that the idea of “an artifice only justifiable for reasons of tax savings” has consistently been used in the decisions of the CEAC and court judgements. Hence, the CEAC has defined tax avoidance as the “use of means to obtain benefits involving subterfuges that are apparently legitimate” (decision issued on 20 July 2002) or as “actions which, although legitimate, have as their sole purpose a tax advantage, otherwise they would not make any sense” (decision issued on 16 March 2006). Similarly, the Supreme Court went a step further when it considered the “inexplicable” nature of the conduct as evidence in its judgement issued on 31 March 2008 in which it held that “the lack of a rational explanation is both a criterion and evidence that proves the deliberate intention to avoid the tax rule. (Likewise, the CEAC in its decision issued on 16 March 2006 held that the artificial nature of the arrangement, together with the lack of any reasonable explanation other than a tax reason, was evidence). The Spanish Constitutional Court, in its judgement 129/2005 issued on 10 May, defined tax avoidance as a “legitimate manoeuvre” consisting of “conduct whose purpose is to reduce the taxpayer’s tax burden by taking advantage of the means provided in the tax rules themselves, but in a way that is contrary to the spirit of the rules”. A question that has arisen in relation to anti-abuse rules is whether they are special rules. Although only an isolated decision, it is interesting to mention in this respect the decision of the CEAC issued on 12 March 2008, according 1037

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to which: “Since this type of clause confers on the Treasury exceptional powers to levy tax in cases in which under normal circumstances it would not be levied, they should be interpreted in the strict sense and applied only when all the conditions for their application are met”. It is the responsibility of the authorities to make a declaration of conflict via a special procedure envisaged in section 15(2) GTA, pursuant to which: “Before the authorities may declare a conflict in application of the tax rule, a favourable report must be issued by the Consulting Commission in accordance with section 159 of this Act”. Regulation of this procedure is envisaged as a special case of the inspection procedure (Articulo 194 RGAT). With regard to the effects of a declaration of conflict, section 15(3) GTA envisages that: “In assessments carried out under the provisions of this section, tax shall be levied applying the rule that would have been applicable to the normal, appropriate acts or transactions or eliminating the tax advantages obtained. Interest for late payment shall also be demanded but no penalties shall be applied”. The conclusion to be drawn from this precept is that conduct resulting in tax avoidance, if declared as such pursuant to section 15 GTA, is not sanctionable. This raises the important question of whether or not this type of conduct may be considered a tax offence. In this respect, the Constitutional Court in its judgement 120/2005 delivered on 10 May held that: “abuse of law – tax or any other type – does not in itself comply with the requisites necessary to be considered an offence and would therefore be an analogy in malam partem prohibited under section 25(1) of the Spanish Constitution”. In addition, in the same judgement the Court held that “the requirement of predictability of a tax offence sentence is not fulfilled in cases in which this sentence is based exclusively on conduct classifiable as tax avoidance”. The third general anti-abuse rule is envisaged in section 16 GTA, which provides: “1. In acts or transactions in which a sham transaction exists, the taxable event shall be the one effectively realized by the parties. 2. The existence of a sham shall be declared by the tax authorities in the corresponding assessment, and such declaration shall not produce any effects other than tax effects. 3. In the regularization procedure, interest for late payment shall be demanded together with any pertinent sanction.” Considering that these three anti-abuse rules are envisaged in the General Tax Act and especially the different legal effects of their application, in particular those relating to the imposition or not of sanctions, it is important to distinguish and correctly define the various types of conduct. The distinction between fraus legis and a sham is especially important; however, it is far from easy to distinguish between them as can be seen from Spanish case law. 1038

Tax Avoidance ECJ Doctrine and Spanish Tax Law

There are judgements (a minority) that provide a distinction such as the one issued by the Supreme Court on 30 November 2007 in which it was held that: neither reclassification nor a sham is sufficient to combat “genuine, valid acts or transactions carried out to reduce certain taxes”. Fraus legis exists if there are “artificial acts created for the sole purpose of obtaining tax advantages under rules enacted for other purposes”. A distinction was also provided by the Constitutional Court in its judgement 120/2005 of 10 May mentioned above, in which it held that: a sham “entails as its characteristic feature the existence of deceit or malicious concealment of relevant tax data”. In fraus legis “there is no such concealment since the artifice used is obvious”. The fact that the two cases are governed by different rules is proof of this distinction; furthermore, the difference between sham transactions and fraus legis “is a constant in the literature and case law”. However, the majority opinion in Spanish case law is that tax avoidance and shams are two species of the same category, that of “anomalous transaction”, and based on this point of view, tax avoidance and relative shams are considered identical in many judgements. For instance, the CEAC in its decision on 11 January 2008 held: shams are a subspecies of anomalous transactions, characterised by the contradiction between the declared and real intention giving rise to “a transaction classified as apparent”, which “may hide another transaction (relative sham) or may not conceal any transaction whatsoever (absolute sham)”. Also the CEAC in its decision on 30 April 2009 held that the artificial division of business activities between two spouses (same headquarters, bank accounts, suppliers and clients) was a sham transaction in view of the discordance between the transaction actually carried out and the one apparently carried out, “and that the apparent different ownerships was not due to the actual intention of the parties involved to set up two separate businesses”. In its decision issued on 23 June 2009, the CEAC invoked ECJ case law on the existence of evidence of abusive practices when the principal purpose of a commercial decision is to obtain a tax advantage and there are no other valid economic reasons to apply it to cases of sham. It characterises the latter – as it did in its judgement mentioned above – by the existence of two elements: an agreement between the parties involved which appears to be genuine and the aim to deceive, from which arises “an intentional divergence between the declared intention and the true intention of the parties”. An important recent example of this majority position may be found in the judgements of the Supreme Court issued on 27 May and 15 July 2008: tax avoidance and shams are “types of anomalous transactions”. An “implausible” transaction is one that offers no reasonable explanation for the economic reality of the operation; free will does not exempt from providing such an explanation and neither is it sufficient for legal formalities (in this case, intervention of a notary public and registration) to be fulfilled. Hence, it is an unreal operation and consequently an absolute sham (although only as far as the Treasury is concerned). 1039

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The doctrine of the Supreme Court reflected in these judgements is especially relevant in my opinion because it challenges the basic tax planning instrument: free will. Moreover, the Court appears to establish a distinction between “legal reality” and “economic reality”, so that if the latter does not exist (because the economic substance of the operation has not been explained or is not plausible), the former is irrelevant since the lack of “economic reality” converts the transaction (“legally genuine”) into a sham transaction. Would it be possible to say that in accordance with this doctrine the “economic interpretation” once again prevails? In addition, I believe that this doctrine questions, although indirectly, the General Tax Act itself in that if tax avoidance and shams are considered equivalent what is the point of maintaining different rules? While the current regulation is in force, this doctrine supports the indiscriminate use of antiabuse rules and, consequently, the position of the tax authorities. The effect, limited only to the validity of the transaction from the point of view of the Treasury, corresponds to a “non-opposability” technique maintaining the validity of the transaction (a similar solution to that adopted in recent Italian case law). With regard to shams, it should be borne in mind that section 16 of the GTA refers to the “existence of a sham”, implying that this must be proved, which is not always easy to do. On the other hand, it is clear that the burden of proof in these cases lies with the tax administration, which due to the difficulty involved tends in these cases to use indirect evidence. In general, this has been considered admissible by the courts. For instance, the CEAC in its decision issued on 11 November 2008, held indirect evidence admissible, based on “presumptions that support the existence of a sham transaction”. The Supreme Court in its judgements issued on 20 September 2005 and 25 June 2008 held that proof must be provided of the elements making up the concept (shamming): a statement deliberately contradictory to the true intention and the aim to conceal from third parties (in this case, the tax authorities, who bear the burden of proof). Section 16 of the GTA provides that shamming may entail the application of sanctions. Furthermore, this means that this type of conduct may also constitute a tax offence. The Constitutional Court so held in its judgement 48/2006 issued on 13 February in which it stated that: based on the element of concealment or deceit, characteristic of a sham, in cases in which there is sufficient evidence of sham transactions, the sentence for tax crimes does not infringe criminal legality. Likewise, in its judgement 128/2008 issued on 27 October, the Constitutional Court held that: without a genuine purpose and with no purpose other than that of avoiding tax there is a certain component of deceit – shamming as criminal fraud – since to defraud “may involve making use of legal rules for other than their proper purpose and with the aim of avoiding payment of tax”. 1040

Tax Avoidance ECJ Doctrine and Spanish Tax Law

This second judgement is in my opinion especially significant since it suggests a certain change in the doctrine of the Constitutional Court ¿Is this a revision of the distinction set out in judgement 120/2005? How is it possible to reconcile legal certainty and the statutory definition as a crime with “a certain component of deceit” and “may involve”? What is the difference between a sham and “an artificial or inappropriate transaction for no other relevant purpose than that of tax savings”? Finally, I would like to mention application of the doctrine of “piercing the veil” to which the tax authorities have sometimes had recourse in relation to cases of tax avoidance known as “avoidance of taxation using companies”. The problem in such cases is whether or not the authorities may directly pierce the veil based on the artificiality of the conduit company. The National Court in its judgement issued on 20 March 2006 (invoking the case law of the Supreme Court) related piercing the veil to the existence of “unusual, disproportionate legal forms”. Therefore, it may be understood that artificial or inappropriate conduct characteristic of tax avoidance may be extended to the creation of companies or capital operations related to companies. Furthermore, piercing the veil may be a means of discovering evidence of tax avoidance.

III. Conclusion A comparison of European and Spanish case law concerning the concept of tax avoidance and the application of anti-abuse rules in the field of tax law leads in my opinion to the following reflections: First and foremost, the differences between European and national (in this case Spanish) case law in this area should be borne in mind. They are different due to their level of development and consolidation but also due to the powers and scope of judgement. The point they have in common is undoubtedly the principle of prohibition of abuse of Community law, which should be applied by national courts in intracommunity situations (even bearing in mind the distinction between harmonized and non-harmonized taxes). In addition, an approximation of the concepts and principles concerning abuse of law (or tax avoidance) would be advisable: Is there a general principle of prohibition of tax avoidance? If so, what is its origin – Community law or domestic law? Is it an autonomous principle or is it derived from other principles? Is it directly applicable or must there be an anti-abuse rule? (legal certainty and tax justice debate). Regarding abuse of law and interpretation, is it possible to maintain an “anti-avoidance interpretation” based on this principle? An approximation of anti-abuse rules would also be advisable. In this respect, some common criteria should be established, at least as regards the following; the conduct (absence/irrelevance of a valid economic reason other than a tax advantage or savings); effects (sanctionable/not sanctionable), and the relation between general anti-abuse rules and special rules.

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No lesser problem is that of deciding which means are to be used to establish a common framework. Harmonization at the legislative level seems unlikely. Harmonization of legislations for the good of the common market could be used as the legal basis (although this is also debatable), whereas in the last instance recourse may be had to reinforced cooperation. As an alternative to the legislative route, soft law mechanisms may be used such as recommendations, Code of Conduct, or actions through the Council of Ministers. With regard to possible actions in the jurisdictional field, the following should be considered: direct application of Community law by national courts, referral for a preliminary ruling of the ECJ and greater use of comparative case law by national courts.

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Rita de la Feria / Clemens Fuest

Führt die EuGH-Rechtsprechung zu einem Abbau steuerlicher Verzerrungen im Europäischen Binnenmarkt? Inhaltsübersicht I. Problemstellung II. EuGH-Rechtsprechung und „Wettbewerbsverzerrungen“ im Europäischen Binnenmarkt III. Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalzinsen und das Lankhorst-Hohorst-Urteil: eine Fallstudie

IV. Eine ökonomische Analyse der Auswirkungen des Lankhorst-Hohorst Urteils auf steuerliche Verzerrungen im Europäischen Binnenmarkt V. Numerische Version des ökonomischen Modells VI. Reaktionen der Mitgliedstaaten auf das Lankhorst-Hohorst-Urteil VII. Schlussfolgerungen

I. Problemstellung Seit ihrer Gründung mit den Verträgen von Rom im Jahr 1957 verfolgt die Europäische Gemeinschaft das Ziel, einen gemeinsamen Markt zu errichten. Dazu gehören die Abschaffung von Handelsbeschränkungen wie Zöllen und Kontingenten und die Beseitigung von Hindernissen für grenzüberschreitende Faktorbewegungen, vor allem grenzüberschreitende Kapitalströme und Wanderungen von Arbeitskräften. Mit der Schaffung des gemeinsamen Marktes wird das Ziel verfolgt, Verzerrungen der Ressourcenallokation abzubauen, um den Wohlstand in Europa zu steigern. Schon in den ersten Jahren nach der Gründung der Gemeinschaft hat der Europäische Gerichtshof1 begonnen, gegen nationale Regelungen vorzugehen, die den gemeinsamen Markt behindern. Im Bereich der direkten Steuern hat es allerdings deutlich länger gedauert, bis die Rechtsprechung des Gerichtshofes begonnen hat, entscheidenden Einfluss zu nehmen. Als Beginn dieses Prozesses gilt das im Jahr 1986 ergangene Urteil im Fall Avoir Fiscal2.

__________

1 Seit dem Vertrag von Lissabon lautet die Bezeichnung des Gerichts „Gerichtshof der Europäischen Union“, vgl. Art. 19 des Vertrages über die Europäische Union. In diesem Beitrag wird der bisher geltende Begriff „Europäischer Gerichtshof“ verwendet. 2 Fall 270/83, [1986] S. 273. Vanistendael hat die Bedeutung dieses Falles so charakterisiert: „… by submitting his opinion in the case Commission v France on October 15th 1985, advocate-general Mancini very probably did not imagine what kind of revolution he had unleashed in the tax systems of the Member States“ in „Introduction“ in F. Vanistendael (ed.), EU Freedoms and Taxation (Amsterdam: IBFD, 2006), xxv-xxvi. Zur EuGH-Rechtsprechung bei den direkten Steuern s. auch J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, Steuer und Wirtschaft 3/2004, S. 193–211; T. Rödder, Deutsche Unternehmensbesteuerung im Visier des EuGH, DStR 2004, Heft 39, S. 1629–1634 oder W. Schön, Besteuerung im Binnenmarkt – die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, IStR 2004, Heft 9, S. 289–300.

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Seitdem ist eine Reihe von Urteilen ergangen, in denen verschiedene Elemente der nationalen Steuersysteme für europarechtswidrig erklärt wurden. Diese Rechtsprechung hat einen tief greifenden Einfluss auf die nationale Steuerpolitik in Europa genommen. Gerade im Bereich der Unternehmensbesteuerung sind die Steuerreformen der letzten Jahre stark von dem Bemühen der Mitgliedstaaten geprägt, Ziele der nationalen Steuerpolitik, insbesondere fiskalische Ziele, zu erreichen, ohne gegen Vorgaben des Europäischen Rechts zu verstoßen. In der Debatte über diese Entwicklung ist vor allem seitens der Mitgliedstaaten immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes das Ziel der Errichtung eines gemeinsamen Marktes zu viel Gewicht erhält, während das berechtigte Interesse der Mitgliedstaaten, ihre Finanzierungsgrundlagen zu bewahren, stärker in den Hintergrund gedrängt wird, als es auf der Basis der Europäischen Verträge zu rechtfertigen ist3. Dabei wird in der Regel vorausgesetzt, dass die Rechtsprechung den Zielen des gemeinsamen Marktes tatsächlich dient. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes keineswegs in allen Fällen dazu führt, dass Wettbewerbsverzerrungen im Europäischen Binnenmarkt abnehmen. Ganz im Gegenteil kann es dazu kommen, dass Verzerrungen der Ressourcenallokation zunehmen. Das wird anhand des Lankhorst-HohorstUrteils erläutert. Die Überlegungen dieses Beitrags sprechen dafür, dass die EuGH-Rechtsprechung eines ihrer grundlegenden Ziele – den Abbau steuerlich bedingter Verzerrungen der Ressourcenallokation im Europäischen Binnenmarkt – verfehlen könnte.

II. EuGH-Rechtsprechung und „Wettbewerbsverzerrungen“ im Europäischen Binnenmarkt Im EG-Vertrag wird der Binnenmarkt in Art. 14 Abs. 2 definiert als ein „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist“. Diese Formulierung hat sich seit der Einführung des Binnenmarktkonzepts mit der Einheitlichen Europäischen Akte nicht geändert und wird auch nach dem Vertrag von Lissabon Bestand haben4. Ihre Auslegung ist jedoch alles andere als klar, wie auch die Kommission implizit eingeräumt hat5. Die Definition hat zwei Elemente. Erstens „Raum ohne Binnengrenzen“ und

__________ 3 Siehe hierzu etwa W. Mitschke, Nichtanwendung der Rechtsprechung des EuGH im Bereich der direkten Steuern?, NWB Nr. 25 vom 26.6.2008. 4 Die Formulierung findet sich nun im Art. 28 (2) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. 5 Siehe A. A. M. Schrauwen, Marche Interieur – Recherches sur une notion, Doctorate Thesis, University of Amsterdam, 1997, 138. G. de Búrca kommentiert, „internal market“ sei ein Beispiel für „terms which are highly significant within the EU legal and political context, but which remain nonetheless or even deliberately uncertain in scope and meaning“, in „Reappraising Subsidiarity’s Significance after Amsterdam“, Harvard Jean Monnet Working Paper Series, WP 7/99, 9.

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Abbau steuerlicher Verzerrungen durch die EuGH-Rechtsprechung?

zweitens „in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist“6. In der Debatte über die Auslegung dieser beiden Elemente ist u. a. vorgebracht worden, die Existenz des ersten Elements weise darauf hin, dass der Binnenmarkt mehr beinhalte als die vier Freiheiten7. Der EuGH hat im Fall Titanium-Dioxid weitere Hinweise gegeben, indem er argumentiert: „zur Verwirklichung der in [Art. 14] genannten Grundfreiheiten müssen wegen der zwischen den Rechtsordnungen bestehenden Unterschiede Harmonisierungsmaßnahmen in den Bereichen getroffen werden, in denen die Gefahr besteht, dass diese Unterschiede verfälschte Wettbewerbsbedingungen schaffen oder aufrechterhalten.“8

Diese breite Interpretation hat einige Kritik ausgelöst und wurde vom Gerichtshof in späteren Urteilen präzisiert und auf Fälle „konkreter“ und „beträchtlicher“ Wettbewerbsverzerrungen beschränkt9. Gleichwohl nimmt die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen im Rahmen der Zielsetzung, einen Binnenmarkt zu errichten, einen zentralen Platz ein10. Das Ziel der Errichtung eines Binnenmarktes ist auch die Leitlinie der EuGH-Rechtsprechung im Bereich der Unternehmensbesteuerung. Im Folgenden soll anhand des Falles in Lankhorst-Hohorst diskutiert werden, ob und inwiefern die Rechtsprechung dieses Ziel erreicht.

III. Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalzinsen und das Lankhorst-Hohorst-Urteil: eine Fallstudie Die Entwicklung von Regelungen zur Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalzinsen von der Bemessungsgrundlage bietet ein interessantes Beispiel für den Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die Wettbewerbsneutralität der Besteuerung in Europa. Die Niederlande, die bis zum Jahr 2003 keine derartigen Regeln anwendeten, haben im Jahr 2003 offenbar in Reaktion auf das Urteil im Fall Bosal Holding11 eine Beschränkung des Zinsabzugs eingeführt. Den größten Einfluss hatte jedoch das Urteil im Fall Lankhorst-Hohorst12. Bis zum Jahr 2002 wendeten die meisten Mitgliedstaaten Zinsabzugsbeschränkungen nur auf grenzüberschreitende Zinszahlungen von inländischen

__________ 6 Manche sehen die Formulierung: „gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags“, als weiteres, allerdings weniger bedeutendes eigenständiges Element A. A. M. Schrauwen, id., 144–145. 7 Siehe C. D. Ehlermann, „The Internal Market following the Single European Act“ (1987) Common Market Law Review 24, 361–409 (366). Für eine umfassende Analyse des Begriffs des Binnenmarktes s. auch R. de la Feria, The EU VAT System and the Internal Market (Amsterdam: IBFD, 2009), Kapitel 1. 8 Fall C-300/89, Commission v Council, [1991] S. I-2867, Abs. 15. 9 So im Fall Tobacco Advertising, C-376/98, [2000] S. I-8419. 10 Vgl. J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 2 Rz. 56 ff. 11 C-168/01, Bosal Holding BV v Staatssecretaris van Financiën, [2003] S. I-9409. Siehe M. de Wit/V. Tilanus, „Dutch Thin Capitalisation Rules ‚EU Proof‘?“ (2004) Intertax 32(4), 187–192; A. C. P Bobeldijk/A. W. Hofman, „Dutch Thin Capitalisation Rules from 2004 Onwards“ (2004) Intertax 32(5), 254–261. 12 Fall C-324/00, [2002] S. I-11779.

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Unternehmen an im Ausland ansässige Unternehmen an. Die EuGH-Entscheidung im Fall Lankhorst-Hohorst im gleichen Jahr veränderte die Situation grundlegend. Der Gerichtshof war zu dem Ergebnis gekommen, dass die deutsche Regelung, da sie nur auf im Ausland ansässige Kreditgeber anwendbar war, gegen die Niederlassungsfreiheit verstieß. Sie diskriminierte in der Tat grenzüberschreitende gegenüber rein nationalen Finanzierungen. Angesichts dieses Urteils mussten viele Mitgliedstaaten anerkennen, dass ihre Regelungen zur Beschränkung des Zinsabzugs ebenfalls nicht ‚europatauglich‘ waren und reformiert werden mussten13. Um die nationalen Regelungen mit europäischem Recht in Einklang zu bringen, boten sich grundsätzlich zwei Ansätze. Zum einen war es möglich, die Anwendungen der Regelungen auf inländische Unternehmen auszudehnen. Zum anderen konnten in der EU ansässige Unternehmen von der Anwendung ausgenommen werden. Beide Arten der Anpassung sind mit den Vorgaben des europäischen Rechts und der EuGH-Rechtsprechung vereinbar. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, haben diese Anpassungen je nachdem, welche Mitgliedstaaten sie ergreifen und ob die Mitgliedstaaten einheitlich oder unterschiedlich reagieren, sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Ausmaß, in dem die Unternehmensbesteuerung im Euroäischen Binnenmarkt zu Wettbewerbsverzerrungen führt.

IV. Eine ökonomische Analyse der Auswirkungen des LankhorstHohorst Urteils auf steuerliche Verzerrungen im Europäischen Binnenmarkt In diesem Abschnitt entwickeln wir ein ökonomisches Modell, um den Einfluss des Lankhorst-Hohorst-Urteils auf steuerliche Verzerrungen im Europäischen Binnenmarkt zu analysieren. Dabei wird eine Modellwelt betrachtet, die extrem vereinfacht und es erlaubt, einige aus unserer Sicht grundlegende Zusammenhänge zwischen EuGH-Rechtsprechung, nationaler Steuerpolitik und steuerlichen Verzerrungen in einem Binnenmarkt darzustellen. Man betrachte eine Welt, die aus drei Ländern, die mit A, B und C bezeichnet seien, und dem ‚Rest der Welt‘ besteht. Alle Länder sind Mitglied einer Wirtschaftsunion (der EU). Die EU ist in den globalen Kapitalmarkt integriert und sieht sich einem vollständig elastischen Kapitalangebot gegenüber. In der Union existieren drei Unternehmensgruppen oder ‚Konzerne‘, zwei davon sind nur national tätig und ein Konzern auch grenzüberschreitend. Konzern 1 ist ein nationaler Konzern und besteht aus einer Muttergesellschaft (P1) und einer Tochtergesellschaft (S1), die ihren Sitz beide in Land A haben. Konzern 2, in Land B angesiedelt, ist auch ein nationaler Konzern und besteht aus einer Muttergesellschaft (P2) und einer Tochtergesellschaft (S2), beide ansässig in

__________ 13 Siehe hierzu N. Vinther/E. Werlauff, „The need for fresh thinking about tax rules on thin capitalisation: the consequences of the judgment of the ECJ in LankhorstHohorst“ (2003) EC Tax Review 2, 97–106.

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Abbau steuerlicher Verzerrungen durch die EuGH-Rechtsprechung?

Land B. Konzern 3 ist der multinationale Konzern. Bei ihm ist die Muttergesellschaft (P3) in Land C ansässig. Sie hat zwei Tochtergesellschaften. Eine davon ist in Land A ansässig (S3A) und eine in Land B (S3B). In diesen Konzernen tätigen nur die Tochtergesellschaften Realinvestitionen. Die Muttergesellschaften haben die Funktion, die Aktivitäten der Tochtergesellschaften zu finanzieren. Die Finanzierung erfolgt, indem die Muttergesellschaften im internationalen Kapitalmarkt Eigenkapital aufnehmen und dieses Kapital in Form von Krediten an ihre Tochtergesellschaften weiterleiten. Die Tochtergesellschaften zahlen für diese Kredite Zinsen an die Muttergesellschaften. Diese Zahlungen erfolgen bei den Konzernen 1 und 2 jeweils innerhalb nationaler Grenzen. Im Konzern 3 entstehen jedoch grenzüberschreitende Zinszahlungen, zum einen von Land A an Land C und zum anderen von Land B an Land C. Alle Unternehmen produzieren ein Gut, dessen Preis der Einfachheit halber auf eins normiert ist und das auf Märkten mit vollkommenem Wettbewerb verkauft wird. Die Produktion der Tochtergesellschaft j (j=S1, S2, S3A, S3B) sei durch die Produktionsfunktion Qj(Kj) gegeben, mit Q'j(Kj) > 0, Q"j(Kj) < 0. Die Variable Kj ist das Realkapital der Tochtergesellschaft j. Mit dieser Produktionsfunktion wird angenommen, dass die Grenzproduktivität des Kapitals positiv ist, aber mit zunehmendem Kapitaleinsatz abnimmt. Der Einfachheit halber abstrahieren wir von anderen Produktionsfaktoren wie beispielsweise Arbeit. Sie in das Modell einzufügen, würde die Notation verkomplizieren, die Resultate aber nicht verändern. Unter diesen Annahmen kann der Gewinn, den die Tochtergesellschaft j für den Konzern generiert, bezeichnet mit der Variablen PjR wie folgt dargestellt werden: P jR = Q j (K j ) – iK j – T jSR + i j K j – r j K j – T jPR

(1)

Auf der rechten Seite der Gleichung (1) steht Qj(Kj) für den Umsatz der Tochtergesellschaft, ijKj ist die Zinszahlung der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft, TjSR ist die Gewinnsteuer, die von der Tochtergesellschaft in Land j gezahlt wird, rjKj ist der Ertrag, den die Muttergesellschaft ausschütten muss, um in der Lage zu sein, Kapital im internationalen Kapitalmarkt aufzunehmen, und TjPR ist die Gewinnsteuer, welche die Muttergesellschaft in ihrem Sitzland im Zusammenhang mit Aktivitäten der Tochtergesellschaft j zahlt. Dabei geht es vor allem um Steuern auf die von der Tochtergesellschaft erhaltenen Zinszahlungen. Die Steuerzahlungen der Tochtergesellschaften sind: T jSR = t js (Q j (K j ) – s j i j K j ) Dabei ist tjs der Gewinnsteuersatz des Sitzlandes der Tochtergesellschaft j, und sj ist der Anteil der steuerlich abzugsfähigen Zinszahlungen. Die Steuerzahlung der Muttergesellschaft mit Bezug zu Tochtergesellschaft j, tjPR, ist gegeben durch 1047

Rita de la Feria / Clemens Fuest

T jPR = t jP i j K j Die Variable tjP ist der Gewinnsteuersatz des Sitzlandes. Da unsere Analyse sich auf steuerlich bedingte Unterschiede in den Rahmenbedingungen, unter denen die verschiedenen Unternehmen operieren, konzentriert, nehmen wir an, dass die Unternehmen in einer hypothetischen Situation ohne Steuern gleiche Kapitalkosten hätten. Das impliziert, dass sie internationalen Investoren die gleiche Rendite (r) bieten müssen und auch die Zinsen für Kredite an die Tochtergesellschaften (i) gleich sind. Damit kann Gleichung (1) ausgedrückt werden als P jR = Q j (K j ) – iK j – t jS (Q j (K j ) – s j iK j ) + iK j – rK j – t jP iK j

(2)

Die Unternehmen wählen die Investitionen so, dass der Gewinn nach Steuern maximiert wird. Das bedeutet, dass jedes Unternehmen seinen Kapitalstock K so weit ausdehnt, bis der Zuwachs an Umsatz, der durch die Ausdehnung des Kapitaleinsatzes um eine weitere Einheit erreicht werden kann, genau den Kosten für diese zusätzliche Einheit Kapital entspricht. Die gewinnmaximierende Investition in unserem Modell wird hergeleitet, indem die rechte Seite der Gleichung (2) über K maximiert wird. Das Resultat lässt sich wie folgt darstellen: Q' j (K j ) = C jR Dabei gilt: C jR =

1 (1 – t jS )

(r + i (tjP – t jS s j ) )

(3)

Die Variable CjR steht für die Kosten pro Einheit Kapital der Tochtergesellschaft j, bei einem gegebenen Steuerregime R. Im Folgenden wird noch näher erläutert, was unter dem Begriff Steuerregime zu verstehen ist. CjR ist genau der Ertrag vor Steuern, den das Unternehmen erwirtschaften muss, um den Kapitalgebern nach Zahlung aller Steuern einen Ertrag r zukommen lassen zu können. Gleichung (3) zeigt, dass die Kapitalkosten erstens von nichtsteuerlichen Faktoren wie etwa der im internationalen Kapitalmarkt geforderten Rendite r abhängen, zweitens von Steuern im Sitzland der betreffenden Tochtergesellschaft und drittens von Steuern im Sitzland der Muttergesellschaft des jeweiligen Konzerns. Die Steuern, die ein Konzern insgesamt für die Aktivitäten einer Tochtergesellschaft abführen muss, hängen in unserem Modell also vom Standort der Tochtergesellschaft und dem Standort der Muttergesellschaft ab. Wenn zwei Tochtergesellschaften in unterschiedlichen Ländern ansässig sind oder wenn sie unterschiedliche Muttergesellschaften haben, können sich ihre Kapitalkosten unterscheiden. Wenn das der Fall ist, dann kommt es zu einer steuer1048

Abbau steuerlicher Verzerrungen durch die EuGH-Rechtsprechung?

lich bedingten Verzerrung der Investitionen im ‚Gemeinsamen Markt‘ der betrachteten Staatenunion. Tochtergesellschaften mit steuerlich bedingt vergleichsweise hohen Kapitalkosten reduzieren ihre Investitionen im Vergleich zu Gesellschaften mit niedrigeren Kosten. Je größer die Unterschiede in den Kapitalkosten zwischen den verschiedenen Tochtergesellschaften, desto größer sind die steuerlichen Verzerrungen. Unterschiede in den Kapitalkosten können in unserem Modell durch Unterschiede in den Steuerparametern tjS · sj und tjP entstehen. Gleichung (3) zeigt, dass die Kapitalkosten um so höher sind, je höher der Steuersatz im Sitzland die Muttergesellschaft, tjP, und je kleiner der Anteil der Zinsen, die abzugsfähig sind (sj). Der Einfluss des Steuersatzes im Sitzland der Tochtergesellschaft, tjP, ist etwas komplizierter. Im Normalfall wird es so sein, dass eine Erhöhung dieses Steuersatzes ebenfalls die Kapitalkosten steigert. Der gegenteilige Effekt, also eine Senkung der Kapitalkosten durch einen steigenden Steuersatz, kann sich nur bei recht speziellen Konstellationen ergeben, beispielsweise dann, wenn der Verrechnungszins für konzerninterne Kredite, i, höher ist als die Rendite im internationalen Kapitalmarkt, r, der Anteil der abzugsfähigen Zinsen, sj , groß ist und der Steuersatz im Sitzland der Muttergesellschaft, tjP, gering. In diesem Fall steigert ein Anstieg des Steuersatzes tjS den Wert des Zinsabzugs unter Umständen so sehr, dass die Kapitalkosten insgesamt sinken. Die folgende Analyse wird sich aber auf Situationen konzentrieren, in denen derartige Anomalien ausgeschlossen sind. Im Weiteren werden wir fünf verschiedene Situationen, die wir als ‚Steuerregime‘ bezeichnen, untersuchen und vergleichen. Die verschiedenen Regime beschreiben unterschiedliche Situationen vor und nach einem EuGH-Urteil zur Abzugsfähigkeit von Zinsaufwand. Ein Steuerregime definieren wir als Kombination von Steuerparametern (tjS · sj, tj P), j = S1, S2, S3A, S3B. Die Steuersätze sind in allen Steuerregimen gleich, während die Abzugsfähigkeit der Fremdkapitalzinsen unterschiedlich ist. Deshalb kann jedes Regime allein durch die jeweils geltende Kombination von Regelungen zum Zinsabzug charakterisiert werden, also durch die vier Parameter: S1, S2, S3A, S3B. Im ersten Schritt betrachten wir ein Regime, das vereinfacht die Situation vor dem EuGH-Urteil abbilden soll. Dieses Regime bezeichnen wir im Folgenden als Regime 1 oder Benchmark-Regime. Wir nehmen an, dass in diesem Regime sowohl Land A als auch Land B die Abzugsfähigkeit von grenzüberschreitenden (konzerninternen) Zinszahlungen beschränken, während Zinszahlungen zwischen inländischen Firmen voll abzugsfähig sind. In der Notation unseres Modells bedeutet dies: S1 = S2 = 1,S3A < 1,S3B < 1 Diese Kombination von Regelungen ist insofern inkompatibel mit europäischem Recht als grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivität hier gegenüber ein nationaler Aktivität diskriminiert wird. In dieser Situation ist die Kapitalallokation in der betrachteten Staatenunion steuerlich verzerrt. Der multinationale Konzern hat höhere Kapitalkosten als die nationalen Konzerne. Im Folgenden werden wir den Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die steuerlichen Verzerrungen im Binnenmarkt daran messen, wie die steuerlichen Ver1049

Rita de la Feria / Clemens Fuest

zerrungen sich in verschiedenen Szenarien im Vergleich zum BenchmarkRegime verändern14. Es sei also angenommen, dass die Regelungen des Benchmark-Regimes als rechtswidrig verworfen werden. Die Mitgliedstaten A und B haben im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, ihre Steuersysteme anzupassen. Die erste Möglichkeit besteht darin, sowohl bei nationalen als auch bei grenzüberschreitenden Zinszahlungen volle Abzugsfähigkeit zu gewähren. Alternativ können sie die Beschränkung der Abzugsfähigkeit auch auf nicht grenzüberschreitende Zinszahlungen ausdehnen. Da die beiden Länder A und B in unserem Modell gleich oder unterschiedlich reagieren können, ergeben sich vier mögliche Szenarien. Die ersten beiden Szenarien sind symmetrisch. Beide Länder schaffen Beschränkungen des Zinsabzugs vollständig ab oder beide dehnen die Beschränkungen auf rein nationale Vorgänge aus. Diese beiden Szenarien werden im Folgenden als Steuerregime 2 und 3 bezeichnet. Die Steuerregime 4 und 5 beinhalten jeweils asymmetrische Reaktionen. Die fünf Steuerregimes sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Tabelle 1: Steuerregime und Regelungen zum Zinsabzug LAND A

LAND B

Nationale Zinszahlungen

Grenzüberschreitende Zinszahlungen

Nationale Zinszahlungen

Grenzüberschreitende Zinszahlungen

REGIME 1 (Benchmark)

s1 = 1

s3A < 1

s2 = 1

s3B < 1

REGIME 2 (symmetrisch)

s1 = 1

s3A = 1

s2 = 1

s3B = 1

REGIME 3 (symmetrisch)

s1 < 1

s3A = s1 < 1

s2 < 1

s3B = s2 < 1

REGIME 4 (asymmetrisch)

s1 = 1

s3A = 1

s2 < 1

s3B = s2 < 1

REGIME 5 (asymmetrisch)

s1 < 1

s3A = s1 < 1

s2 = 1

s3B = 1

Was sind die Implikationen der verschiedenen Steuerregime für steuerliche Verzerrungen und die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt in der betrachteten Union? Um die verschiedenen Szenarien vergleichen zu können, verwenden wir im Folgenden eine leicht erweiterte, numerische Version unseres Modells.

__________

14 Hier könnte man einwenden, dass staatliche Entscheidungen auch in anderen Bereichen die Kapitalallokation beeinflussen, beispielsweise durch die Bereitstellung öffentlicher Leistungen, und insofern gleich steuerliche Bedingungen weder notwendig noch hinreichend dafür seien, dass es zu gleichen Wettbewerbsbedingungen kommt. Eine Diskussion dieser Position würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, s. hierzu etwa C. Fuest (1995), Eine Fiskalverfassung für die Europäische Union, Köln.

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Abbau steuerlicher Verzerrungen durch die EuGH-Rechtsprechung?

Das numerische Modell erlaubt es, die Kosten steuerlicher Verzerrungen und das erreichte Wohlstandsniveau unter den verschiedenen Steuerregimen zu berechnen und zu vergleichen.

V. Numerische Version des ökonomischen Modells Um die Implikationen der im vorangehenden Abschnitt beschriebenen Steuerregime für die Kosten steuerlicher Verzerrungen und die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt ableiten zu können, ist es notwendig, das bislang eingeführte ökonomische Modell wie folgt zu erweitern: Um Aussagen über Wohlfahrtswirkungen machen zu können, benötigen wir eine Wohlfahrtsfunktion, also ein oder mehrere Wohlstandsmaße oder -indikatoren. Im Folgenden betrachten wir zwei Indikatoren. Der erste Indikator ist das Bruttoinlandsprodukt der Union. In unserem Modell entspricht das dem Wert der von den Unternehmen produzierten Güter abzgl. der Kapitalerträge, die von den Muttergesellschaften der drei Konzerne an die Kapitalgeber abgeführt werden. Dieser Indikator berücksichtigt nicht, wie sich das Bruttoinlandsprodukt auf Steuereinnahmen und privat verfügbare Einkünfte verteilt. Als zweiten Indikator betrachten wir eine Wohlfahrtsfunktion, in der privates Einkommen und Steuereinnahmen unterschiedlich gewichtet werden. Privatem Einkommen messen wir ein Wohlfahrtsgewicht von eins zu, Steuereinnahmen werden mit einem Parameter ç gewichtet, der größer als eins ist. Dieser Ansatz berücksichtigt, dass zusätzliche Einnahmen aus der Besteuerung von Unternehmensgewinnen es – bei insgesamt gegebenen öffentlichen Ausgaben – ermöglichen, andere Steuern zu senken. Eine Senkung der anderweitig erhobenen Steuern um einen Euro wird dabei eine Wohlfahrtssteigerung um mehr als einen Euro herbeiführen, weil die Steuererhebung mit zusätzlichen Kosten, beispielsweise Verzerrungen der Ressourcenallokation, verbunden ist. Statt diesen Zusammenhang ausführlich zu modellieren, lassen wir ihn in unser Modell eingehen, indem wir Steuereinnahmen mit dem Parameter ç gewichten, der die ‚marginalen Kosten öffentlicher Einnahmen‘ repräsentiert und größer als eins ist. Außerdem nehmen wir an, dass die Produktionsfunktionen aller Unternehmen in unserem Modell die folgende quadratische Form haben: Qj (Kj ) – αj Kj – βj Kj 2. Die zugrunde gelegten Parameterwerte sind in Tabelle 2 zusammengefasst: Tabelle 2: Parameterwerte Basismodell

Numerisches Modell

αj βj

0.4

r

0.1

0.04

i

0.1

tA

0.4

tB

0.2

tC

0.3

η

1.1

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Rita de la Feria / Clemens Fuest

Das numerische Modell erlaubt es, für jedes Steuerregime die Kapitalkosten der einzelnen Tochtergesellschaften, die Investitionsniveaus, das Steueraufkommen, das Bruttoinlandsprodukt und die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt zu berechnen. Wenn alle Tochtergesellschaften sich gleichen Kapitalkosten gegenüber sehen würden, wäre die Kapitalallokation im Binnenmarkt der betrachteten Union nicht verzerrt15. Da wir jedoch annehmen, dass die Steuersätze sich in den Mitgliedstaaten unterscheiden, bestehen Verzerrungen der Kapitalallokation sowohl im Benchmark-Regime als auch in allen anderen Steuerregimes. Es geht um die Frage, ob das Eingreifen der EuGH-Rechtsprechung in unserem Modell die steuerlichen Verzerrungen verstärkt oder abbaut. Da es in unserem Modell vier Tochtergesellschaften mit jeweils unterschiedlichen Kapitalkosten gibt, ist erläuterungsbedürftig, was genau unter einem Abbau oder einer Verstärkung steuerlicher Verzerrungen zu verstehen sein soll. Wir betrachten in einem ersten Schritt die Varianz der Kapitalkosten vor und nach dem Urteil als Kriterium. Im Fall eines ‚Level Playing Field‘, also gleicher Wettbewerbsbedingungen, wäre die Varianz gleich Null. Je größer die Varianz, desto ungleicher die steuerlichen Bedingungen. Abbildung 1 gibt zunächst einen Überblick über die Kapitalkosten der verschiedenen Tochtergesellschaften in jedem der fünf Steuerregime. Abbildung 1:

Man betrachte zunächst die Veränderung vom Benchmark-Regime (Regime 1) zu Steuerregime 2, in dem Länder A and B die Beschränkungen der Abzugsfähigkeit grenzüberschreitender Zinszahlungen beide abschaffen. Für die nationalen Konzerne (S1 und S2) ändern sich die Kapitalkosten nicht. Für den multinationalen Konzern mit den Tochtergesellschaften SA3 und SB3 sinken

__________

15 Neben der steuerlichen Verzerrungen im Binnenmarkt spielt für die Indikatoren Bruttoinlandsprodukt und Wohlfahrt auch die Verzerrung der Investititonen im Binnenmarkt gegenüber dem Rest der Welt eine Rolle.

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Abbau steuerlicher Verzerrungen durch die EuGH-Rechtsprechung?

die Kapitalkosten. Die Tochtergesellschaft SA3 hat im Benchmark-Regime die höchsten Kapitalkosten, weil Land A den höchsten Steuersatz hat und deshalb die Beschränkung des Zinsabzugs besonders spürbar ist. SA3 profitiert darum auch am meisten von der Abschaffung der Zinsabzugsbeschränkung. Insgesamt gehen die Unterschiede in den Kapitalkosten erkennbar zurück. Abbildung 2 zeigt, dass die Varianz der Kapitalkosten in diesem Szenario deutlich sinkt. Abbildung 2:

Die Bewegung von Steuerregime 1 zu Steuerregime 2 kann man als eine unmittelbare Wirkung des EuGH-Urteils betrachten – die vor Gericht angegriffenen Regelungen werden in allen Mitgliedstaaten abgeschafft. Das hat den unter dem Aspekt des Binnenmarktziels beabsichtigten Effekt: einen Abbau steuerlicher Verzerrungen. Abbildung 3 illustriert die Auswirkungen auf die beiden Wohlstandsindikatoren, das Bruttoinlandsprodukt und die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt. Es zeigt sich, dass die Veränderung vom BenchmarkRegime zu Regime 2 eine eindeutige Verbesserung mit sich bringt – Bruttoinlandsprodukt und gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt steigen. Wie in den vorangehenden Abschnitten erläutert wurde, ist es allerdings keineswegs klar, dass die Mitgliedstaaten auf das Urteil reagieren, indem sie den Zinsabzug bei grenzüberschreitenden Zahlungen vollständig zulassen. Es ist auch denkbar, dass eines der anderen Steuerregime relevant wird. Eine Bewegung zu Regime 3 würde bedeuten, dass beide Länder zwar ebenfalls symmetrisch reagieren, aber mit einer Ausdehnung der Zinsabzugsbeschränkung auf inländische Zinszahlungen. Abbildung 2 zeigt, dass die Varianz der Kapitalkosten in diesem Fall zunimmt, trotz symmetrischer Reaktion der Mitgliedstaaten auf das Urteil. Das liegt daran, dass die Verzerrungen, die durch die bestehenden Steuersatzunterschiede verursacht werden, zunehmen, wenn die Bemessungsgrundlage breiter wird. Bruttoinlandsprodukt und gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt sinken. 1053

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Steuerregimes 4 und 5 beinhalten asymmetrische Reaktionen auf das Urteil. Regime 4 hat positive Wirkungen. Die Unterschiede in den Kapitalkosten sinken und die Wohlfahrtsindikatoren steigen. Das hat folgenden Grund: Im Steuerregime 4 begrenzt Land B, das Land mit dem niedrigeren Steuersatz, den Zinsabzug auch für inländische Zinszahlungen, während das Hochsteuerland A sämtliche Zinsabzugsbeschränkungen abschafft. Im Niedrigsteuerland B steigt also die effektive Steuerlast, während es im Hochsteuerland A zu Entlastungen kommt. Die Unterschiede zwischen den Steuersystemen nehmen zwar insofern zu, als sich neben den Steuersätzen nun auch die Bemessungsgrundlage in den beiden Ländern unterscheidet. Die Effektivbelastung nähert sich aber an, weil das Land mit dem niedrigen Steuersatz die Bemessungsgrundlage verbreitert, während die Bemessungsgrundlage im Hochsteuerland schmaler wird. Im Steuerregime 5 schließlich sind die Wirkungen umgelehrt zu Regime 4: Land A, das Land mit dem höheren Steuersatz, verbreitert die Bemessungsgrundlage und dehnt die Beschränkung des Zinsabzugs auch auf inländische Transaktionen aus, während Land B alle Beschränkungen des Zinsabzugs abschafft. Im Ergebnis werden dadurch die steuerlichen Unterschiede auch in der Effektivbelastung im Vergleich zum Benchmark-Regime gesteigert. Das Bruttoinlandsprodukt und die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt sinken. Abbildung 3:

Insgesamt zeigt die Modellanalyse, dass die Auswirkungen der Rechtsprechung auf die steuerlichen Verzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten einer Union davon abhängen, wie die Mitgliedstaaten auf das Urteil reagieren. Vor allem dann, wenn Staaten mit hohen Steuersätzen eher restriktiv reagieren und bestehende Abzugsbeschränkungen auf das Inland ausdehnen, während Länder mit niedrigen Steuersätzen sich für das Gegenteil entscheiden, besteht die Gefahr, dass steuerliche Verzerrungen im Binnenmarkt als mittelbare Folge der Beseitigung einer Diskriminierung noch zunehmen.

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Abbau steuerlicher Verzerrungen durch die EuGH-Rechtsprechung?

VI. Reaktionen der Mitgliedstaaten auf das Lankhorst-Hohorst-Urteil Vor dem Hintergrund der theoretischen Analyse des vorangehenden Abschnitts ist es interessant zu fragen, wie die Mitgliedstaaten tatsächlich auf das Urteil im Fall Lankhorst-Hohorst reagiert haben. Tabelle 2 gibt einen Überblick über Veränderungen in Regelungen zur Abzugsfähigkeit von Zinsen in ausgewählten EU-Mitgliedstaaten seit dem Urteil16. Es zeigt sich, dass die Mitgliedstaaten asymmetrisch reagiert haben. Einige Mitgliedstaaten, darunter Länder mit überdurchschnittlich hohen Steuersätzen wie etwa Deutschland und Dänemark haben die Zinsabzugsbeschränkungen auf inländische Transaktionen ausgeweitet, während andere – darunter das Niedrigsteuerland Irland – Beschränkungen des Zinsabzugs für grenzüberschreitende Zinszahlungen innerhalb der EU ganz abgeschafft haben. Sicherlich kann man im Einzelfall darüber diskutieren, welche Rolle die EuGH-Rechtsprechung für Reformen der Regelungen zum Zinsabzug wirklich gespielt hat. Es wird aber deutlich, dass man zumindest nicht ausschließen kann, dass es in Folge des Urteils und der danach erfolgten Maßnahmen in den Mitgliedsländern zu einer wachsenden Divergenz in der effektiven Steuerbelastung fremdkapitalfinanzierter Investitionen gekommen ist. Tabelle 2: Reaktionen ausgewählter EU Mitgliedstaaten auf Lankhorst-Hohorst Anwendungsbereich von Zinsabzugsbeschränkungen Vor dem Urteil Belgien Zypern Dänemark Estland Finnland Deutschland Irland Lettland Malta Niederlande Portugal Spanien Schweden Vereinigtes Königreich

Nach dem Urteil

National

EU

Drittländer

National

EU

Drittländer

– – – – – – – – – – – – – –

X – X – – X X – – – X X – X

X – X – – X X – – – X X – X

– – X – – X – – – X – – – X

– – X – – X – – – X – – – X

X – X – – X X X – X X X – X

X = Zinsabzug ist beschränkt. – = Zinsabzug ist nicht beschränkt.

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16 Für einen detaillierten Überblick über die geltenden Bestimmungen in den einzelnen Mitgliedstaaten s. A. P. Dourado/R. de la Feria, „CCCTB: Thin Capitalization and Inbound Investment“ in M. Lang et al (eds.), Common Consolidated Corporate Tax Base, Linde Verlag (2008), 817.

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Rita de la Feria / Clemens Fuest

VII. Schlussfolgerungen Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Frage, ob die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes im Bereich der Unternehmensbesteuerung zu einem Abbau steuerlicher Verzerrungen der Ressourcenallokation im Europäischen Binnenmarkt geführt hat. Am Beispiel des Lankhorst-Hohorst Falles wurde gezeigt, dass die Auswirkungen der Beseitigung einzelner Diskriminierungstatbestände auf steuerliche Verzerrungen im Binnenmarkt davon abhängen, wie die Mitgliedstaaten sich an das Diskriminierungsverbot anpassen. Vor allem dann, wenn Mitgliedstaaten asymmetrisch reagieren, kann die Divergenz unter den Steuersystemen zunehmen, und unter Umständen können steuerliche Verzerrungen der Ressourcenallokation sich verstärken. Reformen der Regelungen zur Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalzinsen in den EU-Mitgliedstaaten seit dem Lankhorst-Hohorst Urteil sprechen dafür, dass das Szenario einer asymmetrischen Reaktion seitens der Mitgliedstaaten relevant ist. Bislang hat die Kritik an der Rechtsprechung des EuGH im Bereich der direkten Steuern sich vor allem auf die Frage konzentriert, ob der Gerichtshof die Spielräume der Mitgliedstaaten stärker einschränkt, als es von den Europäischen Verträgen vorgesehen ist. Die Überlegungen dieses Beitrags sprechen dafür, dass die EuGH-Rechtsprechung eines ihrer grundlegenden Ziele – den Abbau steuerlich bedingter Verzerrungen der Ressourcenallokation im Europäischen Binnenmarkt – verfehlen könnte.

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Norbert Herzig

Einsichten und Folgerungen aus dem CCCTB-Projekt der EU Inhaltsübersicht I. Reformbedürftigkeit der Unternehmensbesteuerung in der EU II. Funktionsweise und Stand des CCCTB-Projektes 1. Funktionsweise 2. Stand des Projekts III. Bewertung des Grundgedankens der CCCTB 1. Vermeidung von Doppelbesteuerung 2. Bemessung der individuellen Leistungsfähigkeit 3. Zwischenstaatliche Verteilungsgerechtigkeit 4. Praktikabilität der Gewinnabgrenzung IV. Möglichkeiten der Integration der Ergebnisse der CCCTB-Arbeitsgruppe in das derzeitige Steuerrecht 1. Vereinheitlichung der Ausgestaltung steuerlicher Regelungen

2. Vereinheitlichung der Verrechnungspreisermittlung 3. Handhabbare Ausgestaltung von Advance Pricing Agreements 4. Konzepte einer Verlustverrechnung 5. Vermeidung des Entstehens von Zwischengewinnen 6. Verwendung gesamtgewinnbezogener Verrechnungspreismethoden 7. Praktikablere Ausgestaltung durch Pooling von Geschäftsvorfällen 8. Anwendung einer formelhaften Gewinnaufteilung in Ausnahmefällen V. Fazit und Ausblick

I. Reformbedürftigkeit der Unternehmensbesteuerung in der EU Forschungsschwerpunkt des Jubilars ist das Steuerrecht als Teil der rechtsstaatlichen Ordnung, wobei er seit Jahrzehnten Vorreiter im Bereich der Fortentwicklung des Steuerrechts unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit und -vereinfachung ist.1 Zur Ausgestaltung der Reformüberlegungen zur Unternehmensbesteuerung auf europäischer Ebene bietet es sich an, die systematischen Überlegungen des Jubilars nutzbar zu machen. Grundlegende Bedeutung kommt hierbei insbesondere einer Vermeidung von Doppelbesteuerung, der Bemessung der individuellen Leistungsfähigkeit, der zwischenstaatlichen Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Aspekten wie der Praktikabilität zu.

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1 Vgl. hierzu beispielsweise die wegweisende Habilitationsschrift des Jubilars Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil. iur., 1988, S. 1 ff.; den Lehrbuchklassiker Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., 2010 sowie beispielsweise die folgenden Veröffentlichungen in den vergangenen Jahren Lang, StuW 2007, 3 ff.; Lang, StuW 2006, 22 ff.; Lang/Englisch, StuW 2005, 3 ff.

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Nobert Herzig

Im Zuge der Globalisierung und begünstigt durch den Abbau von Barrieren für grenzüberschreitendes Handeln konnte sich die Internationalisierung europäischer Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ausweiten. Neben internationalen Konzernen ergreifen zunehmend auch mittelständische Unternehmen die Möglichkeit, Teile ihrer betrieblichen Aktivität ins Ausland zu verlagern, um die Wettbewerbs- und Standortvorteile verschiedener Länder nutzen zu können. Dabei profitieren international ausgerichtete Unternehmen innerhalb der Europäischen Union von der voranschreitenden Harmonisierung im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion sowie den damit verbundenen Erleichterungen beim Austausch von Waren und Dienstleistungen. Nicht harmonisiert ist bisher der Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Nach Auffassung der Europäischen Kommission hat dies jedoch erhebliche Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit multinationaler Unternehmen. So sehen sich die Unternehmen regelmäßig mit einer Vielzahl von länderspezifischen Regelungen bei der Ermittlung ihrer steuerlichen Bemessungsgrundlagen und unterschiedlichen Gewinnsteuersätzen konfrontiert. Darüber hinaus erschwert die Koexistenz von inzwischen 27 verschiedenen Besteuerungsregimen in der Europäischen Union die Transparenz der Steuerbelastung, was mit erheblichen Kontroll- und Befolgungskosten für international operierende Unternehmen verbunden ist.2 Im Folgenden wird zunächst die Funktionsweise der CCCTB (Common Consolidated Corporate Tax Base) dargelegt und bewertet. Darauf aufbauend soll geprüft werden, inwieweit Erkenntnisse aus dem CCCTB-Projekt, insbesondere im Hinblick auf eine verstärkte Berücksichtigung der wirtschaftlichen Einheit, für eine Fortentwicklung genutzt werden können, die den Fremdvergleichsgrundsatz integriert.

II. Funktionsweise und Stand des CCCTB-Projektes 1. Funktionsweise Die Zielsetzung der Steuerreformbemühungen auf EU-Ebene besteht in der Schaffung eines wettbewerbsfähigen Steuersystems, wobei die Kriterien der Einfachheit und der Effizienz grundlegende Relevanz entfalten.3 Hierdurch soll vor allem bei hoch integrierten Strukturen eine bessere Anwendbarkeit durch die Steuerpflichtigen und die Finanzverwaltung gewährleistet werden.4 In diesem Zusammenhang kommt auch der Harmonisierung der Steuersysteme Be-

__________ 2 Vgl. Teschke, Konzeption einer Besteuerung des laufenden Ertrags von Netzwerken Nahestehender, Diss. rer. pol., 2009, S. 37 ff.; Herzig, StuW 2006, 156 ff.; zu den Aufkommensverteilungskonflikten Spengel/Oestreicher, DStR 2009, 776. 3 Vgl. Gammie u. a., Achieving a Common Consolidated Corporate Tax Base in the EU, Report of a CEPS Task Force, 2005; im Hinblick auf vergleichbare Bestrebungen im Bereich des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens Brown, Tax Law Review 1994, 759. 4 Vgl. Mintz, ITPF (International Tax and Public Finance) 2004, 222.

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Einsichten und Folgerungen aus dem CCCTB-Projekt der EU

deutung zu, da durch diese eine Verminderung der steuerlichen Befolgungskosten ermöglicht wird.5 Dies ergibt sich vor allem aus dem Harmonisierungsauftrag (Art. 93 EGV), wonach es nicht zu einer Behinderung des innergemeinschaftlichen Leistungsverkehrs durch steuerliche Regelungen kommen soll.6 Eine solche Angleichung ist nicht unproblematisch, da sich die Regelungswerke der einzelnen Staaten eigenständig und in Abstimmung mit anderen nationalen Politikfeldern entwickelt haben.7 Zur Erarbeitung eines Richtlinienvorschlags für eine CCCTB ist auf EU-Ebene die Arbeitsgruppe „Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage“ eingerichtet worden8, die unter Einbeziehung der Mitgliedstaaten intensiv tätig war. Hervorzuheben ist, dass zur Ausgestaltung der gemeinsamen Bemessungsgrundlage und ihrer Aufteilung grundsätzlich auf die Erfahrungen der formelhaften Gewinnaufteilung in den USA und in Kanada zurückgegriffen werden konnte. Allerdings sind wegen des Zusammenwirkens souveräner Staaten zusätzliche weitere Probleme zu lösen, die von der Zusammenarbeit der nationalen Finanzverwaltungen über die Einbindung von Drittstaaten-Sachverhalten bis zur Ergebniskonsolidierung sowie der Organisation des Ein- und Austritts reichen. Die Vorgehensweise bei den auf EU-Ebene diskutierten Modellen ist dreistufig.9 Auf der ersten Stufe werden einheitliche Gewinnermittlungsregeln erarbeitet, die für alle EU-Gesellschaften des Konzerns anzuwenden sind, wobei Tochtergesellschaften und Betriebsstätten einbezogen werden. Auf der zweiten Stufe werden die nach einheitlichen Regeln ermittelten Ergebnisse der einzelnen Konzerngesellschaften zu einer konzerneinheitlichen Bemessungsgrundlage zusammengefasst10, die im dritten Schritt auf die einzelnen Gesellschaften formelmäßig aufgeteilt wird. Bisher ist vorgesehen, den Konzernen in der EU eine Option zur Nutzung des CCCTBRegimes einzuräumen, was unter dem Aspekt der Gleichbehandlung und der Gesetzesbestimmtheit nicht unproblematisch ist. Die Aufteilung der Bemes-

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5 Vgl. Herzig, StuW 2006, 157; hinsichtlich der Unterschiedlichkeit der Steuersysteme im Hinblick auf eine Verlustberücksichtigung und in diesem Zusammenhang der Aussage „german companies cannot take their tax system with them“: O’Shea, TNI (Tax Notes International) 2008, Vol. 49, 106. 6 Vgl. Kahle, WPg 2006, 1401; McIntyre/McIntyre, TNI 1993, Vol. 6, 856 heben hervor, dass mit zunehmender wirtschaftlicher Integration in der EU eine Abgrenzung auf Grundlage des Fremdvergleichs „increasingly unworkable“ sei. 7 Vgl. Herzig, StuW 2006, 156; vgl. auch für einen historischen Überblick hinsichtlich der Harmonisierungsbestrebungen Célestin, The formulary approach to the taxation of transnational corporations: a realistic alternative?, Diss. phil., 2000, S. 95. 8 Vgl. Herzig in FS Schaumburg, 2009, S. 758; Schön, ZHR 2007, 427. 9 Vgl. zur Vorgehensweise Scheffler in Oestreicher (Hrsg.), Konzernbesteuerung, Beiträge zu einer Ringveranstaltung an der Universität Göttingen im Sommersemester 2004, 2005, S. 309. 10 Vgl. zur Funktionsweise Teschke, Konzeption einer Besteuerung des laufenden Ertrags von Netzwerken Nahestehender, Diss. rer. pol., 2009, S. 81 ff.; Herzig in Lang/ Pistone/Schuch/Staringer (Hrsg.), Common Consolidated Corporate Tax Base, 2008, S. 549 ff.; Herzig in Winkeljohann/Herzig (Hrsg.), IFRS für den Mittelstand, 2006, S. 77 ff.; Spengel, ÖStZ 2008, 419; Mors/Rautenstrauch, Ubg 2008, 102; nach dem Subsidiaritätsprinzip steht die Entscheidung bezüglich des Steuerniveaus den einzelnen Mitgliedstaaten zu, vgl. Spengel, in FS Jacobs, 2005, S. 60.

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sungsgrundlage soll nach Maßgabe einer Aufteilungsformel erfolgen, die in gewichteter Form die Kriterien Umsatz, Vermögen und Zahl der Arbeitnehmer enthalten soll. Anschließend wird ein durch den jeweiligen Staat autonom festzulegender Steuersatz auf den zugewiesenen Teil der Bemessungsgrundlage angewandt.11 Wird die CCCTB-Option nicht wahrgenommen, so erfolgt eine Besteuerung nach dem bisher geltenden Steuerrecht mit der Folge, dass innerkonzernliche Leistungen auf der Grundlage des Fremdvergleichs abzurechnen sind. 2. Stand des Projekts Mit dem CCCTB-Projekt verfolgt die EU-Kommission ein sehr ambitioniertes Ziel. Denn dieses Projekt integriert nahezu alle Vorhaben im Bereich der direkten Steuern, deren isolierte Umsetzung bisher nicht gelungen ist. Hierzu sei an die Vereinheitlichung der steuerlichen Gewinnermittlung, den steuerfreien Transfer von Wirtschaftsgütern, die grenzüberschreitende Verlustverrechnung, der Umgang mit EU-internen und EU-externen Doppelbesteuerungsabkommen und das enge Zusammenwirken der Finanzverwaltungen der Mitgliedstaaten erinnert. Bei dieser umfassenden Zielsetzung überrascht es nicht, dass es trotz intensiver Bemühungen der entsprechenden Kommission bisher nicht gelungen ist, den bereits seit geraumer Zeit überfälligen RichtlinienEntwurf vorzulegen. Eine zeitliche Verzögerung wäre bei der Dimension des Projektes nur zu verständlich. Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass es nicht bei der Verzögerung bleibt, sondern dass das gesamte Projekt als gefährdet, wenn nicht bereits als gescheitert angesehen werden muss, noch bevor der Richtlinien-Entwurf das Licht der Welt erblickt hat und damit die eigentliche politische Diskussion einsetzen kann. Angesichts der erreichten Ergebnisse und der intensiven Bemühungen vieler Beteiligter kann eine solche Entwicklung nur als dramatisch bezeichnet werden. Es wäre ein herber Rückschlag entgegen aller Bestrebungen, in der EU Fortschritte im Bereich der direkten Steuern zu erreichen. Angesichts dieser Gefahr erscheint es geboten, über Möglichkeiten nachzudenken, wie das komplexe CCCTB-Paket aufgeschnürt werden kann mit dem Ziel, die in Teilgebieten erreichten beachtlichen Fortschritte nutzbar zu machen. Beispielhaft kann hier auf den Bereich der Gewinnermittlungsregeln verwiesen werden, in dem beachtliche Fortschritte erzielt worden sind, deren EU-weite Umsetzung einen erheblichen Beitrag zur Entbürokratisierung und Senkung der Befolgungskosten durch Vermeidung mehrfacher Gewinnermittlungen leisten würde. Neben diesem Aufschnüren des CCCTB-Pakets ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Möglichkeit besteht, Bestandteile des Einheitskonzepts der CCCTB mit Elementen des traditionellen Fremdvergleichs zu kombinieren, um Fortschritte im EU-Kontext zu erreichen. Dieser Problematik ist der vorliegende Beitrag gewidmet, wobei zunächst die Grundgedanken und Zielsetzungen der CCCTB zu würdigen sind.

__________ 11 Vgl. Herzig in Lang u. a. (Hrsg.): Common Consolidated Tax Base, 2008, S. 549 ff.; Fuest/Hemmelgarn/Ramb, ITPF 2007, 606.

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Einsichten und Folgerungen aus dem CCCTB-Projekt der EU

III. Bewertung des Grundgedankens der CCCTB 1. Vermeidung von Doppelbesteuerung Durch die Ermittlung einer einheitlichen Bemessungsgrundlage im Rahmen der CCCTB werden Überschneidungen der anzuwendenden steuerlichen Regelungen der beteiligten Staaten grundsätzlich vermieden.12 So würden Unterschiede in den derzeitigen nationalen Besteuerungsregelungen beseitigt, die sich insbesondere auf das Territorialitätsprinzip zurückführen lassen. Danach haben die einzelnen Steuerhoheiten das Recht zur Besteuerung der auf ihrem Territorium erwirtschafteten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, was auch die Befugnis zur Einführung steuerlicher Regelungen einschließt.13 Anhand der Vorgehensweise bei Anwendung der CCCTB wird deutlich, dass es zu einem grenzüberschreitenden Verlustausgleich kommt. Somit entsteht eine Steuerbelastung grundsätzlich erst, wenn das Gesamtergebnis des EU-Konzerns positiv ist.14 Aus Sicht des Leistungsfähigkeitsprinzips ist dies als sinnvoll zu bewerten, da eine konsequente Umsetzung des objektiven Nettoprinzips erfolgt und die Aufwendungen des erfassten Netzwerkes steuermindernd berücksichtigt werden.15 Dagegen führt die auf dem Fremdvergleich beruhende Einkünfteabgrenzung dazu, dass ein Verlust auf Ebene des einzelnen Gliedes eingeschlossen bleibt und somit Verluste nicht verrechnet werden,16 auch wenn eine wirtschaftliche Einheit besteht. Zu einer Gewinnrealisierung kommt es bei der CCCTB grundsätzlich erst bei einer Veräußerung am Markt, d. h. bei einem Umsatz mit Nicht-Nahestehenden.17 Durch eine Vermeidung von konzerninternen Zwischenerfolgen wird Doppelbesteuerungseffekten entgegen gewirkt.18 Hiermit ist in wirtschaftlicher Hinsicht der Vorteil verbunden, dass Vorgänge innerhalb des Netzwerkes nicht behindert werden.19 Demgegenüber kann es bei einer Gewinnabgren-

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12 Vgl. Wendel, IStR 2004, 125; Christensen, International Business 1997, 1162; Riecker, Körperschaftsbesteuerung in der Europäischen Union und das US-amerikanische Modell der Unitary Taxation, Diss. iur., 1997, S. 195. 13 Vgl. Picciotto, International Business Taxation, 1992, S. 252. 14 Vgl. Bökelmann, Gewinnzurechnung im Körperschaftsteuerrecht, Diss. iur., 1997, S. 128. 15 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Einheitliche Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer in der Europäischen Union, März 2007, S. 26. 16 Vgl. etwa Watrin/Sievert/Strohm, FR 2004, 1; hinsichtlich einer fehlenden Verlustverrechnungsmöglichkeit (Lock-in-Effekt) im Verhältnis Unternehmen – Gesellschafter im Modell der Stiftung Marktwirtschaft Herzig in Oestreicher (Hrsg.), Common Consolidated Corporate Tax Base, 2007, S. 113. 17 Vgl. Oestreicher, Konzern-Gewinnabgrenzung, Habil. rer. pol., 2000, S. 158. 18 Vgl. Kahle, WPg 2006, 1407; Sievert, Konzernbesteuerung in Deutschland und Europa, Diss. rer. pol., 2006, S. 37; Herzig in Herzig (Hrsg.), Besteuerung der Europäischen Aktiengesellschaft, 2004, S. 88; Plasschaert, ET 1997, 11; Küting, DB 1990, 490; o. Verf., Harvard Law Review 1976, 1228 hinsichtlich der Feststellung „the unitary entity theory does not create taxable income on the basis of intercompany transfers“. 19 Vgl. Fink, RIW 1988, 45; Strobl, Die Gewinnabgrenzung bei international verflochtenen Unternehmen in der Europäischen Gemeinschaft, Diss. rer. pol., 1975, S. 350.

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zung auf der Grundlage des Fremdvergleichs dazu kommen, dass Vorgänge zwischen den einzelnen Gliedern des Netzwerkes zu einer Realisierung von Gewinnen führen, die als Zwischengewinne zu qualifizieren sind, da noch keine Realisation am Markt erfolgt ist.20 Diese Problematik besteht bei einem Austausch zu über den Anschaffungs- und Herstellungskosten liegenden Preisen; in diesem Fall kommt es zu einem Gewinn bei der übertragenden Gesellschaft, obwohl der Erfolg aus Sicht des Netzwerkes gegenüber Externen noch gar nicht realisiert ist.21 2. Bemessung der individuellen Leistungsfähigkeit Im Gegensatz zur Einkünfteabgrenzung auf der Grundlage des Fremdvergleichs geht die CCCTB von vornherein von der realitätsnäheren Vorstellung aus, dass eine verursachungsgerechte Aufteilung des Konzernergebnisses nicht möglich ist.22 Die CCCTB begnügt sich mit einem Näherungswert,23 wodurch eine angemessene Beziehung zwischen der Zuteilung und der tatsächlichen Erwirtschaftung hergestellt werden soll.24 Zielsetzung ist hierbei die Zurechnung eines sachgerechten Anteils am Gesamtergebnis an die einzelnen Glieder. Insofern kann im Rahmen der formelhaften Gewinnaufteilung, insbesondere vor dem Hintergrund der fehlenden Transaktionsbezogenheit und der Anwendung einer allgemeinen Aufteilungsformel, bei der die Umstände des Einzelfalls keine Berücksichtigung finden können, eine Verursachungsgerechtigkeit grundsätzlich nicht in dem Ausmaß erreicht werden wie im Rahmen des Fremdvergleichs.25 Durch den Drittvergleich erfolgt im Rahmen der Bezugnahme auf das Marktverhalten eine Objektivierung, wodurch eine willkürliche Ermittlung vermieden wird.26 Allerdings ist zu beachten, dass bereits die Ermittlung eines vergleichbaren Vorgangs eine subjektive Wertung beinhalten kann und regelmäßig beinhalten wird. An die Grenzen stößt die Zielsetzung der Willkürvermeidung bei einem nicht beobachtbaren Fremdverhalten. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit der Problematik der Ermittlung von Verrechnungspreisen wird die Subjektivität bei deren Ermittlung deutlich. Insbesondere liegt dem

__________ 20 Vgl. hinsichtlich der Entstehung von Zwischengewinnen bei einer Abgrenzung der Einkünfte auf Grundlage des Fremdvergleichs Küting, BB 1976, 1154. 21 Vgl. Baetge/Kirsch/Thiele, Konzernbilanzen, 7. Aufl. 2004, S. 299; Sahner/Häger, BB 1988, 1780. 22 Vgl. Panzer/Goldberg, Intertax 1984, 259 ff.; Philipp, DStZ/A 1974, 20. 23 Vgl. Miller, Tax Notes Weekly 1993, 247 f.; Fischer, Die Gewinnermittlung für die Körperschaftsteuer der US-Einzelstaaten nach dem Konzept der „unitary business taxation“, Diss. iur., 1986, S. 41, 197. 24 Vgl. Bökelmann, Gewinnzurechnung im Körperschaftsteuerrecht, Diss. iur., 1997, S. 126. 25 Vgl. Oestreicher, Konzern-Gewinnabgrenzung, Habil. rer. pol., 2000, S. 159; Kumpf, StbJb 1988/89, 410; Schröder, StBp 1971, 233. 26 Vgl. Kumpf, Steuerliche Verrechnungspreise in internationalen Konzernen, Diss. rer. pol, 1976, S. 69 ff.; Schröder, Probleme der Gewinnverlagerungen multinationaler Unternehmen, Diss. rer. pol., 1983, S. 55.

