Mit diesem Werk ehren namhafte Kollegen und Weggefährten aus Anlass seines 70. Geburtstages Friedrich Graf von Westphale
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German Pages 834 Year 2010
Festschrift für Friedrich Graf von Westphalen
ZWISCHEN VERTRAGSFREIHEIT UND VERBRAUCHERSCHUTZ FESTSCHRIFT FÜR FRIEDRICH GRAF VON WESTPHALEN zum 70. Geburtstag herausgegeben von
F. Christian Genzow Barbara Grunewald Hans Schulte-Nölke
2010
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Vorwort 198 Aufsätze, 136 Urteilsanmerkungen, 15 Beiträge für Festschriften, 37 Kommentare, Handbücher und weitere Schriften sowie 4 Lehrbücher und nicht zuletzt Begründer des Standardwerkes zum AGB-Recht – und dies alles neben anwaltlicher und schiedsrichterlicher Tätigkeit von beeindruckendem Umfang. Mit dieser wissenschaftlichen Höchstleistung wird Friedrich Graf von Westphalen am 23. Juli 2010 sein 70. Lebensjahr vollenden. Wie nur wenige vereinbart der Jubilar eine langjährige, außerordentlich erfolgreiche Tätigkeit als Anwalt und Schiedsrichter mit wissenschaftlichem Wirken auf höchstem Niveau. Diese Leistung auf juristischem Gebiet war dabei nicht von Anfang an vorbestimmt. Nach dem Abitur wollte Graf Westphalen eigentlich Geschichte und Kulturwissenschaften studieren. Nur der Rat des Onkels, der die Stelle des im Krieg vermissten Vaters einnahm, hat ihn dann zur Juristerei gebracht. Auch während des Studiums der Rechtswissenschaft hat er Vorlesungen über Geschichte, Politik und Sprachen (englisch, französisch, italienisch) besucht. Dieses Interesse für Sprache und Entwicklung anderer Staaten führte zu einem zweisemestrigen Auslandsaufenthalt an der Georgetown University in Washington DC und auch zu seiner Dissertation zur Produkthaftung in den USA, betreut von Kronstein, ein weitsichtig gewähltes Thema. Zu einer Konzentration auf die Rechtswissenschaft führten allerdings auch diese Kontakte jedenfalls zunächst nicht. Vielmehr folgten Jahre mit publizistischer Tätigkeit für den Rheinischen Merkur. Der Schwerpunkt seiner Berichterstattung lag im Bereich der Innen- und Rechtspolitik. Auch theologische Beiträge entstanden. Auch während der folgenden Jahre als Unternehmensjurist hat Graf von Westphalen weitere Artikel für den Rheinischen Merkur, jetzt als freier Mitarbeiter mit Schwerpunkt im Bereich der Theologie, verfasst. Er selbst hat sich treffend einmal als Grenzgänger bezeichnet. Es folgte am 1.4.1973 die Eröffnung einer eigenen Praxis. In dieser Zeit entstand auf Grund der im Bereich internationaler Vertragsgestaltung gewonnenen Erfahrungen ein Kontakt zu Reinhold Trinkner, dem Chefredakteur des Betriebs-Beraters, der zahlreiche Projekte Graf Westphalens betreut hat. Kontakte zur CDU/CSU führten zur Mitgliedschaft in einer Kommission, die den Auftrag hatte, ein AGB-Recht zu entwerfen. Dieses Rechtsgebiet wurde zu einem der maßgeblichen juristischen Interessengebiete des Jubilars. Seine vom Gedanken des Verbraucherschutzes geprägten Stellungnahmen waren und sind in vielen Bereichen Diskussionsgrundlage. Dies gilt insbesondere auch für sein 1978 erstmals im Verlag Dr. Otto Schmidt entstandenen Werk „Der Leasingvertrag“. Mehr als die Hälfte seines Lebens ist Graf Westphalen Namensgeber seiner Anwaltskanzlei, in der mittlerweile über 170 Kolleginnen und Kollegen stolz sind tätig zu sein, stolz sind, unter seinem Namen oder besser: unter seinem wissenschaftlichen Ruf zu arbeiten, der zwischenzeitlich weit über Deutschlands Grenzen hinaus gewachsen ist. Selbst Weggefährten in der Kanzlei über V
Vorwort
mehr als 35 Jahre hinweg ist es bis heute ein Rätsel geblieben, wie man effektive anwaltliche Tätigkeit mit einer so außergewöhnlichen wissenschaftlichen Schaffenskraft vereinbaren kann – und noch darüber hinaus wöchentliche Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften abliefert, die sich keineswegs vorrangig mit Recht, sondern nach wie vor auch mit Theologie und Politik befassen. Aber auch wer am wissenschaftlichen Oeuvre die Fähigkeit des Jubilars bewundert, schwierige Fragen präzise, sprachlich prägnant und fundiert auf den Punkt zu bringen, ist bei einer persönlichen Begegnung beeindruckt von seiner Freundlichkeit und Menschlichkeit: Das Diktat noch so komplexer Schriftsätze unterbricht er spontan, um sich der kleinen Nöte des Alltags seiner Mitarbeiter und Kollegen zu widmen und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Seine Liebe zur Geige und zum Tennis sind weitere Bereiche, die zum Jubilar gehören – nicht zu vergessen seine Frau Marie-Theres und seine vier Kinder nebst Enkelkinder. Als Dozent ist Friedrich Graf von Westphalen bekannt für seinen freien und höchst intellektuellen Vortragsstil. Wer ihm folgen will, muss konzentriert zuhören. Wer mit ihm diskutieren will, sollte neben einem hohen präsenten Allgemeinwissen ein genauso präsentes Fachwissen vorweisen können – möglichst zitatfest. Als Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins kümmert er sich nicht nur um die Belange der deutschen Kollegen: In der Arbeitsgemeinschaft internationaler Rechtsverkehr des DAV ist der Jubilar stets als überzeugender Vertreter von LAW made in Germany aufgetreten. Friedrich Graf von Westphalen darf auf eine aus dem Rahmen fallende Lebensleistung zurückschauen. Es ist kein Zweifel, dass seine Schaffenskraft auch weit über das 70. Lebensjahr hinaus anhalten und er noch viele Leitlinien und Anregungen auch – wie bisher – für die Rechtsprechung geben wird. Nicht zuletzt seine Kontaktfreude, seine Freundlichkeit, Fröhlichkeit und die Zuverlässigkeit, die er sich trotz seines ständig hohen Arbeitsprogrammes bewahrt hat, hat viele Freunde, Kollegen und Weggefährten freudig veranlasst, an dieser Festschrift mitzuwirken. Besonderer Dank gilt dem Verlag Dr. Otto Schmidt und „seiner“ Kanzlei Graf von Westphalen für die großzügigen finanziellen Beiträge, die das Erscheinen dieser Festschrift möglich gemacht haben. Ganz besonders hervorzuheben ist die unermüdliche Hilfe von Frau Gabriele Nohl, die Assistentin des Jubilars seit Beginn seiner anwaltlichen Tätigkeit ist und die die erforderliche Koordination – wie immer erfolgreich – übernommen hat. Herausgeber und Autoren wünschen dem Jubilar auch weiterhin eine so bewundernswerte Schaffenskraft, eine große glückliche Familie und dass er der Wissenschaft wie seinen Mandanten noch lange erhalten bleiben möge. Glück, Gesundheit und Gottes Segen sollen dabei nicht fehlen. Im Juni 2010 F. Christian Genzow, Barbara Grunewald, Hans Schulte-Nölke VI
Inhalt Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Holger Altmeppen Unbestellte Leistungen: Die Kampfansage eines „Verbraucherschutzes“ an die Grundlagen der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Klaus Peter Berger Schiedsgerichtsbarkeit und AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Michael Brauch AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr – Bringt das E-Commerce-Recht einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Abschied von der Vertragsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
Barbara Dauner-Lieb / Asim Khan Betriebsausfallschäden als Gestaltungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fritz Drettmann Handelsbräuche und Allgemeine Geschäftsbedingungen . . . . . . . . . . . .
73
Christian Duve / Maximilian Sattler Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Siegfried H. Elsing Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
Volker Emmerich Verbraucherschutz bei Schönheitsreparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
Wolfgang Ewer Verbraucherschutz und öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
Andreas Fandrich Haftungsbeschränkungs- und Regressverzichtsklauseln bei Vorstandsmitgliedern von Genossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
Ulrich Foerste Weiterfresser- und Produktionsschäden in neuem Licht . . . . . . . . . . . .
161
Stefanie Furmans Aktien als Vergütung – Was den Arbeitnehmer derzeit in der Rechtsprechung erwartet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
F. Christian Genzow Wegfall der Kfz-GVO: Die Rechtsprechung zum Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193 VII
Inhalt Seite
Lutz-Peter Gollnisch Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser . . . . . . . . . . . .
205
Barbara Grunewald Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB? . . . . . . . . . . .
229
Jürgen Gündisch Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
Ulrich Haas / Michael Schulze Urteilsvertretendes Anerkenntnis und Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
Mathias Habersack Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
Hans-Jürgen Hellwig Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts . . . . . . . . . . . . .
289
Martin Henssler Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen. Zur Befugnis einer Rechtsanwaltskammer zur Zulassung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
Thomas Hoeren Die Abschlussgebühr in der AGB-rechtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . .
331
Norbert Horn Anlegerschutz und neues Schuldverschreibungsrecht . . . . . . . . . . . . . .
353
Andreas Kappus Strategische Individualabreden. Grenzgänge im AGB-Recht am Beispiel von Wohnungsübergabeprotokollen, Zusatzabreden und Geschäftsanweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369
Detlef Kleindiek Die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen die Geschäftsführer in der GmbH mit Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
387
Achim Krämer Verhaltener Anspruch und Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
401
Gerhart Kreft Gedanken zum Girokonto für jedermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Richard Kreindler Rechtsschutz für ausländische Direktinvestitionen im Energiesektor: Neue Möglichkeiten in der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit . . . . . . .
433
Thomas Krümmel Flüchtige Begegnung mit einem Totgeglaubten – Verbraucher und Vernunft in der Rechtssprache der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
441
VIII
Inhalt Seite
Klaus Landry Exportkontrolle und Terrorismusbekämpfung: Auswirkungen auf privatrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
453
Tobias Lenz Wirtschaftskrise – Bankvorstände und D&O-Versicherung. Zugleich ein Beitrag zu „Spekulationsgeschäften“ und zu „versicherten Tätigkeiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
469
Georg Maier-Reimer Gutgläubiger Anteilserwerb und Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
489
Pierre Mathijsen Consumer Protection in the European Union: Who is in charge? . . . . .
507
Thomas Miller Schadet das Verblistern dem Patienten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
517
Jens Nielsen Die laufende Neubestimmung der Grenzen der Privatautonomie von Kaufleuten und Unternehmen im Wandel des Zeitgeistes . . . . . . .
533
Thomas Pfeiffer Flucht ins schweizerische Recht? Zu den AGB-rechtlichen Folgen der Wahl schweizerischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
555
Peter Präve Zur Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in den Versicherungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
569
Otto Sandrock Ausländische Zweckgesellschaften und der Schutz inländischer Interessen. Fehlen oder Falschanwendung inländischer Schutznormen, die extraterritorial zu gelten bestimmt sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
581
Hans Schulte-Nölke Bausteine aus der Wissenschaft für die englische Vertragssprache. Der Gemeinsame Referenzrahmen als Toolbox für die Vertragsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
609
Rolf A. Schütze Der Verbraucher im europäischen Justizraum oder: die Zweiklassenjustiz im europäischen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . .
621
Claudia Seibel / Anna Elisabeth Freiin von Preuschen-von Lewinski Die Verjährung der Prospekthaftung bei geschlossenen Fonds . . . . . . . .
629
Gerald Spindler Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern – Grundlage und Grenzen einer analogen Anwendung von § 114 AktG . . . . . . . . . . . . . .
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IX
Inhalt Seite
Ansgar Staudinger Schiedsspruch und Urteil mit vereinbartem Wortlaut . . . . . . . . . . . . . .
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Ronald Steiling Handlungspflichten von Lebensmittel- und Futtermittelunternehmern nach der EU-Basisverordnung und ihr Einfluss auf die zivilrechtliche Produkthaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gregor Thüsing / Gerrit Forst Abführung von Aufsichtsratsvergütung an gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen. Zur rechtlichen Bindung durch vertragliche oder mitgliedschaftliche Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eberhard Vetter Zur Compliance-Verantwortung des Vorstands und zu den Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Susanne Vogt Wie viel Information braucht der Durchschnitt? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harm Peter Westermann Insolvenzrechtliche Haftung der Vorstände von Idealvereinen . . . . . . .
755
Herbert Zahn Das Leistungsversprechen des Leasinggebers beim Projektleasing. Ein Beitrag zu Ratio und Dogmatik des § 278 BGB . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X
Verzeichnis der Autoren Altmeppen, Holger Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht I an der Universität Passau Berger, Klaus Peter Dr., LL.M. (Virginia), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, deutsches und internationales Handels-, Wirtschafts- und Bankrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Direktor des Instituts für Bankrecht und des Center for Transnational Law (CENTRAL) an der Universität zu Köln Brauch, Michael Dr., Rechtsanwalt und Partner der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte, München Dauner-Lieb, Barbara Dr., Universitätsprofessorin für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht und Europäische Privatrechtsentwicklung an der Universität zu Köln, Direktorin des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht sowie des Instituts für Gesellschaftsrecht, Richterin am Verfassungsgerichtshof NRW Drettmann, Fritz Dr., Rechtsanwalt und Notar, Partner der Sozietät Volkmann, Reinstorf & Partner, Bremen Duve, Christian Dr., Rechtsanwalt und Partner, Freshfields Bruckhaus Deringer, Frankfurt am Main Elsing, Siegfried H. Dr., LL.M. (Yale), Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Rechtsanwalt und Partner, Orrick Hölters & Elsing, LL.P., Düsseldorf Emmerich, Volker Dr., Universitätsprofessor (em.), Universität Bayreuth, Richter am OLG Nürnberg a. D. Ewer, Wolfgang Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Präsident des Deutschen Anwaltvereins Fandrich, Andreas Dr., Rechtsanwalt, Dr. Fandrich Rechtsanwälte, Stuttgart XI
Verzeichnis der Autoren
Foerste, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht an der Universität Osnabrück Forst, Gerrit Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Furmans, Stefanie Rechtsanwältin, Ottobrunn Genzow, F. Christian Dr., Rechtsanwalt, Partner der Sozietät Graf von Westphalen, Köln, Direktor des Instituts für europäisches Vertriebs- und Kartellrecht an der Rheinischen Fachhochschule Köln, Studiengangsleiter Masterprogramm, Sprecher der Vereinigung europäischer Vertriebsanwälte (EDL) Gollnisch, Lutz-Peter Dr., Rechtsanwalt, Luckau Grunewald, Barbara Dr., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsund Anwaltsrecht sowie Direktorin des Instituts für Gesellschaftsrecht an der Universität zu Köln Gündisch, Jürgen Dr., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, ehem. Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts Haas, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Zivilverfahrens- und Privatrecht an der Universität Zürich Habersack, Mathias Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Hellwig, Hans-Jürgen Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Frankfurt am Main, Honorarprofessor für Europäisches Gesellschaftsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Henssler, Martin Dr., Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln Hoeren, Thomas Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht an der Universität Münster XII
Verzeichnis der Autoren
Horn, Norbert Dr., Universitätsprofessor (em.) für Zivilrecht und deutsches und internationales Handels-, Wirtschafts- und Bankrecht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln, Direktor (em.) des Instituts für Bankrecht an der Universität zu Köln, Leiter des ADIC Arbitration Documentation and Information Center, Köln Kappus, Andreas Dr., Rechtsanwalt, Poppe & Kappus, Frankfurt am Main, Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Frankfurt am Main, Schriftleiter der Neuen Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht (NZM) Khan, Asim Dr., Rechtsreferendar am Landgericht Frankfurt am Main Kleindiek, Detlef Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, deutsches und europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Bielefeld Krämer, Achim Dr., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Honorarprofessor an der Universität Göttingen Kreft, Gerhart Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Ombudsmann der privaten Banken, Karlsruhe Kreindler, Richard Dr., Attorney at Law and Avocat, Partner der Sozietät Shearman & Sterling LLP, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster Krümmel, Thomas LL.M. (Glamorgan), Rechtsanwalt, Partner der Sozietät Meyer-Köring, Berlin Landry, Klaus Dr., Rechtsanwalt, Partner der Sozietät Graf von Westphalen, Hamburg Lenz, Tobias Dr., Rechtsanwalt, Partner der Kanzlei Graf von Westphalen, Köln, Honorarprofessor für nationales und internationales Wirtschaftsrecht an der Rheinischen Fachhochschule Köln Maier-Reimer, Georg Dr. Dr. h.c., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, Oppenhoff & Partner, Köln Mathijsen, Pierre Dr., P.S.R.F. Mathijsen MAecon, Professor Europarecht Freie Universität Brüssel, ehemals General Director Europäische Kommission, Rechtsanwalt in Brüssel XIII
Verzeichnis der Autoren
Miller, Thomas Dr., Rechtsanwalt und Notar, Partner der Sozietät KROHN Rechtsanwälte, Berlin, Lehrbeauftragter der SRH Hochschule Berlin GmbH Nielsen, Jens Dr., Rechtsanwalt, bis 1996 Syndikus der DB Hamburg, 1996–2006 Partner der Sozietät KROHN Rechtsanwälte, Hamburg Pfeiffer, Thomas Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Heidelberg Präve, Peter Dr., Syndikus, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. Freiin von Preuschen-von Lewinski, Anna Elisabeth Dr., LL.M. (Edinburgh), Rechtsanwältin, Partnerin der Sozietät IUR-REALIS Rechtsanwälte, Frankfurt am Main Sandrock, Otto Dr., LL.M. (Yale), Universitätsprofessor (em.) an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 1995 Rechtsanwalt und of counsel bei Orrick Hölters & Elsing, LL.P., Düsseldorf Sattler, Maximilian Rechtsreferendar, Freshfields Bruckhaus Deringer, Frankfurt am Main Schulte-Nölke, Hans Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Direktor des European Legal Studies Institute an der Universität Osnabrück Schulze, Michael Dipl.-Fw. (FH), Finanzverwaltung Hessen, ehemals: Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Zivilverfahrens- und Privatrecht an der Universität Zürich Schütze, Rolf A. Dr., Rechtsanwalt, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart, Honorarprofessor an der Universität Tübingen Seibel, Claudia Dr., Rechtsanwältin, Partnerin der Sozietät IUR-REALIS Rechtsanwälte, Frankfurt am Main Spindler, Gerald Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und WirtschaftsXIV
Verzeichnis der Autoren
recht, Rechtsvergleichung, Multimedia- und Telekommunikationsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen Staudinger, Ansgar Dr., Universitätsprofessor für Bürgerliches Recht, Internationales Privat-, Verfahrens- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bielefeld Steiling, Ronald Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Partner der Sozietät Graf von Westphalen, Hamburg Thüsing, Gregor Dr., LL.M. (Harvard), Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Vetter, Eberhard Dr., Rechtsanwalt, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Köln Vogt, Susanne Richterin am Oberlandesgericht Dresden Westermann, Harm Peter Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.) an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Zahn, Herbert Rechtsanwalt, Ministerialdirektor a.D., Rechtsanwälte Zahn & Partner GbR, Bonn/Bad Godesberg
XV
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Holger Altmeppen
Unbestellte Leistungen: Die Kampfansage eines „Verbraucherschutzes“ an die Grundlagen der Privatautonomie Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zur Überflüssigkeit des § 241a BGB aus europarechtlicher Sicht III. Ausschluss jeglicher Vertragshaftung? 1. Meinungsstand 2. Stellungnahme
IV. Zum Vindikationsanspruch des Unternehmers und Verwertungsrecht des Verbrauchers 1. Meinungsstand 2. Zur sinnvollen Begrenzung der ratio legis V. Weitere schwerlich haltbare rechtliche Konsequenzen der h. M. VI. Ergebnisse
I. Einleitung Gut zehn Jahre ist es her, dass der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung der EGRichtlinie 97/7 vom 20. Mai 1997 „über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz“ in § 241a BGB „Verbraucherschutz“ gegen unbestellte Leistungen angeordnet hat. Einer der großen deutschen Privatrechtler seiner Zeit hat die Neuregelung nicht nur einer Fundamentalkritik unterzogen, sondern vor ihrer gebotenen Abschaffung durch den Gesetzgeber gefordert, die Praxis müsse und dürfe sie einfach übergehen; sie sei, weil voller Perplexitäten, „pro non scripto“ zu behandeln1. Auch heute noch eignet sich keine andere Norm besser dazu, die Gefährlichkeit von überzogenem Verbraucherschutz aufzuzeigen, zu verantworten von „Gutmenschen“ in Parlamenten und Ministerien, deren unentwegtes Bestreben, die vermeintlich „Schwächeren“ vor den angeblich „Stärkeren“ auch um den Preis der Aufgabe grundlegender Rechtsprinzipien schützen zu wollen, hier zum bitteren Ernstfall wurde. Der Jubilar ist gewiss ein Gewährsmann sinnvollen Verbraucherschutzes, ebenso gewiss aber nicht dazu bereit, ihm zu huldigen, soweit er zum „goldenen Kalb“ politischer Aktionisten verkommt, dem Grundprinzipien des Privatrechts geopfert werden sollen. Eine Bestandsaufnahme dessen, was man heute
__________ 1 Flume, ZIP 2000, 1427, 1429; zur geschwätzigen Formulierung des Gesetzestextes Hensen, ZIP 2000, 1151, der das dreimalige „durch“ anprangert. Es hätte heißen sollen: „Durch unbestellte Lieferungen und Leistungen eines Unternehmers …“ (Flume, ZIP 2000, 1427, 1428).
1
Holger Altmeppen
aus § 241a BGB ableitet, verbunden mit dem Nachweis, dass die meisten Schlussfolgerungen aus dieser vollständig missglückten Bestimmung keinen Bestand haben können, darf daher auf das Interesse des Jubilars hoffen. Wir wollen dabei von dem Schulfall ausgehen, dass ein Weinhändler W den verschiedensten Kunden am St. Martinstag eine Kiste Beaujolais Primeur zum „Probierpreis“ von 6,60 Euro (statt 9,90 Euro) zusendet. Kunde A trinkt die ganze Kiste gleich am Wochenende in dem Bewusstsein aus, den Wein damit gekauft zu haben. Kunde B räumt den Wein in seinen Weinschrank ein, mit gleichem Bewusstsein. Die juristisch gebildeten Kunden C und D handeln ebenso, jedoch in der Annahme, ein Vertrag könne kraft § 241a BGB gar nicht zu Stande gekommen sein. Kunde E veräußert den Wein für 10,00 Euro pro Flasche an F, der die Umstände kannte und den Wein an G verschenkt, bei welchem er von dessen Sohn H gestohlen und in dessen Studentenbude geschleppt wird, wo er (unversehrt) lagert. Die Vorstellung, dass Weinhändler W gegen keinen dieser Kunden bzw. deren „Rechts-“ oder „Besitznachfolger“ Ansprüche hatte bzw. noch habe, ist erschütternd, doch scheint sie nach dem Wortlaut des § 241a BGB „rechtens“ zu sein.
II. Zur Überflüssigkeit des § 241a BGB aus europarechtlicher Sicht Im Ausgangsfall haben alle Kunden in ihrer Eigenschaft als „Verbraucher“ (§ 13 BGB) von einem „Unternehmer“ (§ 14 BGB) unbestellte Ware erhalten2. Nach Art. 9 der Richtlinie 97/7/EG über unbestellte Waren oder Dienstleistungen haben die Mitgliedsstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um – zu untersagen, dass einem Verbraucher ohne vorherige Bestellung Waren geliefert oder Dienstleistungen erbracht werden, wenn mit der Warenlieferung oder Dienstleistungserbringung eine Zahlungsaufforderung verbunden ist; – den Verbraucher von jedweder Gegenleistung für den Fall zu befreien, dass unbestellte Waren geliefert oder unbestellte Dienstleistungen erbracht wurden, wobei das Ausbleiben einer Reaktion nicht als Zustimmung gilt. Das deutsche Recht hatte bereits vor Umsetzung dieser Richtlinie diesen Geboten entsprochen, namentlich in ordnungsrechtlicher Hinsicht durch das Verbot unlauteren Wettbewerbs (§ 1 UWG)3. Flume hat deshalb der damaligen Bundesjustizministerin attestiert, es sei „schlechthin unerträglich“, in welcher Weise sie sich „erdreistet“ habe, „durch eine solche Gesetzgebung … das BGB zu verunstalten“4.
__________
2 Zur Definition des „Verbrauchers“ in § 13 BGB treffend Flume, ZIP 2000, 1427, 1428: „Die Definition des § 13 BGB ist nach ihrem Wortlaut barer Unsinn.“ 3 Ebenso S. Lorenz, JuS 2000, 833, 841; ders. in FS W. Lorenz, 2001, S. 193, 194. 4 Flume, ZIP 2000, 1427, 1430; s. auch Hensen, ZIP 2000, 1151: „Man könnte heulen.“; Schwarz, NJW 2001, 1449: „Störfall für die Zivilrechtsdogmatik“.
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Unbestellte Leistungen: Kampfansage an die Privatautonomie
Doch kommt es heute nicht mehr darauf an, dass der Fundamentalangriff des § 241a BGB auf die Grundlagen des Bürgerlichen Rechts aus europäischer Sicht völlig überflüssig war. Herauszuarbeiten ist vielmehr, dass von ihm wenig Gefahren ausgehen können, wenn man ihn teleologisch auf das Notwendigste reduziert. Dies ist in methodischer Hinsicht auch dann zulässig, wenn im Bundesministerium der Justiz seinerzeit andere Vorstellungen zur Reichweite der Norm bestanden haben sollten. Juristische Torheiten und Fehlschlüsse der Ministerialbürokratie sind nämlich nicht geltendes Recht5.
III. Ausschluss jeglicher Vertragshaftung? 1. Meinungsstand Nach herrschender Ansicht soll der „Verbraucher“ niemals in eine Vertragshaftung geraten können, wenn er die unbestellte Leistung – in welcher Form auch immer – „annimmt“. Dies soll auch dann gelten, wenn der betreffende Verbraucher sein Verhalten als die Offerte annehmende Willensbetätigung i. S. d. § 151 BGB versteht (so im Ausgangsfall die Kunden A und B, die den Wein durch konkludentes Verhalten kaufen wollten). Unklar ist der Meinungsstand hinsichtlich solcher Personen, die um § 241a BGB bestens Bescheid wissen. Können auch die Kommentatoren des § 241a BGB keinen Vertrag über die Kiste Wein zu Stande bringen, indem sie entsprechende Zueignungshandlungen als Willensbetätigungen (§ 151 BGB) vornehmen?6 Wer diese Frage mit Nein beantwortet und stets eine „ausdrückliche“ Annahmeerklärung oder aber eine „Zahlung“ des Verbrauchers verlangt7, erkennt den Zweck des § 241a BGB im Ausschluss des § 151 BGB zu Lasten des „Unternehmers“, der sich bei Zueignungshandlungen ohne Geltung des § 241a BGB der Annahme seines Angebotes durch Willensbetätigung (§ 151 BGB) gewiss sein könnte. Da nicht anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber zwischen rechtskundigen und rechtsunkundigen Bürgerinnen und Bürgern unterscheiden wollte, und da die h. M. dies ebenfalls nicht tut, gibt es nach der h. M. weder vertragliche Ansprüche gegen den „Gutgläubigen“, der sein Verhalten als Vertragsannahme i. S. d. § 151 BGB verstanden hat, noch gegen den „Rechtskundigen“, der die Regelung des § 241a BGB kennt, und zwar auch dann nicht, wenn dieser Rechtsgenosse die Zueignungshandlung gerade mit dem Willen vornimmt, die Offerte des Weinhändlers anzunehmen.
__________ 5 Vgl. Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 328 ff. 6 Verneinend die h. M., s. Heinrichs in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 241a BGB Rz. 6; Kramer in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 241a BGB Rz. 13; Czeguhn/Dickmann, JA 2005, 587, 588 f.; Schwarz, NJW 2001, 1449, 1451; Sosnitza, BB 2000, 2317, 2323, aber str., vgl. Berger, JuS 2001, 649, 654; Casper, ZIP 2000, 1602, 1607; Lorenz, JuS 2000, 833, 841; Riehm, JURA 2000, 505, 511 f. 7 S. die Nachw. Fn. 6.
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2. Stellungnahme Bei genauer Betrachtung erweist sich § 241a BGB aber schon im Ansatz als unschlüssig, wenn es darum gegangen sein sollte, das Zustandekommen eines Vertrages auf dem üblichen Wege der Offerte durch Zusendung der Ware und der Annahme durch Willensbetätigung (§ 151 BGB) auszuschließen. Insbesondere darf man das Gesetz nicht so auslegen, dass der Vertragsschluss auch gegen den Willen des „geschützten Verbrauchers“ scheitern muss, wie es der Wortlaut in seiner Apodiktik zu gebieten scheint („… wird ein Anspruch gegen diesen nicht begründet.“). Dabei versteht es sich von selbst, dass „durch die Lieferung unbestellter Sachen …“ niemals ein vertraglicher Anspruch gegen den Empfänger begründet werden konnte8. Die Frage lautet vielmehr, ob dieser „das Recht“, genauer: auf der Grundlage des BGB von 1896 die Möglichkeit hat, den Vertrag durch Willensbetätigung (§ 151 BGB) zu Stande zu bringen. Die Antwort ergibt sich aus einem Rechtsgrundsatz, der 2000 Jahre Richtigkeitsgewähr auf seiner Seite hat: ‚Invito beneficium non datur‘9. (Niemandem wird gegen seinen Willen eine Rechtswohltat gewährt). Wenn § 241a BGB also den Zweck haben sollte, die Verbraucher davor zu schützen, dass durch Zueignungshandlungen betreffs der unbestellten Ware ein Vertrag zu Stande kommt (§ 151 BGB), scheidet ein solches Ergebnis gewiss dann aus, wenn der Verbraucher mit Hilfe der Willensbetätigung den Vertrag gerade zu Stande bringen wollte. Zu fragen ist allenfalls, ob man hinsichtlich der rechtsunkundigen und der rechtskundigen Verbraucher bei Anwendung des § 241a BGB zu unterscheiden hätte. Es liegt im Trend der „ideologisch“ anmutenden Regelung, den Verbraucher auch vor dem „Irrtum“ schützen zu wollen, er werde die Offerte des Unternehmers annehmen, wenn er sich die unbestellte Ware zueigne. In diesem Licht macht die Bestimmung aber noch weniger Sinn. Denn warum soll dann ein Vertrag – so die herrschende Meinung10 – zu Stande kommen, wenn dieser Kunde den Kaufpreis überweist oder ausdrücklich die Offerte annimmt, etwa um zugleich weitere Order zu geben? Wer § 241a BGB nicht kennt – und kein redlicher Rechtsgenosse würde mit einer solchen Regelung rechnen, wenn es sie nicht gäbe –, müsste dann auch davor „bewahrt“ werden, den Kaufpreis irrtumsbedingt zu bezahlen oder „voreilig“ zu erklären, die Offerte „ausdrücklich“ anzunehmen. Wenn der Gesetzgeber die Verbraucher davor „bewahren“ wollte, für die nicht bestellte Ware unnötigerweise einen Kaufpreis zu bezahlen, muss dies nach allem auch dann gelten, wenn die Verbraucher ihren Annahmewillen durch Überweisung des Kaufpreises oder durch ausdrückliche Erklärung (§ 147 BGB) zum Ausdruck bringen. Das argumentum ad absurdum lautet, dass über nicht bestellte Ware, die einem Verbraucher zugesendet wird, überhaupt kein Kaufvertrag mehr zu Stande
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8 Bereits die Gesetzesbegründung verweist auf die „allgemeinen Grundsätze des Vertragsrechts“, BT-Drucks. 14/2658, S. 46. 9 D. 50, 17, 69 (Paulus); eingehende Nachw. dazu aus der Zeit der Klassik bis zum Inkrafttreten des BGB bei Altmeppen, Disponibilität des Rechtsscheins, 1993, S. 4 ff. 10 Vgl. die Nachw. Fn. 6.
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kommen kann, unabhängig davon, was der Verbraucher erklären will oder erklärt hat, ob er den Kaufpreis schon bezahlt hat oder bezahlen will. Es versteht sich, dass dieses konsequent absurde Ergebnis von niemandem vertreten wird. Dann aber bleibt nur folgende Auslegungsmöglichkeit übrig: Gegen den Willen des Verbrauchers wirkt die Regelung nie, mag er die Norm kennen oder nicht. Wer durch sein Verhalten einen Vertrag zu Stande bringen will (§ 151 BGB), wird durch § 241a BGB niemals daran gehindert. Jede andere Interpretation verstößt nicht nur gegen den Grundsatz ‚invito beneficium non datur‘, sondern sie zwänge konsequenterweise zu dem absurden Ergebnis, dass unbestellt zugesendete Ware nicht mehr Gegenstand eines Kaufvertrages sein könnte, auch dann nicht, wenn der Verbraucher durch Bezahlung oder „ausdrücklich“ zu erkennen gibt, dass er die Ware gerade kaufen will. Der in der Praxis nicht mehr relevante Anwendungsbereich des § 241a BGB hinsichtlich vertraglicher Ansprüche gegen den Verbraucher beschränkt sich also auf solche Verbraucher, die die Regelung ausnutzen und die Ware behalten, aber nicht bezahlen wollen. Die Einsicht, dass es einer solchen Regelung gewiss nicht bedurft hätte, soll hier nicht vertieft werden, weil das hier entwickelte Auslegungsergebnis ohne weiteres hingenommen werden kann, wenn man sich den gesetzlichen Ansprüchen des Unternehmers zuwendet.
IV. Zum Vindikationsanspruch des Unternehmers und Verwertungsrecht des Verbrauchers 1. Meinungsstand Zu unserer großen Überraschung nimmt die ganz h. M. an, dass die Unternehmer auch keinen Herausgabeanspruch gegen die Verbraucher, gestützt auf ihr Eigentum (§ 985 BGB), haben sollen, weil der Gesetzgeber die rei vindicatio in § 241a Abs. 111 bzw. Abs. 2 BGB12 gerade ausgeschlossen habe. Manche Autoren behaupten sogar, der Vindikationsanspruch eines Dritten, etwa des Lieferanten, der dem Unternehmer die Ware unter Eigentumsvorbehalt geliefert hat, sei durch § 241a Abs. 2 BGB gesperrt worden13. Der h. M. ist zuzugeben, dass der Gesetzgeber in der Tat die Vorstellung gehabt haben dürfte, der „gesetzliche Anspruch“ i. S. d. § 241a Abs. 2 BGB, der im Regelfall ausgeschlossen sei, beziehe sich auch auf die rei vindicatio des Eigentümers (§ 985 BGB). In den Gesetzesmaterialien wird insbesondere hervorgehoben, ein dauerhaftes Auseinanderfallen von Eigentum und Besitz sei ein hinzunehmendes, in diesem Fall nicht tragisches Ergebnis14.
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11 S. Berger, JuS 2001, 649, 652; Jacobs, JR 2004, 490; Kramer in MünchKomm.BGB (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 15; Lorenz, JuS 2000, 833, 841; Otto, JURA 2004, 389, 390; Reichling, JuS 2009, 111, 112; Sosnitza, BB 2000, 2317, 2319 ff.; Schwarz, NJW 2001, 1449, 1450; Tachau, Ist das Strafrecht strenger als das Zivilrecht?, 2005, S. 97 ff.; Wendehorst, DStR 2000, 1311, 1317. 12 Riehm, JURA 2000, 505, 512. 13 S. die Nachw. bei Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7. 14 S. die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 14/2658, S. 46.