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Einsichten und Folgerungen aus dem CCCTB-Projekt der EU

Abstellen auf einen Marktpreis der Gedanke eines vollkommenen Marktes zugrunde,27 was jedoch in der Mehrzahl der Fälle nicht erfüllt sein wird.28 Aus Sicht des Grundsatzes der Individualbesteuerung ergeben sich Probleme beim Fremdvergleich, weil Synergieeffekte nicht berücksichtigt werden. Wegen dieser Nichtberücksichtigung droht im Ergebnis eine ungleiche Aufteilung der Einkünfte auf markt- und produktionsorientierte Glieder. Dies bedeutet etwa im Fall von Markenprodukten des Konsumbereichs, dass die Wertsteigerung des Produkts, speziell in Bezug auf den Markennamen, bei einem der letzten Glieder der Unternehmenskette (zeitlich vor dem Vertrieb) erfasst wird. Bei den Standardmethoden erfolgt somit keine Aufteilung dieses Gewinns auf alle beteiligten Glieder, da der Gewinnaufschlag erst auf einer der letzten Stufen vorgenommen wird,29 so dass es nicht zu einer Betrachtung des Gesamtgewinns der Nahestehenden kommt.30 3. Zwischenstaatliche Verteilungsgerechtigkeit Die Vorgehensweise bei der CCCTB führt dazu, dass das Steueraufkommen grundsätzlich nicht von der Verifikationsleistung der Finanzverwaltung hinsichtlich der Verrechnungspreise abhängt. Jedoch kommt aufgrund des Erfordernisses der zwischenstaatlichen Verteilungsgerechtigkeit der Ausgestaltung der Aufteilungsformel grundlegende Bedeutung zu. Auch wenn aus systematischer Sicht die Formel möglichst weitgehend die tatsächliche Verursachung der Gewinne widerspiegeln sollte,31 wird deutlich, dass dies eher ein Wunschbild darstellt. Da die Aufteilungsformel in praktischer Hinsicht durch Verhandlungen zustande kommt, wird das Ausmaß der Verwirklichung der zwischenstaatlichen Verteilungsgerechtigkeit auch von der Verhandlungsmacht der Beteiligten abhängen. Hierbei werden die beteiligten Staaten vor dem Hintergrund des Verlustes an nationaler Steuerautonomie bestrebt sein, ihr Steueraufkommen zu sichern, eventuell sogar zu maximieren.32 So kann beispielsweise durch die Verwendung eines Umsatzfaktors eine verstärkte Orientierung am Supply-Demand-Approach erfolgen, was zu einer Verlagerung des Steueraufkommens von den Staaten, in denen überwiegend die Produktion erfolgt, hin zu den Absatzstaaten führt.33 Auch kann ein Abstellen auf makroökonomische Faktoren problematisch sein, da Teile der Bemessungsgrundlage Staaten zugewiesen werden können, die zur Erwirtschaftung der Einkünfte gar nicht – oder nur in geringfügigem Ausmaß – beigetragen haben.34

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27 Vgl. Nientimp, Steuerliche Gewinnabgrenzung in internationalen Konzernen, Diss. rer. pol., 2003, S. 152, 198. 28 Vgl. Weiss, DBW 1997, 253. 29 Vgl. Hellerstein, Tax Notes 1993, 1135 f. 30 Vgl. Andresen, Konzernverrechnungspreise für multinationale Unternehmen, Diss. rer. pol., 1999, S. 32. 31 Vgl. Scheffler, Besteuerung der grenzüberschreitenden Unternehmenstätigkeit, 2. Aufl. 2002, S. 283. 32 Vgl. Green, Cornell Law Review 1993, 68; Rosenbloom, TNI 2005, Vol. 38, 524. 33 Vgl. Kiesewetter/Mugler, DBW 2007, 505. 34 Vgl. Ruding-Bericht, BT-Drucks. 13/4138, 1992, 137.

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Demgegenüber spricht die separate Betrachtung der einzelnen Vorgänge bei einer Einkünfteabgrenzung auf Grundlage des Fremdvergleichs für eine weitgehende Erfüllung der Anforderung der zwischenstaatlichen Verteilungsgerechtigkeit,35 wobei grundsätzlich auf Ebene der einzelnen Glieder die von diesen verursachten Ein- und Ausgaben berücksichtigt werden.36 Hierdurch soll es aus dem Blickwinkel der zwischenstaatlichen Verteilungsgerechtigkeit zu einer möglichst genauen Zuordnung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu denjenigen Staaten kommen, in deren Gebiet die Erwirtschaftung erfolgt.37 Dies soll in der Weise erreicht werden, dass zur Ermittlung der von einem Glied erwirtschafteten Einkünfte nur auf dessen Verhältnisse abgestellt wird und die Gegebenheiten anderer (ausländischer) Glieder grundsätzlich außer Acht bleiben.38 Generell kann durch die Transaktionsbezogenheit die Aufteilung nachvollziehbar ausgestaltet werden, so dass unangemessenen Gewinnverlagerungen entgegengewirkt wird und auch die Besonderheiten der einzelnen Transaktionen berücksichtigt werden können.39 4. Praktikabilität der Gewinnabgrenzung Bei der CCCTB sind insbesondere wegen der angestrebten einheitlichen Regelungen für alle EU-Steuerpflichtigen geringere Befolgungskosten zu erwarten, was wirtschaftlich positive Effekte zur Folge haben kann.40 Demgegenüber kann eine Einkünfteabgrenzung auf der Grundlage des Fremdvergleichs nur mit hohem Aufwand erfolgen, da eine getrennte Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage für jedes Glied des Netzwerkes unter Betrachtung sämtlicher Transaktionen erforderlich ist.41 Allerdings ist zu beachten, dass in Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung der Formel auch zusätzliche Aufzeichnungen erforderlich sein können, etwa zur Ermittlung des Wertes des eingesetzten Vermögens oder der durchschnittlichen Anzahl der Arbeitskräfte.42 Zudem ist es möglich, dass der erforderliche Informationsaustausch bei der CCCTB höher als beim Fremdvergleich ausfallen kann,43 vor allem wenn die

__________ 35 Vgl. Bendlinger in FS Loukota, 2005, S. 68; Bode, RIW 1976, 699. 36 Vgl. Philipp, DStZ/A 1974, 19. 37 Smith, The Accounting Review 2002, 161 hebt hervor, dass es sich beim Fremdvergleich um „fair division of profit across divisions“ handelt. 38 Vgl. Mersmann, Die Ertragsbesteuerung inländischer Betriebsstätten und Tochtergesellschaften ausländischer Kapitalgesellschaften, 1966, S. 79. 39 Vgl. Nientimp, Steuerliche Gewinnabgrenzung in internationalen Konzernen, Diss. rer. pol., 2003, S. 197 f.; Kumpf, StbJb 1988/89, 410. 40 Vgl. McIntyre, National Tax Journal 1993, 316 hinsichtlich der Feststellung, dass ein Staat zur wirtschaftlichen Förderung vor diesem Hintergrund eine Zusammenarbeit mit anderen Staaten anstreben sollte und hierbei auch eine formelhafte Gewinnaufteilung in Betracht ziehen sollte. 41 Vgl. etwa o. Verf., Journal of State Taxation, Fall 2001, 108. 42 Vgl. Nolan, Tax Notes 17.4.1978, 406 ff., dort Gliederungspunkt „Unreasonable Administrative Burdens“. 43 Vgl. Kiesewetter/Mugler, DBW 2007, 505; Wellisch, Internationale Verrechnungspreismethoden, Neutralität und die Gewinne multinationaler Unternehmen, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 2003, S. 332 ff.

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Faktoren der Aufteilungsformel nicht bereits aus den Jahresabschlussdaten abgeleitet werden können.44 Mängel lassen sich bei der CCCTB auch im Hinblick auf die Flexibilität gegenüber sich ändernden Rahmenbedingungen feststellen. Für eine Anpassung ist grundsätzlich eine Änderung der Formel erforderlich, wofür insbesondere neue Verhandlungslösungen der beteiligten Staaten gefunden werden müssten; dies geht auch mit einer Rechtsunsicherheit für die Steuerpflichtigen einher. Demgegenüber ist die Abgrenzung von Einkünften auf der Grundlage des Fremdvergleichs flexibel über sämtliche Branchen und Staaten einsetzbar und kann auch Anwendung finden, wenn sich die Strukturen der einzelnen Glieder unterscheiden wie beispielsweise bei einem diversifizierten Konzern. Die Universalität des Fremdvergleichs schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass dessen Anwendung im zwanzigsten Jahrhundert trotz gravierender Änderungen wirtschaftlicher Strukturen grundsätzlich möglich war.45 Dies spricht zumindest nicht dagegen, dass der Fremdvergleich auch zukünftig bei Veränderung der Rahmenbedingungen anwendbar bleiben kann. Trotz grundsätzlich geringerer laufender Aufwendungen können Anbahnungskosten bei Einführung einer formelhaften Gewinnaufteilung auftreten. So ist zunächst eine Abstimmung der einzelnen Regelungen auf Ebene der beteiligten Staaten erforderlich, da anderenfalls Doppelbesteuerungswirkungen drohen und zudem auch aufgrund von Qualifikationskonflikten die Gewinnermittlungsvorschriften komplizierter werden können.46 Hierbei sollten die Regelungen der Einkünfteermittlung – auch hinsichtlich der Formelbestandteile und deren Gewichtung – eine Vereinheitlichung erfahren.47 Eine entsprechende Einigung ist vor dem Hintergrund gegensätzlicher Interessen der beteiligten Staaten nicht unproblematisch; insbesondere kann auch eine Überarbeitung bzw. Neuverhandlung von Doppelbesteuerungsabkommen notwendig werden.48 Im Hinblick auf das Praktikabilitätserfordernis ist der Fremdvergleich mit dem Vorteil verbunden, dass die Abgrenzung von Einkünften auf der Grundlage des Fremdvergleichs international anerkannt ist und sowohl beim Steuerpflichtigen als auch bei der Finanzverwaltung ein eingespieltes System darstellt.49

__________ 44 Vgl. Miller in McLure (Hrsg.), The state corporation income tax, 1984, S. 159 f. 45 Vgl. Li, TNI 2001, 802. 46 Vgl. Brown, Tax Law Review 1994, 760; Montgomery, International Lawyer, Sommer 1986, S. 1054 ff.; Jacob, Auswirkungen, DB 1985, 17. 47 Vgl. Reuter, Besteuerung von Konzernen zwischen Einheitskonzept und Trennungskonzept, Diss. rer. oec., 1999, S. 186; Riecker, Körperschaftsbesteuerung in der Europäischen Union und das US-amerikanische Modell der Unitary Taxation, Diss. iur., 1997, S. 50; Telkamp, Betriebsstätte oder Tochtergesellschaft im Ausland?, Diss. rer. pol., 1975, S. 203. 48 Vgl. hierzu auch Spengel/Wendt, Harmonisierung der Konzernbesteuerung innerhalb und an den Außengrenzen der Europäischen Union, ZEW Discussion Paper 07-043, 2007, S. 7; hinsichtlich der Feststellung, dass eine Einheitsbetrachtung den Wertungen des OECD-MA widerspricht Helbing, Konzernverrechnungspreise – Ökonomische Analyse eines Hauptproblems der internationalen Besteuerung, Institut Finanzen und Steuern, IFSt-Schrift Nr. 339, 1995, S. 22. 49 Vgl. Brüggelambert, BFuP 2005, 177; Scheffler, DBW 1991, 712.

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IV. Möglichkeiten der Integration der Ergebnisse der CCCTBArbeitsgruppe in das derzeitige Steuerrecht Ausgangspunkt einer Erweiterung der Gewinnabgrenzung auf der Grundlage des Fremdvergleichs um Elemente einer formelhaften Gewinnaufteilung ist die Feststellung, dass die Vorzüge des Fremdvergleichs – insbesondere dessen Etabliertheit, universelle Anwendbarkeit und Flexibilität bei sich verändernden Rahmenbedingungen – durchaus erhaltenswert sind.50 Jedoch folgt aus den Nachteilen des Fremdvergleichs, die vor allem in der mangelnden Berücksichtigung der individuellen wirtschaftlichen Verhältnisse bestehen, dass Alternativen entwickelt werden sollten, bei denen auch Veränderungen des wirtschaftlichen Umfeldes berücksichtigt werden.51 Eine Beseitigung bzw. Abschwächung der Nachteile kann bei grundsätzlicher Orientierung am Fremdvergleich durch ergänzende Maßnahmen erreicht werden, die – wie die CCCTB – einer einheitstheoretischen Sichtweise folgen.52 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden eine Kombination von Elementen beider Rahmenkonzeptionen vorgestellt.53 1. Vereinheitlichung der Ausgestaltung steuerlicher Regelungen Aufgrund der auftretenden Konflikte bei rein nationaler Orientierung der steuerlichen Regelungen liegt es auf der Hand, die zunehmend globalen Tätigkeiten der Steuerpflichtigen zu berücksichtigen.54 Dies folgt insbesondere aus dem Gedanken einer Förderung des Binnenmarktes, wobei die Erkenntnis nicht neu ist, dass die Beseitigung von Besteuerungsunterschieden gesamtwirtschaftlich Sinn macht.55 Auch wenn eine vollständige Harmonisierung der Steuersysteme nicht umsetzbar sein mag, so sind dennoch eine Angleichung der Regelungen und eine weitestmögliche Zusammenarbeit der Finanzbehörden sinnvoll.56 Trotz der vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung positiven Aspekte darf aus rechtssystematischer Sicht nicht vernachlässigt werden, dass hiermit auch eine Einschränkung der Souveränität der einzel-

__________ 50 Vgl. Ditz, Internationale Gewinnabgrenzung bei Betriebsstätten und nationale Gewinnermittlungsvorschriften im Lichte aktueller Entwicklungen bei der OECD, Diss. rer. pol., 2004, S. 377. 51 Vgl. hinsichtlich der Probleme beim Fremdvergleich Fernandez/Oats, Creation of a cyber-entity, Conference Paper, Australasien Tax Teachers’ Association Annual Conference, 1999, online im Internet: http://pandora.nla.gov.au/tep/23524, 1 ff. 52 Vgl. Durst, TNI 2007, 1041; für einen Überblick der Regelungen in anderen Staaten Endres, Intertax 2003, 350 ff. 53 Vgl. Teschke, Konzeption einer Besteuerung des laufenden Ertrags von Netzwerken Nahestehender, Diss. rer. pol., 2009, S. 137. 54 Vgl. Scheuchzer, Konzernbesteuerung in den EG-Staaten, Diss. rer. pol., 1994, S. 6. 55 Vgl. hierzu bereits im Jahre 1962 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Bericht des Steuer- und Finanzausschusses, 1962, S. 13. 56 Vgl. Fernandez/Pope, Multinational, Revenue Law Journal 2002, 124; Herrmann, AWD 1974, 302; Tipke in Tipke/Bozza (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, 2000, S. 9 hebt hervor, dass das Endziel einer Harmonisierung des Steuerrechts eine „Europäische Steuerrechtsordnung“ sei.

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nen Staaten im Bereich des Steuerwesens verbunden sein kann und sein wird.57 Besondere Bedeutung kommt auch einer Harmonisierung der Missbrauchsregelungen zu, wobei insbesondere die Beschränkung des Schuldzinsenabzugs und der CFC-Regelungen einbezogen werden sollten.58 Die Problematik der Uneinheitlichkeit ergibt sich nicht nur in grenzüberschreitender Hinsicht; vielmehr können auch die nationalen Regelungen aufgrund ihrer historischen Entwicklung Unstimmigkeiten aufweisen.59 2. Vereinheitlichung der Verrechnungspreisermittlung Neben einer Angleichung der steuerlichen Regelungen ist auch eine Vereinheitlichung bei der Ermittlung von Verrechnungspreisen sinnvoll.60 Hierdurch können neben Doppelbesteuerungswirkungen auch die Befolgungskosten für die Steuerpflichtigen vermindert werden.61 Neben einheitlichen Regelungen der Ermittlung von Verrechnungspreisen ist es jedoch auch bei der praktischen Umsetzung erforderlich, dass sich die beteiligten Staaten einigen und somit den Verrechnungspreis auch tatsächlich einheitlich festsetzen.62 Im Hinblick auf die Problematik uneinheitlicher Verrechnungspreise durch die beteiligten Staaten kann eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Festsetzung der Verrechnungspreise zur Vermeidung von Doppelbesteuerung und auch von Rechtsunsicherheit sinnvoll sein.63 Aufgrund von Unterschieden bei der Ermittlung der Verrechnungspreise kann es dazu kommen, dass diese der Höhe nach nicht gegenseitig anerkannt werden.64 Problematisch ist insbesondere, wenn einer der beteiligten Staaten die Höhe der Verrechnungspreise als unangemessen erachtet und eine Gewinnerhöhung vornimmt, jedoch auf Seiten des anderen beteiligten Staates keine Gegenkorrektur erfolgt.65 Eine effizientere Abwick-

__________

57 Vgl. Sawyer, eJournal of Tax Research 1/2004, 18. 58 Vgl. Genschel/Rixen, The institutional foundations of tax competition, Working Paper 2006, online im Internet: http://www.jacobs-university.de/imperia/md/con tent/groups/schools/shss/trixen/genschel_rixen_tax_cooperation_sovereignty.pdf, 16. 59 Vgl. Krawitz, SteuerStud 1993, 93 ff. 60 Vgl. Newlon in Cnossen (Hrsg.), Taxing capital income in the European Union, 2000, S. 239; Ackerman/Hobster, TNI 2001, Vol. 24, 1151. 61 Vgl. Andersson in Andersson/Eberhartinger/Oxelheim (Hrsg.), National Tax Policy in Europe, 2007, S. 97. 62 Vgl. hinsichtlich eines Überblicks über denkbare Möglichkeiten etwa eines „global forum on taxation“ oder „global tax network“ Horner, TNI 2001, Vol. 24, 182. 63 Vgl. Ruding-Bericht, BT-Drucks. 13/4138, 1992, 41; zur Schiedsverfahrenskonvention Lammel/Reimer in Lehner (Hrsg.), Europäisches Gesellschafts- und Steuerrecht, 2007, S. 189. 64 Vgl. Engel, Konzerntransferpreise im Internationalen Steuerrecht, Diss. iur., 1986, S. 213. 65 Vgl. Strobl/Zirkel, AWD 1968, 469; hierbei ist zu beachten, dass einige DBA die Verpflichtung zu einer korrespondierenden Korrektur vorsehen, vgl. Tiemann, Gewinnabgrenzung im multinationalen Konzern – Die Kollision von separate accounting und formula apportionment im Rahmen der angestrebten Harmonisierung der Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage in der Europäischen Union, Diss. rer. pol., 2007, S. 44.

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lung des Besteuerungsverfahrens ist auch durch eine Verbesserung des Informationsaustausches der Steuerbehörden der einzelnen Staaten denkbar.66 Bisher ist die Finanzverwaltung auf die Mitwirkung der Steuerpflichtigen angewiesen. So ist nach § 90 Abs. 2 AO vorgesehen, dass die Steuerpflichtigen bei Vorgängen, die außerhalb der BRD erfolgen, den Sachverhalt aufklären und die entsprechenden Beweismittel beschaffen müssen. Eine Umsetzung der Forderung nach einer einheitlichen Festsetzung der Verrechnungspreise kann einerseits durch Verständigungsverfahren erfolgen. Hiermit wird das Ziel verfolgt, dass sich die Finanzverwaltung mit der entsprechenden Behörde des anderen Vertragsstaates zur Vermeidung von Vereinbarungen, die dem Doppelbesteuerungsabkommen zuwider laufen, um eine Verständigung bemüht.67 Hervorzuheben ist hierbei insbesondere die Langwierigkeit des Verfahrens, aufgrund dessen das Instrument des Verständigungsverfahrens lediglich als ein erster Schritt in die richtige Richtung angesehen werden kann. 3. Handhabbare Ausgestaltung von Advance Pricing Agreements Ein Ansatzpunkt einer verstärkten Umsetzung der Anforderung der betriebswirtschaftlichen Planungssicherheit kann die Verminderung der negativen Auswirkungen der Subjektivität bei der Ermittlung der Verrechnungspreise sein.68 Nahe liegend ist eine Fixierung der Verrechnungspreise bereits vor Verwirklichung des Sachverhaltes.69 Hierdurch kann dem Erfordernis der betriebswirtschaftlichen Planungssicherheit70 Rechnung getragen werden, da der Steuerpflichtige die Rechtsfolgen seines Handelns im Voraus abschätzen kann. Eine Umsetzung eines derartigen Vorhabens erfolgt im Rahmen von sog. Advance Pricing Agreements (APA), bei denen sich die Finanzbehörden verpflichten, die Verrechnungspreise unangetastet zu lassen, sofern sich die Beteiligten APA-konform verhalten.71 Hierdurch können die mit der Ungenauigkeit des Fremdvergleichsmaßstabes verbundenen Hemmnisse mit Blick auf die Planungssicherheit gemindert werden, so dass auch kostenintensive Auseinandersetzungen mit den Finanzbehörden vermieden werden können.72 Derartige Bestrebungen sind vor dem Hintergrund der Planungssicherheit der Unter-

__________ 66 Vgl. Kramer, TNI 2008, Vol 49, 1045. 67 Vgl. Bökelmann, Gewinnzurechnung im Körperschaftsteuerrecht, Diss. iur., 1997, S. 56. 68 Vgl. hierzu etwa Wills, Revenue Law Journal 1999, 5, der hinsichtlich der Unbestimmtheit des Fremdvergleichs formuliert: „no one knows what arm’s length means“. 69 Vgl. Weiss, DBW 1997, 260; Ludwig, SWI 1996, 170 hebt hervor, dass die Finanzbehörden an das Ergebnis des APA gebunden sind. 70 Vgl. umfassend zur Planungssicherheit Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Habil. iur., 2002, S. 1 ff. 71 Vgl. Ludwig, SWI 1996, 170; Sieker, IStR 1994, 432. 72 Vgl. Célestin, The formulary approach to the taxation of transnational corporations: a realistic alternative?, Diss. phil., 2000, S. 110; zum Vorteil der Vermeidung von Streitigkeiten zu dem hierzu verwandten Thema der verbindlichen Auskünfte im Besteuerungsverfahren Misera/Baum, Besteuerungsverfahren, Ubg 2008, 221 ff.

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nehmen positiv zu bewerten und als Fortschritt anzusehen.73 Jedoch muss festgehalten werden, dass die Dauer der Verfahren sehr lang sein kann und damit die Praktikabilität des Prozederes eingeschränkt wird.74 Zudem wird die Durchführung von APAs im Regelfall mit Aufwand – sowohl bei der Finanzverwaltung als auch beim Steuerpflichtigen – verbunden sein, da im Vorhinein eine detaillierte Begründung der Höhe des Verrechnungspreises erforderlich ist. Insofern stehen dem Gewinn an Planungssicherheit Effizienzverluste gegenüber. Problematisch wird die schwierige Handhabbarkeit insbesondere vor dem Hintergrund der Vielzahl der Fälle und Staaten, die einbezogen werden müssen. Insgesamt führt die mit den APAs verbundene Umständlichkeit und Langatmigkeit bei der Anwendung dazu, dass sich die vom Grundgedanken her positive Funktion von APAs häufig nicht entfalten kann.75 Baistrocchi schlägt vor diesem Hintergrund eine Dokumentation eines jeden durchgeführten APA vor, wobei die einzelnen Vereinbarungen – ohne Bekanntwerden vertraulicher Informationen – in eine Regel umgewandelt werden, auf die sich andere Steuerpflichtige berufen können,76 so dass es hierbei im Ergebnis zu einer Annäherung an ein Case-law kommt. Vorteilhaft an dieser Möglichkeit ist sicherlich die hierdurch eintretende Präzisierung des Fremdvergleichsbegriffs. Auch wenn grundsätzlich ein höherer Grad an Transparenz bei der Ermittlung von Fremdvergleichswerten durchaus vorteilhaft ist, so ist m. E. die konkrete Umsetzung im Rahmen des Case-law mit großen Problemen verbunden. So kann schnell ein nicht mehr überschaubares Regelungswerk entstehen, wobei die Steuerpflichtigen bestrebt sein werden, die für sie günstigen Fälle anzuwenden. Insgesamt kann dies zu einem hohen Aufwand führen. Des Weiteren bestehen Zweifel hinsichtlich einer tatsächlichen Einhaltung des Steuergeheimnisses, da wohl nicht in jedem Fall vermieden werden kann, dass z. B. Betriebsgeheimnisse an Konkurrenten gelangen.77

__________ 73 Vgl. Wills, Revenue Law Journal 1999, 31; vgl. hierzu jedoch auch Christensen, International Business 1997, S. 1157, der APAs eher als Symptom der Unsicherheit der Selbständigkeitsbetrachtung als eine mögliche Lösung der Problematik ansieht; so sieht auch Lebowitz, TNI 1999, Vol. 19, 1204 die Existenz von APAs eher als Beweis der problematischen Anwendbarkeit des Fremdvergleichs. 74 Vgl. Riecker, Körperschaftsbesteuerung in der Europäischen Union und das USamerikanische Modell der Unitary Taxation, Diss. iur., 1997, S. 93; im Hinblick auf die Erfahrungen in den USA Rihm, RIW 1992, 996 ff.; McIntyre, TNI 2000, Vol. 20, 1775 schätzt die durchschnittliche Dauer der Durchführung eines APAs auf 4,4 Jahre. 75 Vgl. auch hinsichtlich der hohen Kosten von bis zu 20.000 Euro für die Durchführung von APAs beispielsweise in Rumänien Breden, Tax Planning International 2007, September 2007, S. 22. 76 Vgl. Baistrocchi, TNI 2004, Vol 54, 246 f. 77 Vgl. den Hinweis von King, Transfer pricing and valuation in corporate taxation: Federal legislation vs. administrative problems, 1994, S. 65, dass die Finanzbehörden in den USA aufgrund des Steuergeheimnisses den genauen Inhalt der APAs nicht veröffentlichen.

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4. Konzepte einer Verlustverrechnung Eine Orientierung an der steuerlichen Selbständigkeit der einzelnen Konzerngesellschaften korrespondiert mit einer fehlenden Verlustverrechnungsmöglichkeit im Konzern und führt dazu, dass den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen im Konzern nicht Rechnung getragen wird und Doppelbesteuerung entsteht.78 Diese Problematik kann durch eine Berücksichtigung der Verluste anderer (auch ausländischer) Glieder gemindert werden;79 Zweifel bestehen bei einer rein nationalen Ausrichtung der Verlustverrechnung im Hinblick auf deren Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten des Binnenmarktes.80 Ein Ansatzpunkt einer Berücksichtigung steuerlicher Verluste besteht darin, Gewinne oder Verluste auf andere Glieder des Konzerns zu übertragen. Dies kann sowohl im Rahmen eines vertikalen (d. h. zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft) als auch eines horizontalen Verlustausgleichs (d. h. zwischen Tochtergesellschaften) erfolgen. Auch ist das Zulassen von Verlustübertragungsmöglichkeiten innerhalb der steuerlichen Gruppe von Unternehmen denkbar.81 Dies kann nach dem Vorbild des britischen bzw. irischen group reliefs im Gegensatz zur deutschen Organschaft dergestalt erfolgen, dass es nicht zu einer Zurechnung an eine Obergesellschaft kommt, sondern stattdessen Verluste oder Verlustanteile einer Konzerngesellschaft auf jede andere Konzerngesellschaft übertragen und dort steuerlich genutzt werden können.82 Eine steuerwirksame Verschiebung von Gewinnen ist im Rahmen einer group contribution möglich, der die Idee einer steuerwirksamen Einlage zugrunde liegt.83 Diese Einlage mindert bei der leistenden Gesellschaft als Betriebsausgabe die Bemessungsgrundlage und stellt bei der empfangenden Gesellschaft eine Betriebseinnahme dar.84 Der Unterschied zum group relief besteht darin, dass bei der group contribution im Ergebnis der Gewinn auf eine verlusterleidende Konzerngesellschaft übertragen wird, wohingegen beim group relief eine Übertragung des Verlustes erfolgt.85 Beide Konzepte zeichnen sich dadurch

__________ 78 Vgl. O’Shea, TNI 2008, Vol. 49, 105 ff.; Europäische Kommission, Mitteilung vom 19.12.2006, KOM (2006) 824 endgültig, S. 2. 79 Vgl. Kußmaul/Niehren, IStR 2008, 81 ff.; Schnitger, IWB 2008, Gruppe 2, Fach 11, 210 f.; Selling, Konzernbesteuerung, RIW 1987, 291; für die Regelungen in Dänemark, Frankreich, Österreich und Italien Hirschler/Schindler, IStR 2004, 505 ff.; Pache/Englert, IStR 2007, 844 heben hervor, dass bei den Steuerpflichtigen ein großes Bedürfnis der Erreichung eines grenzüberschreitenden Verlustausgleichs besteht. 80 Vgl. Scheunemann, RIW 2006, 79. 81 Vgl. hinsichtlich einer derartigen Umsetzung im Vereinigten Königreich und in Irland Balmes/Brück/Ribbrock, BB 2006, 186; Kußmaul/Niehren, IStR 2008, 82; Dörfler/Ribbrock, BB 2008, 306; Endres, Intertax 2003, 351. 82 Vgl. Wagner, StBp 2005, 190; Watrin/Sievert/Strohm, FR 2004, 7; Grotherr, StuW 1996, 377. 83 Vgl. Kußmaul/Niehren, IStR 2008, 82; Princen/Gérard, ET 4/2008, 179; Lüdicke/ Rödel, IStR 2004, 550. 84 Vgl. Herzig/Wagner, DB 2005, 2374 f.; Masui, CDFI 2004, Volume 89b, 29. 85 Vgl. Kußmaul/Niehren, IStR 2008, 82.

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aus, dass eine Verlagerung von Verlusten bzw. Einkommen zu sämtlichen Gliedern innerhalb der Gruppe möglich ist.86 5. Vermeidung des Entstehens von Zwischengewinnen Aufgrund der dargestellten Probleme im Hinblick auf mögliche Doppelbesteuerungswirkungen liegt es nahe, eine Abgrenzung auf Grundlage des Fremdvergleichs um Elemente einer Einheitsbetrachtung zu ergänzen mit dem Ziel, Zwischengewinne zu eliminieren. Hierbei wird mit der Zwischenerfolgseliminierung die Zielsetzung verfolgt, die zunächst nach Fremdvergleichsgrundsätzen abgerechneten innerkonzernlichen Leistungen wegen der fehlenden Realisierung gegenüber Dritten nicht als Umsatzvorgänge zu qualifizieren und die Gewinnrealisierung zu verschieben, bis ein entsprechender Realisationsakt gegenüber Externen erfolgt.87 Die Besteuerung soll somit erst dann eintreten, wenn das entsprechende Wirtschaftsgut die Gruppe verlässt. Auch soll vermieden werden, dass die Anschaffungskosten durch Abstellen auf den Fremdvergleich zu hoch ausgewiesen werden und somit zusätzliches Abschreibungssubstrat geschaffen wird.88 Zudem müssten die zukünftigen Abschreibungen bei der erwerbenden Gesellschaft korrigiert werden. Deutlich wird vor dem Hintergrund der Vermeidung der Besteuerung bisher nicht realisierter Gewinne, dass eine Eliminierung von Zwischengewinnen Bestandteil einer einheitstheoretischen Sichtweise eines Konzerns ist.89 Vom Grundsatz her lassen sich zur Vermeidung von Zwischengewinnen zwei unterschiedliche Ansatzpunkte unterscheiden.90 So kann zum einen eine einheitliche Zwischengewinneliminierung auf Ebene der Muttergesellschaft erfolgen. Diese setzt voraus, dass die einzelnen Gruppenmitglieder der Muttergesellschaft über die Durchführung von gruppeninternen Lieferungen und Leistungen Meldung erstatten.91 Deutlich wird, dass eine derartige Zwischengewinneliminierung auf Ebene der Gruppenmutter mit einem hohen Aufwand verbunden sein wird.92 Zum anderen ist denkbar, dass eine Zwischengewinneliminierung bei den beteiligten Gesellschaften dahin gehend erfolgt, dass diese Korrekturen bei den zwischen ihnen durchgeführten Vorgängen vorneh-

__________ 86 Vgl. Herzig/Wagner, DB 2005, 2375. 87 Vgl. Lüdicke/Rödel, IStR 2004, 552; Watrin/Sievert/Strohm, FR 2004, 11; Krebühl in Herzig (Hrsg.), Organschaft, 2003, S. 604; Selling, RIW 1987, 294; Haase, BB 1985, 1703; vgl. hierzu auch § 304 Abs. 1 HGB, der die Behandlung von Zwischenergebnissen im Konzernabschluss zum Inhalt hat. 88 Vgl. Fülbier/Pferdehirt, DB 2006, 177. 89 Vgl. Lüdicke/Rödel, IStR 2004, 552; Watrin/Sievert/Strohm, FR 2004, 11. 90 Vgl. für einen Überblick über mögliche Alternativen einer Vermeidung von Zwischengewinnen Rupp, Die Ertragsbesteuerung nationaler Konzerne, Diss. rer. pol., 1983, S. 43. 91 Vgl. Leone/Zanotti, ET 2005, 192. 92 Vgl. hierzu Wagner, Konzeption einer Gruppenbesteuerung, Diss. rer. pol., 2006, S. 126.

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men; insbesondere kann die Roll-Over-Methode Anwendung finden.93 Diese ist jedoch keine Methode der Zwischengewinneliminierung im engeren Sinne, da Zwischengewinne bereits durch eine Übertragung der Wirtschaftsgüter zu Buchwerten vermieden werden,94 was insofern dazu führt, dass stille Reserven übertragen werden. Alternativ ist auch möglich, dass bei der Übertragung von Anlagevermögen und auch bei grenzüberschreitenden Vermögensübertragungen eine Ausgleichspostenmethode zur Anwendung kommt. Hierbei werden durch die Bildung eines Ausgleichspostens bei der liefernden Gesellschaft Zwischengewinne vermieden.95 Dies kann in der Weise erfolgen, dass etwa in die Regelung der Organschaft eine Möglichkeit der Zwischenerfolgseliminierung integriert wird. Nicht vernachlässigt werden darf bei der Forderung nach einer Eliminierung von Zwischengewinnen allerdings der Praktikabilitätsaspekt. Denn anders als bei der Konzernrechnungslegung erfordert die steuerliche Zwischengewinneliminierung eine Wahrung der Steueransprüche der beteiligten Staaten, was mit erheblichem Dokumentationsaufwand verbunden sein kann.96 6. Verwendung gesamtgewinnbezogener Verrechnungspreismethoden Die im Rahmen des Fremdvergleichs bestehende Problematik einer nur unzureichenden Berücksichtigung der tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondere im Hinblick auf Integrationsvorteile, kann durch eine gesamtgewinnorientierte Bemessung des Verrechnungspreises (Profit-Split) abgemildert werden.97 Demnach wird in einem ersten Schritt der Gewinn ermittelt, der aus dem Vorgang zwischen den Nahestehenden resultiert, und in einem zweiten Schritt auf die beteiligten Glieder aufgeteilt.98 Dieser Vorgehensweise liegt der Gedanke einer gemeinsamen Erwirtschaftung des Gewinns durch die beteiligten Glieder zugrunde, so dass sich die Gewinnaufteilungsmethode tendenziell vom Dealing-at-Arm’s-Length-Prinzip entfernt.99 Beim Profit-Split-

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93 Vgl. hierzu hinsichtlich des „deferred gain or loss“ in den USA etwa Weber, DStZ 1979, 149; vgl. zu einem derartigen Vorgehen im Rahmen der konsolidierten Konzernbesteuerung in Spanien Grotherr, IStR 1995, 19. 94 Vgl. Komamiya, CDFI 2004, Volume 89b, 398. 95 Vgl. Hemmelrath, Die Ermittlung des Betriebsstättengewinns im internationalen Steuerrecht, Diss. iur., 1982, S. 180. 96 Vgl. Grotherr, StuW 1996, 360; Grotherr, IStR 1995, 19; Probleme ergeben sich insbesondere, wenn eine Einheit nicht mehr fortbesteht und somit die Zwischengewinnermittlung bei einzelnen Vorgängen rückgängig gemacht werden müsste, vgl. Hayn/ Küting, BB 1999, 2074. 97 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Einheitliche Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer in der Europäischen Union, März 2007, S. 55; Rasch/Rettinger, BB 2007, 358; Bauer, Neuausrichtung der internationalen Einkunftsabgrenzung im Steuerrecht, Diss. rer. pol., 2004, S. 164, 180 f. 98 Vgl. Sauerland, Besteuerung europäischer Konzerne, Diss. rer. pol., 2007, S. 20; Portner, IStR 1995, 357; Portner, IWB 1992, Fach 10, Gruppe 2, 872; zur Problematik fehlender Aufteilungskriterien Bauer, IStR 2006, 320; Jacobs/Spengel/Schäfer, Intertax 2004, 275. 99 Vgl. Paschke, Die „Unitary Taxation“ der US-Bundesstaaten, Leitbild für die Konzernbesteuerung in der Europäischen Union?, Diss. rer. pol., 2007, S. 119.

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Ansatz werden Synergieeffekte berücksichtigt; insbesondere verbleibt der etwa aufgrund des Markennamens entstehende Gewinn nicht beim letzten Glied des Netzwerkes. Dies spricht insbesondere für eine Anwendung bei integrierten Leistungsbeziehungen wie etwa modernen Managementformen.100 Problematisch ist hierbei jedoch die Notwendigkeit einer Identifizierung und Quantifizierung der Synergieeffekte,101 was im Regelfall auf große Probleme stößt.102 Deutlich wird, dass bei Anwendung gesamtgewinnbezogener Methoden, der Profit-Split-Methode, kein direkter Bezug zu vergleichbaren Transaktionen erforderlich ist. Insofern können durch ein verstärktes Abstellen auf Elemente der Einheitsbetrachtung die mit der Selbständigkeitsbetrachtung verbundenen Schwächen, insbesondere die Problematik der Identifikation von vergleichbaren Transaktionen, abgemildert werden.103 Somit bietet sich eine Anwendung vor allem im Fall nicht problemlos identifizierbarer Vergleichsvorgänge an,104 etwa bei individuellen – insbesondere immateriellen – Gütern.105 Vom Grundgedanken her kann ein verstärktes Abstellen auf die Einheit des Netzwerkes dazu beitragen, das Problem der Doppelbesteuerung zu vermeiden, da es hierbei nicht dazu kommt, dass ein Gewinn von den beteiligten Fisci mehrfach besteuert wird.106 Deutlich wird, dass die gesamtgewinnbezogenen Methoden vor dem Hintergrund ihrer grundsätzlich als positiv zu bewertenden Flexibilität durch ihre Abwendung vom Marktpreis auch mit einer vermehrten Subjektivität verbunden sind.107 Vor diesem Hintergrund kann es durch eine vermehrte Anwendung einheitstheoretischer Elemente zu einer Ausweitung der Bandbreite möglicher Verrechnungspreise kommen. Aus der Blickrichtung der zwischenstaatlichen Verteilungsgerechtigkeit ist problematisch, dass die beteiligten Staaten hierbei zu voneinander abweichenden Ergebnissen kommen können, was auch für Steuerpflichtige in Bezug auf Doppelbesteuerungswirkungen negative Auswirkungen entfalten kann; eine Abmilderung dieser Problematik ist etwa im Rahmen von Verständigungsverfahren denkbar.108

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100 Vgl. Häuselmann, IStR 2003, 139 ff.; Kaminski/Strunk, IStR 1999, 220 ff.; Rädler, Verrechnungspreise, DB 1995, 110. 101 Vgl. für die Herleitung eines Lösungsansatzes zur Aufteilung von Synergievorteilen Winterhager, WPg 1981, 35 ff. 102 Vgl. Ossadnik, DB 1997, 886 f. 103 Vgl. Li, TNI 2001, Vol. 24, 776; Berry/Bradford/Hines, TNI 1992, Vol 35, 731; im Hinblick auf gesamtgewinnorientierte Verrechnungspreismethoden Wills, Revenue Law Journal 1999, 24; Kauder, Tax Notes 1993, 486 hebt hervor, dass eine Abwendung von der Preisvergleichsmethode überfällig ist. 104 Vgl. Jacobs/Spengel/Schäfer, Intertax 2004, 275; hinsichtlich der Feststellung, dass das Kriterium der Vergleichbarkeit in den Hintergrund gerät Rehkugler/Vögele, BB 2002, 1938. 105 Vgl. Markham, University of Western Sydney Law Review 2004, 56. 106 Vgl. Rädler, Verrechnungspreise, DB 1995, 110. 107 Vgl. Frebel, Erfolgsaufteilung und -besteuerung im internationalen Konzern, Diss. rer. pol., 2006, S. 27; Joklik-Fürst, ÖStZ 1996, 104. 108 Die Verständigungsverfahrens sind jedoch mit einem großen Kosten- und Zeitaufwand verbunden, so dass allein aus diesem Grund bereits von deren Durchführung häufig Abstand genommen wird, vgl. Kahle, WPg 2007, 212; Vögele/Forster, IStR 2006, 537; Maisto, CDFI 1992, 200.

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7. Praktikablere Ausgestaltung durch Pooling von Geschäftsvorfällen Die Transaktionsbezogenheit bei der Selbständigkeitsbetrachtung entfaltet in einem Konzern mit hochgradiger konzerninterner Leistungsverflechtung eine Komplexität, die kaum lösbare praktische Probleme aufwirft.109 Somit ist klärungsbedürftig, ob diese Problematik durch eine Bezugnahme auf die Erkenntnisse des CCCTB-Projektes abgemildert werden kann. Die Integration von Einheitselementen in die Abgrenzung von Geschäftsvorfällen auf Grundlage des Fremdvergleichs kann sich bei diesen stark integrierten Strukturen anbieten; insbesondere ist es möglich, dass manche Vorgänge gar nicht voneinander getrennt werden können. Dies kann beispielsweise gegeben sein, wenn die unterschiedlichen Komponenten zwar getrennte Vorgänge sind, diese jedoch im Ergebnis eine Einheit darstellen. Insbesondere kann es hierzu im Fall von „Lockangeboten“ kommen, die zu einem niedrigen Preis durchgeführt werden, weil in diesem Rahmen gleichzeitig weitere Geschäfte abgeschlossen werden.110 Die Komplexität von Vorgängen – speziell bei einem hohen Verflechtungsgrad und einer starken wirtschaftlichen Integration der einzelnen Glieder – kann derart hoch sein, dass die tatsächlich bestehenden Vorgänge gar nicht erfassbar sind.111 Fände bei derart integrierten Strukturen eine Selbständigkeitsbetrachtung in Reinform Anwendung, würden grundsätzlich zusammenhängende Transaktionen für Zwecke der steuerlichen Betrachtung auseinander gerissen, was insgesamt zu unsachgemäßen Ergebnissen führt. Im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung unterstreicht ein zunehmender Einsatz von Kommunikationstechnologien und eine verstärkte wirtschaftliche Verflechtung die Zweckmäßigkeit einer Poolbetrachtung rechtlich eigenständiger Vorgänge.112 Nahe liegend ist daher, bei einer grundsätzlichen Umsetzung des Fremdvergleichs die hiermit verbundenen Probleme durch eine Zusammenfassung von bestimmten – genau abgegrenzten – Vorgängen abzumildern.113

__________ 109 Vgl. McDaniel, Tax Law Review 1994, 700 f.; McLure, ET 1989, August 1989, 248 vertritt sogar die Auffassung, dass aufgrund der Unüberschaubarkeit eine Anwendung des Fremdvergleichs gar nicht mehr möglich ist; Agúndez-García, The delineation and apportionment of an EU consolidated tax base for multijurisdictional corporate income taxation, European Commission, Directorate General Taxation and Customs Union, Taxation Papers, Working paper Nr. 9/2006, Luxemburg 2006 bezeichnet die Abgrenzung auf Grundlage des Fremdvergleichs mit den Worten „complex, costly and even conceptually questionable“. 110 Vgl. hinsichtlich der Feststellung, dass bei einer Bündelung der Vorgänge eine große Anzahl an Preisformen und -differenzierungen bestehen können Vormoor, Die Eignung öffentlicher Unternehmensdatenbanken zur Bestimmung von Verrechnungspreisen im Rahmen der Einkunftsabgrenzung im internationalen Konzern, Diss. rer. pol., 2005, S. 56. 111 Vgl. Teschke, Konzeption einer Besteuerung des laufenden Ertrags von Netzwerken Nahestehender, Diss. rer. pol., 2009, S. 122 ff. 112 Dies formuliert McIntyre, TNI 2004, Vol. 35, 917 folgendermaßen: „the problems of implementation seem to be getting worse rather than better“. 113 Vgl. Reinhardt, Erfolgsabgrenzung im Global Trading, Diss. rer. pol., 2003, S. 36; Rädler, DB 1995, 110.

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Klärungsbedürftig ist bei der Anwendung der Poolkonzeption, nach welchen Kriterien die Bildung eines derartigen Pools erfolgen kann. Denkbar ist, Vorgänge einzelner Wirtschaftsbranchen zusammen zu fassen.114 Auch kann darauf abgestellt werden, dass die zu bündelnden Vorgänge eine wirtschaftliche Einheit in Form einer organisatorischen Eigenständigkeit aufweisen.115 Vor diesem Hintergrund ist ein Heranziehen der Erkenntnisse der Organisationstheorie denkbar, wobei die Poolbildung entlang einer Wertschöpfungskette erfolgen kann.116 Deutlich wird insofern, dass das Poolkonzept zu einer verstärkten Berücksichtigung der tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten – auch bei Synergieeffekten – beitragen kann. Jedoch ist zu beachten, dass mit einer Zuordnung auch Kosten verbunden sind, so dass eine Abwägung der Vorteile des Pooling mit den entstehenden Kosten erforderlich ist.117 Zudem können aufgrund von Auslegungsspielräumen bei der Einbeziehung von Gliedern in den Pool Strategien der Steuerminimierung verfolgt werden. Insbesondere ist möglich, dass bei einer derartigen Zusammenlegung der Vorgänge Gewinnpotential übertragen werden kann, wobei fraglich ist, inwieweit dies einzubeziehen ist und nach welchen Maßstäben eine Bewertung erfolgen kann.118 Im Hinblick auf das Veranlassungsprinzip bleibt festzuhalten, dass sich beim Pooling – wie bei jeder Bündelung von Vorgängen – Einschränkungen hinsichtlich der Bemessung der individuellen Leistungsfähigkeit ergeben, da nicht der individuelle Beitrag einer jeden Transaktion bestimmt wird.119 8. Anwendung einer formelhaften Gewinnaufteilung in Ausnahmefällen Den mit dem Fremdvergleich verbundenen Nachteilen kann durch eine Anwendung der formelhaften Gewinnaufteilung in Ausnahmefällen begegnet werden. Insbesondere ist dies denkbar, wenn der Steuerpflichtige nachweist, dass eine Anwendung des Fremdvergleichs zu unsachgemäßen Ergebnissen führt oder eine Anwendung unpraktikabel ist.120 Auch könnte eine formelhafte Gewinnaufteilung Anwendung finden, wenn aufgrund von Eigenheiten eine Üblichkeitsbetrachtung nicht möglich ist,121 speziell im Fall einer nicht eindeutig möglichen Identifikation der Quelle, z. B. bei Vorliegen von Integrationsvorteilen. In diesem Fall wäre die Anwendung des Fremdvergleichs bereits deswegen problematisch, weil derartige Vorgänge zwischen fremden Dritten gar nicht stattfinden würden. Da insofern keine vergleichbaren Vorgänge

__________ 114 Vgl. Lebowitz, TNI 1999, Vol. 19, 1207. 115 Diese Voraussetzung wird im Rahmen der Bildung von Transferpakten bei der Funktionsverlagerung genannt, vgl. Blumers, BB 2007, 1760. 116 Vgl. für eine Darstellung dieser Möglichkeit im Zusammenhang mit der Funktionsverlagerung Borstell/Schäperclaus, IStR 2008, 276. 117 Vgl. Lebowitz, TNI 1999, Vol. 19, 1207. 118 Vgl. im Zusammenhang mit Funktionsverlagerungen Blumers, BB 2007, 1762. 119 Vgl. Oestreicher, Konzern-Gewinnabgrenzung, Habil. rer. pol., 2000, S. 193. 120 Vgl. Philipp, DStZ/A 1974, 20; Coffill/Willson, State Tax Notes 1993, 1238. 121 Dies ist insbesondere bei individuellen Anfertigungen der Fall, vgl. Wendel, IStR 2004, 122.

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Nobert Herzig

zwischen Fremden existieren,122 ist auch ein Herleiten eines hypothetischen Fremdverhaltens nicht möglich.123 Ein Anwendungsbereich der formelhaften Gewinnaufteilung in Ausnahmefällen kann bei individuellen Erzeugnissen bestehen.124 Diese entfalten gerade bei Konzernen große Relevanz, da durch die Integration betrieblicher Funktionen Verbundeffekte erzielt werden können, die bei einer Durchführung von Geschäftsvorfällen mit fremden Dritten grundsätzlich nicht entstehen.125 Die Relevanz individueller Leistungen ist gegenüber früheren Zeiten deutlich gestiegen, so dass sich auch die Problematik der Identifikation von Fremdvergleichspreisen zuspitzt. Anhand der Rechtsprechung des RFH der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wird deutlich, dass es bei den Vorgängen zwischen verbundenen Unternehmen überwiegend um Gegenstände wie Rüben oder elektrischen Strom ging, die relativ einfach einer Fremdvergleichsbewertung zugänglich sind.126 Zudem waren die Anzahl der entsprechenden Transaktionen und der Verflechtungsgrad gering, so dass die einzelnen Glieder eher als separate Handlungssubjekte wahrgenommen werden konnten. Problematisch ist die Bewertung mit dem Fremdvergleichspreis aber bei immateriellen Vermögenswerten, da deren Wert insbesondere aus zukünftigen Gewinnen resultiert und häufig keine Vergleichstransaktionen vorliegen. Auch kann der Fremdvergleich problematisch sein, wenn stark integrierte Strukturen bestehen.127 Dies kann der Fall sein, wenn die Erwirtschaftung des Ergebnisses durch mehrere Unternehmen erfolgt, der Abschluss des Geschäftes jedoch nur bei einem der Unternehmen zustande kommt. Eine formelhafte Gewinnaufteilung kann auch beim Handel mit Finanzderivaten durch Mitarbeiter von verbundenen Unternehmen – dem sog. „global trading“ – erfolgen, da eine Anwendung des Fremdvergleichs die tatsächlichen Gegebenheiten nicht sachgerecht darstellen kann.128

V. Fazit und Ausblick Das Modell der CCCTB sieht eine formelhafte Gewinnaufteilung vor, wobei auf der ersten Stufe eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für alle Teile des Konzerns ermittelt wird, die sich innerhalb der EU befinden. Sowohl mit der Abgrenzung der Gewinne auf Grundlage des Fremdvergleichs als auch mit der CCCTB sind Stärken und Schwächen verbunden. Problematisch bei einer Anwendung des Fremdvergleichs ist vor allem die mangelnde Berücksichtigung

__________ 122 Vgl. Bartelsman/Beetsma, Journal of Public Economics 2003, 2227. 123 Vgl. Wassermeyer, StbJb 1998/99, 166; Portner, IStR 1995, 356; Langbein, Tax Notes 1989, 1393. 124 Vgl. Sørensen, ITPF 2004, 94; Li, TNI 2001, Vol. 24, 798. 125 Vgl. Kleineidam, IStR 2001, 724. 126 Vgl. RFH v. 11.9.1930 – I A 39/30, RStBl. 1930, 688; v. 10.5.1921 – I A 218/20, RFHE 5, 294; sowie Andresen, Konzernverrechnungspreise für multinationale Unternehmen, Diss. rer. pol., 1999, S. 223. 127 Vgl. Portner, IStR 1995, 356. 128 Vgl. Bauer, IStR 2006, 322; Sieker, IStR 1994, 432 f.

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der wirtschaftlichen Verhältnisse und der hohe Aufwand. Naheliegend ist somit die Überlegung, ob die Nachteile des Fremdvergleichs durch eine Bezugnahme auf Erkenntnisse des CCCTB-Projektes abgemildert werden können. Eine Vereinheitlichung steuerlicher Regelungen ist aus Praktikabilitätserwägungen und vor dem Hintergrund der Förderung des Binnenmarktes positiv zu werten. Insbesondere kann auch eine einheitliche Ermittlung von Verrechnungspreisen Doppelbesteuerungseffekten entgegen wirken und zudem die Befolgungskosten verringern. Eine handhabbare Ausgestaltung von Advance Pricing Agreements unterstützt eine verbesserte betriebswirtschaftliche Planungssicherheit und vermindert die mit der Verrechnungspreisermittlung verbundene Subjektivität. Zur Berücksichtigung der tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse und zur Vermeidung von Doppelbesteuerungswirkungen kann die Integration von Elementen der Verlustverrechnung und der Vermeidung des Entstehens von Zwischengewinnen beitragen. Um Integrationsvorteile zu berücksichtigen, bietet sich eine gesamtgewinnbezogene Bemessung der Verrechnungspreise an, womit jedoch eine vermehrte Subjektivität verbunden ist. Da beim Fremdvergleich grundsätzlich sämtliche Vorgänge betrachtet werden müssen, kann die Komplexität stark ansteigen, was für eine Zusammenfassung der einzelnen Vorgänge spricht. Auch könnte die formelhafte Gewinnaufteilung in Ausnahmefällen Anwendung finden, etwa bei stark integrierten Funktionen. Es zeigt sich somit, dass – auch wenn eine formelhafte Gewinnaufteilung auf EU-Ebene nicht umgesetzt wird – eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Einheit von Konzernen für Zwecke der Besteuerung durchaus Impulse für eine Weiterentwicklung des Fremdvergleichs liefern kann. Hierdurch können die Vorteile des Fremdvergleichs – insbesondere dessen Etabliertheit, universelle Anwendbarkeit und Flexibilität bei sich verändernden Rahmenbedingungen – beibehalten und gleichzeitig dessen Nachteile vermindert werden.

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Francesco Moschetti

Die Steuergerechtigkeitsgrundsätze der italienischen Verfassung als Grundlage der sich entwickelnden Rechtsordnung der Europäischen Union* Inhaltsübersicht I. Notwendigkeit gemeinsamer steuerrechtlicher Grundsätze in Europa, die von den allgemein anerkannten Gerechtigkeitskriterien ausgehen, und die Prinzipien der Steuergerechtigkeit gemäß der italienischen Verfassung, die auf Grundwerten beruhen, die auch zu den Werten der Europäischen Union gehören II. Die verfassungsrechtliche Pflicht, zur Deckung der Staatsausgaben auf der Grundlage der Leistungsfähigkeit beizutragen (Art. 53 der italienischen Verfassung) leitet sich aus dem Solidaritätsprinzip (Art. 2 der italienischen Verfassung) und der Art von Demokratie (Art. 1 der italienischen Verfassung) ab, für die sich der Verfassungsgeber entschieden hatte: eine Demokratie, die nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten begründet III. Die Solidarpflicht hängt von der Leistungsfähigkeit ab, die insoweit „Voraussetzung“, „Maßstab“ und „Höchstgrenze“ ist. Die Leistungsfähigkeit dient als Vergleichsmaßstab (tertium comparationis) der steuerlichen Gleichbehandlung IV. Die Leistungsfähigkeit als subjektive Eignung, zur Deckung der Staatsausgaben beizutragen, kann nicht wahllos an wirtschaftliche Tatsachen anknüpfen: Sie erfordert eine Wirtschaftskraft, die die Fähigkeit indiziert, finanzielle Mittel zugunsten des Gemeinwohls und zu Lasten der Befriedigung individueller Bedürfnisse zu entbehren.

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Sie muss sich darüber hinaus an den Verfassungswerten orientieren. Diese Grundsätze sind anzuwenden bei der Bestimmung der steuerbaren Sachverhalte, der Bemessungsgrundlage, des steuerfreien Existenzminimums und der Steuerfreiheit der wirtschaftlichen Mittel, die der Sicherung einer freien und würdigen Existenz der Familie dienen V. Weitere Beschränkungen des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums aus Art. 53 der Verfassung ergeben sich aus der Verbindung von „alle(n)“ und „ihrer“ Leistungsfähgkeit. Dabei ist das Erfordernis der „Effektivität“ zu wahren. Dadurch werden den gesetzlichen Vermutungen und Typisierungen Grenzen gesetzt. Die Pflicht zum „Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben“ erfordert die Leistungsfähigkeit eines jeden im konkreten Einzelfall VI. Auch in systematischer Hinsicht ergeben sich aus Art. 53 der Verfassung weitere Beschränkungen für den Gesetzgeber: Die Steuern müssen ohne Lücken oder Zusatzbelastungen, soweit sie nicht durch verfassungsrechtliche Entscheidungen gerechtfertigt sind, aufeinander abgestimmt sein VII. Die Prinzipien steuerlicher Gerechtigkeit, die sich aus der italienischen Verfassung ergeben, sind ein Teil der allgemeinen Verfassungswerte

* Übertragung aus dem Italienischen durch Dr. Nadya Bozza-Bodden.

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Francesco Moschetti VIII. Das ausgleichende Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips in der jüngeren Rechtsprechung des Kassationsgerichts: Das Bestehen der Leistungsfähigkeit muss nachweisbar sein IX. Das Leistungsfähigkeitsprinzip und die aus ihm abgeleiteten Werte bieten sich als Grundlage zur Bestimmung

der gemeinschaftlichen europäischen Prinzipien des Steuerrechts und als Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an … X. … und kann in Zukunft als ein Wert zur Bestimmung der „eigenen wirtschaftlichen Mittel“ dienen

I. Notwendigkeit gemeinsamer steuerrechtlicher Grundsätze in Europa, die von den allgemein anerkannten Gerechtigkeitskriterien ausgehen, und die Prinzipien der Steuergerechtigkeit gemäß der italienischen Verfassung, die auf Grundwerten beruhen, die auch zu den Werten der Europäischen Union gehören Der Vertrag von Lissabon, der am 13.12.2007 unterzeichnet wurde (und am 1.12.2009 in Kraft getreten ist), hat die Europäische Union nicht in einen „Superstaat“ oder in einen föderalen Staat verwandelt, jedoch sind in ihm juristische Werte verankert1, die zum Teil in anderen Verträgen wurzeln und zum Teil von dem Europäischen Gerichtshof2 aufgestellt wurden. So bezieht sich der Vertrag über die Europäische Union (der durch den Vertrag von Lissabon geändert wurde) schon zu Beginn in der Präambel auf das „kulturelle Erbe Europas“ – ein Erbe, das auf den „Werten“ beruht, die als Seele und Kultur3 zu sehen sind, und die die nationalen Rechtsordnungen in das neue europäische „Haus“ eingebracht haben, damit Europa sich nicht nur als freier Markt, sondern immer mehr auch als ein Subjekt mit eigener ideeller Inspiration4 auszeichnet.

__________ 1 G. Bizioli (Imposizione e Costituzione europea, in Rivista di diritto tributario, 2005, I, 248) führt aus, dass seit dem Beginn der europäischen Integration die gemeinschaftliche Rechtsprechung davon ausgegangen ist, dass die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft ist. Diese zeichnet sich durch gemeinsame Prinzipien und Grundrechte aus, die die normative und administrative Macht der gemeinschaftlichen und nationalen Institutionen beschränken. 2 Zur Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs bei der Erarbeitung gemeinschaftlicher Prinzipien des europäischen Rechts, insbesondere des Steuerrechts vgl. F. Vanistendael, Le nuove fonti del diritto ed il ruolo dei principi comuni nel diritto tributario, in Per una Costituzione fiscale europea, hrsg. von A. Di Pietro, 2008, S. 91 ff. 3 W. Schäuble (Il Trattato di Lisbona espressione dell’Unità culturale dell“Europa, in Le nuove istituzioni europee. Commento al Trattato di Lisbona, hrsg. von F. Bassanini e G. Tiberi, Bologna, 2008, übersetzt durch M. L. Petrelli) erinnert sich, dass sich die Präambel des Vertrages von Lissabon zum ersten Mal auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas beruft und sich dadurch indirekt auch auf einen Ethos bezieht, den alle Mitgliedstaaten teilen. Obwohl insoweit eine Vielzahl von Auslegungsmöglichkeiten bestehen, dient dies als normative Quelle für die „Gemeinschaft der Europäer“, die sich selbst auch als ethische Gemeinschaft verstehen möchte. 4 W. Schäuble (a. a. O.) führt des Weiteren aus, dass die europäische Politik nicht nur von der Rechtsschaffung oder der Aufstellung guter Vorsätze lebt, sondern auch von einer spirituellen Idee eines einheitlichen Europas getragen werden muss. Der Autor

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Die italienische Verfassung als Grundlage für die Rechtsordnung der EU

Der europäische Richter agiert als römischer Prätor, der Regeln aufstellt, die sich nicht ausdrücklich aus Normen ergeben, sondern die aus allgemeinen Prinzipien der europäischen Rechtsordnung oder aus den einzelnen nationalen Rechtsordnungen abgeleitet werden. Man denke z. B. an die Rechtsprechung zur Vermeidung des Rechtsmissbrauchs im Bereich der Umsatzsteuer.5 Es existiert keine Norm, die ausdrücklich bestimmt, unter welchen konkreten Voraussetzungen ein solcher Rechtsmissbrauch gegeben ist. Der Europäische Gerichtshof musste bei der Erarbeitung dieser Grundsätze zum einen dem Erfordernis der Rechtssicherheit (als unentbehrliche Voraussetzung für die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit) und zum anderen dem Erfordernis der Kohärenz Rechnung tragen, wonach das Recht der Union nicht denjenigen schützen kann, der das Recht im Widerspruch zu den vom Gesetz verfolgten Zielen nutzt.6 Der Vermeidung des Rechtsmissbrauchs im Bereich der Umsatzsteuer wird von dem Europäischen Gerichtshof eine solch große Bedeutung beigemessen, dass er sich dabei sogar über einen nationalen Grundsatz hinwegsetzt, der als unantastbar angesehen wurde, nämlich die Rechtskraft eines Urteils.7 Der Europäische Gerichtshof hat eine Norm „kreiert“, indem er einen allgemeinen Grundsatz (die Vermeidung des Rechtsmissbrauchs) über einen anderen allgemeinen Grundsatz (die Rechtssicherheit) gestellt hat. Bei den sog. Umsatzsteuer-Karussellen hat der Europäische Gerichtshof hingegen das richtige Gleichgewicht zwischen Rechtssicherheit und Vermeidung von Missbrauch gefunden, indem er das Prinzip des Schutzes des gutgläubigen Erwerbers begründet hat.8 Meines Erachtens fällt der Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen durch den Europäischen Gerichtshof zugunsten des Fiskalinteresses aus, indem der Vorsteuerabzug nicht nur dem bösgläubigen Erwerber – zu Recht – versagt wird, sondern auch dem Erwerber, der in objektiver Hinsicht hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatzsteuer-Betrug teilnimmt. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs führt zu einem Rechtsverständnis, das insgesamt gesehen im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen steht, das gleichwohl aber „kreativ“ ist.

__________

5 6

7 8

zitiert folgenden Satz Robert Schumanns: „Bevor Europa ein militärisches Bündnis oder eine wirtschaftliche Union sein kann, muss es eine kulturelle Einheit im engsten Sinne dieses Begriffs darstellen. Europa muss sich eine Seele geben.“ Vgl. auch G. Guarino (Verso una fase costituente nell’Unione Europea, in Rivista italiana di Diritto Pubblico Comunitario, 2009, I, S. 1289), wonach die Europäische Union ohne Seele und ohne Regierung geboren wurde. Vgl. z. B. EuGH v. 21.2.2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, Rivista di diritto tributario, 2006, Parte III, S. 107 ff., mit Anmerkung M. Poggioli. Im Halifax-Urteil (a. a. O.) findet sich eine Definition des Missbrauchs, die zwei Gesichtspunkten Rechnung trägt: a) dem Gegensatz zwischen der formellen Befolgung einer Norm und dem Verstoß gegen ihre Ratio; b) dem Verhalten, das in objektiver Hinsicht im Wesentlichen auf die Erlangung eines steuerlichen Vorteils gerichtet ist. EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-2/08 – Fallimento Olimpiclub. Vgl. z. B. das Axel Kittel-Urteil (EuGH v. 6.7.2006 – Rs. C-439/04 und C-440/04) und das Optigen-Urteil (EuGH v. 12.1.2006 – Rs. C-354/03, C-355/03, C-484/03).

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Francesco Moschetti

Entsprechend gestaltet sich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Missbrauchsvermeidung in den Fällen der Ausfuhrlieferungen.9 Auch hier hat er entschieden, dass für den Betrug durch den Erwerber der Lieferer nicht aufkommen muss, wenn er hiervon keine Kenntnis hatte oder haben konnte. Der Europäische Gerichtshof hätte aber auch die Möglichkeit gehabt, dem Verkäufer die Verantwortung für die Umsatzsteuer nur aufzubürden, wenn er tatsächlich Kenntnis von dem Betrug gehabt hätte. Jedoch hat er es bevorzugt, auch den nachlässigen Lieferer zur Verantwortung zu ziehen (der nicht die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns beachtet hat, um den Betrug durch den Dritten zu erkennen). Aus dieser Rechtsprechung folgt die nicht in einer bestimmten Norm vorgesehene Pflicht einer aktiven Zusammenarbeit von wirtschaftlich Tätigen und Finanzverwaltung. Dies führt zu einer größeren Gewichtung der Solidarpflichten zu Lasten des Legalitätsprinzips. Insoweit erscheint die Rechtsprechung meines Erachtens fragwürdig, da die Solidarität unter Beachtung der Rechtssicherheit und damit auch im Einklang mit den Gesetzen (dem Legalitätsprinzip) umgesetzt werden kann bzw. müsste. Wenn der Gesetzgeber jedoch nicht tätig wird und die Dringlichkeit der Probleme eine Regelung im konkreten Einzelfall erfordert, muss der Richter eine solche selber schaffen, indem er sie aus Grundsätzen ableitet oder sogar Grundsätze gegeneinander abwägt und gewichtet. Die Verspätung der Politik schafft Raum für die rechtsprechende Gewalt. Der Richter schafft also Normen unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Werte (Rechtssicherheit, Solidarität, Bekämpfung der Steuerhinterziehung, Verhältnismäßigkeit). Allerdings besteht für die richterliche Entscheidung im Einzelnen auch unter Berücksichtigung der Werte ein Spielraum (z. B. wäre es auch gut vertretbar gewesen, dass nur derjenige die Verantwortung für den Umsatzsteuerbetrug des Dritten übernimmt, der diesen Betrug tatsächlich kannte). Hierbei ist auch der Einfluss der juristischen Erfahrung der einzelnen Staaten von besonderer Bedeutung10: Es ist z. B. bekannt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz seinen Ursprung in der Rechtsprechung des deutschen BVerfG findet, und dass die Vermeidung von Steuerumgehungen in § 42 AO verankert ist. Vor dem Hintergrund, dass sich die Rechtsordnung der Europäischen Union noch in der Entwicklung befindet, und dass hierbei eine natürliche Angleichung der Rechtsgrundsätze der einzelnen Staaten auf europäischer Ebene stattfindet, soll mit diesem Literaturbeitrag dargelegt werden, dass die italienische Steuerrechtsordnung verfassungsrechtliche Grundsätze der Steuergerechtigkeit beinhaltet, die auf die Grundwerte der Rechtsordnung zurückzuführen sind (Menschenwürde, Solidarpflichten und -rechte) und die auch Werte der

__________ 9 Vgl. z. B. das Netto Supermarkt GmbH-Urteil (EuGH v. 21.2.2008 – Rs. C-271/06). 10 So auch F. Vanistendael, a. a. O., S. 91 ff., 113.

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Die italienische Verfassung als Grundlage für die Rechtsordnung der EU

Europäischen Union darstellen11. Sie verdienen bereits heute die Aufmerksamkeit des Europäischen Gerichtshofs bei der Berücksichtigung der „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“12. Weder der Vertrag über eine Verfassung für Europa (der am 24.10.2004 in Rom unterzeichnet wurde, aber noch nicht in Kraft getreten ist), noch der Vertrag von Lissabon haben die Steuerhoheiten in der Union verändert; die Mitgliedstaaten scheuen auch heute immer noch davor zurück, Steuerhoheiten auf die Union13 zu übertragen. Dabei ist allerdings zuzugestehen, dass diese Probleme der nicht anhaltbaren Geschichte geschuldet sind und dass die Rechtsordnung auch durch den Europäischen Gerichtshof geschaffen wird. Außerdem können gemeinsame allgemeine Grundsätze der Steuergerechtigkeit14 sowohl die Wettbewerbsgleichheit in einem gemeinschaftlichen Markt, als auch das allgemeine Bewusstsein für eine europäische Staatsbürgerschaft fördern. Im Folgenden sollen nunmehr die allgemeinen Grundsätze der Steuergerechtigkeit in Italien dargestellt werden, die heute der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und morgen (hoffentlich) einer ausdrücklichen Definition gemeinsamer europäischer, auch steuerrechtlicher Werte dienen können15.

__________ 11 Vgl. u. a. Art. 2, sowie Art. 6 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Union, die die Rechte, die Freiheit und die Grundsätze, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt sind, anerkennen, deren juristischer Wert dem eines Vertrages gleich steht. 12 Es sei daran erinnert, dass die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ gem. Art. 6 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union ein Bezugspunkt für das Unionsrecht sind. 13 Zur Bedeutung der Besteuerung in der Europäischen Union vgl. G. Bizioli, a. a. O., S. 234 ff. Diese ist auch Gegenstand der Schrift von P. Boria, L’Anti-Sovrano. Potere tributario e sovranità nell’ordinamento comunitario, Turin, 2004, in der die ausschließlich negative Logik (Verbot von Diskriminierungen, Verbot von Beschränkungen der Grundfreiheiten etc.) und das Fehlen einer Zielrichtung in Richtung Sozialstaat hervorgehoben werden (a. a. O., S. 2). Einerseits nimmt die Europäische Union den Staaten Steuerhoheiten weg, andererseits mangelt es ihr jedoch an Sozialwerten, die seit Jahrzehnten alle Verfassungen der europäischen Staaten auszeichnen (a. a. O., S. 6). 14 Zum Erfordernis eines Rahmens gemeinschaftlicher Regeln, innerhalb derer die Europäische Union tätig sein kann vgl. F. Vanistendael, a. a. O., S. 95. Die Notwendigkeit gemeinschaftlicher Grundwerte wird auch gefordert von R. Chieppa, in Per una costituzione fiscale europea, a. a. O., S. 357; zustimmend A. Di Pietro in Per una Costituzione fiscale europea, a. a. O., S. 439 ff. 15 Ein solcher Vorschlag wurde anlässlich der Vorbereitungen des Vertrages über eine Verfassung für Europa, der am 24.10.2004 unterzeichnet wurde, von einigen Wissenschaftlern der ASTRID (Gesellschaft zur Erforschung der Reformen der demokratischen Institutionen und der Reform der öffentlichen Verwaltung), die von Prof. A. Fantozzi geleitet wurde, formuliert. A. Fantozzi (Dalla non discriminazione all’eguaglianza in materia tributaria, in Per una Costituzione Fiscale Europea, a. a. O., S. 205) weist darauf hin, dass ASTRID vorgeschlagen hatte, folgende Prinzipien in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union einzufügen: 1) Steuererhebungen basieren auf dem Prinzip des Konsenses. Sie werden von den Organen geregelt, die die Gemeinschaft vertritt, die diese erhalten. 2) Mittels der Steuern wird der Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben auf der Grundlage der individuellen Leistungsfähigkeit festgelegt. Dabei sind die freie und

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Diese können also den „Polarstern“ darstellen, an dem die Harmonisierung und Annäherung der Gesetzgebungen orientiert werden können16, die nicht nur auf die Funktionstüchtigkeit des Gemeinschaftsmarktes gerichtet sind17, sondern vielmehr auch auf die Schaffung einer gemeinschaftlichen „gerechten“ Besteuerung18. II. Die verfassungsrechtliche Pflicht, zur Deckung der Staatsausgaben auf der Grundlage der Leistungsfähigkeit beizutragen (Art. 53 der italienischen Verfassung) leitet sich aus dem Solidaritätsprinzip (Art. 2 der italienischen Verfassung) und der Art von Demokratie (Art. 1 der italienischen Verfassung) ab, für die sich der Verfassungsgeber entschieden hatte: eine Demokratie, die nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten begründet In der italienischen Rechtsordnung sind die Grundsätze gerechter Besteuerung in Art. 53 der Verfassung verankert. Dieser lautet: „Alle müssen auf der Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit zur Deckung der Staatsausgaben beitragen. Das Steuersystem ist progressiv auszurichten.“

Die Steuerpflicht wird also nicht schlicht der Steuerhoheit unterworfen, sondern ist in seiner Funktion zu sehen, zur Deckung der Staatsausgaben beizutragen, die „allen“, die über „Leistungsfähigkeit“ verfügen im Rahmen dieser „ihrer“ Leistungsfähigkeit, aufgegeben wird. Damit besteht die Steuerpflicht

__________

würdige Existenz des Steuerpflichtigen und seiner Familie, die Solidarität und die Rechtssicherheit zu beachten. Sie dürfen keinen enteignenden Charakter haben. 3) Die Union fördert und schützt die finanzielle Autonomie der untergeordneten Körperschaften. 4) Die Finanzverwaltung ist im Einklang mit dem Gesetz sowie mit den Grundsätzen der Neutraliät, der Gleichheit und des Vertrauensschutzes tätig. Vgl. hierzu auch A. Fantozzi, Un’occasione sfumata?, in Rivista di diritto tributario, 2003, IV, S. 97 ff., S. LA Rosa, Osservazioni sulle norme tributarie da inserire nel „Trattato costituzionale europeo“, ebenda, S. 112 ff., G. Marongiu, Costituzione Europea e principi di ripartizione dei tributi, ebenda, S. 114 ff., G. MAISTO, Progetto Costituzione europeo. Appunti di lavoro, ebenda, S. 124 ff. S. a. P. Boria, a. a. O., S. 122-123, sowie die entsprechende Einführung von A. Fantozzi S. XIII–XIV. 16 Siehe Art. 113 und 114 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. 17 G. Bizioli, a. a. O., S. 257, hebt hervor, dass die Harmonisierung heute nicht den Zweck der Gerechtigkeit oder der Rationalität des Steuersystems verfolgt, sondern die Beseitigung der offensichtlichsten steuerlichen „Asymmetrien“, die der Realisierung des gemeinschaftlichen Marktes entgegenstehen. 18 Zur Notwendigkeit, dass das harmonisierte Steuerrecht ein gerechtes Steuerrecht sein muss, vgl. K. Tipke, Der Grundsatz der Steuergerechtigkeit, in Besteuerung von Einkommen. Rechtsvergleich Italien, Deutschland und Spanien als Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts in Europa, hrsg. von K. Tipke und N. Bozza, Berlin, 2000, S. 10 ff.; ebenso J. Lang, I presupposti costituzionali dell’armonizzazione del diritto tributario in Europa, in Trattato di diritto tributario, hrsg. von A. Amatucci, Band I, Halbband II, Padua, 1994, S. 765 ff., 783. Zum Vorrang der Gerechtigkeit bei der Suche nach und der Auswahl von Lösungen zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben, vgl. G. Falsitta, Giustizia tributaria e tirannia fiscale, ed. Giuffrè, Milano, pp. XXV, sowie Profili della tutela costituzionale della giustizia tributaria, ebenda, S. 9 ff., 19 ff., 80.

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Die italienische Verfassung als Grundlage für die Rechtsordnung der EU

nicht im Verhältnis zu dem, was der Einzelne erhalten hat, sondern im Verhältnis zu dem, was der Einzelne geben kann.19 Es handelt sich folglich um die Pflicht, an einem „Mannschaftsspiel“ teilzunehmen: Die „Staatsausgaben“ sind nicht nur in formeller Hinsicht öffentlich (die Ausgaben der öffentlichrechtlichen Körperschaften), sondern auch in materieller Hinsicht. Es handelt sich um die Ausgaben, die die Gemeinschaft betreffen und ihr zum Vorteil gereichen – jene Öffentlichkeit („Mannschaft“), jene Subjekte, denen die Pflicht zum „Beitrag“ auferlegt wird. Damit geht eine „ethische Pflicht“ einher20. Die öffentliche Angelegenheit stellt in einem demokratischen Staat – wie dem Bericht der Wirtschaftskommission unter dem Vorsitz von Ezio Vanoni, der 1946 dem Verfassungsgeber überreicht wurde, zu entnehmen ist – eine Angelegenheit aller dar. Alle haben die Pflicht, zu der gemeinsamen Sache mit einem eigenen persönlichen Opfer einen Beitrag zu leisten. Die Verbindung von Art. 53 mit Art. 2 der Verfassung verstärkt diese Vorstellung der gemeinschaftlichen Verantwortung für die Erreichung eines gemeinsamen Ziels: Die Pflicht zum „Beitrag zur Dekung der Staatsausgaben“ wird als Solidarpflicht angesehen, somit als eine Pflicht, einen eigenen Beitrag zugunsten des Kollektivinteresses im Verhältnis zu den eigenen Möglichkeiten zu leisten. Die „Fähigkeiten“ des Einzelnen haben auch eine altruistische Bestimmung: Sie dienen nicht nur der Umsetzung eigener Interessen, sondern auch der Umsetzung gemeinschaftlicher Interessen. Dies kommt in Art. 53 Abs. 1 der Verfassung zum Ausdruck, aber auch zuvor schon in Art. 4 Abs. 2 der Verfassung, wonach das Recht auf Arbeit besteht, jedoch auch die Pflicht, auf der Grundlage der eigenen Fähigkeiten und Entscheidungen zum materiellen oder geistigen Fortschritt der Gesellschaft beizutragen. Die gesellschaftliche Funktion der Rechte kommt auch in den Normen zum Ausdruck, die die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit (Art. 41 Abs. 2 der Verfassung) und das Eigentum (Art. 42 Abs. 2 der Verfassung) schützen. Die auch soziale Funktion der Republik ergibt sich besonders deutlich aus Art. 3 Abs. 2 der Verfassung, wonach die Pflicht besteht, wirtschaftliche und soziale Hindernisse, die die volle Entwicklung des Menschen hindern, zu beseitigen. Die Republik dient damit nicht der Sicherung einer bloß formalen Gleichheit, sondern der Förderung einer größeren substantiellen Gleichheit. Die Demokratie, von der der Verfassungsgeber ausgegangen ist, stellt nicht nur ein System der Rechte dar, sondern auch der Pflichten, die auf der Vorstellung einer solidarischen Gemeinschaft beruhen.

__________ 19 So auch K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, Köln, 2000, S. 479. 20 Zum ethischen Charakter der Steuerpflicht vgl. J. Lang, Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, in Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, Festschrft für Klaus Tipke, hrsg. von J. Lang, Köln, 1995, S. 3 ff. Dies entspricht auch den Erwägungen von E. Vanoni, vgl. hierzu De Mita, La funzione del tributo nel pensiero di Ezio Vanoni, in Interesse fiscale e tutela del contribuente. Le garanzie costituzionali, 5. Aufl., Mailand, 2006, S. 11 ff., und G. Falsitta, Profili della tutela costituzionale della giustizia tributaria, in Giustizia tributaria e tirannia fiscale, a. a. O., S. 8.

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Diese Leitidee liegt auch Art. 53 Abs. 2 der Verfassung zugrunde, wonach der Gesetzgeber verpflichtet ist, das Steuersystem progressiv auszugestalten.21 Die italienische Verfassung hat demnach die Steuerpflicht an ausgewählte Werte geknüpft, die nicht nur juristischer, sondern insbesondere auch ethischer Natur sind. Sie hat die Pflicht, zur Deckung der Staatsausgaben beizutragen, durch das Erfordernis der „politischen, wirtschaftlichen und sozialen Solidarität“ aller derjenigen, denen diese Ausgaben zugewendet werden, eingeschränkt. Es handelt sich um eine Solidarität, die eine typische Prägung der Demokratie ist, die errichtet werden sollte. III. Die Solidarpflicht hängt von der Leistungsfähigkeit ab, die insoweit „Voraussetzung“, „Maßstab“ und „Höchstgrenze“ ist. Die Leistungsfähigkeit dient als Vergleichsmaßstab (tertium comparationis) der steuerlichen Gleichbehandlung Die Solidarpflicht in Art. 53 der Verfassung darf nicht unverhältnismäßig und „erdrückend“ verstanden werden, sondern nur im Einklang mit den Rechten. Dies ist nicht eine Besonderheit des Steuerrechts, sondern eine Eigenschaft des gesamten Verfassungssystems, das in Art. 2 die „unantastbare Pflicht zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Solidarität“ und den Schutz „der unantastbaren Menschenrechte“ statuiert. Im Steuerrecht findet die Solidarpflicht in der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ihren Ausdruck, die als Voraussetzung, Maßstab und Höchstgrenze der Pflicht dient. Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers ist dadurch also insbesondere bei der Wahl der tatsächlichen Tatbestandsvoraussetzungen, die ein Ausdruck von Leistungsfähigkeit sein müssen, und bei der Ausgestaltung der Bemessungsgrundlage, die die reelle Leistungsfähigkeit abbilden muss, eingeschränkt.22 Die Bezugnahme auf die Leistungsfähigkeit beeinflusst auch das Verständnis der steuerlichen Gleichbehandlung. In Ermangelung des Art. 53 der Verfassung würde lediglich Art. 3 der Verfassung mit seinen Diskriminierungsverboten (in Bezug auf die Rasse, Sprache, Religion, etc.) und seiner undefinierten Anwendung gelten. Aufgrund Art. 53 der Verfassung besteht im Steuerrecht ein Vergleichsmaßstab (tertium comparationis) zur Beurteilung der Gleichheit oder Ungleichheit zweier Sachverhalte.23

__________ 21 Zum normativen Wert dieser Voraussetzung, die nur dem Anschein nach völlig allgemein gehalten ist, vgl. R. Schiavolin, Il principio di „progressività del sistema tributario“, in Diritto Tributario e Corte Costituzionale, hrsg. von L. Perrone und C. Berliri, mit einer Einführung von E. De Mita, 2006, S. 151 ff. 22 So auch J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Köln, 1981, S. 115 ff., 125. Ders., Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, in Besteuerung von Einkommen. Rechtsvergleich, a. a. O., hrsg. von K. Tipke und N. Bozza, Berlin, 2000, S. 122 ff., 130. 23 Vgl. z. B. G. Falsitta, Manuale di diritto tributario, Parte Generale, 6. Aufl., Padua, 2008, S. 157.

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Mehr gesetzgeberischer Entscheidungsspielraum besteht hingegen bei der Regelung der Höhe der Steuern. Allerdings muss der „Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben“ als Teil-Abgabe bemessen sein. Dabei muss dieser TeilCharakter nicht nur auf der Grundlage der wirtschaftlichen Auswirkung der einzelnen Steuer gewährleistet sein, sondern unter Berücksichtigung der Gesamtlast mehrerer Steuern, da die Verfassung die Gesamt-Leistungsfähigkeit schützt. Gewichtige Literaturstimmen haben dargelegt, dass in Grenzfällen die Zusammenwirkung von Einkommen- und Vermögensteuer dem Steuerpflichtigen das gesamte Einkommen entziehen kann.24 Unabhängig von den Vorschriften zum Schutze des Eigentums – die, meines Erachtens, ebenfalls die Höhe der Steuerlast beschränken – wird in solchen Fällen vor allem gegen das Gebot der lediglich partiellen Steuererhebung verstoßen, das in Art. 53 der Verfassung aus den Worten „auf der Grundlage“ abzuleiten ist. IV. Die Leistungsfähigkeit als subjektive Eignung, zur Deckung der Staatsausgaben beizutragen, kann nicht wahllos an wirtschaftliche Tatsachen anknüpfen: Sie erfordert eine Wirtschaftskraft, die die Fähigkeit indiziert, finanzielle Mittel zugunsten des Gemeinwohls und zu Lasten der Befriedigung individueller Bedürfnisse zu entbehren. Sie muss sich darüber hinaus an den Verfassungswerten orientieren. Diese Grundsätze sind anzuwenden bei der Bestimmung der steuerbaren Sachverhalte, der Bemessungsgrundlage, des steuerfreien Existenzminimums und der Steuerfreiheit der wirtschaftlichen Mittel, die der Sicherung einer freien und würdigen Existenz der Familie dienen Nunmehr soll die Bedeutung der „Leistungsfähigkeit“ gemäß der italienischen Verfassung dargelegt werden.25 Der Verfassungsgeber hatte sich gezielt für die

__________ 24 G. Falsitta, L’imposta confiscatoria, in Giustizia tributaria e tirannia fiscale, a. a. O., S. 217 ff., 267 ff.; ders., Manuale, a. a. O., S. 153. Zum Verhältnis zwischen Leistungsfähigkeitsprinzip und Eigentumsschutz vgl. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage, a. a. O., Köln, 1988, S. 156 ff. 25 Vgl. hierzu aus dem jüngeren Schrifttum: A. Fedele, La funzione fiscale e la «capacità contributiva» nella Costituzione italiana, G. Gaffuri, Il senso della capacità contributiva, F. Moschetti, Il principio di capacità contributiva, espressione di un sistema di valori che informa il rapporto tra singolo e comunità, G. Boria, Il bilanciamento di interesse fiscale e capacità contributiva nell’apprezzamento della Corte costituzionale, D. Stevanato, Divieto di doppia imposizione e capacità contributiva, G. Marongiu, Sulla legittimità costituzionale delle norme tributarie pseudo retroattive, G. Falsitta, Profili della tutela costituzionale della giustizia tributaria, jeweils in Diritto Tributario e Corte Costituzionale, a. a. O., (Fn. 23). S. ebenda auch die Einleitung von E. De Mita, der sich kritisch zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichts äußert. Ders., in Interesse fiscale e tutela del contribuente. Le garanzie costituzionali, a. a. O., (Fn. 22). F. Gallo, Le ragioni del Fisco. Etica e giustizia nella tassazione, Bologna, 2007, S. 81 ff., 94, wendet die Leistungsfähigkeit nur sehr zurückhaltend an. Contra, G. Falsitta, Natura e funzione dell’imposta, in Giustizia tributaria e tirannia fiscale, a. a. O., S. 81, Fn. 63. Ders., Dello Il doppio concetto di capacità contributiva, in Giustizia tributaria, a. a. O., S. 153 ff.

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Einführung des Art. 53 in die Verfassung entschieden, um auch in steuerrechtlicher Hinsicht die Eigenschaften der angestrebten Demokratie festzulegen. Das Demokratieprinzip, das in Art. 1 der Verfassung verankert ist, begründet eine Demokratie zum Schutze der Person und zur Realisierung der Solidarität nach Art. 2 der Verfassung. Auch begründet es eine Demokratie mit solidarischer, an die Leistungsfähigkeit gem. Art. 53 der Verfassung anknüpfender Steuerpflicht. Dies führt dazu, dass das Verständnis der Leistungsfähigkeit im Sinne der italienischen Verfassung nicht ausgehöhlt werden kann. Würde der Jurist die Bedeutung des Art. 53 der Verfassung im Wege der Auslegung aushöhlen, würde er auch Art. 2 und Art. 1 der Verfassung aushöhlen, indem er einen erheblichen Teil eines harmonischen Systems, das der Verfassungsgeber so auch gewollt hat, aushebeln würde. Vor diesem Hintergrund ist zum Verständnis der Leistungsfähigkeit gem. Art. 53 der Verfassung auch auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts abzustellen. Hiernach besteht für den Gesetzgeber bei der Bestimmung der einzelnen Sachverhalte, die Leistungsfähigkeit zum Ausdruck bringen, ein Entscheidungsspielraum, der lediglich durch das Willkürverbot beschränkt ist. Dabei wird die Leistungsfähigkeit als Eignung des Subjekts zur Steuerzahlung verstanden, die aus jeder Art von Indiz für Vermögen bzw. „Reichtum“ und nicht nur aus Indizien für individuelles Einkommen abgeleitet werden kann.26 Zuzustimmen ist insoweit der Anknüpfung der Leistungsfähigkeit an die „Eignung des Subjekts“. Es handelt sich hierbei um eine Anknüpfung, die nicht nur durch das Verständnis der „Fähigkeit“ (im Gegensatz zum „Hab und Gut“ des Albertinischen Statuts) und der Verbindung von „alle(n)“ und „ihrer“ bestätigt wird. Sie wird vielmehr auch von dem Verfassungsgrundsatz des Schutzes (und der Beachtung) des Menschen bestätigt. Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit erfordert es, den Menschen in seiner tatsächlichen Realität und in seiner Fähigkeit, einen wirtschaftlichen Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten, zu sehen. Auch wenn die Besteuerung ein Wirtschaftsgut betrifft, kann die Verbindung zwischen diesem Wirtschaftsgut und dem steuerpflichtigen Subjekt nicht außer Acht gelassen werden. Hinter den „Sachen“ stehen „Personen“. Der Wert der Person gilt auch im Steuerrecht, das keine Insel darstellt, auf der die allgemeinen rechtlichen Werte nicht gelten würden. Nicht zuzustimmen ist hingegen der Auffassung des Verfassungsgerichts, soweit die „Eignung“ an „jede Art“ von Indiz für Vermögen angeknüpft werden soll. Denn es existieren auch wirtschaftlich erhebliche Sachverhalte, die eine Unfähigkeit zum Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben indizieren: z. B. die Anerkennung einer Verbindlichkeit (die heute noch Gegenstand der Imposta di registro, Registersteuer, ist), oder die bloße Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit unabhängig von den konkreten Ergebnissen (so wie bei der Imposta

__________ 26 So z. B. Urteil des Verfassungsgerichts vom 21.5.2001, Nr. 156, zur „Imposta regionale sulle attività produttive“ (Regionale Steuer auf Produktionstätigkeiten). Hiernach zeigt sich Leistungsfähigkeit in dem Mehrwert, der aus selbständig organisierter Tätigkeit stammt. Kritisch hierzu z. B. G. Falsitta, Un tributo con tratti confiscatori: l’Irap, in Giustizia tributaria, a. a. O., S. 333 ff.

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comunale per l’esercizio di imprese di arti e professioni, der kommunalen Steuer auf die Ausübung künstlerischer und freiberuflicher Unternehmen), oder die bloßen Brutto-Einnahmen, ungeachtet der Betriebsausgaben, subjektiven Lasten und Verluste. Nicht jede Art von Vermögensindiz, sondern nur solche Indizien, die auf wirtschaftliche Mittel deuten, die zur Deckung von Staatsausgaben bestimmt werden können, können logischerweise (und unter Berücksichtigung des Art. 53 der Verfassung auch in systematischer Hinsicht) auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit schließen lassen. Demnach besteht in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts – meines Erachtens – ein Widerspruch zwischen der zu Recht aufgestellten Voraussetzung der „Eignung des Subjekts“ und dem allumfassenden Verständnis dieser Eignung. Dieser Widerspruch wird in den Fällen verschärft, in denen dem Gesetzgeber ein Entscheidungsspielraum zugestanden wird, der lediglich durch das Willkürverbot beschränkt ist. Hierdurch wird die Gefahr begründet, dass auch die von dem Verfassungsgericht anerkannten Beschränkungen (die „Eignung“ des Subjekts und der Bezug auf eine „Wirtschaftskraft“) leerlaufen. Das Verfassungsgericht berücksichtigt auch nicht, dass der Verfassungsgeber das Leistungsfähigkeitsprinzip in der Verfassung verankert hat, um die Besteuerung eines Minimal-„Reichtums“ auszuschließen. Hierin kommt der Wille zum Ausdruck, dem Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers eine Schranke zu setzen. Dieser hat die Besonderheiten des Steuersubjekts zu berücksichtigen und darf nicht jede Form indizierter Wirtschaftskraft, sondern nur die zur „Deckung der Staatsausgaben“ bestimmte Wirtschaftskraft des Subjekts erfassen. Dabei sind die Wohlhabenderen zwecks Unterstützung der Schwächeren in Anspruch zu nehmen. Meines Erachtens sollte das Leistungsfähigkeitsprinzip eine weitere (neben dem bloßen Willkürverbot bestehende) Beschränkung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums darstellen. Außerdem stellt es einen Bezug zur Person des Subjekts her, das zur Deckung der öffentlichen Ausgaben herangezogen wird (die „Eignung“, von der das Verfassungsgericht spricht). Darüber hinaus bezieht es sich zwar auf „Indizien, die konkret auf die Existenz von Vermögen deuten“, jedoch muss hierbei zwischen objektiven und subjektiven Gesichtspunkten differenziert werden. In objektiver Hinsicht müssen die Indizien eine Zahlungsfähigkeit indizieren. In subjektiver Hinsicht müssen sie die Fähigkeit indizieren, zur Deckung der Staatsausgaben zu Lasten der individuellen und familiär bedingten Bedürfnisse beitragen zu können. Folglich indiziert nicht jeder wirtschaftliche Sachverhalt Leistungsfähigkeit. Dies ergibt sich nicht nur aus Art. 53 der Verfassung, sondern dies wird auch durch die Systematik der Normen der Verfassung bestätigt, die bestimmte Vermögensteile vor einem staatlichen Zugriff schützen: Dabei handelt es sich insbesondere um die Normen, die die Familie schützen (Art. 29, 31 der Verfassung), die die Pflicht und das Recht der Eltern begründen, für ihre Kinder Sorge zu tragen und sie zu erziehen (Art. 36 der Verfassung) und die das Recht auf 1089

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eine Entlohnung vorsehen, die „jedenfalls zur Sicherung einer freien und würdigen Existenz des Einzelnen und seiner Familie ausreicht“. Die Steuerpflicht darf nicht Wirtschaftsmittel mindern, die von anderen, gleichwertigen Verfassungsnormen als unantastbar angesehen werden: Die „wirtschaftliche Fähigkeit“ stellt erst dann auch eine „Leistungsfähigkeit“ dar, wenn sie Mittel betrifft, die über das hinausgehen, was zur Sicherung der „freien und würdigen“ Existenz der Familie erforderlich ist (Art. 36 und 53 der Verfassung). „Leistungsfähigkeit“ stellt deshalb die aus der Wirtschaftskraft abgeleitete Zahlungsfähigkeit dar. Diese Fähigkeit ist dabei jedoch im Lichte der in der Verfassung verankerten Werte zu sehen. Es handelt sich also, im Falle Italiens, nicht darum, einem wirtschaftlichen Konzept, sondern einer Verfassungsnorm einen Sinn zu geben, die – wie alle Normen – einen „Baustein“ eines Systems darstellt und daher eine folgerichtige und systematische Auslegung erfordert. V. Weitere Beschränkungen des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums aus Art. 53 der Verfassung ergeben sich aus der Verbindung von „alle(n)“ und „ihrer“ Leistungsfähgkeit. Dabei ist das Erfordernis der „Effektivität“ zu wahren. Dadurch werden den gesetzlichen Vermutungen und Typisierungen Grenzen gesetzt. Die Pflicht zum „Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben“ erfordert die Leistungsfähigkeit eines jeden im konkreten Einzelfall Die Garantiefunktion27 des Leistungsfähigkeitsprinzips, die bereits aus der Verwendung des Ausdrucks „auf der Grundlage“ folgt, und die dazu führt, dass die Leistungsfähigkeit Voraussetzung, Maßstab und Höchstgrenze der Besteuerung darstellt, wird in Art. 53 der Verfassung dadurch verstärkt, dass eine Verbindung zwischen „alle(n)“ und „ihrer“ Fähigkeit besteht. Daraus ergeben sich sowohl substantielle als auch verfahrensrechtliche Folgen: – Zum einen kann der „Reichtum“ des einen kein Rechtfertigungsgrund für die Zahlung durch einen anderen sein, der nicht bereits vorweg über die Mittel des ersteren verfügt. Ein solcher Grundsatz wird beispielsweise durch die Urteile in Italien, Deutschland sowie auch Spanien aufgestellt, wonach es verfassungsrechtlich unzulässig ist, dem Ehemann das Einkommen der Ehefrau zuzurechnen.28 – Zum anderen hat jeder das Recht, zur Darlegung seiner Wirtschaftskraft freien Beweis zu führen, da auszuschließen ist, dass Richtwerte mehr als nur eine bloße Indizwirkung haben. Der „Durchschnittsmensch“ wird immer nur abstrakt beschrieben. Art. 53 der Verfassung verlangt jedoch, dass der Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben an die spezifische Fähigkeit eines jeden Einzelnen knüpft. Durch die Vollwertigkeit und die Freiheit des Beweises muss der einzelne Steuerpflichtige immer

__________ 27 Vgl. z. B. G. Falsitta, Manuale, a. a. O., S. 151 ff. 28 In Bezug auf Italien vgl. Verfassungsgericht, Urteil v. 15.7.1976, Nr. 179.

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die Möglichkeit haben, ggf. nachzuweisen, dass er ein „atypisches“ Subjekt ist. Da jeder einzelne Steuerpflichtige geschützt ist, besteht der Schutz insbesondere darin, seine „effektive Realität“ zu erfassen. Das Erfordernis der „Effektivität“ (das logischerweise bereits im Verständnis der „Fähigkeit“ enthalten ist) führt dazu, dass die gesetzlichen Vermutungen, von denen der Steuer-Gesetzgeber zum Zwecke der fiskalinteressenbedingten Entlastung der Verwaltung häufig Gebrauch macht, nicht nur gemäßigt sein müssen, sondern dass sie auch den vollen Gegenbeweis – nicht eine „probatio diabolica“ – gestatten müssen.29 In diesem Zusammenhang argumentiert das Verfassungsgericht (was auch Livio Paladin erkennt)30 auf der Grundlage der nicht folgerichtigen Umsetzung gesetzgeberischer Entscheidungen und des Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Allerdings ist die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes subsidiär zur Verletzung des Grundsatzes der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, wenn das Fehlen der vom Gesetzgeber als unwiderlegbar unterstellten Wirtschaftskraft nicht bewiesen werden kann. Auch die verschiedenen Typisierungen müssen die durch das Verhältnis von „alle(n)“ und „ihre(r)“ Leistungsfähigkeit gesteckte Grenze wahren. Die abstrakten Unterstellungen dürfen den spezifischen Begebenheiten des Einzelfalls nicht vorgehen (dies wird heute – wie im Folgenden in Abschnitt 8 darzulegen sein wird – von der Rechtsprechung des Zivil-Kassationsgerichts bestätigt). Es besteht zwar ein Bedürfnis nach Vereinfachung und „Funktionstauglichkeit“ der Steuern, das aufgrund der „Pflicht“ zum Beitrag zur Deckung der öffentlichen Ausgaben auch verfassungsrechtlich geschützt ist. Jedoch kann es nicht zu einem „Beitrag“ führen, der nicht an der spezifischen „Fähigkeit“ „aller“ (also eines jeden) ausgerichtet ist.31 VI. Auch in systematischer Hinsicht ergeben sich aus Art. 53 der Verfassung weitere Beschränkungen für den Gesetzgeber: Die Steuern müssen ohne Lücken oder Zusatzbelastungen, soweit sie nicht durch verfassungsrechtliche Entscheidungen gerechtfertigt sind, aufeinander abgestimmt sein Da Art. 53 Abs. 2 der Verfassung auf das „Steuerrechtssystem“ Bezug nimmt, regelt er implizit, dass die „Leistungsfähigkeit“ auch bei einer Vielzahl von

__________ 29 So auch z. B. G. Falsitta, Manuale, a. a. O., S. 162. Vertiefend vgl. E. De Mita, Sulla costituzionalità delle presunzioni fiscali, in Interesse fiscale e tutela del contribuente, a. a. O., S. 339 ff. 30 L. Paladin, Il principio di eguaglianza tributaria nella giurisprudenza costituzionale italiana, in Rivista di diritto tributario, 1997, I, S. 305 ff., 308 und in Besteuerung von Einkommen, hrsg. von K. Tipke und N. Bozza, a. a. O., S. 71 ff. 31 Aus der Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips folgt auch das Erfordernis der „Gegenwärtigkeit“, also ein zeitliches Kriterium bei der Anwendung der Steuerrechtsnormen. Dieser Gesichtspunkt wird an dieser Stelle nicht beleuchtet, sondern insoweit wird verwiesen auf G. Falsitta, L’illegittimità costituzionale delle norme retroattive imprevedibili, in Giustizia Tributaria, a. a. O., S. 535 ff.; ders., Manuale, a. a. O., S. 104 ff.

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Steuern, die sich zu einem „System“ zusammenfügen, bestehen muss.32 Hieraus folgt das Gebot der Vollständigkeit. Dadurch soll verhindert werden, dass Lücken bei der Erfassung der verschiedenen Erscheinungsformen der Leistungsfähigkeit bestehen, und dass Begünstigungen, die nicht durch die verfassungsrechtlich gesicherten Werte (die in systematischer Hinsicht die Fähigkeit zur Steuerzahlung bestimmen) gerechtfertigt sind, gewährt werden. Das System erfordert aber auch, dass die Höhe der Steuer verfassungskonform ausgestaltet ist. Mehrfach-Besteuerungen derselben Wirtschaftskraft sind nur zulässig, wenn diese gleichermaßen durch die verfassungsrechtlichen Grundsätze gerechtfertigt sind. Daher wurde beispielsweise nie bezweifelt, dass eine zweite Realsteuer auf Einkünfte, die eine Vermögenskomponente aufweisen, rechtmäßig ist. Als rechtswidrig wurde hingegen die Erfassung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit angesehen, die keinerlei Vermögensbezug aufweisen (vgl. Verfassungsgericht, Urteil aus 1980, Nr. 42). Die (zulässige) Doppelbesteuerung nur der Einkünfte, die aus einer Vermögensquelle stammen, und die insoweit bestehende Differenzierung im Verhältnis zu den Einkünften aus selbständiger Arbeit, denen diese Komponente fehlt, beruht meines Erachtens auf einer Anwendung unserer Verfassungswerte, die in Art. 1 und weiteren Normen in besonderer Weise die „Arbeit“ schützen. VII. Die Prinzipien steuerlicher Gerechtigkeit, die sich aus der italienischen Verfassung ergeben, sind ein Teil der allgemeinen Verfassungswerte Die italienische Verfassung kann folglich dazu dienen, in Zukunft gemeinsame Steuerrechtsgrundsätze zu definieren. Bereits heute eignet sie sich für eine Übernahme durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dabei kann ihr nicht nur der Grundsatz der Steuergerechtigkeit (der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit) entnommen werden, sondern eine „Steuer-Philosophie“, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: – Steuern sind in einer modernen Demokratie von wesentlicher Bedeutung33 und müssen mit den Grundwerten einer demokratischen Rechtsordnung im Enklang stehen. – Die Freiheit des Gesetzgebers ist nicht nur durch den Grundsatz der Gleichbehandlung, durch formale Regeln der Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit und durch das Willkürverbot (das keine ausdrückliche Norm erfordert) beschränkt, sondern durch eine Vielzahl an Grundsätzen, die auch im Steuerrecht dazu dienen, ein Gleichgewicht zwischen verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten herzustellen.

__________ 32 Zur Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips innerhalb des gesamten Steuerrechtssystems vgl. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage, Köln, 1988, a. a. O., S. 109. 33 Bezüglich der Verknüpfung von Steuern und verfassungsrechtlichen Grundsätzen vgl. J. Lang, I presupposti costituzionali dell’armonizzazione, a. a. O., S. 776 u. 783. So auch E. De Mita, I doveri costituzionali, in Interesse fiscale e tutela del contribuente, a. a. O., S. 7 ff. (der Lehre von Ezio Vanoni folgend).

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– Das Leistungsfähigkeitsprinzip stellt ein Gleichgewicht zwischen dem Grundsatz des (auch steuerrechtlichen) Schutzes des Einzelnen und dem Grundsatz des Schutzes der Allgemeinheit her. – Die Leistungsfähigkeit ist die Voraussetzung für die Steuerpflicht als Solidarpflicht. – Allerdings darf die Solidarpflicht nur insoweit bestehen, als eine spezifische Leistungsfähigkeit des verpflichteten Subjektes existiert (und tatsächlich festgestellt wird), da diese eine Voraussetzung der Solidarpflicht darstellt. – Der Steuer-Bedarf (das Fiskalinteresse) geht dem Recht der Besteuerung nach der individuellen, effektiven Leistungsfähigkeit nicht vor. Er ist diesem gegenüber nach-, nicht vorrangig.34 – Die Gerechtigkeit tritt nicht zurück, sobald eine „Person“ zum „Steuerpflichtigen“ wird. VIII. Das ausgleichende Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips in der jüngeren Rechtsprechung des Kassationsgerichts: Das Bestehen der Leistungsfähigkeit muss nachweisbar sein Es ist hervorzuheben, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip, obwohl es bisweilen auch von Teilen des Schrifttums kritisiert wird, tatsächlich jedoch immer wieder als unentbehrlicher Bezugspunkt genutzt wird, wenn die steuerrechtlichen Ausprägungen der Grundsätze der Gerechtigkeit und Gleichheit im Wege der Auslegung zu bestimmen sind. Dies wird durch die Rechtsprechung des Kassationsgerichts bestätigt, das sich in Italien in den letzten Jahren bei der Auslegung von Normen wiederholt auf das Leistungsfähigkeitsprinzip berufen hat.35 Dabei ging es um verschiedenste Probleme, etwa den Schutz des Steuerpflichtigen sowie die Bekämpfung der Steuerhinterziehung und -umgehung, aber auch um allgemeinere Fragen, wie z. B. solche des Steuerverfahrensrechts. Das Höchste Gericht hat im Hinblick auf den Schutz des Steuerpflichtigen das Prinzip der Änderbarkeit einer falschen Steuererklärung begründet, das es aus dem Grundsatz abgeleitet hat, dass der Steuerpflichtige nicht mehr bezahlen muss, als es vom Gesetz vorgesehen ist und es seiner Leistungsfähigkeit entspricht. Der Fiskus soll aus dem (rechtlich oder tatsächlich bedingten) Fehler des Steuerpflichtigen keinen Vorteil ziehen, indem er eine Steuer bean-

__________ 34 Zum Fehlen eines verfassungsrechtlich geschützten Interesses an einer ungerechten Verteilung der Steuern trotz des Interesses des Fiskus an einer schnellen und sicheren Steuererhebung vgl. G. Falsitta, Profili della tutela costituzionale della giustizia tributaria, in Giustizia tributaria, a. a. O., S. 19 ff. 35 Vgl. z. B. Urteil des Kassationsgerichts vom 4.3.2008, Nr. 5786, wonach bei der Auslegung steuerrechtlicher Regelungen zu berücksichtigen ist, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip (Art. 53 der Verfassung) gewahrt sein muss. Zur Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Rahmen der Auslegung vgl. E. De Mita, Il principio di capacità contributiva, in Interesse fiscale e tutela del contribuente, a. a. O., S. 107 ff., 119.

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sprucht, die weder mit dem Gesetz noch mit dem Erfordenis der Leistungsfähigkeit im Einklang steht.36 Auch im Hinblick auf eine Stärkung der Steuerfestsetzungsmöglichkeiten des Fiskus durch die Anwendung von Richtwerten, die auf statistischen Erhebungen beruhen, hat das höchste Gericht entschieden, dass diese Werte nie automatisch und unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Subjekts zur Anwendung gelangen dürfen. Die Richtwerte dürfen nur Teil eines Verwaltungsverfahrens sein, in dem die Verwaltung weitere Anhaltspunkte aus den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen des Unternehmens anführen muss und der Steuerpflichtige das Recht hat, die Besonderheiten des konkreten Einzelfalls nachzuweisen.37 Auch im Bereich vereinfachender Steuerfestsetzungssysteme müssen die Verfahrensvorschriften demnach gewährleisten, dass die effektive Leistungsfähigkeit des konkreten Steuerpflichtigen erfasst wird. Der Zweck der Steuerfestsetzung besteht nämlich darin, das effektive Einkommen des Steuerpflichtigen im Einklang mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip gem. Art. 53 der Verfassung zu bestimmen.38 Auf der Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips hat das Höchste Gericht auch unverhältnismäßige Gesetzesanwendungen untersagt, die einen atypischen Strafcharakter der Steuern begründet hätten39. Des weiteren hat es im

__________ 36 Das Kassationsgericht führt im Einzelnen aus, dass der Grundsatz der Leistungsfähigkeit und der der rechtsstaatlichen Verwaltung einem Rechtssystem entgegenstehen, in dem es dem Steuerpflichtigen versagt ist, innerhalb eines bestimmten Zeitraums das Nicht-Bestehen steuererheblicher Tatsachen nachzuweisen (so zuletzt Urteil des Zivil-Kassationsgerichts vom 4.11.2008, Nr. 26449). S. a. Urteil der vereinigten Spruchkörper vom 25.10.2002, Nr. 15063, in Dir. prat. trib., 2003, II, S. 1109 ff., mit Anmerkung R. Succio. So auch Urteil des Zivil-Kassationsgerichts, Steuer-Sektion, vom 20.6.2002, Nr. 8972, in Riv. dir. trib., 2004, II, S. 723 ff., mit Anmerkung R. Baggio. Hierzu auch, mit weiteren Verweisen, F. Moschetti, Emendabilità della dichiarazione tributaria, tra esigenze di „stabilità“ del rapporto e primato dell’obbligazione dovuta per legge, in Rass. trib., 2001, S. 1149 ff.; E. De Mita, Dichiarazione dei redditi e legalità dell’imposizione, in Interesse fiscale e tutela del contribuente, a. a. O., S. 283 ff. 37 Vgl. zuletzt Urteil des Zivil-Kassationsgerichts vom 15.12.2007, Nr. 18983; vom 15.9.2008, Nr. 23602; vom 4.11.2008, Nr. 26459; vom 21.11.2008, Nr. 27648. 38 So das Urteil der vereinigten Spruchkörper des Zivil-Kassationsgerichts vom 18.12. 2009, Nr. 26635 (Abschn. 8.4.). 39 So Urteil des Kassationsgerichts vom 3.10.2006, Nr. 21326, in Bezug auf die Zinsen wegen der verspäteten Steuerzahlung aufgrund eines Antrages auf eine UmsatzsteuerAmnestie. Hiernach muss die Steuerpflicht jedenfalls am Leistungsfähigkeitsprinzip bzw. an der reellen Verfügbarkeit eines „Reichtums“ ausgerichtet sein, und darf nicht von der Realität abstrahiert und losgelöst werden, da ihr anderenfalls ein atypischer und verfassungswidriger Strafcharakter zukäme. Bezüglich der Abzugsfähigkeit negativer, nicht in der Buchführung erfasster Einkommensteile vgl. Urteil des Kassationsgerichts vom 25.11.2008, Nr. 28028. In einem Fall, in dem die Finanzbehörde von Amts wegen die Einkommensverhältnisse des Steuerpflichtigen, der weder seine Betriebsausgaben aufgezeichnet, noch eine Einkommensteuererklärung erstellt hatte, ermittelt hat, hat das Kassationsgericht entschieden: a) Die Finanzverwaltung hat die Aufgabe, das zu versteuernde Einkommen zu ermitteln, nicht bloß die Erträge; b) anderenfalls und wenn zu Bestrafungszwecken Nettoeinkommen und Bruttoerträge gleichgestellt würden, würden der Besteuerung als Gewerbeeinkünfte auch Einkünf-

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Bereich der direkten Steuern untersagt, dass eine objektive Steuerpflicht ungeachtet der Existenz eines effektiven Einkommens begründet werden kann.40 Indes war das Kassationsgericht im (entgegengesetzten) Fall des Schutzes der Fiskalinteressen mit dem Problem konfrontiert, dass in der italienischen Rechtsordnung keine allgemeine Norm zur Vermeidung von Steuerumgehungen (wie § 42 Abgabenordnung) existiert. Jüngst haben die „Vereinigten Spruchkörper“ des Kassationsgerichts entschieden, dass das allgemeine Prinzip des Verbots von Steuerumgehungen aus dem System abzuleiten ist. Seine Grundlage ist bezüglich der nicht-harmonisierten Steuern, etwa der direkten Steuern, in den Grundsätzen der italienischen Steuerrechtsordnung und nicht in der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsprechung zu sehen. Das Höchste Gericht führt hierzu aus, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip (Art. 53 Abs. 1 der Verfassung) und das Prinzip der Progressivität der Besteuerung (Art. 53 Abs. 2 der Verfassung) die Grundlage für die Normen zur Vermeidung der Steuerumgehung im engeren Sinne, aber auch für die Normen darstellen, die Vorteile und Begünstigungen des Steuerpflichtigen begründen, da auch diese offensichtlich der Umsetzung dieser Prinzipien dienen. Der Steuerpflichtige darf keine unbegründeten Steuervorteile aus einer Steuergestaltung ziehen, die zwar nicht gegen das Gesetz verstößt, jedoch so nicht von der Rechtsordnung gewollt ist, da ihr wirtschaftlich anerkennenswerte Gründe, die nicht bloß in einem Steuerersparnis bestehen, fehlen. Dieser Grundsatz ist nicht in der Rechtsordnung enthalten und nicht unmittelbar aus den Verfassungsnormen abzuleiten.41 Begünstigungsnormen hingegen sind nach der Rechtsprechung des höchsten Gerichts „eng auszulegen“, also nicht auf Fälle auszudehnen, die nicht ausdrücklich vom Gesetz vorgesehen sind. Denn sie stellen eine Ausnahme vom allgemeinen Prinzip nach Art. 53 der Verfassung dar, wonach die Leistungsfähigkeit der Besteuerung unterliegt.42

__________ te unterliegen, die tatsächlich nicht gegeben wären: Dieses Ergebnis würde gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Leistungsfähigkeit gem. Art. 53 Abs. 1 der Verfassung verstoßen. 40 Urteil des Kassationsgerichts vom 20.11.2008, Nr. 27569, sowie vom 15.11.2007, Nr. 23691. 41 Urteil des Zivil-Kassationsgerichts vom 23.12.2008, Nr. 30055, Nr. 30056, Nr. 30057. Diese Entscheidung wurde bestätigt durch das Urteil des Kassationsgericht, SteuerSektion, vom 21.1.2009, Nr. 1465, wonach das Leistungsfähigkeitsprinzip (Art. 53 der Verfassung) als Grundprinzip der Steuerrechtsordnung eine Schranke gegenüber Steuerersparnissen oder Steuervorteilen innerhalb der Privatautonomie darstellt, soweit keine objektiven Gründe für die gewählte geschäftliche Gestaltung im Rahmen der Freiheit der unternehmerischen Tätigkeit bestehen. Siehe jüngst auch Urteil des Kassationsgericht, Steuer-Sektion, vom 8.4.2009, zur Unterbindung von Steuerumgehungen, wonach auch die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und der Solidarität die freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken. Siehe hierzu auch G. Falsitta, Profili della tutela costituzionale della giustizia tributaria in Giustizia Tributaria, a. a. O., S. 32 ff., 87 ff. 42 Vgl. z. B. Urteil des Zivil-Kassationsgerichts vom 8.5.2009, Nr. 10658 zur Begünstigung von histrorisch und künstlerisch bedeutsamen Wirtschaftsgütern. Vgl. des weiteren Urteil vom 6.2.2009, Nr. 2931 zur Begünstigung im Zusammenhang mit der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses.

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Aber auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht hat das Kassationsgericht wertvolle Entscheidungen auf der Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips getroffen. In allgemeiner Hinsicht wird dabei43 ausgeführt, dass das Steuerverfahrensrecht der richterlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes dient, die zu einer gerechten Besteuerung führen soll, die im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen gem. Art. 3 und 53 der Verfassung steht. Hieran ist nicht nur der Steuerpflichtige persönlich interessiert, sondern vor allem auch die Rechtsordnung. Daher sind im Falle einer Mehrheit von Subjekten, die im Hinblick auf denselben Sachverhalt der Besteuerung unterliegen, die Verfahren miteinander zu verbinden (sog. notwendige Streitgenossenschaft). Anderenfalls könnte es zu voneinander abweichenden Entscheidungen kommen, wodurch der Gleichheitsgrundsatz und das Leistungsfähigkeitsprinzip verletzt würden (und damit auch das Ziel einer „gerechten Besteuerung“ verfehlt wäre).44 Auf der Grundlage des Grundsatzes der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und des Vorranges der „gerechten Besteuerung“ hat die Rechtsprechung sich auch oft auf die Wirksamkeit „externer Entscheidungen“ berufen, die bezüglich gleicher Sachverhalte, jedoch aufgrund von Klagen ergangen sind, die andere Verwaltungsakte, andere Zeiträume45 und auch andere Steuern betrafen46.

__________ 43 Urteil des Zivil-Kassationsgericht, Vereinigte Spruchkörper, vom 18.1.2007, Nr. 1052 (Abschn. 4). 44 So das Urteil des Zivil-Kassationsgericht, Vereinigte Spruchkörper, vom 18.1.2007, Nr. 1052. Gegenstand des Urteils war die Registersteuer im Zusammenhang mit einer Parzellierung einer Immobilie in 13 gleichwertige Parzellen. Die Klagen der Parzellenerwerber hatten in zweiter Instanz zu unterschiedlichen Entscheidungen geführt. Dem Einwand, dass die notwendige Streitgenossenschaft zu einem Verstoß gegen den Grundsatz einer gemäßigten Verfahrensdauer führen könnte, hat das Kassationsgericht entgegen gehalten, dass dieser Grundsatz nur im Einklang mit dem effektiven Rechtsschutz zu sehen ist, der nicht ausschließlich in der Zügigkeit des Verfahrens zum Ausdruck kommt, sondern Verfahrensmittel erfordert, die eine einheitliche Umsetzung der Gesetze zu gewährleisten vermögen. Wenn dies schon im Hinblick auf die gesamte Rechtsordnung gilt, dann gilt dies erst Recht im Hinblick auf den „normativen Steuerrechts-Mikrokosmos“, in dem jede ungerechtfertigte Ungleichbehandlung deutlich gegen die Grundsätze aus Art. 3 und 53 der Verfassung, die in jeder Hinsicht einen Einklang des Systems mit der Leistungsfähigkeit fordern, verstößt. Insbesondere das Leistungsfähigkeitsprinzip wird durch das verfahrensrechtliche Instrument der notwendigen Streitgenossenschaft gesichert, wobei sie insoweit auch eine vorbeugende Maßnahme in den Fällen darstellt, in denen eine Mehrheit Steuerpflichtiger besteht, die jeweils wegen desselben Klagegenstandes klagen (so Kassationsgericht, a. a. O., Abschn. 6). So auch Urteil des Zivil-Kassationsgerichts, Vereinigte Sektionen, vom 4.6.2008, Nr. 14815 zur notwendigen Streitgenossenschaft bei Klagen wegen Einkünften einer Personengesellschaft und ihrer Gesellschafter. Siehe hierzu auch G. Falsitta, Profili della tutela costituzionale della giustizia tributaria in Giustizia Tributaria, a. a. O., S. 32 ff., 87 ff. 45 Vgl. Urteil des Zivil-Kassationsgerichts vom 20.5.2009, Nr. 11757. 46 Zur Wirkung eines Urteils, das der Veräußerer bezüglich des Werts einer Immobilie zum Zwecke der „Invim“ (Imposta sull’incremento di valore degli immobili = Steuer auf die Werterhöhung von Immobilien) erwirkt hat, gegenüber dem Erwerber, in einem Fall, in dem der Streitgenosse erst im Kassationsverfahren interveniert ist, vgl.

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Die italienische Verfassung als Grundlage für die Rechtsordnung der EU

IX. Das Leistungsfähigkeitsprinzip und die aus ihm abgeleiteten Werte bieten sich als Grundlage zur Bestimmung der gemeinschaftlichen europäischen Prinzipien des Steuerrechts und als Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an … Das Leistungsfähigkeitsprinzip beruht einerseits auf dem Recht des Einzelnen, auf der Grundlage seiner eigenen spezifischen und tatsächlichen Fähigkeit besteuert zu werden, und andererseits auf der Solidarpflicht. Es gleicht auch vor dem Hintergrund des „gelebten Rechts“ in angemessener Weise sich entgegenstehende (persönliche und kollektive) Interessen aus und eignet sich als Grundlage steuerrechtlicher Regelungen, die mit den wesentlichen Werten der demokratischen Rechtsordnung im Einklang stehen. Da die Harmonisierung und die Angleichung der Gesetzgebungen – wie vom Schrifttum einstimmig gefordert – auf gemeinsamen Prinzipien beruhen sollen und diese Prinzipien insbesondere Gerechtigkeitsprinzipen sein sollen, kann die italienische Verfassung dem europäischen Steuerrecht insoweit als Grundlage dienen. Dies betrifft die Zukunft. Aber auch schon „heute“ muss der Europäische Gerichtshof der Europäischen Union bei seiner „kreativen“ und die „verfassungsrechtlichen Überlieferungen“ der Mitgliedstaaten berücksichtigenden Tätigkeit überprüfen, ob die Grundsätze des Schutzes des Einzelnen und der Solidarität, die bereits in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung existieren, nicht auch zu einem Prinzip steuerlicher Gerechtigkeit entwickelt werden können (und müssen), also zu einem Leistungsfähigkeitsprinzip, das einerseits die effektive Wirtschaftsfähigkeit des Einzelnen und andererseits durch den solidarischen Einsatz dieser Leistungsfähigkeit auch Gemeinwohlinteressen schützt.47 Die Angleichung der nationalen Rechtsordnungen zu einer Rechtsordnung der Europäischen Union muss in erster Linie Gerechtigkeitsgrundsätze betreffen, die in der Rechtsprechung der einzelen Staaten wurzeln. Denn nur gemeinsame Gerechtigkeitswerte können der Rechtsordnung eine Seele geben und einen „steuerrechtlichen Status“ schaffen, der für alle Steuerpflichtigen in Europa gleich ist.48

__________ Urteil des Kassationsgericht vom 4.6.2008, Nr. 14696. Das Höchste Gericht führt dabei deutlich aus, dass die Rechtsprechung auf der Grundlage des Gleichbehandlungsund des Leistungsfähigkeitsprinzips die Besteuerung zu vereinheitlichen versucht, damit Subjekte, die in einem einheitlichen Lebenssachverhalt verbunden sind, gleich behandelt werden (und ein einheitlicher Sachverhalt auch einer einheitlichen steuerrechtlichen Behandlung unterliegt). Es sei darauf hingewiesen, dass das Kassationsgericht jüngst ausgeschlossen hat, dass eine „externe Entscheidung“ zu direkten Steuern auch im Bereich der Umsatzsteuer Geltung erlangt, da die Steuern auf unterschiedlichen Rehtsnormen beruhen (so zuletzt Urteil des Kassationsgerichts vom 17.2.2010, Nr. 2706). 47 Vgl. hierzu F. Gallo, Ordinamento tributario e principi costituzionali tributari, in Per una Costituzione fiscale europea, a. a. O., S. 415; P. Boria, a. a. O., S. 84 ff. 48 So auch A. Di Pietro, in Per una Costituzione fiscale europea, a. a. O., S. 451.

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Es ist kein Zufall, dass zu den Zielen der Union bereits die Schaffung „eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“49 gehört, und dass in der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einleitend von den „gemeinsamen Werten“ zur Begründung „eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ die Rede ist. Dieser „Raum des Rechts“ muss auch die Steuergerechtigkeit umfassen. Denn die Steuer stellt keine bloße „Technik“ dar, sondern eine Anpassung des Einzelnen an gemeinsame Interessen. Dabei ist der Steuerpflichtige eine Person, die gut beurteilen kann, ob sie als „Mittel“ oder als „Ziel“, als Untertan oder als Souverän behandelt wird. Es geht letztlich um das einvernehmliche Verständnis der „Demokratie“, die als lebendiges tägliches Recht gelebt wird. X. … und kann in Zukunft als ein Wert zur Bestimmung der „eigenen wirtschaftlichen Mittel“ dienen In diesem Beitrag sind die Gegenwart und die Zukunft erörtert worden. Wenn man aber den Blick noch weiter in die Ferne richtet, und wenn man davon ausgeht, das die Kraft der Geschichte individuelle Egoismen (der einzelnen Staaten und der einzelnen Politiker) überwindet, kann sich die Europäische Union nur föderal entwickeln und dabei auch eigene Ressourcen aufweisen. Die Solidarität bei der Voraussetzung (und der Grundlage) der effektiven Leistungsfähigkeit eines jeden Einzelnen wird ein wertvoller Bezugswert (und tatsächlich eine Synthese von Werten) sein, um einen neuen Regelungsbereich, eine neue Form des „Beitrags“ des Europäischen Bürgers zur „Deckung der Ausgaben“ des gemeinsamen europäischen Hauses zu schaffen.

__________ 49 Art. 3 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union und Art. 67 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

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2. Internationales Steuerrecht Harald Schaumburg

Das Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht Inhaltsübersicht I. Einführung II. Steuerinländer mit ausländischen Einkünften 1. Nettoprinzip und Welteinkommen 2. Abzugsverbote im Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz 3. Verlustausgleichsbeschränkungen 4. Ausländische Betriebsstättenverluste

III. Steuerausländer mit inländischen Einkünften 1. Nettoprinzip und inländische Einkünfte 2. Abgeltungswirkung bei beschränkter Steuerpflicht 3. Splittingtarif bei beschränkter Steuerpflicht IV. Zusammenfassung

I. Einführung Von Joachim Lang stammt die ernüchternde Feststellung: „Der Fiskalismus ist der schlimmste Feind des Nettoprinzips“, um zugleich hinzuzufügen, die „Politik fiskalischer Destruktion des Nettoprinzips“ werde durch den Steuergesetzgeber unvermindert fortgesetzt1. Dieser Befund, der sich im Wesentlichen auf das Steueränderungsgesetz 20072 bezog, hat in der Folgezeit seine Bestätigung insbesondere durch das Unternehmensteuerreformgesetz 20083 sowie durch das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz4 gefunden. Durch beide Gesetze wurde der Weg zur Bruttobesteuerung fortgesetzt: Sowohl die Zinsschranke (§ 4h EStG, § 8a KStG), die ein partielles Betriebsausgabenabzugsverbot für Finanzierungsaufwendungen beinhaltet, als auch die Verlustabzugsbeschränkung des § 8c KStG, die auf eine partielle oder totale Verlustvernichtung gerichtet ist, sind, so die Formulierung von Joachim Lang5, fiskalisch motivierte Verletzungen des Nettoprinzips, die nicht nur dem „Fallbeil der Verfassungswidrigkeit“ ausgesetzt sind, sondern sich zudem angesichts der Wirtschaftskrise als desaströs erwiesen haben. Immerhin: Der so gescholtene Steuergesetzgeber hat durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz6 die vorge-

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Lang, StuW 2007, 3 ff. (7). Vom 19.7.2006, BGBl. I 2006, 1652; BStBl. I 2006, 432. Vom 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912; BStBl. I 2009, 630. SteuerHBekG v. 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2302; BStBl. I 2009, 826. StuW 2009, 1 f. (2). Vom 27.12.2009, BGBl. I 2009, 3950; BStBl. I 2010, 2.

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nannten Vorschriften entschärft, um hierdurch das schlimmste zu verhindern7. Ähnlich verhält es sich mit dem Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz und der hierzu ergangenen Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung8, wonach insbesondere Betriebsausgaben und Werbungskosten im Zusammenhang mit Einnahmen aus nichtkooperativen Staaten einer Abzugsbeschränkung unterworfen werden. Die Anwendung dieses Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes ist letztlich, wenn auch auf verfassungsrechtlich mehr als zweifelhafte Weise9 faktisch dadurch suspendiert worden, dass das Bundesfinanzministerium festgestellt hat10, dass es derzeit keine nichtkooperativen Staaten gebe. Dass das Nettoprinzip nicht beliebig fiskalischen Interessen geopfert werden darf, ist seit Jahren das besondere – auch steuerpolitische11 – Anliegen von Joachim Lang. In der Tradition der von Klaus Tipke begründeten und von ihm in zweiter Generation zur internationalen Geltung gebrachten Kölner Schule ist das Leistungsfähigkeitsprinzip und damit zugleich das Nettoprinzip ein zentrales Thema seiner wissenschaftlichen Arbeit12. Der hohe Stellenwert des Nettoprinzips belegt nachdrücklich auch die Rechtsprechung des BVerfG. Das BVerfG hat allerdings nur dem subjektiven Nettoprinzip Verfassungsrang13 zugewiesen14. Ob dies auch für das objektive Nettoprinzip gilt, ist bislang unentschieden15. Indessen: Schon das einfach rechtliche objektive Nettoprinzip gehört zu den Grundentscheidungen des Einkommen-

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Zu Einzelheiten Ortmann-Babel/Zipfel, Ubg. 2009, 813 ff. SteuerHBekV v. 18.9.2009, BStBl. I 2009, 1146. Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip. BMF v. 5.1.2010 – IV B 2 - S 1315/08/10002 – DOK 2009/0816912, BStBl. I 2010, 19 = FR 2010, 192. Vgl. hierzu nur die verschiedenen von ihm (mit-)konzipierten Gesetzentwürfe, z. B. Entwurf eines Steuergesetzbuches, BMF-Schriftenreihe, Heft 49, Bonn 1993 Rz. 550 f., 615; Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, Münsteraner Symposion, Bd. II, Köln 1985, 68 ff.; Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 66, Bonn 1999; Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, Köln 2005, Rz. 65 f., 115. f., 210 ff.; Einfachsteuer für Deutschland, Heidelberger Kreis, 2004, II-2 (www.einfachsteuer.de); Steuergesetzbuch, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin 2006, 46 ff. Vgl. nur Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Köln 1981/88, 183 ff.; Die einfache und gerechte Einkommensteuer, Köln 1987, 38 ff., 43 f. sowie Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. Köln 2010, § 9 Rz. 54 f., 69 ff. Verfassungsrechtliche Maßstäbe sind der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG.), die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das freiheitsrechtlich begründete Verbot der Erdrosselungssteuer (Artt. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 bs. 1 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Artt. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG); so die Aufzählung von Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rz. 73. BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 = FR 1990, 449; v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 = FR 1992, 810; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 ff. (48) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 ff. (281) = FR 2005, 759; v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 ff. (154) = FR 2008, 372. Zuletzt BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (234) = FR 2009, 74.

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Das Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht

steuerrechts, so dass Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen Belastungsentscheidungen eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes bedürfen16. Fiskalische Ziele, insbesondere Haushaltserwägungen vermögen hierbei unter keinen Umständen eine Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips zu rechtfertigen, weil diese stets zu einer Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) führten17. Damit gilt: Das objektive Nettoprinzip darf nicht ohne weiteres durch Abzugsverbote von Erwerbsaufwendungen oder durch Nichtberücksichtigung von Verlusten18 (partiell) suspendiert werden19. So gesehen sollte auch das objektive Nettoprinzip wirksam gegen jedweden Fiskalismus verteidigt werden können. Über die Reichweite des objektiven Nettoprinzips, insbesondere über die Zulässigkeit und Grenzen der Durchbrechung dieses Prinzips ist insbesondere in der wissenschaftlichen Literatur ausführlich diskutiert worden20, so dass es insoweit keiner weiteren Ausführungen in grundsätzlicher Hinsicht bedarf. Allerdings: Im internationalen Steuerrecht haben Verstöße gegen das Nettoprinzip nicht nur eine verfassungsrechtliche, sondern auch eine hiermit verknüpfte europarechtliche Dimension, die im Folgenden nur beispielhaft aufgezeigt werden soll.

II. Steuerinländer mit ausländischen Einkünften 1. Nettoprinzip und Welteinkommen Dass unbeschränkt steuerpflichtige Personen mit ihrem Welteinkommen zur Einkommensteuer herangezogen werden, wird neben dem Nettoprinzip zu den Grundsatzaussagen des § 2 Abs. 1 EStG gezählt21 und daher durchweg als normkonzipierendes Prinzip verstanden22. Das Welteinkommensprinzip, das sich aus den §§ 1 Abs. 4, 2a, 34c, 34d und 49 EStG ableiten lässt, beruht zwar nur auf einfach gesetzlicher Grundlage23, es entfaltet aber unter dem Gesichtspunkt der Folgerichtigkeit24 besondere Bedeutung. Aus dieser Geltungswirkung des Welteinkommensprinzips folgt, dass die für das Einkommensteuer-

__________ 16 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 ff. (290) = FR 1999, 254; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 ff. (48) = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (234). 17 Zu weiteren Einzelheiten Drüen, StuW 2008, 3 ff. (11 f.). 18 Hierzu Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 60. 19 Tipke in FS Raupach, Köln 2006, 177 ff. (179); BB 2007, 1525 ff. (1528); Drüen, StuW 2008, 3 ff. (11 f.). 20 Vgl. hierzu nur die Beiträge von Schneider, Englisch, Wernsmann, Görke, Hey, Heger, Reimer und Jachmann im Rahmen des Steuerrechtswissenschaftlichen Symposiums im BFH am 24.3.2009, DStR Beihefter zu Heft 34/2009, 87 ff. 21 Z. B. von Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 2 Rz. A 81 ff. 22 Z. B. BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136; Kirchhof in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 2 Rz. A 145. 23 BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136. 24 Zum Folgerichtigkeitsgebot Tipke, StuW 2007, 201 ff.; JZ 2009, 533 ff.; Drüen, Ubg 2009, 23 ff.; Hey, DStR 2009, 2561 ff.

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gesetz allgemein gültigen normkonzipierenden Prinzipien25 für in- und ausländische Einkünfte gleichermaßen Geltung beanspruchen. Das gilt auch für das subjektive und objektive Nettoprinzip. Daher sind etwa Erwerbsaufwendungen unabhängig davon zum Abzug zu bringen, ob die Einnahmen im In- oder Ausland erzielt worden sind. Schließlich spielt es auch keine Rolle, ob nach Berücksichtigung von Erwerbsaufwendungen positive oder negative Einkünfte verbleiben. Das Welteinkommensprinzip verbietet somit im Grundsatz eine nach in- und ausländischen Einkünften differenzierende Anwendung des Nettoprinzips. Eine Abweichung hiervon ist nur bei besonderen sachlichen Gründen zulässig. Andernfalls ist insbesondere eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG gegeben. 2. Abzugsverbote im Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz Im Hinblick darauf, dass nicht alle Staaten und Gebiete (Jurisdiktionen) entsprechend den OECD-Standards auf Ersuchen die für ein Besteuerungsverfahren erforderlichen Auskünfte erteilen, ist das SteuerHBekG darauf gerichtet, einerseits die entsprechenden ausländischen Jurisdiktionen zu veranlassen, die OECD-Standards zu befolgen und andererseits die Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung durch die deutschen Finanzbehörden zu verbessern26. Es geht also letztlich auch darum, auf ausländische Jurisdiktionen Druck auszuüben, damit diese die OECD-Standards zum Auskunftsaustausch in Steuersachen insbesondere entsprechend der Großen Auskunftsklausel des Art. 26 OECDMA übernehmen27. Konkretisiert wird das SteuerHBekG durch die SteuerHBekV28. Neben anderen Restriktionen enthält der auf der Ermächtigungsgrundlage des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. f) EStG ergangene § 1 Abs. 1 SteuerHBekV ein Abzugsverbot von Betriebsausgaben und Werbungskosten, wenn bestimmte Mitwirkungs- und Aufzeichnungspflichten (§ 1 Abs. 2–5 SteuerHBekV) nicht erfüllt werden. Hierzu gehören vor allem auch besondere Aufzeichnungen im Zusammenhang mit Geschäftsbeziehungen zu nicht nahe stehenden Personen (§ 1 Abs. 4 SteuerHBekV). Hiernach sind Aufzeichnungen zu erstellen über Art und Umfang der Geschäftsbeziehungen, Verträge und vereinbarte Vertragsbedingungen, etwa zur Nutzung überlassener immaterieller Wirtschaftsgüter, von den Beteiligten im Rahmen der Geschäftsbeziehungen ausgeübten Funktionen und übernommenen Risiken, über eingesetzte Wirtschaftsgüter, gewählte Geschäftsstrategien, über bedeutsame Markt- und Wettbewerbsverhältnisse sowie über unmittelbare und mittelbare Beteiligungen. Die Verletzung dieser normierten Mitwirkungs- und Aufzeichnungspflichten, die nur für Geschäftsbeziehungen zu sog. nichtkooperativen Staaten zur Anwendung kom-

__________ 25 Hierzu Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 17; Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, 67 ff. 26 So die Regierungsbegründung; BT-Drucks. 16/13106, 1. 27 Kleinert/Görres, NJW 2009, 2713 ff. (2713); Sinz/Kubaile, IStR 2009, 401 ff. (402). 28 Vom 25.9.2009, BGBl. I 2009, 3046, BStBl. I 2009, 1146.

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Das Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht

men29, lösen das Abzugsverbot auch dann aus, wenn nachgewiesen wird, dass die Betriebsausgaben oder Werbungskosten tatsächlich in dem notwendigen Veranlassungszusammenhang entstanden sind. Das spezifische nur im Zusammenhang mit bestimmten grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen geltende Ausgabenabzugsverbot verstößt gegen das objektive Nettoprinzip30. Das Ausgabenabzugsverbot betrifft im Kern grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen zu nichtkooperativen Staaten mit der Folge, dass etwa Entgelte für bezogene Lieferungen und in Anspruch genommene sonstige Leistungen steuerlich unberücksichtigt bleiben. Mit diesem Wechsel zur Bruttobesteuerung werden die Grenzen überschritten, die dem Gesetzgeber im Rahmen des ihm vom BVerfG zugestandenen Entscheidungsspielraums gezogen sind31. Diese Grenze wird markiert durch zwei miteinander verbundene Leitlinien: Durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit32. Für die Durchbrechung des hier allein in Betracht kommenden objektiven Nettoprinzips sind auch keine „besonderen“ sachliche Gründe erkennbar, insbesondere ist auch die vom Gesetzgeber selbst postulierte Zielsetzung, ausländische Jurisdiktionen zum Auskunftsaustausch in Steuersachen entsprechend den OECD-Standards zu veranlassen, als Rechtfertigungsgrund untauglich. Lenkungszwecke insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik kommen nach der Rechtsprechung des BVerfG als Rechtfertigungsgrund zwar durchaus in Betracht33, das gilt aber nur unter der Voraussetzung, dass die Lenkungszwecke ihrerseits gleichheitsgerecht und in Orientierung an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichtet sind34. Beide Voraussetzungen werden hier nicht erfüllt. Insbesondere legitimiert die politische Zielsetzung, bislang nichtkooperative Staaten zum Auskunftsaustausch anzuhalten, nicht zu Regelungen zu Lasten derjenigen Steuerpflichtigen, die zu diesen Staaten Geschäftsbeziehungen unterhalten. Es ist allein Aufgabe der Exekutive, insbesondere im Rahmen der auswärtigen Beziehungen mit nichtkooperativen Staaten Verhandlungen entweder über die Ergänzung oder

__________ 29 Nach BMF, Schr. v. 5.1.2010 – IV B 2 - S 1315/08/10002 – DOK 2009/0816912, BStBl. I 2010, 19 = FR 2010, 192 gibt es derzeit keine nichtkooperativen Staaten. 30 Kleinert/Görres, NJW 2009, 2713 ff. (2713); Kessler/Eicke, DB 2009, 1314 ff. (1314); Köhler, StB 3/2009, M 1. 31 Hierzu zuletzt BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (230 f.) = FR 2009, 74. 32 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 ff. (125) = FR 2002, 391 m. Anm. Fischer; v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27 ff. = FR 2003, 568 m. Anm. Kempermann (46 f.); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 ff. (180) = FR 2006, 766; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 ff. (30) = FR 2007, 338; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (231) = FR 2009, 74. 33 BVerfG v. 10.2.1987 – 1 BvL 18/81, 1 BvL 20/82, BVerfGE 74, 182 ff. (200); v. 29.11. 1989 – 1 BvR 1402/87, 1 BvR 1528/87, BVerfGE 81, 108 ff. (197) = FR 1990, 143; v. 11.2.1992 – 1 BvL 29/87, BVerfGE 85, 238 ff. (244); v. 5.2.2002 – 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93, BVerfGE 105, 17 ff. (46) = FR 2002, 1011 m. Anm. Kanzler. 34 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 ff. (32) = FR 2007, 338.