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Die „Strafe“ für den Unternehmer soll also sein, dass er die Herrschaft über sein Eigentum verliert, weil der Verbraucher ein Besitzrecht i. S. d. § 986 BGB erwerbe15 bzw. § 241a BGB zu einem hiervon unabhängigen umfassenden Anspruchsausschluss führe16. Der Verbraucher werde zwar nicht Eigentümer, könne aber mit der Sache nach Belieben verfahren, sie insbesondere veräußern, verschenken, vorsätzlich beschädigen etc., ohne sich zivilrechtlich haftbar zu machen17. Nach h. M. soll aus „Gründen der Einheit der Rechtsordnung“ auch eine Strafbarkeit des Verbrauchers nach § 303 bzw. § 246 Abs. 1 StGB ausscheiden18. Überwiegend wird § 241a BGB insoweit ein „generell rechtfertigender Charakter“ beigemessen19, nach anderer Ansicht soll ein vom zivilrechtlichen Eigentum losgelöster wirtschaftlicher Fremdheitsbegriff zur Straflosigkeit führen20. Der Rechts- bzw. Besitznachfolger allerdings unterliege bei „Bösgläubigkeit“21 der Herausgabepflicht, wobei offenbar der Fall gemeint ist, dass er von den Umständen der Zusendung und damit vom mangelnden Eigentum des Verbrauchers Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis besaß. Völlig unklar bleibt freilich, wie ein solcher „Bösgläubiger“ in die Haftung geraten soll, wenn er sich an der Vernichtung des unternehmerischen Eigentums beteiligt, etwa der Gast, der den Wein in Kenntnis der Umstände beim Verbraucher zu trinken bekommt und zugleich eine Flasche mit zu sich nach Hause nehmen soll, um dort seine Ehefrau davon kosten zu lassen. Haften solche Personen nach § 823 BGB? Sind sie strafbar wegen Unterschlagung (§ 246 StGB)? Wie haftet der Verkäufer (im Beispiel E), und was ist mit dem bösgläubigen Erwerber, der für die Kiste Wein aber immerhin einen stolzen Preis bezahlt hat (im Beispielsfall F)? Muss auch der gutgläubige Beschenkte (im Beispielsfall G) den Wein wieder herausgeben (§ 816 Abs. 1 Satz 2 BGB!), obwohl der Verbraucher in Kenntnis seines mangelnden Eigentums damit sogar Geschäfte soll machen können, ohne sich der Bereicherungshaftung nach § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB auszusetzen (E)? Muss der Dieb die Ware an den Unternehmer oder an den Verbraucher herausgeben? Was ist, wenn der Verbraucher oder dessen „Rechtsnachfolger“ dem Dieb erklärt, er könne die Ware behalten, im Beispielsfall der Vater G dem Studenten H?
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15 S. Lorenz in FS Lorenz (Fn. 3), S. 211; Sosnitza, BB 2000, 2317, 2323; Tachau (Fn. 11), S. 120 f.; Otto, JURA 2004, 389, 390; Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7. 16 So die wohl h. M., vgl. nur Schwarz, NJW 2001, 1449, 1452; Berger, JuS 2001, 649, 653 m. Fn. 58; Jacobs, JR 2004, 490, 493; Kramer in MünchKomm.BGB (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 19; Link, NJW 2003, 2811, 2812; Löhnig, JA 2001, 33, 35; Schwarz/Pohlmann, JURA 2001, 361, 364. 17 S. nur Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7 m. w. N. 18 Anders wohl nur Schwarz, NJW 2001, 1449, 1453 f. 19 Etwa Matzky (NStZ 2002, 458, 462 ff.), Satzger (JURA 2006, 428, 433 f.) und Berger (JuS 2001, 649, 653 m. Fn. 51) ordnen § 241a BGB als eigenständigen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund ein, während Tachau (Fn. 11, S. 190 ff.) sowie Reichling (JuS 2009, 111, 113 f.) von einer rechtfertigenden Einwilligung des Verbrauchers ausgehen, auf den insoweit die Einwilligungsbefugnis übergegangen sein soll. 20 S. Otto, JURA 2004, 389, 390 f. Ähnlich Lamberz, JA 2008, 425, 428: „faktisches Eigentum“. 21 S. nur Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7.
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2. Zur sinnvollen Begrenzung der ratio legis Die Behauptung, der Verbraucher könne die Sache nach seinem Belieben geund verbrauchen, vorsätzlich beschädigen, er sei der „berechtigte Besitzer“ etc., stellt sich als blanke petitio principii dar. § 241 a BGB ist verfassungskonform (Art. 14 GG) dahin teleologisch zu reduzieren, dass mit „gesetzlichen Ansprüchen“ nur solche gegen einen Verbraucher gemeint sind, der ohne das Haftungsprivileg des § 241a BGB in die Gefahr geriete, für Unsorgfältigkeit betreffs einer „Obhut“ haftbar gemacht zu werden. Die Belastung mit dem Besitz der nicht bestellten Ware darf für den Verbraucher – nur diese ratio legis macht Sinn – nicht die geringste Haftungsgefahr auslösen, wenn er die Sache weder erwerben noch beaufsichtigen will22. Im Extremfall mag er die Ware im Mülleimer entsorgen oder in den unbewachten Hauseingang stellen, wo sie dann gestohlen wird, ohne dass der Unternehmer daraus deliktische Ansprüche ableiten kann. Auch hier ist freilich eine sinnvolle Grenze zu ziehen, die jedenfalls dann überschritten ist, wenn sich das Verhalten des Verbrauchers im Verhältnis zum Unternehmer als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung darstellt (§ 826 BGB). Davon ist auszugehen, wenn der Verbraucher nach den Umständen mühelos dazu in der Lage ist, die Belastung mit dem Besitz anders als durch „Entsorgung“, nämlich durch zumutbare Verständigung des Eigentümers auf diesen zurückzuverlagern. Wo immer man die Grenze der „Belastbarkeit“ des Verbrauchers in diesem Zusammenhang auch erkennen mag, eines konnte der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 14 GG!) nicht anders regeln: Das Eigentum an der Ware behält der Unternehmer23, und damit ist die Vorstellung, der Verbraucher dürfe sie sich aneignen, im Ansatz nicht zu vereinbaren. Der Verbraucher wird nicht Eigentümer, wenn er die Einigungsofferte mangels seines Willens, die Ware zu kaufen, nicht annimmt, weil die Einigungsofferte unter der Bedingung des Zustandekommens eines Kaufvertrages steht (§§ 929, 158 BGB). Die Ware wird (selbstverständlich) auch nicht herrenlos und damit zur Aneignung des Verbrauchers tauglich (§ 958 BGB), weil ein solcher Regelungswille des Gesetzgebers jedenfalls an Art. 14 GG scheitern müsste24. Die h. M., die es dem Verbraucher bei dieser Sachlage dennoch gestattet, die für ihn fremde Sache nach seinem Belieben zu ge- oder verbrauchen25, unter-
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22 Dies war auch der Wille des Gesetzgebers, vgl. die – freilich ebenfalls sprachlich missglückte – Alternativfassung des § 241a Abs. 1 BGB der Bundesregierung (BT-Drucks. 14/2920, S. 14): „Durch die Lieferung unbestellter Sachen oder durch die Erbringung unbestellter sonstiger Leistungen zum Zwecke der Anbahnung eines Vertrags an einen Verbraucher wird dieser weder zur Verwahrung noch zum Erhalt der Sache oder zum Ersatz des Werts der sonstigen Leistungen verpflichtet. Er kann nach seiner Wahl den Besitz an der Ware aufgeben oder dem Unternehmer die Rücknahme der Ware anbieten; im zweiten Fall hat der Unternehmer Kosten und Gefahr zu tragen.“ 23 S. die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 14/2658, S. 46. A. A. nur Riehm, JURA 2000, 505, 512, vgl. Fn. 30. 24 Die Gesetzesmaterialien lassen für eine solche Auslegung auch keinen Raum, s. Fn. 23. 25 S. die Nachw. in Fn. 17, 19, 20.
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stellt dem Gesetzgeber damit einen verfassungswidrigen Regelungswillen: Das unter grundgesetzlichem Schutz (Art. 14 GG) stehende Privateigentum kann, solange die Eigentumsgarantie Bestand hat, nicht von einer „verbraucherschützenden Regelung“ beiseite geschoben werden, die es dem Verbraucher letztlich erlaubt, sich fremdes Eigentum anzueignen. Mit Recht hat Flume es für „selbstverständlich“ erklärt, dass der Eigentumsherausgabeanspruch durch § 241a Abs. 2 BGB nicht aufgehoben werden konnte26. Dies ist deswegen „selbstverständlich“, weil die Regelung anderenfalls verfassungswidrig wäre27. Insbesondere ist der Verbraucher im Verhältnis zum Unternehmer kein „berechtigter Besitzer“ der für ihn fremden Sache des Unternehmers mehr, wenn er sie gerade nicht kaufen will. Im schlimmsten Falle darf er sie gefahrlos „entsorgen“, wenn er die unerbetene Besitzbelastung nicht mehr erträgt. Dann aber hat er die unbestellte Ware nicht zu verzehren, zu verschenken, zu verkaufen oder in anderer Weise die Befugnisse eines Eigentümers der Ware zu praktizieren, sondern er hat sie dem dies verlangenden Eigentümer herauszugeben (§ 985 BGB), solange sie sich noch bei ihm befindet. Die These, der Verbraucher erwerbe im Verhältnis zum Unternehmer ein „Recht zum Besitz“, wenn der Unternehmer seine Ware wegen Kaufunlust des Verbrauchers wieder abholen will, stellt sich als zivilrechtsdogmatisch nicht einzuordnende, in verfassungsrechtlicher Hinsicht der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) widersprechende Auslegung des Gesetzeszwecks dar, der richtiger Ansicht nach allein darin bestehen kann, die Verbraucher vor Belästigung zu bewahren. Der Unternehmer, der seine Ware wieder abholen will, entspricht aber diesem Gesetzeszweck, er übt gleichsam „tätige Reue“. Er muss, wenn es dazu einen schlüssigen Gesetzeszweck geben soll, den Verbraucher von der Last des Besitzes mit seiner Sache wieder befreien dürfen, während die h. M. es dem „Verbraucher“ erlaubt, sich in dieser Situation widersprüchlich zu verhalten. In dem Moment, wo dieses kuriose Ergebnis mit einem Verwertungsrecht des Verbrauchers gerechtfertigt werden soll, der Gefallen an der Ware hat, ohne sie bezahlen zu wollen, ist man jedenfalls bei der rechtswidrigen Enteignung angekommen (Art. 14 GG). Jeder noch so hysterische Ruf nach „Schutz vor unbestellter Ware“ kann nämlich nur Sanktionen rechtfertigen, die in innerem Zusammenhang mit der Besitzbelastung stehen, die sich der Verbraucher nicht soll gefallen lassen müssen. Die Behauptung, dass der Verbraucher sich die Ware nach § 241a BGB aber auch aneignen dürfe, ist mit einem verfassungsrechtlich haltbaren Zweck der Norm nicht mehr vereinbar.
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26 Flume, ZIP 2000, 1427, 1428. Ebenso Bülow/Artz, NJW 2000, 2049, 2056; Casper, ZIP 2000, 1602, 1607. 27 Zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit gelangt deshalb Deckers, NJW 2001, 1474. Verfassungsrechtliche Bedenken äußern etwa Riehm, JURA 2000, 505, 512 f.; Schwarz, NJW 2001, 1449, 1454; ders./Pohlmann, JURA 2001, 361, 365; s. auch die Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf, BT-Drucks. 14/2920, S. 5. Dezidiert a. A. S. Lorenz, JuS 2000, 833, 841: „Verfassungsrechtliche Bedenken … bestehen nicht.“; ders. in FS Lorenz (Fn. 3), S. 197 f.
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V. Weitere schwerlich haltbare rechtliche Konsequenzen der h. M. Zu welch widersprüchlichen Schlussfolgerungen die h. M. nötigt, indem sie dem Verbraucher „Schutz“ vor einer vertraglichen Bindung aufdrängt, bestätigen nicht zuletzt die Ergebnisse im Falle der Weitergabe der Ware an Dritte. Diese können kein Eigentum erwerben, wenn ihnen der Sachverhalt bekannt ist (§ 932 Abs. 2 BGB), und müssen die Ware folglich nach § 985 BGB an den Unternehmer herausgeben28. Dann aber dürfen solche „Erwerber“, mögen sie die Ware gegen Entgelt oder ohne Entgelt erhalten haben, die für sie fremde Sache nach allgemeinen Regeln der Schadensdogmatik auch nicht beschädigen (§ 823 BGB)29, würden sich gegebenenfalls sogar strafbar machen, wenn sie sie verzehrten bzw. verbrauchten (§ 246 StGB). Und damit gelangt man zur weiteren Absurdität, dass die h. M. dem Verbraucher Verzehr, Verbrauch und jede andere Zueignungshandlung gestattet, ihn aber zum Anstifter eines Delikts bzw. einer Straftat macht (§ 830 BGB; § 26 StGB), wenn er die ihm zugesandte Ware einem Dritten mit der Maßgabe überlässt, dieser dürfe sie verzehren, verbrauchen, veräußern oder mit ihr nach Belieben verfahren. Da diese „Ermächtigung“ eines Dritten durch den nicht berechtigten Verbraucher auch nach h. M. die gesetzlichen Ansprüche des Eigentümers nicht berührt, hat der Verbraucher also in Wirklichkeit gar keine Verfügungsmacht über die Sache, was nicht überrascht, weil nicht er, sondern der Unternehmer ihr Eigentümer geblieben ist. In letzter Konsequenz müsste die h. M. das Ergebnis vertreten, dass der Verbraucher entweder Eigentümer wird30 oder zumindest die Verfügungsbefugnis eines Eigentümers erhält. Doch ist der Gesetzgeber so weit gerade nicht gegangen, und nur deswegen ist die Bestimmung des § 241a BGB auch als noch verfassungsgemäß anzusehen. Da die Verfügungsmacht des Eigentümers unangetastet bleibt, kann dieser vom Verbraucher nicht nur Herausgabe verlangen, sondern die Sache insbesondere auch durch Vindikationszession an einen Dritten übereignen (§ 931 BGB), der sie anschließend beim Verbraucher vindizieren kann (§ 985 BGB). Eine starke Ansicht im Schrifttum müsste diesem Ergebnis zwar die „Einwendung“ des Verbrauchers entgegenhalten, er sei kraft des § 241a BGB der „berechtigte“ Besitzer (§§ 986 Abs. 2, 404 BGB)31. Auch
__________ 28 So die wohl h. M., s. Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7. 29 Ein Schadensersatzanspruch des Verbrauchers muss nach h. A. (vgl. die Nachw. Fn. 16) ausscheiden, da der bloße Besitz (ohne Recht zum Besitz) kein sonstiges Recht i. S. d. § 823 BGB darstellt. Tachau (Fn. 11, S. 127 ff.) und Mitsch (ZIP 2005, 1017, 1020) verneinen auch einen Schaden des Unternehmers, da sein Eigentum nur noch eine „wertlose leere Hülle“ darstelle; a. A. insofern Jacobs, JR 2004, 490, 491 ff.; Link (NJW 2003, 2811, 2812) erkennt hierin eine neue Konstellation der Drittschadensliquidation. Beschädigen der Verbraucher und der Dritte die Sache, will Schwarz (NJW 2001, 1449, 1454) die Grundsätze der „gestörten Gesamtschuld“ fruchtbar machen; ablehnend Mitsch, ZIP 2005, 1017, 1019 f. 30 So jedoch nur Riehm, JURA 2000, 505, 512, der von einem „gesetzlichen Übergang der Eigentums“ ausgeht. 31 Vgl. die Nachw. Fn. 15.
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dieses Ergebnis zeigt aber, dass ein solcher „Verbraucherschutz“ mit den Grundgedanken unseres Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht zu vereinbaren ist. Ein „Besitzrecht“ hat der Unternehmer dem Verbraucher nur zu dem Zweck eingeräumt, eine Kaufentscheidung treffen zu können. Ist diese im negativen Sinne gefallen, steht außer Frage, dass der Verbraucher sein Besitzrecht nicht mehr aus einer Gewährung durch den Eigentümer ableiten könnte, und keine verbraucherschützende Regelung vermag es, die Einräumung des Besitzrechtes eines Verbrauchers durch den Eigentümer einfach zu „ersetzen“. Eine dahingehende Auslegung des Gesetzes verstieße einmal mehr gegen Art. 14 GG, weil sie den Eigentümer seines Rechtes berauben würde, alleine darüber zu entscheiden (§ 903 BGB), wer das aus dem Eigentum fließende Besitzrecht ausüben soll. Eine letzte Ungereimtheit der h. M. ergibt sich endlich im Fall des Weiterverkaufs durch den Verbraucher, der dem Eigentümer nicht nach § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB oder §§ 687 Abs. 2 Satz 1, 681 Satz 2, 667 BGB32 auf Herausgabe des Erlangten haftbar werden soll33. Auch hier ist die Behauptung, ein entsprechendes „Verwertungsrecht“ ergebe sich gerade aus § 241a BGB, eine blanke petitio principii. Die Frage lautet vielmehr, ob der Verkauf rückabzuwickeln ist, solange der Unternehmer die Verfügung nicht genehmigt und vindizieren will. Da die h. M. diese Genehmigung im Falle des „bösgläubigen“ Käufers für notwendig erachtet34, wird in dogmatischer Hinsicht sichtbar, dass der Verbraucher jedenfalls über eine fremde Rechtsposition verfügt hat, und zwar ohne rechtlichen Grund. Nur deshalb kann die h. M. auch zu dem zutreffenden Ergebnis gelangen, dass der „bösgläubige“ Erwerber der rei vindicatio ausgesetzt sei, weil er im Verhältnis zum Unternehmer nicht Eigentümer geworden und nicht zum Besitz berechtigt sei. Aus allem folgt: Der Verbraucher in der Rolle des Veräußerers ist ein Nichtberechtigter, wie auch und gerade die h. M. als selbstverständlich unterstellt. Der über fremdes Recht verfügende Nichtberechtigte muss aber kraft des § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB, der den Sonderfall einer Eingriffskondiktion betrifft, das Erlangte an den Berechtigten abführen35. Der systematische Zusammenhang zwischen dem Rechtserwerb des Dritten zu Lasten des Berechtigten und des an die Stelle seiner Rechtsposition tretenden (rechtsgeschäftlichen) Surrogats i. S. d. § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB bestätigt endgültig, dass die h. M. in ihrem Gehorsam vor absurden Ideen, die in der Regierungsbegründung zu § 241a BGB durchschimmern, in einen dogmatischen Sumpf gelangt ist, aus dem man nur wieder herausfindet, wenn man das „Selbstverständliche“ aus § 241 a Abs. 2
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32 Allgemein zum Verhältnis der §§ 677 ff. BGB zu § 241a BGB Hau, NJW 2001, 2863 ff. sowie Tachau, JURA 2006, 889 ff. 33 S. Reichling, JuS 2009, 111, 112; Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7; Link, NJW 2003, 2811; Mitsch, NStZ 2000, 534, 536; Riehm, JURA 2000, 505, 512; Schwarz, NJW 2001, 1449, 1453. 34 Heinrichs in Palandt (Fn. 6), § 241a BGB Rz. 7. 35 Ebenso Berger, JuS 2001, 649, 653; Sosnitza, BB 2000, 2317, 2322.
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BGB ableitet: Der Verbraucher wird nicht Eigentümer, wenn er die Ware nicht kaufen will. Er muss sie an den Eigentümer zurückgeben. Er darf sich die Ware nicht aneignen, er kann dritten Personen das Eigentum aus eigener Rechtsmacht nicht verschaffen. Solche Dritte müssen sie – vom redlichen entgeltlichen Erwerb abgesehen (§ 932 BGB) – vielmehr (sogar bei redlichem unentgeltlichem Erwerb, § 816 Abs. 1 Satz 2 BGB) an den Eigentümer herausgeben. Bei wirksamer (§ 932 BGB) entgeltlicher Veräußerung steht das durch die Verfügung des Verbrauchers Erlangte dem Eigentümer (Unternehmer) zu (§ 816 Abs. 1 Satz 1 BGB), der insbesondere sein Eigentum auch während der Besitzphase des Verbrauchers anderweitig übereignen kann (§ 931 BGB), ohne dass der Verbraucher dem Erwerber ein „eigenes Besitzrecht“ (§§ 986 Abs. 2, 404 BGB) entgegenhalten könnte, welches er nämlich nach dem Gesetz gar nicht hat.
VI. Ergebnisse 1. § 241a BGB ist eine aus europarechtlicher Sicht vollständig überflüssige Regelung, die im deutschen bürgerlichen Recht ausschließlich Verwirrung angerichtet hat, weil ein hierzulande schon immer gewahrtes Verbraucherschutzanliegen durch diese hysterisch überzogene Regelung mit Grundprinzipien des Privatrechts auf Kollisionskurs geraten ist. 2. Der Konflikt ist hinsichtlich der vertraglichen Ansprüche des Unternehmers dahin zu lösen, dass die Privatautonomie der Verbraucher jedenfalls Vorrang vor aufgedrängtem, vom Verbraucher gar nicht gewünschten „Schutz“ genießt: ‚Invito beneficium non datur‘! Daraus folgt, dass die Verbraucher einen Vertrag über die unbestellt zugesandte Ware jedenfalls zu Stande bringen können, und zwar nicht nur durch prompte Bezahlung oder ausdrückliche Annahmeerklärung, sondern weiterhin auch in Gestalt einer Willensbetätigung (§ 151 BGB) durch Aneignungshandlung. Der Anwendungsbereich des § 241a BGB beschränkt sich insoweit nach allem auf solche „kundigen Verbraucher“, die den Wunsch haben, die Ware zu behalten, ohne sie bezahlen zu wollen. 3. Für solche Verbraucher gilt, dass sie gesetzlichen Ansprüchen des Unternehmers aus seinem Eigentum ausgesetzt bleiben (§ 985 BGB). Da der Gesetzeszweck des § 241a BGB bei verfassungskonformer Auslegung nur darin bestehen kann, die Verbraucher vor jeder Haftungsgefahr hinsichtlich der unerwünschten Belastung mit dem Besitz der Sache zu bewahren, ist die Verweigerung der Herausgabe an den dies verlangenden Unternehmer im Ansatz ausgeschlossen. Im für den Unternehmer schlimmsten Fall kann der Verbraucher die Ware einfach „entsorgen“, weil er keinerlei Obhut schuldet, Grenze: § 826 BGB. Die Unrichtigkeit der h. M., die dem Verbraucher ein Besitz- und Verwertungsrecht ohne Eigentum zugesteht, wird besonders deutlich erkennbar in den Fällen, in welchen dritte Personen in die Verwertung durch den Verbraucher einbezogen sind. Da sie nach der h. M. jedenfalls keinen „Schutz“
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aus § 241a BGB für sich beanspruchen können, muss die h. M. zu völlig ungereimten Ergebnissen gelangen, die mit der fehlsamen Prämisse zusammenhängen, (nur) der Verbraucher habe ein „Besitz-“ und „Verwertungsrecht“, ohne dieses aber aus eigener Rechtsmacht auf Dritte übertragen zu können. 4. Die hier befürwortete und verfassungsrechtlich gebotene restriktive Auslegung des § 241a BGB bestätigt, dass wir diese Norm einer Verbraucherschutzhysterie verdanken, die unabhängig von den undurchdachten Motiven ihrer geistigen Väter für die Praxis so gut wie keine Rolle spielt.
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Klaus Peter Berger
Schiedsgerichtsbarkeit und AGB-Recht Inhaltsübersicht Einleitung I. Berührungspunkte zwischen AGBRecht und Schiedsgerichtsbarkeit 1. Vereinbarung von Schiedsklauseln in AGB 2. AGB-Recht im Schiedsverfahren II. Der ICC-Zwischenschiedsspruch Nr. 10279 vom 29.1.2001 1. Sachverhalt 2. Entscheidung des Schiedsgerichts III. Schlussfolgerungen 1. Notwendigkeit eines praxisnäheren Ansatzes
2. Bedeutung des „Aushandelns“ im b2b-Geschäft a) Der Normzweck von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB b) Kriterien für das Aushandeln im b2b-Kontext 3. Differenzierung innerhalb des b2bVerkehrs a) Differenzierung anhand der typischen Schutzbedürftigkeit der Kundenschicht b) Berücksichtigung von Paritätserwägungen Fazit
Einleitung Mit dem Jubilar verbinden den Verfasser dieser Zeilen neben der beruflichen Aktivität in Köln vor allem die Themen „AGB-Recht“ und „Schiedsgerichtsbarkeit“. Die gemeinsame Tätigkeit als Schiedsrichter in einem ICCSchiedsgericht bot Gelegenheit zum Kennenlernen und zum intensiven Gedankenaustausch in einer ausgesprochen positiven und produktiven Arbeitsatmosphäre. Im Bereich des AGB-Rechts vertreten der Jubilar und der Verfasser dieses Beitrags seit längerem unterschiedliche Auffassungen zu der Frage einer praxisnäheren Auslegung der §§ 305 ff. BGB im Bereich des unternehmerischen Geschäftsverkehrs (b2b-Geschäft) durch die Rechtsprechung1. Unvergessen ist das Referat des Jubilars auf dem vom Verfasser dieses Beitrags organisierten Praktiker-Seminar zum AGB-Recht im Jahr 2007 in Köln. Der Jubilar leitete damals seinen Beitrag mit den völlig zutreffenden2 Worten ein, dass sich „Haftungsbeschränkungs- und Haftungsausschlussklauseln nach deutschem Recht heute schlichtweg nicht mehr wirksam in AGB vereinbaren lassen“ und dass er daher „sein Referat eigentlich auch schon wieder beenden könne“. Natürlich fuhr der Jubilar dennoch fort und hielt in gewohnter Manier ein brillantes Referat. Die Eingangsbemerkungen des Jubilars zeigen aber das
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1 Vgl. Berger, ZIP 2006, 2149 ff.; NJW 2010, 465; Dauner-Lieb, ZIP 2010, 309 einerseits und Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149; NJW 2009, 2977; BB 2010, 195 andererseits sowie die Bezugnahmen auf diesen Meinungsstreit von Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158 ff. und Merkel in FS Nobbe, 2009, S. 141, 149 f. 2 Vgl. unten Fn. 86 a. E.
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Dilemma der gegenwärtigen Lage des deutschen AGB-Rechts im Bereich des b2b-Geschäfts auf. Sie verdeutlichen in eindrucksvoller Weise, wieso die von der Rechtsprechung seit langem praktizierte enge, vom schleichenden Übergriff von Wertungen aus der Inhaltskontrolle von b2c-Verträgen in das b2bGeschäft geprägte Auslegung der § 305 ff. BGB zu einem gravierenden Standortnachteil in dem vor einiger Zeit voll entflammten3 Wettbewerb der Rechtsordnungen geworden ist. Aber nicht nur die staatliche Rechtsprechung, sondern auch die private Schiedsgerichtsbarkeit spielt im Kontext des AGBRechts eine wichtige Rolle. Ihr ist der folgende Beitrag gewidmet.
I. Berührungspunkte zwischen AGB-Recht und Schiedsgerichtsbarkeit Zwischen dem AGB-Recht und dem Recht der Schiedsgerichtsbarkeit gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Berührungspunkten. Zwei seien hier besonders hervorgehoben. 1. Vereinbarung von Schiedsklauseln in AGB Zum ersten stellt sich die Frage, ob und inwieweit Schiedsklauseln wirksam in AGB vereinbart werden können. Schon hier begegnet man der fundamentalen Unterscheidung von b2b- und b2c-Geschäft. Im b2c-Geschäft sind Schiedsklauseln in AGB jedenfalls dann unwirksam, wenn das AGB-Regelwerk, in dem sie enthalten sind, selbst in wesentlichen Punkten gegen die §§ 307 ff. BGB verstößt4. Ist dies nicht der Fall, muss die Schiedsklausel den strengen Formanforderungen des § 1031 Abs. 5 ZPO (separate Urkunde und Unterschrift) genügen, um dem Verdikt der Unwirksamkeit zu entgehen5. Für viele Bereiche des unternehmerischen Geschäftsverkehrs dagegen zählt die Schiedsgerichtsbarkeit seit Langem zu den anerkannten, akzeptierten und vor allem praktizierten Alternativen zu den staatlichen Gerichten6. Der Schutz durch die spezielle, auf den b2c-Verkehr beschränkte Formvorschrift des § 1031 Abs. 5
__________ 3 Vgl. The Law Society of England and Wales (Hrsg.), The jurisdiction of choice, 2007, mit einem Vorwort von Justizminister Jack Straw, in dem es u. a. heißt „[t]his brochure sets out the reasons for our success and lets people know why it is in their own interest to use English law and to settle their disputes here“; vgl. als Reaktion hierauf die Broschüre „Law made in Germany“, herausgegeben von den führenden juristischen Berufsverbänden in Deutschland (BNotK, BRAK, DAV, DNotV, DRB) und zum Download verfügbar unter www.lawmadeingermany.de, mit einem Vorwort von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, in dem es heißt „[Wohlstand und Demokratie] verdanken wir nicht zuletzt unserem Recht. Wer sich heute in aller Welt für kontinentaleuropäisches Recht, für deutsches Recht entscheidet, trifft eine gute Wahl, denn Recht ‚made in Germany‘ ist ein Garant für Erfolg“; vgl. dazu auch Triebel, AnwBl 2008, 305 ff.; zu dem mit dieser „battle of brochures“ verbundenen Phänomen des „Rechts als Produkt“ Eidenmüller, JZ 2009, 641 ff. 4 BGH, NJW 1992, 575; Raeschke-Kessler/Berger, Recht und Praxis des Schiedsverfahrens, 3. Aufl. 1999, Rz. 257. 5 BGH, NJW 2005, 1125; vgl. auch Musielak/Voit, 6. Aufl. 2008, § 1031 ZPO Rz. 10. 6 Vgl. Berger, Private Dispute Resolution in International Business, Vol. II: Handbook, 2. Aufl. 2009, Rz. 16–12.
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ZPO greift hier nicht. Dies ist Ausdruck der (vermuteten) größeren Geschäftsgewandtheit und -erfahrenheit von Kaufleuten im Vergleich zu Endverbrauchern. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass im b2b-Verkehr typischerweise von einer geringeren Schutzbedürftigkeit des unternehmerischen Kunden für seine geschäftlichen Belange7 auszugehen ist. Dies gilt auch für Schiedsklauseln in AGB8. Es genügt daher, wenn die Klausel den Formanforderungen des § 1031 Abs. 3 ZPO genügt. Dabei ist der pauschale Verweis auf das AGBRegelwerk ausreichend, ein ausdrücklicher Hinweis auf die darin enthaltene Schiedsklausel ist nicht erforderlich9. Dementsprechend stellt im b2b-Geschäft eine in AGB enthaltene Schiedsklausel als solche keine überraschende Klausel oder unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners dar10. Etwas anders gilt nur dann, wenn die Schiedsklausel wegen ihrer Ausgestaltung im Einzelfall eine unangemessene Benachteiligung für die Verwendergegenseite darstellt, etwa weil dem Verwender ein Übergewicht bei der Konstituierung des Schiedsgerichts zukommt (s. § 1034 Abs. 2 ZPO), die Gewähr für eine die Belange des Vertragspartners gefährdende Rechtsanwendung nicht gegeben ist11 oder dem Verwender ein einseitiges Wahlrecht zwischen staatlichem Gericht und Schiedsgericht eingeräumt wird, ohne dass zugleich der Gegenseite ein Anspruch gegen den Verwender auf frühzeitige Ausübung dieses Wahlrechts gewährt wird12. Liegen diese Umstände nicht vor, soll sich eine Schiedsklausel nach der neuesten Rechtsprechung des BGH sogar gegenüber einer Gerichtsstandsklausel der Gegenseite durchsetzen, wenn letztere den Willen, Schiedsvereinbarungen auszuschließen, nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt13. 2. AGB-Recht im Schiedsverfahren Der zweite Berührungspunkt zwischen AGB-Recht und Schiedsgerichtsbarkeit beruht darauf, dass AGB-rechtliche Fragestellungen häufig in nationalen und
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7 Es versteht sich von selbst, dass die nachfolgenden Überlegungen nicht gelten, wenn der Unternehmer außerhalb seines Gewerbes als privater Verbraucher am Geschäftsleben teilnimmt. 8 Vgl. zum AGB-Recht allg. Berger, ZIP 2006, 2149 ff. 9 BGH, Urt. v. 25.1.2007 – VII ZR 105/06, SchiedsVZ 2007, 273, 276; BGH, Beschl. v. 26.6.1986 – III ZR 200/85 (Juris); Zöller/Geimer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 1031 ZPO Rz. 9, 24. 10 BGH, Urt. v. 25.1.2007 – VII ZR 105/06, SchiedsVZ 2007, 273, 275; BGH, Urt. v. 10.10.1991 – III ZR 141/90, BGHZ 115, 324, 324 f. = ZIP 1992, 59, 60 = NJW 1992, 575, 576; BGH, Urt. v. 13.1.2005 – III ZR 265/03, BGHZ 162, 9, 16 = NJW 2005, 1125, 1126; BGH, Beschl. v. 26.6.1986 – III ZR 200/85 (Juris); vgl. auch DIS-Zwischenschiedsspr. v. 20.2.2007 (DIS-SV-B 606/06), IBR 2007, 401, 401; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 5, Rz. 9 ff. 11 BGH, Urt. v. 10.10.1991 – III ZR 141/90, BGHZ 115, 324, 324 f. = ZIP 1992, 59, 60 = NJW 1992, 575, 576. 12 BGH, Urt. v. 27.2.1969 – KZR 3/68, NJW 1969, 978, 979; BGH, Beschl. v. 30.1.2003 – III ZB 6/02, IHR 2003, 90, 90; Musielak/Voit, 7. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 21 a. E.; Timmermann, Zur Auslegung der Klausel „Hamburger freundschaftliche Arbitrage aufgrund der Waren-Vereins-Bedingungen“, IPRax 1984, 136, 136 f. 13 BGH, Urt. v. 25.1.2007 – VII ZR 105/06, SchiedsVZ 2007, 273, 275.
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internationalen Wirtschaftsschiedsverfahren eine Rolle spielen. Dies gilt etwa für Streitigkeiten aus Unternehmenskaufverträgen, sie werden heute fast ausschließlich durch Schiedsgerichte entschieden14. In diesen Schiedsverfahren wird regelmäßig auch der Einwand erhoben, bestimmte Klauseln in den im Unternehmenskaufvertrag enthaltenen und von dem wenig praxisnahen Gewährleistungsrecht des BGB15 bewusst gelösten („locked-box system“) Gewährleistungsbestimmungen („Representations & Warranties“) seien wegen Verstoßes gegen die §§ 307 ff. BGB unwirksam. Angesichts der Tatsache, dass über diese Verträge meist über Wochen oder Monate hinweg verhandelt wird und dass die während dieser Zeit verfassten Entwürfe mit den darin vermerkten Änderungen dem Schiedsgericht von den Parteien als „mark up copies“ vorgelegt werden, sind derartige Einwände in aller Regel ohne Grundlage. Bei vernünftiger, das heißt praxisnaher Auslegung des § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB muss man davon ausgehen, dass diese Klauseln im Einzelnen ausgehandelt wurden und daher keine nach den §§ 307 ff. BGB kontrollfähigen AGB darstellen16. Für die Fortbildung des deutschen Rechts wären die in diesen Verfahren ergangenen Entscheide der Schiedsgerichte von besonderer Bedeutung. Schiedssprüche entfalten, ebenso wie die Entscheide staatlicher Gerichte, eine faktische Präjudizwirkung17. Dies gilt auch deshalb, weil heute die Gleichwertigkeit von staatlicher Gerichtsbarkeit und privater Schiedsgerichtsbarkeit allgemein anerkannt ist18. Dieser Äquivalenzgedanke war auch das Leitmotiv der Schiedsrechtsreform vom 1.1.199819. Das Dilemma der Schiedsgerichtsbarkeit liegt allerdings darin, dass gerade wegen der von den Parteien gewünschten Vertraulichkeit des Schiedsverfahrens die daraus resultierenden Schiedssprüche nur sehr selten veröffentlicht werden. Das Recht des Unternehmenskaufes und in diesem Kontext auch das AGB-Recht werden also außerhalb der
__________ 14 Vgl. Duve/Keller, SchiedsVZ 2005, 169, 172 ff. („Entscheidungen staatlicher Gerichte, in denen es um den Kauf großer Unternehmen geht, sind nicht zu finden … Aussagen zur rechtlichen Bedeutung einer ‚Due Diligence‘-Prüfung oder des Sachverstands der Berater für die Aufklärungsbedürftigkeit eines Käufers im Rahmen der Übernahme eines Unternehmens in dieser Größenordnung gibt es in der Rechtsprechung … nicht.“) 15 Vgl. dazu PWW/D. Schmidt, BGB Kommentar, 4. Aufl. 2009, Vor §§ 433 ff. BGB Rz. 15. 16 Vgl. Habersack/Schürnbrand in FS Canaris, Band I, 2007, S. 359 ff.; vgl. auch Liese/ Theusinger, BB 2007, 1077. 17 Berger, J.Int’l. Arb. Nr. 4 1992, 5, 19 ff.; Duve/Keller (Fn. 14), 171; vgl. auch ICCSchiedsspruch Nr. 4131 (Interim Award Dow Chemical v. Isover Saint Gobain), Yearbook Commercial Arbitration 1984, 131, 136: „The decisions of [arbitral] tribunals progressively create case-law which should be taken into account, because it draws conclusions from economic reality and conforms to the needs of international commerce …“ 18 BGH, NJW 1998, 3027; Habscheid, JZ 1998, 446; vgl. auch Berger, Arbitration International 2009, 217, 218 f. 19 BT-Drucks. 13/5274 v. 12.7.1996, abgedruckt in Berger (Hrsg.), Das neue Recht der Schiedsgerichtsbarkeit/The New German Arbitration Law, 1998, S. 179.