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den Neuabschluss von Doppelbesteuerungsabkommen35 oder den Abschluss von Informationsaustauschabkommen36 zu führen. Es widerspricht dem im Rechtsstaatprinzip verankerten Verhältnismäßigkeitsprinzip37, wenn zumeist unternehmerisch tätigen Steuerpflichtigen Sonderlasten auferlegt werden, um auf diese Weise die betreffenden nichtkooperativen Staaten zum erweiterten Informationsaustausch anzuhalten38. Die Durchbrechung des Nettoprinzips ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Missbrauchsabwehr oder der Vermeidung von Steuerhinterziehung gerechtfertigt. Missbrauchsabwehr und die Vermeidung von Steuerhinterziehung mögen zwar abstrakt legitime Rechtfertigungsgründe sein39, ein pauschaler Missbrauchs- oder Hinterziehungsverdacht, der sich zudem nur selektiv auf Geschäftsbeziehungen zu bestimmten Staaten beschränkt, ist aber als Rechtfertigungsgrund ungeeignet40. Die (außen-)politisch motivierte Durchbrechung des Nettoprinzips durch das SteuerHBekG und die damit verbundene Benachteiligung von grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen zu bestimmten Staaten führt im Ergebnis nicht nur zu einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG, sondern auch zu einem Verstoß gegen die europarechtlich verbürgten Grundfreiheiten41. Innerhalb der EU/ EWR ist insbesondere die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und gegenüber Drittstaaten die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) betroffen. Der Verstoß gegen die Grundfreiheiten vermag sich auch nicht durch anerkannte Rechtfertigungsgründe zu legitimieren. Zwar sind Maßnahmen gerechtfertigt, die der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und von Missbrauch42 dienen, diese Maßnahmen müssen aber in dem Sinne verhältnismäßig sein, dass jeweils nur das mildeste Mittel zur Anwendung kommen darf43. Dass diese Voraussetzungen hier nicht gegeben sind, liegt auf der Hand: Wenn der Fiskus

__________ 35 Z. B. Verhandlungen zum DBA-Schweiz mit dem Ziel, die (kleine) Auskunftsklausel des Art. 27 an den OECD-Standard anzupassen; vgl. IStR-Länderbericht 2009, 93. 36 Z. B. mit Liechtenstein, IStR-Länderbericht 2009, 85 f.; vgl. auch die Hinweise OFD Münster v. 6.10.2009, DStR 2009, 2199. 37 Grundlegend BVerfG v. 5.3.1968 – 1BvR 579/67, BVerfGE 23, 127 ff. (133); hierzu auch der Überblick bei Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 209 ff. 38 So ausdrücklich Geurts, DStR 2009, 1883 ff. (1886); Kubaile, PIStR 2009, 243 ff. (2469). 39 BVerfG v. 15.7.1969 – 1 BvL 22/65, BVerfGE 26, 321 ff. (326 f.); v. 30.9.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 ff. (97) = FR 1998, 1028 m. Anm. Luttermann; vgl. hierzu auch Hey, StbJb 2007/2008, 19 ff. (42 f.); Drüen, StuW 2008, 3 ff. (13). 40 Hierzu Drüen, StuW 2008, 3 ff. (13). 41 Das SteuerHBekG halten für europarechtswidrig z. B. Kessler/Eicke, DB 2009, 1314 ff. (1316 f.), Geurts, DStR 2009, 1882 ff. (1886); Worgulla/Söffing, FR 2009, 545 ff. (554); Puls, Ubg 2009, 186 ff. (191). 42 Z. B. EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 – Hughes de Lasteyrie du Saillant, EuGHE 2004, I-2431 = FR 2004, 659; v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, EuGHE 2005, I-10866 = FR 2006, 177; v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, EuGHE 2006, I-7995 = FR 2006, 987 m. Anm. Lieber; v. 29.3.2007 – Rs. C-347/04 – Rewe Zentralfinanz, EuGHE 2007, I-2647. 43 EuGH v. 15.5.1997 – Rs. C-250/95 – Futura Singer, EUGHE 1997, I-2471 = FR 1997, 567 m. Anm. Dautzenberg; v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 – Hughes de Lasteyrie du Saillant, EuGHE 2004, I-2409 = FR 2004, 659; v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, EuGHE 2005, I-10866 = FR 2006, 177.

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glaubt, die Instrumente des internationalen Auskunftsaustauschs reichten nicht aus, um Steuerhinterziehung zu bekämpfen, so ist er auf Maßnahmen im Rahmen auswärtiger Beziehungen verwiesen, um entsprechende bilaterale Abkommen abzuschließen. Im Hinblick darauf, dass inzwischen mit den Staaten, die in der Vergangenheit als nichtkooperative Staaten auf der schwarzen Liste der OECD standen, entsprechende Informationsaustauschabkommen oder Große Auskunftsklauseln in den Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen oder verabredet wurden, ist dem SteuerHBekG insgesamt die Legitimationsgrundlage entzogen. Es sollte, um das verfassungsrechtlich verankerte Gewaltenteilungsprinzip zu respektieren, nicht nur seitens der Finanzverwaltung nicht angewendet44, sondern durch den Gesetzgeber aufgehoben werden. 3. Verlustausgleichsbeschränkungen Abweichend von § 2 Abs. 1–3 EStG, wonach bei der Ermittlung des Gesamtbetrages der Einkünfte positive und negative Einkünfte eines Jahres zu verrechnen sind, untersagt § 2a Abs. 1 und 2 EStG einen Verlustausgleich zwischen positiven inländischen Einkünften und bestimmten negativen ausländischen Einkünften. Entsprechendes gilt auch für inländische negative Einkünfte (Gewinnminderungen), soweit sie durch bestimmte im Ausland veranlasste Aufwendungen entstanden sind. Derartige negative Einkünfte dürfen nur mit positiven Einkünften der jeweils selben Art aus demselben Staat ausgeglichen werden (per country limitation). Soweit ein solcher Ausgleich im Veranlagungszeitraum nicht möglich ist, dürfen die positiven Einkünfte der jeweils selben Art, die der Steuerpflichtige in den folgenden Veranlagungszeiträumen aus demselben Staat erzielt, gemindert werden. Ein Verlustabzug nach § 10d EStG ist ausgeschlossen. § 2a Abs. 1 EStG schränkt somit den Verlustausgleich auf allen drei Ebenen ein, so dass neben dem horizontalen und vertikalen Verlustausgleich auch der interperiodische Verlustausgleich betroffen ist45. Damit beeinflusst die Verlustausgleichsbeschränkung des § 2a EStG das zu versteuernde Einkommen mit der Folge, dass sie im Ergebnis auch zu einer Versagung der Progressionsmilderung durch Verluste führt. Damit schließt § 2a Abs. 1 EStG einen negativen Progressionsvorbehalt aus46. § 2a Abs. 1 EStG führt im Ergebnis dazu, dass für bestimmte ausländische und im Ausland veranlasste inländische Einkünfte, soweit sie positiv sind, das Welteinkommensprinzip, und, soweit sie auf Dauer negativ sind, das Territorialitätsprinzip gilt. Diese Durchbrechung sowohl des Welteinkommensprinzips als auch des objektiven Nettoprinzips hat die höchstrichterliche Recht-

__________ 44 BMF v. 5.1.2010 – IV B 2 - S 1315/08/10002 – DOK 2009/0816912, BStBl. I 2010, 19 = FR 2010, 192. 45 Mössner in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 2a Rz. A 9 f. 46 Das gilt auch in Abkommensfällen, BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136; v. 13.5.1993 – IV R 69/92, BFH/NV 1994, 100; v. 17.11.1999 – I R 7/99, BStBl. II 2000, 605 = FR 2000, 619; Probst in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 2a EStG Anm. 97.

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sprechung47 bislang nicht als einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gewertet48. Dies deshalb nicht, weil § 2a Abs. 1 und 2 EStG nicht grob sachwidrig seien. Es hätten sachbezogene Gründe bestanden, zwischen Inlands- und bestimmten Auslandseinkünften zu unterscheiden. Dem Gesetzgeber sei es nämlich darum gegangen, unerwünschte Steuerersparnismöglichkeiten, die sich aus Verlustzuweisungsmodellen ergeben hätten, zu verhindern. Dass über dieses Ziel hinaus auch „gute“ Auslandsverluste durch die Regelung des § 2a Abs. 1 und 2 EStG betroffen würden, sei als Typisierung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden49. Indessen: Dass das objektive Nettoprinzip jedenfalls zu den Grundentscheidungen des Einkommensteuerrechts und damit zu dessen normkonzipierenden Prinzipen zählt, hat das BVerfG zwischenzeitlich erneut entschieden50. Es geht daher allein darum, ob die durch § 2a Abs. 1, 2 EStG bewirkte Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips in besonderer Weise sachlich gerechtfertigt ist. Die vom Gesetzgeber seinerzeit angeführten Gründe, unerwünschte Steuerersparnismöglichkeiten, die sich aus Verlustzuweisungsmodellen im Ausland ergeben hätten, zu verhindern, vermögen eine derartige Rechtfertigung schon deshalb nicht abzugeben, weil es derartige Verlustzuweisungsmodelle auch im Inland gab, ohne dass diese mit einer Verlustausgleichsbeschränkung belegt wurden. Es ist kein Grund erkennbar, warum gerade nur ausländische Verluste in den Diskriminierungsrahmen des § 2a EStG einbezogen wurden. Unabhängig davon ist das Argument der Vermeidung von Steuerersparnismöglichkeiten auch deshalb nicht tragfähig, weil die mit § 2a Abs. 1, 2 EStG getroffene typisierende Regelung zu Lasten einer Mehrheit von Steuerpflichtigen mit ausländischen Einkünften geht, deren Tätigkeit nicht auf Verlusterzielung ausgerichtet ist. Dass somit keineswegs – wie vom BVerfG gefordert51 – eine realitätsgerechte Orientierung am typischen Durchschnittsfall gegeben ist, gilt umso mehr, als durch den Diskriminierungsrahmen des § 2a Abs. 1 EStG nicht nur bestimmte ausländische Verluste, sondern auch bestimmte im Ausland veranlasste inländische Verluste betroffen sind, die mit unerwünschten ausländischen Verlustzuweisungsmodellen ohnehin nichts zu tun haben. Und schließlich: Auf Grund

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47 BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136; v. 12.12.1990 – I R 176/87, BFH/NV 1991, 820; v. 26.3.1991 – IX R 162/85, BStBl. II 1991, 704 = FR 1991, 504; v. 5.9.1991 – IV R 40/90, BStBl. II 1992, 192 = FR 1992, 103; v. 13.5.1993 – IV R 69/92, BFH/NV 1994, 100; v. 29.5.2001 – VIII R 43/00, BFH/NV 2002, 14; zuletzt noch BFH v. 29.1.2008 – I R 85/06, IStR 2008, 447 = FR 2008, 927; vgl. auch die weitergehende Rechtsprechungsübersicht bei Probst in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 2a EStG Anm. 40. 48 Der Rechtsprechung folgen z. B. Probst in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 2a EStG Anm. 42; Mössner in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 2a Rz. A 55 ff. 49 Eine diesbezügliche Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen; vgl. BVerfG v. 27.3.1998 – 2 BvR 220/92, IStR 1998, 344; v. 27.3.1998 – 2 BvR 2058/92, IStR 1998, 376; zuvor bereits BVerfG v. 22.5.1963 – 1 BvR 78/56, BVerfGE 16, 147 ff. (161). 50 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (234) = FR 2009, 74. 51 Z. B. BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 ff. (172) = FR 1992, 810; weitere Hinweise bei Kirchhof, StuW 2006, 3 ff. (15 f.).

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zwischenzeitlicher Änderungen insbesondere des Einkommensteuergesetzes52 sind den inkriminierten Verlustzuweisungsmodellen ohnehin die steuerliche Wirkung genommen, so dass die in § 2a Abs. 1, 2 EStG verankerte Verlustausgleichsbeschränkung nicht mehr erforderlich ist. Wenn sie aber nicht mehr erforderlich ist, vermag sie auch die Durchbrechung des Nettoprinzips nicht zu rechtfertigen. So gesehen ist § 2a Abs. 1, 2 EStG, gemessen an der ursprünglichen Zielrichtung, jedenfalls überholt. Soweit § 2a Abs. 1, 2 EStG dennoch zur Anwendung kommt, werden im Ergebnis damit jene Steuerpflichtigen benachteiligt, die ausländische oder im Ausland veranlasste Verluste erleiden. Unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit ist es nicht gerechtfertigt, dass Steuerpflichtige mit ausländischen oder im Ausland veranlassten Verlusten im Vergleich zu solchen mit inländischen Verlusten insgesamt zu einer höheren Steuerlast herangezogen werden. Der Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist (heute) evident53. Dass § 2a Abs. 1 und 2 EStG eine sachlich gerechtfertigte Differenzierung zwischen in- und ausländischen Verlusten nicht zu erklären vermag, hat letztlich auch dazu geführt, dass § 2a Abs. 1 EStG in der Fassung vor dem Jahressteuergesetz 2009 europarechtlich wegen Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EG/Art. 49/AEUV) nicht haltbar war54. Der EuGH hat hierzu festgestellt, dass die Regelungen des § 2a Abs. 1, 2 EStG über das hinausgeht, was zur Bekämpfung von Steuerumgehung erforderlich ist55. Die Konvergenz der Rechtfertigungsgründe zeigt: Da § 2a Abs. 1, 2 EStG nicht erforderlich ist, um vermeintliche Steuersparmodelle und Steuerumgehungen zu bekämpfen, sollte die derzeit noch im Verhältnis zu Drittstaaten wirkende Verlustausgleichsbeschränkung aufgehoben werden. 4. Ausländische Betriebsstättenverluste Das Welteinkommensprinzip erfährt in den Fällen eine Ausnahme, in denen auf Grund abgeschlossener Doppelbesteuerungsabkommen zwecks Vermeidung der Doppelbesteuerung bestimmte ausländische Einkünfte von deutscher Steuer frei gestellt werden. Diese Freistellung ergibt sich insbesondere für Betriebsstätteneinkünfte aus den jeweiligen spezifischen abkommensrechtlichen Vermeidungsnormen56. Soweit die Vermeidungsnormen in Doppelbesteuerungsabkommen die Freistellung von Betriebsstätteneinkünften anordnen, folgt hieraus abkommensrechtlich allerdings nicht ohne weiteres eine Nichtberück-

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52 Z. B. §§ 2 Abs. 4, 2b EStG a. F., §§ 15 Abs. 4, 15b EStG. 53 Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG wird angenommen z. B. von Gosch in Kirchhof, EStG, § 2a Rz. 2; Kaminski in Korn, EStG, § 2a Rz. 16.1; Vogel in Vogel/Lehner, DBA, Art. 23 Rz. 176; Weigell, Die Beschränkung des Ausgleichs ausländischer Verluste durch den neuen § 2a EStG, Gelsenkirchen 1986, 172; Friauf, StuW 1985, 308 ff.; Rädler, FR 1983, 337 ff.; Fleischmann, DStR 1983, 191 ff.; Prokisch, DStJG 28 (2005), 229 ff. (234); Schaumburg in FS Tipke, Köln 1995, 125 ff. (133); DStJG 24 (2001), 225 ff. (245). 54 EuGH v. 29.3.2007 – Rs. C-347/04 – Rewe Zentralfinanz, EuGHE 2007, I-2647. 55 EuGH v. 29.3.2007 – Rs. C-347/04 – Rewe Zentralfinanz, EuGHE 2007, I-2668 Rz. 53. 56 Hierzu die Abkommensübersicht bei Vogel in Vogel/Lehner, DBA, Art. 23 Rz. 16.

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sichtigung von Verlusten57. Ob Betriebsstättenverluste berücksichtigt werden, ist vielmehr Sache des jeweiligen nationalen Rechts58. Das deutsche Steuerrecht enthält zwar diesbezüglich kein ausdrückliches Verlustberücksichtigungsverbot, den früheren Regelungen in § 2 AIG und § 2a Abs. 3 EStG lässt sich aber entnehmen, dass der Gesetzgeber von der Konzeption ausgeht, dass der Freistellung von positiven Einkünften die Nichtberücksichtigung von Verlusten entspricht59. Im Hinblick auf diese Symmetriethese bleiben somit ausländische Betriebsstättenverluste, für die abkommensrechtlich die Freistellungsmethode eingreift, abgesehen von einem negativen Progressionsvorbehalt60 im Inland grundsätzlich unberücksichtigt61. Die Nichtberücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste führt zwar zu einer Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips, sie ist aber dann gerechtfertigt, wenn die betreffenden Betriebsstättenverluste im Betriebsstättenstaat Berücksichtigung finden. Andernfalls könnte es zu einer Doppelberücksichtigung von Verlusten kommen, was mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht zu vereinbaren wäre. Ist indessen eine Verlustberücksichtigung im ausländischen Betriebsstättenstaat nicht möglich, verliert die auf Grund der Symmetriethese an sich gebotene Nichtberücksichtigung der ausländischen Betriebsstättenverluste ihre Legitimationsgrundlage mit der Folge, dass die damit verbundene Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips nicht mehr gerechtfertigt ist. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn in Folge der Nichtberücksichtigung ausländischer Verluste im Inland Einkünfte zu versteuern sind, die in ihrer Gesamtheit überhaupt nicht angefallen sind. Die Nichtberücksichtigung von ausländischen Betriebsstättenverlusten führt spätestens dann zu einer unter keinen Umständen gerechtfertigten Übermaßbesteuerung, wenn feststeht, dass die Betriebsstättenverluste im Ausland unter keinen Umständen Berücksichtigung finden können. Das gilt zumal dann, wenn eine entsprechende Verlustberücksichtigung im Betriebsstättenstaat deshalb ausgeschlossen ist, weil die Verluste außerhalb der dortigen Einkünfte-

__________ 57 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, Art. 23 Rz. 49; Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, DBA, Art. 23 A Rz. 57; vgl. auch ÖVwGH v. 25.9.2001 – 99/14/0217 E, IStR 2001, 754. 58 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, Art. 23 Rz. 52; Wassermeyer in Debeatin/Wassermeyer, DBA, Art. 23 A Rz. 57; Kluge, Das Internationale Steuerrecht, 4. Aufl. München 2000, 323. 59 Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, DBA, Art. 23 A Rz. 57. 60 Hierzu Vogel in Vogel/Lehner, DBA, Art. 23 Rz. 61, 221 ff. 61 Ständige Rechtsprechung: RFH v. 26.5.1935 – VI A 414/35, RStBl. 1935, 1358; BFH v. 11.3.1970 – I B 50/68, I B 3/69, I B 50/68, I B 3/69, BStBl. II 1970, 569 = FR 1971, 218; v. 23.3.1972 – I R 128/70, BStBl. II 1972, 948; v. 28.3.1973 – I R 59/71, BStBl. II 1973, 531 = FR 1973, 271; v. 20.7.1973 – VI R 198/69, BStBl. II 1973, 732 = FR 1973, 453; v. 25.2.1976 – I R 150/73, BStBl. II 1976, 454; v. 12.1.1983 – I R 90/79, BStBl. II 1983, 382 = FR 1983, 284; v. 28.4.1983 – IV R 122/79, BStBl. II 1983, 566 = FR 1983, 438; v. 9.8.1989 – I B 118/88, BStBl. II 1990, 175 = FR 1990, 57; v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136; v. 26.3.1991 – IX R 162/85, BStBl. II 1991, 704 = FR 1991, 504; v. 6.10.1993 – I R 32/93, BStBl. II 1994, 113 = FR 1994, 95 m. Anm. Meyer; v. 18.7.2001 – I R 70/00, DB 2001, 2696 = FR 2002, 169; v. 17.7.2008 – I R 84/04, IStR 2008, 704; BFH v. 3.2.2010 – I B 32/09, BFH/NV 2010, 1128.

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ermittlung anfallen. Angesprochen sind damit z. B. auf das Dotationskapital ausländischer Betriebsstätten entfallenden Währungsverluste, die nur durch eine entsprechende Währungsumrechnung im Inland entstehen und in der steuerlichen Einkünfteermittlung im ausländischen Betriebsstättenstaat gar nicht abgebildet werden können. Derartige währungsbedingte Dotationskapitalverluste sind wie alle anderen finalen Betriebsstättenverluste in Orientierung an das objektive Nettoprinzip im Inland zu berücksichtigen62. Es ist Aufgabe des Wohnsitzstaates, also des Staates, der die Besteuerung des Welteinkommens für sich beansprucht und damit auch die Letztverantwortung für eine am Leistungsfähigkeitsprinzip orientierte Besteuerung trägt63, ausländische Verluste, die anderweitig nicht (mehr) verwertet werden können64, ultima ratio im Rahmen inländischer Besteuerung zu berücksichtigen65. Andernfalls gingen diese Verluste im steuerlichen „Niemandsland“ verloren: Es käme zu einer mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Übermaßbesteuerung nur deshalb, weil die Verluste im Ausland und nicht im Inland entstanden sind. Die Gleichstellung mit inländischen Verlusten gebietet indessen nicht nur Art. 3 Abs. 1 GG, sondern auch die europarechtlich verbürgten Grundfreiheiten66. So sind geschäftsbedingte Verluste aus in der EU belegenen Betriebsstätten in Orientierung an die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) im Inland zu berücksichtigen, wenn nachgewiesen wird, dass die Verluste im Betriebsstättenstaat steuerlich nicht (mehr) anderweitig verwertbar sind67. Dies gilt in gleicher Weise für währungsbedingte Verluste, insbesondere Dotationskapitalverluste in Zusammenhang mit ausländischen Betriebsstätten68. Dieses Verlustberücksichtigungsgebot gilt zwar wegen der bloß subsidiären Geltung der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV)69 nicht ohne weiteres im Verhältnis zu Drittstaaten70, es erlangt aber Geltung wegen der uneingeschränkten Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG, wonach eine steuerliche Höherbelastung nicht deshalb gerechtfertigt ist, nur weil die Verluste nicht aus dem EU-/EWR-Raum, sondern in Drittstaaten anfallen.

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62 A. A. BFH v. 16.2.1996 – I R 43/95, BStBl. II 1997, 128 = FR 1996, 600. 63 Schaumburg in FS Tipke, Köln 1995, 125 ff. (143 ff.). 64 Wann die ausländischen Verluste in diesem Sinne endgültig sind, ist umstritten; hierzu Breuninger/Ernst, IStR 2009, 1981 ff. 65 Phasengleicher Verlustabzug, wobei die Nichtberücksichtigung des Verlustes im Betriebsstättenstaat ein „rückwirkendes Ereignis“ i. S. d. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO ist. 66 Hierzu der Überblick von Ditz/Plansky, DB 2009, 1669 ff. 67 EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, EuGHE 2008 I-3617 = FR 2008, 831; hierzu Seiler/Axer, IStR 2008, 838 ff.; BFH v. 17.7.2008 – I R 84/04, IStR 2008, 704; Nichtanwendungserlass BMF v. 13.7.2009 – IV B 5 - S 2118-a/07/10004 – DOK 2009/0407190, BStBl. I 2009, 835 = FR 2009, 779; vgl. auch EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 – KR Wannsee, IStR 2008, 769; hierzu Lamprecht, IStR 2008, 766 ff.; Breuninger/Ernst, IStR 2009, 1981 ff. 68 EuGH v. 28.2.2008 – Rs. C-293/06 – Deutsche Shell, EuGHE 2008 I-1147; hierzu Schänzle, IStR 2009, 514 ff. 69 Hierzu Wunderlich/Blaschke, IStR 2008, 754 ff.; Tippelhofer/Lohmann, IStR 2008, 857 ff.; Haslehner, IStR 2008, 565 ff. 70 EuGH v. 6.11.2007 – Rs. C-415/06 – Stahlwerk Ergste Westig, IStR 2008, 107.

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De lege ferenda ist daher eine Reaktivierung des § 2a Abs. 3 EStG a. F. auf alle Fälle der abkommensrechtlichen Freistellung oder aber eine Option zur Steueranrechnung geboten. Im Übrigen kommt, um dem objektiven Nettoprinzip zu entsprechen, ein Erlass aus Billigkeitsgründen (§§ 163, 227 AO) in Betracht71.

III. Steuerausländer mit inländischen Einkünften 1. Nettoprinzip und inländische Einkünfte Natürliche Personen, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind mit ihren in § 49 EStG aufgeführten inländischen Einkünften beschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs. 4 EStG). § 49 Abs. 1 EStG führt im Einzelnen auf, welche inländischen Einkünfte der beschränkten Einkommensteuerpflicht unterliegen. Der Einkünftekatalog des § 49 Abs. 1 EStG knüpft grundsätzlich an die Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 EStG an. § 49 Abs. 1 EStG hat damit keine konstitutive Bedeutung, sondern wiederholt nur das, was bereits im § 2 Abs. 1 EStG dadurch zum Ausdruck kommt, dass die dort bezeichneten Einkünfte, die der Steuerpflichtige während seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder als inländische Einkünfte während seiner beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielt, der Einkommensteuer unterliegen72. Die Bedeutung des § 49 Abs. 1 EStG erschöpft sich mithin darin, den Inlandsbezug der in den §§ 13–23 EStG genannten Einkunftsarten herzustellen73. Es gelten daher im Grundsatz die allgemein durch das Veranlassungsprinzip74 geprägten Zuordnungsregeln, wonach betrieblich/beruflich veranlasste Aufwendungen/Ausgaben Betriebsausgaben oder Werbungskosten sind. Eine inlandsbezogene Modifikation des Veranlassungsprinzips enthält allerdings § 50 Abs. 1 Satz 1 EStG, wonach beschränkt Steuerpflichtige Betriebsausgaben oder Werbungskosten nur insoweit abziehen dürfen, als sie mit inländischen Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen. Diese Modifikation ändert aber nichts daran, dass im Grundsatz im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht das objektive Nettoprinzip und auch das Leistungsfähigkeitsprinzip insgesamt zur Entfaltung gelangen.

__________ 71 Gegen BMF v. 13.7.2009 – IV B 5 - S 2118-a/07/10004 – DOK 2009/0407190, BStBl. I 2009, 835 = FR 2009, 779, wonach faktisch ein „Importverbot“ für ausländische Betriebsstättenverluste verhängt worden ist; hierzu Breuninger/Ernst, IStR 2009, 1981 ff. (1982 f.). 72 BFH v. 20.2.1974 – I R 217/71, BStBl. II 1974, 511; v. 12.11.1986 – I R 192/85, BStBl. II 1987, 383; Roth in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 49 Anm. 5; Mössner in FS Flick, Köln 1997, 939 ff. (948); Gosch in FS Wassermeyer, München 2005, 263 ff. (268). 73 BFH v. 18.12.1963 – I 230/61 S, BStBl. III 1964, 253; Wassermeyer, DStJG 8 (1985), 49 ff. (61 f.). 74 Hierzu im Überblick Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rz. 227 ff.

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Das Nettoprinzip im Internationalen Steuerrecht

2. Abgeltungswirkung bei beschränkter Steuerpflicht In Abweichung von der in §§ 1 Abs. 4, 49 Abs. 1, 2 Abs. 1 EStG zugunsten des objektiven Nettoprinzips getroffenen Grundlagenentscheidung, enthält § 50 Abs. 2 Satz 1 EStG mit der dort verankerten Abgeltungswirkung eine Durchbrechung des Nettoprinzips: Für Einkünfte, die dem Steuerabzug vom Arbeitslohn, vom Kapitalertrag oder dem Steuerabzug gem. § 50a EStG unterliegen, gilt die Einkommensteuer durch den Steuerabzug als abgegolten. Ein Abzug von Werbungskosten oder Betriebsausgaben kommt daher grundsätzlich nicht in Betracht mit der Folge, dass insoweit das Einkommensteuergesetz von der Netto- zur Bruttobesteuerung überwechselt. Von dieser Ausnahme gibt es indessen, nicht zuletzt veranlasst durch die Rechtsprechung des EuGH75, einige Rückausnahmen, die entweder zu einer zwingenden oder optionalen Steuerveranlagung (§ 50 Abs. 2 Satz 2 EStG) oder aber zu einem Steuerabzug auf Nettobasis (§ 50a Abs. 3 EStG) führen. Soweit die vorgenannten Ausnahmen nicht eingreifen, verbleibt es beim Steuerabzug auf Bruttobasis mit der Folge, dass insoweit das Nettoprinzip uneingeschränkt suspendiert ist. Das gilt insbesondere für dem Steuerabzug unterliegende Lizenzvergütungen beschränkt steuerpflichtiger Personen (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 EStG). Hier besteht weder die Möglichkeit auf wahlweise Veranlagung zur Einkommensteuer (vgl. § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 EStG) noch die Möglichkeit für einen Steuerabzug auf Nettobasis (vgl. § 50a Abs. 3 Satz 1 EStG), wobei es nicht darauf ankommt, ob der Lizenzgläubiger im EU/EWR-Bereich oder in einem Drittstaat ansässig ist. Betroffen hierdurch sind insbesondere die Vergütungen für die Nutzung oder für die Überlassung von Urheberrechten usw., die gem. § 50a Abs. 1 Nr. 3 EStG einer Abzugsteuer von 15 v. H. (§ 50a Abs. 2 Satz 1 EStG) unterliegen. Der Quellensteuerabzug mit Abgeltungswirkung (§ 50 Abs. 2 Satz 1 EStG) ist in der Vergangenheit damit gerechtfertigt worden76, dass hierdurch eine ausreichende Gewähr für eine wirksame Steuererhebung geboten und damit dem objektsteuerartigen Charakter der Einkommensteuer bei beschränkt Steuerpflichtigen Rechnung getragen werde. Im Übrigen sei die Quellensteuer der Höhe nach limitiert, wodurch ohnehin eine geringere Steuerbelastung als bei unbeschränkt steuerpflichtigen Personen entstehen könne77. Schließlich sei es allein Aufgabe des Wohnsitzstaates, die Leistungsfähigkeit der in der Bundesrepublik Deutschland beschränkt steuerpflichtigen Personen durch entsprechende steuerliche Maßnahmen, etwa durch Berücksichtigung von Werbungskosten und Betriebsausgaben, zu berücksichtigen78. Im Übrigen wird die mit der abgeltenden Wirkung des Steuerabzugs auf Bruttobasis einhergehende

__________ 75 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-290/04 – Scorpio, BStBl. II 2007, 352; v. 15.2.2007 – Rs. C-345/04 – Centro Equestre, EuGHE 2007, I-1442. 76 Etwa BVerfG v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119; v. 12.10.1976 – 1 BvR 2328/73, BVerfGE 43, 1; v. 5.9.1975 – 1 BvR 219/75, HFR 1975, 540; v. 24.2.1989 – 1 BvR 519/87, StRK EStG 1975, § 36b R. 2a. 77 BVerfG v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 ff. (124). 78 BVerfG v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 ff. (124) als Rechtfertigung für die Nichtberücksichtigung persönlicher Verhältnisse.

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Bruttobesteuerung mit dem Objektsteuercharakter bei beschränkter Steuerpflicht gerechtfertigt79. Im Hinblick darauf, dass das (objektive) Nettoprinzip für das Einkommensteuerrecht insgesamt, also auch für den Bereich der beschränkten Steuerpflicht, normenkonzipierend ist, geht es allein darum, ob der Steuerabzug auf Bruttobasis mit Abgeltungswirkung eine gerechtfertigte Bereichsausnahme darstellt. Soweit in diesem Zusammenhang auf den Objektsteuercharakter der beschränkten Steuerpflicht abgestellt wird80, handelt es sich hierbei nicht um ein Rechtfertigungsargument, sondern allenfalls um das Ergebnis einer Analyse der Belastungswirkungen bei beschränkter Steuerpflicht, die gerade durch den Steuerabzug auf Bruttobasis mit Abgeltungswirkung geprägt wird. Der Befund „Objektsteuercharakter“ liefert damit von vornherein keine Rechtfertigung, vom objektiven Nettoprinzip abzuweichen. Soweit als sachlicher Grund für die Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips angeführt wird, der Steuerabzug auf Bruttobasis mit Abgeltungswirkung gewährleiste eine wirksame Steuererhebung, so ist dieses Argument im Grundsatz zwar akzeptabel, weil die vorgenannte Steuererhebung durchaus der Vereinfachung und damit der Schonung von Verwaltungsressourcen dient81. Eine damit verbundene Abweichung vom objektiven Nettoprinzip muss sich aber in den vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gezogenen Grenzen halten82. Hieraus folgt: §§ 50 Abs. 2 Satz 2, 50a Abs. 3 EStG sehen Rückausnahmen vor, auf Grund deren auch in den Fällen des Steuerabzugs die Besteuerung beschränkt steuerpflichtiger Personen auf das grundlegende objektive Nettoprinzip zurückgeführt wird. Von besonderer Bedeutung ist die im § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 EStG vorgesehene Möglichkeit, in Abkehr von der Abgeltungswirkung des Steuerabzugs im Rahmen einer wahlweisen Veranlagung Betriebsausgaben oder Werbungskosten geltend zu machen. Diese Rückausnahme gilt allerdings nicht für alle abzugspflichtigen Einkünfte und zudem nur für EU-/EWR-Staatsangehörige, die im EU-/EWR-Bereich ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben (§ 50 Abs. 2 Satz 7 EStG). Ausgenommen hiervon sind indessen generell beschränkt steuerpflichtige Lizenzgläubiger. Aus welchen Gründen beschränkt Steuerpflichtige für dem Steuerabzug unterliegende Lizenzvergütungen (§ 50a Abs. 1 Nr. 3 EStG) keine Veranlagung zur Einkommensteuer beantragen können, erschließt sich nicht. Für die vorgenannten Einkünfte eröffnet sich aber

__________ 79 BVerfG v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 ff. (124); Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, Vor §§ 1, 1a EStG Anm. 31; Engelschalk, Die Besteuerung von Steuerausländern auf Bruttobasis, Heidelberg 1988, 87; differenzierend Strunk in Korn, EStG, § 50 Rz. 10; Wassermeyer, DStJG 8 (1985), 49 ff. (64 ff.). 80 Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, vor §§ 1, 1a Anm. 31; Engelschalk, Die Besteuerung von Steuerausländern auf Bruttobasis, Heidelberg 1988, 87. 81 Zur Befugnis des Gesetzgebers zur Vereinfachung und Typisierung BVerfG v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214 ff. (227) = FR 1988, 675; v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 ff. (359) = FR 1992, 70; v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 ff. (172) = FR 1992, 810; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (232 f.) = FR 2009, 74. 82 Hierzu Drüen, StuW 2008, 3 ff. (11); Lehner, DStR 2009, 185 ff. (191); Wendt, DStJG 28 (2005), 41 ff. (52); Englisch, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 92 ff. (97).

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auch nicht die Möglichkeit eines Steuerabzugs auf Nettobasis (§ 50a Abs. 3 Satz 1 EStG). Im Gegensatz dazu kann z. B. für dem Steuerabzug unterliegende Einkünfte, die durch im Inland ausgeübte künstlerische, sportliche, artistische, unterhaltende oder ähnliche Darbietungen oder aus der inländischen Verwertung derselben erzielt werden, eine Veranlagung zur Einkommensteuer beantragt werden mit der Folge, dass Betriebsausgaben oder Werbungskosten Berücksichtigung finden (§ 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 EStG). Für die vorgenannten Einkünfte besteht zudem die Möglichkeit des Steuerabzugs auf Nettobasis (§ 50a Abs. 3 EStG). Im Hinblick auf diese Ungleichbehandlung verliert das Vereinfachungsargument jedwede Legitimation. Dies gilt auch für den als Rechtfertigung gedachten Hinweis, die Quellensteuer betrage ohnehin nur 15 v. H., womit zugleich zum Ausdruck gebracht wird, dass damit typisierend auch Betriebsausgaben und Werbungskosten Berücksichtigung fänden. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass mit einer derartigen Typisierung realitätsgerecht der typische Durchschnittsfall abgebildet wird83. Weil aber gerade der Typisierungsrahmen in Steuerabzugsfällen gesprengt ist, sah sich der Gesetzgeber, wenn auch aus europarechtlichen Gründen, zur Einführung eines Veranlagungswahlrechts und eines Steuerabzugs auf Nettobasis gezwungen84. Soweit schließlich darauf verwiesen wird, es sei Aufgabe des jeweiligen Wohnsitzstaates, das Nettoprinzip zu berücksichtigen, so gilt dies, gemessen an der gesetzgeberischen Konzeption, allenfalls für das subjektive Nettoprinzip. Aber auch hier sind in den Fällen Grenzen gesetzt, in denen beschränkt steuerpflichtige Personen ausschließlich oder fast ausschließlich inländische Einkünfte erzielen (§ 1 Abs. 3, 1a EStG). Da die zwingende Bruttobesteuerung von den dem Steuerabzug unterliegenden Lizenzvergütungen auch dann gilt, wenn Lizenzgläubiger EU-/EWR-Staatsangehörige sind, ist neben der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) zugleich auch ein Verstoß gegen die europarechtlichen verbürgten Grundfreiheiten gegeben85. Die nicht zu rechtfertigende Benachteiligung von beschränkt steuerpflichtigen Lizenzgläubigern ist offenkundig; ihnen sollte de lege ferenda ebenfalls die Möglichkeit zur Veranlagung und zum Steuerabzug auf Nettobasis eröffnet werden. 3. Splittingtarif bei beschränkter Steuerpflicht Im Grundsatz wird das zu versteuernde Einkommen bei beschränkt steuerpflichtigen Personen nach den gleichen Regeln ermittelt wie bei unbeschränkt Steuerpflichtigen. Entsprechendes gilt auch für die Anwendung der Tarifvorschriften. Einschränkungen ergeben sich allerdings aus § 50 EStG. Hiernach

__________ 83 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153 ff. (172); v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 ff. (182 f.) = FR 2006, 766; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 ff. (233) = FR 2009, 74. 84 Eingeführt durch das JStG 2009 v. 19.12.2008, BGBl. I 2008, 2794. 85 Vgl. EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-290/04 – Scorpio, BStBl. II 2007, 352; v. 15.2.2007 – Rs. C-345/04 – Centro Equestre, EuGHE 2007, I-1442.

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sind insbesondere Sonderausgaben nicht abzugsfähig, so dass auch die Pauschbeträge nach § 10c EStG entfallen (§ 50 Abs. 1 Satz 3 EStG). Schließlich ist die Steuer für beschränkt steuerpflichtige Personen grundsätzlich nach der Grundtabelle (§ 32a Abs. 1 EStG) zu berechnen (§ 50 Abs. 1 Satz 2 EStG), wobei das zu versteuernde Einkommen um den Grundfreibetrag des § 32a Abs. 1 EStG zu erhöhen ist86. Damit bleibt beschränkt steuerpflichtigen Personen der Splittingtarif im Grundsatz versagt. In den Fällen der fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht (§ 1 Abs. 3 EStG) gelten indessen besondere familienbezogene Regelungen, die sich im Einzelnen aus § 1a Abs. 1, 2 EStG ergeben. Hiernach können insbesondere EU-/EWR-Staatsangehörige, die im Inland weder Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, das tarifliche Ehegattensplitting (§§ 26, 32a Abs. 5 EStG) in Anspruch nehmen. Für Drittstaatsangehörige gilt dies freilich nicht. Die nicht durchgehende Berücksichtigung des subjektiven Nettoprinzips beruht darauf, dass im Grundsatz nur derjenige Staat, der das Welteinkommen der Besteuerung unterwirft, die Leistungsfähigkeit im Sinne der Gesamtleistungsfähigkeit berücksichtigen kann87. Im Hinblick darauf ist es im Ergebnis vor allem die Aufgabe des Wohnsitzstaates, die subjektive Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen88. Das setzt allerdings voraus, dass die Gesamtleistungsfähigkeit im Wohnsitzstaat überhaupt Berücksichtigung finden kann, was nicht der Fall ist, wenn die dem Einkommen zugrunde liegenden Einkünfte etwa auf Grund abkommensrechtlicher Vorschriften entweder überhaupt nicht oder nur zu einem geringen Teil der Besteuerung im Wohnsitzstaat unterliegen. In diesem Fall ist das subjektive Nettoprinzip von dem Staat zur Geltung zu bringen, der die dem Einkommen zugrunde liegenden Einkünfte ausschließlich oder fast ausschließlich der Besteuerung unterwirft. Hieraus folgt, dass unter den vorgenannten Umständen das subjektive Nettoprinzip uneingeschränkt auch im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht zu berücksichtigen ist89. Der vorgenannten Differenzierung90 ist durch § 1a EStG zugunsten von EU-/ EWR-Staatsangehörigen entsprochen worden. Drittstaatsangehörigen in vergleichbarer Lage bleibt demgegenüber die Inanspruchnahme des SplittingTarifs verwehrt. Hierin liegt ein Verstoß insbesondere gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Eine Rechtfertigung hierfür ist nicht gegeben. Es sind keine Gründe erkennbar, die eine derartige Differenzierung rechtfertigen können. Die Staats-

__________ 86 Das gilt nicht für Arbeitnehmer mit Einkünften gem. § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG (§ 50 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 EStG). 87 Hierzu Schaumburg in FS Tipke, Köln 1995, 125 ff. (138 f.). 88 BVerfG v. 24.9.1965 – 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 ff. (124); BFH v. 20.4.1988 – I R 219/82, BStBl. II 1990, 701 = FR 1988, 559; Frotscher in Frotscher, EStG, § 50 Rz. 2. 89 Schaumburg in FS Tipke, Köln 1995, 125 ff. (137). 90 Hierzu aus europarechtlicher Sicht EuGH v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93 – Schumacker, IStR 1995, 126 = FR 1995, 224 m. Anm. Waterkamp-Faupel; v. 11.8.1995 – Rs. C-80/94 – Wielockx, IStR 1995, 431 = FR 1995, 647; v. 14.9.1999 – Rs. C-391/97 – Gschwindt, BStBl. II 1999, 841 = FR 1999, 1076 m. Anm. Stapperfend.

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angehörigkeit ist jedenfalls kein derartiger Differenzierungsgrund91, zumal die im Einkommensteuergesetz im Grundsatz angelegten Belastungsentscheidungen sich nicht an der Staatsangehörigkeit orientieren92. Im Hinblick darauf gebietet Art. 3 Abs. 1 GG Drittstaatsangehörigen, die sich in einer vergleichbaren Lage wie EU-/EWR-Staatsangehörige befinden, ebenfalls den Splittingtarif zu gewähren93.

IV. Zusammenfassung Im Bereich des internationalen Steuerrechts wird das Nettoprinzip in mehrfacher Weise durchbrochen, und zwar entweder durch spezifische Abzugsverbote oder aber durch Verlustausgleichsbeschränkungen. Betroffen hierdurch sind sowohl Steuerinländer mit ausländischen Einkünften als auch Steuerausländer mit inländischen Einkünften. Soweit es um die Erfassung ausländischer Einkünfte geht, ist die auf ein Abzugsverbot gerichtete Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips durch das SteuerHBekG unter keinen Umständen gerechtfertigt, da sie ganz überwiegend außenpolitisch motiviert ist. Hierdurch ist im Ergebnis nicht nur ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes, sondern auch ein solcher gegen die europarechtlich verbürgten Grundfreiheiten zu beklagen. Demgegenüber führt die im § 2a Abs. 1, 2 EStG verankerte Verlustausgleichsbeschränkung allein zu einer Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG), weil die vorgenannte Vorschrift als Folge der EuGH-Rechtsprechung unter europarechtlichen Gesichtspunkten bereits repariert worden ist. Eine verfassungsrechtliche und europarechtliche Baustelle bilden allerdings ausländische Betriebsstättenverluste, für die abkommensrechtlich eine Steuerfreistellung gilt. Hier ist eine Berücksichtigung finaler Verluste geboten. Auch hier hat der EuGH die entsprechende Richtung gewiesen, ohne dass bislang der deutsche Gesetzgeber hierauf eingegangen wäre. Bei der Besteuerung inländischer Einkünfte im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht ergibt sich insbesondere auf Grund der in § 50 Abs. 2 Satz 2 EStG verankerten Abgeltungswirkung ein schwerwiegender Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip in den Fällen, in denen weder die Möglichkeit zu einer

__________ 91 Gemäß Art. 3 Abs. 3 GG gehört zwar die Staatsangehörigkeit ebenso wie die Ansässigkeit nicht zu den verbotenen Differenzierungskriterien, damit erübrigt sich aber noch nicht das nach Art. 3 Abs. 1 GG gebotene Rechtfertigungsargument; hierzu Kumpf/Roth, StuW 1996, 259 ff. (262 f.); kritisch auch Gosch in Kirchhof, EStG, § 1a Rz. 5; anders dagegen z. B. BVerfG v. 20.3.1979 – 1 BvR 111/74, 1 BvR 283/78, BVerfGE 51, 1 ff. (30); v. 23.1.1990 – 1 BvR 306/86, BVerfGE 81, 208 ff. (224 f.) und die h. M. in der Literatur z. B. Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, Vor §§ 1, 1a Anm. 32. 92 Ausnahmen: §§ 1 Abs. 3, 1a EStG, § 2 AStG. 93 Hierzu allgemein Schaumburg/Schaumburg, StuW 2005, 306 ff.; Kumpf/Roth, StuW 1996, 269 ff. (262 f.); Schaumburg, DStJG 24 (2001), 225 ff. (232); DB 2005, 1129 ff. (1134); a. A. die h. M. z. B. Schön, IStR 1995, 119 ff. (123 f.); Müller, DStR 1995, 585 ff. (589); Knobbe-Keuk, EuZW 1995, 167 ff. (168).

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Wahlveranlagung noch zu einem Steuerabzug auf Nettobasis möglich ist. Schließlich ist das subjektive Nettoprinzip in den Fällen verletzt, in denen der Splittingtarif beschränkt steuerpflichtigen Drittstaatsangehörigen selbst dann verwehrt wird, wenn sie ihre Einkünfte ausschließlich oder fast ausschließlich im Inland erzielen. Der vorstehende Krisenbefund macht deutlich: Im Internationalen Steuerrecht ist das Nettoprinzip in wichtigen Teilbereichen suspendiert. Hier gilt die von Joachim Lang zuletzt formulierte Aufforderung zu judicial activism94 in besonderer Weise; denn nur das BVerfG wird auf Dauer das Nettoprinzip gegen den Fiskalismus erfolgreich verteidigen können.

__________ 94 Lang, StuW 2007, 3 ff. (15).

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Verrechnungspreise, Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Verrechnungspreise und das Konzept der Einkommensteuer III. Die Frage der Gleichheit

IV. Der Marktpreis und der Fremdvergleichsgrundsatz V. Fremdvergleichsgrundsatz und Praktikabilität VI. Schlussfolgerungen

I. Einleitung Das Thema der Gleichheit und steuerlichen Leistungsfähigkeit lag dem durch diese Arbeit geehrten Joachim Lang stets sehr am Herzen. In seinem klassischen Werk Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer legte er Wert darauf, den Untertitel Rechtssystematische Grundlagen steuerlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht hinzuzufügen und so die Bedeutung dieses Grundsatzes für die Einkommensteuer herauszustellen. In der vorliegenden Arbeit werde ich die Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit unter dem Blickwinkel der Disziplin der Verrechnungspreise behandeln und insbesondere den Fremdvergleichsgrundsatz (arm’s-length-principle) analysieren, der in dieser Materie grundlegend ist.

II. Verrechnungspreise und das Konzept der Einkommensteuer Unter Verrechnungspreis versteht man den von einem Unternehmen geforderten Preis für den Verkauf oder Gütertransfer, Dienstleistungen oder immaterielle Güter gegenüber einem mit ihm verbundenen Unternehmen.1 Da es sich um Preise handelt, die nicht auf dem freien und offenen Markt verhandelt werden, können sie sich von solchen unterscheiden, die von nicht verbundenen Handelspartnern bei vergleichbaren Transfers unter an sonst gleichen Umständen vereinbart worden wären. Da die Disziplin der Verrechnungspreise Bestandteil der Einkommensteuergesetzgebung ist, stellt der Verrechnungspreis unmittelbar die Grenze des steuerbaren Einkommnens dar, zumal jede Norm zur Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Aufwendungen oder zur steuerlichen Anerkennung von nicht

__________ 1 „Transfer pricing“, in International Tax Glossary, Susan M. Lyons, 3. Aufl., Amsterdam: International Bureau of Fiscal Documentation, 1996.

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verbuchten Einnahmen den Verdacht der Verfälschung eines Ergebnisses schüren und sich vom Konzept des Nettoeinkommens lösen würde. Der obige Verdacht basiert auf dem Vorurteil, dass die Buchhaltung das Instrument par excellence für die Ermittlung des Gewinnes einer juristischen Person sei und somit der rechte Parameter für die Bestimmung des Nettoeinkommens. Dies ist nicht die Gelegenheit, das Einkommens-Konzept zu diskutieren. Auch kann man aus historischer Sicht kaum davon ausgehen, dass der Buchgewinn immer schon, so wie der heute ermittelte, die angemessene Grundlage für die Berechnung des steuerbaren Einkommens war. Es sei beispielsweise nur daran erinnert, dass die Einführung des Kompetenzregimes zur Ermittlung des steuerbaren Gewinnes eines Unternehmens nicht friedfertig verlief, sondern seinerzeit heiße Debatten darüber erzeugte, dass es unmöglich sei, Werte zu besteuern, die ja schließlich nicht geldlich realisiert worden seien.2 Heute bezweifelt kaum jemand, dass es zu einem Unternehmensgewinn kommt, wenn ein Unternehmen einen Verkauf auch gegen einen nicht in der Periode realisierten Preis tätigt. Unter diesem Blickwinkel muss die Gesetzgebung betreffend die Verrechnungspreise gesehen werden: ist sie verfassungsgemäß – weil vereinbar mit dem Konzept des Nettoeinkommens, wie heute in Brasilien bestätigt durch Art. 43 des Nationalen Steuergesetzes, wenn die durch sie erzwungenen Anpassungen zur Korrektur möglicher Verzerrungen des Buchgewinnes juristischer Personen dienen, um somit das Ergebnis dem effektiven Betriebsgewinn anzunähern. In diesem Sinn ist abzuwägen, in welches Szenario sich die Gesetzgebung betreffend der Verrechnungspreise einfügt. Handelt es sich um Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen, dann unterscheiden sich diese Transaktionen wegen der Abwesenheit eines Marktes als Schiedsrichter über die Verteilung von Gütern von solchen, die zwischen unabhängigen Parteien praktiziert werden. In einem Markt, in dem unabhängige Parteien sich handelsmäßig verbinden, ist es vernünftig anzunehmen, dass jede den größtmöglichen Vorteil an sich ziehen will und dass aus der dialektischen Spannung bei jeder Transaktion ein Preis hervorgeht, nämlich der sog. „Marktpreis“, der nichts anderes ist als der Parameter für die Verteilung der Güter (oder des Gewinnes) zwischen den Parteien. Ohne in die Polemik um das Phänomen der Globalisierung und ihrer vielfältigen Auswirkungen einsteigen zu wollen, kann man doch eine Veränderung in den internationalen Handelsbeziehungen feststellen: Während sich früher ein Unternehmen zur Erweiterung seiner Märkte in verschiedenen Ländern nie-

__________ 2 Dazu s. auch die Meinung von Ruy Barbosa Nogueira, „A disponibilidade econômica ou jurídica para os efeitos da incidência“, in Imposto de Renda, VVAA, São Paulo: IBDT/Resenha Tributária, 1981, S. 138–190.

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derließ und dort eigenständige Wirtschaftseinheiten im Wettbewerb unterhielt, ziehen es heute die transnationalen Gruppen vor, ihre Aktivitäten in großen, weltweit handelnden Einheiten zusammenzuführen. So gründete früher eine Firma, die international beispielsweise in der Schuhindustrie expandieren wollte, in jedem relevanten Markt eine Fabrik zur lokalen Produktion und Markterschließung. Der Gewinn oder Verlust jeder Einheit wurde dann einfach verrechnet. Bei der oben erwähnten Konzentration bevorzugt die Gruppe eine Fabrik zur Sohlenfertigung und eine andere für Näharbeiten usw. Auf diese Weise ergibt sich aus der Spezialisierung ein evidenter Größenzuwachs. Gleichzeitig geht bei dieser neuen Struktur der Markt als Schiedsrichter über die Verteilung der Güter verloren. Im erwähnten Beispiel hat die Produktionseinheit für Sohlen einen Gewinn oder Verlust entsprechend den von der Gruppe intern festgesetzten Preisen. Anstelle des Marktparameters können andere Interessen wichtig werden, wie z. B. politische (möglicherweise will eine Einheit mit Mehrheitsbeteiligung in der „Geschäftsführung“ an einer geführten Einheit größere Vorteile erzielen) oder gar steuerliche. So versteht man, warum der Buchgewinn kein unbedingt vertrauenswürdiger Parameter für die Ermittlung des Gewinnes einer juristischen Person mehr sein kann: Als arithmetisches Ergebnis von getätigten Transaktionen kann er nur als Maß für das Einkommen dienen, das zwischen unabhängigen Unternehmen ausgehandelt würde. Damit unterliegt die Idee des Buchgewinnes zur Ermittlung des Einkommens einer Bedingung: nur solange der Gewinn Marktpreise abbildet. Was ist dann bei Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen zu tun? Der Buchgewinn gilt demnach dann als Maß für das Einkommen einer juristischen Person, wenn die verrechneten Preise Marktpreise sind. Widrigenfalls werden die Werte der konkreten Transaktionen ersetzt durch die Marktpreise, und man gelangt zu einem vom Buchgewinn unterschiedlichen Gewinn, der besser das Einkommen der juristischen Person widerspiegelt. So wird verständlich, dass bei der Substitution der Transaktionspreise zwischen verbundenen Unternehmen durch Marktpreise die Gesetzgebung zu den Verrechnungspreisen nicht mehr suchen muss, sondern mit großer Genauigkeit den von einem Unternehmen erwirtschafteten Gewinn bewertet. Im Licht des Konzeptes des Nettogewinnes wird die Gesetzgebung zu den Verrechnungspreisen dann angenommen – ja es wird erwartet –, wenn sie den steuerbaren Gewinn auf der Grundlage der Marktpreise genauestens bemisst. Dementsprechend wird die Substitution der praktizierten Preise bei einer Transaktion nur dann toleriert, wenn dafür Werte eingesetzt werden, die möglichst genau die Marktpreise darstellen.

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III. Die Frage der Gleichheit Die obige Schlussfolgerung wird noch bestärkt, wenn man den Gleichheitsgrundsatz in Steuersachen, ausgedrückt in der steuerlichen Leistungsfähigkeit, heranzieht. Diesbezüglich schrieb der von uns Geehrte schon: „Die Steuergerechtigkeit wird hauptsächlich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) abgeleitet. Dies entspricht der Bedeutung des Gleichheitssatzes als einer grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellung des GG.“3 Die Gleichbehandlung ist nicht zwingend bei Personen in identischen Situationen, sondern bei solchen Steuerpflichtigen, die sich in einer äquivalenten Situation befinden. Daraus leitet sich für den Verfassungsgeber die Erkenntnis ab, dass die Gleichheit stets relativ ist. So lehrt schon Klaus Tipke: „Die Gleichheit, die sich von der Identität unterscheidet, ist stets relativ. Was vollständig gleich ist, ist identisch. Der Grundsatz, wonach Gleiches auch gleich behandelt werden muss, bedeutet nicht identisch, sondern relativ gleich. Will man den Gleichheitsgrundsatz korrekt anwenden, muss man die genaue Beziehung ermitteln und sich fragen: gleich gegenüber was (in welcher Beziehung)? Irgendwelche Unterschiede können daher nicht eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Für den relativen Vergleich bedarf es eines Vergleichskriteriums. Es gelingt, ein konkretes Vergleichskriterium aus dem Systematisierungsgrundsatz abzuleiten, was vom Motiv oder der Bewertung her die Grundlage des Gesetzes darstellt. Der Grundsatz ist das Kriterium für den Vergleich oder das Recht, das zwangsweise vom Gesetzgeber für solche Fälle festgelegt wird, die durch Gesetz geregelt werden müssen.“4

Aus dieser Lektion Tipkes ersieht man, dass der Gleichheitsgrundsatz dem Gesetzgeber gewisse Parameter (Vergleichskriterien) vorgibt, um diejenigen Steuerpflichtigen zu unterscheiden, die sich nicht in einer „äquivalenten Situation“ befinden. In seiner Abhandlung (in drei Bänden) über die Steuerrechtsordnung weist Tipke nach, dass der Gleichheitsgrundsatz die kohärente Anwendung der vom Gesetzgeber vorgegebenen Parameter erzwingt. In dieser bedeutenden Arbeit beschäftigt sich Tipke mit der Frage, die im vorliegenden Fall von Interesse ist: Es besteht kein Zweifel, dass die Freiheit des Gesetzgebers in Steuersachen sehr groß ist; wichtig zu wissen ist, ob der Gesetzgeber einmal festgelegte Kriterien willkürlich anwenden kann oder im Gegenteil konsistent anwenden muss. Bemerkenswert ist, dass Tipke sich nicht auf die Aussage beschränkt, wonach der Anwender des Gesetzes alle Steuerpflichtigen gleich behandeln muss. Er geht sogar so weit, die Freiheit des Gesetzgebers bei der Erstellung von Steuernormen in Frage zu stellen: „Im Gleichheitssatz wurzelt der Gedanke der Generalität des Gerechtigkeitsgedankens. Daher verlangt der Gleichheitssatz wesentlich wertungsmäßige Konsequenz oder Folge-

__________ 3 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4, Rz. 70. 4 Klaus Tipke, „Princípio de Igualdade e Idéia de Sistema no Direito Tributário“, in Direito Tributário. Estudos em Homenagem ao Prof. Ruy Barbosa Nogueira, Brandão Machado (Koordination), São Paulo: Saraiva, 1984, S. 515 (520).

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Verrechnungspreise, Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit richtigkeit. Der Gesetzgeber muss das sachgerechte Prinzip, für das er sich entschieden hat, system- oder wertungskonsequent zu Ende ausführen, er muss seine einmal getroffene Wertentscheidung folgerichtig durchhalten. Inkonsequenz ist Messen mit zweierlei Maß, ist Systembruch und führt zu Ungleichbehandlung mehrerer Gruppen, die sich in gleichen relevanten – d. h. gemessen an dem als Vergleichsmaßstab dienenden sachgerechten Prinzip gleichen – Verhältnissen befinden.“5 (g.n.)

Sind die Grundprinzipien für die Festsetzung gewisser Steuern einmal festgelegt, muss der Gesetzgeber die von ihm selbst bestimmten Prinzipien kohärent anwenden, wenn er den Gleichheitsgrundsatz nicht verletzen will. „Ohne ein Prinzip ist Vergleichung nicht möglich, fehlt der Anwendung des Gleichheitssatzes der Maßstab und damit die Grundlage. Ob der Gleichheitssatz beachtet oder verletzt worden ist, kann nur aufgrund des einschlägigen, relevanten Prinzips beurteilt werden. Prinzipienlosigkeit, rechtliches Chaos, bewirkt jedoch nicht mangels eines Vergleichsmaßstabs die Verneinung eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und damit gegen die Gerechtigkeit. Vielmehr ist Prinzipienlosigkeit Missbrauch der gesetzgeberischen Gestaltungsmacht oder Willkür und damit ein Grundverstoß gegen den Gleichheitssatz und zugleich gegen die Gerechtigkeit“6 (Originalzitat).

In Ermangelung eines Schiedsrichters ist der Gesetzgeber verpflichtet, Prinzipien zu bestimmen und die einmal gewählten Prinzipien konsistent anzuwenden. Insbesondere in Steuersachen taucht als erster Parameter die steuerliche Leistungsfähigkeit auf7. In diesem Sinn muss die Besteuerung ausgehen von einem Vergleich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der potentiellen Steuerpflichtigen, wobei in einer äquivalenten Situation der gleiche Beitrag eines Steuerpflichtigen notwendig ist. Darüber hinaus: Der Steuergesetzgeber konkretisiert im Rahmen seiner Freiheit das für das Nettoeinkommen anzuwendende Prinzip. Dazu sagt Joachim Lang: „Das objektive Nettoprinzip gehört zu den gesetzgeberischen Grundentscheidungen, die folgerichtig zu verwirklichen sind (…) Von Verfassungs wegen ist es geboten, dass der für den existenznotwendigen Lebensbedarf zu verwendende Teil des Einkommens, das sog. indisponible Einkommen, ausgegrenzt wird (…)“8

Der Gleichheitsgrundsatz konkretisiert sich also erst, wenn die Steuerpflichtigen vergleichbar sind. Um zu wissen, ob es sich um eine Gleichbehandlung von Steuerpflichtigen in äquivalenter Situation handelt, müssen die Steuerpflichtigen vergleichbar sein. Wenn ihre Realitäten sich in unterschiedlichen Konditionen ausdrücken, kann man nicht von einer äquivalenten Kondition reden, ohne viel über Gleichheit oder Ungleichheit nachzudenken. So muss der Gesetzgeber zuerst festlegen, wie unterschiedliche Realitäten vergleichbar gemacht werden können, d. h. nach denselben Kriterien der steuerlichen Leistungsfähigkeit ausgedrückt werden können, um dann zu fordern, dass diese bei einer äquivalenten Situation auch gleiche Behandlung erfahren.

__________ 5 6 7 8

Klaus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, Köln 1993, S. 354. Op. cit. (Fn. 5), S. 345. Joachim Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Köln 1981/88, S. 122. Joachim Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 78.

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Im Falle von Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen sind die verglichenen wirtschaftlichen Realitäten jedoch oft unterschiedlich und entziehen sich jedem Vergleich. Diese angedeutete Unterschiedlichkeit ergibt sich aus den Umständen der Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen, die sich eben nicht auf dem Markt abspielen, wie das bei unabhängigen Unternehmen der Fall ist. Daher kann man sagen, dass die konstante Währung in den Büchern von Unternehmen mit kontrollierten Transaktionen als Einheiten der „Gruppenwährung“ bezeichnet werden können, während unabhängige Unternehmen ihre Ergebnisse in „Marktwährung“ ausdrücken. Unter diesem Aspekt besteht die Rolle des Gesetzgebers betreffend die Verrechnungspreise darin, die in „Gruppenwährung“ ausgedrückten Werte in „Marktwährung“ zu konvertieren, um dadurch einen effektiven Vergleich zwischen Steuerpflichtigen gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu ermöglichen. Dabei darf die Gesetzgebung betreffend die Verrechnungspreise die Betriebsergebnisse nicht verzerren. Es geht nur darum, eine gleiche Einheit einer Referenzgröße („Marktwährung“) in die gleiche Realität in einer anderen Einheit zu „konvertieren“. In diesem Zusammenhang rechtfertigen sich die Kontrollmaßnahmen für die Verrechnungspreise nur, wenn die oben bezeichnete Konvertierung einhergeht mit der Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes (arm’s-length-principle). Festzuhalten ist: Wenn die Anwendung des Gesetzes in einem konkreten Fall die Grenzen einer solchen Konvertierung überschreitet, muss dies als Verletzung des verfassungsmäßigen Gleichheits- und steuerlichen Leistungsfähigkeitsgrundsatzes angesehen und als solche richtig gestellt oder gar verworfen werden. Auf der Grundlage des Gleichheitsgrundsatzes muss somit die Forderung nach der Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes in Sachen Verrechnungspreise erhoben werden: Die Anwendung dieses Grundsatzes als Kriterium zur Vergleichbarkeit der Steuerpflichtigen, die innerhalb einer wirtschaftlichen Gruppe handeln, mit denen auf dem freien Markt und zur Formulierung beider Ergebnisse aufgrund des gleichen Kriteriums (das Marktkriterium), sichert die vom Gleichheitsgrundsatz geforderte Vergleichbarkeit. Wenn der Gleichheitsgrundsatz fordert, dass steuerliche Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen vergleichbar sein muss und wenn der Fremdvergleichsgrundsatz das Vehikel für die Ermöglichung der Vergleichbarkeit ist, kann man schließen, dass die Beachtung der letzteren die Voraussetzung für die Durchführbarkeit des Gleichheitsgrundsatzes ist. Es sei denn, es entwickelte sich ein anderes Kriterium als gleichwertiges Ergebnis zum Vergleich der Ergebnisse der Steuerpflichtigen, die eine Transaktion in einer wirtschaftlichen Gruppe durchführen, mit denen, die auf dem freien Markt verhandeln, ist die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nicht nur eine einfache Wahl des Gesetzgebers, sondern es ergibt sich daraus zwangsweise das Mittel, die Konkretisierung des Gleichheitsprinzips zu gewährleisten. 1122

Verrechnungspreise, Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit

Folglich ist der Fremdvergleichsgrundsatz die Bastion für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung betreffend die Verrechnungspreise: Sich für diesen Grundsatz einsetzen, heißt also die Vergleichbarkeit der Steuerpflichtigen suchen und so den Grundsatz der Gleichheit zu konkretisieren. In dem Maß, in dem die Anpassungen der Verrechnungspreise diesen Grundsatz behindern, finden sie keine Berechtigung in einem Verfassungssystem, das auf Gleichheit basiert.

IV. Der Marktpreis und der Fremdvergleichsgrundsatz Die OECD widmet das gesamte erste Kapitel ihres Berichtes über transfer pricing dem Versuch, den Fremdvergleichsgrundsatz zu erklären. Voraussetzung für das Verständnis des Grundsatzes ist, dass, während unabhängige Unternehmen bei ihren Verhandlungen unter den Bedingungen handels- und finanztechnischer Beziehungen (umfassend den Preis für Güter und Dienstleistungen, ebenso wie die Bedingungen für den Verkauf und die Erbringung von Dienstleistungen) agieren, die von den Marktkräften bestimmt werden, die handels- und finanztechnischen Bedingungen bei Verhandlungen zwischen verbundenen Unternehmen eben nicht den äußeren Kräften des Marktes unterliegen, umso mehr als diese Unternehmen diese abzubilden suchen.9 Der Fremdvergleichsgrundsatz besteht, kurz gefasst, darin, die Mitglieder einer multinationalen Gruppe so zu behandeln, als ob sie wie getrennte Einheiten handeln, und nicht wie unzertrennliche Teile eines einzigen Geschäfts. Man muss sie also behandeln wie getrennte Einheiten (separate entity approach), so dass die Aufmerksamkeit zu richten ist auf die Art des Handelns zwischen den Mitgliedern der Gruppe10. Daraus ergibt sich die klare Option der OECD für die Behandlung wie getrennte Unternehmen und die Ablehnung einer einheitlichen Behandlung. Dafür gibt es viele, hiernach zusammengefasste Gründe: Erstens, weil anerkannt werden muss, dass die Marktkräfte von Angebot und Nachfrage das beste Mittel sind, Güter zu verteilen und Anstrengungen zu belohnen; ferner bietet der Fremdvergleichsgrundsatz die Gleichbehandlung von Unternehmen multinationaler Gruppen und unabhängiger Unternehmen, um so Steuervorteile zu vermeiden, die sich aus der Konzentration wirtschaftlicher Macht in sehr großen multinationalen Gruppen ergeben. Der ultimative Vorteil schließlich ist, dass seine Anwendung bereits erfolgreich in der Mehrheit der Länder erfolgt ist. Gleichzeitig ergibt sich die Ablehnung der sich ihm widersetzenden einheitlichen Behandlung aus der durch sie möglichen Willkür, zumal jegliche Basis der Gewinnverteilung in bestimmten Basen mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat; hinzu kommen noch die Diskussionen bezüglich der Kriterien für die

__________ 9 OECD, Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations, Paris: OECD, S. I-1. 10 OECD, op. cit. (Fn. 9), S. I-3.

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Bewertung der Aktiva (dabei muss man im Auge behalten, dass eines der allgemein angewandten Kriterien zur Gewinnverteilung bei der einheitlichen Behandlung die Bewertung der Güter – Aktiva – durch die beteiligten Unternehmen ist); schließlich wäre ein einheitliches Kriterium für die Gewinnverteilung förderlicher für die Doppelbesteuerung, zumal die verschiedenen Länder sich schwerlich auf ein harmonisches Kriterium für die Gewinnverteilung einigen11. Die OECD definiert den Preis nach dem Fremdvergleichsgrundsatz als den, der zwischen nicht verbundenen Parteien bei gleichen oder ähnlichen Transaktionen und unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen auf dem offenen Markt vereinbart würde12. Wie oben gesehen, ist er der Parameter für die Konvertierung der Werte der „Gruppenwährung“ in die der „Marktwährung“. Aus der von der OECD vorgeschlagenen Definition können sechs fundamentale Merkmale für das Verständnis des Grundsatzes abgeleitet werden13: – Transaktionale Analyse: Der Preis nach dem Fremdvergleichsgrundsatz muss für eine identifizierte Transaktion (oder eine Gruppe von verbundenen Transaktionen) ermittelt werden. Daher können solche Methoden mit dem Fremdvergleichsgrundsatz als nicht vereinbar angesehen werden, welche die eigentlichen Transaktionen außer Acht lassen, die von globalen Ergebnisverteilungen ausgehen; andererseits ist der Begriff der „Transaktion“ weiter gefasst als der der „Operation“, wodurch es möglich ist, dass eine Vielzahl von Operationen (z. B. die getrennte Einfuhr von Teilen für die Fertigung eines einzigen Produktes – kit) eine einzige Transaktion darstellt. – Vergleich (oder Ähnlichkeit): Die identifizierte Transaktion (oder die Gruppe identifizierter Transaktionen) muss mit einer ähnlichen oder identischen, hypothetischen oder realen, mit gleichen oder ähnlichen Merkmalen, Transaktionen verglichen werden. Die Ähnlichkeit oder Gleichheit muss hinreichend sein, damit man versteht, dass, unter Ausklammerung der Beziehung zwischen den Parteien bei der kontrollierten Transaktion und ohne deren Verwendung als Parameter in der Transaktion, es andere, signifikante Unterschiede etwa bei den eigentlichen Produkten oder den Handelsbedingungen gibt. – Privatrechtliche Vereinbarung: Der Preis nach dem Fremdvergleichsgrundsatz muss alle von den vertragschließenden Parteien eingegangenen gesetzlichen Verpflichtungen berücksichtigen, so dass die rechtlichen Auswirkungen der Transaktion (prinzipiell) nicht außer Acht gelassen werden dürfen.

__________ 11 Diane Hay, Frances Horner e Jeffrey Owens, „Past and Present Work in the OECD on Transfer Pricing and Selected Issues“, in Bulletin for International Fiscal Documentation, Oktober 1994, S. 508–520. 12 OECD, Transfer Pricing and Multinational Enterprises: Report of the OECD Committee on Fiscal Affairs, Paris: OECD, 1979, S. 7. 13 Guglielmo Maisto, „General Report“, in International Fiscal Association, Transfer pricing in the absense of comparable market prices. Cahiers de Droit Fiscal International. Band LXXCIIa, Deventer 1992, S. 19–75 (28–29).

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– Merkmale eines offenen Marktes: Der Preis nach dem Fremdvergleichsgrundsatz muss durch die Marktbedingungen begründet sein und somit normale Handelspraktiken reflektieren. Daher kann der Preis nach dem Fremdvergleichsgrundsatz nur ermittelt werden auf der Grundlage von Informationen, die dem Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der Transaktion zur Verfügung stehen oder zugänglich sind. Dieses Element führt zur Kritik an der Praxis verschiedener Steuerverwaltungen, einschließlich derjenigen in Brasilien, gegenüber dem Steuerpflichtigen unbekannte Daten geltend zu machen. Secret comparables: Wenn man von verbundenen Parteien erwartet, dass sie wie unabhängige Parteien handeln, dann müssen sie ihre Preise nach den marktüblichen Praktiken festsetzen (so wie ein unabhängiger Dritter handeln würde). Gibt es unbekannte (oder nicht erkennbare) Marktpraktiken, dann werden diese die Entscheidung eines unabhängigen Dritten bei der Festsetzung seiner Preise nicht beeinflussen. Gleichermaßen kann man nicht fordern, dass solche Praktiken die Preisbildung bei verbundenen Parteien beeinflussen. – Subjektive Merkmale: Der Preis nach dem Fremdvergleichsgrundsatz muss die die Transaktion kennzeichnenden, besonderen Umstände berücksichtigen. Aus diesem Grund wird es beispielsweise Fälle geben, bei denen man den Preis nach dem Fremdvergleichsgrundsatz nicht mit dem Marktpreis vergleichen kann. Daher muss ersterer unter anderen Faktoren berücksichtigen, dass ein Lieferant versucht sein kann, seinen Marktanteil zu vergrößern, und daher Preise unter dem Marktpreis festsetzt. – Funktionale Analyse: Die Bestimmung des Preises nach dem Fremdvergleichsgrundsatz muss die von verbundenen Unternehmen zu erfüllenden Funktionen berücksichtigen. Die funktionale Analyse ist von Bedeutung für die Feststellung, ob eine Transaktion zwischen unabhängigen Unternehmen effektiv vergleichbar ist; eine solche Analyse ist umso wichtiger, wenn es vergleichbare Transaktionen nicht gibt, so dass es für den Steuerpflichtigen oder die Steuerbehörden notwendig wird, andere Methoden zur Findung eines Preises nach dem Fremdvergleichsgrundsatz zu entwickeln. Ricardo Lobo Torres zeigt, dass es sich beim Preis nach dem Fremdvergleichsgrundsatz um ein echt juristisches Prinzip handelt, zumal es über sein Wesen als Generalklausel hinaus die folgenden, dem Prinzip eigene Merkmale aufweist14: – Allgemeinverbindlichkeit, weil seine Methoden und untergeordneten Normen im Einklang mit seiner Formulierung stehen müssen; – Abstraktion, weil es die Notwendigkeit des Vergleichs zwischen den von verbundenen Unternehmen praktizierten Preisen und den Marktpreisen fordert;

__________ 14 Ricardo Lobo Torres, „O princípio arm’s length, os preços de transferência e a teoria da interpretação do direito tributário“, in Revista Dialética de Direito Tributário Nr. 48, September 1999, S. 122–135 (128–131).

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– Öffnung, da sein fundamentales Ziel die Garantie eines fairen Preises (fair price) ist, eine auf das Mittelalter zurückgehende ethische Kategorie; die dem Fremdvergleichsgrundsatz immanente Klarstellung, die die Findung des Marktpreises bei Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen extrem schwierig macht, zeigt, dass es sich um einen Grundsatz handelt; – Analogie, weil es wesentlich auf dem Vergleich zwischen den von unabhängigen Unternehmen praktizierten Preisen basiert und somit permanent das tertium comparationis sucht; – Werteverbindung, sobald es mit der Gerichtsbarkeit und der steuerlichen Leistungsfähigkeit verbunden ist; – Konkretisierung, weil es offen ist für verschiedene Normen und Methoden für die Findung eines Verrechnungspreises; – Abwägung, weil es offen ist für die Abwägung mit den mit der Rechtssicherheit verbundenen Prinzipien, ebenso wie mit der Gesetzmäßigkeit, dem Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen, dem vollständigen Vorbringen von Beweisen, der umfassenden Verteidigung etc. In dem von der OECD vorgeschlagenen Musterabkommen ist auf den Fremdvergleichsgrundsatz im Art. 9 Bezug genommen, wo es um verbundene Unternehmen geht, die „in ihren Handels- und Finanzbeziehungen an hingenommene oder vorgegebene Bedingungen gebunden sind, welche sich von zwischen unabhängigen Unternehmen getroffenen unterscheiden. In solchen Fällen dürfen Gewinne, die ein Unternehmen ohne diese Bedingungen erzielt hätte, wegen dieser Bedingungen aber nicht erzielt hat, den Gewinnen dieses Unternehmens zugerechnet und entsprechend besteuert werden“.

V. Fremdvergleichsgrundsatz und Praktikabilität Die Identifizierung des Fremdvergleichsgrundsatzes mit der steuerlichen Leistungsfähigkeit stellt für den Juristen folgende Herausforderung dar: Was ist in den Fällen zu tun, in denen ein Vergleich mit unabhängigen Dritten nicht möglich ist? Wenn verbundene Parteien untereinander und mit Dritten verhandeln, ist es nicht schwierig, Vergleichsbedingungen zu finden, die eine volle Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes erlauben. Die sog. „traditionellen Methoden“ gehen von einer solchen Überlegung aus, und ihre Ergebnisse sind im allgemeinen akzeptabel. Das Problem besteht nun darin, dass man angemessene Lösungen nicht immer aufgrund traditioneller Kriterien findet. In Anbetracht der der Globalisierung eigenen Arbeitsteilung kommt es oft zum Handel mit Rohstoffen und halbfertigen Erzeugnissen zwischen Unternehmen derselben Gruppe. Dann ist es sehr schwer, vergleichbare Güter zu finden, die zwischen nicht verbundenen Unternehmen gehandelt werden. Außerdem gestaltet die bei dem Vergleich geforderte funktionale Analyse die Aufgabe noch komplexer und ihrem Wesen nach subjektiven Betrachtungen abhängig und führt oft zu geschätzten Ergebnissen, die mit den realen schwer zu vergleichen sind. Hinzu kommt noch die 1126

Verrechnungspreise, Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit

große Anzahl von Transaktionen mit immateriellen Gütern, die weit häufiger sind als traditionelle und sich in Lizenzzahlungen ausdrücken, bis hin zu solchen immateriellen Leistungen im Verlauf von Handelstransaktionen. Das Beispiel des Streites zwischen der nordamerikanischen und der britischen Regierung bei der Bewertung immaterieller Handelsgüter bei der Verhandlung der Aktivprinzipien und Medikamente der Gruppe GlaxoSmithKline15 zeigt die Komplexität des Themas: Es genügt, den Unterschied zwischen den von beiden Regierungen getroffenen Werten und den Zahlen des Unternehmens zu betrachten, wobei alle auf als seriös angesehenen Argumenten beruhen, um den hohen Grad an Subjektivität und Unsicherheit in dieser Materie sichtbar zu machen. Eine noch größere Schwierigkeit taucht auf, wenn man anerkennt, dass in vielen Fällen der Vergleich als Kriterium für die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes künstlich ist, weil keine Transaktion zwischen unabhängigen Parteien irgendwelche den Transaktionen innerhalb von Gruppen eigene Elemente aufweist. Schließlich widersetzt sich die sich aus der Unternehmenskonzentration ergebende Synergie der Heranziehung von unabhängigen Unternehmen. Diese teilen z. B. nicht die Forschungskosten wie es die verbundenen Unternehmen tun. Sie können zwar ein Projekt gemeinsam entwickeln, treffen aber alle firmeneigenen Vorsichtsmaßnahmen, da sie schlussendlich auf einem Markt im Wettbewerb stehen. Die indirekten Ergebnisse einer Gemeinschaftsarbeit können von unabhängigen Unternehmen nicht in gleicher Weise genutzt werden. Berücksichtigt man schließlich, dass in vielen Situationen die Suche nach einer vergleichbaren Transaktion, vorausgesetzt, dass dies nicht unmöglich ist, wegen der bei Transaktionen zwischen verbundenen Parteien vorkommenden Volumina extrem kostspielig ist, taucht die Frage nach der Kontrolle solcher Preise auf. Jetzt stellt sich die Frage nach der Praktikabilität. Ihre Anwendung bei der Einkommensteuer wurde schon von Joachim Lang in seiner Habilitationsschrift geprüft, indem er ausführt: „Derartige und andere Maßnahmen verwaltungsvereinfachender Typisierung werden als Sachgesetzlichkeiten des steuerlichen Massenverfahrens betrachtet, die eine ungleiche steuerliche Belastung rechtfertigen. Die Typisierung als Mittel der Verwaltungspraktikabilität unterscheidet sich von dem Typusbegriff juristischer Methodenlehre (…) Die steuerverwaltungsvereinfachende Typisierung bedeutet hingegen Vergröberung der Steuerbemessungsgrundlage, indem dies mit Durchschnittswerten durchsetzt wird oder Tatbestandsvoraussetzungen festgelegt werden, die den wirklichen Sachverhalt unvollständig erfassen“16.

Die Verbindung dieser Typisierung mit der Praktikabilität wird von dem Geehrten so dargestellt:

__________

15 Andrea Musselli/Donatella Marchesi Hunter, „Glaxo Transfer Pricing Case: Economic Rationale, Legal Framework and International Issues“, in International Transfer Pricing Journal, Mai/Juni 2007, S. 165. 16 Lang, op. cit. (Fn. 7), S. 146–147.

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Luís Eduardo Schoueri „Der typisierenden Steuergesetzgebung räumt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen weiten Spielraum ein. Er reicht bis hin zu einem Grundsatz der Verwaltungspraktikabilität, nach dem die ökonomische Effizienz des steuerlichen Massenverfahrens voll ausgebeutet werden kann“17.

Dies scheint derjenige Fall zu sein, bei dem man auf die Thematik der Verrechnungspreise trifft: Bei der Unmöglichkeit (oder Kostspieligkeit), bei vergleichbaren Geschäften zwischen unabhängigen Dritten festgesetzte (effektive oder mögliche) Preise zu finden, müssen die strengen Kriterien des Fremdvergleichsgrundsatzes bei der Suche nach einem akzeptablen Verrechnungspreis mehr oder weniger feinen Näherungen weichen, der dann demjenigen einer kontrollierten Transaktion gegenüberzustellen ist. Es ist nicht überraschend, dass man im Namen der Praktikabilität Lösungen für die Findung von Verrechnungspreisen findet, die nicht vollständig dem Fremdvergleichsgrundsatz entsprechen. Schließlich ergibt sich aus dem bloßen Verständnis, worum es sich bei einem Grundsatz handelt, dass er einen Idealzustand reflektiert, also etwas, das bestmöglich erfüllt werden muss. Es ist hier nicht der passende Raum, zwischen Regeln und Prinzipien zu unterscheiden. Es genügt, daran zu erinnern, dass Prinzipien im Unterschied zu den Regeln nicht durch das Kriterium „alles oder gar nichts“ zu lösen sind, wobei die Prinzipien bestmöglich befolgt werden müssen. Sie sind der Raum für die Praktikabilität als Kriterium zur Definition der Möglichkeit, das Prinzip zu erfüllen. Insofern scheint die Entscheidung des Gesetzgebers nicht angreifbar, bei Fällen von irrelevantem Wert dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit zu eröffnen, minimale Parameter für den Gewinn (safe harbours)18 anzuwenden, die ihn einmal angenommen von anderen Nachweisen befreien. Solche Parameter haben nichts zu tun mit dem Fremdvergleichsgrundsatz und werden von der OECD nicht empfohlen, wenn die Nachteile die Vorteile bei der Anwendung solcher Mechanismen überwiegen.19 Diese Lösung beinhaltet zu seinen Gunsten die Vermeidung von Kosten für die Erstellung einer die Verrechnungspreise stützenden Dokumentation. Die Praktikabilität erscheint darüber hinaus als Rechtfertigung für Methoden, die sich von dem entfernen, was man sich von dem Fremdvergleichsgrundsatz erhoffen würde. So können Methoden wie TNMM, die von Gewinnmargen ausgehen, ihre Rechtfertigung als bestmögliches Ergebnis bei sog. „schwierigen Fällen“ finden, d. h. in solchen Fällen, bei denen die traditionellen Methoden nicht angewendet werden können. In der nordamerikanischen Praxis kommt man so zum „formulary approach“, der sich vollständig von der Suche nach

__________ 17 Lang, op. cit. (Fn. 7), S. 147. 18 The tax administration may offer taxpayers ‚tax havens‘ rules, under which certain transactions will be accepted by tax administration without further questions. For instance, a ruling may be issued that interests between related persons will be accepted if the interest rate falls within limits. „Safe harbor“ in International Tax Glossary, Susan M. Lyons, 3. revidierte Auflage, Amsterdam, IBFD, 1996. 19 OCDE, op. cit. (Fn. 9), S. IV-35.

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Verrechnungspreise, Gleichheit und steuerliche Leistungsfähigkeit

einem Ergebnis von dem Fremdvergleichsgrundsatz löst, und zwar wiederum im Namen der Praktikabilität. So ist die Praktikabilität auch das Argument in Schwellenländern, wie in Brasilien, für die Anwendung vorgegebener Gewinnmargen: in Anbetracht der Schwäche der Verwaltungsstruktur, die die Suche nach Marktbeispielen ausserordentlich kostspielig macht, werden vom Gesetzgeber fixierte Margen angenommen. Dieser öffnet wenig Raum (oder gar keinen) für eine Diskussion über die Angemessenheit solcher Margen. Das letztgenannte Beispiel zeigt das Risiko auf, das die Anwendung der Kriterien der Praktikabilität bringen kann: Obwohl festgelegte Margen die Arbeit der Betroffenen – Fiskus und Steuerpflichtiger – erheblich erleichtern, kann die Strenge bei ihrer Anwendung den Verdacht aufkommen lassen, dass der Fremdvergleichsgrundsatz schlicht und einfach ignoriert worden ist. Daher ist es wichtig, dass der Gesetzgeber gleichzeitig mit den festgesetzten Margen Mechanismen für seine Revision auf Anfrage seitens des Steuerpflichtigen oder ex-officio vorsieht, wenn die Margen keine Entsprechung auf dem Markt haben. In der brasilianischen Praxis wurde die Gesetzgebung betreffend die Verrechnungspreise 1996 eingeführt. Bis Ende 2009 gab es wenig signifikante Änderungen, so dass die festgesetzten Gewinnmargen festgeschrieben bleiben. Die große Kritik richtet sich dagegen, dass seit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 9.430 die Möglichkeit vorgesehen war, von den ursprünglich vom Gesetzgeber festgesetzten Margen abweichende Margen zu übernehmen, und dass es in 13 Jahren keinerlei Mitteilung gab, wonach der Fiskus irgendwelche von den ursprünglichen Gewinnmargen abweichende Margen akzeptiert hätte. Folglich ist es evident, dass die Anwendung derselben Gewinnmarge für jedes beliebige Produkt in jedem beliebigen Bereich und jeder beliebigen Etappe nichts entspricht, was auf einem Markt üblich ist. Wenn es die Praktikabilität möglich macht, dass auf legalem Weg Verallgemeinerungen angewendet werden, dürfen diese nicht vollständig von der wirtschaftlichen Wirklichkeit losgelöst werden, weil sie die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nicht praktikabel machen. Oder mit anderen Worten: Die Anwendung von festgelegten Margen ist keine Art der Durchführbarkeit des Prinzips, sondern ein Substitut für das Prinzip. Wenn also der Fremdvergleichsgrundsatz die Bastion für die Verfassungsmäßigkeit einer Gesetzgebung betreffend Verrechnungspreise ist, weil dadurch die steuerliche Leistungsfähigkeit konkretisiert wird, sollen dann festgesetzte Margen, die sich von der üblichen Marktpraxis entfernen, für verfassungswidrig erklärt werden. Daher ist die Mitteilung Ende 2009 zu begrüßen, dass endlich eine Änderung in der Gesetzgebung über Verrechnungspreise Brasiliens kommt, welche die Anwendung differenzierter Margen für jeden Sektor ermöglichen soll. Es bleibt abzuwarten, ob die neue Gesetzgebung so angewandt wird, dass angemessene Margen den am Markt üblichen und normalen entsprechen. Wenn das zutrifft, ist die Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetzgebung gewährleistet.

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Luís Eduardo Schoueri

VI. Schlussfolgerungen Daraus lässt sich schließen, dass der Fremdvergleichsgrundsatz die Bastion für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung betreffend Verrechnungspreise ist: Durch ihn konkretisiert sich die Suche nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit und die Ermittlung des effektiven Einkommens des Steuerpflichtigen. Die Komplexität wirtschaftlicher Beziehungen zeigt jedoch, dass dieser Grundsatz in seiner Gesamtheit schwierig zu realisieren ist. Er ist vor allem ein Idealzustand, der auf bestmögliche Weise angestrebt werden soll. Die sich an der Praktikabilität orientierende Verwendung von Vereinfachungsformeln scheint der Weg zu sein, den man auch in Sachen Verrechnungspreise einschlagen soll. Der Grundsatz des safe harbours ist ein gutes Beispiel für seine Nützlichkeit. Der Fall Brasilien mit der Anwendung von festgesetzten Margen könnte auch als interessantes Versuchslabor für die Anwendung von auf die Praktikabilität gerichteten Hilfsmitteln der Verallgemeinerung angesehen werden. Das darf aber nicht dazu führen, den Grundsatz zu ersetzen, dessen Anwendbarkeit sie nur ermöglichen soll. Wenn festgesetzte Margen absolut angewendet werden, ohne dass sie hinterfragt werden können, wird ihre Verfassungsmäßigkeit infrage gestellt. Daher stimmt die Mitteilung hoffnungsvoll, wonach eine Änderung in der Gesetzgebung betreffend die Verrechnungspreise dahingehend zu erwarten ist, dass es unterschiedliche Margen für unterschiedliche Aktivitäten gibt. Wenn dies wirklich eingeführt wird, kann das Beispiel Brasilien als interessanter Mechanismus herangezogen werden, den Fremdvergleichsgrundsatz mit der Komplexität der modernen Wirtschaft zu vereinbaren.

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Dieter Birk

Doppelbesteuerungsabkommen im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtscharakter von Doppelbesteuerungsabkommen 1. Völkerrechtliche Verträge 2. Zustandekommen nach dem Grundgesetz 3. Verhältnis zum Verfassungsrecht und zum nationalen Recht III. Doppelbesteuerungsabkommen im System des nationalen Rechts 1. Doppelbesteuerung und Besteuerungshoheit

2. Treaty override 3. Doppelbesteuerungsabkommen und internationales Privatrecht IV. Doppelbesteuerungsabkommen und europäisches Recht 1. Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beseitigung der Doppelbesteuerung 2. Einwirkungen der Grundfreiheiten auf Doppelbesteuerungsabkommen 3. Einwirkungen des sekundären Gemeinschaftsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen

I. Einführung Von internationaler Doppelbesteuerung sprechen wir, wenn zwei Staaten die gleiche Steuer gegenüber demselben Steuersubjekt auf denselben Steuergegenstand und in demselben Zeitraum erheben.1 Diese Situation tritt regelmäßig ein, wenn sich Wohnsitz und Einkunftsquelle eines Steuerpflichtigen in verschiedenen Staaten befinden.2 In diesen Fällen beanspruchen sowohl der Wohnsitzstaat als auch der Quellenstaat Steuern bei Identität von demselben Steuerpflichtigen.3 Da die Doppelbesteuerung nicht nur zu einer erheblichen Überbelastung des Steuerpflichtigen führt, sondern auch den internationalen Wirtschaftsverkehr schädigt, muss sie – nachdem sie durch den Anspruch, sowohl das Welteinkommen als auch das Quelleneinkommen zu besteuern, herbeigeführt wurde – in einem zweiten Schritt vermieden bzw. zumindest begrenzt werden. Hierzu gibt es neben einseitigen (unilateralen) Maßnahmen, die regelmäßig der Wohnsitzstaat aufgrund seiner Rechtsordnung ergreifen kann, Doppelbesteuerungsabkommen (DBA), die zwischen den Staaten abgeschlossen werden. Die Ziele der DBA sind vielfältig, es geht nicht nur um Reduzierung/Vermeidung steuerlicher Überbeanspruchung des grenzüberschreitend tätigen Steuerpflichtigen, sondern auch um Stärkung der wirtschaftlichen Stel-

__________ 1 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 2. 2 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 5. 3 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 2 Rz. 41.

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Dieter Birk

lung der Staaten im globalen Wettbewerb und um Wahrung und Abgrenzung ihrer Fiskalinteressen untereinander.4

II. Rechtscharakter von Doppelbesteuerungsabkommen Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) sind völkerrechtliche Verträge, die regelmäßig zwischen zwei Staaten (bilateral) geschlossen werden, um die sich nach nationalem Recht überschneidenden Steueransprüche zwischen den Staaten aufzuteilen.5 1. Völkerrechtliche Verträge Völkerrechtliche Verträge sind verbindliche Absprachen zwischen Staaten.6 Ihr Zustandekommen und ihre Wirkungen bestimmen sich nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜRV)7, in dem allgemein anerkannte völkervertragsrechtliche Grundsätze kodifiziert sind.8 Als völkerrechtlicher Vertrag bindet ein DBA grundsätzlich nur die Vertragspartner, schafft also Rechte und Pflichten zwischen den beteiligten Staaten. Diese sind nach dem DBA verpflichtet, den in den DBA ausgehandelten Verzicht auf die Wahrnehmung der Besteuerungshoheit gegenüber den Steuerpflichtigen auch zur Geltung zu bringen.9 Die Frage, ob und inwieweit diese Pflicht missachtet werden kann (sog. treaty override), ist in Deutschland ein vieldiskutiertes Thema, auf das ich noch eingehen werde.10 2. Zustandekommen nach dem Grundgesetz Die Zuständigkeit für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge ist im Grundgesetz in Art. 59 geregelt. Die Verhandlungen, die federführend vom Finanzministerium durchgeführt werden, enden mit der sog. Paraphierung, also mit der Unterzeichnung des Abkommenstextes durch die Verhandlungsleiter.11 Dadurch wird der Inhalt festgelegt. Der verbindliche Vertragsabschluss fällt jedoch in die Kompetenz des Bundespräsidenten (Art. 59 Abs. 1 GG). Erst mit dessen Unterzeichnung (Ratifizierung) wird der Vertrag wirksam. Da nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG Doppelbesteuerungsabkommen allerdings regelmäßig der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat bedürfen (s. Art. 105 Abs. 3 GG), nimmt der Bundespräsident die Ratifizierung erst vor, wenn das Zu-

__________ 4 5 6 7 8 9 10 11

Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik, 2008, S. 3 ff. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 16.7. Bernhardt in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 174 Rz. 2. BGBl. II 1985, 926 ff. Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 45. Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 200. Siehe unten III. 2. Nettesheim in Maunz/Dürig, GG, Art. 59 Rz. 74; Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 49; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 16.23; regelmäßig werden nur die Initialen der Verhandlungsleiter unter die Vertragsurkunde gesetzt, vgl. Streinz in Sachs, GG, 5. Aufl. 2008, Art. 59 Rz. 15.

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stimmungsverfahren abgeschlossen ist.12 Völkerrechtlich kommt das DBA durch die Unterzeichnung und den Austausch der Ratifikationsurkunden zwischen den beteiligten Ländern zustande.13 3. Verhältnis zum Verfassungsrecht und zum nationalen Recht Von der völkerrechtlichen Verbindlichkeit ist die innerstaatliche Anwendbarkeit der DBA zu unterscheiden. Sie wird erst durch das Zustimmungsgesetz ausgelöst, welches das DBA in innerstaatliches Recht transformiert (teilweise auch Anwendungsbefehl genannt14). Durch die Transformation erhält das DBA denselben Rang wie Parlamentsgesetze des Bundes. Im Gegensatz zum Europarecht ergibt sich aus dem Völkerrecht kein Vorranganspruch von Völkervertragsrecht.15 Zwar besagt § 2 AO, dass DBA, „soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind“, den Steuergesetzen vorgingen. Da § 2 AO aber keinen Verfassungsrang hat, kann diese Vorschrift das DBA auch nicht in den Rang des Verfassungsrechts „heben“. § 2 AO wird vielmehr nur als Auslegungsregel verstanden, die auf der Ebene des einfachen Rechts dem DBA als spezielleres Gesetz regelmäßig den Vorrang vor anderen Parlamentsgesetzen einräumen will.16 Nach Art. 25 Satz 2 GG gehen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts den Gesetzen vor, ihnen kommt damit Verfassungsrang zu. DBA zählen nicht zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts.17 Gelegentlich ist versucht worden, über den Grundsatz „pacta sunt servanda“ als allgemeine Regel des Völkerrechts eine höherrangige Bindung an das DBA zu konstruieren.18 Durchgesetzt hat sich diese Auffassung nicht. Die Bestimmungen des DBA werden nämlich durch die allgemeine völkerrechtliche Regel „pacta sunt servanda“ nicht selbst zu allgemeinen Regeln des Völkerrechts und genießen deshalb nicht den Vorrang, den Art. 25 Satz 2 GG einräumt.19 Umgekehrt muss beim Abschluss von DBA nicht nur das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Verfahren, sondern es müssen auch die sonstigen Verfassungsinhalte, insbesondere die Grundrechte, beachtet werden. Das bedeutet, dass in den DBA keine Regelungen getroffen werden dürfen, die bei rein innerstaatlicher Tätigkeit verfassungsrechtlich nicht zulässig wären.20 Auch beim Ab-

__________

12 Nettesheim in Maunz/Dürig, GG, Art. 59 Rz. 75; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl., 2009, Art. 59 Rz. 15. 13 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 57; Nettesheim in Maunz/ Dürig, GG, Art. 59 Rz. 76. 14 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 61. 15 BFH v. 2.8.2006 – XI R 30/03, BStBl. II 2006, 895 = FR 2007, 53 m. Anm. Wendt; Nettesheim in Maunz/Dürig, GG, Art. 59 Rz. 183. 16 Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 2 Rz. 174; Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 203. 17 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 48. 18 Eckert, RIW 1992, 386. 19 Steinberger in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 173 Rz. 53; BFH v. 13.7.1994 – I R 120/93, BStBl. II 1995, 129 = FR 1994, 829. 20 Bernhardt in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 174 Rz. 21.

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schluss eines DBA sind somit die Grundrechte zu beachten, die für das Steuerrecht relevant sind. Große Bedeutung wird dies allerdings nicht erlangen, da Doppelbesteuerungsabkommen lediglich Besteuerungshoheitsrechte verteilen, nicht aber materielle Regelungen treffen. Keinesfalls wird man diese Aussage so verstehen dürfen, dass der Verzicht Deutschlands auf das Besteuerungsrecht hinsichtlich ausländischer Einkünfte eine Verantwortung der Bundesrepublik dafür begründet, dass die ausländischen Einkünfte im Vertragsstaat im Einklang mit dem deutschen Verfassungsrecht (Gleichheitssatz, Leistungsfähigkeitsprinzip) besteuert werden. Selbst wenn der Vertragsstaat diese Einkünfte mit einem Steuersatz von 90 % belastete – was in Deutschland gegen die Eigentumsgarantie verstoßen würde21 –, führte das nicht zu einem Verstoß des DBA gegen Art. 14 GG.

III. Doppelbesteuerungsabkommen im System des nationalen Rechts 1. Doppelbesteuerung und Besteuerungshoheit Doppelbesteuerung entsteht durch die Kombination von Wohnsitzprinzip und Quellenprinzip, die sich wiederum aus dem Territorialitätsprinzip ableiten. Das Territorialitätsprinzip ist Ausfluss der Souveränität eines Staates und besagt, dass der Staat bei der Besteuerung an territoriale Sachverhalte anknüpfen darf.22 Danach werden zunächst im Inland ansässige Personen mit ihrem gesamten Einkommen oder Vermögen steuerlich erfasst. Darüber hinaus werden ausländische Steuerpflichtige, die im Inland weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt haben, mit ihren inländischen Einkünften der Besteuerung unterworfen und beteiligen sich so ebenfalls an der Finanzierung der vom Quellenstaat zur Verfügung gestellten Infrastruktur.23 Das Steuerrecht knüpft also sowohl an die inländische Ansässigkeit als auch – bei Nichtansässigen – an die inländische Quelle an. Selten wird zusätzlich an die Staatsangehörigkeit angeknüpft (so in den USA24). Aus dem Territorialitätsprinzip ergibt sich, dass Steuerausländer nur mit Einkünften besteuert werden dürfen, die einen hinreichenden Inlandsbezug aufweisen.25 Das Territorialitätsprinzip begründet und begrenzt zugleich die Besteuerungshoheit auf das Gebiet eines Staates. Aus dem Völkerrecht entnimmt man, dass die Besteuerung ausländischer Wirtschaftsvorgänge nur dann zulässig sein soll, wenn die besteuerte Person zu dem besteuernden Staat eine hinreichend enge Beziehung hat (genuine link).26 Andererseits gibt es keinen völkerrechtlichen Rechtssatz, der es verbieten würde, Rechtsfolgen des innerstaat-

__________ 21 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 = FR 2006, 635 m. Anm. Kanzler. 22 Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, 6. Aufl. 2007, S. 6 f., 207 f. 23 Hey, Das Territorialitätsprinzip als theoretische Grundlage der beschränkten Steuerpflicht, IWB Fach 3, Gruppe 1, 2003 (2004). 24 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 5.8. 25 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 28. 26 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 28.

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lichen Rechts auch an ausländische Sachverhalte anzuknüpfen.27 Da aber die staatlichen Durchsetzungsmöglichkeiten an den Staatsgrenzen enden, ergeben sich aus der begrenzten Reichweite der staatlichen Verwaltungshoheit zugleich Grenzen der materiellen Besteuerungshoheit. Der Staat kann bei Steuerausländern seinen Steueranspruch nur hinsichtlich der inländischen Quelle ermitteln und durchsetzen. Deshalb ist es unabhängig von der völkerrechtlichen Zulässigkeit wenig sinnvoll, den materiellen Steueranspruch auf Sachverhalte zu erstrecken, die außerhalb der Verwaltungshoheit des besteuernden Staates liegen.28 Da in Doppelbesteuerungsabkommen zwei Staaten ihre Besteuerungsansprüche bei grenzüberschreitenden Sachverhalten regeln und darin einen Teil ihrer Besteuerungshoheit zurücknehmen, muss bei der Auslegung des Abkommens nach einem „gemeinsamen Verständnis“ gesucht werden.29 Art. 31 Abs. 1 WÜRV verpflichtet zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge „im Lichte ihres Zieles und Zweckes“. Daraus wird abgeleitet, dass die Auslegung anzustreben ist, die am ehesten in beiden Vertragsstaaten akzeptiert wird (Gebot der Entscheidungsharmonie)30. Es darf nicht einseitig das Verständnis eines Staates zugrunde gelegt werden. Das FG Köln hatte kürzlich einen Fall zu entscheiden, in dem es um die Auslegung einer Vorschrift des DBA Deutschland-Schweiz ging.31 Der in der Schweiz ansässige Kläger war an einer deutschen Personengesellschaft beteiligt, die vermögensverwaltend tätig war, und es ging um die Frage, ob die Anteile an der vermögensverwaltenden KG in Deutschland vermögensteuerpflichtig waren. Nach dem DBA hatte Deutschland kein Besteuerungsrecht, wenn die Anteile zum Privatvermögen gehören, während Deutschland besteuern kann, wenn sie Betriebsvermögen sind. Nun gibt es im deutschen Einkommensteuerrecht eine Besonderheit, wonach vermögensverwaltende Personengesellschaften dann Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielen, wenn an der Personengesellschaft eine Kapitalgesellschaft als Komplementär beteiligt ist und die Geschäftsführungsbefugnis hat. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall gegeben, die vermögensverwaltend tätige Personengesellschaft war nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG „gewerblich geprägt“. Das deutsche Recht fingiert also unter diesen Voraussetzungen unternehmerische Einkünfte. Würde die gewerbliche Prägung auch auf die abkommensrechtliche Qualifikation als Betriebsvermögen durchschlagen, so würde aufgrund einer im deutschen Recht geregelten Fiktion abkommensrechtlich die Besteuerungsbefugnis Deutschland zufallen. Das FG Köln32 hat zutreffend entschieden, dass die Fiktion gewerblicher Einkünfte im deutschen Einkommen-

__________ 27 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 11. 28 Hey, Das Territorialitätsprinzip als theoretische Grundlage der beschränkten Steuerpflicht, IWB Fach 3, Gruppe 1, 2003 (2004 f.). 29 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2009, Rz. 575. 30 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 114. 31 FG Köln v. 13.8.2009 – 15 K 2900/05, EFG 2009, 1819. 32 FG Köln v. 13.8.2009 – 15 K 2900/05, EFG 2009, 1819.

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steuerrecht und ihre Folge für die Qualifikation von Gesellschaftsanteilen als Betriebsvermögen (§ 97 Abs. 1 Nr. 5 BewG) abkommensrechtlich unmaßgeblich ist und auf der Abkommensebene aus Privatvermögen kein Betriebsvermögen macht. Für die Annahme eines gewerblichen Unternehmens komme es entscheidend auf die tatsächliche Betätigung und nicht auf die einseitige Erweiterung eines Tatbestandsmerkmals im deutschen Steuerrecht an.33 Abkommensrechtliche Begriffe seien im abkommensrechtlichen Zusammenhang (s. Art. 31 Abs. 2 WÜRV) auszulegen. Die Finanzverwaltung hat Revision gegen dieses Urteil eingelegt.34 Es ist aber kaum zu erwarten, dass der BFH diese anerkannten Auslegungsgrundsätze von DBA verlässt.35 2. Treaty override Eine der umstrittensten Fragen in Deutschland ist die Zulässigkeit des sog. treaty override.36 Unter treaty override versteht man den Vorgang, dass ein nationales Gesetz einen grenzüberschreitenden Sachverhalt abweichend von dem auf diesen Sachverhalt anwendbaren DBA regelt.37 Das (spätere) nationale Gesetz „überrollt“ die Bestimmung im DBA. Ob dies zulässig ist, ist zunächst eine Frage des Rangverhältnisses von DBA und nationalem Recht. Nach deutschem Verständnis ist das DBA nicht (wie etwa das Verfassungsrecht oder das europäische Recht) gegenüber den nationalen Parlamentsgesetzen höherrangig.38 Die Regelung in § 2 AO ist insoweit irreführend, da die Vorschrift als einfaches Gesetzesrecht den DBA keinen höheren Rang verleihen kann.39 Vielmehr ist hinsichtlich der Konsequenzen dieser Normenkollision zu differenzieren: Sicher ist, dass der Gesetzgeber, der einseitig Gesetze erlässt, die gegen das Abkommen verstoßen, das Völkerrecht verletzt, denn er bricht damit einen gültigen völkerrechtlichen Vertrag.40 Als Bruch des Völkerrechts ist eine solche abkommenswidrige innerstaatliche Gesetzgebung auch rechtswidrig, und sie löst das Recht des anderen Staates aus, dagegen Sanktionen zu ergreifen.41 Umstritten sind die innerstaatlichen Wirkungen des völkerrechtlichen Vertragsbruchs. Die Verletzung des Völkerrechts führt – entgegen § 2 AO – nicht zwangsläufig zur Ungültigkeit eines gegen ein Abkommen verstoßenden Ge-

__________ 33 FG Köln v. 13.8.2009 – 15 K 2900/05, EFG 2009, 1819. 34 Az. BFH II R 51/09. 35 Dazu auch FG Schl.-Holst. v. 14.7.2009 – 5 K 210/07, EFG 2009, 1998 mit Anm. Korte; FG Düsseldorf v. 28.4.2009 – 17 K 1070/07 F, IStR 2009, 733. 36 Siehe dazu Frotscher, Zur Zulässigkeit des „treaty override“, in FS für Schaumburg, 2009, S. 687 ff.; Gosch, IStR 2008, 413; Forsthoff, IStR 2006, 509. 37 Frotscher, Zur Zulässigkeit des „treaty override“, in FS für Schaumburg, 2009, S. 687 (689). 38 Kempen in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 59, Rz. 92. 39 Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 2 Rz. 160; Pahlke in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 2 Rz. 18, 20. 40 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 194. 41 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 199, 200.

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setzes.42 Vielmehr überlässt es das allgemeine Völkerrecht grundsätzlich den staatlichen Rechtsordnungen, zu bestimmen, welche innerstaatlichen Rechtsfolgen sie an die Völkerrechtswidrigkeit eines innerstaatlichen Aktes knüpfen.43 Klaus Vogel hat einen anderen Ansatz gewählt: Da das Parlament vor Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags diesem zustimmen müsse, binde es sich gewissermaßen selbst.44 Diese Bindung sei auch innerstaatlich aufgrund des Rechtsstaatsprinzips und der „Einordnung Deutschlands in die Völkerrechtsordnung der Staatengesellschaft“ verbindlich. Gesetze, die gegen völkerrechtliche Verträge verstoßen (also das sog. treaty override), seien deshalb nicht nur völkerrechtswidrig, als „Wortbruch“ des Parlaments seien sie auch verfassungswidrig.45 Die Auffassung Vogels, für die er – man kann es nicht anders ausdrücken – regelrecht gekämpft hat, hat (bis auf vereinzelt gebliebene Stimmen46) keine Gefolgschaft gefunden.47 Die verfassungsdogmatische Herleitung der Selbstbindung des Gesetzgebers ist ihm nicht wirklich überzeugend gelungen. Unklar blieb insbesondere, wie das Ergebnis der Bindung künftiger Gesetzgeber an von ihm jedenfalls kurzfristig nicht beeinflussbare völkerrechtliche Verträge mit dem Demokratiegebot in Einklang gebracht werden kann.48 Vor allem wenn man bedenkt, dass DBA als völkerrechtliche Verträge nicht wie andere Steuergesetze im parlamentarischen Verfahren beraten werden, dass das Parlament im Grunde nur die Möglichkeit hat, den ausformulierten Text anzunehmen oder abzulehnen49, fällt es schwer, eine den demokratischen Prozess überspielende Selbstbindung des Parlaments zu konstruieren. Dazu kommt, dass sich DBA kurzfristigen Anpassungen entziehen und der Gesetzgeber zur Korrektur von Fehlentwicklungen häufig nur einseitige Maßnahmen ergreifen kann.50 Die jenseits höherrangigen Rechts grundsätzlich ungebundene Normsetzungsbefugnis des Parlaments wird durch Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht kompetenziell eingeschränkt. In der parlamentarischen Zustimmung zu einem DBA kann auch keine Bindung des künftigen Gesetzgebers gesehen werden, die diesen aus Gründen des nationalen Verfassungsrechts hindern könnte, eine vertragswidrige „lex posterior“ zu erlassen.51 Auch die Behauptung, dass der völker-

__________ 42 Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 16.43. 43 Steinberger in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 173 Rz. 39. 44 Vogel, JZ 1997, 161. 45 Vogel, JZ 1997, 161; Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 204. 46 Z. B. Weigell, IStR 2009, 636; Elicker, Die Zukunft des deutschen internationalen Steuerrechts, IFSt-Schrift Nr. 438, 2006, S. 21. 47 Dazu Frotscher, Zur Zulässigkeit des „treaty override“, in FS für Schaumburg, 2009, S. 687 (704). 48 Dazu Rust/Reimer, IStR 2005, 843. 49 Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik, 2008, S. 5. 50 Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik, 2008, S. 36 f. 51 Nettesheim in Maunz/Dürig, GG, Art. 59 Rz. 186.

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vertragswidrige Gesetzesakt tragende Grundsätze der Verfassung (Rechtsstaatsprinzip, Völkerrechtsfreundlichkeit) verletzt, überzeugt dogmatisch nicht52, da die aus dem Demokratiegebot fließende Regelungshoheit des späteren Gesetzgebers ebenfalls zu tragenden Verfassungsgrundsätzen zählt.53 Rechtsprechung und Schrifttum gehen deshalb weiterhin (überwiegend) davon aus, dass völkervertragsbrüchiges Recht innerstaatlich gültig ist, der Verstoß gegen das DBA also keine Wirkungen für den Steuerpflichtigen hat. Dieser kann nicht verlangen, so besteuert zu werden, als sei das DBA vertragsgerecht umgesetzt worden.54 Lang formuliert zutreffend, dass treaty override zwar völkerrechtswidrig, die völkerrechtswidrige Regelung aber dennoch innerstaatlich gültig und zu beachten sei.55 Jüngst ist von Frotscher die (wohl mehr theoretische) Frage aufgeworfen worden, ob man DBA nicht als „Verträge zugunsten der betroffenen Steuerpflichtigen“ (ähnlich der zivilrechtlichen Rechtsfigur der Verträge zugunsten Dritter, vgl. § 328 BGB) ausgestalten könne. Dann nämlich könnte der Steuerpflichtige Vertragsverstöße aus eigenem Recht rügen. Dies würde allerdings voraussetzen, dass dem Steuerpflichtigen ein völkerrechtlicher oder völkerrechtsähnlicher Status eingeräumt wird, da Rechte und Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen grundsätzlich nur Völkerrechtssubjekten zugeordnet werden können. Da dies nicht zu erwarten ist, kommt man auch mit dieser Überlegung nicht weiter. Aus dem DBA als völkerrechtlichem Vertrag kann somit kein Schutz gegen treaty override abgeleitet werden.56 3. Doppelbesteuerungsabkommen und internationales Privatrecht Um die Stellung der Doppelbesteuerungsabkommen im nationalen Rechtssystem zu beschreiben, werden mitunter Vergleiche zum Internationalen Privatrecht angestellt.57 Doppelbesteuerungsabkommen und internationalem Privatrecht ist gemein, dass beide Rechtgebiete Sachverhalte regeln, die Auslandsberührung aufweisen. Wenn mehrere gleichzeitig geltende Privatrechtsordnungen aufeinander anwendbar sind, muss die Frage geklärt werden, ob deutsches oder ausländisches Privatrecht auf den konkreten Sachverhalt anzuwenden ist. Die Normen, aus denen sich ergibt, welches Recht anzuwenden ist, werden als

__________ 52 In dieser Richtung aber Stein, IStR 2006, 505 (508) mit Verweis auf eine Formulierung des BVerfG (BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 [329]). Zweifelnd auch Gosch, IStR 2008, 413 (419), der aber richtig darauf hinweist, dass das BVerfG die Rangfolge zwischen Zustimmungs- und speziellem Steuergesetz nicht verschoben habe. 53 Zu dieser Konfliktlage insb. Rust/Reimer, IStR 2005, 843, die das treaty override jedenfalls für rechtfertigungsbedürftig halten und einen Ausweg in der völkerrechtsfreundlichen Auslegung suchen. 54 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 51. 55 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 5 Rz. 14. 56 Frotscher, Zur Zulässigkeit des „treaty override“, in FS für Schaumburg, 2009, S. 687 (694). 57 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 41.

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Kollisionsnormen bezeichnet.58 Die danach auf den Sachverhalt anzuwendenden Normen nennt man Sachnormen59. Bei den Kollisionsnormen unterscheidet man einseitige Kollisionsnormen, das sind Normen, die lediglich besagen, wann das eigene (deutsche) Recht anwendbar ist, und allseitige Kollisionsnormen, die darüber hinaus eine Anordnung über die Anwendbarkeit fremden Rechts enthalten.60 Im Ausgangspunkt, nämlich insofern, als zwei Rechtsnormen auf einen grenzüberschreitenden Sachverhalt anwendbar sind, mag es Gemeinsamkeiten geben61, dennoch sind die Unterschiede zwischen Internationalem Privatrecht und Doppelbesteuerungsabkommen fundamental. Doppelbesteuerungsabkommen sind keine Kollisionsnormen.62 Sie berühren das innerstaatliche Steuerrecht nicht und weisen auch keine Besteuerungsbefugnisse zu, die allein aus dem innerstaatlichen Recht herrühren. Die DBA beeinflussen nicht die originäre Zuständigkeit der Staaten für die Besteuerung, sie verteilen auch nicht Besteuerungskompetenzen. Vielmehr nehmen in den DBA die Staaten nach Maßgabe der Vereinbarungen die ihnen nach nationalem Recht zustehenden Besteuerungsbefugnisse ganz oder teilweise zurück, sie beschränken vertraglich die Anwendung innerstaatlichen Steuerrechts. „Die Vertragsstaaten verteilen durch ihre Vereinbarung die Ausübung ihrer Besteuerungshoheit untereinander, nicht die Kompetenzen …“63 Nur dem Internationalen Privatrecht kommt die Fähigkeit zu, Interessenkonflikte auf der Basis des von einem fremden Staat gesetzten Rechts zu entscheiden. Dem öffentlichen Recht – und Steuerrecht ist öffentliches Recht – ist diese Eigenschaft fremd. Der deutsche Staat entscheidet Konflikte im Bereich des öffentlichen Rechts nicht nach Maßgabe einer fremden Rechtsordnung.64 Dementsprechend erheben die Staaten Steuern nur aufgrund ihrer eigenen Steuergesetze.65 Anders als das Internationale Privatrecht führen also Doppelbesteuerungsabkommen niemals dazu, dass ein Staat auf einen Sachverhalt ausländisches Recht anwendet. Vielmehr treten die Regelungen der DBA stets zu dem eigenen, auf den Sachverhalt anwendbaren innerstaatlichen Recht hinzu, sei es, dass sie für bestimmte Fälle eine nach innerstaatlichem Recht bestehende Steuerpflicht ausschließen, sei es, dass sie dazu verpflichten, die Steuern des anderen Staates auf die eigenen Steuern anzurechnen. „Im Anwendungsbereich eines Doppelbesteuerungsabkommens besteht also eine Steuerpflicht nur, wenn und soweit neben den Tatbestandsvoraussetzungen des innerstaatlichen Steuerrechts auch die des Doppelbesteuerungsabkommens gegeben sind.“66

__________ 58 59 60 61 62 63 64 65 66

v. Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2007, S. 175. v. Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2007, S. 175. Sonnenberger in MünchKomm/BGB, 5. Aufl. 2010, IPR, Einl., Rz. 474 f. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 2 Rz. 32. Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 68. Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 71. v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2003, S. 235. Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 43. Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 43.

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IV. Doppelbesteuerungsabkommen und europäisches Recht Internationale Doppelbesteuerung führt zu einer Benachteiligung grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeit und ist deshalb mit dem Konzept eines einheitlichen Binnenmarkts nicht vereinbar.67 Dennoch muss sie – solange es noch keine einheitliche harmonisierte Besteuerung in der EU gibt – hingenommen werden, da die Mitgliedstaaten ihre Besteuerungssouveränität behalten haben und nur sehr zögerlich bereit sind, steuerliche Unterschiede und Hemmnisse abzubauen. Auch wenn die Doppelbesteuerung regelmäßig durch Freistellung ausländischer Einkünfte von der inländischen Besteuerung (sog. Freistellungsmethode) oder durch Anrechnung ausländischer Steuern auf die inländischen Steuern (sog. Anrechnungsmethode) vermieden wird, kann es aufgrund des unterschiedlichen Steuerniveaus in den einzelnen Mitgliedstaaten zu Überbelastungen und Investitionshemmnissen kommen. Doppelbesteuerungsabkommen und EG-Recht sind zwei unterschiedliche Rechtskreise.68 Aus dem EG-Recht lässt sich keine prinzipielle Verpflichtung ableiten, dass es innerhalb der Gemeinschaft zu keiner Doppelbesteuerung kommen dürfe.69 Der EuGH sichert die Wahrung des europäischen Rechts (Art. 220 EG) und nicht die Einhaltung der DBA und hat im Fall einer allein nach innerstaatlichem Recht gegründeten Nichtgewährung der im Abkommen vorgesehenen Anrechnung (treaty override) keine Verletzung der Grundfreiheiten gesehen.70 1. Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beseitigung der Doppelbesteuerung Art. 293 EG verpflichtet die Mitgliedstaaten, untereinander Verhandlungen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft aufzunehmen. Vorgaben für die inhaltliche Ausgestaltung der DBA enthält die Regelung allerdings nicht.71 Ebenso lässt sich daraus kein europarechtlich fundierter subjektiver Anspruch des Steuerpflichtigen auf Vermeidung der Doppelbesteuerung entnehmen. Die Bundesrepublik hat aber mit allen Staaten der Europäischen Union Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen, so dass im Ergebnis, wenn auch nicht in der Sache, dem EG-vertraglichen Auftrag nachgekommen wurde. Ein multilaterales Abkommen, wie es dem Art. 293 EG vorschwebt, existiert bislang nicht. Auch zu einem EU-Musterabkommen ist es bislang nicht gekommen, so dass den Verhandlungen regelmäßig das OECDMusterabkommen zugrunde gelegt wird. Da Art. 293 EG den Unionsbürgern keine Rechte72 gewährt, ist die Vorschrift weitgehend wirkungslos geblieben.

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67 Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 131 ff.; Heydt, EuZW 2000, 33. 68 Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1995, S. 47. 69 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 264a. 70 EuGH v. 14.11.2006 – Rs. C-513/04 – Kerckhaert-Morres, IStR 2007, 66; kritisch dazu Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 167 ff. 71 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 201; Lehner, IStR 2001, 326. 72 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 264.

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2. Einwirkungen der Grundfreiheiten auf Doppelbesteuerungsabkommen DBA stehen im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland in der Normenhierarchie auf der Ebene des einfachen Rechts, sie werden durch Zustimmungsgesetze in Bundesrecht transformiert. Grundsätzlich geht deshalb Gemeinschaftsrecht den DBA vor. Das bedeutet, dass auch DBA – wie anderes innerstaatliches Recht – am Maßstab des EG-Rechts zu messen73 und dass Abkommen auch im Lichte des Gemeinschaftsrechts auszulegen sind.74 Demzufolge überprüft der EuGH in ständiger Rechtsprechung DBA auf ihre Vereinbarkeit mit dem Europarecht und unterscheidet dabei zwischen der Verteilung der den Vertragsstaaten zustehenden Besteuerungshoheit und der Ausübung (Ausgestaltung) ihrer Besteuerungshoheit. Während die Verteilung grundsätzlich keine Beschränkung der Grundfreiheiten darstellt, da die Mitgliedstaaten insoweit einen weiten Gestaltungsspielraum haben, kann die Ausübung der nach dem DBA aufgeteilten Besteuerungshoheit durchaus Grundfreiheiten verletzen. Schon im Schumacker-Urteil hat der EuGH entschieden, dass das Freizügigkeitsrecht der Arbeitnehmer (Art. 39 EG) einer Regelung in einem DBA entgegensteht, wonach ein Steuerpflichtiger bei der Berechnung seiner Einkommensteuer im Wohnsitzstaat einen Teil des Steuerfreibetrags und seiner persönlichen steuerlichen Vorteile verliert, weil er in dem betreffenden Jahr auch Einkünfte in einem anderen Mitgliedstaat erzielt hat, die dort ungeachtet seiner persönlichen und familiären Situation besteuert wurden.75 Zwar enthalte das Gemeinschaftsrecht kein besonderes Erfordernis hinsichtlich der Art und Weise, in der der Wohnsitzstaat die persönliche und familiäre Situation eines Arbeitnehmers berücksichtigen muss, der in einem bestimmten Steuerjahr Einkünfte in diesem Staat und in einem anderen Mitgliedstaat erzielt hat. Allerdings dürften die Bedingungen, unter denen der Wohnsitzstaat diese Situation berücksichtigt, weder eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit noch eine Beschränkung der Ausübung einer durch den EG-Vertrag verbürgten Grundfreiheit darstellen. Insbesondere im Gilly-Urteil76 hat der EuGH bestätigt, dass es in die Souveränität der Mitgliedstaaten fällt, die Art und Weise und die Anknüpfungspunkte der Verteilung der Steuerhoheit festzulegen. Dies hat der EuGH in weiteren Entscheidungen bestätigt und immer wieder darauf verwiesen, dass das Gemeinschaftsrecht keine Kriterien für die Verteilung der Besteuerungskompetenzen der Mitgliedstaaten untereinander vorschreibe.77 Selbst wenn die Verteilung zu Diskriminierungen führt, schützen die Grundfreiheiten nicht, da sie auf solche

__________ 73 Dautzenberg, DB 1997, 1354 ff. 74 Jacob/Nosky, IStR 2008, 358; Lüdicke, IStR 2003, 188. 75 EuGH v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93 – Schumacker, Slg. 1995, 225 = FR 1995, 224 m. Anm. Waterkamp-Faupel. 76 EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-336/96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793 = FR 1998, 847 m. Anm. Dautzenberg. Dazu Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 532 ff. 77 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-298/05 – Columbus Container, Slg. 2007, I-10451; v. 12.12.2006 – Rs. C-374/04 – Test Claimants, Slg. 2006, I-11673.

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bilateral verursachten Diskriminierungen nicht zugeschnitten sind.78 Kofler hat dies die „grundfreiheitsimmunisierte Aufteilung der Steuerhoheit“ genannt79 und auf die Schwierigkeiten hingewiesen, zwischen allokativen (Verteilungs-) und materiellen (Ausübungs-)Normen zu unterscheiden.80 Eine solche Unterscheidung ist notwendig, denn bei der Ausübung und Ausgestaltung der in den DBA aufgeteilten Steuerhoheit „sind die Mitgliedstaaten … verpflichtet, den Gemeinschaftsvorschriften nachzukommen und insbesondere den Grundsatz der Inländerbehandlung von Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten und ihrer eigenen Staatsangehörigen zu wahren, die von den durch den EG-Vertrag garantierten Freiheiten Gebrauch gemacht haben.“81 In dem entschiedenen Fall de Groot konnte ein niederländischer (dort ansässiger) Steuerpflichtiger zwar seine Unterhaltszahlungen steuerlich geltend machen, jedoch wurden die an seine persönliche und familiäre Situation geknüpften Abzüge nur entsprechend seiner in den Niederlanden erzielten Einkünfte gewährt. Er hat somit – so der EuGH – aufgrund der Tatsache, dass er sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, einen Teil der nach dem niederländischen Recht vorgesehenen steuerlichen Abzüge verloren, auf die er als in den Niederlanden Ansässiger Anspruch hatte.82 Auch diese Linie hat der EuGH konsequent weiterverfolgt und einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten durch die Ausübung der Steuerhoheit in unterschiedlichen Fallkonstellationen festgestellt.83 Ein vieldiskutiertes Thema ist die Verlustberücksichtigung bei abkommensrechtlicher Freistellung.84 Nach in Deutschland vorherrschender Auffassung, insbesondere der Auffassung der Rechtsprechung bleiben bei der Anwendung der Freistellungsmethode auf die ausländischen Einkünfte auch die ausländischen Verluste bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage in Deutschland unberücksichtigt.85 Erzielt also ein in Deutschland ansässiger Unternehmer in einer ausländischen Betriebsstätte Verluste und sind die Einkünfte, die in der ausländischen Betriebsstätte erzielt werden, nach dem DBA von der inländischen Besteuerung freigestellt, so sollen auch die Verluste unberücksichtigt bleiben. Argumentiert wird zumeist mit dem sog. Symmetriegedanken, wonach spiegelbildlich zur Freistellung entsprechender Gewinne auch die Verlus-

__________ 78 Lehner, IStR 2001, 329 (332). 79 Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 530. 80 Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 549 f. 81 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-385/00 – de Groot, IStR 2003, 58 = FR 2003, 141 m. Anm. Schnitger. 82 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-385/00 – de Groot, IStR 2003, 58 Rz. 91 = FR 2003, 141 m. Anm. Schnitger. 83 EuGH v. 19.1.2006 – Rs. C-265/04 – Bouanich, Slg. 2006, I-00923, dazu Hahn, IStR 2006, 169; EuGH v. 21.2.2006 – Rs. C-152/03 – Ritter-Coulais, Slg. 2006, I-01711 = FR 2006, 466. 84 Dazu Knipping, IStR 2009, 275; Breuninger/Ernst, DStR 2009, 1981. 85 BFH v. 11.3.2008 – I R 116/04, BFH/NV 2008, 116; v. 17.7.2008 – I R 84/04, BStBl. II 2009, 630.

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te aus der Bemessungsgrundlage auszusondern sind.86 Der EuGH hatte sich mit der Frage zu befassen, ob hier nicht eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten (Niederlassungsfreiheit, Art. 43 ff. EG) vorliegt. Denn ein Unternehmer (Gesellschaft) mit einer Betriebsstätte in Deutschland kann die dort entstandenen Verluste im Jahr der Entstehung von der Bemessungsgrundlage abziehen, während ein ausländischer Betriebsstättenverlust regelmäßig weder im Ausland (mangels entsprechender Einkünfte) noch im Inland (wegen Anwendung der DBA-rechtlichen Freistellungsmethode) abzugsfähig ist. Der EuGH hat im Fall Lidl (ebenso wie schon im Fall Marks & Spencer) die Schlechterstellung ausländischer Verluste für gerechtfertigt angesehen, wenn gesichert sei, dass die ausländischen Verluste nicht „verfallen“ würden, wenn also sämtliche Möglichkeiten, den Verlust im Betriebsstättenstaat geltend zu machen, erschöpft seien.87 Zumindest im Falle der Schließung der verlustträchtigen Betriebsstätte können somit die ausländischen Verluste im Inland berücksichtigt werden.88 Regelmäßig unterscheiden sich die DBA der einzelnen Mitgliedstaaten untereinander, was zur Folge hat, dass den in den Vertragsstaaten Ansässigen unterschiedliche Vor- und Nachteile entstehen, je nachdem in welchem Land sie ihre grenzüberschreitende Tätigkeit entfalten. Immer wieder wurde deshalb diskutiert, ob sich aus den Grundfreiheiten nicht ein allgemeines Prinzip der Meistbegünstigung ableiten lasse.89 Bejahte man ein solches Recht zur Meistbegünstigung, so käme es zur Angleichung der DBA, was wiederum die Besteuerungssouveränität der vertragsschließenden Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen würde. Der EuGH lehnte dementsprechend auch eine Pflicht zur Meistbegünstigung ab.90 Es stelle keinen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht dar, wenn eine begünstigende Vorschrift eines DBA nicht auf natürliche Personen mit Wohnsitz in einem nicht an dem DBA beteiligten Mitgliedstaat erstreckt wird. Ein EG-rechtliches Meistbegünstigungsprinzip widerspreche grundsätzlich der Reziprozität (also des vertraglichen „do ut des“) von DBA.91 3. Einwirkungen des sekundären Gemeinschaftsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen Auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht (also Verordnungen und Richtlinien) kann sich auf Doppelbesteuerungsabkommen auswirken. Soweit ein Wider-

__________ 86 Dazu ausführlich und abgewogen kritisch Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse – Ein Rechtfertigungsgrund für die Einschränkung der Grundfreiheiten?, IFSt-Schrift Nr. 449, 2008, S. 34 ff. 87 EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl, Slg. 2008, I-3601 = FR 2008, 831; v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, IStR 2006, 19 = FR 2006, 177. 88 Siehe zu den Anforderungen an die Schließung v. Brocke, DStR 2008, 2201 (2202). 89 Dazu Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 268. 90 EuGH v. 5.7.2005 – Rs. C-376/03 – Rechtssache „D“, Slg. 2005, I-5821; ebenso Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 259a. 91 EuGH v. 5.7.2005 – Rs. C-376/03 – Rechtssache „D“, Slg. 2005, I-5821. Dazu Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 759 ff.; Lehner, IStR 2001, 329 (336).

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spruch zwischen dem mitgliedstaatlichen Abkommensrecht und dem sekundären Gemeinschaftsrecht besteht, geht das Gemeinschaftsrecht vor.92 Richtlinien können auf unmittelbare Änderungen oder Ergänzungen der Abkommen gerichtet sein, wie es etwa beim Richtlinienvorschlag zur Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen der Fall war, der allerdings nie verwirklicht wurde.93 Wäre die Richtlinie erlassen worden, so hätte dies zwingend zur Änderung der Abkommen führen müssen.94 Anzutreffen sind aber Richtlinien, die einen mittelbaren Abkommensbezug aufweisen, nämlich dann, wenn sie zur Änderung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts führen, an die die DBA anknüpfen.95 Dies ist beispielsweise bei der Zins-Lizenzgebühren-Richtlinie96 der Fall, aufgrund derer Zins- und Lizenzzahlungen, die zwischen verbundenen Unternehmen innerhalb der EU bezahlt werden, von der Quellensteuer zu befreien sind. Dies hat zur Folge, dass Abkommensvorschriften, die eine begrenzte Quellensteuer auf Zinsen und Lizenzgebühren zulassen, leerlaufen, da der Quellenstaat aufgrund der Richtlinie (und deren Anwendungsvorrang) nicht mehr berechtigt ist, eine Quellensteuer zu erheben. Nach der Mutter-Tochter-Richtlinie97 sind die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne vom Steuerabzug an der Quelle befreit, wenn die Beteiligung die Grenze von 10 % überschreitet. Unterhalb dieser Grenze ist zwar nach der Richtlinie eine Quellensteuerbelastung möglich, jedoch unterliegen DBA auch insoweit dem Verbot der Diskriminierung. So hat der EuGH festgestellt, dass allein schon die Ausübung der Steuerhoheit durch einen Mitgliedstaat unabhängig von einer Besteuerung in einem anderen Mitgliedstaat die Gefahr einer mehrfachen Belastung oder einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung in sich trägt.98 In einem solchen Fall hat der Staat des Sitzes der ausschüttenden Gesellschaft dafür zu sorgen, dass die gebietsfremden Gesellschaften als Anteilseigner angesichts des in seinem nationalen Recht vorgesehenen Mechanismus zur Vermeidung oder Abschwächung einer mehrfachen Belastung oder einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung eine Behandlung erfahren, die derjenigen der gebietsansässigen Gesellschaften als Anteilseigner gleichwertig ist, damit nicht eine – nach Art. 56 EG grundsätzlich verbotene – Beschränkung des freien Kapitalverkehrs eintritt.99 Die Mitgliedstaaten haben auch die nach dem europäischen Richtlinienrecht eröffneten Regelungsoptionen in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten auszuüben und müssen jede ungerechtfertigte Benachteiligung der grenzüber-

__________ 92 Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 826. 93 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 269. 94 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 270. 95 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 269. 96 Rl 2003/49/EG v. 3.6.2003, ABl. 2003, L 157/49. 97 Rl 90/435/EWG v. 23.7.1990, ABl. 1990, L 225/6. 98 EuGH v. 8.11.2007 – Rs. C-379/05 – Amurta, Slg. 2007, I-9569. 99 EuGH v. 8.11.2007 – Rs. C-379/05 – Amurta, Slg. 2007, I-9569, Rz. 39.

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schreitenden gegenüber der rein nationalen Wirtschaftstätigkeit vermeiden. Kofler spricht insoweit von der „grundfreiheitsrechtlichen Verpflichtung zur Übererfüllung von Richtlinienvorgaben“.100 Insgesamt zeigt sich, dass in der Europäischen Union aufgrund der bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Steuerhoheit erhebliche Besteuerungsunterschiede bestehen und auch das Problem der Doppelbesteuerung durch die Mitgliedstaaten bislang nicht grundsätzlich, jedenfalls nicht einheitlich gelöst wurde. Nach wie vor ist es auch in der EU die Aufgabe der zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen, die Doppelbesteuerung der Steuerbürger zu beseitigen oder zu lindern. Die Doppelbesteuerungsabkommen sind aber von der europäischen Rechtsentwicklung nicht unberührt geblieben. Aber auch hier gilt, was Joachim Lang allgemein zum Einfluss des europäischen Rechts auf das nationale Steuerrecht beobachtet hat, nämlich dass die Rechtsprechung des EuGH die Abkommenspolitik der Mitgliedstaaten weitaus mehr beeinflusst, als dies die Rechtsakte der EU tun.101

__________ 100 Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 833. 101 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 2 Rz. 56.

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Globalisierung und Unternehmenssteuerrecht: Wie ist das ertragsteuerliche Besteuerungssubstrat multinationaler Unternehmen sachgerecht auf die betroffenen Fisci aufzuteilen? Inhaltsübersicht I. Einführung II. Status Quo der Aufteilung des ertragsteuerlichen Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen 1. Grenzüberschreitende Betriebsstättenstrukturen 2. Grenzüberschreitende Konzernstrukturen

III. Kritik und alternative Denkansätze 1. Auswirkungen des Status Quo 2. Grenzüberschreitende Betriebsstättenstrukturen 3. Grenzüberschreitende Konzernstrukturen IV. Der Vorschlag einer CCCTB in der EU V. Resümee

Joachim Lang ist einer der führenden steuerrechtlichen Hochschullehrer der letzten 20 Jahre. In der Tradition der von Klaus Tipke begründeten Kölner Schule hat er sich immer wieder intensiv mit den Vorgaben auseinandergesetzt, die aus dem aus dem Gleichheitssatz der Verfassung und dem Steuergerechtigkeitspostulat abgeleiteten Leistungsfähigkeitsprinzip insbesondere für die Einkommensbesteuerung resultieren.1 Zuletzt hat er auf dieser Basis auch zu dem sehr spannenden Thema „Steuergerechtigkeit und Globalisierung“ Stellung genommen2. Deshalb lag es für den Verfasser nahe, zu Ehren von Joachim Lang eine in diesem Zusammenhang sehr wichtige Frage aufzugreifen: Wie ist das ertragsteuerliche Besteuerungssubstrat multinationaler Unternehmen sachgerecht auf die betroffenen Fisci aufzuteilen?

I. Einführung Es entspricht heute – basierend insbesondere auf wegweisenden Arbeiten der von Klaus Tipke begründeten und von Joachim Lang fortgeführten Kölner Schule – allgemeinem Verständnis3, dass aus dem verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Steuergerechtigkeit i. S. eines systemtragenden Prinzips herzuleiten ist, dass die Steuerlasten auf die Steuerpflichtigen im Verhältnis

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1 S. zusammenfassend z. B. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. Köln 2010, § 4 Rz. 81 ff. 2 Lang in FS Schaumburg, Köln 2009, 45. 3 S. zusammenfassend Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. Köln 2010, § 4 Rz. 81 ff.

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ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilt werden müssen. Jeder einzelne soll nach seiner individuellen Fähigkeit zur Leistung von Steuern mit Steuern belastet werden. Im einkommen- und ertragsteuerlichen Zusammenhang wird daran anknüpfend versucht, das Leistungsfähigkeitsprinzip in Form von Subprinzipien zu konkretisieren, von denen das Nettoprinzip in der Steuerrechtswirklichkeit eine besondere Bedeutung hat. Das Äquivalenzprinzip, wonach die Steuer als Gegenleistung für Leistungen des Staates zu verstehen ist, hat als systemtragendes Prinzip dagegen immer weniger Zuspruch gefunden.4 Wie Joachim Lang zutreffend herausgearbeitet hat5, stehen das Leistungsfähigkeitsprinzip und die daraus abgeleiteten Subprinzipien im Zeitalter der Globalisierung vor einer besonderen Herausforderung. Er führt zunächst aus, dass das Äquivalenzprinzip häufig missverstanden werde und besser als „Nutzenprinzip“ bezeichnet werden sollte, nach dem Steuern durch den Nutzen gerechtfertigt werden, den der Steuerzahler aus der steuerfinanzierten Gemeinschaft zieht6. Und dann schreibt Joachim Lang weiter: „Die Aufteilung von Steuersubstrat auf mehrere Staaten im internationalen Steuerrecht aktiviert das Nutzenprinzip zu Lasten des Leistungsfähigkeitsprinzips. Grenzüberschreitende Steuergerechtigkeit kann nicht allein mit steuerlicher Leistungsfähigkeit erklärt werden. Das Nutzenprinzip drängt sich in eine augenscheinliche Alleinherrschaft des Leistungsfähigkeitsprinzips. Dadurch wird aber das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht verletzt oder gebrochen; es wird vielmehr mit dem Nutzenprinzip (sach)gerecht kombiniert. Der umfassende Leistungsfähigkeitsmaßstab des in mehreren Staaten erwirtschafteten Welteinkommens wird nutzentheoretisch modifiziert. Der Wohnsitzstaat, in dem die persönlichen Verhältnisse am besten festgestellt werden können, beansprucht die Besteuerung des Welteinkommens. Jedoch darf der Quellenstaat, unter dessen Schutz ein Teil des Welteinkommens erwirtschaftet worden ist, einen nutzentheoretisch fairen Anteil an der Steuerzahlung beanspruchen. Das durch das Quellen- oder Territorialitätsprinzip konkretisierte Nutzenprinzip ist ein gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip abzuwägendes Prinzip internationaler Steuergerechtigkeit: Besteuert der Wohnsitzstaat das Welteinkommen und rechnet er die Einkommensteuer auf die ausländischen Einkünfte an, so erreicht er alle Ziele internationaler Steuergerechtigkeit: Er vermeidet Doppelbesteuerung, befriedigt voll das Leistungsfähigkeitsprinzip und er respektiert das vom Quellenstaat in Anspruch genommene Nutzenprinzip. Doppelbesteuerungsrechtlich üblich ist aber auch die Aufteilung von Steuerquellen, indem ausländische Einkünfte aus dem Welteinkommen herausgeschnitten werden. Hierdurch wird dem Nutzenprinzip zu Lasten des Leistungsfähigkeitsprinzips entsprochen.“7

Überdies fordert Joachim Lang unverändert auch im Zeitalter der Globalisierung Prinzipientreue und damit insbesondere auch die uneingeschränkte Be-

__________ 4 5 6 7

Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. Köln 2010, § 4 Rz. 87. Lang in FS Schaumburg, Köln 2009, 45 ff. Lang in FS Schaumburg, Köln 2009, 47. Lang in FS Schaumburg, Köln 2009, 47 f. Zusätzlich erwähnt er den Einfluss des Europarechts und der aus diesem folgenden Prinzipien.