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staatlichen Gerichtsbarkeit fortgebildet20. Auch der Jubilar hatte die fehlende Transparenz der Schiedsgerichtsbarkeit bereits vor mehr als zwanzig Jahren bemängelt21. Für das AGB-Recht heißt dies, dass sich Schiedsgerichte zwar an der veröffentlichten, aber im b2b-Bereich wenig praxisnahen Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte orientieren können, nicht aber umgekehrt die ordentlichen Gerichte an der praxisnahen, aber nicht veröffentlichten Rechtsprechung der Schiedsgerichte. Das Potential der Schiedsgerichtsbarkeit zur Fortbildung des deutschen Rechts und als Motor für eine praxisnähere Anwendung des AGBRechts im b2b-Geschäft verpufft meist ungehört.
II. Der ICC-Zwischenschiedsspruch Nr. 10279 vom 29.1.2001 Angesichts dieser Ausgangslage ist es von besonderer Bedeutung, wenn doch einmal ein Schiedsspruch, der sich mit der Auslegung des deutschen AGBRechts befasst, veröffentlicht wird. In der SchiedsVZ 2005 wurde ein ICC-Zwischenschiedsspruch veröffentlicht, der sich (fast) ausschließlich mit der Frage befasste, ob die in einem internationalen Anlagenliefervertrag enthaltene Haftungsbegrenzungsklausel („Cap-Klausel“) wegen Verstoßes gegen das auf den Vertrag anwendbare deutsche AGB-Recht unwirksam war. Der Verfasser dieses Beitrags war als Mitschiedsrichter an diesem Verfahren beteiligt. Der Leitsatz der SchiedsVZ-Redaktion lautet: „Zwischen Unternehmern, die sich nicht in einem wirtschaftlichen Ungleichgewicht gegenüberstehen, kann eine Haftungsbegrenzungsklausel (‚cap clause‘) auch dann als ausgehandelt gelten, wenn sie während der Vertragsverhandlungen nicht geändert und von einer Vertragspartei als nicht verhandelbar hingestellt wurde, solange sie nur Gegenstand der Verhandlungen zwischen den Parteien war. Die Annahme, eine derartige Klausel sei unter diesen Voraussetzungen nicht ausgehandelt, ist mit der kaufmännischen Rechtswirklichkeit nicht zu vereinbaren“22.
1. Sachverhalt Die Parteien, zwei Unternehmen, hatten einen Werklieferungsvertrag über eine neuartige, bis dahin noch nicht praxiserprobte Industrieanlage von Deutschland in das europäische Ausland abgeschlossen. Der Auftragsbestätigung beigefügt waren die „General Conditions for the supply of Plant and Machinery for export“ (Genf, März 1953; „LW 188“)23. Hierbei handelt es sich um AGB im Sinne des § 1 Abs. 1 AGBG (= § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die ECE-Bedingungen
__________ 20 Vgl. Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 124; Habersack, SchiedsVZ 2004, 259, 262; Duve/ Keller (Fn. 14), 172 ff. 21 Graf von Westphalen, ZIP 1986, 1159. 22 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279, SchiedsVZ 2005, 108 ff. mit Anm. Hobeck, a. a. O., S. 112. 23 Vgl. dazu Ferid, Die Allgemeinen Lieferbedingungen für den Export von Anlagegütern, 1954, S. 9 ff., deutscher Text der ECE-Bedingungen abgedruckt a. a. O., S. 39 ff.; vgl. auch www.jurisint.org/en/con/25.html.
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waren allerdings vom beklagten deutschen Lieferanten um einige maschinengeschriebene Artikel ergänzt worden. Diese Ergänzungen lauteten u. a. folgendermaßen: „11.3 The liability in damages according to article 11.1 is limited to 5 % of contract value. 11.4 Any further claims of purchaser, in particular for indemnification of damages of any nature and also such damages not resulting from the scope of supply are excluded without consideration on which legal ground they are presented.“
Die Klägerin machte gegen die Beklagte einen Schadensersatzanspruch wegen Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Spezifikation der Anlage geltend. Die beklagte Lieferantin hielt dem entgegen, die Spezifikation sei eingehalten worden. Hilfsweise verwies sie auf die in den Ziffern 11.3 und 11.4 enthaltenen Haftungsbegrenzungs- bzw. Haftungsausschlussklauseln. Zwischen den Parteien war unstreitig, dass die Beklagte die genannten Ziffern in allen von ihr geschlossenen gleich gelagerten Verträgen verwendete. Die Beklagte hatte der Klägerin die umstrittenen Klauseln wiederholt, insgesamt fünfmal, und zwar sowohl in ihren Angeboten unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass es sich dabei um ihre eigenen speziellen Vertragsbedingungen handelt, als auch als maschinengeschriebenen Zusatz innerhalb der gedruckten LW 188 vorgelegt. Ein schriftlicher Widerspruch der Klägerin erfolgte nicht. Bereits das Angebot der Beklagten zum Vertragsschluss („Budget Quotation“) besagte auf Seite 10 maschinenschriftlich: „Terms of delivery: In addition the enclosed ECE conditions LW 188, as amended, applicable on the day of conclusion of the contract, apply as our General Terms of Delivery. The amendments on the limitation of the contractual liability in articles 11.3 and 11.4 and in the annex apply as our Particular terms of Delivery. …“.
Diesem Angebot war ein Exemplar der LW 188 mit entsprechenden maschinengeschriebenen Zusatzklauseln beigefügt. Nach Aussage eines der an den Vertragsverhandlungen beteiligten Zeugen der Klägerin hatten die Vertreter der Klägerin während dieser Verhandlungen die schriftlich übersandten Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten geprüft und die Klauseln Nr. 11.3 und 11.4 ausdrücklich mit der Bemerkung angesprochen, diese seien „sehr hart“. Eine Diskussion über den Inhalt der Klausel habe aber nicht stattgefunden. Die Beklagte habe vielmehr entgegnet, die Klausel sei nicht änderbar. Von Seiten der Klägerin seien keine Abänderungswünsche hinsichtlich dieser Klauseln erhoben worden. Unterschiedliches wurde allerdings von den Zeugen dazu bekundet, aus welchem Grunde solche Abänderungswünsche unterblieben. Ein Zeuge der Klägerin sagte dazu aus, dass nach seinem Eindruck die Beklagte zu einer Abänderung nicht bereit war („for them this was a policy matter and they were quite stiff and relying on these terms“: „B said that they had to insist on these general conditions on a take it or leave it basis“), so dass man den Vertrag so akzeptieren musste, weil nur die Beklagte eine derartige Maschine liefern konnte. Ein ebenfalls an den Verhandlungen beteiligter Zeuge der Beklagten bekundete, dass „für diesen Vertrag … für uns eine Er18
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höhung der 5 %-Haftungsbegrenzung nicht in Frage“ gekommen sei, „weil … wir auf die [mit der gelieferten Anlage von der Klägerin hergestellten] Produkte keinen Einfluss nehmen konnten“. Allerdings bekundete er, dass – falls von Klägerseite bezüglich der Haftungslimitierung ein konkreter Gegenvorschlag gekommen wäre – er „die Frage an die Geschäftsführung hochgereicht“ hätte, denn „bei konkreten Vorschlägen dagegen, die von der Käuferseite gemacht werden, sind wir durchaus bereit, dies zu tun“24. Insgesamt spiegeln die unstreitigen Tatsachen und die Zeugenaussagen den typischen Ablauf der Verhandlung eines internationalen Liefervertrages wider. Von besonderer Bedeutung für das Verständnis der Klauseln Nr. 11.3 und 11.4 und der damit zusammenhängenden AGB-rechtlichen Wertungen durch das Schiedsgericht ist die Tatsache, dass es sich um die Lieferung einer neuen, bisher in der Praxis nicht erprobten, komplexen Industrieanlage handelte, sodass die beklagte Lieferantin das mit der Produktion der Produkte verbundene betriebsbezogene und für sie nicht versicherbare Risiko (Betriebsausfallschaden) der Klägerin kaum abschätzen konnte. Dies war beiden Seiten bewusst, denn – und dies ist für die AGB-rechtliche Bewertung ebenfalls von großer Bedeutung – es handelt sich bei beiden Parteien um Unternehmen mit erheblicher geschäftlicher Erfahrung, die Beklagte im Maschinenbau, die Klägerin in der Industriesparte, für die die Anlage geliefert wurde. 2. Entscheidung des Schiedsgerichts Das Schiedsgericht entschied, dass die Ziffern 11.3 und – insoweit mit Stimmenmehrheit – 11.4 keine Allgemeinen Geschäftsbedingungen darstellten, weil es sie für „ausgehandelt“ i. S. v. § 1 Abs. 2 AGBG (= § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB) hielt. Das Schiedsgericht ging zunächst von der vom BGH in ständiger Rechtsprechung vertretenen, sehr engen Definition des Aushandelns aus25. Aushandeln i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB bedeutet danach „mehr als bloßes Verhandeln“26. Der Verwender muss „den gesetzesfremden Kerngehalt seiner AGB ernsthaft zur Disposition stellen und dem anderen Teil Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener Interessen einräumen“. Zugleich muss er dem Kunden „die reale Möglichkeit [verschaffen], den Inhalt der Vertragsbedingungen zu beeinflussen“27. Rechtsprechung und Schrifttum wenden diesen vom BGH aufge-
__________ 24 25 26 27
Vgl. ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 112. ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 110. BGH, NJW 2003, 1805, 1807. BGHZ 153, 312; BGHZ 150, 299; BGHZ 104, 236; BGHZ 85, 305, 308; BGH, NJW 2004, 1455; BGH, NJW 2000, 1110; BGH, NJW 1998, 3488, 3489; BGH, NJW-RR 1993, 504; BGH, NJW 1992, 1107 f.; BGH, NJW 1992, 2759, 2760; BGH, NJW 1991, 1678, 1679; BGH, NJW 1988, 2465, 2466; BGH, NJW-RR 1987, 144, 145; vgl. auch Gottschalk, NJW 2005, 2493, 2494 f.; P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGBRecht, 10. Aufl. 2006, § 305 BGB Rz. 45 ff.; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGBRecht, 5. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 37 ff.
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stellten „Regelsatz“28 auch auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr an29. So soll der Umstand, dass das Vertragswerk insgesamt besprochen und in anderen Teilen abgeändert wurde, für die Frage der Qualifizierung einer Vertragsklausel (Vertragsstrafeklausel) als „ausgehandelt“ i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB ohne Bedeutung sein, weil dadurch nicht die Bereitschaft des Verwenders belegt wird, dem unternehmerischen Vertragspartner des Verwenders eine „eigenverantwortliche Gestaltungsmöglichkeit hinsichtlich der in Rede stehenden Klausel“ einzuräumen30. Das Schiedsgericht sah sich jedoch aus verschiedenen Gründen veranlasst, von dieser engen Auslegung des Begriffs des Aushandelns abzuweichen31. Es begründete dies zunächst damit, dass im zu entscheidenden Fall die Klägerin über die beiden Klauseln und ihren Inhalt von der beklagten Lieferantin informiert wurde und deren Inhalt damit in ihren rechtsgeschäftlichen Willen aufnehmen konnte und dies auch tatsächlich tat: „‚die Rechtsordnung (hat) keine Veranlassung, dem Vertragspartner Risiken abzunehmen, die er unter freiwilligem Verzicht auf Abänderung der ihm vorgelegten Formulierungen des anderen Teils nun einmal eingegangen ist‘ (Lieb, DNotZ 1989, 274, 291, und Wackerbarth, AcP Band 200 (2000), 45, 81, 83). Man muss bei dieser Bewertung berücksichtigen, dass einen ganz wesentlichen Grund für die vom Gesetzgeber gewünschte Inhaltskontrolle die von ihm befürchtete Gefahr bildet, dass bestimmte Vertragsklauseln nicht in die Entscheidung des Vertragspartners einbezogen worden sind (so nach Auffassung des Schiedsgerichts zutreffend Wackerbarth, a. a. O., 84). Anders ausgedrückt: Der entscheidende Grund für das Eingreifen des Gesetzgebers ist, dass bei Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine Partei das Recht zur Bestimmung des Vertragsinhalts unter Ausschluss der anderen Partei für sich allein in Anspruch nimmt …“ 32
Darüber hinaus stellte das Schiedsgericht entscheidend auf die kaufmännische Praxis der Vertragsverhandlungen ab, mit der die enge Definition des Aushandelns durch den BGH in keiner Weise in Einklang steht: „Bei langen Vertragswerken werden – so verhält es sich in der kaufmännischen Wirklichkeit – sehr häufig längst nicht jede und alle darin enthaltenen Klauseln diskutiert. Kaufleute gehen davon aus – und müssen angesichts der meist geschäftsmäßigen Eile davon ausgehen –, dass über jede Klausel jedenfalls gesprochen und verhandelt werden kann, zumindest dann, wenn sie nicht in einem gedruckten Regelwert steht. Auch wenn ein Text unverändert bleibt, kann im Ergebnis ein ‚Aushandeln‘ bejaht werden …“ 33
__________ 28 Graf von Westphalen, NJW 1994, 2113, 2114. 29 Vgl. BGH, NJW-RR 1987, 144, 145; Graf von Westphalen, DB 1977, 943, 946; ders., NJW 1994, 2113, 2114; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer (Fn. 27), § 305 BGB Rz. 35 ff., insb. Rz. 39; P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 305 BGB Rz. 51 a. E. 30 BGH, NJW 2003, 1805, 1807. 31 Vgl. zur methodisch-dogmatischen Rechtfertigung für diese Abweichung Berger (Fn. 17), 14 f.; Aden, RIW 1984, 934, 937; Duve/Keller (Fn. 14), 171 f. 32 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 110. 33 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 110.
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Das Schiedsgericht hob auch die Tatsache hervor, dass selbst nach der Rechtsprechung auch dann von einem Aushandeln gesprochen werden kann, wenn die Klausel im Ergebnis unverändert geblieben ist34 bzw. der Verwender sie für unabdingbar erklärt35. Darüber hinaus wies das Schiedsgericht auch auf die wirtschaftliche Funktion der Klauseln Nr. 11.3 und 11.4 hin, die eine im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses unübersehbare und für die Beklagte auch sonst nicht versicherbare Haftung für das mit dem Einsatz der neuen Anlage verbundene Betriebsausfallrisiko der Klägerin verhindern sollte: „Es existieren durchaus Fälle, in denen wie bei Musterverträgen über manche Klauseln überhaupt nicht gesprochen wird und gleichwohl – wegen des Zur-Disposition-Stehens – von einem ‚Aushandeln‘ gesprochen werden kann. In einem Urteil vom 26.2.1992 hat der Bundesgerichtshof ausgeführt: ‚Im kaufmännischen Verkehr kann ein individuelles Aushandeln im Übrigen auch dann vorliegen, wenn der Verwender eine bestimmte Klausel als unabdingbar erklärt‘ (NJW 1992, 2283). Das OLG Köln hat diesen Satz in einem Urteil vom 23.6.1995 wiederholt (ZIP 1995, 1636). Canaris hat schon in JZ 1987, 1002, 1003, unter Berufung auf Ulmer/Brandner/Hensen (die damals existierende Auflage des Kommentars AGBG, § 1, Rdn. 51) darauf hingewiesen, dass eine Individualabrede ‚immer dann anzunehmen (ist), wenn der Haftungsausschluss erkennbar der Verhinderung einer ruinösen oder katastrophalen Einstandspflicht zu dienen bestimmt ist‘. Dies gehe ‚auch dann, wenn der potentielle Schädiger gleichartige Klauseln in einer Vielzahl von Fällen verwendet oder zu verwenden beabsichtigt‘. Der dahinter stehende Gedanke ist ersichtlich der, dass der künftige Vertragspartner des Verwenders erkennen muss, dass von ihm eine Reaktion erwartet wird, wenn er mit einem Vorschlag des Verwenders nicht einverstanden ist“ 36.
Schließlich wies das Schiedsgericht auf die bereits vor mehr als zwanzig Jahren gewonnene Erkenntnis hin, wonach mit der vom BGH im b2c- und b2bGeschäft gleichermaßen verwendeten Auslegung des Begriffs des Aushandelns zwar erhöhte Rechtssicherheit gewährleistet wird, zugleich aber auf Praxisnähe in der Rechtsanwendung im b2b-Bereich verzichtet wird: „D. Rabe weist auf die im konkreten Fall schwierige Unterscheidung von ‚Verhandeln‘ und ‚Aushandeln‘ hin und stellt fest: ‚Generell formelhaft das Aushandeln zu verneinen, wenn die Klausel nicht zur Disposition gestellt wurde, um die es später geht, wenn man sich nicht mehr einig ist, entspricht einfach nicht der Rechtswirklichkeit‘ (NJW 1987, 1978, 1980)“ 37.
III. Schlussfolgerungen 1. Notwendigkeit eines praxisnäheren Ansatzes Die Entscheidung des Schiedsgerichts zeigt, dass angesichts der Realitäten der kaufmännischen Verhandlungspraxis der generalisierende, für b2c- und b2b-
__________ 34 Vgl. nur BGHZ 84, 111; BGH, NJW 1991, 1679; NJW 1998, 2600; NJW 2000, 1110, 1112; Palandt/Grüneberg, 69. Aufl. 2010, § 305 BGB Rz. 21. 35 BGH, NJW 1992, 2283, 2285; Staudinger/Schlosser, 2006, § 305 BGB Rz. 45. 36 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 111. 37 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 111.
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Verträge gleichermaßen geltende Ansatz des BGH bei der Frage, wann eine Klausel als „ausgehandelt“ i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB gelten kann, durch eine differenzierte Sichtweise abgelöst werden muss38. Die Anforderungen der Rechtsprechung an das „Aushandeln“ von Vertragsbedingungen i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB lassen sich nämlich in der unternehmerischen Praxis kaum erfüllen39. Sie zwingen den unternehmerischen Verwender dazu, die gesamten Vertragsverhandlungen mit seinem Kunden ausführlich mitzuprotokollieren, um im Streitfall das „Aushandeln“ jeder einzelnen Vertragsklausel, für dessen Vorliegen er die Beweislast trägt40, nachweisen zu können41. Selbst wenn – wie dies etwa in dem vom ICC-Schiedsgericht zu entscheidenden Sachverhalt der Fall gewesen sein mag – beide Parteien von der wirtschaftlichen Sachgerechtigkeit einer Vertragsklausel als Instrument unternehmerischer Risikozuweisung überzeugt sind und gerade deshalb über die Klausel nicht ausführlich diskutiert haben, handelt es sich um AGB. Im Streitfall kann eine der Parteien sie daher später unter Berufung auf die AGB-rechtliche Inhaltskontrolle für unwirksam erklären lassen42. Mit der vom Gesetzgeber vorausgesetzten geringeren Schutzbedürftigkeit und erhöhten Verantwortlichkeit des unternehmerischen Kunden eines AGB-Verwenders und dem daraus abgeleiteten Differenzierungsgebot ist dies nicht zu vereinbaren. Die in § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB angeordnete Nichtgeltung von § 305 Abs. 2 und 3 BGB zeigt, dass der Gesetzgeber dieses Gebot bereits auf der Stufe der Einbeziehungskontrolle berücksichtigt wissen will. 2. Bedeutung des „Aushandelns“ im b2b-Geschäft a) Der Normzweck von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB Die Frage nach den Anforderungen, die an das Aushandeln im b2b-Kontext zu stellen sind, muss daher neu gestellt und vor dem Hintergrund des Zwecks des
__________ 38 Vgl. Berger, ZIP 2006, 2149, 2152 f.; Berger/Kleine, BB 2007, 2137, 2138 f.; Lischek/ Mahnken (Fn. 1), 158 ff. 39 Vgl. Wolf in 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band I, Bürgerliches Recht, 2000, S. 111, 119, wonach der BGH „in seiner gesamten AGBRechtsprechung, auch soweit sie den kaufmännischen Verkehr betrifft, kaum jemals ein Aushandeln … mit dem Verzicht auf eine Inhaltskontrolle angenommen [hat].“ 40 Vgl. zur Beweislast des Verwenders für das Aushandeln BGHZ 85, 305, 308; BGHZ 83, 56, 58; BGH, NJW-RR 1987, 144; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 43 Rz. 16 a. E. 41 Langer, WM 2006, 1233, 1237; vgl. auch Rabe, NJW 1987, 1978, 1980; Hensen, NJW 1987, 1986, 1987: „… vielleicht darf man den Kaufleuten … den Rat geben, sich nach Abschluss der Verhandlungen schriftlich zu bestätigen, dass man sich insbesondere über diese und jene Klausel verständigt habe, um auf diese Weise abzusichern, dass besonders wichtige Klauseln Bestand behalten“; vgl. auch Garrn, JZ 1978, 302, 304. 42 Vgl. Rabe (Fn. 41), 1979 unter Hinweis darauf, der wirtschaftlich überlegene Automobilkonzern möge die Lieferbedingungen seines Unterlieferanten ungelesen abheften, denn dadurch werde sichergestellt, „dass der Automobilkonzern später einmal ihm missliebige Klauseln unter Berufung auf das AGB-Gesetz beseitigen wird.“; vgl. auch Michel/Hilpert, DB 2000, 2513, 2514 („Bumerangeffekt zulasten des vorschlagenden Vertragspartners“).
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§ 305 Abs. 1 Satz 3 BGB beantwortet werden. Das ICC-Schiedsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Zweck darin liegt, dass die Vereinbarung von vorformulierten Vertragsbestimmungen dann nicht der Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB unterliegen soll, wenn und „soweit“ diese Klausel trotz ihrer Vorformulierung durch eine Partei beiden Vertragspartnern als Ausdruck freier und eigenverantwortlicher Willensentscheidung zugerechnet werden kann43. Genau diese Konstellation war in dem vom ICC-Schiedsgericht zu beurteilenden Fall gegeben. Die strenge Formel der Rechtsprechung legt dagegen dem Verwender einseitig die Verantwortung auf und verlangt nur von ihm, die Initiative zu ergreifen („Zur-Disposition-Stellen“ und Gewährleistung der „realen Ermöglichung der Inhaltsbeeinflussung“44). Im b2c-Kontext erweist sich diese einseitige Verteilung der Lasten im Interesse eines effektiven Verbraucherschutzes als sinnvoll und notwendig, um die Störung in der Richtigkeitsgewähr des Vertragskonsenses zu beseitigen. Im b2b-Kontext muss diese Verantwortung aber auch dem unternehmerischen Vertragspartner auferlegt werden45. Im Gegensatz zum b2c-Geschäft ist im unternehmerischen Geschäftsverkehr grundsätzlich von der gleichen Verantwortung beider Parteien für die Durchsetzung der eigenen wirtschaftlichen Interessen auszugehen. Das Wahrnehmen und Ausnutzen einer Verhandlungsmöglichkeit – die vom BGH für das Aushandeln verlangte „Fähigkeit zur Wahrung eigener berechtigter Interessen“46 – kann von einem unternehmerischen Kunden im Gegensatz zu einem Verbraucher grundsätzlich erwartet werden47. b) Kriterien für das Aushandeln im b2b-Kontext Ein Aushandeln i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB liegt im b2b-Geschäft immer schon dann vor, wenn der Verwender eine konkrete Vertragsbedingung zur Disposition stellt. Der Kunde hat in diesem Fall die betreffende Klausel „in seinen rechtsgeschäftlichen Gestaltungswillen aufgenommen“48. Angesichts der geschilderten Realitäten besteht zudem im unternehmerischen Bereich für den Kunden, abgesehen von Ausnahmefällen49, die „reale“ Möglichkeit der Einflussnahme auf den Klauselinhalt50. Das Erfordernis der realen Möglichkeit
__________ 43 Garrn (Fn. 41), 303; zustimmend Graf von Westphalen (Fn. 28), 2114; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 273; vgl. auch P. Ulmer in Ulmer/ Brandner/Hensen (Fn. 27), § 305 BGB Rz. 51. 44 Vgl. oben Fn. 27. 45 Medicus, Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht, 1994, S. 25; Wolf (Fn. 39), 121. 46 BGH, NJW 1983, 385, 386. 47 Wolf (Fn. 39), 121; Trappe, Neuere Entwicklungen im Charterrecht des Seeverkehrs, 1975, S. 119 f.: „… ein Kaufmann, der von den ihm gegebenen faktischen und rechtlichen Möglichkeiten wissentlich keinen Gebrauch macht, bedarf des gesetzlichen Schutzes nicht.“ 48 BGH, NJW 1991, 1678, 1679; vgl. auch Wackerbarth, AcP 200 (2000), 45, 84. 49 S. aber zu wichtigen Ausnahmen unten 3. 50 Vgl. Wolf (Fn. 39), 121; ders., NJW 1977, 1937, 1939.
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der Einflussnahme auf den Vertrag soll das Versagen der Richtigkeitsgewähr des vertraglichen Konsenses im b2c-Geschäft dadurch kompensieren, dass der Verwender selbst dem Kunden zumutbare Alternativen zur Wahrung seiner Interessen eröffnet51. Im b2b-Geschäft ist die Suche nach zumutbaren Alternativen nicht allein Sache des Verwenders. Vielmehr trägt der Kunde hierfür selbst die Verantwortung, wenn er sich dadurch, dass der Verwender die Klausel zur Disposition stellt, der Bedeutung der Klausel bewusst ist. Das Ausforschen und Ausnutzen von Wahlmöglichkeiten durch den Unternehmer gehört zu den grundlegenden Charakteristika eines wettbewerblich strukturierten Marktes52. Die Entscheidung des ICC-Schiedsgerichts zeigt aber, dass auch dann, wenn der Verwender nicht im Sinne der Rechtsprechung initiativ geworden ist und eine Klausel nicht ausdrücklich zur Disposition stellt, angesichts der objektiven und vom Schiedsgericht umfassend gewürdigten Umstände des Einzelfalls ein Aushandeln angenommen werden kann. Die in der Praxis anzutreffenden Verhandlungsszenarien sind zwar vielgestaltig. Dennoch lassen sich einige typische Umstände nennen53, bei deren Vorliegen konkreter Anlass besteht, näher zu untersuchen, ob die Geltung einer bestimmten vorformulierten Vertragsbedingung vor dem Hintergrund der Realitäten der unternehmerischen Verhandlungspraxis nicht nur dem „Verwender“, sondern auch seinem Kunden zuzurechnen ist, indem sich dieser aus Einsicht in die Sachgerechtigkeit der Regelung diese voll zu eigen gemacht hat54: – der Verwender weist – wie im vom ICC-Schiedsgericht zu entscheidenden Fall geschehen – ausdrücklich auf bestimmte Klauseln hin, an denen er ein besonderes Interesse hat, und der Kunde akzeptiert diese55; – der Vertragspartner des Verwenders spricht – wie im vom ICC-Schiedsgericht zu entscheidenden Fall geschehen – von sich aus eine bestimmte Klausel an und gibt zu verstehen, dass er sich zwar eine andere Regelung wünscht, die wirtschaftliche Sachgerechtigkeit der Klausel aber anerkennt; – der Verwender hat – wie dies bei Vertragsverhandlungen im geschäftlichen Bereich häufig geschieht – bei bestimmten Klauseln oder wirtschaftlichen Punkten des Vertrages (z. B. Entgelt56) Kompromisse gemacht und lässt des-
__________
51 Fastrich (Fn. 43), S. 274. 52 Wolf (Fn. 39), 121. 53 Vgl. Wolf (Fn. 39), S. 121 f.; Berger, NJW 2001, 2152, 2154; vgl. auch Rabe (Fn. 41), 1980. 54 BGH, WM 1985, 1208, 1209. 55 P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 305 BGB Rz. 51; Jaeger, NJW 1979, 1574, die aber vom Verwender zusätzlich verlangen, der Gegenseite die „reale Möglichkeit“ der Inhaltsbeeinflussung zu geben; wie hier Canaris, JZ 1987, 993, 1003; Heinrichs, NJW 1995, 153, 158; Rabe (Fn. 41), 1980; a. A. Michalski/Römermann, ZIP 1993, 1434, 1440; Schuhmann, JZ 1998, 127, 128. 56 Vgl. BGH, NJW 1988, 410, 411: „Wenn der Verwender grundsätzlich auf dieser Klausel besteht, kann er dennoch in einem Teilpunkt, beispielsweise in der Entgeltvereinbarung, dem Kunden entgegenkommen, was für das Aushandeln genügen würde.“; relativierend dazu aber BGH, NJW 1991, 1678, 1679.
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wegen bei einer anderen Klausel nicht mit sich reden, der Vertrag wird also von den Parteien als „Paket“ von Leistungs- und sonstigen Pflichten verstanden, bei deren Ausgestaltung mal die eine, mal die andere Seite ihren Standpunkt durchsetzen kann57. 3. Differenzierung innerhalb des b2b-Verkehrs Allerdings ist bei allen diesen Überlegungen zu berücksichtigen, dass sich nicht nur im Verhältnis von b2c- und b2b-Geschäft, sondern auch innerhalb des b2b-Bereichs pauschale Lösungen verbieten. Auch innerhalb des b2b-Geschäfts bestehen nämlich erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit der Verwendergegenseite. § 310 Abs. 1 BGB trägt diesem Umstand Rechnung und gebietet es mit seinem Satz 2, 2. HS, auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche angemessen Rücksicht zu nehmen. Ziel der insoweit missverständlichen Vorschrift ist es, die Flexibilität der Inhaltskontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr zu gewährleisten. Dies belegen die Materialien zum AGB-Gesetz58 und zur Schuldrechtsmodernisierung59. Das Differenzierungsgebot des § 310 Abs. 1 BGB geht damit über die in Abs. 1 Satz 1 explizit vorgesehene Unterscheidung von b2b- und b2c-Verkehr hinaus. Es verlangt eine differenzierende Inhaltskontrolle auch innerhalb des b2b-Bereichs60. a) Differenzierung anhand der typischen Schutzbedürftigkeit der Kundenschicht Damit weist der Gesetzgeber Rechtsprechung und Wissenschaft die Aufgabe zu, Kriterien zu ermitteln, die eine differenzierende Inhaltskontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr ermöglichen61. Das AGB-Recht bietet hierfür nur wenige unmittelbare Anhaltspunkte; insbesondere ist der missglückte Wortlaut von § 310 Abs. 1 Satz 2, 2. HS BGB insoweit nicht hilfreich. Für eine Unterscheidung nach der typischen Schutzbedürftigkeit einzelner Kundengruppen spricht die in § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB explizit vorgesehene Differenzierung zwischen b2b- und b2c-Geschäften, die sich gerade durch die divergierende Schutzbedürftigkeit von Verbrauchern und Unternehmern erklärt62. Sie ist auch in § 2 HGB vorgesehen und beruht hier ebenfalls auf der Tatsache, dass bestimmte Gruppen von Gewerbetreibenden – also „Unternehmern“ in der Terminologie der §§ 305 ff. BGB – aufgrund ihrer wirtschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit weniger schutzbedürftig sind als andere63. Für die Berück-
__________ 57 58 59 60 61 62 63
Wolf (Fn. 39), 122. BT-Drucks. 7/3919, S. 43. BT-Drucks. 14/6857, S. 54. Berger, ZIP 2009, 2149, 2155 f.; Berger/Kleine (Fn. 38), 2138 ff. Vgl. A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 373 a. E. Vgl. oben 1. Vgl. BT-Drucks. 13/8444, S. 27 ff.
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sichtigung dieses Gedankens bei der AGB-Kontrolle im b2b-Bereich sprechen auch die Materialien zum AGB-Gesetz. Danach ging es dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 24 AGBG (heute § 310 Abs. 1 BGB) darum, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Risikoverlagerungen durch AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr „im Zusammenhang mit einer Vielzahl von Geschäften zwischen den Vertragspartnern zu sehen sind … und durch Vorteile anderer Art ausgeglichen werden können …, die dem privaten Letztverbraucher bei einem einmaligen Vertragsschluss über eine einmalige Leistung nicht zuteil werden“64. Das Ausmaß, in dem die Verwendergegenseite in der Lage ist, solche Vorteile für sich zu nutzen, variiert aber innerhalb des b2b-Verkehrs erheblich. Es hängt in erster Linie davon ab, in welchem Umfang es dem Kunden möglich ist, „die Tragweite einer Geschäftsbedingung zu durchschauen, deren Konsequenzen zu kalkulieren und sich auf bestimmte Nachteile in Form zusätzlicher Risiken und Pflichten einzustellen“65, – mithin von seiner Fähigkeit, sich selbst zu schützen. Für eine generelle Unterscheidung nach der typischen Schutzbedürftigkeit der Kundenschicht, mit der es ein Verwender bestimmter Klauseln im b2b-Geschäft jeweils zu tun hat, spricht schließlich vor allem die Legitimation der AGB-Kontrolle. Sie ergibt sich aus der Gefahr des Missbrauchs einseitig in Anspruch genommener Vertragsgestaltungsfreiheit66. Damit muss die Tatsache, dass die Verwendergegenseite im unternehmerischen Geschäftsverkehr in unterschiedlichem Maße zur Selbstvorsorge in der Lage ist und eine AGB-typische Gefährdungslage in bestimmten Konstellationen daher typischerweise gar nicht vorliegt, auch bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs und des Umfangs der richterlichen Inhaltskontrolle zu einer teleologischen Rückkopplung führen67. b) Berücksichtigung von Paritätserwägungen Aufgabe von Rechtswissenschaft und Literatur muss es daher sein, die Tatbestandsmerkmale der §§ 305 ff. BGB im Hinblick auf homogene Kundengruppen, die sich durch eine vergleichbare Schutzbedürftigkeit auszeichnen, zu konkretisieren68. Nichts anderes geschieht letztendlich im Rahmen der Auslegung und vor allem bei der Einbeziehungskontrolle. So ist für die Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen sowohl nach Auffassung des BGH als auch der Literatur das Klauselverständnis eines durchschnittlichen Verwendungsgegners aus den beteiligten Verkehrskreisen maßgeblich69. Unter der Voraussetzung, dass die unterschiedlichen Kenntnisse und Verständnismög-
__________ 64 BT-Drucks. 7/3919, S. 43. 65 Lutz, AGB-Kontrolle im Handelsverkehr unter Berücksichtigung der Klauselverbote, 1991, S. 12. 66 BGHZ 130, 50; BGH, NJW 2003, 888, 890; Fastrich (Fn. 43), S. 88 ff. 67 Wackerbarth (Fn. 48), 46. 68 Vgl. auch A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 373. 69 BGH, NJW-RR 2004, 1248, 1249; NJW-RR 2006, 1236, 1237.