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achtung des aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip abgeleiteten Nettoprinzips ein8. Damit hat Joachim Lang den Finger in die Wunde gelegt.9 Denn es ist – so jedenfalls der Eindruck des Verfassers als steuerrechtsberatendem Praktiker – steuerrechtsdogmatisch bislang nur unzureichend aufgearbeitet, wie grundlegende steuerrechtliche Prinzipien wie das Leistungsfähigkeitsprinzip und das Nutzenprinzip für multinationale Unternehmen im Zeitalter der Globalisierung in einem nationalen Steuerrecht gleichheitsfördernd verstanden und konkretisiert werden sollen – und möglicherweise wird das nationale Steuerrecht diese Frage auch niemals befriedigend beantworten können. Das Steuerrecht darf vor dieser Aufgabe aber nicht kapitulieren, weil sonst aus Gründen des „Gemeinwohls“ die Handlungsfreiheit des Einzelnen schlicht auf dem Altar fiskalpolitischer Interessen geopfert werden könnte. Die entsprechenden Tendenzen sind besorgniserregend, wie folgendes Zitat zeigt:10 „Als unverrückbarer Grundsatz gilt für den Steuergesetzgeber, dass er mit seinem Gestaltungsspielraum im Rahmen einer ganzheitlich gestaltenden Finanzpolitik immer gebunden ist an das Rechtsstaatsprinzip und an das Prinzip der Gleichheit der Lastenzuteilung, was wiederum als Ausprägung von Art. 3 GG ein Ausdruck des Postulats der Finanzierungsgerechtigkeit ist, an das Prinzip der Folgerichtigkeit bei der Umsetzung von Lenkungszielen sowie an europäisches Primär- und Sekundärrecht. … Sonstige sog. Steuerrechtsprinzipien können für den Gesetzgeber immer nur Referenzposition sein. Alle diese sonstigen Prinzipien des Steuerrechts werden im Lichte von politischen und ökonomischen Veränderungen und Entwicklungen über die Zeit immer wieder neue Ausprägungen erhalten. Zum sog. objektiven Nettoprinzip hat das BVerfG beispielsweise auch in seiner jüngsten Entscheidung zur Pendlerpauschale vom 9.12.2008 … erneut bekräftigt, dass „der Gesetzgeber dieses Prinzip beim Vorliegen gewichtiger Gründe durchbrechen und sich dabei generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen bedienen“ kann. … Um die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in einer globalisierten Wirtschaft sicherzustellen, muss daher auch beim Nettoprinzip die globale Perspektive einbezogen werden. … Letztlich kann ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber nicht gezwungen sein, die Wirkung von Steuerprinzipien gegen sich uneingeschränkt gelten zu lassen, wenn in ihrem Windschatten dem Staat die fiskalische Basis entzogen wird. Das objektive Nettoprinzip soll zu einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit beitragen, nicht diese verhindern. … Der Gesetzgeber kann auch zukünftig über das Steuerrecht nicht ex-ante sämtliche zivil-, handels- und gesellschaftsrechtlichen Ausprägungen von Wirtschaftshandeln regeln

__________ 8 Lang in FS Schaumburg, Köln 2009, 60 f. 9 Wobei die von ihm ebenfalls aufgeworfene Frage nach der „richtigen“ Doppelbesteuerungsvermeidungsmethode (Freistellung oder Anrechnung) hier nicht näher erörtert werden soll. 10 Nawrath, DStR 2009, 2. Allerdings ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag deutlich andere Akzente gesetzt hat. S. z. B. Müller-Gatermann, Ubg 2010, 153, sowie Rödder, Ubg 2010, 162.

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Thomas Rödder können. Jede aus einer solchen neuen Ausprägung von Wirtschaftshandeln erfolgende Abbildung im Steuerrecht, die das Steuersubstrat beeinträchtigt, ist deswegen im Lichte seiner gesetzgebenden Gestaltungsmacht für den Gesetzgeber auf den Prüfstand zu stellen. … Ich glaube, wir werden in Zukunft erleben, dass der Gesetzgeber Gestaltungen, die möglich, aber volkswirtschaftlich überflüssig sind, eher auf den Prüfstand stellen wird, als andere. Aus Sicht des Gesetzgebers ist z. B. die steuerliche Begünstigung der Übertragung von Verlusten, d. h. auch des Handels mit Verlusten, für eine Volkswirtschaft nicht erforderlich. Dabei betone ich die Bedeutung volkswirtschaftlicher Kategorien. Es wird für den Wirtschaftsteilnehmer m. E. nicht mehr ausreichen, lediglich betriebswirtschaftliche Kriterien in den Vordergrund seiner Risikoabschätzung stellen. … Steuergestaltungen jenseits von Steuermissbrauchstatbeständen, die den Staat daran hindern, notwendige Ausgaben zu finanzieren, sind zunehmend inakzeptabel und rufen Gegenreaktionen des Staates hervor. Wirtschaftsteilnehmer, die steuerliche Gestaltungen nutzen, müssen insofern das wirtschaftliche Risiko tragen, dass der Gesetzgeber die diesen Gestaltungsspielräumen zugrunde liegenden Regelungen durch eigene gesetzliche Gestaltungen konterkarieren kann. Dabei ist der Gesetzgeber nicht an Einzelinteressen gebunden, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet.“11

Nun kann der Verfasser als steuerrechtsberatender Praktiker in diesem Beitrag insoweit natürlich nicht die erforderliche steuerrechtsdogmatische Kärrnerarbeit leisten. Dargestellt werden sollen aber, um die notwendige Diskussion zu befördern, der Status Quo der Aufteilung des ertragsteuerlichen Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen auf die betroffenen Fisci, die wesentliche Kritik daran, alternative Denkansätze und der Vorschlag der CCCTB in der EU.12

II. Status Quo der Aufteilung des ertragsteuerlichen Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen In multinationalen Unternehmen ist eine getrennte Ermittlung und Abgrenzung der ausländischen von den inländischen Einkünften erforderlich, was voraussetzt, dass entsprechende Aufteilungen oder Zuordnungen von Erträgen und Aufwendungen (und dem zugrunde liegenden Vermögen) vorgenommen werden. Dies ist das Grundproblem der Aufteilung des ertragsteuerlichen Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen.13 Jeweils haben die Staaten, die von der grenzüberschreitenden Geschäftstätigkeit eines Unternehmens berührt werden, ein Interesse daran, den Teil der Einkünfte besteuern zu können, der im eigenen Hoheitsgebiet erwirtschaftet wird. Für die Steuerpflichtigen stellt sich dagegen die Frage, in welchem Land

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11 S. dazu in anderem Zusammenhang (Steuergestaltung und Gestaltungsmissbrauch) auch Rödder, DStJG 33 (2010), 93 (103 f.). 12 S. auch allgemeiner zum Thema „Fair Allocation of Corporate Tax in a Globalizing Economy“ und zur Problematik des „Sharing The Tax Pie“ de Wilde, Intertax 2010, 281 ff. 13 S. dazu im Einzelnen vor allem Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, 6. Aufl., München 2007, 575 ff.; Oestreicher, Konzern-Gewinnabgrenzung, München 2000.

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und ggf. in welcher Einheit die Besteuerung optimal ist und wie Doppelbesteuerungen vermieden werden können. Im Geltungsbereich der Freistellungsmethode ist die Erfolgs- und Vermögensabgrenzung insofern von Bedeutung, als sich mit zunehmenden ausländischen Einkünften der im Inland zu versteuernde Anteil des Welteinkommens verringert. Außerdem wird aus Sicht des Quellenstaates der dort besteuerungsfähige Teil des Gesamterfolgs festgelegt. Im Geltungsbereich der Anrechnungsmethode beeinflusst die Erfolgsabgrenzung überdies die Ermittlung des Höchstbetrags der Anrechnung im Rahmen der Wohnsitzbesteuerung. 1. Grenzüberschreitende Betriebsstättenstrukturen Ist die Betriebsstätte eines Unternehmens in einem anderen Staat belegen als ihr Stammhaus, so ergibt sich für steuerliche Zwecke inbound und outbound die Notwendigkeit, die Höhe des Betriebsstättenerfolgs festzustellen. Rechtlich kann ein Gewinn zwar nicht für die Betriebsstätte, sondern nur für das internationale Einheitsunternehmen entstehen. Dennoch muss für steuerliche Zwecke ein Erfolgsteil für die Betriebsstätte abgespalten werden (Notwendigkeit der Gewinnaufteilung). In den DBA sind dazu konkrete Gewinnaufteilungsregelungen enthalten, die in aller Regel dem einschlägigen Vorbild des OECD-Modells nachgebildet sind. Danach ist einer Betriebsstätte der Gewinn zuzuordnen, den „sie hätte erzielen können, wenn sie eine gleiche oder ähnliche Tätigkeit unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen als selbständiges Unternehmen ausgeübt hätte und im Verkehr mit dem Unternehmen, dessen Betriebsstätte sie ist, unabhängig gewesen wäre“ (Art. 7 Abs. 2 OECD-MA).14 Nach der damit grundsätzlich vorgegebenen Gewinnaufteilung nach der direkten Methode wird zwar für Zwecke der Gewinnzurechnung die Betriebsstätte als ein für sich operierender Unternehmensteil betrachtet (Selbständigkeitsfiktion), bei der die Zuordnung von Funktionen grundsätzlich zu berücksichtigen ist. Dem folgt grundsätzlich auch die Zuordnung der Wirtschaftsgüter15.

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14 Dabei sind die für diese Betriebsstätte entstandenen Aufwendungen, einschließlich Geschäftsführungs- und allgemeinen Verwaltungskosten, zum Abzug zugelassen, gleichgültig, ob sie in dem Staat, in dem die Betriebsstätte liegt, oder anderswo entstanden sind (Art. 7 Abs. 3 OECD-MA). 15 BMF v. 25.8.2009 – IV B 5 - S 1341/07/10004 – DOK 2009/0421117, Ubg 2009, 719, führt dazu Folgendes aus: „Einer Betriebsstätte sind die positiven und negativen Wirtschaftsgüter zuzuordnen, die der Erfüllung der Betriebsstättenfunktion dienen … Dazu zählen vor allem die Wirtschaftsgüter, die zur ausschließlichen Verwertung und Nutzung durch die Betriebsstätte bestimmt sind. Der Betriebsstätte sind auch solche Wirtschaftsgüter zuzuordnen, aus denen Einkünfte erzielt werden, zu deren Erzielung die Tätigkeit der Betriebsstätte überwiegend beigetragen hat. Maßgeblich sind immer die tatsächlichen Verhältnisse und insbesondere Struktur, Organisation und Aufgabenstellung der Betriebsstätte im Unternehmen. Wenn die Wirtschaftsgüter die ihnen im Rahmen des Gesamtunternehmens zugewiesene Funktion sowohl als Bestandteil des Betriebsvermögens des Stammhauses als auch einer Betriebsstätte erfüllen, hängt es entscheidend vom erkennbaren Willen der Geschäftsleitung ab, welchem Betriebsvermögen sie zuzuordnen sind …; der buchmäßige Ausweis kann

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Risiken sind dagegen nur in engen Grenzen zuordenbar16, und auch Gewinne aus „Innentransaktionen“ dürfen grundsätzlich nicht berücksichtigt werden.17 Auch nach Ansicht des BFH18 können zwischen den beiden Unternehmensteilen keine schuldrechtlichen Leistungsbeziehungen bestehen. Vielmehr soll die Aufteilung der Aufwendungen und Erträge nach den Grundsätzen einer anerkannten betrieblichen Kostenrechnung vorgenommen werden. Die Aufwendungen und Erträge können auch pauschal oder nach Kostenblöcken aufgeteilt werden, wenn dies zu einer angemessenen Genauigkeit führt und die Einzelaufteilung nicht möglich oder unangemessen schwierig ist. Außerdem wird im Einzelfall akzeptiert, dass die einer Betriebsstätte zuzurechnenden Gewinne durch Aufteilung der Gesamtgewinne eines Unternehmens auf seine einzelnen Teile im Wege der indirekten Methode ermittelt werden können (Art. 7 Abs. 4 OECD-MA). Voraussetzung ist, dass die gewählte Gewinnaufteilung in einem Vertragsstaat üblich und so ausgestaltet ist, dass das Ergebnis mit den Grundsätzen des Art. 7 Abs. 2 OECD-MA im Einklang steht. Die Zerlegung des für das Einheitsunternehmen ermittelten Gesamterfolgs auf die einzelnen Unternehmensglieder (Stammhaus, Betriebsstät-

__________ nur Indiz, nicht Voraussetzung der Zuordnung sein … Bei der Zuordnung ist die Zentralfunktion des Stammhauses zu beachten. Dem Stammhaus sind deshalb in der Regel zuzurechnen a) das Halten der dem Gesamtunternehmen dienenden Finanzmittel und b) Beteiligungen, wenn sie nicht einer in der Betriebsstätte ausgeübten Tätigkeit dienen … Die von einer Betriebsstätte erwirtschafteten Finanzierungsmittel gehören grundsätzlich zu deren Betriebsvermögen, soweit sie zur Absicherung der Geschäftstätigkeit der Betriebsstätte erforderlich sind oder bei ihr zur Finanzierung von beschlossenen oder in absehbarer Zeit vorgesehenen Investitionen dienen sollen. Die darüber hinausgehenden, überschüssigen Mittel sind dem Stammhaus zuzurechnen. Eine Zuordnung von Wirtschaftsgütern bei der nutzenden Betriebsstätte kann unterbleiben, wenn a) die Wirtschaftsgüter der Betriebsstätte nur vorübergehend überlassen werden und die Überlassung unter Fremden aufgrund eines Miet-, Pachtoder ähnlichen Rechtsverhältnisses erfolgt wäre oder b) es sich um Wirtschaftsgüter handelt, die von mehreren Betriebsstätten gleichzeitig oder nacheinander genutzt werden.“ S. auch BMF v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300 - 111/99, BStBl. I 1999, 1076; v. 20.11.2000 – IV B 4 - S 1300 - 222/00, BStBl. I 2000, 1509; v. 29.9.2004 – IV B 4 - S 1300 - 296/04, BStBl. I 2004, 917, sowie aktuell zu DBA und Personengesellschaften BMF v. 16.4.2010 – IV B 2 - S 1300/09/10003 – DOK 2009/0716905, BStBl. I 2010, 354; auch hier erfolgt grundsätzlich eine Zuordnung nach funktionalen Gesichtspunkten; die Zuordnung durch den Stpfl. ist nur ein Indiz. Aus der Rspr. des BFH s. z. B. BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, FR 2008, 1149 = DStR 2008, 2001; v. 13.2.2008 – I R 63/06, DStR 2008, 1025 = FR 2008, 1053; v. 19.12.2007 – IX R 50/06, BFH/NV 2008, 853; v. 17.10.2007 – I R 5/06, BFH/NV 2008, 869; v. 19.12.2007 – I R 66/06, BFH/NV 2008, 893. S. auch z. B. Schnitger/Bildstein, Ubg 2008, 444 (449 ff.). 16 S. dazu im Einzelnen Schön in Lüdicke, Besteuerung von Unternehmen im Wandel, Köln 2007, 71 ff. 17 BMF v. 25.8.2009 – IV B 5 - S 1341/07/10004 – DOK 2009/0421117, Ubg 2009, 718, formuliert nur folgende Besonderheit: „Die Aufteilung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte ist dagegen nach dem Grundsatz des Fremdvergleichs vorzunehmen, wenn die Aufteilung Leistungen betrifft, die Gegenstand der ordentlichen Geschäftstätigkeit der leistenden Unternehmenseinheit sind, und wenn die Aufteilung auf der Grundlage der Funktionsteilung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte zu einer sachgerechten Einkommensabgrenzung führt.“ 18 Vgl. z. B. BFH v. 20.7.1988 – I R 49/84, BStBl. II 1989, 140 = FR 1988, 678.

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te) erfolgt dann z. B. mittels branchenspezifischer Zerlegungsmaßstäbe (z. B. Umsatz, eingesetztes Kapital, Zahl der Mitarbeiter)19. 2. Grenzüberschreitende Konzernstrukturen Kapitalgesellschaften sind eigenständige Steuersubjekte und unterliegen in ihren jeweiligen Domizilstaaten der unbeschränkten Steuerpflicht mit ihrem weltweiten Einkommen. Dies gilt grundsätzlich auch für Kapitalgesellschaften im Konzern, obwohl dieser eine wirtschaftliche Einheit ist. Damit ist auch klar, dass den einzelnen Kapitalgesellschaften nicht nur bestimmte Funktionen zugeordnet werden können, sondern im Unterschied zur Betriebsstätte auch Risiken, und dass im Unterschied zum Geschäftsverkehr zwischen Stammhaus und Betriebsstätte der Leistungsaustausch zwischen den Einheiten eines internationalen Konzerns auf schuldrechtlicher Basis möglich und steuerlich grundsätzlich auch anzuerkennen ist.20 Mit der Leistungsverrechnung im Konzern wird gleichzeitig das Ergebnis der einzelnen Konzerneinheiten und damit auch die Aufteilung des gesamten Steuersubstrats auf die beteiligten Fisci festgelegt. Außerdem resultiert daraus auch die Notwendigkeit einer Bestimmung „angemessener“ Verrechnungspreise nach dem international akzeptierten Grundsatz des Fremdvergleichs. Maßstab für die Aufteilung des Konzernerfolgs auf der Basis einzelner Lieferungen und Leistungen sind mithin die Bedingungen, die unabhängige Marktpartner („dealing at arm’s length“) den konzerninternen Transaktionen zugrunde legen würden.21 Dementsprechend ist für die Gewinnaufteilung bei Kapitalgesellschaften die direkte Methode typisch (zum Teil wird sie allerdings bei konkreten Leistungsverrechnungen mit Elementen der indirekten Methode vermischt).22 Eine Gewinnaufteilung nach der indirekten Methode („unitary entity approach“), also die Aufteilung des Gewinns der wirtschaftlichen Einheit nach einem standardisierten Schlüssel auf die Konzerngesellschaften („formulary apportionment“), wird dagegen international ausdrücklich abgelehnt.23

__________ 19 S. dazu insgesamt auch Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 581 ff., 586 ff. 20 S. dazu im Einzelnen vor allem auch Schön, a. a. O., (Fn. 15), 71 ff. 21 S. als entsprechende steuerliche Korrekturnorm vGA, vE und § 1 AStG sowie Art. 9 Abs. 1 OECD-MA. 22 Beispiele sind die Zulässigkeit eines „profit split“ vor allem bei der Übertragung bzw. Überlassung immaterieller Wirtschaftsgüter, die Aufteilung der Aufwendungen für gemeinsame Forschung im Rahmen einer Kostenumlagevereinbarung oder die indirekte Preisermittlung bei Dienstleistungen. S. dazu im Einzelnen vor allem Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 583 ff., 588 ff. 23 Vgl. erneut Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 584. Beispiele zu einer Gewinnaufteilung nach der indirekten Methode innerhalb eines Staates sind die USA, Kanada und die Schweiz sowie im Rahmen der gewerbesteuerlichen Organschaft auch Deutschland.

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III. Kritik und alternative Denkansätze 1. Auswirkungen des Status Quo Im Einzelnen abhängig davon, ob ein Outbound- oder ein Inbound-Fall gegeben ist und ob die Freistellungs- oder die Anrechnungsmethode greift, hängt die Aufteilung des ertragsteuerlichen Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen auf die beteiligten Fisci nach Vorstehendem davon ab, – ob und wo Betriebsstätten oder Konzernkapitalgesellschaften mit welchen Funktionen unterhalten werden – und – bei Konzernkapitalgesellschaften – welche Risiken wem zugeordnet werden und wie der Leistungsaustausch im Konzern arm’s length ausgestaltet wird. Damit wirkt sich auch das weltweite Steuergefälle regelmäßig in Abhängigkeit von der Positionierung einer Betriebsstätte oder vom Sitz einer Kapitalgesellschaft, von den dort unterhaltenen Funktionen und – bei Konzernkapitalgesellschaften – von denen diesen zugeordneten Risiken sowie von den zwischen den Konzernkapitalgesellschaften vereinbarten Leistungsvergütungen auf die Gesamtsteuerbelastung multinationaler Unternehmen aus. Substratsverteilungs- und Steuerbe- und -entlastungseffekte können darüber hinaus entstehen aus der Verlagerung stiller Reserven, aus grenzüberschreitenden Verlustverrechnungen u. Ä. m. Aus der Anerkennung von Leistungsvergütungen im Konzern resultiert bei Kapitalgesellschaften auch eine besondere Bedeutung vor allem von Finanzierungsentscheidungen, weil Gewinne nicht nur als Ausschüttungen, sondern auch auf schuldrechtlicher Basis von der Tochter- an die Muttergesellschaft transferiert werden können und weil Beteiligungsaufwand unterschiedlich der Mutter- oder der Tochtergesellschaft zugeordnet werden kann. Bisher reagieren die nationalen Gesetzgeber darauf regelmäßig durch Gesetzesverschärfungen, die dem Schutz des jeweiligen nationalen Steueraufkommens dienen sollen; sie sollen Verlagerungen von Steuersubstrat ins Ausland bei Inbound- und Outbound-Investitionen unterbinden. Von zentraler Bedeutung sind insoweit in Deutschland vor allem die Zinsschranke, Regelungen zu Verrechnungspreisen und Funktionsverlagerungen, die Hinzurechnungsbesteuerung, Entstrickungsregelungen, Beschränkungen der Verlustverrechnungsmöglichkeiten auf das Inland etc.24

__________

24 In diese Mechanismen hat das Europäische Unternehmenssteuerrecht allerdings in den letzten Jahren gravierend eingegriffen. Das Nebeneinander 27 verschiedener Steuersysteme und das EU-weite Steuergefälle beeinträchtigen die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts. Der EG-Vertrag enthält zwar keinen Harmonisierungsauftrag für die direkten Steuern. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Befugnisse im Bereich der direkten Steuern aber unter Wahrung des vorrangigen Gemeinschaftsrechts ausüben. Eine Vielzahl von primär- und sekundärrechtlichen europarechtlichen Vorgaben hat dementsprechend in den letzten Jahren wesentlichen Einfluss auf die nationale Steuergesetzgebung genommen, die Bemühungen der nationalen Gesetzgeber um die Abschottung nationalen Steuersubstrats bei grenzüberschreitenden Investitionen

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2. Grenzüberschreitende Betriebsstättenstrukturen Vorstehende Ausführungen haben verdeutlicht, dass das Ergebnis einer Betriebsstätte und die dadurch vorgenommene Aufteilung des Besteuerungssubstrats eines multinationalen Unternehmens wegen der fehlenden steuerlichen Anerkennung von Leistungsbeziehungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätte weniger stark beeinflusst werden kann als das von Konzerngesellschaften.25 Dennoch scheint international die Kritik daran, dass Unterschiede zwischen der Besteuerung grenzüberschreitender Betriebsstätten- und grenzüberschreitender Konzernstrukturen gegeben sind, dazu zu führen, dass die Besteuerung der Betriebsstätten der von Kapitalgesellschaften angenähert werden soll und nicht umgekehrt. Nach dem OECD-Betriebsstättenbericht 2008 v. 17.7.2008 sollen nämlich künftig unternehmensinterne Leistungsbeziehungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätte grundsätzlich direkt auf Basis des Fremdvergleichspreises abgerechnet werden, um der Betriebsstätte die Gewinne zuzuordnen, die sie als fiktiv verselbständigtes und unabhängiges Unternehmen unter sonst vergleichbaren Bedingungen erwirtschaftet hätte („functionally separate entity approach“).26 Auch die Zuordnung von Risiken zu Betriebsstätten soll damit möglich sein.27 Damit ist aber der einer Betriebsstätte zugeordnete Gewinn nicht mehr auf den zu bestimmenden Anteil der Betriebsstätte am Gesamtgewinn beschränkt. Maßgebend ist vielmehr das Ergebnis einer separaten Gewinnermittlung, bei der die Vorleistungen auch dann zu Marktpreisen bewertet sind, wenn sie vom Stammhaus bezogen werden. Dementsprechend sind Zwischengewinne möglich. Und auch von der Art der Risikoübernahme abhängige Bepreisungen von Leistungen sollen möglich sein.28 Lediglich bei der

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25 26 27

28

zumindest erschwert und jedenfalls in einigen Bereichen Harmonisierungstendenzen ausgelöst. Das ist ein konkreter Ausfluss der Europäisierung des Unternehmenssteuerrechts. S. zusammenfassend dazu z. B. Hey in FS Schaumburg, Köln 2009, 767 ff., sowie Rödder in FS Herzig, München 2010, 349 ff., jeweils m. w. N. Instruktiv dazu auch Schön, a. a. O., (Fn. 15), 71 ff. S. dazu näher z. B. Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 586 ff.; Schön, a. a. O., (Fn. 15), 71 ff.; Kosch, IStR 2010, 42 ff. Die Zuordnung von Funktionen und Risiken soll insbesondere an der Zuordnung des Personals mit Entscheidungskompetenzen festgemacht werden („key entrepreneurial risk taking functions“), und die Zuordnung der Geschäftschancen und der Wirtschaftsgüter soll daran anknüpfen. Entscheidend soll die Beantwortung der Frage sein, ob auch fremde Dritte entsprechende Funktionen und Risiken tragen würden. Dann soll auch – wie bei Konzernkapitalgesellschaften (s. z. B. weiter unten Fn. 37) beispielsweise eine Auftragsfertigungsbetriebsstätte möglich sein (s. z. B. die Darstellung von Kosch, IStR 2010, 42 ff.). Sehr kritisch dazu Schön, a. a. O., (Fn. 15), 71 ff. Sehr kritisch insbesondere dazu Schön, a. a. O., (Fn. 15), 71 ff., der zu Recht darauf hinweist, dass wir hier – anders als bei Kaptialgesellschaftsstrukturen – über die Gewinnaufteilung bei einem Steuersubjekt und nicht zwischen verschiedenen Steuersubjekten reden und dass bei einem Steuersubjekt stets von einer einheitlichen Risikostruktur ausgegangen werden müsse. Er weist auch zutreffend darauf hin, dass es jedenfalls nach bisherigem Verständnis bei der territorialen Gewinnaufteilung innerhalb eines Steuersubjekts eher um das Nutzenprinzip und zwischen verschiedenen Steuersubjekten eher um das Leistungsfähigkeitsprinzip gehe.

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Überlassung von Fremdkapital wird nach dem neuen Ansatz der OECD aus Gründen der administrativen Erleichterung von einer marktüblichen Zinsverrechnung abgesehen. Hier ist stattdessen vorgesehen, der Betriebsstätte vom Gesamtzinsaufwand des Einheitsunternehmens einen anteiligen Betrag zuzuweisen.29 Diese Entwicklung ist nicht nur deswegen überraschend, weil sie im Bereich der Betriebsstätten mehr statt weniger Einflussmöglichkeiten der Stpfl. auf die Verteilung des Besteuerungssubstrats auf die betroffenen Fisci ermöglicht. Sie ist es auch, weil man sich mit ihr zusätzlich gravierende technische Probleme „einkauft“30. Denn jedenfalls außerhalb von Personengesellschaften ist die Selbständigkeitsfiktion der Betriebsstätte auch rechtlich eine Fiktion. Um den Vorstellungen der OECD Rechnung zu tragen, müssen also pro forma-Verträge abgeschlossen werden können, die zivilrechtlich gar nicht existieren. Unabhängig davon müssen vielfältige Funktionen und Risiken identifiziert und bewertet und bei der Bestimmung der „Verrechnungspreise“ für die ggf. fiktiven Transaktionen berücksichtigt werden. Schon bei Kapitalgesellschaften ist das kaum noch praktizierbar (s. dazu weiter unten), im Betriebsstättenfall dürfte das eher noch schwieriger sein. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil gleichzeitig eine klare Tendenz zur Absenkung der Anforderungen für das Vorliegen einer Betriebsstätte besteht31. Aber auch rein steuerrechtlich ist der Ansatz der OECD nicht ohne weiteres umsetzbar. Geht man nämlich mit der Rechtsprechung32 davon aus, dass die Art. 7 Abs. 2 OECD-MA nachgebildeten Normen im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung eines von der Abkommensnorm betroffenen Landes grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar sind33, setzt die Abrechnung interner Leistungsbeziehungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätten zu Marktpreisen voraus, dass eine damit verbundene Gewinnrealisierung im Rahmen von unternehmensinternen Leistungsbeziehungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätte nach dem nationalen Recht des jeweiligen Staates überhaupt möglich ist. Mit dem SEStEG wurde zwar insbesondere die Entstrickungsnorm des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG für die grenzüberschreitende Überführung und Nutzungsüberlassung von Wirtschaftsgütern eingeführt (wie auch die Verstrickungsnorm des § 4 Abs. 1 S. 7 i. V. m. § 6 Abs. 1 Nr. 5a EStG)34. Gelöst worden sein dürfte die generelle Problematik damit aber (auch wenn man die Frage, ob die

__________ 29 Seinen Niederschlag finden soll die OECD-Auffassung im neu formulierten Art. 7 Abs. 2 und 3 OECD-MA, während Art. 7 Abs. 4 OECD-MA, der bisher im Einzelfall die Gewinnaufteilung nach der indirekten Methode zulässt, gestrichen werden soll. 30 Dazu ausführlich im Einzelnen Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 593 ff. 31 Schön, a. a. O., (Fn. 15), 71 ff.; s. auch Schnitger/Bildstein, Ubg 2008, 444 ff. 32 Vgl. z. B. BFH v. 9.11.1988 – I R 335/83, BStBl. II 1989, 510. 33 Differenzierend z. B. Schön, a. a. O., (Fn. 15), 71 ff. 34 Vgl. dazu z. B. Rödder, Ubg 2009, 597 m. w. N.

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Norm nicht ohnehin ins Leere läuft35 und die europarechtliche Problematik außer vor lässt36) nicht. Jedenfalls aber wirft all dies die Frage auf, ob nicht umgekehrt eine stärkere Betonung der wirtschaftlichen Einheit nicht nur bei der Gewinnaufteilung von Betriebsstätten, sondern auch bei grenzüberschreitenden Konzernstrukturen erfolgen sollte. 3. Grenzüberschreitende Konzernstrukturen Dies ist auch deshalb nicht fernliegend, weil mit der steuerlichen Anerkennung der Zuordnung von Funktionen und Risiken und von Leistungsbeziehungen zwischen Konzerngesellschaften sowie mit der Anwendung des Wertmaßstabs des Fremdvergleichspreises auf konzerninterne Lieferungen und Leistungen in einer komplexer werdenden Weltwirtschaft zunehmende Schwierigkeiten verbunden sind, was dazu führt, dass auch dieser Ansatz zur Aufteilung des Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen auf die beteiligten Fisci vermehrt in Frage gestellt wird.37 Schon die praktische Umsetzung der arm’s length-Vorgabe stößt immer stärker an ihre Grenzen. Wenn Leistungen gebündelt oder immaterielle Güter überlassen werden, können schon Geschäftsvorfälle kaum voneinander abgegrenzt werden und sind vergleichbare Transaktionen zwischen oder mit unabhängigen Vertragsparteien regelmäßig nicht gegeben. Auch die erforderlichen Vergleichsdaten können regelmäßig kaum ermittelt werden. Je mehr betriebliche Funktionen in komplexen Prozessen Länder übergreifend ausgeführt und je stärker die konzerninternen Lieferungen und Leistungen von immateriellen Werten dominiert werden, desto mehr fehlt es an den Anwendungsvoraussetzungen einer Bestimmung transaktionsorientierter Verrechnungspreise. Praktisch zeigt sich dies in sehr aufwändigen Studien über die im Einzelfall angemessenen Verrechnungspreise, in einer steigenden Anzahl von Streitfällen vor Gericht sowie in der zunehmenden Detaillierung von gesetzlichen Vorgaben und Verwaltungsanweisungen zu den Verrechnungspreisanforderungen (in Deutschland ist insbesondere auf die verschärften Regelungen in § 1 Abs. 3 AStG hinzuweisen). Zu den konzeptionellen Schwächen des Fremdvergleichsgrundsatzes trägt bei, dass ein Vergleich mit dem Verhalten unabhängiger Unternehmen nur dann sachgerecht wäre, wenn konzerninterne Leistungen unter gleichen Bedingungen vom Markt bezogen oder an Dritte abgesetzt werden könnten. Dies trifft aber schon deshalb nicht zu, weil die durch Integration bewirkten Skalenvorteile und Synergieeffekte bei der Verteilung des Gesamtgewinns nach Fremd-

__________

35 Vgl. dazu z. B. BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, FR 2008, 1149 = DStR 2008, 2001; v. 28.10.2009 – I R 99/08, DStR 2010, 40 = FR 2010, 183; BMF v. 20.5.2009 – IV C 6-S 2134/07/10005 – DOK 2009/0300414, DStR 2009, 1263 = FR 2009, 639; v. 25.8.2009 – IV B 5 - S 1341/07/10004 – DOK 2009/0421117, Ubg 2009, 718. 36 Vgl. dazu z. B. Schön, a. a. O., (Fn. 15), 71 ff. 37 Vgl. dazu ausführlich m. w. N. die Darstellung von Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 588 ff., an die sich die nachfolgenden Ausführungen anlehnen.

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vergleichgesichtspunkten nicht berücksichtigt werden. Dementsprechend besteht die Gefahr, dass diese Mehrgewinne willkürlich aufgeteilt, mehrmals oder überhaupt nicht besteuert werden. Überdies wird die Sachgerechtigkeit des Fremdvergleichsgrundsatzes in Frage gestellt, wenn die danach maßgebenden Funktionen und Risiken durch vertragliche Bestimmungen nahezu frei zwischen den verschiedenen Steuersubjekten im Konzern verteilt werden können.38 Die oben angegebene Freiheit in der Zuordnung von Eigen- und Fremdfinanzierung trägt dazu ebenfalls wesentlich bei. Die Erfolgsabgrenzung nach der indirekten Methode vermeidet grundsätzlich die beschriebenen Probleme des Fremdvergleichsgrundsatzes. Gegenüber der direkten Methode, die auf die Erfassung des betriebswirtschaftlich richtigen Ergebnisses jeder einzelnen Konzernkapitalgesellschaft ausgerichtet ist, ist die Zielsetzung der indirekten Methode die Aufteilung des Konzerngewinns nach Maßgabe sachgerechter Aufteilungsfaktoren. In ihrem Kern beruht sie auf der Annahme, dass jede Geldeinheit des Konzerns, die weltweit investiert wird, die jeweils gleiche Verzinsung erbringt.39 Die in Deutschland durch die Unternehmenssteuerreform 2008 eingeführte Zinsschranke hätte von ihrer Konzeption her, wenn sie gesetzgeberisch richtig umgesetzt worden wäre und den EKEscape wirklich ermöglichen würde, im Ausgangspunkt einen ähnlichen Ansatz verfolgt (weil sie idealiter bei jeder Konzerngesellschaft die identische EK-/FK-Quote verlangt hätte).40 Natürlich verlagert sich die Problematik dann allerdings auf die Wahl der richtigen Aufteilungsfaktoren. Und in Abhängigkeit von den gewählten Aufteilungsfaktoren kann das multinationale Unternehmen auch bei der Erfolgsabgrenzung nach der indirekten Methode die Gewinnaufteilung beeinflussen (z. B. durch eine Verlagerung von Produktionsfaktoren, Umsatzerlösen u. Ä. m.). Indessen: Eine Zuordnung von Übergewinnen, die auf den Einsatz von immateriellen Wirtschaftsgütern oder anderen spezifischen Vorteilen zurückzuführen sind, ist jedenfalls nicht mehr durch Verträge gestaltbar.41

__________ 38 Ein typischer Anwendungsfall ist die denkbare Vereinbarung einer Auftragsfertigung. Die Vereinbarung einer Auftragsfertigung bewirkt im Rahmen des Fremdvergleichs, dass sich die entsprechenden Risiken zwischen den beteiligten Unternehmen auf die Gesellschaft verschieben, die den Auftrag gibt. Typische Folge ist, dass das fertigende Unternehmen eine geringe Marge erhält, die nach der Kostenaufschlagsmethode ermittelt wird. Für den multinationalen Unternehmensverbund ist diese Vereinbarung grundsätzlich ohne Bedeutung, da sich Risiken hierdurch nicht vermindern. Vergleichbare Strukturen sind z. B. im Vertrieb und bei der Entwicklung gewerblicher Schutzrechte möglich, wenn der Vertrieb durch Kommissionäre oder andere funktionsarme Gesellschaften durchgeführt wird und die Forschung im Auftrag eines Prinzipals erfolgt (z. T. wörtlich entnommen aus Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 591 ff.). 39 Vgl. dazu näher insbesondere Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 593 ff., an dessen Ausführungen sich die nachstehenden Ausführungen anlehnen. 40 Vgl. z. B. Rödder, DB 2006, 2028. 41 Vgl. z. B. Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 593.

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Allerdings kann die indirekte Methode nur dann so umgesetzt werden, dass sie einerseits vor einer Doppelbesteuerung schützt und andererseits eine einmalige Besteuerung sicherstellt, wenn eine umfassende internationale Übereinstimmung über die Anwendung der Methode, die globale Besteuerungsgrundlage des Konzerns sowie die Auswahl, Bewertung und Gewichtung der Faktoren, die bei der Aufteilung der Besteuerungsgrundlage zu berücksichtigen sind, herbeigeführt werden könnte.42 In Einklang müssten auch die Buchführungsvorschriften aller Staaten gebracht werden. Weitere Vorbehalte richten sich gegen die mangelhafte Differenzierung der globalen Gewinnaufteilung nach Unterschieden bei den Funktionen, den Risiken und der Produktivität zwischen den Konzernunternehmen. So seien die globalen Unterschiede zwischen den nationalen Kapitalertragsraten und Arbeitsproduktivitäten viel zu groß, um die Gewinnaufteilung nach einer Formel generell akzeptieren zu können.43 Ferner werde das Ergebnis von Wechselkursschwankungen, unterschiedlichen Inflationsraten und Kosten der Kapitalnutzung beeinflusst. Bisher gibt es auch deshalb für eine verursachungsgerechte Zuordnung keinen allgemein akzeptierten Schlüssel.44 Damit stehen auch dem Prinzip der Gewinnaufteilung nach einer Formel erhebliche Bedenken gegenüber. Die Aufteilung ist grundsätzlich nur dann als Methode geeignet, wenn die involvierten Staaten bereits weitgehend integriert sind.

IV. Der Vorschlag einer CCCTB in der EU Das Zwischenfazit aus den vorstehenden Überlegungen fällt ernüchternd aus: – Die gegenwärtig geltende Gewinnaufteilung bei grenzüberschreitenden Betriebsstättenstrukturen ist weniger stark beeinflussbar als diejenige bei grenzüberschreitenden Konzernstrukturen. Dennoch scheint international die Kritik daran, dass Unterschiede zwischen der Besteuerung grenzüberschreitender Betriebsstätten- und grenzüberschreitender Konzernstrukturen gegeben sind, dazu zu führen, dass die Besteuerung der Betriebsstätten der von Kapitalgesellschaften angenähert werden soll und nicht umgekehrt. Diese Entwicklung ist nicht nur deswegen überraschend, weil sie im Bereich der Betriebsstätten mehr statt weniger Einflussmöglichkeiten der Stpfl. auf die Verteilung des Besteuerungssubstrats auf die betroffenen Fisci ermöglicht. Sie ist es auch, weil man sich mit ihr zusätzlich gravierende technische Probleme „einkauft“.

__________ 42 Vgl. insbesondere Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 593 ff. 43 Vgl. insbesondere Jacobs, a. a. O., (Fn. 12), 593 ff., an dessen Ausführungen sich die folgenden Ausführungen z. T. wörtlich anlehnen. 44 Traditionell wird auf das an einem Standort eingesetzte Vermögen, die Lohnsumme und den Umsatz Bezug genommen. Daneben wird insbesondere die unternehmensbezogene Wertschöpfung in Erwägung gezogen.

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– Auch bei bei grenzüberschreitenden Konzernstrukturen sind nämlich mit der steuerlichen Anerkennung der Zuordnung von Funktionen und Risiken und von Leistungsbeziehungen zwischen Konzerngesellschaften sowie mit der Anwendung des Wertmaßstabs des Fremdvergleichspreises auf konzerninterne Lieferungen und Leistungen in einer komplexer werdenden Weltwirtschaft zunehmende Schwierigkeiten verbunden, was dazu führt, dass auch dieser Ansatz zur Aufteilung des Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen auf die beteiligten Fisci vermehrt in Frage gestellt wird. – Die Erfolgsabgrenzung nach der indirekten Methode vermeidet zwar grundsätzlich die beschriebenen Probleme des Fremdvergleichsgrundsatzes. Ihre Zielsetzung ist die Aufteilung des Konzerngewinns nach Maßgabe sachgerechter Aufteilungsfaktoren. Allerdings verlagert sich die Problematik dann auf die Wahl der richtigen Aufteilungsfaktoren, über deren Beeinflussung auch die Erfolgsabgrenzung nach der indirekten Methode beeinflusst werden kann (z. B. durch eine Verlagerung von Produktionsfaktoren, Umsatzerlösen u. Ä. m.). Und: Die indirekte Methode kann nur dann so umgesetzt werden, dass sie einerseits vor einer Doppelbesteuerung schützt und andererseits eine einmalige Besteuerung sicherstellt, wenn eine umfassende internationale Übereinstimmung über die Anwendung der Methode, die globale Besteuerungsgrundlage des Konzerns sowie die Auswahl, Bewertung und Gewichtung der Faktoren, die bei der Aufteilung der Besteuerungsgrundlage zu berücksichtigen sind, herbeigeführt werden könnte. In Einklang müssten auch die Buchführungsvorschriften aller Staaten gebracht werden. Damit stehen auch dem Prinzip der Gewinnaufteilung nach einer Formel erhebliche Bedenken gegenüber. Die Aufteilung ist grundsätzlich nur dann als Methode geeignet, wenn die involvierten Staaten bereits weitgehend integriert sind. Umso interessanter ist es, dass in der EU Bestrebungen zur Einführung einer EU-weiten konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage (CCCTB – Common Consolidated Corporate Tax Base), nachdem sie zwischenzeitlich als nahezu „tot“ angesehen wurden, nun wieder jedenfalls insoweit eine gewisse Bedeutung erhalten haben, als die Vorlage eines entsprechenden Richtlinienvorschlages in 2011 als möglich erachtet wird.45 Schon im Jahr 2001 hatte die EU-Kommission zur Fortentwicklung der Unternehmensbesteuerung im Binnenmarkt die Schaffung einer CCCTB vorgeschlagen. Das Projekt zielt(e) auf nicht mehr und nicht weniger als auf die Schaffung eines besonderen EU-Konzernsteuerrechts, das für bestimmte Unternehmen (wahlweise) die jeweilige nationale Unternehmensbesteuerung ersetzen sollte; lediglich die Steuersatzfestlegung soll(te) individuell den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben. Der ursprüngliche Plan war, im September 2008 einen Richtlinien-Entwurf vorzulegen. Dann aber hatten sich dem Vernehmen nach wichtige Mitgliedstaaten (auch Deutschland) eher grundsätzlich gegen die Weiterverfolgung des

__________ 45 Vgl. z. B. Herzig, DStR 2010, Beihefter zu Heft 30, 62.

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Projekts ausgesprochen.46 Nun soll aber offensichtlich jedenfalls der Richtlinienentwurf bald vorgelegt werden. CCCTB bedeutet, dass im ersten Schritt die Gewinne der Konzerngesellschaften separat nach einheitlichen Vorschriften ermittelt werden;47 im zweiten Schritt erfolgt deren Konsolidierung; im dritten Schritt wird das konsolidierte Konzernergebnis über eine formelhafte Zerlegung auf die Mitgliedstaaten verteilt und unterliegt dort abschließend den nationalen Steuersätzen. Damit wird konzeptionell eine EU-weite Anwendung der Gewinnaufteilung nach Maßgabe der indirekten Methode (gekoppelt mit dem Quellenstaatsprinzip und der Freistellungsmethode) vertreten. Zusammenfassend können die Elemente der (optional zugänglichen) CCCTB und der entsprechende Stand der Diskussion wie folgt skizziert werden:48 – Die für die Etablierung einer einheitlichen steuerlichen Gewinnermittlung in den Mitgliedstaaten bisher zum Ausdruck kommenden Vorstellungen der EU-Kommission orientieren sich in einigen Bereichen an den IFRS und füllen Lücken mit originären steuerlichen Gewinnermittlungsvorschriften aus, die ausnahmslos das Realisations- und Nettoprinzip respektieren.49 Allerdings soll sich die Harmonisierung auf die Tax Base erstrecken und damit auch alle außerbilanziellen Korrekturen einbeziehen. Insoweit bestehen erst vergleichsweise wenige Vorschläge (z. B. wird eine Dividendenfreistellung vorgeschlagen). – Die im zweiten Schritt erfolgende Konsolidierung50 beschränkt sich auf eine Eliminierung der Zwischengewinne, dagegen ist eine Kapital- und Schuldenkonsolidierung nicht beabsichtigt.51 Die Konsolidierung ist, was die an-

__________ 46 Die Einwendungen reichten von einer grundsätzlichen Ablehnung wegen des Subsidiaritätsprinzips bis zu Vorbehalten in einer ganzen Reihe von Punkten. So wurde beispielsweise die Optionalität der CCCTB abgelehnt. Auch wurde als Voraussetzung für die Einführung der CCCTB die Einführung von Mindeststeuersätzen und der Abschluss einheitlicher Außen-DBA gefordert u. Ä. m. Hinzu treten nationale Probleme, wie beispielsweise aus deutscher Sicht die Zukunft der Gewerbesteuer. 47 Allerdings ist schon die Harmonisierungsfrage umstritten. Die Frage nach dem wünschenswerten Umfang der Harmonisierung des Unternehmenssteuerrechts in Europa korrespondiert mit der Frage, wieviel Steuerwettbewerb zwischen den EU-Mitgliedstaaten als wünschenswert angesehen wird. S. dazu näher Rödder in FS Herzig, München 2010, 349 ff. 48 Im Einzelnen s. z. B. die Darstellungen von Herzig, FS Küting, 2009, 641; Herzig, FS Schaumburg, 2009, 758; Kussmaul/Niehren/Pfeifer, Ubg 2010, 266; Lang/Pistone/ Schuch/Staringer, Common Consolidated Corporate Tax Base (CCCTB), 2008; Mors/Rautenstrauch, Ubg 2008, 97; Riess, IWB 2010, 210; Schön, ZHR 2007, 409; Spengel/Oestreicher, DStR 2009, 773. 49 Zur Diskussion der Intensität der Anlehnung an IFRS s. z. B. Herzig, WPg 2005, 214; Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005. 50 Grundsätzlich ist eine mindestens 75 % Beteiligungsquote vorausgesetzt (die Konsolidierung erfolgt dann zu 100 %), und es soll das all-in-all-out-Prinzip greifen. 51 Damit bleiben auch die Anteile an konsolidierten Gesellschaften als steuerliche Größen erhalten mit der Folge, dass ein Asset- und ein Share-Deal im Konzern weiterhin unterschiedliche steuerliche Konsequenzen entfalten. So zutreffend Herzig, FS Schaumburg, 2009, 760.

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gestrebten Vorteile der CCCTB angeht, der wesentliche Punkt. Sie bewirkt, dass es innerhalb des Konzerns zu einem umfassenden Verlustausgleich kommt,52 Beteiligungsaufwendungen die gemeinsame Steuerbasis mindern, alle Mitgliedstaaten, in denen Konzerngesellschaften ansässig sind, an den Aufwendungen und Verlusten anteilig teilhaben sowie konzerninterne Finanzierungsvorgänge und Verrechnungspreise keinen Einfluss auf das Nettoergebnis haben. Innerhalb der EU könnte auch auf Regelungen zur Hinzurechnungsbesteuerung verzichtet werden. Darüber hinaus gehen stille Reserven erst zu dem Zeitpunkt in die gemeinsame Bemessungsgrundlage ein, in dem sie nach den allgemeinen Grundsätzen aus Konzernsicht als realisiert gelten.53 Im Verhältnis zu nichteinbezogenen Gesellschaften und insbesondere zu Drittstaaten bleibt es dagegen bei der herkömmlichen Gewinnabgrenzung und den damit verbundenen, bisher auch in der EU gegebenen steuerlichen Problemstellungen.54 – Zur Verteilung der einheitlichen Bemessungsgrundlage auf die unverändert in den Mitgliedstaaten steuerpflichtigen Gesellschaften soll ein Formel-Aufteilungs-Mechanismus herangezogen werden, der sich in Grenzen an internationalen Vorbildern orientieren kann und auf die drei unternehmensbezogenen Faktoren Löhne und Zahl der Arbeitskräfte, eingesetztes Vermögen sowie Umsätze abstellt. Grundsätzlich soll damit „pauschaliert“ jenem Staat das Besteuerungsrecht für Unternehmensgewinne zugeordnet werden, in dessen Grenzen sich die Wertschöpfung durch Kombination der Produktionsfaktoren vollzieht. Nach Auffassung des Verfassers ist der Ansatz der CCCTB und die damit verbundene Perspektive der Bemessungsgrundlagenvereinheitlichung nebst Konsolidierung richtig. Er trägt der wirtschaftlichen Realität grenzüberschreitend tätiger Unternehmen im EU-Binnenmarkt Rechnung. In der theoretischen, auf die EU begrenzten Idealvorstellung würde innerhalb der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Einheit Konzern ein grenzüberschreitender Verlustausgleich möglich, und es würden Doppelbesteuerungen und Probleme mit Verrechnungspreisen und grenzüberschreitenden Reorganisationen vermieden. Außerdem würden sich die steuerlichen „compliance costs“ aus dem Umgang

__________ 52 Zudem werden aufgrund einer konzernweit einheitlichen Verlustfeststellung mehrfache Verlustnutzungen unterbunden. 53 Werden sie nach dem gleichen Verhältnis aufgeteilt wie laufende Gewinne, partizipieren alle Mitgliedstaaten an den realisierten Wertänderungen. Dies ist konsequent, wenn die stillen Reserven zu Lasten der gemeinsamen Bemessungsgrundlage gebildet wurden. Probleme stellen sich, wenn infolge von Reorganisationen oder bei Eintritt und Austritt von Gesellschaften stille Reserven außerhalb der konsolidierten Gruppe entstanden sind, weil dann stille Reserven aus dem Hoheitsbereich einzelner Mitgliedstaaten in den aller beteiligten Mitgliedsstaaten überführt werden. Das gilt auch für den Fall der erstmaligen Etablierung einer CCCTB-Besteuerung. Weitere Schwierigkeiten stellen sich bei Minderheitsgesellschaftern. So zutreffend Spengel/ Oestreicher, DStR 2009, 779 f. Problematisch können auch Verluste aus der VorCCCTB-Zeit sein u. Ä. m. S. auch Herzig, FS Küting, 2009, 641. 54 Generell werfen die Drittstaatenbeziehungen schwierige Probleme auf. Dass unterschiedliche Außen-DBA der Mitgliedstaaten existieren, verschärft die Problematik.

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mit 27 unterschiedlichen Steuersystemen reduzieren. Und auch aus Fiskalsicht gegebene Probleme von grenzüberschreitenden Finanzierungen, Outbound-Beteiligungsaufwendungen, Ergebnisverlagerungen in niedrig besteuerten Kapitalgesellschaften, Verrechnungspreisen und doppelten Nichtbesteuerungen würden in der theoretischen, auf die EU begrenzten Idealvorstellung entfallen. Die Möglichkeit der Beeinflussung der Aufteilung des Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen auf die betroffenen Fisci wäre auf Maßnahmen im Hinblick auf die Aufteilungsfaktoren begrenzt. Zwar will der Verfasser auch die insoweit gegebenen Möglichkeiten nicht klein reden55. Und das Ganze ist auch deshalb nur eine theoretische Idealvorstellung, weil schon in der Schnittstelle zu Drittstaaten alle bisherigen Probleme fortbestehen und auch im Übrigen noch an einer Vielzahl von Detailproblemen lösungsorientierte Grundlagenarbeit zu leisten ist. Eine wirkliche Alternative zu diesem Lösungsansatz ist aber jedenfalls am Ende nicht erkennbar. Deshalb ist die derzeitige Einschätzung, wonach das Projekt als deutlich gefährdet betrachtet werden muss, beklagenswert. Das Projekt verdient einen politischen Neuanfang.56

V. Resümee Wie Joachim Lang zutreffend herausgearbeitet hat, stehen das Leistungsfähigkeitsprinzip und die daraus abgeleiteten Subprinzipien im Zeitalter der Globalisierung vor einer besonderen Herausforderung. Er schreibt: „Die Aufteilung von Steuersubstrat auf mehrere Staaten im internationalen Steuerrecht aktiviert das Nutzenprinzip zu Lasten des Leistungsfähigkeitsprinzips. Grenzüberschreitende Steuergerechtigkeit kann nicht allein mit steuerlicher Leistungsfähigkeit erklärt werden. Das Nutzenprinzip drängt sich in eine augenscheinliche Alleinherrschaft des Leistungsfähigkeitsprinzips. Dadurch wird aber das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht verletzt oder gebrochen; es wird vielmehr mit dem Nutzenprinzip (sach)gerecht kombiniert.“ Überdies fordert Joachim Lang unverändert auch im Zeitalter der Globalisierung Prinzipientreue und damit insbesondere auch die uneingeschränkte Beachtung des aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip abgeleiteten Nettoprinzips ein. Damit hat Joachim Lang den Finger in die Wunde gelegt. Denn es ist – so jedenfalls der Eindruck des Verfassers als steuerrechtsberatendem Praktiker – steuerrechtsdogmatisch bislang nur unzureichend aufgearbeitet, wie grundlegende steuerrechtliche Prinzipien wie das Leistungsfähigkeitsprinzip und

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55 Bei einer formelhaften Gewinnaufteilung lässt sich durch die Verlagerung betrieblicher Funktionen – etwa lohnintensiver Aktivitäten, sofern die Aufteilung an die Lohnsumme anknüpft – ein Teil der Bemessungsgrundlage in andere Länder verlagern. Begünstigt werden solche Maßnahmen auch noch dadurch, dass Funktionsverlagerungen etc. innerhalb einer konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage keine Besteuerung stiller Reserven auslösen. 56 S. auch den Vorschlag von Herzig, FS Schaumburg, 2009, 762, für eine Weiterverfolgung des Projekts in Einzelschritten. S. auch Rödder in FS Herzig, München 2010, 349 ff.

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das Nutzenprinzip für multinationale Unternehmen im Zeitalter der Globalisierung in einem nationalen Steuerrecht gleichheitsfördernd verstanden und konkretisiert werden sollen – und möglicherweise wird das nationale Steuerrecht diese Frage auch niemals befriedigend beantworten können. Das Steuerrecht darf vor dieser Aufgabe aber nicht kapitulieren, weil sonst aus Gründen des „Gemeinwohls“ die Handlungsfreiheit des Einzelnen schlicht auf dem Altar fiskalpolitischer Interessen geopfert werden könnte. Um die erforderliche steuerrechtsdogmatische Kärrnerarbeit und die entsprechend Diskussion zu befördern, wurden in diesem Beitrag der Status Quo der Aufteilung des ertragsteuerlichen Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen auf die betroffenen Fisci, die wesentliche Kritik daran, alternative Denkansätze und der Vorschlag der CCCTB in der EU dargestellt. Die gegenwärtige Situation ist bemerkenswert heterogen und widersprüchlich: – Die geltende Gewinnaufteilung bei grenzüberschreitenden Betriebsstättenstrukturen ist weniger stark beeinflussbar als diejenige bei grenzüberschreitenden Konzernstrukturen. Dies liegt daran, dass die Selbständigkeitsfiktion der Betriebsstätte zwar grundsätzlich bei der Zuordnung von Funktionen zu berücksichtigen ist, der grundsätzlich auch die Zuordnung der Wirtschaftsgüter folgt. Risiken sind dagegen nur in engen Grenzen zuordenbar, und auch Gewinne aus „Innentransaktionen“ dürfen grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Außerdem wird im Einzelfall akzeptiert, dass die einer Betriebsstätte zuzurechnenden Gewinne durch Aufteilung der Gesamtgewinne eines Unternehmens auf seine einzelnen Teile im Wege der indirekten Methode ermittelt werden können. Demgegenüber können Kapitalgesellschaften im Konzern nicht nur bestimmte Funktionen zugeordnet werden können, sondern im Unterschied zur Betriebsstätte auch Risiken, und es ist im Unterschied zum Geschäftsverkehr zwischen Stammhaus und Betriebsstätte der Leistungsaustausch zwischen den Einheiten eines internationalen Konzerns auf schuldrechtlicher Basis möglich und steuerlich grundsätzlich auch anzuerkennen. Eine Gewinnaufteilung nach der indirekten Methode, also die Aufteilung des Gewinns der wirtschaftlichen Einheit nach einem standardisierten Schlüssel auf die Konzernkapitalgesellschaften, wird dagegen international ausdrücklich abgelehnt. – Dennoch scheint international die Kritik daran, dass Unterschiede zwischen der Besteuerung grenzüberschreitender Betriebsstätten- und grenzüberschreitender Konzernstrukturen gegeben sind, dazu zu führen, dass die Besteuerung der Betriebsstätten der von Kapitalgesellschaften angenähert werden soll und nicht umgekehrt. Nach dem OECD-Betriebsstättenbericht 2008 v. 17.7.2008 sollen nämlich künftig unternehmensinterne Leistungsbeziehungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätte grundsätzlich direkt auf Basis des Fremdvergleichspreises abgerechnet werden, um der Betriebsstätte die Gewinne zuzuordnen, die sie als fiktiv verselbständigtes und unabhängiges Unternehmen unter sonst vergleichbaren Bedingungen erwirtschaftet hätte. Auch die Zuordnung von Risiken zu Betriebsstätten soll damit möglich sein. Lediglich bei der Überlassung von Fremdkapital wird nach dem neuen Ansatz der OECD aus Gründen der administrativen Erleichterung 1164

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von einer marktüblichen Zinsverrechnung abgesehen. Hier ist stattdessen vorgesehen, der Betriebsstätte vom Gesamtzinsaufwand des Einheitsunternehmens einen anteiligen Betrag zuzuweisen. Diese Entwicklung ist nicht nur deswegen überraschend, weil sie im Bereich der Betriebsstätten mehr statt weniger Einflussmöglichkeiten der Stpfl. auf die Verteilung des Besteuerungssubstrats auf die betroffenen Fisci ermöglicht. Sie ist es auch, weil man sich mit ihr zusätzlich gravierende technische Probleme „einkauft“. Insbesondere müssen vielfältige Funktionen und Risiken identifiziert und bewertet und bei der Bestimmung der „Verrechnungspreise“ für die ggf. fiktiven Transaktionen berücksichtigt werden. Schon bei Kapitalgesellschaften ist das kaum noch praktizierbar, im Betriebsstättenfall dürfte das eher noch schwieriger sein. Aber auch rein steuerrechtlich ist der Ansatz der OECD nicht ohne weiteres umsetzbar. Dies wirft die Frage auf, ob nicht umgekehrt eine stärkere Betonung der wirtschaftlichen Einheit nicht nur bei der Gewinnaufteilung von Betriebsstätten, sondern auch bei grenzüberschreitenden Konzernstrukturen erfolgen sollte. – Dies ist auch deshalb nicht fernliegend, weil mit der steuerlichen Anerkennung der Zuordnung von Funktionen und Risiken und von Leistungsbeziehungen zwischen Konzerngesellschaften sowie mit der Anwendung des Wertmaßstabs des Fremdvergleichspreises auf konzerninterne Lieferungen und Leistungen in einer komplexer werdenden Weltwirtschaft zunehmende Schwierigkeiten verbunden sind, was dazu führt, dass auch dieser Ansatz zur Aufteilung des Besteuerungssubstrats multinationaler Unternehmen auf die beteiligten Fisci vermehrt in Frage gestellt wird. Schon die praktische Umsetzung der arm’s length-Vorgabe stößt immer stärker an ihre Grenzen. Je mehr betriebliche Funktionen in komplexen Prozessen Länder übergreifend ausgeführt und je stärker die konzerninternen Lieferungen und Leistungen von immateriellen Werten dominiert werden, desto mehr fehlt es an den Anwendungsvoraussetzungen einer Bestimmung transaktionsorientierter Verrechnungspreise. Zu den konzeptionellen Schwächen des Fremdvergleichsgrundsatzes trägt bei, dass die durch Integration bewirkten Skalenvorteile und Synergieeffekte bei der Verteilung des Gesamtgewinns nach Fremdvergleichgesichtspunkten nicht berücksichtigt werden. Überdies wird die Sachgerechtigkeit des Fremdvergleichsgrundsatzes in Frage gestellt, wenn die danach maßgebenden Funktionen und Risiken durch vertragliche Bestimmungen nahezu frei zwischen den verschiedenen Steuersubjekten im Konzern verteilt werden können. Die Freiheit in der Zuordnung von Eigenund Fremdfinanzierung trägt dazu ebenfalls wesentlich bei. – Die Erfolgsabgrenzung nach der indirekten Methode vermeidet zwar grundsätzlich die beschriebenen Probleme des Fremdvergleichsgrundsatzes. Ihre Zielsetzung ist die Aufteilung des Konzerngewinns nach Maßgabe sachgerechter Aufteilungsfaktoren. Allerdings verlagert sich die Problematik dann auf die Wahl der richtigen Aufteilungsfaktoren, über deren Beeinflussung auch die Erfolgsabgrenzung nach der indirekten Methode beeinflusst werden kann (z. B. durch eine Verlagerung von Produktionsfaktoren, Umsatzerlösen u. Ä. m.). Und: Die indirekte Methode kann nur dann so umgesetzt 1165

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werden, dass sie einerseits vor einer Doppelbesteuerung schützt und andererseits eine einmalige Besteuerung sicherstellt, wenn eine umfassende internationale Übereinstimmung über die Anwendung der Methode, die globale Besteuerungsgrundlage des Konzerns sowie die Auswahl, Bewertung und Gewichtung der Faktoren, die bei der Aufteilung der Besteuerungsgrundlage zu berücksichtigen sind, herbeigeführt werden könnte. In Einklang müssten auch die Buchführungsvorschriften aller Staaten gebracht werden. Damit stehen auch dem Prinzip der Gewinnaufteilung nach einer Formel erhebliche Bedenken gegenüber. Die Aufteilung ist grundsätzlich nur dann als Methode geeignet, wenn die involvierten Staaten bereits weitgehend integriert sind. – Umso interessanter ist es, dass in der EU Bestrebungen zur Einführung einer EU-weiten konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage (CCCTB – Common Consolidated Corporate Tax Base), nachdem sie zwischenzeitlich als nahezu „tot“ angesehen wurden, nun wieder jedenfalls insoweit eine gewisse Bedeutung erhalten haben, als die Vorlage eines entsprechenden Richtlinienvorschlages in 2011 als möglich erachtet wird. Das Projekt zielt auf nicht mehr und nicht weniger als auf die Schaffung eines besonderen EU-Konzernsteuerrechts, das für bestimmte Unternehmen (wahlweise) die jeweilige nationale Unternehmensbesteuerung ersetzen soll; lediglich die Steuersatzfestlegung soll individuell den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben. Damit wird konzeptionell eine EU-weite Anwendung der Gewinnaufteilung nach Maßgabe der indirekten Methode (gekoppelt mit dem Quellenstaatsprinzip und der Freistellungsmethode) vertreten. Die wesentlichen Vorteile einer konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage bestehen in der Möglichkeit eines grenzüberschreitenden Verlustausgleichs sowie in der Beseitigung der steuerlichen Probleme von grenzüberschreitenden Finanzierungen, Outbound-Beteiligungsaufwendungen, Ergebnisverlagerungen in niedrig besteuerten Kapitalgesellschaften, Verrechnungspreisen und grenzüberschreitenden Reorganisationen. Doppelbesteuerungen und doppelte Nichtbesteuerungen werden vermieden. Außerdem sollen sich die steuerlichen „compliance costs“ aus dem Umgang mit 27 unterschiedlichen Steuersystemen reduzieren. Die CCCTB könnte damit – so die Idee – die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts wesentlich verbessern und EU-rechtliche Konflikte abbauen. Eine wirkliche Alternative zu diesem Lösungsansatz ist – bei allen Problemen im Detail – nicht erkennbar. Deshalb ist die derzeitige Einschätzung, wonach das Projekt als deutlich gefährdet betrachtet werden muss, beklagenswert. Das Projekt verdient einen politischen Neuanfang.

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Doppelbesteuerungsabkommen im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtscharakter von Doppelbesteuerungsabkommen 1. Völkerrechtliche Verträge 2. Zustandekommen nach dem Grundgesetz 3. Verhältnis zum Verfassungsrecht und zum nationalen Recht III. Doppelbesteuerungsabkommen im System des nationalen Rechts 1. Doppelbesteuerung und Besteuerungshoheit

2. Treaty override 3. Doppelbesteuerungsabkommen und internationales Privatrecht IV. Doppelbesteuerungsabkommen und europäisches Recht 1. Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beseitigung der Doppelbesteuerung 2. Einwirkungen der Grundfreiheiten auf Doppelbesteuerungsabkommen 3. Einwirkungen des sekundären Gemeinschaftsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen

I. Einführung Von internationaler Doppelbesteuerung sprechen wir, wenn zwei Staaten die gleiche Steuer gegenüber demselben Steuersubjekt auf denselben Steuergegenstand und in demselben Zeitraum erheben.1 Diese Situation tritt regelmäßig ein, wenn sich Wohnsitz und Einkunftsquelle eines Steuerpflichtigen in verschiedenen Staaten befinden.2 In diesen Fällen beanspruchen sowohl der Wohnsitzstaat als auch der Quellenstaat Steuern bei Identität von demselben Steuerpflichtigen.3 Da die Doppelbesteuerung nicht nur zu einer erheblichen Überbelastung des Steuerpflichtigen führt, sondern auch den internationalen Wirtschaftsverkehr schädigt, muss sie – nachdem sie durch den Anspruch, sowohl das Welteinkommen als auch das Quelleneinkommen zu besteuern, herbeigeführt wurde – in einem zweiten Schritt vermieden bzw. zumindest begrenzt werden. Hierzu gibt es neben einseitigen (unilateralen) Maßnahmen, die regelmäßig der Wohnsitzstaat aufgrund seiner Rechtsordnung ergreifen kann, Doppelbesteuerungsabkommen (DBA), die zwischen den Staaten abgeschlossen werden. Die Ziele der DBA sind vielfältig, es geht nicht nur um Reduzierung/Vermeidung steuerlicher Überbeanspruchung des grenzüberschreitend tätigen Steuerpflichtigen, sondern auch um Stärkung der wirtschaftlichen Stel-

__________ 1 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 2. 2 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 5. 3 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 2 Rz. 41.

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lung der Staaten im globalen Wettbewerb und um Wahrung und Abgrenzung ihrer Fiskalinteressen untereinander.4

II. Rechtscharakter von Doppelbesteuerungsabkommen Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) sind völkerrechtliche Verträge, die regelmäßig zwischen zwei Staaten (bilateral) geschlossen werden, um die sich nach nationalem Recht überschneidenden Steueransprüche zwischen den Staaten aufzuteilen.5 1. Völkerrechtliche Verträge Völkerrechtliche Verträge sind verbindliche Absprachen zwischen Staaten.6 Ihr Zustandekommen und ihre Wirkungen bestimmen sich nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜRV)7, in dem allgemein anerkannte völkervertragsrechtliche Grundsätze kodifiziert sind.8 Als völkerrechtlicher Vertrag bindet ein DBA grundsätzlich nur die Vertragspartner, schafft also Rechte und Pflichten zwischen den beteiligten Staaten. Diese sind nach dem DBA verpflichtet, den in den DBA ausgehandelten Verzicht auf die Wahrnehmung der Besteuerungshoheit gegenüber den Steuerpflichtigen auch zur Geltung zu bringen.9 Die Frage, ob und inwieweit diese Pflicht missachtet werden kann (sog. treaty override), ist in Deutschland ein vieldiskutiertes Thema, auf das ich noch eingehen werde.10 2. Zustandekommen nach dem Grundgesetz Die Zuständigkeit für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge ist im Grundgesetz in Art. 59 geregelt. Die Verhandlungen, die federführend vom Finanzministerium durchgeführt werden, enden mit der sog. Paraphierung, also mit der Unterzeichnung des Abkommenstextes durch die Verhandlungsleiter.11 Dadurch wird der Inhalt festgelegt. Der verbindliche Vertragsabschluss fällt jedoch in die Kompetenz des Bundespräsidenten (Art. 59 Abs. 1 GG). Erst mit dessen Unterzeichnung (Ratifizierung) wird der Vertrag wirksam. Da nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG Doppelbesteuerungsabkommen allerdings regelmäßig der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat bedürfen (s. Art. 105 Abs. 3 GG), nimmt der Bundespräsident die Ratifizierung erst vor, wenn das Zu-

__________ 4 5 6 7 8 9 10 11

Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik, 2008, S. 3 ff. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 16.7. Bernhardt in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 174 Rz. 2. BGBl. II 1985, 926 ff. Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 45. Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 200. Siehe unten III. 2. Nettesheim in Maunz/Dürig, GG, Art. 59 Rz. 74; Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 49; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 16.23; regelmäßig werden nur die Initialen der Verhandlungsleiter unter die Vertragsurkunde gesetzt, vgl. Streinz in Sachs, GG, 5. Aufl. 2008, Art. 59 Rz. 15.

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stimmungsverfahren abgeschlossen ist.12 Völkerrechtlich kommt das DBA durch die Unterzeichnung und den Austausch der Ratifikationsurkunden zwischen den beteiligten Ländern zustande.13 3. Verhältnis zum Verfassungsrecht und zum nationalen Recht Von der völkerrechtlichen Verbindlichkeit ist die innerstaatliche Anwendbarkeit der DBA zu unterscheiden. Sie wird erst durch das Zustimmungsgesetz ausgelöst, welches das DBA in innerstaatliches Recht transformiert (teilweise auch Anwendungsbefehl genannt14). Durch die Transformation erhält das DBA denselben Rang wie Parlamentsgesetze des Bundes. Im Gegensatz zum Europarecht ergibt sich aus dem Völkerrecht kein Vorranganspruch von Völkervertragsrecht.15 Zwar besagt § 2 AO, dass DBA, „soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind“, den Steuergesetzen vorgingen. Da § 2 AO aber keinen Verfassungsrang hat, kann diese Vorschrift das DBA auch nicht in den Rang des Verfassungsrechts „heben“. § 2 AO wird vielmehr nur als Auslegungsregel verstanden, die auf der Ebene des einfachen Rechts dem DBA als spezielleres Gesetz regelmäßig den Vorrang vor anderen Parlamentsgesetzen einräumen will.16 Nach Art. 25 Satz 2 GG gehen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts den Gesetzen vor, ihnen kommt damit Verfassungsrang zu. DBA zählen nicht zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts.17 Gelegentlich ist versucht worden, über den Grundsatz „pacta sunt servanda“ als allgemeine Regel des Völkerrechts eine höherrangige Bindung an das DBA zu konstruieren.18 Durchgesetzt hat sich diese Auffassung nicht. Die Bestimmungen des DBA werden nämlich durch die allgemeine völkerrechtliche Regel „pacta sunt servanda“ nicht selbst zu allgemeinen Regeln des Völkerrechts und genießen deshalb nicht den Vorrang, den Art. 25 Satz 2 GG einräumt.19 Umgekehrt muss beim Abschluss von DBA nicht nur das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Verfahren, sondern es müssen auch die sonstigen Verfassungsinhalte, insbesondere die Grundrechte, beachtet werden. Das bedeutet, dass in den DBA keine Regelungen getroffen werden dürfen, die bei rein innerstaatlicher Tätigkeit verfassungsrechtlich nicht zulässig wären.20 Auch beim Ab-

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12 Nettesheim in Maunz/Dürig, GG, Art. 59 Rz. 75; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl., 2009, Art. 59 Rz. 15. 13 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 57; Nettesheim in Maunz/ Dürig, GG, Art. 59 Rz. 76. 14 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 61. 15 BFH v. 2.8.2006 – XI R 30/03, BStBl. II 2006, 895 = FR 2007, 53 m. Anm. Wendt; Nettesheim in Maunz/Dürig, GG, Art. 59 Rz. 183. 16 Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 2 Rz. 174; Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 203. 17 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 48. 18 Eckert, RIW 1992, 386. 19 Steinberger in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 173 Rz. 53; BFH v. 13.7.1994 – I R 120/93, BStBl. II 1995, 129 = FR 1994, 829. 20 Bernhardt in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 174 Rz. 21.