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lichkeiten generalisierungsfähig sind und die Bildung abgrenzbarer Kundengruppen erlauben, ist eine unterschiedliche Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen möglich70; sie kann sogar geboten sein71. In ähnlicher Weise differenzieren Rechtsprechung und Literatur bei der Einbeziehungskontrolle: Maßgeblich für die Beurteilung einer Klausel als überraschend sind die Erwartungen des vertragstypischen Durchschnittskunden72. Auch hier kann aber eine Differenzierung anhand des Erwartungshorizontes typischer Kundengruppen geboten sein73. Ausgehend von der Legitimation der §§ 305 ff. BGB und dem Differenzierungsgebot des § 310 Abs. 1 BGB muss dieser Ansatz auch im Rahmen der Bestimmung des Anwendungsbereichs der Inhaltskontrolle und bei der Festlegung von Wirksamkeitsgrenzen Allgemeiner Geschäftsbedingungen Berücksichtigung finden74. Die Anzahl der hier zu bildenden Kundencluster ist dabei unmittelbar davon abhängig, inwieweit sich signifikante Abstufungen im AGB-typischen Schutzbedürfnis der Verwendergegenseite anhand ihres typisierten Vorsorgepotentials75 normativ feststellen lassen. Die Ermittlung einzelner Kundentypen ist somit auch von Paritätserwägungen (typisches Vorhandensein eines Rechtsbeistandes, typische wirtschaftliche Abhängigkeit der Verwendergegenseite etc.) abhängig. Die (offene) Berücksichtigung des Paritätsgedankens stößt in Rechtsprechung und Literatur jedoch überwiegend auf massive Ablehnung76, die in aller Regel mit dem Hinweis auf seine (angeblich) fehlende Justiziabilität und Aussagekraft für die Abgrenzung kontrollfreier von kontrollfähigen Bereichen begründet wird77. Doch geht es hier weder um eine Berücksichtigung der Parität im Einzelfall noch um das oft kritisierte „Kreisen um den Paritätsbegriff“78 im Sinne einer gebietsübergreifenden Rechtfertigung der richterlichen Inhaltskontrolle auf der Grundlage eines strukturellen Machtgefälles zwischen den Parteien. Dass Paritätserwägungen bei der Kalibrierung der richterlichen Inhaltskontrolle im b2b-Bereich nicht außer Acht gelassen werden können, belegen die Materialien zum AGB-Gesetz, in denen ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die AGB-Kontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr es „wegen ihrer Flexibilität ebenso wie die bisherige richterliche Inhaltskontrolle [ermöglicht], bei der Beurteilung des angemessenen
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P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 305c BGB Rz. 83. BGH, NJW-RR 2004, 1248, 1249; PWW/Berger (Fn. 15), § 305c BGB Rz. 13 a. E. BGH, NJW 1995, 2637, 2638; BGH, NJW-RR 2001, 439, 440. MünchKomm.BGB/Basedow, 5. Aufl. 2007, § 305c BGB Rz. 6. Vgl. A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 373 f.; Raiser, Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935, S. 286 f.; Staudinger/Coester (Fn. 35), § 307 BGB Rz. 111 f.: Differenzierung nach typischen Interessen der Kundenseite („etwa zwischen Kaufleuten und Kleingewerbetreibenden“). Vgl. auch Fastrich (Fn. 43), S. 228; Lutz (Fn. 65), S. 12. Ausführlich Fastrich (Fn. 43), S. 216 ff.; Graf von Westphalen ZIP 2007, 149, 156; MünchKomm.BGB/Kieninger (Fn. 73), § 307 BGB Rz. 75; Wackerbarth (Fn. 48), 51 ff. Ausführlich Wackerbarth (Fn. 48), 51 ff. Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 218.
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Interessenausgleichs etwaigen besonderen Gegebenheiten bei Geschäften mit Minderkaufleuten Rechnung zu tragen“79. Dies gestehen letztendlich auch Rechtsprechung und Literatur ein, wenn sie im Rahmen der §§ 305 ff. BGB entweder unverblümt mit Paritätserwägungen argumentieren80, besondere Möglichkeiten der Verwendergegenseite zur Eigenvorsorge betonen81 oder auf die „gruppentypisch unterschiedliche“ Schutzbedürftigkeit verschiedener AGBKundenkreise verweisen82. Auch das ICC-Schiedsgericht wies daher in seinem Schiedsspruch ergänzend darauf hin, dass ein zwischen den Vertragsparteien bestehendes wirtschaftliches Ungleichgewicht nicht erkennbar sei83.
Fazit Der ICC-Schiedsspruch Nr. 10279 liefert einen wichtigen Beitrag für eine praxisnähere, von Differenzierung statt Generalisierung geprägte Auslegung von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB. Es überrascht daher nicht, dass Peter Schlosser in seiner Staudinger-Kommentierung des AGB-Rechts u. a. unter Berufung auf diesen Schiedsspruch für eine Umorientierung im Sinne einer flexibleren, d. h. zwischen b2c- und b2b-Geschäft differenzierenden Auslegung von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB im b2b-Geschäft plädiert. Zu Recht hebt Schlosser hervor, es handele sich um eine „klare und grobe Übertreibung des Strebens nach Schutz vor unangemessenen vorformulierten Vertragsbedingungen, ein ‚Aushandeln‘ auch dann noch zu leugnen, wenn über einen von einer Seite formulierten Vertragsentwurf unter Partnern insgesamt intensiv verhandelt wurde“84. Mit ihrer engen Formel des Aushandelns öffnet die Rechtsprechung dagegen für praktisch alle Haftungsfreizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln und
__________ 79 BT-Drucks. 7/3919, S. 43 (Hervorhebung durch den Verfasser). 80 Ausdrücklich für die Berücksichtigung von Paritätserwägungen Lieb, AcP 178 (1978), 196, 201 ff.; PWW/Berger (Fn. 15), § 307 BGB Rz. 36; Palandt/Grüneberg (Fn. 34), § 305 BGB Rz. 21 (Aushandeln): „Zu berücksichtigen sind alle Umstände des Einzelfalls, […] [auch] das Bestehen oder Fehlen eines wirtschaftlichen Machtgefälles“ (Hervorhebung durch den Verfasser); A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 378: Berücksichtigung „eine[r] starke[n] wirtschaftliche[n] Abhängigkeit der unternehmerischen Vertragspartner vom Verwender“; Wolf in Wolf/ Lindacher/Pfeiffer (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 196: „Innerhalb der Unternehmerschaft kann die Interessenlage weitgehende Differenzierungen nach Unternehmensgröße, Unternehmensfunktion und Branchen gebieten.“; Staudinger/Schlosser (Fn. 35), § 310 BGB Rz. 12 a. E.: Berücksichtigung der „Marktmacht“ von Zwischenvermarktern; aus der Rechtsprechung: LG Köln, BB 1987, 87, 88 („wirtschaftliche Potenz“ des AGB-Kunden); s. auch BGH, NJW 2005, 2006, 2007 f. 81 MünchKomm.BGB/Kieninger (Fn. 73), § 307 BGB Rz. 75; Palandt/Grüneberg (Fn. 34), § 307 BGB Rz. 40; Timm, BB 1987, 88, 90: „[persönliche] Eigenschaften und Verhältnisse des Kunden“. 82 Vgl. BGH, NJW 1987, 2575, 2576; BGH, NJW 1990, 1601, 1602; BGH, NJW 2000, 658, 660; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, Rz. 474; Paulusch, DWiR 1992, 182, 183; Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer (Fn. 27), § 307 BGB Rz. 183 f., 196. 83 ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279 (Fn. 22), 111. 84 Staudinger/Schlosser (Fn. 35), § 305 BGB Rz. 36a.
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damit für das „neuralgische Zentrum“ vieler b2b-Verträge den Weg zur Inhaltskontrolle gemäß den §§ 307 ff. BGB. Zugleich beurteilt sie die Wirksamkeit dieser Klauseln entgegen dem in § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB angelegten Differenzierungsgebot in enger Anlehnung an die Klauselkataloge der §§ 308 f. BGB, denen sie im b2b-Kontext eine weitreichende Indizwirkung zuspricht85. Dies gilt wegen der von der Rechtsprechung entwickelten „Kardinalpflichtenlehre“86 über den Wortlaut von § 309 Nr. 7b BGB hinaus auch für die im nationalen und internationalen Handelsverkehr absolut üblichen standardisierten Haftungsfreizeichnungsklauseln für durch einfache Fahrlässigkeit verursachte Schäden. Das Verbot solcher Haftungsausschlüsse ist ausländischen Vertragsparteien kaum vermittelbar und beeinträchtigt zudem die Kalkulationsgrundlage zahlreicher Branchen vom Anlagenbau bis zur Zulieferindustrie und verhindert ein effektives vertragliches Risikomanagement87. Dies gilt insbesondere dort, wo – wie etwa zunehmend in der Automobilzuliefererindustrie – Versicherungsschutz nicht verfügbar ist oder aus Kostengründen ausscheidet. Im grenzüberschreitenden Handel bürdet die Rechtsprechung dem (in aller Regel deutschen) Verwender mit dem Verbot solcher formularmäßigen Haftungsfreizeichnungen zusätzlich einen Wettbewerbsnachteil auf, denn sie zwingt ihn – soweit überhaupt möglich – zur Versicherung der entsprechenden Risiken und damit letztlich zur Erhöhung seiner Preise oder zur Flucht in eine andere, etwa die schweizerische Rechtsordnung88. Zumindest in der deutschen
__________ 85 Vgl. P. Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 27), § 310 BGB Rz. 27. 86 Nach der Rechtsprechung darf ein Haftungsausschluss oder eine Haftungsbegrenzung für leicht fahrlässig verursachte Schäden nicht zur Aushöhlung von vertragswesentlichen Rechtspositionen des Vertragspartners führen, BGH, NJW-RR 2005, 1496, 1505. Für die formularmäßige Begrenzung der Haftung gilt dies in gleichem Maße. Eine Haftungsfreizeichnung oder -beschränkung ist daher regelmäßig dann nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB unwirksam, wenn sie sich auch auf vertragstypische, vorhersehbare Schäden, die aus der Verletzung vertragswesentlicher Pflichten entstehen, erstreckt, BGH, NJW 2001, 292, 302; BGH, NJW 1993, 335; dies gilt auch für summenmäßige Haftungsbegrenzungen, BGHZ 138, 118, 133; BGH, NJW 2001, 292, 295 oder wenn der Verwender in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch genommen hat, BGH, NJW-RR 1986, 271, 272. Als Kardinalpflichten gelten nach der Rechtsprechung nicht nur Hauptpflichten, die im Synallagma stehen, sondern auch sonstige Hauptpflichten und vertragsprägende Nebenpflichten. Bisher hat der BGH in keinem seiner Urteile entschieden, dass eine Vertragspflicht keine Kardinalpflicht darstellt. Hierin liegt der eigentliche Grund für die Tatsache, dass derartige Klauseln heute nicht mehr wirksam in AGB vereinbart werden können. 87 Vgl. Brachert/Dietzel, ZGS 2005, 441. 88 Vgl. Hobeck, Anmerkung zu ICC-Zwischen- und Teilschiedsspruch Nr. 10279, SchiedsVZ 2005, 112: „Hier [d. h. in dem mit der Rechtsprechung verbundenen Risiko] liegt auch die Erklärung dafür, weshalb deutsche Lieferanten, wann immer dies rechtlich möglich ist, ihren Geschäftsbeziehungen eine ausländische Rechtsordnung – in erster Linie Schweizer Recht – zu Grunde legen; das Schweizer Recht differenziert in sinnvoller Weise zwischen dem Konsumentenschutz und dem (sinnvollerweise) von der Privatautonomie geprägten Geschäftsverkehr zwischen Industrieunternehmen. Will die deutsche Rechtsprechung diese Flucht in das Schweizer Recht vermeiden, müsste sie ihre Einstellung zum Aushandeln von Vertragsbedingungen überdenken.“
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rechtswissenschaftlichen Literatur hat aber seit einigen Jahren eine Trendwende hin zu einer zwischen b2c- und b2b-Geschäft differenzierenden Anwendung der §§ 305 ff. BGB eingesetzt89. Es bleibt zu hoffen, dass die Rechtsprechung den gleichen Weg einschlagen wird, denn „gerade das AGB-[Recht] verlangt nach dem Gespür für das rechte Maß“90.
__________ 89 Vgl. in chronologischer Reihenfolge: Dauner-Lieb, ZIP 2010, 309 ff.; Berger, NJW 2010, 465 ff.; Müller/Griebeler/Pfeil, BB 2009, 2658 ff.; Kessel/Stomps, BB 2009, 2666; Acker/Bopp, BauR 2009, 1040 ff.; Lenkaitis/Löwisch, ZIP 2009, 441 ff.; Merkel (Fn. 1), 144 ff.; Hochbaum, NJW Editorial, Heft 51/2008; Kessel/Jüttner, BB 2008, 1350, 1352 ff.; Berger/Kleine, EWiR § 307 BGB, 3/08, 169; Habersack/Schürnbrand (Fn. 16), 359; Lischek/Mahnken (Fn. 1), 158 ff.; Berger/Kleine (Fn. 38), 2138 ff.; Berger, ZIP 2006, 2149, 2152 ff.; Ostendorf, ZGS 2006, 222, 226 f.; Langer (Fn. 41), 1233 ff.; Brachert/Dietzel (Fn. 87), 442 ff.; Pfeiffer, ZGS 2004, 401 ff.; Staudinger/ Schlosser (Fn. 35), § 305 BGB Rz. 45; PWW/Berger (Fn. 15), § 305 BGB Rz. 14 und § 307 BGB Rz. 34; Berger (Fn. 53), 2152; Wolf (Fn. 39), 118 f.; vgl. bereits Ohlendorfvon Hertel, Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im kaufmännischen Geschäftsverkehr gemäß § 24 AGB-Gesetz, 1988, S. 128; Rabe (Fn. 41), 1979; Hensen (Fn. 41); Lieb (Fn. 80), 218 f.; Baudenbender, JA 1987, 217 ff.; Alisch, JZ 1982, 706, 709; Garrn (Fn. 41), 304; Trappe (Fn. 47), 119 f. 90 Hensen (Fn. 41), 1987.
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AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr – Bringt das E-Commerce-Recht einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Abschied von der Vertragsfreiheit? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gesetzgeberischer Rahmen für die Inhaltsfreiheit von Verträgen im Internet 1. Einführung 2. Kollisionsrechtliche Vorgaben – Art. 29a EGBGB 3. Verbraucherschutz durch das Fernabsatzrecht a) Anwendbarkeit der Regelungen zum Fernabsatzrecht b) Verbraucher und Unternehmer c) Informationspflichten nach Fernabsatzrecht d) Widerruf und Rückgabe 4. Ausblick auf Maßnahmen der EU und des Bundesgesetzgebers
III. Spannungsfeld zwischen Inhaltsfreiheit und AGB-Klauselverboten – einige Beispiele 1. Grundsätzliches a) Unterschied b2b – b2c-Verkehr b) Pauschale Beurteilung von Klauseln oder Einzelfallentscheidung? 2. Preis- und Leistungsänderungsvorbehalte 3. Beschränkung von Gewährleistung und Haftungsausschluss 4. Pauschalisierter Schadensersatz und Vertragsstrafe IV. Schlussbemerkungen
I. Einleitung Die Gesetzgebung der letzten 30 Jahre hat durch die Entwicklung des Verbraucherschutzrechts in Deutschland, verstärkt durch Vorgaben der EU, den Grundsatz der Vertragsfreiheit im Bereich des dispositiven Zivilrechts, der früher im Wesentlichen nur begrenzt wurde durch die §§ 138, 242 BGB, in weiten Bereichen praktisch aufgehoben. Zunehmende Bedeutung in der Rechtspraxis hat in den letzten 10–15 Jahren die Abwicklung von Verträgen über Waren und Dienstleistungen über das Internet – neudeutsch: E-Commerce – gewonnen, sowohl im Bereich von Verbraucherverträgen wie im unternehmerischen Geschäftsverkehr. Nicht erstaunlich ist es daher, dass sich der Gesetzgeber ebenfalls dieses Bereiches angenommen und zahlreiche detaillierte und zwingende Regelungen für den E-Commerce erlassen hat, die auch dort weiter in den Grundsatz der Vertragsfreiheit eingreifen. Diese Normen dienen in erster Linie – und aus gutem Grund! – dem Verbraucherschutz, betreffen aber in weiten Bereichen auch den unternehmerischen Geschäftsverkehr.
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Dieser Beitrag soll daher zum Einen einen Überblick über den aktuellen Stand des E-Commerce-Rechts geben1, zum Anderen aber auch noch einmal dazu Stellung nehmen, inwieweit der Ausbau des Verbraucherschutzes die Vertragsfreiheit auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr weiter einschränkt; ein Thema, mit dem sich der Jubilar dieser Festschrift häufig und dezidiert befasst hat.
II. Gesetzgeberischer Rahmen für die Inhaltsfreiheit von Verträgen im Internet 1. Einführung Insbesondere im Bereich des Verbraucherschutzes, also in den geschäftlichen Beziehungen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher, haben sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen über die letzten drei Jahrzehnte bedeutend geändert. Vor der Schuldrechtsmodernisierung im Jahr 2001 beschränkte sich die Reformgesetzgebung in erster Linie auf die Schaffung von Nebengesetzen zum BGB, einer Fülle von Kodifizierungen des Verbraucherrechts durch zahlreiche, wenig aufeinander abgestimmte Einzelgesetze, wie das AGBG, das HausTWG, das VerbrKrG, das FernAbsG, das TzWrG usw. Diese gingen in Teilen auf die europäische Normengesetzgebung zurück, stellten also Umsetzungen von Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft dar. Im Mittelpunkt stand dabei der Schutz des Verbrauchers in besonderen Situationen, in denen er sich der Verhandlungsmacht eines Unternehmers gegenüber sah. Das Erfordernis der Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie, der Zahlungsverzugs- und der E-Commerce-Richtlinie veranlassten den Gesetzgeber schließlich dazu, im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz die „große Lösung“ zu verfolgen und die Gelegenheit zu nutzen, auch die Nebengesetze in das BGB zu integrieren. Es ist das Verdienst des Gesetzgebers, eine weitgehend stimmige und konsistente Regelung bei der Zusammenführung der zu jenem Zeitpunkt bestehenden Nebengesetze und der Umsetzung der neuen Richtlinien gefunden zu haben. Man wird die Schuldrechtsreform, die zum 1.1.2002 in Kraft trat, in diesem Punkt sicherlich als gelungen bezeichnen können2. Teilweise wird allerdings auch die berechtigte Kritik geäußert, dass der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie übererfüllt hat, indem er die Richtlinie nicht nur in den speziellen Vorschriften zum Verbrauchsgüterkauf umgesetzt, sondern das käuferfreundliche Verbraucherrecht gleich zum Regel-Kaufrecht gemacht hat3.
__________ 1 Mein besonderer Dank gilt meinem Kollegen Herrn Dr. Ulrich Reber, Rechtsanwalt in München, für die Zusammenstellung des aktuellen Stands des E-CommerceRechts. 2 Lorenz, NJW 1995, 1889; Lorenz, NJW 2007, 1; Graf von Westphalen, BB 2008, 2. 3 Berger, ZIP 2006, 2149, 2150.
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So haben auch die Auslegungs- und Abgrenzungsfragen im Bereich des Internet erfreulicherweise kaum unlösbare Probleme aufgeworfen. Insbesondere im Bereich des Verbraucherschutzrechts, das nun in erster Linie im BGB kodifiziert ist, haben der Gesetzgeber und darauf aufbauend die Rechtsprechung überwiegend praktikable Lösungen entwickelt, die zu einer annehmbaren Rechtssicherheit im Bereich des E-Commerce geführt haben. Nachfolgend sollen die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Inhaltsfreiheit von über das Internet abgeschlossenen Verträgen dargestellt werden. Es zeigt sich, dass das gesetzgeberische Wirken und die Einschränkungen der Privatautonomie in erster Linie auf den Bereich des Rechtsverkehrs mit Verbrauchern („business-to-consumer“ oder „b2c“) beschränkt sind. Der unternehmerische bzw. kaufmännische Geschäftsverkehr („business-to-business“ oder „b2b“) ist von gesetzgeberischen Beschränkungen der Inhaltsfreiheit in diesem Regelungsbereich weitgehend unberührt geblieben. Hier kommen die allgemeinen Bestimmungen des Zivilrechts zum Tragen. Eine Besonderheit ergibt sich lediglich bei der Abweichung vom dispositiven Gesetzesrecht mittels Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Diese wird im dritten Teil dieses Beitrags beleuchtet. 2. Kollisionsrechtliche Vorgaben – Art. 29a EGBGB Eine für Verbraucherverträge generell bedeutende Sonderanknüpfung ist in Art. 29a EGBGB enthalten. Diese flankiert die kollisionsrechtliche Norm des Art. 29 EGBGB, die bereits den Schutz des Verbrauchers bei bestimmten Rechtswahlklauseln im Auge hat bzw. das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Verbrauchers zur Anwendung bringt, wenn es an einer ausdrücklichen Rechtswahl fehlt. Art. 29a EGBGB ist erst im Jahr 2000 durch die Umsetzung der Fernabsatzrichtlinie in das Gesetz aufgenommen worden. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen mit anderen verbraucherschützenden Bestimmungen wurden auch § 12 AGBG und § 8 TzWrG aufgehoben und deren Inhalt in die neue Bestimmung des Art. 29a EGBGB integriert. Seitdem fand der Anwendungsbereich dieser Bestimmung eine weitere Erweiterung durch den Erlass der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und deren Umsetzung durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz und die Umsetzung der Fernabsatzfinanzdienstleistungsrichtlinie im Jahre 2004. Wie es scheint, bleibt diese Bestimmung auch von dem Erlass der Rom I-Verordnung unberührt. Der kollisionsrechtliche Inhalt der betreffenden Richtlinien scheint durch die Rom I-Verordnung nicht aufgehoben zu werden4. Im Kern gewährleistet Art. 29a EGBGB den Verbraucherschutz auch bei der Wahl des Rechts eines Nicht-EU-Mitgliedstaates bzw. Nicht-EWR-Vertragsstaates im Hinblick auf die in dieser Bestimmung enumerativ aufgezählten Richtlinien. Dem Verbraucher kann der Schutz durch diese Richtlinien nicht entzogen werden, wenn ein enger Zusammenhang mit dem Gebiet eines EU-
__________ 4 So auch Thorn in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, Art. 29a EGBGB Rz. 1.
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Mitgliedstaates bzw. EWR-Vertragsstaates besteht. Ob dies der Fall ist, hängt von dem Ergebnis einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls ab. Wie auch in anderen Bereichen des Kollisionsrechts spielen dafür aber Anknüpfungspunkte wie gewöhnlicher Aufenthaltsort bzw. Sitz der Parteien, Abschlussort, Erfüllungsort der Leistungen und Belegenheit des Vertragsgegenstandes eine Rolle. Absatz 2 dieser Bestimmung sieht eine Vermutung für den engen Zusammenhang vor, ein solcher ist dann gegeben, wenn der Vertrag aufgrund einer geschäftlichen Tätigkeit in der EU bzw. des EWR zustande kommt und der andere Teil bei Abgabe seiner Willenserklärung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet hat. Dem Verbraucher kann in diesen Fällen nicht der Schutz entzogen werden, welchen die Klauselrichtlinie, die Teilzeitnutzungsrichtlinie, die Fernabsatzrichtlinie, die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und die Fernabsatzfinanzdienstleistungsrichtlinie vorsehen. Angewendet werden dann die Umsetzungsakte des Landes der EU bzw. des EWR, mit dem der enge Zusammenhang besteht. Gibt es einen Zusammenhang mit mehreren dieser Länder, so ist das Sachrecht des Mitgliedstaates mit dem engsten Zusammenhang maßgeblich5. Vorrangig sollte dabei das Land ausschlaggebend sein, in welchem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat. Diese Bestimmung ist von besonders großer Bedeutung im E-CommerceHandel mit im Außer-EU-Ausland ansässigen Unternehmen in Bezug auf Angebote für Verbraucher, welche ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der EU haben. Regelmäßig finden sich in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen Rechtswahlklauseln zugunsten eines Rechts außerhalb der EU, häufig der Vereinigten Staaten. Durch Art. 29a EGBGB wird gewährleistet, dass sich diese Unternehmer den durch die Verbraucherschutzrichtlinien gewährten Mindestschutz entgegen halten lassen müssen. Im Ergebnis ist dies zu begrüßen. Im Verbund mit Art. 29 EGBGB, welcher dem Verbraucher trotz entgegenstehender Rechtswahlklausel bei bestimmten Verträgen den Schutz derjenigen zwingenden Bestimmungen zubilligt, die im Land seines gewöhnlichen Aufenthalts gelten, werden angemessen die Interessen der Verbraucher geschützt. Im Übrigen, d. h. soweit keine zwingenden Bestimmungen oder der Anwendungsbereich der in Art. 29a Abs. 4 EGBGB enumerierten Richtlinien berührt sind, kann es bei dem gewählten Recht bleiben. Dies sollte auch dann gelten, wenn das ausländische Recht in Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart wird. Als überraschend i. S. d. § 305c Abs. 1 BGB und damit nicht einbezogen dürfte eine solche Klausel lediglich dann sein, wenn tatsächlich alle maßgeblichen Anknüpfungspunkte, wie Sitz bzw. gewöhnlicher Aufenthalt der Parteien, Standort des Vertragsgegenstandes, Leistungs- und Erfolgsort sowie Vertragssprache auf ein Land weisen und „willkürlich“ dennoch eine Rechtsordnung eines Nichtmitgliedstaates der EU bzw. Nichtvertragsstaates der EWR ohne vergleichbaren Verbraucherschutz gewählt wird6. Damit dürfte es
__________ 5 Freitag/Leible, EWS 2000, 345. 6 Restriktiver tatsächlich noch OLG Düsseldorf, ZIP 1994, 289.
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dabei bleiben, dass beispielsweise ein amerikanischer Softwarehersteller für seine Softwaredownloads Allgemeine Geschäftsbedingungen benutzen darf, die dem Recht seines Sitzes unterliegen. Lediglich die zwingenden Bestimmungen und den Schutz der Verbraucherschutz-Richtlinien des Art. 29a EGBGB muss er sich ggf. entgegen halten lassen. Die Notwendigkeit einer kompletten Neulokalisation von Geschäftsbedingungen ausländischer Unternehmer ist dadurch abgeschwächt. 3. Verbraucherschutz durch das Fernabsatzrecht Das Fernabsatzrecht sieht im Wesentlichen zwei Verbraucherschutzmechanismen vor: Der Unternehmer unterliegt umfassenden Informationspflichten insbesondere in der Phase vor Vertragsschluss. Des Weiteren wird dem Verbraucher ein gesetzlich normiertes Widerrufs- bzw. Rückgaberecht zuteil. a) Anwendbarkeit der Regelungen zum Fernabsatzrecht Anwendbar sind die Bestimmungen des Fernabsatzrechts typischerweise auch auf Vertragsschlüsse über das Medium des Internet, und zwar unabhängig davon, ob die Willenserklärungen über eine Website des WWW oder durch die Versendung von E-Mails ausgetauscht werden. Der Anwendungsbereich des Fernabsatzrechts ergibt sich aus § 312b Abs. 1 BGB. Danach ist erforderlich, dass der Vertrag zwischen Unternehmer und Verbraucher über Waren oder Dienstleistungen (einschließlich seit Umsetzung der Fernabsatzfinanzdienstleistungsrichtlinie mittlerweile Finanzdienstleistungen) unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln abgeschlossen wird. Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn ein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem fehlt. Ausgenommen von den Fernabsatzregelungen sollen also die Anbieter sein, die lediglich sporadisch Bestellungen per Fernkommunikation entgegennehmen7. Sobald der Unternehmer aber einen eigenen Vertriebskanal für den Fernabsatz eingerichtet hat, gilt die Ausnahme nicht, so z. B. bei der Angabe von Website, E-Mailadresse oder Telefonnummer auf Werbemitteln8. Werden bei Internetauktionsplattformen von Nutzern Waren oder Dienstleistungen sporadisch unter Nutzung von z. B. eBay angeboten, so stellt dies noch kein organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem dar. Die Grenze, ab der ein Anbieter ein solches System bei derartigen Drittplattformen betreibt, wird aber häufig mit der Abgrenzung von Verbraucher und Unternehmer zusammenfallen9. Ferner sieht § 312b Abs. 3 BGB gewisse Bereichsausnahmen vor, die miteinander wenig zu tun haben und daher bedauerlicherweise sehr beliebig anmuten. Dies ist teilweise zu erklären mit Bereichen, in denen ähnliche bzw. leicht modifizierte Verbraucherschutzregelungen gelten. Teilweise wurde die Anwend-
__________ 7 RegE, BT-Drucks. 14/2658. 8 Kamanabrou, WM 2000, 1417, 1420; Lorenz, JuS 2000, 833, 838. 9 Dazu sogleich.
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barkeit dieser Bestimmungen für unpraktikabel gehalten. Unter die Bereichsausnahme fallen Verträge über Fernunterricht ebenso wie Versicherungen (s. hierzu allerdings §§ 48 ff. VVG), die Lieferung von Lebensmitteln, Getränken oder sonstigen Haushaltsmitteln des täglichen Bedarfs (was immer das heißen mag)10, die am Wohnsitz oder am Arbeitsplatz eines Verbrauchers von Unternehmern im Rahmen häufiger und regelmäßiger Fahrten geliefert werden. So ist z. B. ein Pizzabestellservice ausgenommen11. Ausgenommen sind aber auch beispielsweise Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen Unterbringung, Beförderung, Lieferung von Speisen und Getränken sowie Freizeitgestaltung, wenn sich der Unternehmer bei Vertragsschluss verpflichtet, die Dienstleistungen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb eines genau angegeben Zeitraums zu erbringen. Dies zeigt, dass der Ausnahmekatalog wohl u. a. auf erfolgreiche Lobbyarbeit zurückgeführt werden kann. Er ist beliebig, konturlos und dringend reformbedürftig. b) Verbraucher und Unternehmer Durch das gesamte Verbraucherschutzrecht zieht sich zunächst die Frage, wer Verbraucher und wer Unternehmer ist. Insbesondere angesichts der Möglichkeit, dass Einzelpersonen gegen Entgelt Waren und Dienstleistungen (z. B. über Internetauktionen) anbieten, ist diese Frage noch einmal kurz zu beleuchten. Die Begriffe des Verbrauchers und des Unternehmers werden in §§ 13, 14 BGB legaldefiniert. Der Verbraucher ist danach eine natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann12. Der Unternehmer hingegen ist nach der Definition eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft, die bei dem Abschluss eines Rechtsgeschäfts in Ausübung einer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. Darunter fallen selbstverständlich nicht nur Freiberufler, sondern grundsätzlich auch Existenzgründer13. Die Gewerbsmäßigkeit setzt ihrerseits wiederum eine gewisse dauerhafte und planmäßige Tätigkeit voraus. Diese Tatbestandsmerkmale sind auch bei der Qualifizierung von Internetauktions-Tradern relevant14. Es ist hierbei also nicht entscheidend, welchen Umsatz der Anbieter mit den von ihm angebotenen Stücken generiert, sondern ob dieser lediglich sporadisch über Stücke in seinem Eigentum verfügt, dann wird er wohl Verbraucher sein, oder dies mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Wiederholbarkeit tut und Ware zum Zwecke des Weiterverkaufs nachkauft, dann wird er eher als Unternehmer einzustufen sein. Wer also beispielsweise seinen umfangreichen Keller oder
__________ 10 11 12 13 14
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Hierzu z. B. Roth/Schulze, RIW 1999, 924, 925. Wendehorst in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 312b BGB Rz. 78. Vgl. dazu näher Elßner/Schirmbacher, VuR 2003, 247. BGH, K&R 2005, 326. Dazu z. B. OLG Frankfurt a. M., MMR 2007, 378; OLG Zweibrücken, WRP 2007, 1005; OLG Frankfurt a. M., K&R 1007, 585; LG Hannover, WRP 2005, 1194; LG Hof, CR 2003, 854; LG Schweinfurt, WRP 2004, 654.
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Nachlass entrümpelt, wird trotz der Menge der angebotenen Stücke Verbraucher bleiben15. Ein Anbieter hingegen, der in regelmäßigen Abständen z. B. von ihm gekaufte Konzerttickets über Internetauktionen weiterveräußern möchte, ist Unternehmer, auch wenn die Anzahl der jeweils angebotenen Tickets gering ist. Nicht ganz unerheblich für diese Unterscheidung ist auch, ob die Ware neu bzw. aktuell ist oder, wie zum Beispiel bei benutzten Haushaltswaren, nicht mehr benötigt wird16. c) Informationspflichten nach Fernabsatzrecht Die Qualifizierung als Fernabsatzgeschäft bringt einerseits gewisse Informationspflichten für den Unternehmer (§ 312b BGB) mit sich. Im elektronischen Geschäftsverkehr wird diese Fülle von Pflichten noch ergänzt (§ 312e BGB). Die Informationspflichten können in vorvertragliche Informationspflichten und solche nach Vertragsabschluss unterschieden werden. Erstere dienen dem Zweck, den Verbraucher in die Lage zu versetzen, eine informierte Entscheidung über den Vertragsschluss zu treffen17. Eine besondere Form für die Zurverfügungstellung der Information ist nicht einzuhalten (Ausnahme: Finanzdienstleistungen). Erforderlich ist jedoch, dass der Verbraucher rechtzeitig vor Abgabe der Erklärung informiert wird, und zwar in einer dem eingesetzten Fernkommunikationsmittel entsprechenden Weise sowie klar und verständlich. Das erfordert allerdings nicht, dass bereits die Werbemittel über alle notwendigen Informationen verfügen18. Bei Bestellungen über Internetplattformen bietet sich hier die Darstellung der Information auf der jeweiligen Website an. Das ist grundlegend anders in Bezug auf die Informationspflichten, die nach Vertragsschluss fortbestehen. Hier soll dem Verbraucher eine gewisse Beweissicherheit an die Hand gegeben werden, wenn es zu Auseinandersetzungen bei der Vertragserfüllung kommt. Für diese Informationen bedarf es folglich der Erfüllung der Textform i. S. d. § 126b BGB. Der Umfang der vorvertraglichen Informationen bestimmt sich nach der BGBInfoV. Hiernach ist eine Fülle von Angaben erforderlich. Dazu zählen u. a. – Die Identität des Unternehmers, das öffentliche Unternehmensregister und Registernummer, – Angabe des Vertreters des Unternehmers in dem Wohnsitzstaat des Verbrauchers, – Ladungsfähige Anschrift des Unternehmers, bei juristischen Personen auch die Namen der Vertretungsberechtigten, – Angaben über wesentliche Merkmale der Ware oder Dienstleistung sowie darüber, wie der Vertrag zustande kommt, – Mindestlaufzeit des Vertrags bei Dauerschuldverhältnissen,
__________ 15 16 17 18
In der Tendenz ebenso LG Hannover, WRP 2005, 1194. Härting, Internetrecht, 3. Aufl. 2008, Rz. 451. RegE, BT-Drucks. 14/2658, S. 38. OLG Hamburg, MMR 2005, 318, 319; OLG Hamburg, CR 2006, 209.
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– Etwaige Leistungsvorbehalte in Bezug auf Qualität, Preis, Leistungsfähigkeit, – Gesamtpreis der Ware oder Dienstleistung, einschließlich Preisbestandteile, Steuern, etc. – Etwaige zusätzliche Liefer- und Versandkosten, – Einzelheiten hinsichtlich der Zahlung und der Lieferung und Erfüllung, – Angaben zu Bestehen bzw. Nichtbestehen eines Widerrufs- bzw. Rückgaberechts sowie Angabe zu Einzelheiten der Ausübung, – Angabe der Kosten für die Nutzung des Fernkommunikationsmittels, – Angaben zur evtl. Befristung der zur Verfügung gestellten Informationen bzw. Gültigkeitsdauer befristeter Angebote Bei Finanzdienstleistungen sind zusätzlich noch eine Fülle anderer Informationen bereitzustellen (§ 312c Abs. 2 BGB i. V. m. § 1 Abs. 2 BGB-InfoV). Die Informationspflichten, die auch nach Vertragsschluss noch andauern, sind in § 312c Abs. 2 BGB i. V. m. § 1 Abs. 4 BGB-InfoV geregelt. Danach hat der Unternehmer dem Verbraucher die Vertragsbestimmungen einschließlich der AGB zur Verfügung zu stellen, und zwar in Textform i. S. d. § 126b BGB. Auch die vorvertraglichen Informationen muss der Unternehmer nach Vertragsschluss in Textform übermitteln. Hinzu kommen die Angaben über Kundendienst und geltende Gewährleistungs- und Garantiebedingungen (soweit diese von den gesetzlichen Bestimmungen abweichen)19 sowie bei Dauerschuldverhältnissen mit einer Vertragszeit von über einem Jahr die Information über Kündigungsbedingungen. Der Unternehmer hat diese Verpflichtung alsbald, spätestens bis zur vollständigen Erfüllung des Vertrages, bei Waren spätestens bei Lieferung zu erfüllen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass sich der Verbraucher jederzeit über die Vertragsbedingungen und die Umstände des Vertragsschlusses informieren kann. Textform ist normalerweise durch die Zusendung einer E-Mail mit den oben genannten Informationen erfüllt20. Erfüllt ist sie auch dann, wenn der Nutzer die Informationen von der Website herunterlädt und ausdruckt21. Es ist hingegen nach herrschender Ansicht nicht ausreichend, wenn der Nutzer dies nicht tut, d. h. insbesondere ein Ausdruck beim Nutzer fehlt22. Diese Ansicht ist jedoch zweifelhaft. In vielen Fällen erhält der Nutzer die Möglichkeit, über ein personalisiertes Profil auf der Website des Anbieters die individuellen Angaben jederzeit abzurufen. Soweit diese Möglichkeit während der Vertragsdauer vorgehalten wird und es lediglich im Belieben des Nutzers steht, ob er die Informationen ausdrucken möchte oder nicht, erscheint es angemessen,
__________ 19 BGH, NJW 2008, 1595, 1597; a. A. Wendehorst in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 312c BGB Rz. 66. 20 RegE, BT-Drucks. 14/2658, S. 40. 21 KG, MMR 2007, 185, 186. 22 OLG München, MMR 2008, 677; KG, MMR 2007, 185, 186; OLG Hamburg, K&R 2006, 526, 527; OLG Stuttgart, MMR 2008, 616.
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von der Einhaltung der Textform i. S. d. § 126b BGB auch in diesen Fällen auszugehen23. Gemäß § 1 Abs. 4 Satz 3 BGB-InfoV sind bestimmte Pflichtangaben bei deren Mitteilung optisch hervorzuheben. Das gilt konkret für die ladungsfähige Anschrift und Angabe des Vertretungsberechtigten, die Widerrufsbelehrung, die Kündigungsbedingungen (bei Dauerschuldverhältnissen und Verträgen über Finanzdienstleistungen) und die Angaben zum Kundendienst und der (vom Gesetz abweichenden) Gewährleistungs- und Garantiebedingungen. Durch die Hervorhebung dieser Angaben soll insbesondere bei längeren und unübersichtlichen Vertragsbedingungen gewährleistet sein, dass diese als zentral unterstellten Punkte die Aufmerksamkeit des Verbrauchers auf sich ziehen. Insbesondere die Bestimmungen über die Lösung vom Vertrag sollen daher nicht in einem unüberschaubaren Wust von Vertragsbedingungen beerdigt werden. Zu der Art und Weise, wie die Herausstellung erfolgen muss, existiert eine Fülle von Entscheidungen, die sich anschließen an die zur „drucktechnisch deutlichen Gestaltung“ über das Widerrufsrecht im früheren Haustürwiderrufsgesetz sowie zu § 7 VerbrKrG a. F. ergangene Rechtsprechung24. Es empfiehlt sich hier, die herauszustellenden Angaben größer oder fett zu drucken, zu unterstreichen und von den anderen Vertragsbedingungen abzusetzen25. Eine wiederum befremdlich wirkende Ausnahme ist für eine Art von Dienstleistungen vorgesehen: Wird die Dienstleistung unmittelbar und sofort durch den Einsatz von Fernkommunikationsmitteln erbracht und von dem Betreiber des Fernkommunikationsmittels abgerechnet, so ist der Unternehmer von den Pflichtangaben nach Vertragsschluss befreit (§ 312c Abs. 2 Satz 2 BGB). Der dieser Regelung zugrundeliegende Gedanke scheint zu sein, dass dann, wenn schnell Dienstleistung und Geldfluss ausgetauscht werden, der Verbraucher kein Interesse mehr daran habe, die Vertragsbedingungen einzusehen. Hiervon erfasst sind z. B. Online-Zeitschriftenarchive, die nach Zahlung über Kreditkarte oder Bankeinzug den einmaligen Zugang auf Artikel gewähren. Die Ausnahme gilt schon nicht mehr, wenn der Zugang in Form eines Abos gewährt wird oder dem Verbraucher die Dienstleistung zur dauerhaften Nutzung eingeräumt wird26, z. B. beim On-Demand Angebot von Software, Musik, Videos, Texten usw. Ungeachtet dessen trifft den Unternehmer auch in diesen Fällen die Verpflichtung, die Anschrift der Niederlassung anzugeben, bei welcher der Kunde Beanstandungen vorbringen kann (§ 312c Abs. 2 Satz 3 BGB). Besondere Pflichten treffen die Unternehmer, die sich für die Leistungserbringung der Tele- und Mediendienste, heute Telemedien genannt27, bedienen. Dies dürfte für einen Großteil des E-Commerce-Bereichs gelten, nicht jedoch
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23 Vgl. LG Flensburg, MMR 2006, 686, 687; LG Paderborn, MMR 2007, 191; noch weitergehend Härting, Internetrecht, 3. Aufl. 2008, Rz. 549 f. 24 Dazu BGH, NJW 1996, 1964, 1965. 25 BGH, NJW 2002, 3396, 3398; OLG Schleswig, MDR 2008, 254. 26 Vgl. Wendehorst in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 312c BGB Rz. 93. 27 Vgl. § 1 TMG, welcher die früher schwer zu treffende Unterscheidung zwischen Telediensten i. S. d. § 2 TDG a. F. und Mediendiensten i. S. d. § 2 Abs. 2 Nr. 4 MDStV, überflüssig gemacht hat.
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bei Individualkommunikation, z. B. dem Austausch von E-Mails. Der Vertragsabschluss über Telemedien sieht über die vorgenannten Informationspflichten noch weitere, darüber hinausgehende Verpflichtungen, die in § 312e BGB geregelt sind, vor. Zu beachten ist dabei, dass diese Bestimmung nicht nur im b2c-Bereich gilt, sondern auch zwischen Unternehmern28. Der Unternehmer hat dem Kunden (gleichgültig, ob dieser Unternehmer oder Verbraucher ist) die Möglichkeit zu geben, Eingabefehler vor Abgabe seiner Bestellung zu erkennen und zu berichtigen (§ 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB)29. Für Webshops empfiehlt sich damit, zwei Instrumente vorzusehen, und zwar einen „Back-Button“, mit dem der Kunde einen oder mehrere Schritte in seiner Bestellung zurückgehen kann, sowie eine überblicksweise Zusammenstellung über die gesamte Bestellung unmittelbar vor Finalisierung des Geschäfts. Nach § 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB i. V. m. § 3 Nr. 1 BGB-InfoV ist der Unternehmer verpflichtet, den Kunden über die einzelnen Schritte im Bestellvorgang zu informieren. Bedauerlicherweise enthält § 3 BGB-InfoV noch weitere kleinliche Informationspflichten, die nicht nur im b2c-, sondern auch im b2b-Bereich Anwendung finden, jedoch in beiden Fällen über das Ziel des Kundenschutzes deutlich hinausschießen. So ist der Kunde auch darüber zu informieren, ob der Vertragstext nach Vertragsschluss gespeichert wird und ob er dem Kunden zugänglich ist, das technische Verfahren, wie Eingabefehler vor Abgabe der Bestellung erkannt und berichtigt werden können, über die für den Vertragsschluss zur Verfügung stehenden Sprachen und sämtliche einschlägigen Verhaltenskodizes, denen sich der Unternehmer unterwirft sowie die Möglichkeit eines elektronischen Zugangs zu diesen Regelwerken. Mit diesen viel zu restriktiven und daher selten praktizierten Pflichten dürfte der Gesetzgeber das Gefährdungspotential von Vertragsabschlüssen über das Internet erheblich überschätzt haben. In der Praxis stellt sich häufig der Bestellvorgang als deutlich transparenter dar als bei Alltagsgeschäften unter präsenten Parteien. Weiter muss der Unternehmer den Zugang der Bestellung unverzüglich auf elektronischem Wege bestätigen (§ 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB). Üblich und ausreichend ist hierfür die Bestätigung per E-Mail. Ferner muss der Kunde die Möglichkeit haben, die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen bei Vertragsschluss abzurufen und in wiedergabefähiger Form zu speichern (§ 312e Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BGB). Das schärfste Schwert bei Nichterfüllung der Informationspflichten ist neben Abmahnungen durch Wettbewerber, Verbraucherschutzverbände und Wettbewerbsvereine vor allem das Unterbleiben des Fristanlaufs für die Widerrufsfrist. Gemäß § 312d Abs. 2 Satz 1 BGB beginnt die Widerrufsfrist erst bei vollständiger Erfüllung der Informationspflichten nach § 312c Abs. 2 BGB bis maximal sechs Monate nach Vertragsschluss (§ 355 Abs. 3 Satz 1 BGB). Die zeitliche Beschränkung von sechs Monaten gilt darüber hinaus dann nicht, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt worden ist (§ 355 Abs. 3 Satz 3 BGB).
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28 Micklitz, EuZW 2001, 133, 141; Hassemer, MMR 2001, 635. 29 Dazu näher Hassemer, MMR 2001, 635, 636.
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d) Widerruf und Rückgabe Vor diesem Hintergrund sind hier die beiden Schutzinstrumente des Fernabsatzrechts – Informationspflichten und Widerrufs- bzw. Rückgaberecht – miteinander verzahnt. Dies gilt insbesondere für die Widerrufsbelehrung, bei der diese zwei Bereiche ineinander übergehen. Mit Erlass der BGB-InfoV wurde dort auch eine Muster-Widerrufsbelehrung vorgesehen. Diese wurde aus etwas zweifelhaften Gründen von Literatur und Rechtsprechung vielfach als unzureichend kritisiert, da sie die unterschiedlichen Regelungen des Fernabsatzund Verbraucherkreditrechts in unzulässiger Weise vermenge30. Der Gesetzgeber beendete diesen Meinungsstreit durch Verabschiedung eines neuen Textes für eine Widerrufsbelehrung. Nach Plänen der Bundesregierung soll dem Muster durch Einführung eines neuen § 360 Abs. 3 BGB Gesetzesrang zukommen31. Auch vor Verabschiedung dieser Novelle ist die Verwendung des Musters empfehlenswert. Abweichungen von dem Text erfolgen auf eigene Gefahr32, z. B. wenn in der Widerrufsbelehrung lediglich über die Pflichten des Verbrauchers im Fall des Widerrufs, nicht aber über dessen Rechte informiert wird33. Die Belehrung muss jedenfalls klar und verständlich sein. Kritisch ist dabei häufig die Vertragssprache. Ein genereller Anspruch, dass die Belehrung in der Sprache des Landes sein muss, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, besteht nicht. Etwas anderes gilt aber dann, wenn Webauftritt des Unternehmers und der gesamte Bestellvorgang in dieser Sprache gehalten sind, nur die Widerrufsbelehrung in einer anderen Landessprache. Hier bestehen erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit der Widerrufsbelehrung. Erforderlich ist weiterhin, dass der Verbraucher die zumutbare Möglichkeit der Kenntnis hat. Das ist auch durch Aktivierung eines Links denkbar, der sichtbar und eindeutig in der Bestellmaske erscheint. Nicht ausreichend ist hingegen das „Verstecken“ der Widerrufsbelehrung in den Informationen über die Kontaktadresse oder im Impressum34. Es empfiehlt sich also, den Link zu bezeichnen als „Widerrufsbelehrung“ oder „Ihre Rechte als Verbraucher“ o. Ä. Zur Klarheit und Verständlichkeit existiert eine Fülle von Rechtsprechung. Häufig werden die Anforderungen an die wirksame Widerrufsbelehrung allerdings überstrapaziert35. Das Widerrufsrecht berechtigt den Verbraucher, sich binnen zwei Wochen nach Vertragsschluss durch eine Erklärung in Textform oder durch Rücksendung der Sache von dem Vertrag zu lösen (§ 312d Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 355
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30 Vgl. LG Halle, MMR 2006, 772; LG Siegen, NJW 2007, 1826; Bodendieck, MDR 2003, 1; Masuch, NJW 2002, 2932; a. A. zu Recht LG Münster, MMR 2006, 762. 31 RefE zur Neordnung des Widerrufs- und Rückgaberechts (2008). 32 OLG München, MMR 2008, 677. 33 Vgl. BGH, CR 2007, 529. 34 OLG Hamm, GRUR-RR 2005, 285; OLG Karlsruhe, WRP 2002, 849. 35 So in der Entscheidung des OLG Frankfurt, Urt. v. 17.6.2004 – 6 U 158/03, das die Angabe der Telefonnummer in der Widerrufsbelehrung für unzulässig hielt, da die Gefahr bestehe, dass der Verbraucher irrtümlicherweise von einer Widerrufsmöglichkeit via Telefon ausgehe; ebenso OLG Hamm, MMR 2009, 850.
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Abs. 1 BGB). Eine Begründung ist nicht erforderlich. Es genügt für die Fristwahrung die rechtzeitige Absendung. Die Frist beginnt bei Fernabsatzverträgen mit dem Eingang der Waren beim Verbraucher, bei Dienstleistungen mit Vertragsschluss (§ 312d Abs. 2 BGB). Das Widerrufsrecht erlischt spätestens sechs Monate nach Vertragsschluss bzw. bei Waren nicht vor deren Eingang beim Verbraucher. Die Frist beginnt überhaupt nicht zu laufen, wenn eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung unterblieben ist (§ 355 Abs. 3 Satz 3 BGB). Grundsätzlich dürften dem Verbraucher keine Kosten für die Ausübung des Widerrufsrechts entstehen. Die Fernabsatzrichtlinie gestattet es jedoch, dem Verbraucher die unmittelbaren Kosten der Rücksendung der Waren aufzuerlegen. Nach § 357 Abs. 2 Satz 3 BGB ist eine Kostenabwälzung auf den Verbraucher möglich bei Waren bis zu einem Wert von 40,00 Euro oder wenn bei einem höheren Preis der Sache der Verbraucher die Gegenleistung oder eine Teilzahlung zum Zeitpunkt des Widerrufs noch nicht erbracht hat, wobei dies nicht gilt bei Lieferung eines aliud. Streitig ist, ob der Unternehmer dem Kunden bei Widerruf auch die Versandkosten für die Hinsendung zu erstatten hat. Einzelne Gerichte haben es dem Unternehmer gestattet, die Hinsendekosten einzubehalten36. Dies wird aus Verbraucherschutzaspekten zu Recht aber auch abgelehnt37. Eine solche Durchbrechung der klar geregelten Widerrufsfolgen zu Lasten des Verbrauchers dürfte nicht gestattet sein. Der Bundesgerichtshof hat in dem Revisionsverfahren diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt38. Eine weitere Rechtsfolge der Ausübung des Widerrufsrechts ist die vom Verbraucher ggf. zu entrichtende Nutzungsentschädigung für die Verwendung der Sache bis zur Rücksendung. In Abweichung von den Regelungen zum Rücktritt im Übrigen, hat der Verbraucher auch dann Wertersatz für eine durch die bestimmungsgemäße Ingebrauchnahme der Sache entstandene Verschlechterung zu leisten, wenn er spätestens bei Vertragsschluss in Textform auf diese Rechtsfolge und eine Möglichkeit hingewiesen worden ist, diese zu vermeiden. Eine Nutzungsentschädigung ist jedoch dann nicht zu leisten, wenn die Verschlechterung ausschließlich auf die Prüfung der Sache zurückzuführen ist. Ob § 357 Abs. 3 Satz 1 BGB europarechtskonform ist, wurde von verschiedenen Stimmen in der Literatur bestritten39. Der EuGH hat in seiner Entscheidung durchaus klar geäußert, dass grundsätzlich die unmittelbaren Kosten der Rücksendung die einzige Belastung für den Verbraucher sein darf, mit der er bei Ausübung des Widerrufsrechts belastet wird. Eine generelle Auferlegung eines Wertersatzes für die Nutzung der Ware verstößt jedoch gegen die Bestimmungen der Fernabsatzrichtlinie40. Nach Auffassung des EuGH kann der Verbraucher durchaus aber verpflichtet werden, einen angemessenen Wert-
__________ 36 OLG Frankfurt a. M., CR 2002, 638; OLG Nürnberg, NJW-RR 2005, 1581. 37 So OLG Karlsruhe, MMR 2008, 46. 38 BGH, Beschl. v. 1.10.2008 – VIII ZR 268/07, MMR 2009, 107; Vorlage beim EuGH anhängig unter C-511/08. 39 Z. B. Tonner, BB 2000, 1413, 1416. 40 EuGH, CR 2009, 671.
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ersatz zu zahlen, wenn er die Fernabsatzware auf eine Art und Weise benutzt hat, die mit den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts unvereinbar ist. Die Wirksamkeit und die Effektivität des Widerrufsrechts dürfe dadurch aber nicht beeinträchtigt werden. Deshalb dürfe beispielsweise die Höhe des Nutzungsersatzes nicht außer Verhältnis zum Kaufpreis der Ware stehen und dem Verbraucher nicht die Beweislast dafür auferlegt werden, dass er die Ware während der Widerrufsfrist nicht in einer Weise benutzt hat, die über das zur zweckdienlichen Ausübung seines Widerrufsrechts Erforderliche hinausgeht. Wiederum unstimmig und scheinbar willkürlich sind die vom Widerrufs- und Rückgaberecht ausgenommenen Bereiche. Nachvollziehbar scheint zunächst, dass kein Widerrufsrecht besteht für Verträge über die Lieferung von Waren, die nach Kundenspezifikation angefertigt oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten worden sind ebenso bei besonders verderblicher Ware oder solcher, deren Verfallsdatum überschritten würde (§ 312d Abs. 4 Nr. 1 BGB). Schon erheblich konturloser ist die Ausnahme, dass das Widerrufsrecht auch nicht gilt für die Lieferung von Waren, die auf Grund ihrer Beschaffenheit nicht für eine Rücksendung geeignet sind. Ausgenommen sind weiter Verträge über die Lieferung von Ton- und Bildtonträgern oder Software, wenn der gelieferte Datenträger vom Verbraucher entsiegelt worden ist (§ 312d Abs. 4 Nr. 2 BGB). Da die Inhalte mittlerweile ohne Weiteres kopiert werden können und daher der Datenträger nicht mehr erforderlich ist, ist diese Ausnahme sinnvoll. Bei dem Siegel muss es sich allerdings um ein physisches Siegel handeln, nicht hingegen eine bloße Passwortabfrage41. Das bedeutet, dass die Anbieter von Download-Content nicht in den Genuss der Ausnahmebestimmung kommen. Teilweise wird hier von der Industrie die oben erwähnte Ausnahme für Waren, die für eine Rücksendung ungeeignet sind, beansprucht. Bei Download-Content dürfte es sich jedoch schon um keine Ware handeln, so dass diese Lesart des § 312d Abs. 4 Nr. 1 BGB nicht in Betracht kommen dürfte. Einige der Ausnahmen in § 312d Abs. 4 BGB sind durch das neue Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung modifiziert worden, das am 4.8.2009 in Kraft getreten ist42. So gilt die Ausnahme in Bezug auf die Lieferung von Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten ebenso wie für Wett- und Lotterieleistungen jetzt nicht mehr, wenn der Verbraucher seine Vertragserklärung telefonisch abgegeben hat. Ausgenommen sein sollen auch solche Verträge, die in der Form von Versteigerungen i. S. d. § 156 BGB geschlossen werden. Nicht hierzu gehören nach Rechtsprechung des BGH die Internetversteigerungen z. B. auf eBay43. Damit sind die gewerblichen Verkäufer auf eBay verpflichtet, in klarer und verständlicher Weise auf das Widerrufsrecht hinzuweisen, und zwar unabhängig davon, ob der Verkauf gegen Höchstgebot oder bei Sofortkauf erfolgt44.
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41 42 43 44
Vgl. LG Frankfurt a. M., CR 2003, 412. BGBl. I 2009, 2413. BGH, MMR 2005, 37 m. Anm. Spindler; vgl. auch Hoeren/Müller, NJW 2005, 949. OLG Hamm, MMR 2005, 540.
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Im Hinblick auf Dienstleistungen ist des Weiteren folgende Bestimmung zu beachten: Gemäß § 312d Abs. 3 BGB in der ab dem 4.8.2009 geltenden Fassung erlischt das Widerrufsrecht auch dann, wenn der Vertrag von beiden Seiten auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers vollständig erfüllt ist, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausgeübt hat. Das führt dazu, dass angesichts der relativ unbemerkt gebliebenen Gesetzesänderung Dienstleister auch ihre Widerrufsbelehrung ändern müssen. Ansonsten drohen teure Abmahnungen durch Wettbewerber oder Verbände. Dem Unternehmer steht es frei, anstelle des Widerrufsrechts ein Rückgaberecht vorzusehen (§ 312d Abs. 1 Satz 2 BGB). Anders als das Widerrufsrecht setzt die Rückgabe voraus, dass der Verbraucher fristgemäß die Sache zurücksendet oder, wenn die Sache nicht als Paket versandt werden kann, die Rücknahme verlangt. Das Rückgaberecht gewährleistet dem Unternehmer daher generell, dass er die Ware gleich zurückbekommt, bevor er das erhaltene Geld an den Verbraucher zurückschickt. Voraussetzung für eine wirksame Vereinbarung des Rückgaberechts ist allerdings eine deutlich gestaltete Belehrung wie beim Widerruf sowie die Möglichkeit des Verbrauchers, hiervon eingehend Kenntnis zu nehmen und eine Vereinbarung in Textform. Letzteres ist bei der Angabe auf einer Website grundsätzlich nicht erfüllt45. 4. Ausblick auf Maßnahmen der EU und des Bundesgesetzgebers a) Vor dem Regierungswechsel in Berlin hat die alte Bundesregierung noch Änderungen im Widerrufs- und Rückgaberecht auf den Weg gebracht und vom Bundestag verabschieden lassen, die größtenteils zum 11.6.2010 in Kraft getreten sind. Das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkredit-Richtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdienste-Richtlinie sowie zur Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht ist am 2.7.2009 vom Bundestag verabschiedet worden. Es setzt die Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge (Verbraucherkredit-Richtlinie) sowie den zivilrechtlichen Teil der Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt (Überweisungs-Richtlinie) in deutsches Recht um. Herzstück dieses Gesetzes ist der Verbraucherdarlehen und Zahlungsdienste betreffende Teil. Dadurch soll der Verbraucher bessere Informationen bei Kreditverträgen bekommen und vor unseriösen Lockvogelangeboten geschützt werden. Dieser Teil ist bereits zum 31.10.2009 in Kraft getreten. Im Hinblick auf das Widerrufs- und Rückgaberecht erhielt das (neue) gesetzliche Muster zur Widerrufs- und Rückgabebelehrung Gesetzesrang und findet sich nun in Art. 246 EGBGB. Wer dann auf dieses Muster zurückgreift, kann sicher sein, von Abmahnungen von Wettbewerbern und Verbänden geschützt zu sein. Die Widerrufs- und Rückgabefrist wird für den Bereich E-Commerce einheitlich 14 Tage betragen, wenn dem Verbraucher spätestens bei Vertragsschluss eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Widerrufsbeleh-
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45 S. oben II. 3. c) bei Fn. 19–22.
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rung in Textform mitgeteilt worden ist. Bei Fernabsatzverträgen ist es nun ausreichend, wenn die Widerrufsbelehrung unverzüglich nach Vertragsschluss in Textform mitgeteilt wird (§ 355 Abs. 2 Satz 2 BGB n. F.). Das bedeutet eine Erleichterung vor allem für die Anbieter auf Internet-Auktionsplattformen. Hier war das Problem, dass die Belehrung über den Widerruf auf der Angebotsseite nicht der Textform entsprochen hat, so dass die Widerrufsfrist einen Monat beträgt. Der Unterschied zwischen Internetshop und Auktionsplattform ist nun beseitigt. Nach der Begründung im Regierungsentwurf ist die Widerrufsbelehrung unverzüglich, wenn sie unmittelbar nach Vertragsschluss per E-Mail verschickt wird. Nur wenn dies nicht unverzüglich geschieht, gilt eine Widerrufsfrist von einem Monat (§ 355 Abs. 2 Satz 3 BGB n. F.). Änderungen ergeben sich auch zum Rückgaberecht. Dieses war vor allem eBay-Verkäufern verwehrt, da eine Einräumung des Rückgaberechts nicht in Textform gewährleistet werden konnte. Das Textformerfordernis für die Rückgabebelehrung ist durch die ersatzlose Streichung dieses Erfordernisses in § 356 Abs. 2 Nr. 3 BGB aufgehoben worden. Die Einräumung des Rückgaberechts wird nun den Anforderungen an das Widerrufsrecht angeglichen. Die Erklärungsfrist des Verbrauchers beginnt nun auch hier nicht, bevor dem Verbraucher eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Rückgabebelehrung in Textform mitgeteilt worden ist. Durch diese Gesetzesänderung in § 356 BGB steht nun auch Internet-Auktionshändlern die Vereinbarung eines Rückgaberechts offen. Eine Verbesserung der Rechtslage für Internet-Auktionshändler ergibt sich auch im Hinblick auf den Wertersatz für die durch eine bestimmungsgemäße Ingebrauchnahme entstandene Verschlechterung der Ware. Nach bisheriger Rechtslage bedarf es hierzu spätestens bei Vertragsschluss eines Hinweises auf die Rechtsfolge und Möglichkeit der Vermeidung des Wertersatzes in Textform. Nach der Neufassung des § 357 Abs. 3 BGB genügt ein unverzüglich nach Vertragsschluss in Textform mitgeteilter Hinweis, vorausgesetzt eine Unterrichtung hierüber erfolgt bereits vor dem Vertragsangebot des Verbrauchers in einer dem eingesetzten Fernkommunikationsmittel entsprechenden Weise. Die Neuregelung wird jedoch nichts daran ändern, dass diese im Lichte der neuen Rechtsprechung des EuGH zum Wertersatz ausgelegt werden muss. Wie oben bereits dargestellt, unterliegt die Wertersatzverpflichtung des Verbrauchers den vom EuGH statuierten Einschränkungen. b) Ein weiterer Änderungsbedarf im Fernabsatzrecht steht dann ins Haus, wenn die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Verbraucherrechts-Richtlinie vom Oktober 200846 verabschiedet wird und umzusetzen ist. Diese hat vor allem eine Harmonisierung der Verbraucherrechte in allen Mitgliedstaaten zum Ziel. So unterscheiden sich die Informationspflichten und Widerrufsrechte zwischen den Mitgliedstaaten ganz erheblich. Nach dem Kommissionsvorschlag soll die Richtlinie alle Verträge betreffen über den Kauf von Waren
__________ 46 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg.
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und über Dienstleistungen. Neben harmonisierten Informationspflichten, einer weiteren Liste von missbräuchlichen Vertragsklauseln, Neuerungen zu Lieferzeiten, Gefahrtragung und den Gewährleistungsrechten (möglicherweise nach Initiative der schwedischen Ratspräsidentschaft vom August 2009 sogar mit auf vier Jahre verlängerten Gewährleistungsfristen) soll auch Europaeinheitlich eine Widerrufsfrist von 14 Kalendertagen eingeführt werden ebenso wie harmonisierte Regelungen zum Beginn der Widerrufsfrist und sogar ein europaweit geltendes Standard-Widerrufsformular. Das Verbraucherschutzrecht im Fernabsatzbereich entwickelt sich also aufgrund insbesondere gemeinschaftsrechtlicher Initiativen weiter. Es ist daher mit weiteren Gestaltungseinschränkungen im Hinblick auf den Vertragsschluss im Internet zu rechnen.
III. Spannungsfeld zwischen Inhaltsfreiheit und AGB-Klauselverboten – einige Beispiele 1. Grundsätzliches Eingeschränkt wird die Privatautonomie von Unternehmern im E-CommerceBereich aber nicht nur durch die zwingenden Bestimmungen des Fernabsatzrechts mit seinen umfassenden Informationspflichten und dem Schutz des Verbrauchers durch das Widerrufs- bzw. Rückgaberecht. Bedeutend sind auch die teilweise im b2b-Bereich geltenden Klauselverbote im Bereich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Gerade im Hinblick auf die Geltung von Klauselverboten im Rechtsverkehr zwischen Unternehmern ist die Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen ein Streitpunkt. Das deutsche Recht wird hier häufig als zu restriktiv gegenüber den Verwenderinteressen betrachtet. So ist von Seiten deutscher Unternehmen nach Erhebungen von Industrieverbänden vorgebracht worden, diese seien angesichts des restriktiven AGB-Rechts bei Anwendung deutschen Rechts auch im b2b-Bereich benachteiligt47. Im Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen wird dem deutschen Recht daher eine zu restriktive Handhabe im Hinblick auf die Privatautonomie im b2b-Verkehr attestiert. a) Unterschied b2b – b2c-Verkehr Die Rechtsprechung des BGH spielt in Bezug auf die Inhaltskontrolle von AGB im unternehmerischen Geschäft (b2b) seit langem eine prägende Rolle. Die im Verhältnis zu anderen Ländern48 eher strenge Handhabung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gegenüber Unternehmen spaltet die Meinungen49.
__________ 47 Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158; Steinberger, BB 35, 2009, M1. 48 Beispielhaft sei hier das Recht der Schweiz genannt, das auch von Berger, Abschied von der Privatautonomie im unternehmerischen Geschäftsverkehr, ZIP 2006, 2149, als Zufluchtsrecht vieler Unternehmer bezeichnet wird. 49 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 216 Rz. 553.
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Der Forderung nach einer „Kehrtwendung“50 in der Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle im unternehmerischen Geschäftsverkehr widerspricht von Westphalen in seiner hierzu Stellung nehmenden Erfolgsbilanz des AGB-Rechts mit Nachdruck; die 30 Jahre alte Rechtsprechung habe sich seiner Meinung nach bewährt und die Unternehmer hätten sich auf die konstante Tendenz in der Rechtsprechung inzwischen eingerichtet51. Allgemein anerkannt ist der Grundsatz der geringeren Schutzwürdigkeit von Unternehmern52. Laut Berger ist insoweit maßgeblich für die unternehmerische Praxis nicht die „Unterlegenheit“ des Vertragspartners in einer Verhandlungssituation, sondern seine erhöhte Verantwortung für seine geschäftlichen Belange in dieser Situation53. In § 310 Abs. 1 BGB äußert sich dieser Grundsatz, indem die § 305 Abs. 2 und 3 sowie §§ 308, 309 BGB keine Anwendung auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr finden, eine Inhaltskontrolle also nur im Rahmen der Anwendung des § 307 BGB stattfindet, jedoch stets mit Rücksicht auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche. Berger sieht dieses gesetzliche „Differenzierungsgebot“54 nicht genügend in der Rechtsprechung berücksichtigt. Durch die Indizwirkung, die die §§ 308, 309 BGB auch auf Klauseln gegenüber Unternehmern haben55, legt der BGH ähnlich strenge Anforderungen an die Inhaltskontrolle fest wie im Verbrauchergeschäft. Diese Indizwirkung wird nur dann insoweit eingeschränkt, als ausnahmsweise wegen der besonderen Interessen und Bedürfnisse des unternehmerischen Geschäftsverkehrs Angemessenheit anzunehmen ist56. Somit liegt die Argumentationslast, dass eine Klausel nicht ungültig ist, beim Verwender57. Dies ergibt sich jedoch gemäß von Westphalen allein schon aus dem Gesetzestext, der eine Vermutung der Unwirksamkeit bei nicht unerheblichem Abweichen vom dispositiven Recht ausspricht (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB), was in der Regel bei einer unangemessenen Benachteiligung der Fall sein würde58, zumal durch die Schuldrechtsreform die Position von Käufern und Werkbestellern gesetzlich gestärkt worden sei59. b) Pauschale Beurteilung von Klauseln oder Einzelfallentscheidung? Wonach beurteilt sich nun – in Anwendung des § 307 BGB – die gegen Treu und Glauben verstoßende unangemessene Benachteiligung eines unternehme-
__________ 50 51 52 53 54 55 56
Berger, ZIP 2006, 2149, 2149. Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 154. Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 64 Rz. 185. Berger, ZIP 2006, 2149, 2151. Berger, ZIP 2006, 2149, 2151. Grundlegend: BGHZ 90, 273, 274. BGHZ 90, 273, 274; hierzu kritisch: Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 218 Rz. 557; Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl. 2006 § 307 BGB Rz. 382. 57 Berger, ZIP 2006, 2149, 2150. 58 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157. 59 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 19 Rz. 64; interessant ist aber sein Beispiel in Rz. 66 zur Heranziehung des § 476 BGB im unternehmerischen Verkehr, was als unwirksame Klausel angesehen wurde, BGH, NJW 2006, 47.
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rischen Vertragspartners? Hierbei ist, der BGH-Rechtsprechung folgend, auf eine überindividuell-generalisierende Betrachtungsweise abzustellen60. Inwieweit auch die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind61, ist umstritten, der BGH misst ihnen kaum Bedeutung bei62. Eine grundsätzliche Berücksichtigung der einzelnen Umstände und eine stärkere Differenzierung je nach Art der Vertragspartner der Klauselverwender (laut Berger sollen zum Beispiel Unternehmen mit eigener Rechtsabteilung und solche mit ständiger externer Rechtsberatung weniger schutzwürdig sein63) kann in Einzelfällen zu einer gerechteren Lösung führen. Höhere Einzelfallgerechtigkeit bringt aber wie immer, worauf auch von Westphalen hinweist, höhere Rechtsunsicherheit mit sich64. Unternehmen könnten sich nicht mehr an bestehender Rechtsprechung orientieren, um zu wissen, welche ihrer Klausen der Inhaltskontrolle standhalten. Eine solche Differenzierung brächte im Bereich der Unternehmer, die auf Augenhöhe Verträge schließen, eine Ausschaltung der Klauselkontrolle (und somit natürlich auch eine höhere Flexibilität) mit sich. Der Unterschied der unternehmerischen Position und der juristischen Beratung eines Unternehmens schlägt sich jedoch bereits bei den Vertragsverhandlungen nieder, wo einzelne Klauseln eben gerade erörtert und ausgehandelt werden können (auch mittels der juristischen Berater). Diese fallen dann ohnehin aufgrund des Vorrangs der Individualabrede aus dem Schutzbereich des AGB-Rechts heraus. Vertragsfreiheit und die Wiederherstellung der notwendigen Flexibilität unternehmerischer Vertragsgestaltung, wie sie gefordert wird65, kann nur dort garantiert werden, wo beiden Vertragspartnern diese Freiheit auch zustand66. Allerdings sind zu Recht die von Berger geforderten Wertungskriterien wie Branchenüblichkeit der Klausel, Zumutbarkeit und Üblichkeit der Versicherung des betreffenden Risikos durch den Vertragspartner und der Ausgleich des Risikos durch wirtschaftliche Vorteile anderer Art und die Absatzstufe67 bei der Angemessenheit einer Klausel zu berücksichtigen. Ob diese vom BGH schon ausreichend in die Inhaltskontrolle einbezogen wurden (so von Westphalen68), soll hier anhand einzelner Klauselverbote untersucht werden.
__________ 60 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 307 BGB Rz. 40; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 216 Rz. 552. 61 Für Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 307 BGB Rz. 40 sind sie entscheidend unter Verweis auf BGH, NJW 2005, 2006; in dieser Entscheidung wird jedoch gerade die Auffassung vertreten, dass Einzelfallumstände keine Rolle spielen, sondern nur die generelle Ungerechtigkeit einer Klausel. 62 BGH, NJW 2005, 2006, 2008. 63 Berger, ZIP 2006, 2149, 2155. 64 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157. 65 Berger, ZIP 2006, 2149, 2149. 66 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 152 f. 67 Berger, ZIP 2006, 2149, 2154. 68 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157.