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schluss eines DBA sind somit die Grundrechte zu beachten, die für das Steuerrecht relevant sind. Große Bedeutung wird dies allerdings nicht erlangen, da Doppelbesteuerungsabkommen lediglich Besteuerungshoheitsrechte verteilen, nicht aber materielle Regelungen treffen. Keinesfalls wird man diese Aussage so verstehen dürfen, dass der Verzicht Deutschlands auf das Besteuerungsrecht hinsichtlich ausländischer Einkünfte eine Verantwortung der Bundesrepublik dafür begründet, dass die ausländischen Einkünfte im Vertragsstaat im Einklang mit dem deutschen Verfassungsrecht (Gleichheitssatz, Leistungsfähigkeitsprinzip) besteuert werden. Selbst wenn der Vertragsstaat diese Einkünfte mit einem Steuersatz von 90 % belastete – was in Deutschland gegen die Eigentumsgarantie verstoßen würde21 –, führte das nicht zu einem Verstoß des DBA gegen Art. 14 GG.

III. Doppelbesteuerungsabkommen im System des nationalen Rechts 1. Doppelbesteuerung und Besteuerungshoheit Doppelbesteuerung entsteht durch die Kombination von Wohnsitzprinzip und Quellenprinzip, die sich wiederum aus dem Territorialitätsprinzip ableiten. Das Territorialitätsprinzip ist Ausfluss der Souveränität eines Staates und besagt, dass der Staat bei der Besteuerung an territoriale Sachverhalte anknüpfen darf.22 Danach werden zunächst im Inland ansässige Personen mit ihrem gesamten Einkommen oder Vermögen steuerlich erfasst. Darüber hinaus werden ausländische Steuerpflichtige, die im Inland weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt haben, mit ihren inländischen Einkünften der Besteuerung unterworfen und beteiligen sich so ebenfalls an der Finanzierung der vom Quellenstaat zur Verfügung gestellten Infrastruktur.23 Das Steuerrecht knüpft also sowohl an die inländische Ansässigkeit als auch – bei Nichtansässigen – an die inländische Quelle an. Selten wird zusätzlich an die Staatsangehörigkeit angeknüpft (so in den USA24). Aus dem Territorialitätsprinzip ergibt sich, dass Steuerausländer nur mit Einkünften besteuert werden dürfen, die einen hinreichenden Inlandsbezug aufweisen.25 Das Territorialitätsprinzip begründet und begrenzt zugleich die Besteuerungshoheit auf das Gebiet eines Staates. Aus dem Völkerrecht entnimmt man, dass die Besteuerung ausländischer Wirtschaftsvorgänge nur dann zulässig sein soll, wenn die besteuerte Person zu dem besteuernden Staat eine hinreichend enge Beziehung hat (genuine link).26 Andererseits gibt es keinen völkerrechtlichen Rechtssatz, der es verbieten würde, Rechtsfolgen des innerstaat-

__________ 21 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 = FR 2006, 635 m. Anm. Kanzler. 22 Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, 6. Aufl. 2007, S. 6 f., 207 f. 23 Hey, Das Territorialitätsprinzip als theoretische Grundlage der beschränkten Steuerpflicht, IWB Fach 3, Gruppe 1, 2003 (2004). 24 Dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 5.8. 25 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 28. 26 Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 28.

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lichen Rechts auch an ausländische Sachverhalte anzuknüpfen.27 Da aber die staatlichen Durchsetzungsmöglichkeiten an den Staatsgrenzen enden, ergeben sich aus der begrenzten Reichweite der staatlichen Verwaltungshoheit zugleich Grenzen der materiellen Besteuerungshoheit. Der Staat kann bei Steuerausländern seinen Steueranspruch nur hinsichtlich der inländischen Quelle ermitteln und durchsetzen. Deshalb ist es unabhängig von der völkerrechtlichen Zulässigkeit wenig sinnvoll, den materiellen Steueranspruch auf Sachverhalte zu erstrecken, die außerhalb der Verwaltungshoheit des besteuernden Staates liegen.28 Da in Doppelbesteuerungsabkommen zwei Staaten ihre Besteuerungsansprüche bei grenzüberschreitenden Sachverhalten regeln und darin einen Teil ihrer Besteuerungshoheit zurücknehmen, muss bei der Auslegung des Abkommens nach einem „gemeinsamen Verständnis“ gesucht werden.29 Art. 31 Abs. 1 WÜRV verpflichtet zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge „im Lichte ihres Zieles und Zweckes“. Daraus wird abgeleitet, dass die Auslegung anzustreben ist, die am ehesten in beiden Vertragsstaaten akzeptiert wird (Gebot der Entscheidungsharmonie)30. Es darf nicht einseitig das Verständnis eines Staates zugrunde gelegt werden. Das FG Köln hatte kürzlich einen Fall zu entscheiden, in dem es um die Auslegung einer Vorschrift des DBA Deutschland-Schweiz ging.31 Der in der Schweiz ansässige Kläger war an einer deutschen Personengesellschaft beteiligt, die vermögensverwaltend tätig war, und es ging um die Frage, ob die Anteile an der vermögensverwaltenden KG in Deutschland vermögensteuerpflichtig waren. Nach dem DBA hatte Deutschland kein Besteuerungsrecht, wenn die Anteile zum Privatvermögen gehören, während Deutschland besteuern kann, wenn sie Betriebsvermögen sind. Nun gibt es im deutschen Einkommensteuerrecht eine Besonderheit, wonach vermögensverwaltende Personengesellschaften dann Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielen, wenn an der Personengesellschaft eine Kapitalgesellschaft als Komplementär beteiligt ist und die Geschäftsführungsbefugnis hat. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall gegeben, die vermögensverwaltend tätige Personengesellschaft war nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG „gewerblich geprägt“. Das deutsche Recht fingiert also unter diesen Voraussetzungen unternehmerische Einkünfte. Würde die gewerbliche Prägung auch auf die abkommensrechtliche Qualifikation als Betriebsvermögen durchschlagen, so würde aufgrund einer im deutschen Recht geregelten Fiktion abkommensrechtlich die Besteuerungsbefugnis Deutschland zufallen. Das FG Köln32 hat zutreffend entschieden, dass die Fiktion gewerblicher Einkünfte im deutschen Einkommen-

__________ 27 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 11. 28 Hey, Das Territorialitätsprinzip als theoretische Grundlage der beschränkten Steuerpflicht, IWB Fach 3, Gruppe 1, 2003 (2004 f.). 29 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2009, Rz. 575. 30 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 114. 31 FG Köln v. 13.8.2009 – 15 K 2900/05, EFG 2009, 1819. 32 FG Köln v. 13.8.2009 – 15 K 2900/05, EFG 2009, 1819.

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steuerrecht und ihre Folge für die Qualifikation von Gesellschaftsanteilen als Betriebsvermögen (§ 97 Abs. 1 Nr. 5 BewG) abkommensrechtlich unmaßgeblich ist und auf der Abkommensebene aus Privatvermögen kein Betriebsvermögen macht. Für die Annahme eines gewerblichen Unternehmens komme es entscheidend auf die tatsächliche Betätigung und nicht auf die einseitige Erweiterung eines Tatbestandsmerkmals im deutschen Steuerrecht an.33 Abkommensrechtliche Begriffe seien im abkommensrechtlichen Zusammenhang (s. Art. 31 Abs. 2 WÜRV) auszulegen. Die Finanzverwaltung hat Revision gegen dieses Urteil eingelegt.34 Es ist aber kaum zu erwarten, dass der BFH diese anerkannten Auslegungsgrundsätze von DBA verlässt.35 2. Treaty override Eine der umstrittensten Fragen in Deutschland ist die Zulässigkeit des sog. treaty override.36 Unter treaty override versteht man den Vorgang, dass ein nationales Gesetz einen grenzüberschreitenden Sachverhalt abweichend von dem auf diesen Sachverhalt anwendbaren DBA regelt.37 Das (spätere) nationale Gesetz „überrollt“ die Bestimmung im DBA. Ob dies zulässig ist, ist zunächst eine Frage des Rangverhältnisses von DBA und nationalem Recht. Nach deutschem Verständnis ist das DBA nicht (wie etwa das Verfassungsrecht oder das europäische Recht) gegenüber den nationalen Parlamentsgesetzen höherrangig.38 Die Regelung in § 2 AO ist insoweit irreführend, da die Vorschrift als einfaches Gesetzesrecht den DBA keinen höheren Rang verleihen kann.39 Vielmehr ist hinsichtlich der Konsequenzen dieser Normenkollision zu differenzieren: Sicher ist, dass der Gesetzgeber, der einseitig Gesetze erlässt, die gegen das Abkommen verstoßen, das Völkerrecht verletzt, denn er bricht damit einen gültigen völkerrechtlichen Vertrag.40 Als Bruch des Völkerrechts ist eine solche abkommenswidrige innerstaatliche Gesetzgebung auch rechtswidrig, und sie löst das Recht des anderen Staates aus, dagegen Sanktionen zu ergreifen.41 Umstritten sind die innerstaatlichen Wirkungen des völkerrechtlichen Vertragsbruchs. Die Verletzung des Völkerrechts führt – entgegen § 2 AO – nicht zwangsläufig zur Ungültigkeit eines gegen ein Abkommen verstoßenden Ge-

__________ 33 FG Köln v. 13.8.2009 – 15 K 2900/05, EFG 2009, 1819. 34 Az. BFH II R 51/09. 35 Dazu auch FG Schl.-Holst. v. 14.7.2009 – 5 K 210/07, EFG 2009, 1998 mit Anm. Korte; FG Düsseldorf v. 28.4.2009 – 17 K 1070/07 F, IStR 2009, 733. 36 Siehe dazu Frotscher, Zur Zulässigkeit des „treaty override“, in FS für Schaumburg, 2009, S. 687 ff.; Gosch, IStR 2008, 413; Forsthoff, IStR 2006, 509. 37 Frotscher, Zur Zulässigkeit des „treaty override“, in FS für Schaumburg, 2009, S. 687 (689). 38 Kempen in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 59, Rz. 92. 39 Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 2 Rz. 160; Pahlke in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 2 Rz. 18, 20. 40 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 194. 41 Vogel in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 199, 200.

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VII. Mangelnde Auseinandersetzung der englischen Gerichte mit dem Problem der Anknüpfung des Sitzes an das Gebiet, in dem die Wirtschaftsverhältnisse intensiver sind und damit einen „Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben“ rechtfertigen Den englischen Entscheidungen ist klar zu entnehmen, dass die Richter sich nicht mit dem Problem auseinandersetzen, dass der Sitz an Kriterien anknüpft, die für eine wirtschaftliche Verbindung mit dem Territorium sprechen.48 Große – wenn auch nicht ausschließliche – Bedeutung wird formalen Kriterien, wie der Eintragung, beigemessen, sowie auch hierarchischen Kriterien, wie dem Ort der Geschäftsführerversammlungen, von dem die leitenden und führenden Entscheidungen ausgehen. Es handelt sich dabei um Kriterien, die sich mit „irgendeiner“ Verbindung mit dem Territorium begnügen, auch wenn diese sehr „labil“ erscheint. Keinerlei Berücksichtigung findet der „Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben“49 eines Landes, der durch die enge wirtschaftlich-produktive Verbindung mit dem Land50 oder durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft51 gerechtfertigt wird.

__________ 48 Im englischen Schrifttum (S. Picciotto, International Business Taxation, a. a. O., S. 9) wurde aufmerksam festgestellt, dass „eine Ungewissheit dahingehend bestand, die Besteuerung auch auf die Fälle auszudehnen, in denen die Unternehmensgewinne in vollem Umfang außerhalb des Vereinigten Königsreichs erzielt wurden.“ 49 Anmerkung Bozza-Bodden: Mit diesem Ausdruck wird auf Art. 53 Abs. 1 der italienischen Verfassung Bezug genommen, s. hierzu Fn. 14. 50 Bereits M. Pugliese (a. a. O., S. 36 ff.) hatte diesen Gesichtspunkt untersucht. Dieser stellt fest (S. 41–42), „dass es bei der Zuordnung der Besteuerungsrechte an einen oder mehrere Staaten klar ist, dass dem Prinzip der wirtschaftlichen Zugehörigkeit mehr Gewicht zukommt, wenn man den Grund für die Besteuerung vor allem in den Vorteilen sieht, die der Steuerpflichtige aufgrund seiner Teilnahme am Wirtschaftsleben genießt.“ Siehe hierzu auch P. Boria, Il sistema tributario, Turin 2008, S. 196 ff. Dieser stellt zu Recht fest, dass „nur die stabile Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft, so wie sie in der Ansässigkeit zum Ausdruck kommt, ein zuverlässiges Indiz für die ethische, politische und soziale Verbindung mit dieser Gemeinschaft ist.“ Er stellt des weiteren fest, dass „der Ansässige in der Tat seine eigenen Vorteile aus der Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft insoweit zieht, als er individuelle staatliche Dienstleistungen und allgemeine Vorteile aus dem wirtschaftlichen und sozialen System genießt.“ S. a. R. Cordeiro Guerra, I limiti territoriali alla definizione dei presupposti imponibili sul piano del diritto interno (art. 53 Costituzione), in L. Carpentieri/R. Lupi/D. Stevanato, Il diritto tributario nei rapporti internazionali, Mailand 2003, S. 104 ff. 51 A. Fantozzi (Round Table: The Issues, Conclusions and Summing-Up, a. a. O., S. 931) stellt fest, dass „dies ein Prinzip ist, das den meisten Verfassungen und dem Bestand einer Gemeinschaft zugrunde liegt bzw. lag.“ Ezio Vanoni (Natura ed interpretazione delle leggi tributarie, in Opere giuridiche, Band I, Mailand 1961, S. 107), auf den sich auch G. Falsitta beruft (Storia veridica, in base ai „lavori preparatori“, della inclusione del principio di capacità contributiva nella Costituzione, in Riv. dir. trib., I, 2009, S. 97 ff., 125) stellt fest, dass „der Staat eine Tätigkeit zur Erreichung eigener Ziele entfaltet; hierbei handelt es sich um Ziele des Allgemeinwohls, deren Realisierung zu einem Gewinn für die Gemeinschaft führt. Zu Lasten aller derjenigen, die dieser Gemeinschaft angehören und die deshalb ein Interesse an der staatlichen Tätigkeit haben, entsteht eine juristische und vor allem moralische Pflicht, zum

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a) Kohärenz des angewandten Kriteriums mit der Mentalität jener Zeit, wonach die Steuerpflicht in einem Staat allein deshalb besteht, weil sich dort der Geist der Gesellschaft befindet und diese dort ihr Kapital bezieht Bislang ist die Ratio der Entscheidungen der englischen Richter untersucht worden – Entscheidungen, die darauf abzielen, den Ort zu bestimmen, an dem die Geschäftsentscheidungen getroffen werden und an dem die Überwachung durch die Geschäftsleitung erfolgt.52 Es handelt sich hierbei um Kriterien, die der seinerzeitigen Mentalität entsprachen: Das Vereinigte Königreich war das Zentrum der Finanzwelt; jede multinationale Gesellschaft war in London eingetragen, wo sie sich auf Bank-Finanzierungen verlassen konnte; die Geschäftsführer der Gesellschaft waren dort ansässig. Also befand sich das Zentrum der Entscheidungen in London. Unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten kann man der Annahme des Sitz einer derartigen Gesellschaft im Vereinigten Königreich zustimmen, nicht jedoch unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten; hierbei ist nämlich der Ort von Bedeutung, an dem der überwiegende Teil des Einkommens erzielt wird und an dem demzufolge ein Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben zu leisten ist.53 Hängt die Pflicht, Steuern zugunsten der Staatsgemeinschaft zu leisten, mehr mit der Abhaltung von Geschäftsführungsversammlungen oder mit der komplexen Ausübung der Wirtschaftstätigkeit zusammen?54

__________ Steueraufkommen zwecks Finanzierung der Staatsausgaben beizutragen.“ S. a. V. Uckmar, La tassazione degli stranieri in Italia, Padua 1955, S. 21 ff., sowie R. Baggio, Il principio di territorialità, a. a. O., S. 223 ff., 229. Siehe in diesem Zusammenhang im deutschen Schrifttum G. Schanz, Frage der Steuerpflicht, Finanzarchiv, Bd. 9, Nr. II, S. 365; im angelsächsischen Schrifttum vgl. P. A. Harris, Corporate/Shareholder Income Taxation, IBFD Publication, 1996, S. 1 ff. 52 Siehe hierzu sehr klar J. F. Avery Jones (a. a. O., S. 122), der feststellt, dass „seinerzeit das Vereinigte Königsreich aufgrund der dortigen industriellen Revolution ein guter Ort für die Bildung von Kapital war. Wenn jemand Kapital bilden wollte, waren Geschäftsführer mit guter Reputation unverzichtbar. So kam es, dass Gesellschaften sich im Vereinigten Königsreich eintragen ließen und ihre Tätigkeit im Ausland unter englischen Geschäftsführern ausübten.“ 53 Bezeichnend hierfür ist ein Abschnitt in dem Urteil Cesena Suphur, in dem ausgeführt wird, dass „kein Zweifel daran besteht, dass die Arbeit in Italien ausgeübt wurde … jedenfalls sei aber die Geschäftsführung von dem Ort aus erfolgt, von dem die Anweisungen ausgingen, von dem aus die Vertreter ernannt wurden, an dem deren Befugnisse abgestimmt und widerrufen wurden, von dem das Kapital ausging und zu dem es zurückgeführt wurde, und an dem die Gewinne erklärt und ausgeschüttet wurden“. 54 Die Wurzeln der Bevorzugung formaler Kriterien gegenüber sachlichen Kriterien behandelt M. Pugliese, a. a. O., S. 22 ff. Dieser untersucht die Vorbereitungen zur Erarbeitung der Doppelbesteuerungsabkommen und stellt fest, dass „diese Arbeiten – ungeachtet der wissenschaftlichen Fehlerhaftigkeit dieser Erwägungen – nicht unwesentlich davon geprägt waren, dass es ein Interesse gewisser Staaten gab, das Besteuerungsrecht am Sitz des Steuerpflichtigen anzuknüpfen, so dass der Staat, in dem der Kapitalist ansässig war, das Recht hatte, dessen Einkünfte zu besteuern, die aus einer im Ausland ausgeübten Wirtschaftstätigkeit stammten; dies ging zu Lasten der Staaten, in denen sich die Quelle der Einkommenserzielung befand.“

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b) Darf im Steuerrecht ein „künstlicher Sitz“ juristischer Personen bestehen? Im Lichte der zuvor untersuchten Urteile – die den Sitz vorwiegend auf der Grundlage formaler, statt wirtschaftlich-sachlicher Kriterien bestimmen, wie etwa auf der Grundlage des Ortes der Geschäftsentscheidungen – stellt sich die Frage, welche Art des Sitzes die englischen Entscheidungen bestimmen wollten. Die Antwort hierauf könnte in einigen Äußerungen des Richters Huddleston in der Entscheidung Cesena Sulphur Company zu finden sein.55 Dieser stellt zunächst fest, dass „der Sitz einer ‚artificial person‘, etwa eines Handelsunternehmens, an dem Ort zu vermuten ist, an dem die Tätigkeit ausgeübt wird bzw. an dem der Handel tatsächlich entsteht.“ Huddleston beruft sich sodann auf die Worte eines anderen Richters, Mr. Matthews, der erklärt hat, dass „wenn von dem Sitz einer Gesellschaft die Rede ist, kein künstlicher Sitz gemeint sein darf“. Aber unmittelbar danach ergänzt Huddleston (unter Abweichung von Mr. Matthews): „Der Ort der Ausübung der Tätigkeit ist ein Sitz künstlicher Natur, der einer künstlichen Person zugeordnet werden soll, um sie nach den englischen Gesetzen als ansässig ansehen zu können.“ Richter Huddleston hat schließlich die Ansässigkeit im Vereinigten Königsreich bejaht und dabei insbesondere auf die (abstrakte) Prüfung des Gesellschaftsgegenstandes laut Gesellschaftsvertrag abgestellt, der in der Gewinnung von Schwefel, wo auch immer sie möglich war, bestand. Daneben hat der Richter dem Ort Bedeutung beigemessen, an dem sich die Geschäftsleitung versammelte. Nach Auffassung der englischen Richter scheint man also von einer „künstlichen Person“ sprechen zu können, die dementsprechend auch einen „künstlichen Sitz“ hatte. Neben einer Ansässigkeit, die an den Ort der tatsächlichen Ausübung der Unternehmenstätigkeit anknüpft (sog. „tatsächlicher Sitz“), wäre es auch möglich, einen abkommensrechtlichen Sitz (bzw. „künstlichen Sitz“) mit einer gewissen Zielsetzung (Erfassung des Welteinkommens) zu bestimmen. Dies könnte unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten sinnvoll sein. Wenn man aber bestimmen soll, „wer“ „was“ an den Staat – der öffentliche Ausgaben zu bestreiten hat und auf Steueraufkommen angewiesen ist – zahlen soll, dann kann man den Einfluss der Wirtschaftstätigkeit hierauf (und umgekehrt) nicht ausblenden.

VIII. Das Verständnis des Einkommensbegriffs und der Rechtfertigungsgrund der Steuer als „Leitlinien“ für die Ortsbestimmung Nach einer Untersuchung der Urteile aus dem späten 19. Jahrhundert bzw. frühen 20. Jahrhundert, die den Sitz mit dem Ort der tatsächlichen Führung verknüpft haben, seien nunmehr einige Erwägungen zu einem Kriterium dargelegt, das meines Erachtens der Ermittlung des Sitzes juristischer Personen zum Zwecke der Zuordnung des Besteuerungsrechts dienen sollte. Die Be-

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55 Siehe hierzu auch J. F. Avery Jones, a. a. O., S. 130–131, 135.

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stimmung des Sitzes juristischer Personen – zum Zwecke der Ermittlung der von ihnen geschuldeten Körperschaftsteuer – sollte mit dem Verständnis des Einkommensbegriffs kohärent sein. Es ist bekannt, dass der Gesetzgeber in der italienischen Rechtsordnung keine Definition des „Einkommens“ vorgegeben hat.56 Die Definition des Einkommens wurde durch das Schrifttum im Laufe der Zeit erarbeitet. Der Gesetzgeber stellt in Art. 6 Tuir lediglich klar, dass die Einkünfte in verschiedene Gruppen unterteilt sind (je nach der Quelle ihrer Herkunft). Zum Zwecke der Bestimmung des Sitzes ist das Verständnis des „gewerblichen/unternehmerischen Einkommens“ erheblich. Folglich sollte der Sitz den Ort berücksichtigen, an dem die Unternehmenstätigkeit überwiegend ausgeübt wird.57 Die Anknüpfung an den Ort der Ausübung der Tätigkeit harmoniert mit dem Zweck der Steuer, der darin besteht, einen Beitrag zur Finanzierung der Staatsausgaben zu leisten. Die Steuer finanziert die Staatsausgaben und, aus umgekehrter Sicht, werden – auf wirtschaftlicher Ebene – die Staatsausgaben natürlich durch die Steuern finanziert. Zur Bestimmung der Kriterien, die Einkommen und Subjekt einander zuordnen, wird auf die Verbindung mit dem Territorium eines bestimmten Staates abgestellt – eine Verbindung, die die Ausübung staatlicher Souveränität und den Beitrag des Subjektes zum Steueraufkommen zwecks Finanzierung der Staatsausgaben rechtfertigt.58 Im Ministerialbericht zum Präsidialdekret vom 29.9.1973, Nr. 598, wurde ausgeführt, dass der Sitz die „objektiven Umstände der Verbindung mit dem Territorium“ zu beachten hat.59 Und diese objektiven Umstände sind meines Erachtens in einer engen wirtschaftlichen Verbindung zwischen Subjekt und Territorium zu sehen.60 Diese enge Verbindung beruht so-

__________ 56 Siehe jüngst beispielhaft P. Boria, Il sistema tributario, Turin 2008, S. 141 ff. 57 Siehe hierzu P. Boria, Il sistema tributario, a. a. O., S. 279 ff. Dieser stellt (auf S. 279) fest, dass das Einkommen eines Unternehmens typischerweise Einkommen aus einer Tätigkeit darstellt, da die Quelle des Einkommens – was leicht feststellbar ist – in der Ausübung einer Tätigkeit besteht.“ 58 Vgl. A. Manganelli, Territorialità dell’imposta, in Digesto delle discipline privatistiche – sezione commerciale, Turin1998, S. 366 ff. 59 Auf diesen Bericht bezieht sich G. Maisto, Brevi riflessioni sul concetto di residenza fiscale di società ed enti nel diritto interno e convenzionale, a. a. O., S. 1358 ff. 60 Die „wirtschaftliche Verbindung“ rechtfertigte als Ratio die Besteuerung der „auf dem Staatsgebiet erzielten Einkünfte“ und wird durch die Entscheidung des italienischen Gesetzgebers bestätigt, die Nicht-Ansässigen nur insoweit der Besteuerung zu unterwerfen, als sie ihre Tätigkeit im italienischen Territorium ausüben. Art. 23 Tuir sieht in der Tat im ersten Abs. 1, Buchst. c), vor, dass als im Inland erzielt gelten: „die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die im Staatsgebiet ausgeübt wurde; d) die Einkünfte aus selbständiger Arbeit, die aus einer im Staatsgebiet ausgeübten Tätigkeit stammen; e) die gewerblichen Einkünfte, die aus einer im Staatsgebiet durch eine Betriebsstätte ausgeübten Tätigkeit stammen; f) die sonstigen Einkünfte, die aus einer im Staatsgebiet ausgeübten Tätigkeit oder aus im Staatsgebiet befindlichen Gütern stammen …“. S. Covino/R. Lupi («Sede dell’amministrazione», oggetto principale e residenza fiscale delle società, a. a. O., S. 932) sind zu Recht der Auffassung, dass es – obwohl der Fokus des Abkommensrechts seit vielen Jahren auf das Führungsorgan (und auf den Ort, an dem dieses die Unternehmenspolitik im Wege der Versammlung bestimmt) gerichtet ist – möglicherweise sinnvoll

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wohl auf einem zeitlichen („dauerhafte Verbindung“)61 als auch auf einem sachlichen („ausgeübte Tätigkeit“) Aspekt. Diese Verbindung rechtfertigt also „den Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben“ und das (Welteinkommens-) Besteuerungsrecht des Staates, in dem die wirtschaftlich-sozialen Verbindungen am stärksten ausgeprägt sind.62 Und es ist diese stärkere Verbindung, sowohl zeitlicher als auch wirtschaftlicher Art, die die unterschiedliche Besteuerung von ansässigen und nicht-ansässigen Steuerpflichtigen rechtfertigt.63 Älteres, aber nicht überholtes Schrifttum hat die Pflicht, dem Vaterland zu dienen und die Pflicht, zur Deckung der Staatsausgaben beizutragen, verglichen und dabei festgestellt, dass „die Abgaben mit dem Grad der tatsächlichen Teilnahme am Staatsleben im Zusammenhang stehen. Die Reaktion des Bürgers, der im Ausland lebt und deswegen in geringerem Umfang am Staatsleben teilnimmt, gegen eine Abgabe, die mit der des ansässigen Bürgers gleich ist, beruht eindeutig auf der mangelhaften Rechtfertigung einer solchen Staatsforderung“.64 Die Verbindung zwischen der Steuer und den Staatsaus-

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wäre, für die Bestimmung des steuerrechtlichen Sitzes einer Gesellschaft von deren Hauptgegenstand auszugehen. S. a. G. Fransoni, La territorialità nel diritto tributario, a. a. O., S. 369 ff. Siehe hierzu F. Moschetti, Il principio della capacità contributiva, Padua 1973, S. 215. Dieser stellt fest, dass „die Pflicht, zur Deckung der Staatsausgaben beizutragen, insbesondere eine Pflicht zur wirtschaftlichen Solidarität darstellt. Es bedarf daher einer dauerhaften wirtschaftlichen Verbindung, wie z. B. der Besitz an Gütern, die Ausübung einer längerfristigen Tätigkeit oder der Aufenthalt im Staatsgebiet.“ P. Boria (Il sistema tributario, a. a. O., S. 196) stellt fest, dass nur „die stabile Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft, die in der Ansässigkeit zum Ausdruck kommt, ein zuverlässiges Indiz für den Grad der ethischen, politischen und sozialen Kohäsion mit dieser Gemeinschaft darstellt“. S. a. A. Fedele, Appunti dalle lezioni di diritto tributario, Turin 2005, S. 182; P. Adonnino, La tassazione del reddito mondiale, Vortrag im Rahmen des Kongresses in Padua vom 5.–6.5.1997, in Besteuerung von Einkommen, hrsg. v. K. Tipke/N. Bozza, Berlin 2000, S. 271 ff.; vgl. auch G. Fransoni, La territorialità nel diritto tributario, Mailand 2004, S. 189; S. 222 ff. m. w. N. P. Boria (Il sistema tributario, a. a. O., S. 196) hebt hervor, dass es der Ansässige ist, „der seine Vorteile aus der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zieht, etwa individuelle Staatsleistungen und allgemeine Vorteile, die durch das wirtschaftlich-soziale System geboten werden“. G. Fransoni (La territorialità nel diritto tributario, a. a. O., S. 271) stellt zutreffend fest, dass „die Zugehörigkeit zu einem Territorium nicht ausschließlich über die stabile Verbindung hiermit begründet wird, da es insoweit auch andere Möglichkeiten gibt.“ G. Fransoni, La territorialità nel diritto tributario, a. a. O., S. 298 hebt hervor, dass „der Grund für die Anwendung des Prinzips der Besteuerung des Welteinkommens im Falle der ansässigen Steuerpflichtigen und für die Besteuerung nach dem Territorialitätsprinzip im Falle der nicht-ansässigen Steuerpflichtigen darin gesehen werden könnte, dass bei den ansässigen – im Gegensatz zu den nicht-ansässigen – Steuerpflichtigen eine stärkere Verbindung besteht“. S. a. C. Sacchetto, L’evoluzione del principio di territorialità e la crisi della tassazione del reddito mondiale nel paese di residenza, in Riv. dir. trib. inter., 2001, S. 53 ff. E. Vanoni, Natura del diritto d’imposizione. Il tributo come emanazione della sovranità o della supremazia dello Stato. La causa del tributo, in Opere giuridiche, a. a. O., S. 85. S. a. G. Falsitta, Storia veridica, a. a. O., S. 123, der hervorhebt, dass im „Zentrum der politischen Verhältnisse“ nicht nur die Pflicht, dem Vaterland zu dienen und ihm treu zu sein, sondern auch das Leistungsfähigkeitsprinzip enthalten ist.

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gaben erfordert also, dass bei der Zuordnung der Besteuerungsrechte das Territorium privilegiert ist, in dem die Wirtschaftstätigkeit überwiegend Staatsausgaben verursacht hat und das Subjekt von diesen Staatsausgaben profitiert hat.65 Es besteht kein Widerspruch zwischen dem Kriterium des eigenen Nutzens und dem der Solidarität, sondern es besteht vielmehr ein gewisses „Stufenverhältnis“ zwischen dem ersten und dem zweiten Kriterium: Der gemeinsame Nutzen aus den Staatsausgaben (bzw. die gemeinsame Verursachung der Staatsausgaben) führt zu einer Solidarverpflichtung zugunsten des Territoriums, das diese Ausgaben trägt. Dies scheint auch der Grundgedanke des Art. 53 der (italienischen) Verfassung zu sein, der nicht nur zufällig das „Beitragen“ und die „Deckung der Staatsausgaben“ verbindet (wodurch an das Äquivalenzprinzip erinnert wird), und es damit auch nicht bewenden lässt: Die „Staatsausgaben“ bzw. der hieraus entstehende Nutzen, sind der notwendige äußere Rahmen – der Grund oder die Quelle –, aus dem die Solidarpflicht entsteht (die durch die „Leistungsfähigkeit“ indiziert wird). Um zum Ausgang dieser Erwägungen zurückzukommen, findet der Beitrag zur Deckung der Staatsausgaben meines Erachtens eine bessere Rechtfertigung in der Ausübung einer substantiellen und nachhaltigen Wirtschaftstätigkeit in einem bestimmten Land, als in der bloßen Geschäftsführung oder in der bloßen Überwachung der Tätigkeit. Ersteres indiziert eine zweifache klare Verbindung mit den Staatsausgaben (sowohl in dem Sinne, dass sie verursacht werden, als auch in dem Sinne, dass davon profitiert wird) und rechtfertigt die solidarische Beitragspflicht zu deren Finanzierung auf der Grundlage des Einkommens des Unternehmens, unabhängig vom Ort dessen Erzielung. Zweiteres – ungeachtet weniger Ausnahmen – ist abgehobener und weniger verwurzelt in den sozialwirtschaftlichen Verhältnissen bzw. mit dem Ursache-FolgeVerhältnis zu den Staatsausgaben, und eignet sich deshalb weniger als Indikator für das Besteuerungsrecht (bzw. die Pflicht zur Steuerzahlung).

IX. Vorrangige Bedeutung des im OECD-MA vorgesehenen Kriteriums des „" “ in internationaler Hinsicht gegenüber dem vom nationalen Gesetzgeber gewählten Kriterium und erste Widerstände hiergegen Im internationalen Bereich wird überwiegend auf das Kriterium des „place of effective management“, das die von Italien und einem Großteil der anderen Länder abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen beherrscht, abgestellt – und nicht auf das hiermit konkurrierende Kriterium des „Hauptgegenstandes der Tätigkeit“ gem. Art. 73 Tuir. Es sei darauf hingewiesen, dass Italien sich zu Art. 4 Abs. 3 des OECD-Musterabkommens geäußert hat. So wird in Nr. 25 des OECD-Musterkommentars zum Zwecke der Bestimmung des „place of

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65 Wenn zum Beispiel, wie in dem zuvor beleuchteten Fall, die Tätigkeit der Diamantengewinnung in Südafrika erfolgt, und im Vereinigten Königsreich nur die entsprechenden Kaufverträge geschlossen werden, dann besteht eine größere Nutznießung aus und damit Verbindung mit den Staatsausgaben Südafrikas.

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effective management“ ausgeführt, dass „Italien die Auffassung vertritt, dass der Ort, an dem die Tätigkeit des Rechtsträgers hauptsächlich und im Wesentlichen ausgeübt wird, ebenfalls zu berücksichtigen ist.“66 Indien hat sich der Auffassung Italiens angeschlossen67. Es scheint also, dass kein volles Einvernehmen unter den verschiedenen Staaten (selbst unter den OECDStaaten) bezüglich der Anwendung des Kriteriums des „place of effective management“ besteht. Daher erscheint es meines Erachtens zu Recht erlaubt, Alternativlösungen zu finden, die mit der realen internationalen Wirtschaftslage der Gesellschaft besser im Einklang stehen, und die den Sitz an den Ort knüpfen, in dem die wirtschaftlichen Verbindungen am engsten sind. Der Keim einer solchen Alternativlösung dürfte in dem Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Italien und den Vereinigten Staaten von Amerika zu finden sein, wo in Art. 4 Abs. 3 geregelt ist: „Ist nach Abs. 1 eine andere als eine natürliche Person in beiden Vertragsstaaten ansässig, so bemühen sich die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten, im gegenseitigem Einvernehmen, ihren Ansässigkeitsstatus zu regeln und die Anwendung des Abkommens festzulegen.“68 Auch Brasilien hat dem Verständnis der OECD bezüglich des place of effective management nicht zugestimmt, da es der Auffassung ist, dass es sich hierbei um eine Frage handele, die durch den eigenen Gesetzgeber und durch Entscheidungen der nationalen Richter zu lösen sei.69 Der Vorrang des place of effective management ist somit kein immer und auf internationaler Ebene gültiges Dogma geworden.

__________ 66 Zur Wirkung der Bemerkungen zum OECD-Musterkommentar, auch in anderer Hinsicht, s. G. Melis, Trasferimento della residenza fiscale e imposizione sui redditi, a. a. O., S. 246–247; vgl. auch V. Uckmar/G. Corasaniti/P. de’ Capitani di Vimercate, Manuale di Diritto Tributario Internazionale, a. a. O., S. 56. 67 Siehe den OECD-Musterkommentar zu Art. 4 des OECD-MA betreffend die Auffassungen der Länder, die nicht zur OECD gehören. 68 Dem entsprechen auch die Abkommen Italiens mit Japan und mit Thailand. Es ist offensichtlich, dass die einvernehmliche Einigung von den Kriterien abhängt, die zur Bestimmung der Ansässigkeit verwendet werden. Wird dabei, wie abkommensrechtlich bestimmt, auf das Kriterium des „Sitzes der tatsächlichen Geschäftsleitung“ oder auf hiermit vergleichbare Kriterien Bezug genommen, wird bei der einvernehmlichen Einigung nur schwer auch der Ort berücksichtigt werden, an dem sich der Hauptgegenstand der Tätigkeit befindet. Dies ist jedoch bei dem Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Italien und den USA nicht der Fall; vielmehr ist dies der Fall bei dem Doppelbesteuerungsabkommen mit Kanada, wo dem Satz, dass „sich die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten bemühen, im gegenseitigem Einvernehmen, ihren Ansässigkeitsstatus zu regeln“, die Regelung folgt, „dass sie dabei insbesondere den Sitz der tatsächlichen Geschäftsleitung, den Ort der Eintragung oder Gründung oder hiermit zusammenhängende Elemente berücksichtigen.“ Auch die Abkommen mit Estland, Litauen und Lettland sind diesbezüglich fast identisch. 69 Siehe den OECD-Musterkommentar zu Art. 4 OECD-MA betreffend die Auffassungen der Staaten, die nicht Mitglied der OECD sind.

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X. Ausgeglichenere Lösung für den Fall einer doppelt ansässigen juristischen Person im asiatischen MA zur Vermeidung der Doppelbesteuerung Der place of effective management als Lösungskriterium in Problemfällen wurde auch 1980 von den Vereinten Nationen gewählt. Es ist jedoch interessant, dass nicht alle Musterabkommen die gleiche Lösung in den Fällen doppelter Ansässigkeit vorsehen. So sieht das asiatische Musterabkommen in Art. 4 Abs. 3 unter dem Titel „Ansässigkeit“ vor, dass „wenn … eine andere als eine natürliche Person in beiden Vertragsstaaten ansässig ist, die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten die Angelegenheit in gegenseitigem Einvernehmen regeln.“ Meines Erachtens trägt diese Lösung, die auch in einigen Doppelbesteuerungsabkommen gemäß des OECD-MA normiert ist, den normativen Regelungen der einzelnen Vertragsstaaten besser Rechnung, die die Ansässigkeit auch an substantielle Kriterien knüpfen, wie z. B. an den „Hauptgegenstand der Tätigkeit“.70 Auf der Ebene der OECD wäre eine Änderung des Art. 4 Abs. 3 anzuregen, damit es den verschiedenen Vertragsstaaten in allen Fällen der doppelten Ansässigkeit möglich wäre, ihre eigenen substantiellen Kriterien zur Anwendung zu bringen, wenn sowohl in zeitlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine engere Verbindung mit dem eigenen Territorium besteht.

XI. Ähnlichkeit des Abkommensentwurfs des Völkerbundes von 1928 mit dem asiatischen MA hinsichtlich der Behandlung der Fälle doppelter Ansässigkeit Es sei hervorgehoben, dass die im asiatischen Musterabkommen normierte Lösung derjenigen ähnelt, die bereits 1928 im Abkommensentwurf des Völkerbundes vorgesehen war.71 Dieser Entwurf beinhaltet keine Definition der Ansässigkeit, sondern vielmehr wird in Art. 10 des Abschnitts II (Personal Taxes) festgestellt, dass „die persönliche Einkommensteuer auf das Gesamteinkommen von dem Staat erhoben wird, in dem der Steuerzahler72 seinen steuerrechtlichen Sitz … oder seinen üblichen Aufenthalt hat“. In Art. 11 des Abschnitts II ist geregelt, dass „in den

__________ 70 So auch A. Fantozzi, Round Table: The Issues, Conclusions and Summing-Up, in Residence of Companies under Tax Treaties and EC Law, a. a. O., S. 929, wonach „die Bestimmung des place of effective management in Wahrheit ein Sachproblem ist, das nicht von der Form beeinflusst werden kann.“ 71 Bezüglich des Textes dieses Entwurfs s. R. Rohatgi, Basic International Taxation, Vol. I: Principles of International Taxation, Richmond 2005, S. 394 ff. Hinsichtlich der Arbeiten des Völkerbundes s. R. Vann, „Liable to tax“ and company residence, in Residence of Companies under Tax Treaties and EC Law, a. a. O., S. 209 ff. 72 Der Begriff „Steuerzahler“ (taxpayers) in Art. 1 des Entwurfs ist sehr weit gefasst und nicht auf entweder natürliche Personen oder juristische Personen beschränkt.

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Lösungsansatz für Fälle der doppelten Ansässigkeit juristischer Personen

Fällen, in denen die Steuerzahler ihren steuerrechtlichen Sitz in beiden Vertragsstaaten haben, die Personalsteuer in beiden Staaten im Verhältnis zur jeweiligen Aufenthaltsdauer im Veranlagungszeitraum oder gemäß einem von den zuständigen Behörden einvernehmlich festzulegenden Aufteilungsmodus erhoben wird.“ Hierbei handelt es sich meines Erachtens um eine sinnvolle Lösung, die den gesetzgeberischen Entscheidungen der einzelnen Vertragsstaaten entweder aufgrund des zeitlichen Kriteriums oder aber aufgrund der Einigung der Beteiligten Rechnung trägt.73

XII. Alternativlösungen zum „" “ in den Fällen der doppelten Ansässigkeit gemäß des Entwurfs zur Änderung des OECD-MK v. 21.4.2008 Die Tendenz, in den Fällen doppelter Ansässigkeit Alternativlösungen zuzulassen, die vom Ort der Führung oder der Überwachung losgelöst sind, wird jüngst von der OECD selbst bestätigt. So ist in dem Entwurf zur Änderung des OECD-Musterkommentars vom 21.4.200874 bezüglich des place of effective management vorgesehen, dass „eine immer bedeutendere Anzahl von Ländern eine bilaterale andere Lösung normieren, die den Tatsachen und den Umständen des jeweiligen Einzelfalls Rechnung tragen, um die doppelte Besteuerung juristischer Personen zu vermeiden. In diesen Fällen wird die Lösung den zuständigen Behörden übertragen.“75 Des weiteren wird im Entwurf ausgeführt, dass aufgrund der Anzahl der Länder, die bereit sind, diese Fälle der doppelten Besteuerung über bilaterale Verständigungen zu lösen, diese mögliche Alternative im OECD-Musterkommentar zu Art. 4 hinzugefügt werden sollte.

__________ 73 Dem Kommentar zu Art. 11 des Entwurfs (in R. Rohatgi, Basic International Taxation, Vol. I: Principles of International Taxation, a. a. O., S. 403) ist zu entnehmen, dass das Einvernehmen z. B. auf der Grundlage des Verhältnisses des in den jeweiligen Vertragsstaaten erzielten Einkommens hergestellt werden könne. Dies könne – soweit erforderlich – auch bei Steuerpflichtigen, die ihren Sitz während des Veranlagungszeitraums verlegen, sinnvoll sein. Diese Lösung ist sowohl in Art. XIV des bilateralen Musterabkommens des Völkerbundes, das im Juli 1943 in Mexiko-Stadt vorgestellt wurde, als auch in Art. XV des bilateralen Musterabkommens des Völkerbundes, das im März 1946 in London vorgestellt wurde, vorgesehen. 74 Wegen weiterer Einzelheiten zu diesem Entwurf s. V. Uckmar/G. Corasaniti/P. de’ Capitani di Vimercate, Manuale di Diritto Tributario Internazionale, a. a. O., S. 56; G. Melis, La residenza fiscale delle società nell’Ires: giurisprudenza e normativa convenzionale, a. a. O., S. 3652 ff.; R. Russo, The OECD Model: An Overview, in European Taxation, 2008, S. 459. 75 Wegen der Änderungen des OECD-Musterabkommens s. M. Giaconia/L. Greco, Le modifiche al Commentario del Modello di Convenzione OCSE del 2008, in Fiscalità internazionale, 2009, S. 234 ff.

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XIII. Vergleich mit den für die Bestimmung der Ansässigkeit natürlicher Personen verwendeten Kriterien und Notwendigkeit der Kohärenz dieser Kriterien Die Notwendigkeit eines möglichst breiten Spektrums an Kriterien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in den Fällen der doppelten Ansässigkeit legt in systematischer Hinsicht einen Vergleich mit dem Verständnis der Ansässigkeit im Falle natürlicher Person gemäß des OECD-Musterabkommens nahe.76 Wie bekannt ist, sind in Art. 4 Abs. 2 des OECD-Musterabkommens insgesamt vier Regeln zur Lösung des Konfliktes bei doppelter Ansässigkeit vorgesehen. Wie zuvor dargelegt, war man auch in der Entscheidung De Beers zunächst von einem Vergleich zwischen juristischer Person und natürlicher Person ausgegangen: Lord Loreburn hatte festgestellt, dass beide „eine Wohnung unterhalten und eine Handelstätigkeit ausüben“ können.77 In der Entscheidung war dieser Vergleich jedoch in den Hintergrund gerückt und der Sitz an den Ort der Geschäftsleitung geknüpft worden.78 Meines Erachtens ist der Vergleich mit der Ansässigkeit natürlicher Personen auch aufgrund der Kohärenz geboten. Wie bereits dargelegt, wird das Verständnis der Ansässigkeit sozialwirtschaftlich gerechtfertigt durch die „dauerhafte Zugehörigkeit zu einem bestimmten Territorium“. Dies kommt bei den natürlichen Personen durch den „steuerrechtlichen Wohnsitz“ zum Ausdruck, der – aufgrund des Verweises des Art. 2 Tuir auf Art. 43 Codice civile79 – auch den Ort berücksichtigt, an dem sich der „Mittelpunkt der Lebensinteressen“ befindet. Diese Verbindung mit dem Mittelpunkt der Lebensinteressen wird auch von Art. 4 des OECD-Musterabkommens anerkannt. Befürwortet man mithin das Kriterium der „dauerhaften Zugehörigkeit“ zu einem bestimmten Territorium auch zum Zwecke der Bestimmung des Ortes der Ansässigkeit einer juristischen Person, scheint dieses „substantiell-globale“ Kriterium meines Erachtens den Ort der tatsächlichen (und dauerhaften) Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit als Kriterium zu begünstigen. Es besteht ein Missverhältnis zwischen den Regeln der Ansässigkeit natürlicher Personen und der (einzigen) Regel der Ansässigkeit juristischer Personen: Zweifellos stellt das (einzige) von der OECD vorgegebene Kriterium in den Fällen doppelt ansässiger juristischer Personen80 eine völlig andere Lösung dar im Verhältnis zu den Kriterien, die in

__________

76 Siehe hierzu G. Melis, Trasferimento della residenza fiscale e imposizione sui redditi, a. a. O., S. 243 ff. 77 Lord Loreburn wörtlich: „in applying the conception of residence to a Company, we ought, I think, to proceed as nearly as we can upon the analogy of an individual. A company cannot eat or sleep, but it can keep house and do business. We ought, therefore, to see whether it really keeps house and does business“. 78 Wie bereits dargelegt, mit einem „Auslegungs-Kraftakt“ bezüglich des Verständnisses des „Ortes der Ausübung der tatsächlichen Handelstätigkeit“. 79 Anmerkung Bozza-Bodden: Der Codice civile entspricht dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch. 80 G. Melis (La residenza fiscale delle società nell’Ires: giurisprudenza e normativa convenzionale, a. a. O., S. 3651) definiert diese Abkommensregelung zutreffend als „lakonisch“. Siehe ders., Trasferimento della residenza fiscale e imposizione sui redditi, a. a. O., S. 243 ff.

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den Fällen doppelter Ansässigkeit natürlicher Personen vorgesehen sind.81 Wollte man der Ratio der Entscheidung De Beers kohärent folgen, müsste es mehrere Kriterien geben – genauso wie bei den natürlichen Personen.82 Aber dies ist (noch) nicht im Musterkommentar vorgesehen, auch wenn jüngst – wie dargelegt – eine Tendenz zur etwaigen Aufnahme weiterer Kriterien besteht. Nach geltendem Recht besteht somit ein „Missverhältnis“ zwischen den Regelungen in den Fällen doppelter Ansässigkeit von natürlichen und von juristischen Personen. Es ist somit zu untersuchen, welche Alternativkriterien eingesetzt werden könnten und in welchen Fällen auf den place of effective management abzustellen ist. Der Europäische Gerichtshof gibt ein weiteres Kriterium vor, das für die Anknüpfung der Ansässigkeit an den Ort der überwiegenden wirtschaftlich-sozialen Präsenz des Subjekts verwendet werden kann. In einigen Urteilen zur Niederlassungsfreiheit natürlicher Personen hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass das Rechtssubjekt an dem Ort ansässig ist, an dem sich seine ausschließliche oder wesentliche Einkommensquelle befindet.83 Vor dem Hintergrund dieser Urteile des Europäischen Gerichtshofs ist dem Ort größere Bedeutung beizumessen, an dem sich (substantiell) die Hauptquelle des Einkommens befindet – ungeachtet der einwohnermelderechtlichen Eintragung (bei natürlichen Personen) oder der Eintragung oder des Sitzes der Geschäftsleitung (bei juristischen Personen). Dieses Kriterium, das bereits bei den natürlichen Personen angewandt wird, sollte auch bei juristischen Personen gelten – und zwar nicht nur auf der Ebene der europäischen Gemeinschaft, sondern auch auf internationaler Ebene.

XIV. Anwendbarkeit des Kriteriums des „" “ als Kriterium der Ansässigkeit Der place of effective management ist meines Erachtens nicht immer als maßgebliches Kriterium in den Fällen doppelter Ansässigkeit anzuwenden, da es die Besonderheiten des Einzelfalls nicht hinreichend berücksichtigt. Es gibt die zuvor dargelegten Fälle, die Gegenstand der englischen Entscheidungen waren, in denen sich der Hauptgegenstand eindeutig in einem Land befindet, während sich der statuarische Sitz oder der Sitz der Geschäftsleitung in einem anderen Land befindet. Es stellt sich mithin die Frage, ob es nicht kohärenter wäre, den

__________ 81 Dies wurde bereits beleuchtet von G. Maisto, Brevi riflessioni sul concetto di residenza fiscale di società ed enti nel diritto interno e convenzionale, a. a. O., S. 1360. 82 Ein bedeutender Unterschied zwischen der Bestimmung der Ansässigkeit von natürlichen und juristischen Personen besteht insbesondere auch darin, dass bei den natürlichen Personen auf den Ort des Mittelpunktes der Lebensinteressen abgestellt wird. Ein vergleichbarer Mittelpunkt könnte bei juristischen Personen – unter Befolgung des Gedankengangs der Entscheidung De Beers – in dem Ort gesehen werden, an dem das Unternehmen vielfältige Wirtschaftsbeziehungen unterhält. 83 Siehe die Rechtssachen Schumacker (EuGH v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93) und Wielocks (EuGH v. 11.8.1995 – Rs. C-80/94). Aus dem Schrifttum s. G. Fransoni (La territorialità nel diritto tributario, S. 366 ff.); C. Sacchetto, Imposizione tributaria e sede del soggetto nel diritto comunitario, a. a. O., S. 80).

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place of effective management lediglich als sekundäres (und nicht mehr primäres) Kriterium anzuwenden, soweit die Bestimmung der Ansässigkeit problematisch erscheint, weil das Unternehmen seine Haupttätigkeit in mehreren Staaten ausübt.84 Der place of effective management kann auch in den Fällen ein nützliches Kriterium sein, in denen die Ausübung der Haupttätigkeit keinem Staat zuzuordnen ist, z. B. in den Fällen des e-commerce.85 Letztlich wäre die Verwendung des place of effective management beispielsweise in den folgenden Fällen sinnvoll: – bei Streitigkeiten zwischen mehreren Staaten bezüglich des Ortes der Geschäftsleitung einer Holding-Gesellschaft; – bei in mehreren Staaten ausgeübter Hauptgeschäftstätigkeit; – bei Unmöglichkeit der Bestimmung des Ortes der Ausübung der Hauptgeschäftstätigkeit. Wenn hingegen der Hauptgegenstand der Tätigkeit – wie in den von den englischen Gerichten entschiedenen Fällen – eindeutig einem einzigen Land zugeordnet werden kann, sollte das Kriterium des place of effective management hingegen keine Anwendung finden.

XV. Ursprung des Kriteriums des „" “ und dessen Anwendungsbeschränkung nach dem OECD-MK zu Art. 4 Die hier vertretene Auffassung zum place of effective management – als nicht entscheidendes, sondern lediglich hilfsweise in den zuvor genannten Fällen anzuwendendes Kriterium – scheint meines Erachtens auch durch den OECDMusterkommentar bestätigt zu werden. In Nr. 23 des Musterkommentars zu Art. 4 wird ausgeführt, dass die Frage „welches Merkmal für den Vorrang bei anderen als natürlichen Personen entscheidend sein soll, vor allem im Zusammenhang mit der Besteuerung der Einkünfte aus der Seeschifffahrt, Binnenschifffahrt und Luftfahrt geprüft“ wurde. Dieses Kriterium scheint folglich in den Fällen gerechtfertigt zu sein, in denen internationale Unternehmen ihre Tätigkeit in mehreren Ländern ausüben und dabei ihr Einkommen an mehreren Orten beziehen.86 Dies ist typischerweise bei Schifffahrt- und Luftfahrt-

__________ 84 So auch G. Melis, La residenza fiscale delle società nell’Ires, a. a. O., S. 3497. 85 Siehe hierzu S. Mayr/G. Fort, La residenza fiscale delle società: necessità di un cambiamento?, in Corr. Trib., 2001, S. 2086 ff.; C. Romano, The Evolving Concept of „Place of Effective Management“ as a Tie-breaker Rule under the OECD Model Convention and Italian Law, in European Taxation, 2001, S. 339 ff. Im ausländischen Schrifttum vgl. S. Shalhav, The Evolution of Art. 4(3) and Its Impact on the Place of Effective Management Tie Breaker Rule, a. a. O., S. 468 ff. 86 Zur Notwendigkeit der Verknüpfung der Besteuerung mit dem Ort, an dem das Einkommen erzielt wird s. R. Lupi, Un punto fermo: il prelievo nello stato di produzione del reddito, in Il diritto tributario nei rapporti internazionali, a. a. O., S. 135 ff.

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gesellschaften der Fall.87 Ebenso ist dies der Fall bei den Eisenbahngesellschaften88, die Gegenstand der ersten englischen Urteile waren, die die Frage der Ansässigkeit betrafen.89 Es handelt sich hierbei jedoch um besondere Fälle, bei denen sich die Wirtschaftstätigkeit der Gesellschaften auf viele Staaten erstreckte.90 In diesen Fällen erscheint es sinnvoll, zwecks Bestimmung der Ansässigkeit an den Ort anzuknüpfen, an dem sich der Hauptsitz der Gesellschaft befindet.91 In allen anderen Fällen ist konkret zu prüfen – und zwar sowohl in

__________

87 So A. Manzitti (Considerazioni in tema di residenza fiscale delle società, a. a. O., S. 176 ff.) und T. Aragno (Brevi note in tema di residenza fiscale e stabile organizzazione di società estera di navigazione, a. a. O., S. 87 ff.). Im ausländischen Schrifttum so anscheinend auch J. F. Avery Jones, a. a. O., S. 155, der ausführt, dass „die Logik dieser Regel in folgendem besteht: Soweit sich nicht (nur) ein einziger Ort bestimmen lässt, an dem die Tätigkeit ausgeübt wird, gäbe es Probleme bei der Besteuerung der Tätigkeit von Schifffahrtgesellschaften und der dieser ähnlichen Tätigkeiten.“ S. a. S. Shalhav, The Evolution of Art. 4(3) and Its Impact on the Place of Effective Management Tie Breaker Rule, a. a. O., S. 460; dieser untersucht detailliert (S. 464 ff.) die Arbeit der Experten, die 1925 nach Aufforderung durch den Völkerbund von einigen europäischen Ländern benannt wurden, und hebt hervor, dass die Experten insbesondere den Schifffahrtgesellschaften besondere Beachtung schenkten (S. 465). Desweiteren stellt er fest, (Fn. 34 auf S. 465), dass die Entwicklung des Verständnisses der Ansässigkeit bezüglich der Schifffahrtgesellschaften zu untersuchen ist, das im allgemeinen dem Verständnis der Ansässigkeit solcher Unternehmen entsprechen könnte, die ihre Tätigkeit in der ganzen Welt ausüben.“ 88 Dies waren seinerzeit die wichtigsten Gesellschaften, worauf J. Avery Jones (a. a. O., S. 126) hinweist. 89 Siehe hierzu J. Avery Jones (a. a. O., S. 124–125), der hervorhebt, dass in einigen Entscheidungen zu den Eisenbahngesellschaften die Ansässigkeit an dem Ort gesehen wurde, an dem die Tätigkeit ausgeübt wurde; dies war hiernach der Ort, an dem sich das head office bzw. der Hauptsitz der Gesellschaft befand. Dies war für die Bestimmung des Gerichtsstandes der gegen die Gesellschaft erhobenen Klage von Bedeutung. Meines Erachtens kann jedoch eine ausschließlich juristische Frage nicht mit den wirtschaftlichen Gesichtspunkten vermengt werden, die mit dem Ort der Einkommenserzielung und demnach mit dem Ort zusammenhängen, der die Besteuerung des Welteinkommens rechtfertigt. J. F. Avery Jones (a. a. O., S. 138) hebt auch hervor, dass die Übernahme der Rechtsprechung zu den Eisenbahngesellschaften durch die steuerrechtliche Rechtsprechung eine sehr „ausgedehnte“ Übernahme gewesen sei, die jedoch die Zustimmung der Finanzverwaltung fand. 90 S. Shalhav, The Evolution of Art. 4(3) and Its Impact on the Place of Effective Management Tie Breaker Rule, a. a. O., S. 466 hebt hervor, dass „die OECD selbst davon ausgeht, dass das Verständis des place of effective management seine Grundlage in der Besteuerung der Schifffahrtunternehmen findet“. Auch in dem Bericht der Finanz-Kommission der OECD von 1959 bezüglich der internationalen Schiff- und Luftfahrt wurde hervorgehoben, dass bei der Besteuerung der entsprechenden Unternehmen dem Staat der Vorzug zu geben sei, in dem sich der place of effective management befinde (S. Shalhav, The Evolution of Art. 4(3) and Its Impact on the Place of Effective Management Tie Breaker Rule, a. a. O., S. 468). 91 Bereits L. Einaudi (Corso di scienza delle finanze, Turin, 1926, S. 133) hatte sich hierzu geäußert und festgestellt, dass das von den Schifffahrtgesellschaften erzielte Einkommen – zumindest überwiegend – der Tätigkeit des Hauptsitzes und nicht der der Nebensitze zuzuordnen sei. So auch M. Pugliese (a. a. O., S. 103), wonach der Staat, in dem die Güter- und Personentransportverträge (sowie evtl. der Schiff-Mietvertrag) geschlossen werden, das Besteuerungsrecht bezüglich eines bescheidenen

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zivil- und gesellschaftsrechtlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht –, an welchem Ort die Haupttätigkeit des Unternehmens ausgeübt wird, an welchem Ort die für die unmittelbare Umsetzung der Hauptzwecke wesentliche Tätigkeit92 erfolgt und an welchem Ort die Nutznießung der Staatsausgaben am bedeutendsten ist.

XVI. Schlussbemerkung Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen soll das vom OECD-Musterabkommen verwendete Kriterium zur Bestimmung der Ansässigkeit juristischer Personen zusammenfassend beleuchtet werden. Es sind Lösungen erforderlich, die a) dem Ort Rechnung tragen, an dem das Einkommen überwiegend erzielt wird; b) das gegenseitige Rechfertigungsverhältnis zwischen Staatsausgaben und Steuern berücksichtigen; c) mit den Entscheidungen der Gesetzgeber der verschiedenen OECD-Staaten kohärent sind. Dabei sind auch die Kriterien zu beachten, die in den Fällen der doppelten Ansässigkeit von natürlichen Personen verwendet werden. Dabei handelt es sich um Kriterien, die den Umständen des Einzelfalles auf internationaler Ebene besser Rechnung tragen. Es wäre kohärenter, wenn es weitere Kriterien geben würde93. Dadurch würde auch die wirtschaftliche Realität besser berücksichtigt. Mögliche Kriterien auf der OECD-Ebene wären insoweit: a) in erster Linie: die Bestimmung des Ortes, an dem die Haupttätigkeit des Unternehmens konkret ausgeübt wird94; folglich würde das Besteuerungsrecht dem Land zugewiesen, in dem der wirtschaftliche Beitrag zur Erzielung des Einkommens am größten ist;95

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Teils des Einkommens haben könne, das aus diesen Verträgen herrühre, … sicherlich aber nicht das Besteuerungsrecht bezüglich des Welteinkommens. S. a. V. Uckmar, La tassazione degli stranieri in Italia, a. a. O., S. 172. Siehe Art. 73 Abs. 4 Tuir. S. a. A. Fantozzi, Round Table: The Issues, Conclusions and Summing-Up, a. a. O., S. 930–931. A. Fantozzi (Round Table: The Issues, Conclusions and Summing-Up, a. a. O., S. 931) stellt fest, dass „dies das einzige Kriterium ist, das tatsächlich der effektiven Natur der Ansässigkeit Rechnung trägt.“ Dem ist zuzustimmen. Es ist kein Zufall, dass dieses Recht bereits zur Zeit der Erarbeitung des Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von den Ländern beansprucht wurde, die Kapital importierten (Dominions). Hierzu gehörten Länder wie Südafrika und Indien, die auch von den zuvor beleuchteten Urteilen De Beers und Calcutta Jute Mills betroffen waren. M. Pugliese (a. a. O., S. 23, in der Fußnote), gibt bei der Beschreibung der Arbeit des Völkerbundes den Bericht der Unterkommission wieder, die von der Kommission für die Einkommensbesteuerung ernannt worden war und die die Doppelbesteuerung untersuchen sollte: „Bereits bei den ersten Sitzungen hatten die Delegierten der Dominions eindringlich zum Ausdruck gebracht, dass sie bei der Zuordnung der Besteuerungsrechte die Lösung bevorzugen, die das Besteuerungsrecht dem Land zuweist, in dem sich die Quelle des Einkommens befindet, und die

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b) in zweiter Linie: die Bestimmung des place of effective management bei Ausübung der Tätigkeit in mehreren Staaten oder in Ermangelung der Bestimmbarkeit des Staates, in dem sie überwiegt.96 Sollte zwischen den Behörden Streit bezüglich des place of effective management bestehen, sollte eine Regelung der Frage in gegenseitigem Einvernehmen vorgesehen werden.97 Das Kriterium des place of effective management wäre auch bei den HoldingGesellschaften anzuwenden. Die Normierung weiterer Kriterien substantieller Art – die auch schon von der OECD erwogen wurden98 – würde auch der Vermeidung der Umgehung solcher Abkommen dienen, die lediglich auf den Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung als Kriterium abstellen, das wesentlich formeller ist als das Kriterium des Ortes der tatsächlichen Ausübung der Tätigkeit. Bei der Wahl der Alternativkriterien ist jedoch besondere Achtsamkeit gefordert. Bestünde das Alternativkriterium in einer einvernehmlichen Einigung der Behörden und würde diesen als Einigungskriterium der place of effective management vorgegeben – wie bereits bei den Änderungen von 200899 –, so

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möglicherweise das Recht des Staates, in dem der Einkommensbezieher ansässig ist, ausschließt.“. „Diese Lösung hätte jedoch zu einer wirtschaftlichen Benachteiligung des Vereinigten Königreichs geführt, da sie fast vollständig zu dessen Lasten gegangen wäre angesichts des Ungleichgewichts des Kapitals, das von Großbritannien aus in die Dominions investiert wurde, und des Kapitals, das umgekehrt von den Dominions aus in Großbritannien investiert wurde.“ So beim e-commerce. Siehe G. Melis, Commercio elettronico nel diritto tributario, in Digesto disc. privatistiche – sez. comm., a. a. O., S. 63 ff., 66. Ähnlich G. Melis, La residenza fiscale delle società nell’Ires: giurisprudenza e normativa convenzionale, a. a. O., S. 3654. Der Entwurf der Änderung des OECDMusterabkommens vom 21.4.2008 sieht als mögliche Änderung des Art. 4 die Einführung einer einvernehmlichen Einigung zwischen den Behörden zur Lösung des Problems der Doppelbesteuerung vor. Das OECD-Musterabkommen sieht das Kriterium der einvernehmlichen Einigung bereits als zuletzt anzuwendendes Kriterium vor. Siehe hierzu G. Melis, La residenza fiscale delle società nell’Ires: giurisprudenza e normativa convenzionale, a. a. O., S. 3652. Es sei angemerkt, dass die Business Profits Technical Advisory Group, die die Anwendung existierender Vertragsvorschriften zur Besteuerung von Geschäftsgewinnen überwacht, eine Überprüfung der Kriterien vorgeschlagen hat, soweit Fälle betroffen sind, in denen sich der Ort des place of effective management nicht bestimmen lässt, oder in denen sich dieser Ort in zwei Vertragsstaaten befindet. In diesen Fällen wäre der Ansässigkeitsstaat: 1) derjenige, in dem die Wirtschaftsverhältnisse der Körperschaft am engsten sind; 2) derjenige, in dem die Handelstätigkeit hauptsächlich ausgeübt wird; 3) derjenige, in dem die Entscheidungen des Führungsorgans vorwiegend getroffen werden. Siehe hierzu J. F. Avery Jones, Place of Effective Management as a Residence Tie-Breaker, in Bullettin, Januar 2005, S. 20 ff. So wie in einigen Abkommen vorgesehen, s. o. Fn. 67. Nr. 24.1 des OECD-Musterkommentars Art. 4 Abs. 3 schlägt als mögliche Änderung des Art. 4 Abs. 3 die einvernehmliche Einigung „unter Berücksichtigung des Orts der tatsächlichen Geschäftsleitung (place of effective management), des Orts der Eintragung oder Gründung und anderer erheblicher Gesichtspunkte“ vor.

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würde sich nichts ändern, bzw. es würde sich nur die Form ändern, nicht aber die Substanz. Entsprechendes gilt, wenn es bei dem place of effective management als erstem Lösungskriterium bliebe, und nur als Alternativkriterien oder untergeordnete Kriterien auf den Ort der engsten wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft oder den Ort der vorwiegenden Ausübung der Handelstätigkeit abgestellt würde.100 Sicherlich kann die Lösung von Rechtsproblemen durch politische Entscheidungen beeinflusst werden, jedoch sollten die allgemeinen Grundsätze der Rationalität101, der Verhältnismäßigkeit und der Rechtfertigungsfähigkeit beachtet werden und zu einer „reductio ad aequitatem“ führen.

__________ Es ist einerseits positiv, dass vorgeschlagen wird, dass letztlich andere erhebliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden können, andererseits verbleibt es aber dabei, dass nicht-formale Kriterien bei der Lösung der Fälle der doppelten Ansässigkeit von Kapitalgesellschaften nicht begünstigt werden. Vgl. M. Giaconia/L. Greco, Le modifiche al Commentario del Modello di Convenzione OCSE del 2008, a. a. O., S. 235. 100 „In which its business activities are primarily carried on“; so der Vorschlag der „Technical Advisory Group“ der OECD vom 27.5.2003. 101 Anmerkung Bozza-Bodden: Bei dem „Prinzip der Rationalität“ (principio di razionalità) handelt es sich um ein sehr unbestimmtes Prinzip, welches im Zusammenhang mit Gesetzen besagt, dass diese an dem Gleichheitsgrundsatz, der Unparteilichkeit und der Vernunft auszurichten sind. Insbesondere sollen hierdurch willkürliche und irrationale Entscheidungen vermieden werden.

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Schriftenverzeichnis Joachim Lang I. Veröffentlichungen in Büchern – Systematisierung der Steuervergünstigungen, Ein Beitrag zur Lehre vom Steuertatbestand, Diss. Köln/Berlin 1974; – Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Rechtssystematische Grundlagen steuerlicher Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht, Köln 1981/88; – Der Steuerrechtsstatus der Staatsbürgerlichen Vereinigung 1954 e.V. und die Steuerabzugsfähigkeit der von ihr vereinnahmten Spenden, Köln 1983; – Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, Münsteraner Symposion Bd. II, Köln 1985; – Die einfache und gerechte Einkommensteuer – Ziele, Chancen und Aufgaben einer Fundamentalreform, Köln 1987; – Arbeitsgruppe Steuerreform, eingesetzt durch die Landesregierung BadenWürttemberg am 3.10.1984, Steuern der neunziger Jahre, Leitlinien für eine Reform, Stuttgart 1987 (Mitglied der Arbeitsgruppe); – Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Neuordnung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Band 40, Bonn 1988 (Mitglied der Kommission); – Steuerrecht, Ein systematischer Grundriß, 12. Auflage, Köln 1989 (Tipke/ Lang, Mitautoren: K. Tipke, M. Balke, H. Montag, M. Orth, H.-J. Pezzer, W. Reiß); – Steuerrecht, Ein systematischer Grundriß, 13. Auflage, Köln 1991 (Tipke/ Lang, Mitautoren: K. Tipke, M. Balke, H. Montag, M. Orth, H.-J. Pezzer, W. Reiß); – Die Besteuerung der Drittmittelforschung, Forum Deutscher Hochschulverband, Heft 58, Bonn 1992 (Mitautor: R. Seer); – Entwurf eines Steuergesetzbuchs, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Band 49, Bonn 1993; – Steuerrecht, 14. Auflage, Köln 1994 (Tipke/Lang, Mitautoren: M. Balke, H. Montag, M. Orth, H.-J. Pezzer, W. Reiß, R. Seer); – WP-Handbuch der Unternehmensbesteuerung, 2. Auflage, Düsseldorf 1994, 10. Kapitel: Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht; – Steuerrecht, 15. Auflage, Köln 1996 (Tipke/Lang, Mitautoren: M. Balke, H. Marré, H. Montag, H.-J. Pezzer, W. Reiß, R. Seer); – Steuerrecht, 16. Auflage, Köln 1998 (Tipke/Lang, Mitautoren: H. Marré, H. Montag, H.-J. Pezzer, W. Reiß, R. Seer);

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Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Vermeidung von Schlechterstellungen der Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Einkommensteuerrecht, ifo-Studien zur Finanzpolitik, Heft 69, München 1999 (ergänzendes Rechtsgutachten zu R. Parsche und M. Steinherr); – Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Bericht der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Band 66, Berlin 1999 (stv. Vorsitzender der Kommission und Verfasser des Anhangs 1: Perspektiven der Unternehmensteuerreform); – Ansätze für ökonomische Anreize zum sparsamen und schonenden Umgang mit Bodenflächen, mit Kilian Bizer (Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut an der Universität zu Köln) im Auftrag des Umweltbundesamtes erstattetes Gutachten zum ökologischen Umbau der Grundsteuer, März 1998 (amtlich veröffentlicht im Juli 2000); – WP-Handbuch der Unternehmensbesteuerung, 3. Auflage, Düsseldorf 2001, 10. Kapitel: Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht; – Steuerrecht, 17. Auflage, Köln 2002 (Tipke/Lang, Mitautoren: J. Jurina, H. Montag, H.-J. Pezzer, W. Reiß, R. Seer); – J. Lang, (Sprecher), N. Herzig, J. Hey, H.-G. Horlemann, J. Pelka, H.-J. Pezzer, R. Seer, K. Tipke (beratend), Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, Köln 2005; – Steuerrecht, 18. Auflage, Köln 2005 (Tipke/Lang, Mitautoren: J. Hey, J. Jurina, H. Montag, W. Reiß, R. Seer); Portugiesische Übersetzung von L. D. Furquim der von J. Lang verfassten §§ 1 bis 10: Direito Tributário, vol. I, Porto Alegre (Brasilien) 2008; – Kommission „Steuergesetzbuch“ (Vorsitzender: J. Lang), Steuerpolitisches Programm, Berlin 2006; – Kommission „Steuergesetzbuch“ (Vorsitzender: J. Lang), Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, Berlin 2008; – Steuerrecht, 19. Auflage, Köln 2008 (Tipke/Lang, Mitautoren: J. Hey u. R. Seer [federführend]; W. Reiß, H. Montag, J. Englisch); – Leitlinien für die umsatzsteuerliche Behandlung ästhetisch-chirurgischer Maßnahmen, hrsg. von der Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland e.V., Bad Soden 2009; – Steuerrecht, 20. Auflage, Köln 2010 (Tipke/Lang, Mitautoren: J. Hey u. R. Seer [federführend]; W. Reiß, H. Montag, J. Englisch); – Eilfort/Lang (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern, Bericht über die Entwürfe und Vorschläge der Kommission „Steuergesetzbuch“, München 2010.