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2. Preis- und Leistungsänderungsvorbehalte Das in § 309 Nr. 1 BGB geregelte Klauselverbot einer kurzfristigen Preiserhöhung kann im Verkehr zwischen Unternehmern so nicht übernommen werden69. Preiserhöhungsklauseln sind auch dann zulässig, wenn die Erhöhungskriterien nicht angegeben werden und dem Kunden für den Fall einer erheblichen Preissteigerung kein Lösungsrecht eingeräumt wird. Maßgeblich ist lediglich, dass seine Interessen in anderer Weise ausreichend gewahrt werden70. Hier stellt der BGH mit Rücksicht auf § 307 BGB auf die Art der Vertragsverhandlungen und die Vertragsdauer ab71, teilweise auf den wirtschaftlichen Einfluss der Preisanpassung auf den Vertragspartner72. Der Grundgedanke des § 308 Nr. 4 BGB, also das Verbot eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen, findet hingegen aufgrund der den Leistungsänderungsvorbehalten innewohnenden Gefährlichkeit auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr im Rahmen des § 307 BGB Anwendung73. Zulässig sind lediglich handelsübliche Mengenund Qualitätstoleranzen. Auch bei Dauerrechtsverhältnissen bzw. Rahmenverträgen, wo Anpassungsklauseln geschäftsbedingt notwendig sind, wird ihre Angemessenheit überprüft74. 3. Beschränkung von Gewährleistung und Haftungsausschluss Die Verbote von Haftungsausschlüssen bei Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit (§ 309 Nr. 7a BGB) und für grobes Verschulden (Nr. 7b) sind auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr über § 307 BGB anzuwenden75 und entfalten somit auch dort in demselben Umfang wie bei Verbrauchern ihre Wirkung76. Die einzige Einschränkung, die vom BGH beim Vorliegen lediglich leichter Fahrlässigkeit geduldet wird, ist die Begrenzung auf den für die Parteien vorhersehbaren Schaden77. Das weitreichende Verbot von Haftungsausschlüssen und -begrenzungen wird kritisiert insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Vertragspartner letztlich ja nur unangemessen benachteiligt werde, wenn ihm die Möglichkeit des Abschlusses einer entsprechenden Haftpflichtversicherung nicht offen stehe78. Was die Haftung für grobes Verschulden angeht, so kann diese nicht nur für eigenes Verschulden nicht ausge-
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69 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 7 u. 9. 70 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 9 unter Hinweis auf BGHZ 92, 203; BGHZ 93, 256. 71 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 9. 72 BGHZ 92, 203 (die Preiserhöhung wird auf den am Markt durchgesetzten Preis beschränkt). 73 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 308 BGB Rz. 24; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 312 Rz. 802. 74 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 308 BGB Rz. 24. 75 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 48; instruktiv Langer, WM 2006, 1233. 76 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 368 Rz. 979. 77 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 154 mit Hinweis auf BGH, NJW 1993, 335. 78 Berger, ZIP 2006, 2149, 2155.
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schlossen werden, sondern auch nicht für das der leitenden Angestellten oder für Organisationsverschulden79. Umstritten ist ebenfalls der Haftungsausschluss für einfache Erfüllungsgehilfen80. Kein derartiger Haftungsausschluss in AGB ist möglich, sofern Kardinalpflichten verletzt werden81. Eine betragsmäßige Haftungsdeckelung (ausgenommen für grobes Verschulden des Verwenders oder eines leitenden Angestellten) ist zulässig, solange die festgelegte Summe den vertragstypischen und vorhersehbaren Schaden abdeckt82. 4. Pauschalisierter Schadensersatz und Vertragsstrafe Grundsätzlich kann das Vertragsstrafenverbot des § 309 Nr. 6 BGB nicht auf den Verkehr zwischen Unternehmern übertragen werden, da dieses auf Verbraucher zugeschnitten ist83. Vertragsstrafen sind im unternehmerischen Geschäftsverkehr durchaus üblich und genießen einen weiten Spielraum, soweit sie den Schuldner nicht unangemessen benachteiligen84. Dies kann bei der Vereinbarung einer verschuldensunabhängigen Vertragsstrafe der Fall sein85 ebenso wie bei einer zu hohen Vertragsstrafe, die deutlich über dem zu erwartenden Schaden liegt und daher zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Verwenders führen würde86. Anderes gilt bei der Pauschalisierung von Schadensersatz, wo § 309 Nr. 5a BGB grundsätzlich entsprechend angewendet wird87. Dieser besagt, dass eine Vereinbarung über pauschalisierten Schadensersatz oder Wertminderungsersatz wirksam ist nur dann, wenn die Pauschale nicht den in den geregelten Fällen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden oder die gewöhnliche eintretende Wertminderung übersteigt und dem anderen Vertragsteil ausdrücklich der Nachweis gestattet wird, darzulegen, ein Schaden oder eine Wertminderung sei überhaupt nicht entstanden oder wesentlich niedriger als die Pauschale. Hierbei wird nur der geringe Unterschied gemacht, dass die Möglichkeit des Gegenbeweises über die niedrigere Höhe des Schadensersatzes nicht ausdrücklich in den Klauseln enthalten sein muss, solange sie nur nicht ausgeschlossen wird88.
__________ 79 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 369 Rz. 981; BGH, NJW 1978, 997, 999. 80 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 369 Rz. 982. 81 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 369 Rz. 982; BGH, NJW-RR 1998, 1426; BGH, NJW-RR 2006, 267, 269. 82 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 370 Rz. 984. 83 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 38; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 347 Rz. 917; BGH, NJW 2003, 2158, 2161. 84 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 38 mit Einzelbeispielen. 85 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 348 Rz. 917; BGH, NJW 1979, 105, 106. 86 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, S. 348 Rz. 917; Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157 unter Bezugnahme auf BGH, NJW, 1994, 1060, 1068. 87 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 32; kritisch hierzu: Berger, ZIP 2006, 2149, 2154. 88 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 309 BGB Rz. 32.
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IV. Schlussbemerkungen Der aktuelle Stand der Gesetzgebung und Rechtsprechung im Spannungsverhältnis zwischen Vertragsfreiheit einerseits und der Verstärkung des dispositiven Rechts zum zwingenden Recht im Bereich standardisierter Vertragsbedingungen andererseits veranlasst mich zu folgenden Thesen: 1. Die in diesem Beitrag aufgezeigte Entwicklung des Rechts im Internet hat mit ihren rigiden Regelungen, insbesondere zu Widerrufsbelehrungen und -rechten eindeutig die Vertragsfreiheit weiter eingeschränkt, ist also ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Abschied von der Vertragsfreiheit. Dieser Schritt ist allerdings im Wesentlichen aus Verbraucherschutzgründen im b2c-Bereich bedingt. 2. Auch soweit der b2b-Bereich hiervon betroffen wird, erscheint dies angemessen, da typischerweise bei Bestellungen von Unternehmen im Internet keine Verhandlungssituation besteht. Ein „Aushandeln“ von Vertragsbedingungen findet nicht statt. Der Kunde bestellt im Wesentlichen durch Anklicken ein vom Anbieter ins Internet gestelltes Angebot zu den von diesem verwendeten und gestellten Bedingungen. Es liegt also eine typische AGBSituation vor, die den vollen Schutz des AGB-Rechts vor unangemessenen Klauseln rechtfertigt. 3. Auch wenn die hier aufgezeigte Entwicklung des Internetrechts also keine wesentliche Verschärfung der Situation des Wettbewerbsnachteils des deutschen Rechts im internationalen Vergleich mit anderen Rechtskreisen mit sich gebracht hat, zumal viele der Neuerungen ohnehin jedenfalls im gesamten EU-Bereich gelten, bleibt die Ausgangsfrage offen, ob die Rechtsprechung des BGH der letzten 30 Jahre zum AGB-Recht zu einem Wettbewerbs- und Standortnachteil für das „Law made in Germany“ geführt hat. Auch wenn Graf von Westphalen darauf verweist, dass die Unternehmer in Deutschland sich inzwischen ja hierauf „schon eingerichtet haben“ (s. oben Fn. 50), so zeigen doch die zahlreichen Stellungnahmen von Unternehmensund Verbandsjuristen, dass dieses „Einrichten“ eben auch bedeutet, dass die deutschen Unternehmen sich daran gewöhnt haben, im internationalen Geschäftsverkehr z. B. auf das Schweizer Recht auszuweichen89. 4. Die generalisierende Anwendung eines Großteils der im AGB-Recht angesiedelten Gedanken des Verbraucherschutz-Rechtes auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr ist im internationalen Rahmen eher ungewöhnlich und stößt bei vielen Juristen im Ausland, allerdings eben auch im Inland, auf blankes Unverständnis. Auch Graf von Westphalen erkennt in Diskussionen an, dass bei einem „auf Augenhöhe“ verhandelten Vertrag zwischen Großunternehmen Regeln des Verbraucherschutzes nichts zu suchen haben. Warum soll bei einem zwischen EON und Siemens verhandelten Großanlage-Vertrag über mehrere 100 Millio-
__________ 89 Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158, 163; Steinberger, BB 35, 2009, M1.
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nen Euro sich eine Partei später, wenn ihr dies passt, auf die Unwirksamkeit einer ihr ungünstigen Vertragsklausel berufen können, nur weil diese Klausel von der anderen Partei als Standardklausel verwendet und gestellt wurde? Auch wenn die die Klausel stellende Vertragspartei bei den Vertragsverhandlungen erklärt hat, dass diese Klausel für sie nicht verhandelbar ist, so hat der Vertragspartner diese Klausel doch schließlich akzeptiert, weil ihm insgesamt der Vertragsabschluss als vorteilhaft erschien. Einem derartigen Vertragspartner dann aber doch noch einen Ausweg aus der akzeptierten Vertragsklausel zu gewähren, hat nichts mit Verbraucherschutz zu tun, es erscheint hingegen schlicht als unbillig. Jeder derartige Vertragspartner hat vor Vertragsunterzeichnung eine Abwägung der ihm günstigen und ungünstigen Bestimmungen vorgenommen und sich nach Abwägung aller Vor- und Nachteile für die Unterzeichnung des Vertrages entschieden. Er sollte daher nicht die Möglichkeit haben, die Balance der einzelnen Vertragsklauseln nachträglich noch zu seinen Gunsten zu verändern. Eine derartige „Inhaltskontrolle“ führt lediglich zu einer durch keinen sachlichen Grund gerechtfertigten Korrektur des Verhandlungsergebnisses durch den Richter90. Unternehmen, die auf Augenhöhe miteinander verhandeln, haben sich an das zwingende Recht zu halten. Das dispositive Recht hingegen steht im Rahmen der Verhandlungen zur Disposition, deswegen ist es eben „dispositives“ Recht. Das dispositive Gesetzesrecht ist auch nicht das klassische und geeignete Instrument zur Steuerung der Vertragsrisiken in komplexen Einzelverträgen zwischen Unternehmen im Geschäft für Anlagenbau, M & A und ähnlichen Transaktionen, sondern eben der Vertrag selbst91. Den gegebenen Unterschied zwischen zwingendem und dispositivem Recht auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr über das AGB-Recht aufzuweichen, erscheint daher jedenfalls bei Verträgen zwischen Unternehmen mit vergleichbarem Verhandlungsgewicht unangebracht. 5. Soll also im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit in jedem einzelnen Fall geprüft werden, ob die Verhandlungsposition des Vertragspartners eines Klauselverwenders so stark oder so schwach war, dass je nach Beantwortung dieser Frage entschieden werden kann, ob vom Klauselverwender nicht zur Disposition gestellte und daher nicht „ausgehandelte“ Vertragsklauseln anhand der AGB-Rechtsprechung des BGH zur Überprüfung gestellt werden sollen? Hier gehe ich mit Graf von Westphalen einig, dass der inhaltliche Vorteil der Einzelfallgerechtigkeit den Nachteil der Rechtsunsicherheit nicht aufwiegen würde92. Auch eine derartige Rechtsunsicherheit wäre ein Standortnachteil für das deutsche Recht im Bereich des internationalen Rechtsverkehrs und würde im
__________ 90 So im Ergebnis auch Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158, 159, 161, 163 unter Hinweis auf den in der Unternehmenspraxis üblichen Ablauf derartiger Vertragsverhandlungen. 91 Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158. 92 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149, 157.
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AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr und E-Commerce-Recht
Übrigen nur dazu führen, dass die vertragsstarke Partei bei internationalen Verträgen weiterhin auf die Anwendbarkeit eines anderen als des deutschen Rechts drängen würde. Graf von Westphalen weist zu Recht auf die wirtschaftliche Macht großer Einkäufer und deren häufig einseitige Einkaufs-AGB hin93. Dies gilt sowohl für den Bereich großer Handelsketten wie Metro u.ä. wie auch im Bereich der Automobil- und sonstigen Großindustrie. Nun sind in unserer globalisierten Welt selbstverständlich auch diese Einkaufsverträge sehr häufig internationale Verträge, da sich ein Großteil der Zulieferer in diesen Bereichen im Ausland befindet; häufig in Ländern mit nicht nur niedrigem Lohnniveau, sondern auch mit einem deutlich niedrigeren Rechtsschutz-Niveau für schwächere Vertragsparteien als dieses in Deutschland gegeben ist, schon allein durch zwingende Gesetzesbestimmungen wie die §§ 138, 242 BGB. Es wäre also nicht dem von der BGH-Rechtsprechung und Graf von Westphalen angestrebten Ziel des Schutzes der schwächeren Partei dienlich, wenn in derartigen Fällen einer starken Einkaufspartei dieser ein weiteres Motiv an die Hand gegeben würde, auf der Wahl des ausländischen Rechts des Zulieferers zu bestehen. 6. Im Ergebnis plädiere ich daher dafür, durchaus generalisierend im Interesse der Rechtssicherheit das AGB-Recht im unternehmerischen Geschäftsverkehr allgemein nicht anzuwenden, solange der Verwender von Standardklauseln überhaupt bereit ist, insgesamt über die von ihm eingeführten Standard-Vertragsbestimmungen zu verhandeln. Dieses Ziel kann erreicht werden über eine praxis- und sachgerechte Auslegung der Tatbestandsmerkmale „Stellen“ und „Aushandeln“ in § 305 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 BGB94. Akzeptiert der Vertragspartner in einer solchen Vertragssituation die anderen, vom Verwender nicht zur Disposition gestellten Vertragsklauseln, so kann er als Unternehmer das Risiko sowie die Vor- und Nachteile des Geschäfts für sich abschätzen. Überwiegen die Nachteile, wird er den Vertrag nicht unterzeichnen; überwiegen die Vorteile, wird er ihn unterzeichnen. Dann soll er allerdings auch die Nachteile, die er sehenden Auges in Kauf genommen hat bzw. die er als Unternehmer hätte erkennen können, akzeptieren und nicht nachträglich versuchen, sich im Wege des „cherry picking“ nur auf die für ihn günstigen Klauseln zu berufen und sich unter Berufung auf das für Verbraucher entwickelte AGB-Recht aus den für ihn ungünstigen Klauseln zu befreien unter Berufung auf deren angebliche Unwirksamkeit. Nur wenn der starke Vertragspartner die von ihm verwendeten Vertragsbedingungen überhaupt nicht zur Disposition stellt („take it or leave it“) befindet sich der andere Vertragspartner in einer „Verbraucherposition“ und es erscheint angemessen, das AGB-Recht zur Anwendung zu bringen.
__________ 93 Graf von Westphalen, ZIP 2007, 149. 94 Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158, 163.
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7. Wir leben in einer globalisierten Welt und der unternehmerische Geschäftsverkehr ist international, insbesondere bei der Exportnation Deutschland. Soll das ansonsten durchaus attraktive „Law made in Germany“ auch im unternehmerischen internationalen Rechtsverkehr überleben können, dann dürfen wir die international agierenden deutschen Unternehmen nicht darauf verweisen, dass sie sich nach 30 Jahren AGB-Rechtsprechung des BGH an diese gewöhnen sollen. Wir müssen ihnen im deutschen Recht eine attraktive Option bieten, die sowohl der Praxis des unternehmerischen Geschäftsverkehrs gerecht wird wie auch Rechtssicherheit bietet.
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Betriebsausfallschäden als Gestaltungsproblem Inhaltsübersicht I. Gestaltungsbedürfnis in der Rechtspraxis II. Ersatzfähigkeit im System der §§ 280 ff. BGB 1. Die Entscheidung des BGH vom 19.6.2009 – V ZR 93/08 2. Zur Überzeugungskraft der Argumente 3. Fazit: Ein erhebliches Haftungsrisiko III. Umfang und Grenzen vertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten 1. Individualvereinbarung vs. AGB 2. Der aktuelle Meinungsstand zur AGB-rechtlichen Zulässigkeit 3. Zweifel
IV. Kritik und Stellungnahme 1. Ausgangspunkt 2. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB a) Wesentlichkeit b) Vertragszweckgefährdung c) Zwischenergebnis 3. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB 4. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB 5. Zu den Besonderheiten des B2BGeschäfts V. Ergebnis und Ausblick
I. Gestaltungsbedürfnis in der Rechtspraxis Mangelbedingte Betriebsausfallschäden bilden in der unternehmerischen Kautelarpraxis für den Schuldner der Leistung einen besonders kritischen Schadensposten. Dies liegt daran, dass sie vor allem im Fall des entgangenen Gewinns der Höhe nach weit über den reinen Sachschaden hinausgehen und im Einzelfall in einem völlig unverhältnismäßigen Bezug zum Wert des Vertragsgegenstandes stehen können1. Zugleich hängen diese Schäden ausschließlich von der Disposition des Gläubigers ab, weil dieser mit dem Einsatz des Vertragsgegenstandes auch über die mögliche Schadenshöhe entscheidet. So kann derselbe Mangel einerseits zu einem vergleichsweise geringen Schaden führen, wenn der Gegenstand für ein produktionsmäßig unbedeutendes Gerät eingesetzt wird, andererseits aber eine für den Schuldner existenzbedrohende Schadenshöhe nach sich ziehen, wenn dadurch eine produktionsrelevante Anlage ausfällt und es zu einer Betriebsunterbrechung kommt2. Diese Abhängig-
__________ 1 Vgl. von Westphalen, BB 2002, 209 (210); Gruber, ZGS 2003, 130; Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (4 f.); dazu und zum Nachfolgenden demnächst ausführlich Khan, Haftungsfreizeichnungen im unternehmerischen Verkehr am Maßstab des § 307 BGB (Diss. Köln, im Erscheinen). 2 S. Khan (Fn. 1).
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keit der Schadenshöhe von der Disposition des Gläubigers über die Verwendung der Leistung besteht bei sonstigen Schadensersatzansprüchen statt und neben der Leistung nicht in gleichem Maße. Die folgenden Überlegungen analysieren am Beispiel von Kauf- und Werkvertrag, unter welchen Voraussetzungen solche Schäden im System der §§ 280 ff. BGB zu ersetzen sind und inwieweit ein vertraglicher Haftungsausschluss in Betracht kommt. Das Themenfeld ist von hoher praktischer Bedeutung, aber auch wissenschaftlich reizvoll, werden doch die Grundsatzfragen der ratio einer Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im unternehmerischen Verkehr und der Funktion vertraglicher Schadensersatzansprüche berührt. Solche Grundsatzfragen hat der Jubilar stets als Herausforderungen begriffen, denen er sich in einer ungewöhnlichen Verbindung von Praxisnähe und wissenschaftlichem Anspruch gestellt hat, und zwar stets mit der Bereitschaft, eingefahrenen Denkmustern eigene, unkonventionelle Lösungen entgegenzusetzen. Ihm ist dieser Beitrag in kollegialer Verbundenheit gewidmet.
II. Ersatzfähigkeit im System der §§ 280 ff. BGB 1. Die Entscheidung des BGH vom 19.6.2009 – V ZR 93/083 Die Ersatzfähigkeit mangelbedingter Betriebsausfallschäden bildet bekanntlich eine der strittigsten Fragen des reformierten Schuldrechts, die nunmehr höchstrichterlich im Sinne der herrschenden Lehre entschieden worden ist: Danach sollen solche Schäden bereits nach § 280 Abs. 1 BGB ersatzfähig sein4, ohne dass es auf die Voraussetzungen der §§ 280 Abs. 2, 286 BGB ankommt5.
__________ 3 BGH, NJW 2009, 2674 (vorgesehen zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung). 4 BGH, NJW 2009, 2674 (2675 f.); Canaris, ZIP 2003, 321 (326 f.); Medicus, JuS 2003, 521 (528); Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rz. 546 f.; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 280 BGB Rz. 18, 20; Ernst in MünchKomm. BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 280 BGB Rz. 55 ff.; H. P. Westermann in MünchKomm. BGB, Bd. 3, 5. Aufl. 2008, § 437 BGB Rz. 33; ders. in Erman, Bd. 1, 12. Aufl. 2008, § 280 BGB Rz. 12; Otto in Staudinger, §§ 255–304 BGB (Neubearb. 2004), § 280 BGB Rz. E 29 f.; Faust in Bamberger/Roth. 14. Ed., Stand 1.9.2009, § 437 BGB Rz. 67; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, 8. Aufl. 2008, Rz. 518 ff.; Kaiser in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (Neubearb. 2008), Kap. Leistungsstörungen, F IV, S. 370 ff.; U. Huber in FS Peter Schlechtriem, 2003, S. 521 (525); Gruber, ZGS 2003, 130 (133 f.). 5 In diesem Sinne aber Dauner-Lieb/Dötsch, DB 2001, 2535 (2537); Arnold/Dötsch, BB 2003, 2250 (2253); Dauner-Lieb in dies/Heidel/Ring, Bd. 2, 2005, § 280 BGB Rz. 62; dies. in FS Horst Konzen, 2006, S. 63 (70); Büdenbender in Dauner-Lieb/Heidel/Ring, § 437 BGB Rz. 71 ff.; Dedek in Henssler/von Westphalen, Praxis der Schuldrechtsreform, 2. Aufl. 2003, § 280 BGB Rz. 18; Oekter/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 3. Aufl. 2007, § 2, Rz. 267 ff.; C. Berger in Jauernig, 13. Aufl. 2009, § 437 BGB Rz. 17; Fliegner, JR 2002, 314 (322); Petersen, Jura 2002, 461 (463); Schur, ZGS 2002, 243 (244); Oechsler, NJW 2004, 1825 (1828); ebenso grds. auch Grigoleit/Riehm, AcP 203 (2003), 727 (754 ff.); dies., JuS 2004, 745 (747 f.); Teichmann/Weidmann in FS Walther Hadding, 2004, S. 287 (301 f.); Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2009, Rz. 575.
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Gestützt wird dies unter anderem auf den Willen des Gesetzgebers6 und auf die fehlende Normierung des § 286 BGB in § 437 BGB7. Darüber hinaus wird insbesondere angeführt, dass der Schuldner durch eine mangelhafte Leistung gefährlicher in die Gütersphäre des Gläubigers eindringe als bei einer gänzlich verzögerten Leistung, so dass es mit Blick auf die Interessenlage einen Unterschied mache, „ob der Schuldner lediglich untätig bleibt oder ob er zwar leistet, die Leistung aber fehlerhaft erbringt“8. Wegen dieser höchstrichterlichen Entscheidung wird sich die Praxis darauf einzustellen haben, dass auch die Instanzgerichte dieser Lösung folgen und Betriebsausfallschäden ohne Mahnungserfordernis als ersatzfähig ansehen werden. 2. Zur Überzeugungskraft der Argumente Sachlich kann diese Ansicht freilich nach wie vor nicht überzeugen: Wenig hilfreich ist zunächst einmal der Verweis auf den Willen des Gesetzgebers, weil dieser recht undifferenziert von einer Lösung über § 280 Abs. 1 BGB ausgegangen ist, ohne sich mit den Argumenten auseinanderzusetzen, die stattdessen für eine Lösung über § 286 BGB sprechen könnten. Eine solche Lösung liegt aber gerade deshalb nahe, weil sich eine Schlechtleistung zugleich als ein Fall verspäteter ordnungsgemäßer Leistung verstehen lässt9, worauf selbst der BGH zutreffend hinweist10. Ferner geht es bei mangelbedingten Betriebsausfallschäden nicht um eine Verletzung des Integritätsinteresses, sondern um eine solche des „Leistungsinteresses in zeitlicher Hinsicht“11, was ebenfalls für eine strukturelle Nähe zu § 286 BGB spricht. Auch der dagegen vorgebrachte Hinweis auf die fehlende Normierung des § 286 BGB in § 437 BGB ist wenig aussagekräftig, weil er von der herrschenden Ansicht ohnehin nicht konsequent beachtet wird. Vielmehr greift auch die herrschende Ansicht zumindest in jenen Fällen auf §§ 437, 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB zurück, in denen der Schaden lediglich auf eine vom Schuldner zu vertretende Verzögerung der Nacherfüllung zurückzuführen ist12. Es ist aber kaum erklärbar, warum § 286 BGB in diesen Fällen trotz fehlender Normierung in § 437 BGB
__________ 6 So mit Verweis auf BT-Drucks. 14/6040, S. 225 etwa BGH, NJW 2009, 2674 (2675 f.); Lorenz/Riehm (Fn. 4), Rz. 546; H. P. Westermann in Erman (Fn. 4), § 280 BGB Rz. 12; Faust in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 67; Kaiser in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (Fn. 4), Kap. Leistungsstörungen, F IV 3, S. 371 f.; Reinicke/Tiedtke (Fn. 4), Rz. 520. 7 BGH, NJW 2009, 2674 (2676); Lorenz/Riehm (Fn. 4), Rz. 546; Faust in Bamberger/ Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 67; Beckmann in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (Fn. 4), Kap. Kauf, C II 4 d, S. 597; Reinicke/Tiedtke (Fn. 4), Rz. 521. 8 BGH, NJW 2009, 2674 (2676) mit Verweis auf Canaris, ZIP 2003, 321 (323). 9 Vgl. die in Fn. 5 Genannten. 10 BGH, NJW 2009, 2674 (2675). 11 Grigoleit/Riehm, AcP 203 (2003), 727 (754); ähnlich dies., JuS 2004, 745 (747); Oetker/Maultzsch (Fn. 5), § 2, Rz. 268. 12 S. etwa Reinicke/Tiedtke (Fn. 4), Rz. 522; Ernst in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 280 BGB Rz. 59; H. P. Westermann in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 33; Faust in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 59 f.; S. Lorenz, NJW 2005, 1889 (1891); ders., NJW 2007, 1 (2).
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anwendbar sein soll, nicht hingegen in sonstigen Fällen mangelbedingter Betriebsausfallschäden. Soweit argumentiert wird, dass der Schuldner durch eine mangelhafte Leistung gefährlicher in die Gütersphäre des Gläubigers eindringe als bei einer gänzlich verzögerten Leistung und man deshalb andere Maßstäbe anlegen müsse, ist dagegen einzuwenden, dass das Eindringen in die Gütersphäre des Gläubigers nur in jenen Fällen als berücksichtigungsfähig angesehen werden kann, in denen es sich um Schutzpflichtverletzungen i. S. d. § 241 Abs. 2 BGB handelt. Geht es aber wie hier um eine Hauptpflichtverletzung, so ist unerheblich, ob und wie der Schuldner in die Gütersphäre des Gläubigers eindringt, weil dieser Umstand nicht den eigentlichen Anknüpfungspunkt für die Pflichtverletzung bildet13. Für eine Lösung über §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB spricht schließlich auch eine wertungsmäßige Gesamtschau der haftungsrechtlichen Situation, die sich für den Verkäufer als kaum interessengerecht darstellt, wenn er schon unmittelbar aus § 280 Abs. 1 BGB haften müsste: Im Gegensatz zu sonstigen Fällen mangelbedingter Schäden ist es nämlich gerade die Besonderheit von Betriebsausfallschäden, dass sie mit zunehmender Zeit ansteigen14 und deshalb eine sehr hohe Summe erreichen können, die in keinem verhältnismäßigen Bezug mehr zum Wert des Kaufgegenstandes steht15. Insofern ist es für den Verkäufer von essentieller Bedeutung, dass er vom Mangel Kenntnis erlangt und damit auch die Möglichkeit einer zeitnahen Mangelbehebung erhält, bevor er einer Haftung ausgesetzt wird. Auch der BGH unterstreicht dieses Interesse des Verkäufers ganz explizit und weist darauf hin, dass der Käufer den Mitverschuldenseinwand des § 254 BGB gegen sich gelten lassen müsse, wenn er den Verkäufer nicht auf die Mangelhaftigkeit der Sache hinweise und ihn zur Abhilfe auffordere16. Wenn man aber das Bedürfnis nach einem solchen Verkäuferschutz grundsätzlich anerkennt, wäre es dogmatisch ehrlicher, den unter allen Auslegungsgesichtspunkten gangbaren Weg über §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB zu wählen, anstatt behelfsweise auf § 254 BGB zurückzugreifen. Der Verkäufer würde dadurch erst dann für Betriebsausfallschäden haften, wenn er gemahnt worden ist und in Verzug gerät. Da die Mahnung bereits im Nacherfüllungsverlangen gesehen werden kann17, ist dies auch keine zu hohe Hürde für den Käufer. Gegen den Vorschlag der Annahme einer Entbehrlich-
__________ 13 Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 64. 14 Zur Zeitabhängigkeit dieser Schäden vgl. nur Hinterscheid, Ansätze zur Bewältigung existenzbedrohender Unternehmensrisiken, 2008, S. 75; Grigoleit/Riehm, AcP 203 (2003), 727 (754); dies., JuS 2004, 745 (747). 15 Vgl. bereits oben Fn. 1. 16 BGH, NJW 2009, 2674 (2676), ebenso bereits Canaris, ZIP 2003, 321 (326, dort Fn. 30); S. Lorenz in Karlsruher Forum 2005, S. 5 (45); Ernst in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 280 BGB Rz. 58; Kaiser in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (Fn. 4), Kap. Leistungsstörungen, F IV 3, S. 372; Gruber, ZGS 2003, 130 (133 f.). 17 Büdenbender in Dauner-Lieb/Heidel/Ring (Fn. 5), § 437 BGB Rz. 74; Oetker/ Maultzsch (Fn. 5), § 2, Rz. 266; Dedek in Henssler/von Westphalen (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 19; vgl. insoweit auch Ernst in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 280 BGB Rz. 59; Faust in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 67.
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keit der Mahnung gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB18 spricht, dass dieser Ausnahmetatbestand auf andere Konstellationen zugeschnitten ist und im Rahmen der hier interessierenden Fallgestaltung nicht passt19. Andererseits erscheint auch der teilweise vorgeschlagene Weg einer Abwicklung über §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB20 nicht sachgerecht, weil dies nicht nur ein Nacherfüllungsverlangen, sondern auch den erfolglosen Ablauf der Nachfrist erforderlich machen würde, obwohl die entstandenen Schäden durch eine Nacherfüllung nicht zu beseitigen wären21. 3. Fazit: Ein erhebliches Haftungsrisiko Vor diesem Hintergrund sprechen nach wie vor die besseren Argumente gegen eine Lösung über § 280 Abs. 1 oder §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB und für eine Lösung über § 286 BGB einschließlich des Mahnungserfordernisses. Das bedeutet zwar keineswegs, dass alle durch eine Schlechtleistung entstandenen Schäden über §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB zu ersetzen sind – es besteht vielmehr ein jeweils eigenständiger Raum für Schadensersatzansprüche aus § 280 Abs. 1 und §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB22 – doch stellt sich diese Lösung für den speziellen Fall mangelbedingter Betriebsausfallschäden aus den genannten Gründen als interessengerecht und systematisch überzeugend dar. Im Bereich der werkvertraglichen Haftung gilt diese Argumentation wegen der vergleichbaren Rechtslage gleichermaßen. Da Rechtsprechung und herrschende Lehre diesen Weg aber nicht gehen, haftet der Schuldner sofort ab Lieferung eines mangelhaften Vertragsgegenstandes für mangelbedingte Betriebsausfallschäden in voller Höhe. Diese äußerst strenge Haftung steht in deutlichem, bisher nicht ausreichend wahrgenommenen Kontrast zur Rechtslage vor der Schuldrechtsreform: Nach altem Recht haftete der Schuldner für Betriebsausfallschäden nach ganz herrschender Auffassung nur bei Übernahme eines Haftungsrisikos in Form einer Eigenschaftszusicherung oder bei arglistiger Täuschung; bei Fahrlässigkeit wurde für Betriebsausfallschäden überhaupt nicht gehaftet23. Umso größer ist für den Verkäufer bzw. Werkunternehmer nunmehr das Bedürfnis, diese Haftung zumindest vertraglich auszuschließen oder zu begrenzen.
__________ 18 Grigoleit/Riehm, AcP 203 (2003), 727 (755 ff.); dies., JuS 2004, 745 (747 f.); Teichmann/Weidmann in FS Hadding (Fn. 5), S. 287 (301 f.); Looschelders (Fn. 5), Rz. 575. 19 Vgl. im Einzelnen Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 66; kritisch auch Oetker/Maultzsch (Fn. 5), § 2, Rz. 270. 20 P. Huber in ders./Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, 3. Teil, 13. Kap., Rz. 106, 108; Recker, NJW 2002, 1247 f.; Ady, ZGS 2003, 13 (15). 21 Dauner-Lieb/Dötsch, DB 2001, 2535 (2537); Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 61. 22 Eingehend Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 68 ff. 23 Dazu näher unter IV.2.a.
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III. Umfang und Grenzen vertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten 1. Individualvereinbarung vs. AGB Weichenstellend für die rechtliche Beurteilung eines solchen Haftungsausschlusses ist zunächst, ob es sich dabei um eine Individualvereinbarung oder um AGB handelt. Die individualvertraglichen Grenzen solcher Ausschlüsse sind bekanntermaßen äußerst weit gesteckt, weil hier außerhalb der §§ 138, 242 BGB kaum Beschränkungen bestehen. Demnach kann die Haftung wegen § 276 Abs. 3 BGB und § 475 Abs. 3 BGB sogar für grobe Fahrlässigkeit und selbst gegenüber Verbrauchern ausgeschlossen werden. Faktisch ist freilich der Spielraum für einen individualvertraglichen Haftungsausschluss sehr gering, und zwar – hier liegt die eigentliche Problematik – auch in dem für die Betriebsausfallschäden relevanten B2B-Geschäft. Dies liegt daran, dass die Rechtsprechung unabhängig davon, ob es sich um B2C-Verträge oder B2B-Verträge handelt, fast unerfüllbare Anforderungen an das Vorliegen eines Individualvertrages stellt, insbesondere an ein individuelles Aushandeln i. S. v. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB. So fordert sie, dass sich ein Aushandeln i. S. d. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB im Regelfall grundsätzlich in einer konkreten Änderung der entsprechenden Bestimmung niederschlagen müsse und andernfalls nur unter besonderen Umständen zu bejahen sei24. Dies bedeutet, dass eine vorformulierte Haftungsausschlussklausel selbst dann nicht als individuell ausgehandelt beurteilt wird, wenn die Vertragsparteien gründlich über sie verhandelt und sich letztlich mit ihrer Geltung einverstanden erklärt haben, ohne den Klauseltext zu ändern25. Schon deshalb besteht nach der derzeitigen Praxis des BGH im Hinblick auf eine Freizeichnung von der Haftung für mangelbedingte Schäden kein relevanter Unterschied zwischen B2C-Verträgen und B2B-Verträgen; außerdem wird die Grenze zwischen AGB und Individualvereinbarung soweit verschoben, dass für einen Haftungsausschluss durch individuelle Absprache kaum mehr Raum bleibt. Die Praxis muss sich daher darauf einstellen, dass Haftungsausschlüsse für Betriebsausfallschäden so gut wie immer einer richterlichen Überprüfung nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB unterliegen.
__________ 24 S. etwa BGH, NJW-RR 1987, 144 (145); NJW 1988, 410; NJW 1998, 2600 (2601); BGHZ 143, 103 (111 f.); 153, 311 (321), jeweils m. w. N. 25 Vgl. insoweit auch von Westphalen in dens., Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 25. EL v. März 2009, Bd. 1: Vertragsrecht, Stand März 2005, Kap. 17, Rz. 11 ff., 14; dens., NJW 2009, 1799; dens., NJW 2009, 2355 (2362); dens., BB 2010, 195 (197 ff.); Grünberger, Jura 2009, 249 (256); kritisch zu diesen strengen Anforderungen bereits Rabe, NJW 1987, 1978 (1980); ebenso Lieb in Abels/Lieb, AGB im Spannungsfeld zwischen Kautelarpraxis und Rechtsprechung, 2007, S. 109 ff.; Schlosser in Staudinger, §§ 305–310 BGB (Neubearb. 2006), § 305 BGB Rz. 36a; Grüneberg in Palandt (Fn. 4), § 305 BGB Rz. 22; K. P. Berger, NJW 2001, 2152 (2153 f.); ders., ZGS 2004, 415 (420 ff.); ders., ZIP 2006, 2149 (2152); ders., NJW 2010, 465 (467 ff.); ders. in Prütting/ Wegen/Weinreich, 4. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 14; ders./Kleine, BB 2007, 2137; Lischek/Mahnken, ZIP 2007, 158 (160 ff.); Kessel/Jüttner, BB 2008, 1350 ff.; Müller/ Griebeler/Pfeil, BB 2009, 2658 (2660 ff.); Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 (311, 314); Khan (Fn. 1).
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2. Der aktuelle Meinungsstand zur AGB-rechtlichen Zulässigkeit Dabei sind zunächst die besonderen Klauselverbote des § 309 Nr. 7 lit. a und b BGB zu beachten. Sie haben zwar an sich nur Indizwirkung nach § 310 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 1. Halbsatz BGB; gemäß § 310 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz BGB ist auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche angemessen Rücksicht zu nehmen. Diese Indizwirkung wird freilich von der Rechtsprechung extensiv gehandhabt, so dass auch insoweit faktisch eine Annäherung der Inhaltskontrolle von B2C-Verträgen und B2B-Verträgen erreicht wird26. Für den speziellen Fall von Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit statuiert § 309 Nr. 7 lit. a BGB ein absolutes Freizeichnungsverbot. Für alle sonstigen Fälle, also insbesondere auch Vermögensschäden bzw. Betriebsausfallschäden, untersagt § 309 Nr. 7 lit. b BGB lediglich den Ausschluss der Haftung für grobe Fahrlässigkeit. Damit bleibt die Frage offen, wie der Ausschluss der Haftung bei Vermögensschäden für Fälle leichter Fahrlässigkeit zu beurteilen ist. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hatte dazu schon vor Geltung des alten AGB-Gesetzes eine äußerst restriktive Linie entwickelt, die später in § 9 Abs. 2 Nr. 2 AGBG ihre kodifikatorische Verankerung gefunden hat27 und mit der Schuldrechtsreform in § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB überführt worden ist: Die Kernaussage dieser als Kardinalpflichtenrechtsprechung bekannt gewordenen Judikatur lässt sich aus dem Wortlaut des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB entnehmen, der es untersagt, wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, so einzuschränken, dass dadurch die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet wird28. Kardinale bzw. wesentliche Pflichten i. S. d. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB sind nach der Rechtsprechung vor allem solche, deren Einhaltung die Durchführung des Vertrages erst ermöglicht und auf die der Vertragspartner regelmäßig vertraut und vertrauen darf29. Im alten Kaufrecht wurde dabei auch die Pflicht zur Verschaffung einer fehlerfreien Sache als wesentlich angesehen30. Zugleich beurteilt die Rechtsprechung nicht nur den Ausschluss einer wesentlichen Pflicht an sich als vertragszweckgefährdend, sondern stuft auch einen entsprechenden Haftungsausschluss als mittelbare Aushöhlung der wesentlichen Pflicht ein und geht hier ebenfalls von einer Unzulässigkeit aus31. In gleicher Weise wird auch werkvertraglichen Haftungsfreizeichnungen die Wirksamkeit versagt32, wobei prinzipiell auch Betriebsausfallschäden von diesen Grundsätzen erfasst werden33. Zulässig sind
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26 BGHZ 174, 1 (5 f.); A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, 10. Aufl. 2006, § 307 BGB Rz. 283, 285; vgl. ferner BGHZ 90, 273 (278); BGHZ 103, 316 (328); BGH, NJW-RR 2005, 247 (248); dazu auch Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 (310 f.); K. P. Berger, NJW 2010, 465. 27 Vgl. BT-Drucks. 7/3919, S. 9, 23. 28 Für eine ausführliche Analyse der Kardinalpflichtenrechtsprechung s. Khan (Fn. 1). 29 BGH, NJW-RR 1986, 271 (272); NJW 1993, 335 (336); NJW-RR 2006, 267 (269 f.). 30 BGHZ 145, 203 (244 f.). 31 BGHZ 71, 167 (173); BGH, NJW 1985, 914 (916); NJW 1993, 335 (336); BGHZ 149, 57 (62); 149, 89 (97 f.). 32 BGH, NJW 1985, 3016 (3017 f.); NJW-RR 2001, 342 (343); BGHZ 149, 57 (62). 33 BGH, NJW 2001, 342.
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nach der Rechtsprechung lediglich summenmäßige Haftungsbegrenzungen, die aber mindestens den vertragstypischen, vorhersehbaren Schaden abdecken müssen34. Sonstige Haftungsausschlüsse und -begrenzungen für leichte Fahrlässigkeit kommen demnach nur in Betracht, soweit nichtwesentliche Vertragspflichten tangiert sind. Freilich hat die Rechtsprechung im Geltungsbereich des neuen Schuldrechts bislang nicht explizit zur Frage Stellung genommen, ob in der Lieferung einer mangelhaften Sache eine Kardinalpflichtverletzung liegt, im Rahmen derer die Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht ausgeschlossen werden kann35. Gerade für den speziellen Fall von Betriebsausfallschäden liegen noch keine verwertbaren Entscheidungen vor. Zwar wird man sich insoweit angesichts der bereits zum alten Recht formulierten Grundsätze keinen großen Hoffnungen hingeben dürfen, doch hat sich der BGH immerhin noch nicht so ausdrücklich festgelegt wie im Bereich der oben geschilderten schadenstypologischen Einordnung von Betriebsausfallschäden. In der Literatur ist diese strenge Rechtsprechungslinie ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen, so dass in kauf- und werkvertraglichen Haftungsausschlüssen für leichte Fahrlässigkeit ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB erblickt wird; sie wird ohne allzu großes Problembewusstsein auch auf die Rechtslage nach der Schuldrechtsreform übertragen36. Zur Begründung wird wie auch in der Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur Lieferung einer mangelfreien Sache bzw. zur Herstellung eines mangelfreien Werkes eine wesentliche Pflicht darstelle37 und jedenfalls bei der Geltendmachung des „großen Schadensersatzes“ gemäß § 281 Abs. 1 Satz 3 BGB immer eine wesentliche Pflicht verletzt sein müsse, weil hier eine erhebliche Pflichtverletzung vorausgesetzt werde38. Zeichne sich der Schuldner aber von der entsprechenden Haftung frei, so führe das zu einer Vertragszweckgefährdung, weil dadurch trotz einer Primärpflichtverletzung auch noch die Sekundärpflicht in
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34 BGHZ 89, 363 (368 f.); BGH, NJW 1985, 3015 (3016); NJW-RR 1996, 783 (788); BGHZ 138, 118 (133); 145, 203 (218). 35 Die vielzitierte Entscheidung BGHZ 164, 11 befasste sich zwar grundsätzlich mit kaufvertraglichen Schadensersatzansprüchen, doch war hier auf die o. g. Frage nicht mehr einzugehen, weil der Senat einen entsprechenden Haftungsausschluss bereits wegen Intransparenz als unwirksam ansah, vgl. a. a. O., S. 35 ff. 36 Vgl. dazu von Westphalen in Henssler/von Westphalen (Fn. 5), § 307 BGB Rz. 16 f., § 309 BGB Rz. 44 ff.; dens. in dens., Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke (Fn. 25), Kap. 10, Rz. 51 ff., 71; dens., NJW 2002, 12 (22); dens., NJW 2002, 1688 (1694); dens., BB 2002, 209 (212 f.); s. ferner Christensen in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 309 BGB Rz. 38; K. P. Berger in Prütting/Wegen/Weinreich (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 29 f.; Arnold, ZGS 2004, 16 (20 f.); Pfeiffer in Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 225 (234 f.); Matusche-Beckmann in Staudinger, §§ 433–487 BGB (Neubearb. 2004), § 475 BGB Rz. 102; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009, Rz. 982; Schulze/Ebers, JuS 2004, 462 (466); Stölting, ZGS 2005, 299 (301); eingehend zum Meinungsstand Khan (Fn. 1). 37 Arnold, ZGS 2004, 16 (20); K. P. Berger in Prütting/Wegen/Weinreich (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 30; Pfeiffer in Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt (Fn. 36), S. 225 (235); Matusche-Beckmann in Staudinger (Fn. 36), § 475 BGB Rz. 102; Schulze/Ebers, JuS 2004, 462 (466). 38 von Westphalen in ders., Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke (Fn. 25), Kap. 10, Rz. 51 ff.
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Form des Schadensersatzes bei leichter Fahrlässigkeit wegfalle39. Gestattet wird deshalb auch hier lediglich eine Begrenzung auf den typischen, vorhersehbaren Schaden40. Zugleich gehen die Vertreter dieser Auffassung zusätzlich von einem Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB aus, weil durch einen entsprechenden Haftungsausschluss das in § 325 BGB zum Ausdruck kommende Wahlrecht des Gläubigers zwischen Rücktritt und Schadensersatz unterlaufen werde41. Teilweise wird im Schrifttum stattdessen nach der Art des Schadens oder des Vertragsgegenstandes differenziert und jedenfalls bei Schadensersatzansprüchen statt der Leistung42, Schadensersatzansprüchen neben der Leistung43 oder bei neuen Sachen eine Unzulässigkeit von Freizeichnungen angenommen44. 3. Zweifel Allerdings werden neuerdings gewichtige Zweifel daran geäußert, ob eine undifferenzierte Übertragung der Kardinalpflichtenrechtsprechung auf die Haftung für fahrlässig verursachte mangelbedingte Schäden tragfähig ist. So hat insbesondere Tettinger bedenkenswerte Einwände formuliert45. Er verweist vor allem darauf, dass der Nacherfüllungsanspruch bereits eine ordnungsgemäße Vertragserfüllung sicherstelle, so dass es zur Vermeidung einer Vertragszweckgefährdung auf die Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht mehr ankomme46. Ferner nimmt er mit der Erwägung auf die Wertungen des alten Rechts Bezug, dass hier noch nicht einmal eine Anspruchsgrundlage für eine Fahrlässigkeitshaftung im Bereich von Betriebsausfallschäden existierte47 und es daher als bedenklich anzusehen sei, diese Haftung heute als vertragsresistent zu beurteilen48.
__________ 39 von Westphalen, BB 2002, 209 (213); Christensen in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 309 Nr. 7 BGB Rz. 38. 40 von Westphalen in Henssler/von Westphalen (Fn. 5), § 309 BGB Rz. 48; ders. in ders., Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke (Fn. 25), Kap. 10, Rz. 97. 41 von Westphalen, NJW 2002, 12 (22); vgl. auch Christensen (Fn. 26) in Ulmer/ Brandner/Hensen, § 307 BGB Rz. 38. 42 Vgl. Artz in Schwab/Witt, Examenswissen zum neuen Schuldrecht, 2. Aufl. 2003, S. 304 f.; dens., JuS 2002, 528 (531 f.); ähnlich Fliegner, AnwBl. 2001, 676 (677); ders., Der Leistungsbegriff des neuen Schuld- und AGB-Rechts, 2006, S. 143 ff., 158 ff. 43 Tiedtke/Burgmann, NJW 2005, 1153 (1156); Becker in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 309 Nr. 8 BGB Rz. 30, 35, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 22; in diese Richtung auch Grunewald, Kaufrecht, 2006, § 10 I, Rz. 41. 44 Litzenburger, NJW 2002, 1244 (1245); ähnlich Grüneberg in Palandt (Fn. 4), § 307 BGB Rz. 34a; Kieninger in MünchKomm.BGB, Bd. 2 (Fn. 4), § 309 Nr. 7 BGB Rz. 29. 45 Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (13 ff.); ders. in Abels/Lieb, AGB und Vertragsgestaltung nach der Schuldrechtsreform, 2005, S. 145 (155 ff.); i. E. auch A. Fuchs in Ulmer/ Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 292 ff., 316; S. Roloff in Erman (Fn. 4), § 309 BGB Rz. 74; Kessel/Stomps, BB 2009, 2666 ff.; weiterführend Khan (Fn. 1). 46 Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (18 f.); ders. in Abels/Lieb (Fn. 45), S. 145 (156 f.). 47 Dazu sogleich unter IV.2.a. 48 Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (4 f., 17 f.).
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IV. Kritik und Stellungnahme 1. Ausgangspunkt Die bisherige Linie von Rechtsprechung und überwiegendem Schrifttum bedarf schon deshalb einer kritischen Überprüfung im Hinblick auf die durch die Schuldrechtsreform eingetretene Rechtsänderung, weil sie dazu führen könnte, dass der Schuldner das Risiko einer Haftung für Betriebsausfallschäden des Gläubigers überhaupt nicht mehr begrenzen könnte. Die von der Rechtsprechung zugebilligte Möglichkeit einer summenmäßigen Haftungsbegrenzung auf den typischen, vorhersehbaren Schaden hilft dem Schuldner nicht weiter: Einerseits sind Betriebsausfallschäden fast immer typisch und vorhersehbar, wenn der Vertragsgegenstand vom Gläubiger selbst gewerblich genutzt werden soll49; etwas anderes gilt lediglich dann, wenn es um die Veräußerung eines Gegenstandes im Rahmen einer Lieferkette geht, an deren Ende ein Verbraucher steht. Dann liegt andererseits im Einzelfall ein vertragsatypischer und unvorhersehbarer Schaden vor, der in der Mehrzahl der Fälle mangels adäquater Kausalität ohnehin nicht zu ersetzen ist, so dass die Rechtsprechung mit ihrer Begrenzungswendung lediglich die gesetzlichen Grenzen der Ersatzpflicht wiederholt, ohne eine praktisch wirksame Begrenzungsmöglichkeit an die Hand zu geben50. Für den Schuldner bietet eine solche Haftungsbegrenzung demnach keinen Mehrwert51. Folglich kommt es entscheidend auf die Frage an, ob auch ein kompletter Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit möglich ist. 2. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB a) Wesentlichkeit Wie oben ausgeführt wurde, verneint die herrschende Ansicht die Möglichkeit eines solchen Ausschlusses insbesondere mit dem Argument, dass die Pflicht zur mangelfreien Lieferung der Kaufsache bzw. die Pflicht zur mangelfreien Herstellung des Werkes als wesentlich zu qualifizieren sei. Schon dies überzeugt nicht: Es geht nicht um einen Ausschluss dieser Hauptpflicht, sondern um einen Ausschluss bzw. eine Begrenzung der Sanktion für den Fall einer nicht vollständig korrekten Erfüllung dieser Hauptpflicht. Die „Vermischung“ dieser beiden Pflichten steht im Widerspruch zum Wortlaut des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Dieser untersagt nur die Einschränkung von wesentlichen Pflichten; nicht geregelt ist aber die Konstellation, dass die gesetzliche Sanktion für die Verletzung einer Kardinalpflicht abbedungen wird. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB wäre daher seinem Wortlaut nach überhaupt nur einschlägig, wenn die gesetzliche Haftung für mangelbedingte Schäden selbst als wesentliche Pflicht anzu-
__________ 49 Ostendorf, ZGS 2006, 222 (225); Tettinger, AcP 2005, 1 (11); Kollmann in DaunerLieb/Heidel/Ring (Fn. 5), § 307 BGB Rz. 39. 50 Vgl. Khan (Fn. 1); so auch schon Reiff, AnwBl 1997, 3 (5). 51 Vgl. auch Dauner-Lieb/Dötsch, Entwicklungstendenzen und Problemschwerpunkte zwei Jahre nach der Schuldrechtsreform, 2003, S. 29.
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sehen wäre. Für die Fälle leichter Fahrlässigkeit erscheint dies schon deshalb äußerst fraglich, weil im Rahmen individualvertraglicher Vereinbarungen Schadensersatzansprüche selbst bei grober Fahrlässigkeit auszuschließen sind, und zwar auch gegenüber Verbrauchern. Vor diesem Hintergrund leuchtet es aber nicht ein, warum die Haftung für leichte Fahrlässigkeit sogar gegenüber unternehmerischen Vertragspartnern im Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB als wesentliche Vertragspflicht anzusehen sein soll. Auch die Gesetzgebungsgeschichte spricht gegen eine solche Deutung: Ursprünglich sollte ein Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit in die Klauselverbote der §§ 308 f. BGB aufgenommen werden; darauf wurde später ausdrücklich mit der Begründung verzichtet, dass dies im Kauf- und Werkvertragsrecht zu weit gehe52. Daher liegt der Umkehrschluss nahe, dass ein Ausschluss oder eine Begrenzung der Haftung für Vermögensschäden für die Fälle leichter Fahrlässigkeit möglich bleiben sollten. Jedenfalls hat der Gesetzgeber dieser Haftung einen deutlich geringeren Stellenwert eingeräumt als den in den besonderen Klauselverboten statuierten Haftungsvarianten; es stände im Widerspruch zu dieser gesetzgeberischen Wertung, wollte man dieser Haftung den Charakter einer Kardinalpflicht beimessen53. Gegen eine Qualifizierung der Haftung für leichte Fahrlässigkeit als Kardinalpflicht spricht auch der Vergleich mit dem vor der Schuldrechtsreform geltenden Kaufrecht: Nutzungsausfall und entgangener Gewinn wurden nach altem Recht nach nahezu einhelliger Auffassung als Mangelschaden eingeordnet, so dass ein Ersatz entsprechender Schäden nur unter den engen Voraussetzungen der §§ 463, 480 Abs. 2 BGB a. F. in Betracht kam54. Im Ergebnis bedeutete dies, dass der Verkäufer für solche Schäden nur bei einer Eigenschaftszusicherung oder bei einem arglistigen Verschweigen eines Fehlers, nicht aber bei einem fahrlässig verursachten oder nicht offenbarten Fehler haftete. Eine Fahrlässigkeitshaftung wurde nur für Mangelfolgeschäden als Konsequenz einer Verletzung von Integritätsinteressen angenommen; sie wurde über das Rechtsinstitut der pVV konstruiert. Dagegen wurde für Mangel- und Betriebsausfallschäden, also bei bloßer Verletzung des Äquivalenzinteresses, eine Haftung aus pVV abgelehnt55. Unter der Geltung des alten Kaufrechts haftete der Verkäufer also für mangelbedingte Betriebsausfallschäden bei Fahrlässigkeit überhaupt nicht, so dass ein Haftungsausschluss überhaupt nicht erforderlich war. Der Gläubiger hatte das Risiko von mangelbedingten Betriebsausfallschäden regelmäßig selbst zu tragen, es sei denn, der Verkäufer hatte für bestimmte Beschaffenheiten der Kaufsache eine Garantie übernommen. Vor diesem Hinter-
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52 BT-Drucks. 14/6040, S. 157; BT-Drucks. 14/6857, S. 16, 53, jeweils zu Nr. 48. 53 Vgl. Khan (Fn. 1); S. Roloff in Erman (Fn. 4), § 309 BGB Rz. 74. 54 BGHZ 77, 215 (218); U. Huber in Soergel, Bd. 3, 12. Aufl., Stand Frühjahr 1991, Anh. § 463 BGB Rz. 23, 28; Honsell in Staudinger, §§ 433–543 BGB (13. Bearb. 1995), § 463 BGB Rz. 48; Heinrichs in Palandt, 60. Aufl. 2001, § 276 BGB Rz. 110; a. A. nur Grunewald in Erman, Bd. 1, 10. Aufl. 2000, Vor § 459 BGB Rz. 34. 55 Ganz h. M., vgl. BGHZ 77, 215 (218); BGHZ 101, 337 (339); BGH, NJW-RR 1989, 559 (560); NJW-RR 1994, 601 (602); Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 2/1, 13. Aufl. 1986, § 41 II, S. 70; Putzo in Palandt, 60. Aufl. 2001, Vorb. § 459 BGB Rz. 6; Wiedemann in Soergel, Bd. 2, 12. Aufl., Stand Juli 1990, Vor § 275 BGB Rz. 360, 419 f.
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grund erscheint es schwer vertretbar, die Haftung für solche Schäden selbst bei leichter Fahrlässigkeit als so gewichtig zu beurteilen, dass ihr der Rang einer Kardinalpflicht zugebilligt werden könnte56. Dies gilt umso mehr, als es keinerlei Hinweise dafür gibt, dass der Gesetzgeber eine so radikale Haftungsverschärfung im Blick hatte; die Materialien sprechen – wie dargelegt – im Gegenteil dafür, dass der Gesetzgeber die Option eines Haftungsausschlusses für die Fälle leichter Fahrlässigkeit offenhalten wollte57. Damit ist bereits das erste Tatbestandsmerkmal des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB nicht erfüllt. b) Vertragszweckgefährdung Überprüfungsbedürftig ist auch die höchstrichterliche Annahme, dass ein Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit jedenfalls zu einem mittelbaren Ausschluss der Hauptpflicht führe und deshalb den Vertragszweck gefährde. Diese Annahme ist bisher in keiner Entscheidung näher begründet worden. Vielmehr wurde offensichtlich unterstellt, dass eine solche Haftung die einzige effektive Sanktion bilde, die eine ordnungsgemäße Vertragserfüllung gewährleisten könne58. In ähnlicher Weise geht auch die herrschende Lehre implizit davon aus, dass ein solcher Haftungsausschluss zu einer unsorgfältigen Erfüllung der Hauptpflicht verführen könne oder umgekehrt, dass die Haftung den wesentlichen Anreiz zur sorgfältigen Erfüllung der Hauptpflicht bilde59. Möglicherweise dokumentiert sich in diesen Überlegungen eine pauschalpopuläre Rezeption von Ansätzen, die die ökonomische Analyse insbesondere für das Deliktsrecht entwickelt hat60. Der Rückgriff auf allgemeine Anreizund Präventionsgesichtspunkte ist freilich zu undifferenziert, um eine Freizeichnungsfestigkeit der Haftung auch für einfache Fahrlässigkeit legitimieren zu können. Um belastbar begründete Ergebnisse erzielen zu können, muss das gesamte, sehr differenzierte System der Sanktionen von Pflichtverletzungen gemäß §§ 437, 634, 280 ff. BGB in den Blick genommen werden: So führen schon die Nacherfüllungspflicht des Schuldners und die Rücktrittsund Minderungsrechte des Gläubigers zu einem fühlbaren Erfüllungsdruck auf primärer Erfüllungsebene, der es fraglich erscheinen lässt, ob die ordnungsgemäße Vertragserfüllung tatsächlich nur von der Haftung für leichte Fahrlässigkeit abhängt61. Da die Haftung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit ohnehin nicht ausgeschlossen werden kann, sieht sich der Schuldner auch insoweit einem erheblichen Sanktionsdruck ausgesetzt. Er ist für den Schuldner umso
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56 Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (12 f., 17 f.); ders. in Abels/Lieb (Fn. 45), S. 145 (150 f.); ausführlich dazu nunmehr Khan (Fn. 1). 57 S. die Nachweise in Fn. 52. 58 Vgl. etwa BGHZ 71, 167 (173); BGH, NJW 1985, 914 (916); NJW 1993, 335 (336); BGHZ 149, 57 (62); 149, 89 (97 f.). 59 S. bereits die in Fn. 36 Genannten; vgl. auch Dammann in Wolf/Lindacher/Pfeiffer (5. Aufl. 2009), § 309 Nr. 7 BGB Rz. 96. 60 S. nur Wagner in MünchKomm.BGB, Bd. 5, 5. Aufl. 2009, Vor § 823 BGB Rz. 45 ff. 61 Speziell zur Nacherfüllungspflicht Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (18 f.); ders. in Abels/ Lieb (Fn. 45), S. 145 (156 f.); ausführlich zu den Anreizwirkungen der hier geschilderten Sanktionen Khan (Fn. 1).
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gewichtiger, als sich die Haftung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit nicht nur auf die ursprüngliche Schlechtleistung bezieht, sondern auch auf die spätere Nichterfüllung einer Nacherfüllungspflicht erstreckt wird. So macht sich der Verkäufer einer mangelhaften Sache nach herrschender Auffassung selbst dann schadensersatzpflichtig, wenn er die ursprüngliche Schlechtleistung nicht zu vertreten hat, wohl aber vorsätzlich oder grob fahrlässig seine Nacherfüllungspflicht nicht oder mangelhaft erfüllt62. Dieser doppelte Anknüpfungspunkt für das Verschulden birgt demnach selbst im Falle einer fehlenden Haftung für leichte Fahrlässigkeit ein erhebliches Sanktionspotential, das ebenfalls deutliche verhaltenssteuerende Wirkungen haben kann63. Nicht unterschätzt werden sollten schließlich auch die aus möglichen Vertragsstrafenvereinbarungen und außerrechtlichen Sanktionsmechanismen erwachsenden Anreizaspekte im unternehmerischen Verkehr64. Der Verkäufer bzw. Werkunternehmer ist schon im Hinblick auf seinen guten geschäftlichen Ruf und die Notwendigkeit der Kundenbindung einem Anreiz zur ordnungsgemäßen Vertragserfüllung ausgesetzt, der von rechtlichen Sanktionsmechanismen unabhängig ist65. Im Werkvertragsrecht besteht darüber hinaus gemäß §§ 634 Nr. 2, 637 BGB auch ein verschuldensunabhängiger Anspruch auf Ersatz der Selbstvornahmekosten, der als weiterer Sanktions- und Anreizaspekt in Rechnung zu stellen ist66. All diese Gesichtspunkte führen jeweils für sich genommen – und erst recht in einer Gesamtbetrachtung – bereits zu einem ausreichenden Vertragserfüllungsdruck für den Schuldner. Zur Vermeidung einer Vertragszweckgefährdung erscheint daher eine darüber hinaus gehende Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht erforderlich. Für diese Einschätzung spricht auch ein erneuter Blick auf die alte Rechtslage: Wie bereits dargelegt wurde, waren unter der Geltung des alten Kaufrechts nur fahrlässig verursachte, mangelbedingte Betriebsausfallschäden überhaupt nicht ersatzfähig. Dennoch zog niemand aus dieser Rechtslage die Konsequenz einer generellen Gefährdung der Vertragserfüllung. Lag aber schon nach alten Recht trotz fehlender Fahrlässigkeitshaftung keine generelle Vertragszweckgefährdung vor, so ist nicht erklärbar, warum dies heute allein wegen der geänderten Rechtslage der Fall sein soll67. c) Zwischenergebnis Die herrschende Auffassung wählt weder beim Tatbestandsmerkmal der Wesentlichkeit noch bei jenem der Vertragszweckgefährdung den richtigen Be-
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62 So die h. M., vgl. nur Dauner-Lieb in dies./Heidel/Ring (Fn. 5), § 280 BGB Rz. 37; Faust in Bamberger/Roth (Fn. 4), § 437 BGB Rz. 67; Reinicke/Tiedtke (Fn. 4), Rz. 542, jeweils m. w. N.; s. umfassend zu diesem Problemkreis Dauner-Lieb in FS Konzen (Fn. 5), S. 63 (73 ff.). 63 S. Khan (Fn. 1). 64 Khan (Fn. 1). 65 Vgl. bereits M. Wolf, NJW 1980, 2433 (2440); s. ferner Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses, 2007, S. 221 ff.; Khan (Fn. 1). 66 Khan (Fn. 1). 67 Khan (Fn. 1).
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zugspunkt. Bei der Wesentlichkeitsprüfung ist nicht auf die Haupt-, sondern auf die Sekundärpflicht in Form des Schadensersatzanspruchs abzustellen, der aber nicht der Charakter einer Kardinalpflicht beigemessen werden kann, soweit es um die Haftung für leichte Fahrlässigkeit geht. Eine Vertragszweckgefährdung bei Ausschluss einer Haftung für leichte Fahrlässigkeit lässt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der verhaltenssteuernden Wirkung der Fahrlässigkeitshaftung begründen, weil ausreichend andere Anreize für den Regelfall eine ordnungsgemäße Vertragserfüllung sicherstellen. Als Zwischenergebnis lässt sich damit festhalten, dass der Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit im Kauf- und Werkvertragsrecht nicht zu einer vertragszweckgefährdenden Einschränkung wesentlicher Rechte oder Pflichten führt. Ein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB liegt demnach – unabhängig von der Art des Schadens oder des Vertragsgegenstandes – nicht vor; eine Haftung für Betriebsausfallschäden kann für die Fälle leichter Fahrlässigkeit ausgeschlossen werden. 3. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB Teile des Schrifttums sehen in einer Freizeichnung von der Haftung für leichte Fahrlässigkeit einen Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt einer Abweichung von dem wesentlichen Grundgedanken des § 325 BGB, weil das Wahlrecht des Gläubigers zwischen Rücktritt und Schadensersatz unterlaufen werde68. Die Entstehungsgeschichte des § 325 BGB zeigt allerdings deutlich, dass mit der Norm lediglich ein im alten Schuldrecht bestehender Wertungswiderspruch aufgelöst werden sollte: Der Gläubiger konnte in zahlreichen Fällen, in denen er Schadensersatz verlangt hatte, im Ergebnis die Rechtsfolgen von Schadensersatz und Rücktritt kombinieren69, dagegen war ihm aber umgekehrt die Geltendmachung von Schadensersatz verwehrt, wenn er vorher vom Vertrag zurückgetreten war bzw. Wandelung verlangt hatte70. Der Reformgesetzgeber hat dieses Spannungsverhältnis aufgelöst, § 325 BGB gestattet nunmehr die gleichzeitige Geltendmachung beider Rechtsbehelfe71. Diese Möglichkeit bleibt dem Gläubiger aber auch dann unbenommen, wenn der Schuldner die Haftung für leichte Fahrlässigkeit ausschließt, weil der Gläubiger jedenfalls seine verbleibenden Schadensersatzansprüche weiterhin mit einem Rücktritt kombinieren kann, ohne dass es auf die zeitliche Reihenfolge der Geltendmachung dieser Rechtsbehelfe ankommt. Ein Verstoß gegen den Regelungskern des § 325 BGB ist deshalb entgegen der herrschenden Auffassung nicht ersichtlich72.
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68 Vgl. oben Fn. 41. 69 Zu den entsprechenden Fallkonstellationen vgl. etwa U. Huber in Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 1, 1981, S. 647 (713 f.); BTDrucks. 14/6040, S. 188; Otto in Staudinger, §§ 315–326 BGB (Neubearb. 2004), § 325 BGB Rz. 12. 70 Vgl. BGH, NJW 1982, 1274 (1280); NJW 1990, 2068 (2069); NJW 1995, 449 (450). 71 S. BT-Drucks. 14/6040, S. 188. 72 Ähnlich A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 293; S. Roloff in Erman (Fn. 4), § 309 BGB Rz. 74; ausführlich zu diesem Gesichtspunkt Khan (Fn. 1).
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Es könnte allenfalls überlegt werden, ob man bei der Ermittlung eines wesentlichen Grundgedankens der gesetzlichen Regelung statt auf § 325 BGB nicht ganz allgemein auf die Gewährleistungsregeln der §§ 437, 634, 280 ff. BGB abstellen kann, mit denen ein Haftungsausschluss unvereinbar wäre. Das erscheint allerdings ebenfalls fragwürdig, weil eine Unvereinbarkeit mit den wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes nur anzunehmen ist, wenn durch die Vertragsbestimmung das gesetzliche Schutzanliegen gänzlich unterlaufen würde und noch nicht einmal mehr in Grundsatz gewahrt wäre73. Davon kann bei einem Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit allerdings nicht gesprochen werden, solange dem Gläubiger die übrigen Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, weil diese das gesetzliche Schutzanliegen jedenfalls im Grundsatz ohne weiteres wahren, ohne dass es auf die Haftung für leichte Fahrlässigkeit ankommt74. Selbst wenn man aber lediglich auf die Schadensersatzhaftung abstellen und die übrigen Rechtsbehelfe außer Betracht lassen wollte, so müsste auf das zur Wesentlichkeitsprüfung i.R.d. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB Gesagte verwiesen werden, weil der Ausschluss einer Pflicht, die nicht wesentlich ist, auch nur schwerlich als mit dem wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes unvereinbar angesehen werden kann75. Insgesamt verstoßen solche Haftungsausschlussklauseln damit auch nicht gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. 4. Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB Ein Ausschluss der Haftung für die Fälle leichter Fahrlässigkeit fällt auch nicht unter die Generalklausel des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, nach der eine AGBKlausel die Verwendergegenseite nicht unangemessen gegen Treu und Glauben benachteiligen darf. Bei der dafür erforderlichen Interessenabwägung können zunächst Gesichtspunkte der Versicherbarkeit der Schäden eine Rolle spielen, die eine Unangemessenheit der Klausel nahelegen würden, wenn sich der Klauselverwender besser gegen die Schäden versichern kann, von denen er sich freizeichnet76. Bei Betriebsausfallschäden spricht dieser Aspekt freilich genau im Gegenteil für eine Zulässigkeit einer Haftungsbegrenzung, weil diese zum einen von der Betriebshaftpflichtversicherung des Verkäufers bzw. Werkunternehmers grundsätzlich ausgenommen sind und zum anderen auch von der erweiterten Produkthaftpflichtversicherung nur sporadisch erfasst werden. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass die Höhe eines mangelbedingten Betriebsausfallschadens vom Schuldner nicht beherrschbar ist, son-
__________ 73 S. Coester in Staudinger (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 254; A. Fuchs in Ulmer/Brandner/ Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 229. 74 Khan (Fn. 1). 75 Khan (Fn. 1); zu den Überschneidungen zwischen § 307 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 1 BGB s. auch Grüneberg in Palandt (Fn. 4), § 307 BGB Rz. 31; Kieninger in MünchKomm. BGB. Bd. 2 (Fn. 4), § 307 BGB Rz. 65. 76 Vgl. etwa BGHZ 103, 316 (326 f.); Coester in Staudinger (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 169; A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 156 ff.; Grüneberg in Palandt (Fn. 4), § 307 BGB Rz. 15.
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dern wesentlich davon abhängt, was der Gläubiger mit dem Vertragsgegenstand anfängt77. Weiterhin können im Rahmen der Abwägung gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB auch Aspekte der Branchenübung und Preiskompensation eine Rolle spielen. Sie lassen freilich für die hier interessierenden Fallgestaltungen ebenfalls keine klaren Schlüsse zu: Eine für oder gegen solche Freizeichnungen sprechende Branchenübung ist hier ohnehin nicht ersichtlich78, während für eine preiskompensatorische Vertragsgestaltung nach herrschender Ansicht eine offene Tarifwahl mit unterschiedlichen Tarifvarianten notwendig wäre, die die Kosten des Risikos angemessen abbildet79. Eine solche angemessene Abbildung ist aber im Bereich von Betriebsausfallschäden schon deshalb nicht möglich, weil diese in der Regel weit über den Wert des Vertragsgegenstandes hinausgehen und das Schadensrisiko deshalb nicht im Preis ausgedrückt werden kann80. 5. Zu den Besonderheiten des B2B-Geschäfts Bei der Interessenabwägung sind schließlich auch gruppenspezifische Differenzierungen erforderlich81, die hier besondere Bedeutung gewinnen. Gerade im unternehmerischen Verkehr ist prinzipiell von einer weit geringeren AGBrechtlichen Schutzbedürftigkeit des Vertragspartners auszugehen als bei einer nicht-unternehmerischen Verwendergegenseite: Das ergibt sich nicht nur aus § 310 Abs. 1 BGB, sondern auch aus dem Umstand, dass unternehmerische Vertragspartner aufgrund der größeren Geschäftserfahrung und Professionalität viel besser in der Lage sind, Vertragswerke zu durchschauen und ihre Interessen durchzusetzen82. Insofern können bei der Angemessenheitsprüfung auch solche Klauseln, die gegenüber Verbrauchern möglicherweise unwirksam sind, im unternehmerischen Verkehr als zulässig anzusehen sein. Das erscheint gerade bei Haftungsausschlüssen zutreffend, weil diese individualvertraglich
__________
77 S. § 1.2 Abs. 3 der Allgemeinen Haftpflichtbedingungen und § 6.1 der Besonderen Bedingungen und Risikobeschreibungen für die Produkthaftpflichtversicherung von Industrie- und Handelsbetrieben (Produkthaftpflichtmodell), jeweils nach dem Muster des Gesamtverbands der deutschen Versicherungswirtschaft, einsehbar unter www.gdv.de, vgl. dazu im Einzelnen Khan (Fn. 1). 78 Zur allgemeinen Heranziehbarkeit dieses Aspekts vgl. A. Fuchs in Ulmer/Brandner/ Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 141. 79 A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 148; Stoffels (Fn. 36), Rz. 494; M. Wolf in ders./Lindacher/Pfeiffer (Fn. 59), § 307 BGB Rz. 227. 80 S. dazu bereits oben Fn. 1. 81 M. Wolf in ders./Lindacher/Pfeiffer (Fn. 59), § 307 BGB Rz. 183 ff.; A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 371 ff.; Coester in Staudinger (Fn. 25), § 307 BGB Rz. 112. 82 Vgl. A. Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 26), § 307 BGB Rz. 372, 375; M. Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer (Fn. 59), § 307 BGB Rz. 187; Pfeiffer in Pfeiffer, Handbuch der Handelsgeschäfte, 1999, § 9, Rz. 2 f.; K. P. Berger, NJW 2001, 2152 (2153); dens., ZIP 2006, 2149 (2151); dens./Kleine, BB 2007, 2137 (2138 f.); Pres, Maßgaben für die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen im Handelsverkehr, 2005, S. 171 ff.; Lenkaitis/S. Löwisch, ZIP 2009, 441 (443); Müller/Griebeler/Pfeil, BB 2009, 2658 ff.; Kessel/Stomps, BB 2009, 2666 (2669 f.); Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 (313 f.); K. P. Berger, NJW 2010, 465 ff.; Khan (Fn. 1).