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II. Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken – Fluchtweg aus dem Steuerdschungel?, Von den Anfängen einer elektronischen Steuerrechtsdokumentation, Betriebs-Berater 1974, 32; – Das Einkommensteuergesetz 1975, Gewinn an Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung?, Zugleich Abhandlung der sachlichen Änderungen im Einkommensteuerrecht und der neuen Kindergeldregelung, Steuer und Wirtschaft 1974, 293; – Das neue Lohnsteuerrecht, Steuer und Wirtschaft 1975, 113; – Grundsätzliches zur Interpretation völkerrechtlicher Abkommen im Steuerrecht, dargestellt an dem Beispiel der Frage, ob der Diplomat einer ausländischen Mission beschränkt einkommensteuerpflichtig ist, Steuer und Wirtschaft 1975, 285; – Buchbesprechung: Dieter Schneider, Grundzüge der Unternehmensbesteuerung, Steuer und Wirtschaft 1975, 373; – Zu den Voraussetzungen der Steuerermäßigung für Nebeneinkünfte aus wissenschaftlicher, künstlerischer oder schriftstellerischer Tätigkeit (§ 34 Abs. 4 EStG), Steuer und Wirtschaft 1976, 67; – Das Steuerrecht als Fach einer rechtswissenschaftlichen Ausbildung, Steuer und Wirtschaft 1976, 76; – Steuerjuristische Ausbildung in den USA, in den Niederlanden und in Belgien, Finanz-Rundschau 1977, 87; – Erste Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V., Steuer und Wirtschaft 1977, 94; – Gewinnrealisierung bei Personengesellschaften, Ein Diskussionsbeitrag zum Thema der Wiener Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, Steuer und Wirtschaft 1978, 215; – Die Besteuerung der Haushalte, Rechtssystematische Überlegungen zu der Schrift von Hans-Jörg Kundert über das Baseler Teilsplittingverfahren, Steuer und Wirtschaft 1978, 316; – Gewinnrealisierung – Rechtsgrundlagen, Grundtatbestände und Prinzipien im Rahmen des Betriebsvermögensvergleichs nach § 4 Abs. 1 EStG, DStJG Bd. 4 (1981), S. 45; – Liebhaberei im Einkommensteuerrecht, Grundsätzliches zur Abgrenzung einkommensteuerbarer Einkünfte, Steuer und Wirtschaft 1981, 223; – Familienbesteuerung, Zur Tendenzwende der Verfassungsrechtsprechung durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3.11.1982 und zur Reform der Familienbesteuerung, Steuer und Wirtschaft 1983, 103; spanische Übersetzung: Tributacion familiar, Hacienda Pública Espan?ola 1985, 407; – Geschenke, Spenden und Schmiergelder im Steuerrecht, JbFfStR 1983/84, 195;

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Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Steuermindernde Parteienfinanzierung, Steuer und Wirtschaft 1984, 15; – Zur Reform der Familienbesteuerung, Steuer und Wirtschaft 1984, 127 (Mitautor: K. Tipke); – Besteuerung verdeckter Gewinnausschüttungen bei verbundenen Unternehmen, Finanz-Rundschau 1984, 629; – Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Steuerabzugsverbote für Geldstrafen und Geldbußen, Ein Beitrag zur Anwendung des Gleichheitssatzes und der Rückwirkungsverbote nach Art. 20 III, 103 II GG auf Vorschriften, die das Leistungsfähigkeitsprinzip durchbrechen, Steuer und Wirtschaft 1985, 10; – Klaus Tipke sechzig Jahre, Steuer und Wirtschaft 1985, 301; – Das Grundgesetz gebietet die Strukturreform der Familienbesteuerung, in Deutsche Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft (Hrsg.), Die Lage der Familie, Ein Vorwurf an unsere Gesellschaft, Forum vom 19.10.1985 in Bonn, Weißenthurm 1985; – Mehr Gerechtigkeit durch Steuervereinfachung, in Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Politische Akademie, Arbeitsheft Nr. 11, Januar 1986, S. 9; – Die Einkünfte des Arbeitnehmers, Steuerrechtsdogmatische Grundlegung, DStJG Band 9 (1986), S. 15; – Einkommensteuerreform: Einfach und gerecht!, Anmerkungen zum GaddumEntwurf, Finanz-Rundschau 1986, 501; – Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung I und II, in Leffson/Rückle/Großfeld (Hrsg.), Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB, Köln 1986, S. 221; – Gemeinnützigkeitsabhängige Steuervergünstigungen, Ein Grundsatzthema zum Abbau von Steuersubventionen, Steuer und Wirtschaft 1987, 221; – Zur steuerlichen Förderung gemeinnütziger Körperschaften, DStZ 1988, 18; – Neuordnung der Vereinsbesteuerung? Zum Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeitsrechts, Steuerberater-Jahrbuch 1988/89, S. 215; – Steuerreform 1989/90, Mehr Steuergerechtigkeit, Stbg 1988, 216; – Abgrenzung betrieblicher Einkunftsarten zur privaten Vermögensverwaltung, StBKongrRep. 1988, S. 49; – Geleitwort zum 66. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1989, 1; – Reform der Unternehmensbesteuerung, Steuer und Wirtschaft 1989, 3; – § 10e EStG auf dem Prüfstand, Podiumsdiskussion, Protokoll des Deutschen Steuerberatertages 1988, Bonn 1989, S. 225; – Das Zinssteueramnestiegesetz, Finanz-Rundschau 1989, 349; – Verantwortung der Rechtswissenschaft für das Steuerrecht, Steuer und Wirtschaft 1989, 201; 1200

Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Geleitwort zum 67. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1990, 1; – Reform der Unternehmensbesteuerung auf dem Weg zum europäischen Binnenmarkt und zur deutschen Einheit, Steuer und Wirtschaft 1990, 107; – Staatliche Hilfen, in Evangelische Akademie Bad Boll, Kinder im Recht von morgen, Zur Reform des Kindschaftsrechts an der Schwelle des Jahres 2000, Tagung vom 27. bis 29.4.1990, Protokolldienst 28/90, Bad Boll 1990, S. 171; – Taxing Consumption from a legislative point of view, in M. Rose (Ed.), Heidelberg Congress on Taxing Consumption, Heidelberg 1990, S. 273; Deutsche Ausgabe: Besteuerung des Konsums aus gesetzgebungspolitischer Sicht, Versuch eines interdisziplinär juristisch-ökonomischen Lösungsansatzes, in M. Rose (Hrsg.), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, Heidelberg 1991, S. 291; – Verfassungsrechtliche Gewährleistung des Familienexistenzminimums im Steuer- und Kindergeldrecht, Zu den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 29.5.1990 und 12.6.1990, Steuer und Wirtschaft 1990, 331; – The Case for Taxing consumption, Revenue Law Journal (Federation Press, Sydney), 1990, p.186 ff.; 1991, p. 7 ff.; – Geleitwort zum 68. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1991, 1; – Heinrich Wilhelm Kruse sechzig Jahre, Steuer und Wirtschaft 1991, 205; – Klaus Tipke als Steuerrechtslehrer, Steuer und Wirtschaft 1991, 194; – Familienexistenzminimum und Steuerrecht, Recht der Jugend und des Bildungswesens, Sonderheft 4/1991, S. 395; – Reaktion der Finanzverwaltung auf mißliebige Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, Referat auf dem deutschen Richtertag 1991, Deutsche Richterzeitung 1992, 365/Steuer und Wirtschaft 1992, 14; italienisch: La reazione dell’amministrazione finanzierie tedesca a decisioni sfavorevoli della Corte Federale delle finanze, Rivista di Diritto Finanziario e Scienza delle Finanze, 1993, 368; – Geleitwort zum 69. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1992, 1; – Die persönliche Zurechnung von Einkünften bei Treuhandverhältnissen, Finanz-Rundschau 1992, 637 (Mitautor: R. Seer); – Der Einbau umweltpolitischer Belange in das Steuerrecht, in Breuer/ Kloepfer/Marburger/Schröder (Hrsg.), Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 7. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht vom 22. bis 24.9.1991, Heidelberg 1992, S. 55; – Familienpolitik durch das Bundesverfassungsgericht?, Die Situation der Familie zwischen Grundgesetz und Wirklichkeit, in Evangelische Akademie Bad Boll, Politik und Familie, Vor einer familienpolitischen Strukturreform des Sozialstaats?, Konsultation vom 13. bis 15.4.1992, Protokolldienst 20/94, Bad Boll 1992, S. 17; – Geleitwort zum 70. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1993, 1; 1201

Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Zur Subjektfähigkeit von Personengesellschaften im Einkommensteuerrecht, in Raupach/Uelner (Hrsg.), Festschrift für Ludwig Schmidt, München 1993, S. 291; – Einkommensteuer – quo vadis?, Finanz-Rundschau 1993, 661; – International Harmonization of Enterprise Taxation, International Symposium at the Keio University Tokyo to celebrate the centennial of the Faculty of Law in 1990; general topic: The Anticipated Legal Problems and the Role of the Science of Jurisprudence in the 21st Century, Keio Law Review 1993, p. 65; – Die Besteuerung der Drittmittelforschung, Betriebs-Berater 1993, 262/Steuer und Wirtschaft 1993, 47 (Mitautor: R. Seer); – Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht, in Paul Kirchhof (Hrsg.), Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG Band 15, Köln 1993, S. 115; – Das Standortsicherungsgesetz auf dem Prüfstand, Steuerberater-Jahrbuch 1993/94, Köln 1994, S. 9; – Geleitwort zum 71. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1994, 1; – Wege aus dem Steuerchaos, Die Steuerberatung 1994, 10, sowie: Protokoll des Deutschen Steuerberatertages 1993, Bonn 1994, S. 47; – Reform der Familienbesteuerung, in Kirchhof/Offerhaus (Hrsg.), Festschrift für Franz Klein, Köln 1994, S. 437; – Resümee, in Lang (Hrsg.), Besteuerung der Unternehmen in Staaten der Europäischen Union, DStJG Band 16, Köln 1994, S. 295; – Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung, in Bühler/Kirchhof/Klein (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Meyding, Heidelberg 1994, S. 33; – Zulässigkeit pauschaler Lohnkirchensteuer, Steuer und Wirtschaft 1994, 257 (Mitautor N. Lemaire); – I presupposti costituzionali dell’armonizzazione del diritto tributario in Europa, in Amatucci/Gonzáles García/Schick (Hrsg.), Trattato di Diritto Tributario, Padova 1994, p. 765; veröffentlicht auch der einbändigen Ausgabe: Padova 2001, und in spanischer Sprache: Los Presupuestos Constitucionales de la Armonización del Derecho Tributario en Europa, BogotáColombia 2001, p. 764; – Der Betriebsausgabenabzug im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes gemeinnütziger Körperschaften, Finanz-Rundschau 1994, 521 (Mitautor: R. Seer); – Die Bedeutung des Steuerrechts für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie, Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, München 1994, S. O 61; – Geleitwort zum 72. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1995, 1;

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Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Eröffnung, in Trzaskalik (Hrsg.), Der Rechtsschutz in Steuersachen, DStJG Band 18, Köln 1995, S. 1; – Unternehmenssteuerreform, in Elschen/Siegel/Wagner (Hrsg.), Festschrift für Dieter Schneider, Wiesbaden 1995, S. 400; – Die Ausfüllung von Lücken in Steuergesetzen, in Cagianut/Vallender (Hrsg.), Festschrift für Ernst Höhn, Bern 1995, S. 159; – Ökosteuern aus der Sicht der Rechtswissenschaft, in Institut für Finanzwissenschaft und Steuerrecht, Wien/Bundesministerium für Finanzen, Wien/ IFA Landesgruppe Österreich (Hrsg.), Ökosteuern, Nr. 183, Wien 1995, S. 1; – Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, in Lang (Hrsg.), Festschrift für Klaus Tipke, Köln 1995, S. 3; – Klaus Tipke zum 70. Geburtstag, NJW 1995, 2971; – Geleitwort zum 73. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1996, 1; – Klaus Vogel 65 Jahre, Steuer und Wirtschaft 1996, 67; – Vom Steuerchaos zu einem Steuersystem rechtlicher und wirtschaftlicher Vernunft, in Baron/Handschuch (Hrsg.), Wege aus dem Steuerchaos, Stuttgart 1996, S. 117; – Eröffnung, in Lehner (Hrsg.), Steuerrecht im Europäischen Binnenmarkt, DStJG Band 19, Köln 1996, S. 1; – Steuerabzugsverbote zum Schutze der Rechtsordnung, in Katholieke Universiteit Brabant (Hrsg.), Festschrift für Chris P. A. Geppaart, Kluwer Deventer 1996, S. 117; – Editorial zum 74. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1997, 1; – Einkünfteerzielungsabsicht bei Bauherrenmodellen mit Rückkaufsangeboten oder Verkaufsgarantien, Finanz-Rundschau 1997, 201; – Eröffnung, in Widmann (Hrsg.), Besteuerung der GmbH und ihrer Gesellschafter, DStJG Band 20, Köln 1997, S. 1; – Zur Rechtsreform des Steuerrechts, in Ziemske/Langheid/Wilms/Haverkate (Hrsg.), Festschrift für Martin Kriele, München 1997, S. 965; – Zum Tode von Günther Felix, Finanz-Rundschau 1997, 509; – Besteuerung in Europa zwischen Harmonisierung und Differenzierung, in Klein/Stihl/Wassermeyer/Piltz/Schaumburg (Hrsg.), Festschrift für Hans Flick, Köln 1997, S. 873; – Editorial zum 75. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1998, 1; – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetze, Die Wirtschaftsprüfung 1998, 163; – General Rules of Statute Interpretation in Germany, in Klaus Vogel (Hrsg.), Interpretation of Tax Law and Treaties and Transfer Pricing in Japan and Germany, Kluwer 1998, p. 59;

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Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Vertrieb von Gesellschaftsbeteiligungen durch freie Vermittlungsgesellschaften, Umsatzsteuer- Rundschau, 1998, 325; (Mitautor: R. Schmitz); – Ein Plädoyer gegen die Vermögensteuer, Gastkommentar in WertpapierMitteilungen 1998, 2516; – Eröffnung, in Fischer (Hrsg.), Steuervereinfachung, DStJG Band 21, Köln 1998, S. 1; – Editorial zum 76. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 1999, 1; – Konsumorientierung – eine Herausforderung für die Steuergesetzgebung?, in Smekal/Sendlhofer/Winner (Hrsg.), Einkommen versus Konsum – Ansatzpunkte zur Steuerreformdiskussion, Heidelberg 1999, S. 143; – Arbeitsrecht und Steuerrecht, in Recht der Arbeit, Heft 1–2/1999, Festheft zum 50-jährigen Bestehen von Recht der Arbeit, S. 64; – Eröffnung, in D. Birk (Hrsg.), Steuern auf Erbschaft und Vermögen, DStJG Band 22, Köln 1999, S. 1; – The Concept of a Tax Code, in M. Rose (Hrsg.), Tax Reform for Countries in Transition to Market Economies, Stuttgart 1999, S. 185; – Family Taxation in Germany, Chapter 4, in M. T. Soler Roch (Hrsg.), Family Taxation in Europe, The Hague-London-Boston 1999, S. 55; – Sachbezüge im Lohnsteuerrecht, in Festschrift für Klaus Offerhaus, Köln 1999, S. 433; – Zur Lage des Steuerrechts – Plädoyer für eine Rechtsreform, in Bitburger Gespräche – Jahrbuch 1997, München 1999, S. 1; – Steuergerechtigkeit nach deutschem und türkischem Verfassungsrecht, in Verfassung und Recht in Übersee, Baden-Baden 1999, S. 514 (Vortrag auf dem XIII. Türkischen Finanzkongreß im Mai 1998) – Editorial zum 77. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2000, 1; – Der praktische Fall – Steuerrecht: Lohnsteuer und Roulette, JuS 2000, 161; (Mitautorin: N. Bozza); – Wider Halbteilungsgrundsatz und BVerfG, NJW 2000, 457; – Notwendigkeit und Verwirklichung der Unternehmensteuerreform in der 14. Legislaturperiode, in Harzburger Steuerprotokoll 1999, Köln 2000, S. 33; – Eröffnung, in Pelka (Hrsg.), Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, DStJG Band 23, Köln 2000, S. 1; – Die Unternehmenssteuerreform – eine Reform pro GmbH, GmbHR 2000, 453; – Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, in K. Tipke/N. Bozza (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, Berlin 2000, S. 123; – Workshop zum Unternehmenssteuerrecht und zur Unternehmenssteuerreform, in Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 1999/2000, Herne/ Berlin 2000, S. 405 (Teilnehmer der Podiumsdiskussion); 1204

Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Jens Peter Meincke 65 Jahre, DStR 2000, 1797; – Vom Verbot der Erdrosselungssteuer zum Halbteilungsgrundsatz, in Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), Staaten und Steuern, Festschrift für Klaus Vogel, Heidelberg 2000, S. 173; – Editorial zum 78. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2001, 1; – 25 Jahre Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, NJW 2001, 497; – Vordenker der Steuergerechtigkeit. Klaus Tipke zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, Steuer und Wirtschaft 2001, 78; – Europa- und verfassungsrechtliche Maßstäbe für eine Besteuerung der Unternehmen, Jahrestagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, veröffentlicht in der Schriftenreihe „Rechtsstaat in der Bewährung“, Bd. 35, Heidelberg 2001, S. 13; – Zum Entstehen des russischen Steuerkodex, in Hofmann/Küpper (Hrsg.), Festschrift für Georg Brunner, Baden-Baden 2001, S. 297; – Die Einkommensteuer aus juristischer Sicht, in Kirchhof/Neumann (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Effizienz. Ökonomische und verfassungsrechtliche Grundlagen der Steuergesetzgebung, Bad Homburg 2001, S. 37; – Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in Drenseck/Seer (Hrsg.), Festschrift für Heinrich Wilhelm Kruse, Köln 2001, S. 313; – Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, in Ebling (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, DStJG Band 24, Köln 2001, S. 49; – Heinrich Wilhelm Kruse 70 Jahre, Steuer und Wirtschaft 2001, 201; – Editorial zum 79. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2002, 1; – Das Erbschaftsteuerrecht – ein gerechtes System?, in Evangelische Akademie Bad Boll, Erben und Vererben, Ethische, rechtliche, soziologische, politische und psychologische Aspekte eines aktuellen Themas, Tagung vom 8. bis 10.2.2002, Evangelischer Pressedienst, Dokumentation Nr. 33, Frankfurt 2002, S. 29; – Bericht über das Keiô-Cologne Seminar on the Taxation of Electronic Commerce; Keiô University, Tokyo, 28. und 29. März 2002, Zeitschrift für Japanisches Recht 2002, 295; – Editorial zum 80. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2003, 1; – Einfachheit und Gerechtigkeit der Besteuerung von investierten Einkommen, in Rose (Hrsg.), Integriertes Steuer- und Sozialsystem, Heidelberg 2003, S. 83; – Steuerrecht und „Transferausbeutung der Familie“, in Hessische Staatskanzlei (Hrsg.), Die Familienpolitik muß neue Wege gehen! Der „Wiesbadener Entwurf“ zur Familienpolitik, Referate und Diskussionsbeiträge, Wiesbaden 2003, S. 299;

1205

Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Konsumorientierte Besteuerung von Einkommen aus rechtlicher Sicht, in Ahlheim/Wenzel/Wiegard (Hrsg.), Festschrift für Manfred Rose, Berlin/ Heidelberg/New York 2003, S. 325; – Über die Schwierigkeiten der Anwendung von Steuergesetzen, in Evangelische Akademie Bad Boll, Im Namen des Volkes, Rechtsschutz durch Richter in Handelssachen und ehrenamtliche Finanzrichter sowie deren Kolleginnen, Tagung vom 4. bis 6.4.2003, Protokolldienst 16/03, Bad Boll 2003, S. 40; – Steuerrecht und Tatbestand der Steuerhinterziehung, zum 70. Geburtstag von Günter Kohlmann, Steuer und Wirtschaft 2003, 289; – Staatsloyalität kirchensteuerberechtigter Religionsgemeinschaften, in S. Muckel (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Rüfner, Berlin 2003, S. 497; – Editorial zum 81. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2004, 1; – Stärkung der Steuermoral durch Steuervereinfachung?, in Bizer/Falk/Lange, Am Staat vorbei, Transparenz, Fairness und Partizipation kontra Steuerhinterziehung, Berlin 2004, S. 91; – Editorial zum 82. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2005, 1; – The influence of Tax Principles on the Taxation of Income from Capital, in Essers/Rijkers (ed.), The Notion of Income from Capital, Amsterdam 2005, p. 31; – Gerechtigkeit und Einfachheit eines neuen Einkommensteuergesetzes, in Kirchhof/Lambsdorff/Pinkwart, Festschrift für Hermann Otto Solms, Berlin 2005, S. 89; – Grundzüge des Kölner Entwurfs eines Einkommensteuergesetzes, Deutsches Steuerrecht, Beihefter 1/2005 (Mitautoren: J. Englisch; T.Keß); – Klaus Tipke achtzig Jahre, Steuer und Wirtschaft 2005, 293; – Editorial zum 83. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2006, 1 – A European Legal Tax Order Based on Ability to Pay, in A. Amatucci (ed.), International Tax Law, Chapter IX, Kluwer Law International, Amsterdam 2006, p. 251 (Mitautor: J. Englisch); – Der Gordische Knoten einer Steuerreform für Unternehmen, in Universität Passau (Hrsg.), Mentale Blockaden reicher Volkswirtschaften, Schriftenreihe des Neuburger Gesprächskreises, Passau 2006, S. 11; – Die gleichheitsrechtliche Verwirklichung der Steuerrechtsordnung, Steuer und Wirtschaft 2006, 22; – Besteuerung von Einkommen, Aufgabe, Wirkungen und europäische Herausforderungen, Neue Juristische Wochenschrift 2006, 2209; – Unternehmenssteuerreform im Staatenwettbewerb, Betriebs-Berater 2006, 1769; – Editorial zum 84. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2007, 1; – Der Stellenwert des objektiven Nettoprinzips im deutschen Einkommensteuerrecht, Steuer und Wirtschaft 2007, 3. 1206

Schriftenverzeichnis Joachim Lang

– Familiensteuergerechtigkeit, in Ennuschat/Geerlings/Mann/Pielow, Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, Köln/München 2007, S. 553; – Steuerrecht, in Köhler/Küpper/Pfingsten (Hrsg.), Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Bd. I, 6. Aufl., Stuttgart 2007, S. 1687 (auch: Handelsblatt, Wirtschafts-Lexikon, Bd. 10, Stuttgart 2006, S. 5452); – A Pioneer of Academic Cooperation in Europe, in Liber Amicorum Frans Vanistendael, Knops Publishing, 2007; – Editorial zum 85. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2008, 1; – Kritik der Unternehmensteuerreform 2008, in Kirchhof/Nieskens (Hrsg.), Festschrift für Wolfram Reiss, Köln 2008, 379; – Das verfassungsrechtliche Scheitern der Erbschaft- und Schenkungsteuer, Steuer und Wirtschaft 2008, 189; – Editorial zum 86. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2009, 1; – Erbschaftsteuerreform, in DATEV magazin Nr. 2/2009, S. 25; – Einfaches und prinzipientreues Einkommensteuerrecht, steuertip Nr. 09/ 2009; – Steuergerechtigkeit und Globalisierung, in Spindler/Tipke/Rödder (Hrsg.), Festschrift für Harald Schaumburg, Köln 2009, 45; – Beirat für Steuergerechtigkeit, steuertip Nr. 22/2009; – Editorial zum 87. Jahrgang von Steuer und Wirtschaft, 2010, 1; – Steuerentlastungen ohne Steuerreform?, steuertip Nr. 03/2010; – Gleichheitswidrigkeit und gleichheitsrechtliche Ausgestaltung der erbschaftsteuerlichen Verschonung, Finanz-Rundschau 2010, 49; – Familiensteuergerechtigkeit, Standpunkte, in DER BETRIEB Nr. 5/2010; – Auf der Suche nach rechtsformneutraler Besteuerung der Unternehmen, in Kessler/Förster/Watrin (Hrsg.), Festschrift für Norbert Herzig, München 2010, 323; – Familiensteuergerechtigkeit versus Fiskalismus, steuertip Nr. 27/2010; – Steuerberatung und Steuergerechtigkeit, in K. Tipke (Hrsg.), Steuerberatung und Rechtsstaat, München 2010, S. 51; – Kapitalvermögen im Spannungsverhältnis der Steuerflucht zur Steuergerechtigkeit, in Burghard/Hadding/Mülbert/Nietsch/Weiter (Hrsg.), Festschrift für Uwe H. Schneider, Köln.2010; – Über die Unfähigkeit deutscher Politik zur Steuervereinfachung, in Mellinghoff/Schön/Viskorf, Festschrift für Wolfgang Spindler, Köln 2010 (im Druck); – Ability-to-pay-principle versus Benefit Principle in the International Tax Law, in Mauricio A. Plazas Vega (general coordinator), From the Financial Law to the Tax Law, Festschrift für Andrea Amatucci, Neapel 2011 (in Vorbereitung). 1207

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Stichwortverzeichnis Verfasserin: Dr. Monika Gabel

Abfärberegelung – Bundesverfassungsgericht 498 Abgeltungsteuer – Diskriminierung von Eigenkapitalfinanzierung 419 – Finanzierungsneutralität 358, 364, 407 – Kapitalstruktur 357 – Kritik 664 – objektives Nettoprinzip 665 – synthetische Einkommensteuer 656, 664 – Thesaurierungspolitik 357 Adam Smith – Besteuerungsmaximen 865 Äquivalenzprinzip – s. auch Nutzenprinzip – kommunale Gewinnsteuer 643 Analogie – Zulässigkeit im Steuerrecht 97 Arbeitseinkünfte – Verhältnis zu anderen Einkünften 346 Arbeitslohn – Begriff 478 – Beiträge zur Berufshaftpflichtversicherung 484 – Entlohnungsinteresse 482 – gemischt-veranlasste Reisen 479 – Kammerbeiträge 484 – Sachzuwendungen 483 – überwiegend eigenbetriebliches Interesse 482 – Unfallversicherung 485 Assekuranztheorie – als Rechtfertigung der Einkommensteuer 463 Aufteilung von Steuersubstrat – bei multinationalen Unternehmen 1150

– grenzüberschreitende Betriebsstättenstrukturen 1151, 1155 – grenzüberschreitende Konzernstrukturen 1153, 1157 – internationale Verteilungsgerechtigkeit im Umsatzsteuerrecht 866 – Prinzipien 863 Aufteilungsverbot – Aufgabe durch Großen Senat 481, 573, 589 – Erwägungen für Rechtsprechungsänderung 593 – gemischt-veranlasste Reisen 479, 570 – Inhalt 565 – Konsequenzen aus der Rechtsprechungsänderung 598 – Praktikabilität 596 – Rechtsprechungsentwicklung 590 – Veranlassungsbeiträge 566 – Veranlassungsprinzip 479 Aufwendungen, gemischte – s. auch Aufteilungsverbot – Aufteilungsmaßstab 575 – trennbare Aufteilung 569, 594 Ausbringung aus gewerblicher Personengesellschaft – einzelne Wirtschaftsgüter in Privatvermögen 685, 696 – Einzelwirtschaftsgüter in Betriebsvermögen 687 – Teilbetrieb, Betrieb und Mitunternehmeranteil 689 – Ungleichbehandlung zur Einbringung 692 Ausgleichsposten in Steuerbilanz des Organträgers – § 14 Abs. 4 KStG 2008 766 – Einlagenlösung 769 – Geschichte 757 1209

Stichwortverzeichnis

– Kritik 762 – Mehr- und Minderabführungen 767 – offene Fragen 771 – Problemstellung 756 – Rechtsprechung 761 – Transportfunktion 758 – Übergangsprobleme 776 Auslegung – Aufgabe der Gerichte 460 – Auslegungshilfe § 2 EStG 472 – economic analysis of law 939 – EStG 460 – europarechtskonforme Auslegung 1004, 1020 Ausscheiden gegen Sachwertabfindung – Abgrenzung zur Realteilung 709 – Historie der einkommensteuerlichen Behandlung 708 – Mitunternehmerschaft 706 – Unterschied zur Realteilung 715 Belastungsgrenze – Halbteilungsgrundsatz 273 – philosophisch-politische Aspekte 275 Beschränkte Steuerpflicht – Abgeltungswirkung 1111 – Bruttobesteuerung 1111 – Splittingtarif 1113 Besteuerungsfiktion – verdeckte Gewinnausschüttung 721 Besteuerungsgegenstand – Ermessensspielraum bei Auswahl 187, 240 Betriebsaufspaltung – geschäftsführender Personenkapitalgesellschafter 670 Betriebsausgaben – Kausalität 471 – Parteizuwendungen 337 Bewertung, erbschaftsteuerliche – Einzel- oder Gesamtbewertung 849 – Ertragswert oder Substanzwert 851 1210

– Ertragswertermittlung 855 – gemeiner Wert 850 – juristische und ökonomische Wertbegriffe 848 – Kritik an BVerfG-Entscheidung 858 – Nachhaltigkeitsprinzip 856 – Verkehrswert und Ertragswert 854 – Verkehrswertermittlung 853 – Zweistufenprüfung des BVerfG 845 BilMoG – Rücklagenbildung 749 Bosal – effects on financing 625 Bundesverfassungsgericht – gesetzgeberische Freiheiten 49 – gesetzgeberische Schranken 49 – pro-futuro-Rechtsprechung 968 capital gains – taxation 118 Cashflow-Steuer – Zinsbesteuerung 355 CCCTB – APA 1068 – formelhafte Gewinnaufteilung 1075 – Funktionsweise 1058 – und IFRS 631 – individuelle Leistungsfähigkeit 1062 – Pooling von Geschäftsvorfällen 1074 – Praktikabilität der Gewinnabgrenzung 1064 – Stand des Projektes 1060 – Überblick 1161 – Verlustverrechnung 1070 – Vermeidung von Doppelbesteuerung 1061 – Verrechnungspreise 1067, 1072 – Zwischengewinne 1071 – zwischenstaatliche Verteilungsgerechtigkeit 1063 CFC-Regeln – künstliche Gestaltungen 1017

Stichwortverzeichnis

CLT-UFA – Inhalt 1025 corporate income tax – in tax system 116 Demokratieprinzip – und Leistungsfähigkeitsprinzip in Italien 1088 Dividendenbesteuerung – Abgeltungsteuer 405, 415 – Halbeinkünfteverfahren 405, 415 – Teileinkünfteverfahren 406, 415 – Vollanrechnungsverfahren 405 Doppelbesteuerungsabkommen – abkommensautonome Auslegung 1135 – Besteuerungshoheit 1134 – europarechtliche Beseitigungspflicht von Doppelbesteuerung 1140 – Grundfreiheiten 1141 – internationales Privatrecht 1138 – Rechtscharakter 1132 – sekundäres Gemeinschaftsrecht 1143 – treaty override 1136 – Verhältnis zum Verfassungsrecht und zum nationalen Recht 1133 – Verlustberücksichtigung 1142 – völkerrechtliche Verträge 1132 – Zustandekommen nach dem Grundgesetz 1132 Economic Analysis of Law – Ausblick 961 – Effizienz 957 – Entwicklung in USA 939 – Formalismus 955 – integralistische Schule in Italien 949 – intermediäre Konzeption 955 – Methodologie 954 – Neuverteilungsgerechtigkeit 957 – Realismus in USA und Schweden 952 – substantielle Schule in Italien 949

– wirtschaftliche Betrachtungsweise 947 Effektivität – Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung 1170 – und italienisches Leistungsfähigkeitsprinzip 1091 Effizienz – economic analysis of law 957 – Umverteilungsgerechtigkeit 959 Eigentumsgarantie – Besteuerungsgrenze 270, 456, 458 – Halbteilungsgrundsatz 273 – konfiskatorische Besteuerung 265, 456 – und Leistungsfähigkeitsprinzip 263, 266, 269 – Sollbesteuerung 459 Einbringung in gewerbliche Personengesellschaft – einzelne Wirtschaftsgüter aus Privatvermögen 685, 696 – Einzelwirtschaftsgüter aus Betriebsvermögen 687 – Teilbetrieb, Betrieb und Mitunternehmeranteil 689 – Ungleichbehandlung zu Ausbringung 692 Einheit der Steuerrechtsordnung – und Widersprüche 43 Einkunftsarten – Kritik 655 Einspruch – einheitliches Verfahren im Steuerrecht 996 Entscheidungsneutralität – der Gewinnbesteuerung 642 Erbschaft- und Schenkungsteuer – s. auch Schenkungen – politische Parteien 339 – Verfassungsmäßigkeit 209, 965, 976 Ertragsteuerrecht – Qualität 654 Erwerbseinkommen – Abgrenzung Privatsphäre 474 – Eigenverbrauchseinkommen 466 1211

Stichwortverzeichnis

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Erwerbserfolg 468, 471 Erwerbsgrundlage 464 Erwerbsnutzung 465 gegenwartsnahe Besteuerung 475 in Rechtsgemeinschaft erworbene Leistungsfähigkeit 463 – Welteinkommensprinzip 474 EuGH – Abbau steuerlicher Verzerrungen 1043 – Bindung an Urteile 1004 – Wettbewerbsverzerrungen 1044 Europarecht – s. Gemeinschaftsrecht Existenzminimum – Eigentumsgarantie 267 – Krankenversicherungsbeiträge 550 – Leistungsfähigkeitsprinzip 267 – sächliches Existenzminimum 551 – sozialhilferechtliches Existenzminimum 553 – Subsidiaritätsgedanke 550 – Typisierung 551 – Umsatzsteuer 871 Finanzbedarf – Rückwirkung 233 Finanzierungsneutralität – Abgeltungsteuer 358, 364 – Gewerbesteuer 421 – und Rechtsformneutralität 420 Finanz- und Wirtschaftskrise – Krisenverschärfung durch Unternehmensteuerreform 2008 412 Folgerichtigkeit – als Gerechtigkeitskriterium 174, 455 – als Rechts- oder Wertungslogik 39 – als Verfassungsgebot 167 – Ausgestaltung der Abweichungen vom Verteilungsmaßstab 210 – bei besonderen Gleichheitssätzen 209 – Ein- und Ausbringung 692 – europarechtliches Folgerichtigkeitsgebot 217 1212

– Festlegung des maßstabsrelevanten Regelungsbereichs 184, 252 – und gesetzgeberische Handlungsspielräume 177 – und Leistungsfähigkeitsprinzip 40 – Leitprinzipien 182 – mehrdimensionaler Charakter 170 – Rechtfertigungsanforderungen bei Durchbrechung 195 – Rückstellungen 250, 260 – Steuerberatungskosten, private 610 – Steuervergünstigungen 206, 215 – Subprinzipien 182 – Systemwechsel 192 – Verbot substantieller Aushöhlung des sachgerechten Verteilungsprinzips 208 Forschung – und Gemeinnützigkeitsrecht 290 freie Berufe – Abgrenzung zu gewerblicher Tätigkeit 505 – Besteuerung in Historie 494 – doppelstöckige Freiberufler-GbR mit berufsfremdem Gesellschafter 504 – Freiberufler-Personengesellschaft 499 – interprofessionelle FreiberuflerGbR 503 – rechtfertigungsbedürftige Belastungsunterschiede zu Gewerbetreibenden 491 – Rechtsanwälte als Berufsbetreuer 507 – Rechtsanwälte als Insolvenzverwalter 509 – Reformbedarf 494 – Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Gewerbesteuerfreiheit 497 – Vorlagebeschlüsse des Niedersächsischen FG 496 Freiheitsrechte – bei fehlender Folgerichtigkeit 455 – freiheitsgerechte Steuer 456

Stichwortverzeichnis

– freiheitsgerechte Zugriffsstellen 459 – gemeinnützigkeitsfundierte Steuererleichterungen 317 – und steuerliche Förderung politischer Parteien 327 Fremdvergleich – Praktikabilität 1126 – verdeckte Gewinnausschüttung 720 – Verrechnungspreise 1122 GAAP, national – und IFRS 632 Gebot der Folgerichtigkeit – s. Folgerichtigkeit Gebot der Widerspruchsfreiheit – s. Widerspruchsfreiheit Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht – Ausschließlichkeitsgebot 310 – Breitensport 285 – Dritter Sektor 303 – „europäische Allgemeinheit“ 287 – Europäisierung 290 – finanzielle Gemeinwohlförderung 310 – Förderung der Allgemeinheit 284, 286 – Individual- und Gruppennützigkeit 284 – Mittelbeschaffungskörperschaften 291 – und Parteien 323 – Spendenhaftung 337 – Steuervergünstigungen 282, 306, 312 – Substitutionsthese 283, 306, 311, 326 – transnationale Förderziele 286 – unabhängige Sachverständigenkommission 1987 281 – Wettbewerbsklausel 292 – Zweckbetrieb 292 Gemeinschaftsrecht – Anwendungsvorrang 876, 1003 – Folgerichtigkeitsgebot 217

– Gemeinnützigkeit 289 – gemeinsame steuerrechtliche Grundsätze 1080 – Grundsatz der Gleichbehandlung 887 – Konformität mit Grundfreiheiten 1004 – Prüfungsbefugnis des BVerfG 876 – Steuerumgehung 1031 Gemeinschaftsrechtskonformität – Absicht des Gesetzgebers 1008 – Einschränkungsbedürfnis nationaler Rechtsvorschriften 1017 – geringstmöglicher Eingriff 1010 – Kriterien zur Lösungsfindung 1008 – mehrere Handlungsspielräume 1004 – Nichtanwendung einzelner Tatbestandsmerkmale 1013 – passende Rechtsfolge 1018 – regelungsbedürftige Sachverhalte 1016 – verfassungsrechtliche Vorgaben 1011 Gemeinwohl – bürgerschaftliches Engagement 296 – Rechtsmethodik 957 – s. auch Gemeinnützigkeitsrecht Geprägetheorie 79 Gerechtigkeit – allgemeine Steuergerechtigkeitsgrundsätze in Italien 1084 – europäische Steuerrechtsgrundsätze 1080 – flat tax 377 – Gerechtigkeitsordnung 27 – durch Prinzipien 27, 30 – im römischen Reich 375 – in der Zeit 251 – Rechtsschutz 965 – Umsatzsteuer 861 – und Folgerichtigkeit 174 – und Gleichheit 31 – Verteilungsgerechtigkeit 30 1213

Stichwortverzeichnis

Gesetzesentwürfe – Entwurf eines Steuergesetzbuchs 23 – Musterentwurf für die osteuropäischen Staaten 392 Gesetzeskontrolle – und Gesetzgebung 52 Gesetzgebung – Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung 404 – europarechtskonforme Gesetzgebung 1005 – Konjunkturpaket I 404 – durch Prinzipien 27, 30 – und Prinzipien 93 – und Theoriebildung 70 – ohne Wissenschaft 44 Gewaltenteilung – Nichtanwendungserlass 934, 935 – zwischen Gesetzgebung und Judikative 461 Gewerbesteuer – s. auch Hinzurechnung – s. auch Kommunalfinanzen – Anrechnung bei Personenunternehmen 432, 443, 444 – Bemessungsgrundlage 786 – Definitivcharakter 403, 411 – Doppelbelastung 443 – historische, überholte Belastungsentscheidung 441 – Objektsteuer 441 – Rechtfertigung durch Äquivalenz 442 – Reform 372, 421, 430, 494 – Stetigkeit 783, 787 – Substanzbesteuerung 403, 444, 783 – Territorialität 785 – Unterschied zur Einkommensteuer/Körperschaftsteuer 784 – Unzulänglichkeiten 441 – verfassungsrechtlicher Bestandsschutz 444 Gewinnbesteuerung – kommunale Gewinnsteuer 643 – Rechtsformneutralität 646 – Steuerwettbewerb 645 1214

– transparente Besteuerung 648 – Zinsbereinigung 643, 646 Gewinnrücklage nach § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 KStG – Auflösung von Rücklagen 747 – Normzweck 736 – Rücklage nach BilMoG-Übergangsvorschriften 749 – Sanktion bei Verstößen 736 – tatbestandlich erfasste Gewinnrücklagen 742 – Tatbestandsvoraussetzungen des § 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 KStG 738 – Umstrukturierungserträge zur Rücklagenbildung 748 – vernünftige kaufmännische Beurteilung 745 Gilly – DBA 1141 Gleichheit – Beschränkung des Widerspruchverfahrens 986 – und Gerechtigkeit 31 – Neutralität im Umsatzsteuerrecht 886 – Sachgerechtigkeit 453 – Steuerberatungskosten, private 610 – Verrechnungspreise 1120 Grundfreiheiten – ausländische Verluste 1109 – DBA 1141 – Durchsetzung 1004 – Lizenzgebühren 1113 – Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz 1104 Grundsteuer – Aktualisierung und Vereinfachung 429 – Einheitswerte 428 – gruppenmäßige Äquivalenz 428 – Rechtfertigung 244 Häusliches Arbeitszimmer – pro-futuro-Entscheidung 975 Halbteilungsgrundsatz – Besteuerungsgrenze 273

Stichwortverzeichnis

Hinzurechnung – Finanzierungsentgelte 403, 786 – Immobilienmieten 404, 444 – objektives Nettoprinzip 784 – Überarbeitungsbedarf 418 – Verstetigungseffekt bei Finanzierungsaufwand 783, 787 IFRS – Historie 628 – kontinentaleuropäische Rechnungslegung 629 Imparitätsprinzip – Stärkung 418 – Überpreis 808 – Verlustabzug 401 – Verlustvorsorge, bilanzielle 401 income tax systems – development in the structure 112 – global systems 117 – schedular systems 117 Insolvenz – Umsatzsteuerhinterziehung 900 Jubiläumsrückstellungen – Bundesverfassungsgerichtsentscheidung 203, 247, 257 Jundt – Inhalt 1023 Kapitaleinkünfte – Besteuerung in Europa 352 – Defizite bei Besteuerung 351 – festverzinsliche Wertpapiere 407 – nachgelagerte Besteuerung 354 – Reformbedürftigkeit 349 – Überlegungen de lege ferenda 354 Kapitalverkehrsfreiheit – und Sonderausgabenabzug für Spenden 287 Kölner Schule – Prinzipien 83 Körperschaftsteuerminderungspotential – Bundesverfassungsgerichtsentscheidung 261

Kommunalfinanzen – aktuelle Krise 423 – Finanzausgleich 427 – Gemeindewirtschaftsteuer 384 – gruppenmäßige Äquivalenz 427 – Kommission „Steuergesetzbuch“ 388 – kommunale Bürgersteuer 428, 435, 644 – kommunale Gewinnsteuer 643 – kommunale Unternehmensteuer 421, 782 – Konjunkturabhängigkeit 427 – Reform in Österreich 495 – Verrechnungsmodell 432 – Vier-Säulen-Modell 162, 373, 434, 447, 493, 782 – Wertschöpfungsteuer 432 – Zwei-Säulen-Modell 446 Kontinuität – und Leistungsfähigkeitsprinzip 43 Kontinuitätsprinzip – Realteilung 700 Krisenverschärfung – ertragsunabhängige Besteuerungselemente 414 – Unternehmensteuerreform 2008 412 Lankhorst-Hohorst – Inhalt 1046 – ökonomische Analyse auf steuerliche Verzerrungen 1046 – Reaktionen der Mitgliedstaaten 1055 Laudatio 1 Leistungsfähigkeitsprinzip – CCCTB 1062 – und Demokratieprinzip in Italien 1088 – und Eigentumsgarantie 263, 266, 269 – Erwerbseinkommen 462 – gewinnunabhängige Komponenten bei Gewerbesteuer 431, 446 – im niederländischen Unternehmensteuerrecht 620 1215

Stichwortverzeichnis

– in Italien 1084, 1087, 1093 – Inhalt 239 – Konkretisierung durch Rechts- oder Wertungslogik 35 – Konsumleistungsfähigkeit 878 – und Nutzenprinzip 868 – Rechtfertigung der Einkommensteuer 462 – und Solidarpflicht 1086 – Steuergerechtigkeitsmaßstab 32, 173, 189 – tertium comparationis 1086 – Umsatzsteuer 864 – Verallgemeinerungsgebot 35 – Vergleichsmaßstab 33 – Wertprinzip von Dauer 43 Lenkungsnorm – Steuerberatungskosten als Sonderausgaben 609 – Umsatzsteuerrecht 880 Lizenzgebühren – beschränkte Steuerpflicht 1112 Mantelkaufregelung – Änderungen durch Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung 404 – Konzernklausel 414 – und objektives Nettoprinzip 401 – Sanierungsklausel 414 Marks & Spencer – Inhalt 1016 Maßgeblichkeit – modifizierte Maßgeblichkeit 418 – Rückstellungen 250 Methodenlehre – für Steuergesetze 23, 954 Mindestbesteuerung – Überarbeitungsbedarf 418 – und objektives Nettoprinzip 401 Missbrauch – s. Steuerumgehung Mitunternehmerschaft – s. auch Personenunternehmerbesteuerung – Arbeitnehmer-Kommanditist 662 1216

– Ausscheiden gegen Sachwertabfindung 706 – Buchwertabfindungsklauseln 662 – Familienpersonengesellschaft 662 – Typusbegriff 661 Mutter-Tochter-Richtlinie – DBA 1144 Nettoprinzip – s. objektives Nettoprinzip und subjektives Nettoprinzip Neutralitätsprinzip – Berichtigung von Rechnungen 916 – Gleichbehandlung 886 – Umsatzsteuer 886 Nichtanwendungserlass – Einzelfälle 929 – kritische Würdigung 932 – Literaturäußerungen 930 – Praxis der Finanzverwaltung 927 Niederlassungsfreiheit – private Steuerberatungskosten 605 Nutzenprinzip – allgemeine Steuerrechtfertigung 142, 866 – und Ausgestaltung von Steuern 146 – bei indirekten Steuern und Verbrauchsteuern 155 – bei Kommunalsteuern 151 – bei Unternehmensbesteuerung 150 – beschränkte und unbeschränkte Steuerpflicht 867 – „Generalsteuern“ und „Sondersteuern“ 147 – im rechtswissenschaftlichen Schrifttum 141 – in der Einkommensteuer 149 – in Finanzwissenschaft 135 – in Rechtsprechung 138 – Individual- und Gruppenäquivalenz 136 – Inhalt 135, 862 – Kosten- und Nutzenäquivalenz 137

Stichwortverzeichnis

– Rechtfertigung einzelner Steuerarten 143 – und territoriale Abgrenzung der Steuerjurisdiktionen 158 – Verhältnis zum Leistungsfähigkeitsprinzip 163, 862, 868 Objektives Nettoprinzip – Abgeltungsteuer 665 – Abgeltungswirkung bei beschränkt Steuerpflichtigen 1111 – Abzugsverbote im Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz 1102 – Aufteilungs- und Abzugsverbot 586, 593 – ausländische Betriebsstättenverluste 1107 – und Fiskalinteressen 1099 – Geltungsgrund 563 – gemischte Aufwendungen 565, 567, 594 – Hinzurechnungen, gewerbesteuerlich 784 – Leistungsfähigkeitsprinzip 563 – Mantelkaufregelung 401 – Mindestbesteuerung 401 – Steuerausländer mit inländischen Einkünften 1110 – Steuerinländer mit ausländischen Einkünften 1101 – Unterprinzip des Leistungsfähigkeitsprinzips 246 – verfassungsrechtliche Fundierung 247, 576, 582, 1100 – Verlustausgleichsbeschränkungen 1105 – und Welteinkommensprinzip 1101 – zurückhaltende Judikatur des Bundesverfassungsgerichts 245 Organschaft, körperschaftsteuerliche – besondere Ausgleichsposten in Steuerbilanz des Organträgers 755 – Gewinnrücklage 735 Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung

– asiatisches Musterabkommen 1188 – Begriff des Sitzes 1168 – Begriffsursprung 1172 – Entscheidung Calcutta Jute Mills Company 1178 – Entscheidung Cesena Sulphur Company Limited 1180 – Erfordernis der Effektivität 1170 – „place of effective management“ nach OECD-MA 1186, 1191 – Vergleich mit Ansässigkeitskriterien natürlicher Personen 1190 Parteien, politische – Anforderungen an Satzung und tatsächliche Geschäftsführung 327 – Betriebsausgabenabzug bei Parteizuwendungen 337 – Erbschaft- und Schenkungsteuer 339 – Körperschaftsteuerbefreiung 332 – Parteizuwendungen 335 – partielle Steuerpflicht 332 – Rechtfertigung der steuerlichen Förderung 325 – Rechtsentwicklung der Besteuerung 322 – Sonderausgaben bei Parteizuwendungen 335 – Steuerabzug bei Einkünften aus Kapitalvermögen 334 – steuerliche Förderung 323 – Steuerstatus 321 – steuersystematische Einordnung der Vergünstigungen 324 – Tarifermäßigung bei Parteizuwendungen 336 – Umsatzbesteuerung 340 – Verbot der mittelbaren Parteienfinanzierung 338 – verfassungsrechtliche Grenzen der steuerlichen Förderung 327 – Vermögensverwaltung 334 – Zweckbetrieb 333 1217

Stichwortverzeichnis

Pendlerpauschale 51, 192 per country limitation – Verlustausgleichsbeschränkung 1105 Persche 287, 1019 Personenunternehmerbesteuerung – Arbeitnehmerbild des geschäftsführenden Personenkapitalgesellschafters 669 – Mitunternehmerbild des Personengesellschafters 661 – Personenkapitalgesellschafter 663, 677 – Rechtsformabhängigkeit der Besteuerung 658 – Rechtslage in Österreich 671 – Rechtswirklichkeit der Personenunternehmen 656 – Selbständigkeit des GesellschafterGeschäftsführers 674 – sozialversicherungsrechtliche Aspekte 673 – Umfang gewerblicher Einkünfte 679 Praktikabilität – Aufteilung von gemischt veranlassten Aufwendungen 596 principles of tax justice – budgetary principle 103 – distribution according to need 107, 124 – new mix of principles 129 – principle of ability to pay 104, 127 – principle of equality 104, 127 – principle of public benefit 104 – principle of redistribution of income 106, 124, 131 – principle of social merit or utility 107 – proportional and progressive tax rate 130 – robustness of the tax system 130 – special rates for special circumstances 131 – total exemption of subsistence income 130 1218

Prinzipien – Begriff 91 – und Chaos 84 – im Einkommensteuerrecht 460 – und Gesetzgebung 93 – im italienischen Recht als Grundlage für Europa 1097 – Kölner Schule 83 – Natur 87 – Stufen der Prinzipienbildung 460 – und System 27, 452 Privatsphäre – Abgrenzung Erwerbseinkommen 474 Progressionsvorbehalt – und § 2a EStG Realisationsprinzip – gegenwartsnahe Besteuerung 476 Realteilung – Begriff 700 – Historie der einkommensteuerlichen Behandlung 701 – Kontinuitätsprinzip 700 – Sperrfrist 705 – Unterschied zu Sachwertabfindung 715 Recht – und Gerechtigkeit 27 Rechtsanwendung – Nichtanwendungserlass 934 – und Prinzipien 97 – und Wissenschaft 47 Rechtsbehelf – s. Rechtsschutz Rechtsformneutralität – Allgemeine Unternehmensteuer 419 – Gewerbesteuer 421, 443 – Gewinnbesteuerung 646 – Rechtfertigung einer fehlenden Rechtsformneutralität 244 – rechtsformunabhängige Unternehmensteuer 659 – Rechtsformwahl 616 – Thesaurierungsneutralität 420 – und Finanzierungsneutralität 420

Stichwortverzeichnis

– Vergleichsbetrachtung: Kapitalgesellschaft/Personengesellschaft 659 Rechtskraftwirkung – Nichtanwendungserlass 932 Rechts- oder Wertungslogik – Gleichheitssatz 32 – Folgerichtigkeit 39 – Verallgemeinerung 35 – Widerspruchsfreiheit 41 – Wissenschaftskriterien 32 Rechtsprechung – und Theoriebildung 71 Rechtsschutz – Effektivität 994 – einheitliches Einspruchsverfahren im Steuerrecht 996 – Einspruchs- und Widerspruchsverfahren 984 – europäischer Rechtsschutz 969 – Finanzrechtsweg und Verwaltungsrechtsweg 983 – Kritik an Beschränkung des Widerspruchsverfahrens 992 – pro-futuro- Rechtsprechung des BVerfG 968 – verfassungswidrige Steuergesetze 965 – vorläufiger Rechtsschutz 970 Rechtsschutzgarantie – allgemein 987 – Beschränkung des Widerspruchsverfahrens 987 – im Steuerrecht 990 – Vorverfahren 988 Rechtsstaatsprinzip – gemeinwohlorientierte Steuersubventionen 317 – Nichtanwendungserlass 933 – pro-futuro-Rechtsprechung 968 – Rückwirkung 223 Rechtswissenschaft – durch Systemrationalität 26 – Wissenschaftlichkeit 24 Reformbedürftigkeit – Arbeitseinkünfte 346

– einfaches und verständliches Steuerrecht 371 – freie Berufe 494 – Gewerbesteuer 372, 423, 439, 445 – „großer Wurf“ 376 – Kapitaleinkünfte 349 – Notwendigkeit einer Steuerstrukturreform 367 – Spitzensteuersatz 367 – Unternehmensbesteuerung auf europäischer Ebene 1057 Reformvorschläge – Allgemeine Unternehmensteuer 419 – Duale Einkommensteuer 419, 421 – Elicker 369 – Heidelberger Steuerkreis 369 – Karlsruher Entwurf 369 – Kölner Entwurf 370, 388 – Kommission „Steuergesetzbuch“ 382, 393, 493 – Mitschke-Entwurf 369 – Umsatzsteuergesetzbuch 893 Regelbeispiele – Mitunternehmerschaft 661 Regeln – und System 29 Rentenbesteuerung – Alterseinkünftegesetz 394 – nachgelagerte Besteuerung 356 Rückstellungen – als Schulden der Periode 249 – Gerechtigkeit in der Zeit 251 – Natur 257 – Rechtfertigung im Verhältnis zu Überschusseinkünften 250, 259 – Verbindlichkeitsrückstellungen und Verlustrückstellungen 258 Rückwirkung – Ankündigungseffekt 232 – bei fehlerhaftem Gesetz unterhalb der Verfassungswidrigkeit 226 – echte und unechte Rückwirkung 223, 224 – Finanzbedarf des Staates 233 – Gemeinwohl als Rechtfertigungsgrund 232 1219

Stichwortverzeichnis

– – – –

klarstellende Gesetze 225 Rechtsstaatsprinzip 223 Steuergerechtigkeit 232 unklare und verworrene Rechtslage 227 – Vertrauensschutz 225 – Vorhersehbarkeit der Gesetzesänderung 229 – Wiedereinsetzung einer früheren Rechtsprechung 230 Schenkungen, steuerfreie – Entlastung durch Steuerübernahme 830, 837, 839 – Entlastung durch Zahlung auf die eigene Steuerschuld 831 – Entlastung durch Zuwendung des Steuerbetrages 829 – Inanspruchnahme des Schenkers bei Zusage der Steuerübernahme 833 – Wege zur Entlastung des Beschenkten 825 – zivilrechtliche Anforderungen an die Zusage der Steuerübernahme 835 – zivilrechtlicher Hintergrund der Entlastung 826 Schulgeld – Grundfreiheiten 1015 Schumacker – DBA 1141 Scorpio – Inhalt 1017 Selbständigkeitsprinzip – Gewinnzurechnung bei Betriebsstätten 1151 Selbstverwaltung, kommunale – Beschränkung 426 – Bestimmung der Steuerhöhe 445 – Gebot der Stetigkeit 427 – und Gewerbesteuer 495 Sonderausgaben – Parteizuwendungen 335 – Steuerberatungskosten 601 Sperrfrist – Realteilung 705 1220

– Sachwertabfindung 699 Spitzensteuersatz – Reformbedürftigkeit 367 Splitting – beschränkt Steuerpflichtige 1113 Stauffer – Inhalt 1023 Steuerbelastung, effektive – European Tax Analyzer 407 – Kapitalgesellschaften 407 – Kapitalgesellschaften unter Einbeziehung der Anteilseigner 414 Steuerberatungskosten, private – Lenkungsnorm 609 – Rechtsentwicklung des Abzugs 603 – rechtspolitische Beurteilung des Abzugsverbots 612 – Sonderausgabenabzug 601 – und Gebührenpflicht für verbindliche Auskünfte 611 – Verfassungsmäßigkeit des Abzugsverbots 601, 607 – zwangsläufiger, pflichtbestimmter Aufwand 608 Steuerfindungsrecht 49 Steuergesetzgebung – s. Gesetzgebung Steuerhinterziehung – Insolvenz 900 – Umsatzsteuerbetrug 897 Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz – Abzugsverbote 1102 – Mitwirkungs- und Aufzeichnungspflichten 1102 – objektives Nettoprinzip 1103 Steuerrechtfertigung – Theorie 67 Steuerrechtsprechung – s. Rechtsprechung Steuerrechtsverwaltung – s. Verwaltung Steuerreform – s. auch Reformbedürftigkeit – Erzberger’sche Reformen 377, 394 – im Ausland 379

Stichwortverzeichnis

– Reformhindernisse 379 – Unternehmensteuerreform 392, 399 Steuerstaat – und Gemeinnützigkeitsrecht 306 Steuerumgehung – allgemeines Prinzip im italienischen Recht 1095 – Ausfuhrlieferungen 1082 – Außentheorie 77 – und Einkünftezurechnung 472 – EuGH-Formel 1031 – im spanischen Recht 1035 – im Umsatzsteuerrecht 1081 – Innentheorie 77 – Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz 1104 – „wholly artificial arrangements“ 1017, 1032 Steuervereinfachung – s. Vereinfachung Steuervergünstigungen – Folgerichtigkeit 206, 216 – im Gemeinnützigkeitsrecht 282, 306, 312 – im italienischen Recht 1095 – und Parteien 323 Steuerwettbewerb, internationaler – Besteuerung von Unternehmensgewinnen 645 – Nutzenprinzip 863 – Unternehmensteuertarif 399 Steuerwettbewerb, kommunaler 445 Stiftung Marktwirtschaft – Allgemeine Unternehmensteuer 419 – Kommission „Steuergesetzbuch“ 383, 393, 493 – „magisches Viereck“ 388 subjektives Leistungsfähigkeitsprinzip – Umsatzsteuer 871 subjektives Nettoprinzip – Abzugsverbot für private Steuerberatungskosten 601, 607 – Verfassungsrang 550, 564 – Vorsorgeaufwendungen 551

Substanzbesteuerung – Abschaffung Substanzsteuern 399 – direkte 411 – Gewerbesteuer 403 – indirekte 400 – Investitionsverhalten 400 Substitutionsthese – im Gemeinnützigkeitsrecht 283 synthetische Einkommensteuer – Abgeltungsteuer 656 System – äußeres System 28 – Aufteilungs- und Abzugsgebot 587 – Gerechtigkeit 30, 375 – im römischen Reich 375 – inneres System 28 – Prinzipien 27, 29 – Regeln 29 – Steuerarten 470 – Systemrationalität 26 Systemwechsel – und Folgerichtigkeit 192 Tarifermäßigung – Parteizuwendungen 336 tax avoidance – s. Steuerumgehung tax burdens – role of tax base 115 tax mix – and distribution of tax burdens 111 – trends 108 tax revenue – in relation to GDP 108 – trends 108 tax system – development since 1989 122 – impact of social security 120 – position of corporate income tax 116 taxation of enterprises – comparison to private persons 617 – financing: debt and equity 624 – fiscal vs. financial profit accounting 628 – legal form 616 1221

Stichwortverzeichnis

– reorganising businesses 634 – S-H-S concept 617 – unincorporated and incorporated enterprises 619 taxation of owner-occupied housing – casualty loss rules 524 – deduction for home mortgage interest 519 – deduction for state real property taxes on owner-occupied housing 522 – gains realized upon sale 517 – insurance proceeds 526 – insured losses 525 – losses: market vs. casualty/disaster 523 – municipal bond interest 525 – real property taxes 535 – statutory rules 520 – tax computation 534 taxation of rental housing – depreciation of residential rental property 527 – depreciation recapture 527 – expenses connected with the rental of a house 529 – gains and losses on the sale of rental housing property 526 – home offices 528 – Low Income Housing Tax Credit 530 taxation of residential housing – effects of tax rules 539 – president’s advisory panel 2005 541 – reform and policy issues 537, 540 – revenue losses 538 Teilwertabschreibung – Überpreis 807 Territorialitätsprinzip – Doppelbesteuerungsrecht 1134 – genuine link 1134 – negative Einkünfte 1105 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation – Inhalt 1027 1222

Theorien im Steuerrecht – Anwender 69 – Arten 65 – Funktionen 63 – Gefahren 74 – Kodifikation 79 – Leistungsfähigkeit 74 – normverdeckende Theorien 77 – normverzeichnende Theorien 74 – und Praxis 81 – Schöpfer 69 – simplifizierende Theorien 74 – und Steuergesetzgebung 70 – und Steuerrechtsprechung und -verwaltung 71 – telosverdeckende Theorien 75 – Theoriebegriff 61 – Theorienebenen 66 – Theorienvielfalt 58 Transparente Besteuerung 648, 661 treaty override – DBA 1136 – Verfassungswidrigkeit 1137 Trennungsprinzip – Körperschaftsteuerrecht 659 – Rechtsfolgenkongruenz bei verdeckter Gewinnausschüttung 732 Typisierung – Bewertung des § 2a EStG – Existenzminimum 551 – im italienischen Recht 1091 Typusbegriff – Mitunternehmer 661 Überpreis – als Betriebsausgabe 810 – als Fehlmaßnahme 820 – aus privater Veranlassung 809 – Begriff 808 – Bilanzansatz 807 – Imparitätsprinzip 808 – und Preisverfall 816 – Teilwertabschreibung 807, 815 – Teilwertvermutung 812 – Vorsichtsprinzip 808 – Widerlegung Teilwertvermutung 814

Stichwortverzeichnis

Übertragung von Wirtschaftsgütern – zwischen Schwestergesellschaften 694 Umsatzsteuer – Allphasensteuer 898 – Berichtigung von Rechnungen 915 – ermäßigte Steuersätze 874 – europa- und verfassungsrechtliche Vorgaben 874 – und Gerechtigkeit 861, 865 – internationale Verteilungsgerechtigkeit 866 – Leistungsfähigkeitsprinzip 864, 878 – Lenkungszwecke 880 – Modernisierungsansätze 922 – Neutralitätsprinzip 886, 916 – Nutzenprinzip 865 – Organtheorie 669 – politische Parteien 340 – Steuerbefreiungen 874 – subjektive Leistungsfähigkeit 871 – Umsatzsteuerbetrug 897 – Verbrauchsortprinzip 868 – Vorsteuerabzug 898 Umsatzsteuergesetzbuch – einheitlicher Steuersatz 911 – Finanzdienstleistungen 907 – Gesundheitsleistungen 905 – Nichtsteuerbarkeit der Leistungen an öffentliche Hand 902 – Nichtsteuerbarkeit der Leistungen an Unternehmer 894 – Nullsatzbesteuerung 904 – Rechtfertigung Endphasensteuer 899 – Sachversicherungsleistungen 910 – Steuerbefreiungen 904 – Wohnraumvermietung 906 Umstrukturierungen – Überlegungen 634 unit of taxation 119 Unternehmensbesteuerung – Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise 412 – Globalisierung 1147

– Reformbedürfnis auf europäischer Ebene 1057 – Steuerreformen 399 – verfassungsrechtliche Überprüfung 255 Unternehmensfinanzierung – Überlegungen 624 Unternehmensteuerreformen – Änderungen auf Anteilseignerebene 404 – Änderungen auf Unternehmensebene 400 – Integration der Unternehmensteuern in persönliche Einkommensteuer 419 – Krisenverschärfung 412 – Substanzbesteuerung 400 U.S. federal income tax – basis step-ups 516 – general principles 513 – imputed income 515 – realization principle 514 Veräußerung – Beteiligung 666 Verallgemeinerungsgebot – Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips 35 Veranlassungsprinzip – Aufwendungen 479 – Einnahmen 478 verbindliche Auskunft – Gebührenpflicht 611 Verbrauchsortprinzip – Umsatzsteuerrecht 866 Verdeckte Gewinnausschüttung – Anrechnungsverfahren 722 – dogmatisches Fundament bei Dreiecksstruktur 724 – Gewinnverlagerung bei verbundenen Unternehmen 720 – Großer Senat zur mittelbaren Gewinnausschüttung 722 – mittelbare verdeckte Gewinnausschüttung 720 – neuer dogmatischer Ansatz bei Dreiecksstruktur 728 1223

Stichwortverzeichnis

– qualitative Rechtsfolgeninkongruenz 720 Vereinfachung – Gesetzgebungsrealität 395 – Koalitionsvertrag 2009 378 – Realisierung 376 – Wachstumsbeschleunigungsgesetz 379 Verfassungsinterpretation – Erst- und Zweitinterpretation – Klugheitsregeln 579 – Primat des Gesetzes 581 – unterschiedliche Adressaten 577 – unterschiedliche Kontrolldichte 578 – verschiedene Ebenen 576 Verluste – ausländische Betriebsstättenverluste 1107 – grenzüberschreitender Verlustabzug 1016 – Verlustausgleichsbeschränkungen 1105 – Verlustberücksichtigung bei abkommensrechtlicher Freistellung 1142 – Verlustverrechnungskonzepte 1070 – Verlustzuweisungsmodell 1106 Vermögensverwaltung – Steuerbefreiung politischer Parteien 334 Verrechnungspreise – Advanced Pricing Agreements 1068 – Fremdvergleichsgrundsatz 1122, 1153 – gesamtgewinnbezogene Preismethoden 1072 – safe harbours 1128 – und Konzept der Einkommensteuer 1117 – Vereinheitlichung der Preisermittlung 1067 Verstetigung – gewerbesteuerliche Hinzurechnung von Finanzierungsaufwand 787 1224

Verteilungsgerechtigkeit – economic analysis of law 957 – Effizienz 959 – internationale Verteilungsgerechtigkeit 869, 1063 – und System 30 Vertrauensschutz – im geltenden Umsatzsteuerrecht 913, 918 – Rückwirkung 225 Verwaltung – und Theoriebildung 71 Vollständigkeitsgebot – im italienischen Recht 1092 Vorsichtsprinzip – Überpreis 808 – Verlustabzug 401 – Verlustvorsorge, bilanzielle 401 Vorsorgeaufwendungen – Arbeitslosigkeit 560 – Berufsunfähigkeit 560 – Haftpflichtversicherung 559 – Neuregelung durch Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung 549, 555 – Unfallversicherungen 560 – Vorgaben des BVerfG 549 Wachstumsbeschleunigungsgesetz – und Steuervereinfachung 379 Wegzugsbesteuerung – Gemeinschaftsrechtskonformität 1018 – spätere Nachholung der Besteuerung 1028 Welteinkommensprinzip – Prinzip des Erwerbseinkommens 474 – und objektives Nettoprinzip 1101 Werbungskosten – fiktiver Werbungskostenabzug 487 – Finalität 471 – Kausalität 478 Werbungskostenersatz – als Arbeitslohn 488

Stichwortverzeichnis

– Barzuwendung 488 – Begriff 488 – durchlaufende Gelder 488 – Sachbezüge 489 Wettbewerbsgleichheit – und steuerliche Förderung politischer Parteien 327 Widerspruchsfreiheit – als Rechts- oder Wertungslogik 41 – Steuerberatungskosten, private 610 Widerspruchsverfahren – Beschränkung 984 – Beschränkung aus verfassungsrechtlicher Sicht 986, 993 Willkürverbot – Inhalt 244, 454 Wirtschaftliche Betrachtungsweise – economic analysis of law 947 Wissenschaft – und steuerpolitische Praxis 391, 394 Wissenschaftlichkeit – der Rechtswissenschaft 24 – Rechts- oder Wertungslogik 32

Zinsbesteuerung – Cashflow-Steuer 355 – Defizite 351 – Zinsbereinigung 355 Zinsschranke – Änderungen durch Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung 404 – EBITDA-Vortrag 414 – Probleme 403 – Überarbeitungsbedarf 417 Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie – DBA 1144 – Hinzurechnung von Finanzierungsentgelten 403 Zivilgesellschaft – Autonomie und Kommunikation 300 – Dritter Sektor 303 – Rechtfertigung von Steuerbegünstigungen 312 – Sozialkapital 302, 316 – Werterelevanz 301 – Wesen 297 Zuflussprinzip – gegenwartsnahe Besteuerung 476

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