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nicht nur für leichte, sondern auch für grobe Fahrlässigkeit möglich sind und im unternehmerischen AGB-Verkehr aufgrund der dargelegten Aspekte eine gewisse Nähe zum Individualvertrag gegeben ist, die bei der Angemessenheitsprüfung berücksichtigt werden muss83. Eine solche Individualvertragstendenz ist umso mehr anzunehmen, als von der Rechtsprechung auch im unternehmerischen Verkehr äußerst strenge Anforderungen an individuell ausgehandelte Vertragsbedingungen angelegt werden, die dazu führen, dass solche Klauseln regelmäßig auch dann nicht als Individualvereinbarung gewertet werden können, wenn gründlich über sie verhandelt wurde und sie vom Vertragspartner akzeptiert worden sind84. Stellt man ergänzend in Rechnung, dass dem Gläubiger im Kauf- und Werkvertragsrecht ohnehin zahlreiche weitere Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, die sein Äquivalenz- und Integritätsinteresse hinreichend wahren, so kann insgesamt nicht davon ausgegangen werden, dass es eine unangemessene und gegen Treu und Glauben verstoßende Benachteiligung darstellt, wenn er lediglich in den Fällen leichter Fahrlässigkeit keinen Schadensersatzanspruch geltend machen kann. Deshalb scheitern solche Haftungsausschlussklauseln auch nicht an § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB.
V. Ergebnis und Ausblick Entgegen der herrschenden Auffassung kann in kauf- und werkvertraglichen Haftungsausschlüssen für leichte Fahrlässigkeit kein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 oder die übrigen Tatbestandsvarianten des § 307 BGB erblickt werden. Vor dem Hintergrund der Kardinalpflichtenrechtsprechung und der h. M. im Schrifttum muss die Praxis freilich vorläufig damit rechnen, dass ein gerichtsfester Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit nicht möglich ist. Dies hätte zur Konsequenz, dass mangelbedingte Betriebsausfallschäden schon ohne weitere Voraussetzungen nach § 280 Abs. 1 BGB in voller Höhe ersatzfähig wären und der Schuldner entsprechende Risiken nicht begrenzen könnte. Schon aus den skizzierten dogmatischen Gründen ist eine Neuorientierung der Rechtsprechung dringend geboten. Die Problematik der Beschränkbarkeit der Haftung für mangelbedingte Betriebsausfallschäden muss jedoch auch im größeren Kontext der Diskussion über die zukünftige Rolle der Privatautonomie neu beleuchtet werden. In Wirtschaftskreisen ist nach wie vor die Vorstellung weit verbreitet, dass die auf europäischer und nationaler Ebene zu verzeichnende Tendenz zur Einschränkung der vertraglichen Gestaltungsfreiheit fast ausschließlich das B2CGeschäft betrifft und auch die Schuldrechtsreform für das B2B-Geschäft keine Veränderungen bewirkt hat. Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass dieser Optimismus nicht gerechtfertigt ist. Dies liegt einerseits daran, dass der BGH die verschiedenen Stellschrauben der §§ 305 ff. BGB immer fester zu Lasten der Privatautonomie anzieht, und zwar gleichermaßen für
__________ 83 Vgl. Tettinger, AcP 205 (2005), 1 (31 f.); Kessel/Stomps, BB 2009, 2666 (2668 ff.); Khan (Fn. 1). 84 S. bereits oben Fn. 24.
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B2C-Verträge und B2B-Verträge. Gleichzeitig werden im Schrifttum für das alte Schuldrecht entwickelte Lösungskonzepte ohne Problembewusstsein und ohne ausdrückliches Mandat des Gesetzgebers auf die völlig veränderte gesetzliche Ausgangslage übertragen. Diese Tendenz ist angemessen und gerecht, so lautet der Standpunkt des Jubilars; die richtige rechtspolitische Zielstellung sei für die Zukunft ohnehin die Beseitigung der Vertragsfreiheit innerhalb der Verteilerkette vom Hersteller bis zum Verbraucher85. Die Unternehmen brauchen eine kalkulierbare Ordnung, die Spielräume für Privatautonomie lässt; die derzeitige Handhabung der §§ 305 ff. BGB ist für den B2B-Bereich weit entfernt von den Realitäten des kaufmännischen Geschäftsverkehrs und seinen spezifischen Bedürfnissen, so lautet die Position der Wirtschaft86. Als Ausweg wird teilweise bereits die „Flucht ins Schweizer Recht“ in den Raum gestellt87. Noch bedenklicher erscheint, dass möglicherweise gerade vor dem Hintergrund der geschilderten Gesamtproblematik Teile der Wirtschaft auf europäischer Ebene eine konsequente Ausdifferenzierung von Sonderprivatrechten für den B2C-Bereich und den B2B-Bereich betreiben88. In der Wissenschaft neu gestellt werden muss die Frage, ob die (vor allem systematisch motivierte) Anordnung einer Fahrlässigkeitshaftung für mangelbedingte Vermögensschäden sich wertungsmäßig bewährt hat. Die Problematik der Betriebsausfallschäden zeigt, dass erhebliche Zweifel angebracht sind. Die Höhe von Schäden, die Konsequenz einer bloßen Verletzung der Äquivalenzinteressen des Gläubigers sind, hängt ganz wesentlich von der Verwendung des Vertragsgegenstandes ab, über die allein der Gläubiger entscheidet. Möglicherweise lag eine hohe Weisheit in der alten Rechtslage, eine Ersatzfähigkeit entsprechender Schäden von einer Garantie oder von Arglist des Schuldners abhängig zu machen89.
__________ 85 von Westphalen, ZGS 2006, 81. 86 Brachert/Dietzel, ZGS 2005, 441; Lischek/Mahnken, ZIP 2006, 158; vgl. dazu jüngst Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 ff. 87 Brachert/Dietzel, ZGS 2005, 441. 88 Zur Problematik der Ausbildung von entsprechenden Sonderprivatrechten s. bereits Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, 1983; s. neuerdings auch Reymann, Das Sonderprivatrecht der Handelsund Verbraucherverträge, 2009. 89 Entsprechend problematisch ist die zu § 284 BGB n. F. entwickelte Auffassung, es sei unschädlich, dass Aufwendungen bei objektiver Betrachtungsweise überhöht oder überflüssig gewesen seien, der Gläubiger sei in der Entscheidung in eigenen Angelegenheiten frei, so Canaris, JZ 2001, 499 (517); kritisch Dauner-Lieb in dies./Heidel/ Lepa/Ring, Das Neue Schuldrecht, 2002, § 2, Rz. 56.
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Handelsbräuche und Allgemeine Geschäftsbedingungen Inhaltsübersicht I. Die Berücksichtigung von Handelsbräuchen gemäß § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB II. Die Wirkungsweisen von Handelsbräuchen unter AGB-Gesichtspunkten 1. Einbeziehung von AGB kraft Handelsbrauchs
2. Inhaltliche Geltung von AGB kraft Handelsbrauchs III. Inhaltskontrolle nach dem AGB-Recht 1. Verweisung auf AGB kraft Handelsbrauchs 2. AGB-Inhalte kraft Handelsbrauchs
Handelsbräuche, d. h. die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche, werden auch bezeichnet als die „Verkehrssitte des Handels“1. Während jedoch für Willenserklärungen und Rechtsgeschäfte von bzw. zwischen Privaten Verkehrssitten lediglich als Auslegungshilfe herangezogen werden können, sind Handelsbräuche mehr als bloße Usancen, sie wirken normativ und sind praktisch von einer Norm des dispositiven Handelsgewohnheitsrechts nicht zu unterscheiden. Handelsbräuche sind allerdings – im Gegensatz zum Handelsgewohnheitsrecht – nicht Rechtsquelle im Sinne einer gesetzlichen Geltung, sie erzeugen entweder durch vertragliche Bindung oder über § 346 HGB Rechtswirkungen. § 346 HGB ergänzt nicht nur für die Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen die §§ 133, 157 BGB, sondern hat darüber hinaus für die Rechtsfolgen von Willenserklärungen und anderen Handlungen bzw. Unterlassungen eine normative Funktion2.
I. Die Berücksichtigung von Handelsbräuchen gemäß § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB § 310 Abs. 1 Satz 2 BGB knüpft an § 346 HGB an und regelt für den Bereich Allgemeiner Geschäftsbedingungen im unternehmensbezogenen Geschäftsverkehr, dass auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche angemessen Rücksicht zu nehmen ist. Teilweise wird dieser Vorschrift ein relevanter Regelungsgehalt abgesprochen mit der Begründung, es werde praktisch nur das wiederholt, was § 346 HGB ohnehin vorschreibe und es sei letztlich eine Selbstverständlichkeit, bei der Inhaltskontrolle von AGBKlauseln die im Handelsverkehr zwischen Kaufleuten geltenden Gewohn-
__________ 1 BGH, NJW 1993, 1798; Karsten Schmidt, HandelsR, 5. Aufl., § 1 III 3a. 2 BGH, BB 1973, 636; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 2.
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heiten und Gebräuche angemessen zu berücksichtigen3. Dabei wird allerdings nicht hinreichend berücksichtigt, dass gerade § 310 Abs. 1 Satz 2 BGB den Weg ebnet, die Handelsüblichkeit als eine Regelung bei der Inhaltskontrolle und auch bei der Interessenabwägung im Rahmen des § 307 BGB zu berücksichtigen4. Handelsbräuche gelten nach § 346 HGB grundsätzlich nur im Rechtsverkehr „unter Kaufleuten“. Sie erfordern – eine tatsächliche Übung, die sich nicht nur auf einzelne Parteien, sondern auf bestimmte (u. U. auch lokal oder regional begrenzte) Verkehrskreise erstreckt, – eine gleichmäßige Übung innerhalb der jeweiligen Verkehrskreise über einen ausreichend bemessenen Zeitraum, der sich abhängig von der Handelssituation nach den jeweiligen konkreten Gegebenheiten bestimmt, – die Zustimmung der beteiligten Verkehrskreise, die die jeweilige Übung von sich aus als maßgeblich im Sinne einer von ihnen anerkannten Verkehrserwartung billigen5. Die Rechtsprechung hat mit unterschiedlichen Begründungen auch Nichtkaufleute in Handelsbräuche einbezogen6. Voraussetzung ist allerdings, dass sich dann in dem jeweiligen Unternehmensbereich ein gleicher Brauch entwickelt und zu einer Verkehrssitte im Sinne eines Handelsbrauchs verfestigt hat. Die Einführung des Unternehmerbegriffs anstelle des ursprünglichen Kaufmannsbegriffs im damaligen AGBG durch das Handelsrechtsreformgesetz vom 22.6.19987 wird mittelfristig dazu führen, vor allem im Rahmen der AGBKontrolle bei der Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gegenüber einem nichtkaufmännischen Unternehmer die „Handelsüblichkeit“ von Klauseln in stärkerem Maße als bisher zu berücksichtigen.
II. Die Wirkungsweisen von Handelsbräuchen unter AGB-Gesichtspunkten Im Rahmen des § 310 Abs. 1 Satz 2 BGB sind die unterschiedlichen Wirkungsweisen von Handelsbräuchen zu beachten, je nachdem, ob sie lediglich für die Einbeziehung von AGB oder einzelner Klauseln in Verträge bestehen oder ob sie sich auf bestimmte (ergänzende) Vertragsinhalte erstrecken.
__________ 3 Vgl. z. B. Graf von Westphalen in Löwe/Graf von Westphalen/Trinkner, 2. Aufl., § 24 AGBG Rz. 19 m. w. N. 4 Vgl. Basedow, ZHR 150 (1986), 490; Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., § 310 Abs. 1 BGB Rz. 25. 5 Vgl. im Einzelnen Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl., § 346 HGB Rz. 12; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 12 f. 6 Vgl. z. B. OLG Koblenz, BB 1988, 1138; ferner Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 12. 7 BGBl. I 1998, 1474 Art. 2.
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1. Einbeziehung von AGB kraft Handelsbrauchs AGB gelten nicht bereits dann kraft Handelsbrauchs, wenn sie branchenüblich sind. Branchenübliche AGB können allerdings ohne ausdrückliche Bezugnahme Vertragsbestandteil werden, sofern ein (konkludenter) Einbeziehungswille der Vertragsparteien festgestellt werden kann8. Ein Indiz für einen konkludenten Einbeziehungswillen ergibt sich allerdings bereits aus der starken Verkehrsgeltung einzelner (nicht sämtlicher) branchenüblicher Allgemeiner Geschäftsbedingungen. Im Gegensatz dazu ist nicht einmal ein konkludenter Einbeziehungswille erforderlich in den Fällen, in denen Allgemeine Geschäftsbedingungen kraft Handelsbrauchs „gelten“. Sie werden dann gemäß § 346 HGB per se Vertragsbestandteil. Die Unterschiede zwischen der Geltung Allgemeiner Geschäftsbedingungen aufgrund konkludenter Einbeziehung und kraft Handelsbrauchs sind also im Ergebnis marginal. In beiden Fällen muss der Kunde bei Vertragsschluss Widerspruch erheben, sofern er mit der Einbeziehung der AGB in den Vertrag nicht einverstanden ist. Eine durch starke Verkehrsgeltung gerechtfertigte konkludente Einbeziehung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen wird anerkannt für – – – – – –
die ADSp.9 die AGB der Banken10 die AGB kommunaler Hafenbetriebe11 die Flugplatzbenutzungsordnungen von Flughafenunternehmen12 für Konnossementsbedingungen13 Lager- und Hafenbetriebsbedingungen14.
Bei anderen ebenfalls durchaus branchenüblichen Bedingungen verneint die Rechtsprechung eine die konkludente Einbeziehung in Verträge rechtfertigende Verkehrssitte, etwa – bei (branchenüblichen) Verkaufsbedingungen15 – für Lieferbedingungen im Mineralölhandel16 – bei den ebenfalls branchenüblichen AGNB17.
__________ 8 BGH, NJW-RR 1992, 626; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 127; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 173 m. w. N. zum derzeitigen Meinungsstand. 9 Vgl. z. B. BGH, NJW-RR 1996, 1313; BGH, NJW 1985, 2411, 2412; einschränkend: BGH, NJW 2003, 1397, 1398 (im Hinblick auf § 449 Abs. 2 Nr. 1 HGB); a. A. z. B. Hensen in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., Anh. § 310 BGB Rz. 387. 10 BGH, NJW 1971, 2126, 2127. 11 BGH, LM AGB Nr. 21a. 12 OLG Karlsruhe, VersR 1971, 158, 160. 13 LG Hamburg, VersR 1982, 140, 141; Rabe, TranspR 1985, 87. 14 Str. vgl. einerseits Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 51; andererseits OLG Hamburg, EWiR 1997, 895. 15 BGH, NJW-RR 1992, 626 f. 16 BGH, NJW 1978, 2243. 17 Vgl. OLG Hamm, VersR 1994, 134: „Reine Geschäftsbedingungen“.
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Die Geltung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen kraft Handelsbrauchs beschränkt sich auf Ausnahmefälle. Anerkannt wird dies für – die Allgemeinen Deutschen Seeversicherungsbedingungen (ADS) von 191918 – die Bedingungen der Reederei in der Rheinschifffahrt19 – die Tegernseer Gebräuche im Holzhandel und für die Vermittlung von Holzgeschäften20. Für alle weiteren großen und weit verbreiteten standardisierten Geschäftsbedingungen wird eine Geltung kraft Handelsbrauchs verneint. Die von der Internationalen Handelskammer in Paris aufgestellten und primär für den internationalen Handelsverkehr bestimmten Incoterms sind teilweise aus Handelsbräuchen hervorgegangen und haben sich teilweise zu solchen entwickelt21. Die Incoterms insgesamt gelten jedoch nicht kraft Handelsbrauchs, es handelt sich vielmehr um empfohlene Geschäftsbedingungen, die nur dann Anwendung finden, wenn sie in den jeweiligen Vertrag einbezogen sind22. In ihrer Gesamtheit als AGB zu qualifizieren sind darüber hinaus die ebenfalls von der Internationalen Handelskammer veröffentlichten einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive (ERA) einschließlich Anhang für die Vorlage elektronischer Dokumente (el.ERA) sowie die einheitlichen Richtlinien für Inkassi (ERI). Die ERA und die el.ERA sind in ihrer Gesamtheit weder Gewohnheitsrecht noch gelten sie insgesamt kraft Handelsbrauchs23. Die ERI gelten ebenfalls in ihrer Gesamtheit nicht kraft Handelsbrauchs, sondern als AGB aufgrund vertraglicher Einbeziehung. Die in der Praxis wichtigste Art und Weise, wie AGB aufgrund Handelsbrauchs in Verträge einbezogen werden können, ist die Bindung des Vertragspartners an ein unwidersprochen gebliebenes kaufmännisches Bestätigungsschreiben. Während bei der Auftragsbestätigung die Erklärung, man akzeptiere den erteilten Auftrag nur unter Einbeziehung eigener AGB gemäß § 150 BGB als neues Angebot gilt, das der Annahme durch den anderen Vertragspartner bedarf, liegen die Dinge beim kaufmännischen Bestätigungsschreiben anders: Wird dort auf AGB verwiesen, können diese Vertragsbestandteil werden, auch wenn sie nicht Gegenstand der Vorverhandlungen waren24. Die im Bestätigungsschreiben zum Ausdruck gebrachte Erklärung, man betrachte den Vertrag als (stillschweigend) auf der Basis bestimmter Allgemeiner Bedingungen geschlossen, reicht also grundsätzlich aus. Aufgrund eines inzwischen zum Gewohnheits-
__________ 18 Palandt/Grüneberg, 69. Aufl., § 305 BGB Rz. 58; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 181. 19 Staudinger/Schlosser, 2006, § 305 BGB Rz. 188. 20 BGH, NJW-RR 1987, 94, 95; BGH, WM 1983, 684; OLG Koblenz, BB 1988, 1138. 21 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 112. 22 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 111. 23 Str.; vgl. im Einzelnen Graf von Westphalen, WM 1980, 178 f.; ders., RIW 1994, 453; BGH, WM 1984, 1443; OLG Frankfurt, WM 1997, 610. 24 BGH, NJW 1982, 1751; BGH, NJW 1978, 2244.
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recht verfestigten Handelsbrauchs gilt – im Gegensatz zur modifizierten Auftragsbestätigung – Schweigen auf das Bestätigungsschreiben als Zustimmung, d. h. der Vertrag erhält den dort vorgegebenen Inhalt, sofern dieser sich nicht so weit vom tatsächlichen Verhandlungsergebnis entfernt, dass der Bestätigende vernünftigerweise nicht mit dem Einverständnis des anderen Vertragspartners rechnen kann25. Die Regeln über das kaufmännische Bestätigungsschreiben galten ursprünglich nur als Handelsbrauch zwischen Kaufleuten. Sie sind heute allerdings entsprechend auf andere nichtkaufmännische Unternehmer anwendbar, sofern sie in größerem Umfang am Geschäftsleben teilnehmen und von ihnen deshalb erwartet werden kann, dass sie einem Bestätigungsschreiben wenn nötig widersprechen26. 2. Inhaltliche Geltung von AGB kraft Handelsbrauchs Allgemeine Geschäftsbedingungen oder einzelne Klauseln können Handelsbräuche wiedergeben oder sich zu solchen entwickeln. Dies setzt voraus, dass die jeweilige Regelung auch ohne besondere Vereinbarung oder Empfehlung von den jeweils maßgeblichen Verkehrskreisen freiwillig befolgt würde27. Als inzwischen handelsgebräuchlich anerkannt werden für einzelne Branchen einfache und verlängerte Eigentumsvorbehalte28. Schiedsklauseln können bereits kraft Handelsbrauchs gelten29. Verschiedene Trade Terms geben Handelsbräuche wieder30. Einzelne Klauseln der Incoterms gelten als Handelsbrauch31. Ein Großteil der ERA-Regeln enthält bestehende Handelsbräuche32, Gleiches gilt für die ERI-Richtlinien33.
__________ 25 Vgl. dazu im Einzelnen Hopt in Baumbach/Hopt, 33. Aufl., § 346 HGB Rz. 27 m. w. N.; zu den Grenzen einer nachträglichen Einbeziehung von AGB durch ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben: Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGBRecht, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 135 m. w. N. 26 Vgl. z. B. BGH, NJW 1987, 1940 (Insolvenzverwalter); OLG Bamberg, BB 1973, 1372 (Rechtsanwalt); BGHZ 40, 43 (Grundstücksmakler); BGH, WM 1973, 1376 (Architekt). 27 BGH, BB 1980, 1552; Basedow, ZHR 150 (1986), 469, 486. 28 LG Marburg, NJW-RR 1993, 1505 für den Bereich der Textilindustrie; u. U. auch für den Vertrieb von Windkraftanlagen, vgl. insoweit BGH, NJW-RR 2004, 555; verneinend für den Lebensmittelsektor: OLG Hamm, NJW-RR 1993, 1445; für die Maklerbranche: OLG Dresden, NJW-RR 1999, 846; zur Geltung des einfachen Eigentumsvorbehalts kraft Handelsbrauchs im Weinhandel und zwischen Verleger und Buchhändler s. Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 147 m. w. N. 29 BGH, NJW 1993, 1798 für eine Schiedsvereinbarung im internationalen Handel mit Fellen; zur Schiedsklausel im Rahmen eines kaufmännischen Bestätigungsschreibens vgl. Graf von Westphalen, in Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB Klauselwerke, 2009, Vertragsrecht, Schiedsgerichtsklauseln Rz. 4. 30 Vgl. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 110. 31 Vgl. z. B. für die c.i.f.-Klausel OLG Düsseldorf, IPRax 1982, 101, 102; ferner Saenger in Bamberger/Roth, BGB, 2. Aufl., Art. 9 CISG Rz. 2. 32 Nielsen in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., ZahlungsV Rz. H 41. 33 Vgl. OLG Hamburg, MDR 1970, 335; Wälzholz, WM 1994, 1457, 1458.
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Von der Handelsbrauchsqualität einzelner AGB-Klauseln zu unterscheiden ist die Einbeziehung durchformulierter Klauselwerke. Soweit kraft Handelsbrauchs auf branchenübliche AGB zur Vertragsergänzung verwiesen wird, hat der „Verweisungsbrauch“ selbst keinen materiellen Regelungsgehalt, sondern lediglich die Funktion, bestimmte geschäftliche Inhalte mit den dafür geschaffenen Vertragsbedingungen zu verbinden. Hierin erschöpft sich die Verweisung, ob darüber hinaus die AGB insgesamt oder einzelne Klauseln handelsgebräuchliche Regelungen inhaltlich wiedergeben, ist für die Frage der Einbeziehung irrelevant34. Dass ganze Klauselwerke inhaltlich zum Handelsbrauch werden oder gelten, wird auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und ist bisher auch in der Rechtsprechung nur vereinzelt anerkannt worden und zwar für die bereits erwähnten Allgemeinen Deutschen Seeversicherungsbedingungen, die Bedingungen der Reederei in der Rheinschifffahrt und die Tegernseer Gebräuche im Holzhandel und für die Vermittlung von Holzgeschäften35. Soweit AGB inhaltlich kraft Handelsbrauchs gelten, werden sie gemäß § 346 HGB per se Vertragsbestandteil. Dies gilt unabhängig davon, ob die jeweiligen Handelsklauseln oder die inhaltlich zum Handelsbrauch gewordenen Bedingungen bzw. durchformulierten Klauselwerke in dem jeweiligen Vertrag erwähnt bzw. in diesen „einbezogen“ werden, sofern sie mit den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) im Einklang stehen und nicht gegen zwingendes Recht verstoßen (ein gesetzes-, sitten- oder treuwidriger „Handelsbrauch“ ist als „Handelsmissbrauch“ unbeachtlich)36.
III. Inhaltskontrolle nach dem AGB-Recht Ob und inwieweit aufgrund Handelsüblichkeit in einen Vertrag einbezogene AGB-Klauseln einer Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 1 BGB unterliegen, hängt von der jeweiligen Wirkungsweise des Handelsbrauchs ab. 1. Verweisung auf AGB kraft Handelsbrauchs Dient der Handelsbrauch lediglich als Bindeglied zwischen Vertrag und vertragsüblichen Bedingungen, erschöpft er sich also in der bloßen Verweisung auf derartige Klauseln, werden dadurch im Grunde genommen lediglich die auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr notwendigen rechtsgeschäftlichen Voraussetzungen für die Einbeziehung von AGB in Verträge ersetzt. An die Stelle des rechtsgeschäftlichen Einbeziehungswillens tritt die Handelsüblichkeit, das Einverständnis des anderen Vertragspartners wird durch dessen fehlenden Widerspruch dokumentiert. „Verwender“ der kraft Handelsbrauchs
__________ 34 Basedow, ZHR 150 (1986), 469, 487. 35 S. oben Fn. 18 bis 20. 36 BGH, NJW 1974, 852, 855; Heymann/Horn, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 25; Hopt in Baumbach/Hopt, 33. Aufl., § 346 HGB Rz. 10 f.
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Handelsbräuche und Allgemeine Geschäftsbedingungen
geltenden AGB ist im Zweifel derjenige, dem sie zuzurechnen sind. Die aufgrund handelsgebräuchlicher Verweisung geltenden (branchenüblichen) Bedingungen unterliegen, soweit sie nicht selbst zu Handelsbräuchen geworden sind oder solche wiedergeben, der Inhaltskontrolle in gleicher Weise wie andere rechtsgeschäftlich einbezogene AGB im unternehmerischen Geschäftsverkehr. 2. AGB-Inhalte kraft Handelsbrauchs Soweit Allgemeine Geschäftsbedingungen oder AGB-Klauseln Handelsbräuche wiedergeben oder zu solchen werden, gilt Folgendes: – Zum Handelsbrauch erstarken können AGB nur unter Beachtung zwingender Vorschriften, zu denen auch § 307 BGB gehört. Klauseln, die gemäß § 307 BGB unwirksam sind, könnten auch dann, wenn sie einer branchenüblichen Praxis entsprechen sollten, nicht die Qualität eines Handelsbrauchs erlangen37. – Soweit Allgemeine Geschäftsbedingungen oder einzelne Klauseln inhaltlich als Handelsbrauch gelten, scheidet § 307 Abs. 1 BGB als Prüfungsmaßstab aus38. Die Gegenansicht39 lässt außer Acht, dass die Vertragsbedingungen, die inhaltlich als Handelsbrauch zu qualifizieren sind, auch dann gelten würden, wenn sie im Vertrag nicht erwähnt, also letztlich nicht „einbezogen“ wären. Deshalb verfängt auch nicht der Hinweis auf den zwingenden Charakter des § 307 BGB40, denn es handelt sich der Sache nach um Handelsbräuche, die gemäß § 346 HGB Vertragsbestandteil werden unabhängig davon, ob sie als Allgemeine Geschäftsbedingungen abgefasst sind. Die Situation ist insoweit vergleichbar mit vorformulierten Vertragsbestimmungen, die lediglich den Gesetzeswortlaut wiederholen oder damit inhaltlich vollkommen übereinstimmen. Derartige deklaratorische AGB-Klauseln sind der Inhaltskontrolle entzogen, die Überprüfung beschränkt sich auf die Transparenzkontrolle gemäß § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB. Für die AGB-Kontrolle von Handelsbräuchen kann nichts anderes gelten.
__________ 37 Vgl. BGH, NJW 1974, 852, 855 zum Fall einer kartellrechtswidrigen Handelspraxis; ferner Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 84; insoweit auch zutreffend Basedow in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 310 BGB Rz. 10. 38 BGH, NJW-RR 1987, 94, 95 zu den Tegernseer Gebräuchen für die Vermittlung von Holzgeschäften; Hopt in Baumbach/Hopt, 33. Aufl., § 346 HGB Rz. 11; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl., § 346 HGB Rz. 52; Staudinger/Schlosser, BGB, 2006, § 310 BGB Rz. 13; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 147; ebenso: Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGBRecht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 84. 39 Graf von Westphalen in Löwe/Graf von Westphalen/Trinkner, 2. Aufl., § 24 AGBG Rz. 20; Basedow, ZHR 150 (1986), 469, 489 f.; ders. in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 310 BGB Rz. 10. 40 So aber Graf von Westphalen (Fn. 39) im Hinblick auf § 9 AGBG und Basedow in MünchKomm.BGB (Fn. 39).
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Fritz Drettmann
Davon zu unterscheiden ist die Auslegung Allgemeiner Vertragsbedingungen im unternehmensbezogenen Geschäftsverkehr unter Berücksichtigung bestehender Handelsbräuche41. Es geht dabei um AGB-Klauseln, die entweder aufgrund rechtsgeschäftlicher Einbeziehungsvereinbarung oder kraft „Verweisungsbrauchs“ Vertragsbestandteil geworden sind, ohne inhaltlich selbst einen Handelsbrauch wiederzugeben oder als solcher zu gelten. Derartige Klauseln unterliegen der Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB, bei der jedoch gemäß § 310 Abs. 1 Satz 2 BGB abweichend von § 305c Abs. 2 BGB auf bestehende Handelsbräuche angemessen Rücksicht zu nehmen ist.
__________ 41 Vgl. im Einzelnen Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 149.
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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen Inhaltsübersicht Einführung I. Begriffsbestimmung 1. Verbraucher 2. Schiedsvereinbarung II. Schiedsvereinbarungen in den USA 1. Rechtsgrundlagen für Schiedsvereinbarungen 2. Verbreitung 3. Verbraucherschutz im US-amerikanischen Schiedsrecht III. Schiedsklauseln in anderen Ungleichgewichtslagen 1. Unternehmerische Tätigkeit a) Auslandsinvestitionen b) Kaufmännische Schiedsgerichte 2. Andere Bereiche a) Sportgerichtsbarkeit b) Spezialregelungen IV. Grundsätze des deutschen Schiedsverfahrensrechts
V. Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen 1. Rechtsfolge 2. Anwendbarkeit deutschen Rechts 3. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe 4. Schiedsvereinbarung als AGB a) Schiedsvereinbarung als überraschende Klausel – § 305c BGB b) Eröffnung der Inhaltskontrolle – § 307 Abs. 3 BGB c) Mit Grundgedanke der disponierten Regelung nicht vereinbar – § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB aa) Von welchen Regelungen wird abgewichen? bb) Schiedsvereinbarung an sich als wesentliche Abweichung d) Sonstige Inhaltskontrolle – §§ 309, 308, 307 Abs. 1 BGB VI. Zusammenfassung
Einführung In die US-amerikanische Verbraucherschiedsgerichtsbarkeit kommt Bewegung. Nach einem langen Zeitraum, in dem Unternehmen verschiedener Branchen Schiedsverfahren als üblichen Weg für die Streitbeilegung mit Verbrauchern ansahen und die Gerichte schiedsfreundlich zu entscheiden pflegten, verläuft die jüngste Entwicklung nun in die entgegengesetzte Richtung. Zwei Änderungsvorschläge zum Federal Arbitration Act (FAA) sehen vor, dass Schiedsvereinbarungen in Verbraucher-, Arbeitnehmer und Franchise-Verträgen generell ungültig sein sollen1. Der FAA sei für Streitigkeiten zwischen Unternehmen mit annähernd gleichen Rechtskenntnissen und annähernd gleicher Ver-
__________ 1 Arbitration Fairness Act 2009, House Bill 1020, abrufbar unter http://govtrack.us/ congress/billtext.xpd?bill=h111-1020, Section 4; Arbitration Fairness Act 2009, Senate Bill 931, abrufbar unter http://www.govtrack.us/congress/billtext.xpd?bill=s111-931 Section 3.
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handlungsmacht konzipiert worden2. Entsprechend wurden diese Vorschläge schon als anti-arbitration bills bezeichnet3. Zusätzlich hat die Praxis der USamerikanischen Großbanken, standardisierte Schiedsklauseln zu verwenden, aus kartellrechtlichen Gründen die Aufmerksamkeit der Gerichte auf sich gezogen4. Diese Entwicklungen in Legislative und Judikative zeigen offenbar schon jetzt Wirkung. Am 14.7.2009 leitete Minnesota Attorney General Lori Swanson ein Verfahren gegen eine der größten US-amerikanischen Schiedsinstitutionen ein, das National Arbitration Forum (NAF). Der Vorwurf lautete Bevorzugung der Gläubiger in Schiedsverfahren. Die NAF, führend bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit Kreditkarten und der Beitreibung von Forderungen gegen Verbraucher, gab kurz darauf bekannt, keine weiteren Schiedsverfahren mehr annehmen zu wollen, die beispielsweise von Banken oder Mobilfunkunternehmen initiiert wurden5. Mit der American Arbitration Association (AAA) entschied sich eine weitere bedeutende Schiedsinstitution zu einer ähnlichen Maßnahme und setzte die Teilnahme an Beitreibungsverfahren aus, um die weitere Entwicklung abzuwarten6. Die Aufregung blieb nicht auf Schiedsinstitutionen beschränkt. Am 13.8.2009 gab die Bank of America bekannt, die bislang obligatorischen Schiedsklauseln aus Kreditkarten- und Darlehensverträgen zu streichen7, JP Morgan Chase folgte bald darauf8. Diese Entwicklung und die Verdienste des Jubilars um die rechtliche Beurteilung von Schiedsvereinbarungen in AGB9 berechtigen zu der Frage, wie es im Zusammenhang mit Schiedsvereinbarungen um den Verbraucherschutz in Deutschland bestellt ist. Dabei sei in Erinnerung gerufen: Vertragsfreiheit ist
__________ 2 „The Federal Arbitration Act (…) was intended to apply to disputes between commercial entities of generally similar sophistication and bargaining power.“ Arbitration Fairness Act 2009, House Bill 1020, Section 2 para (1). Damit bestehen gewisse Parallelen zu der Verbraucherschutzproblematik, mit welcher sich derzeit die EG-Kommission – allerdings bezüglich staatlicher Gerichte – befasst; zur Übersicht über entsprechende europäische Bemühungen s. http://ec.europa.eu/consumers/redress_cons/ collective_redress_en.htm. 3 Robertson, The Arbitration Fairness Acts of 2009: The United States Anti-Arbitration Bills, Asian Dispute Review 2009, S. 82–85. 4 Dazu US Second Circuit Court of Appeals, Ross v. Bank of America, Urteil vom 25.4.2008. 5 Informationen der Website des Minnesota Attorney General, http://www.ag.state.mn. us/Consumer/PressRelease/090720NationalArbitrationAgremnt.asp. 6 http://www.creditcards.com/credit-card-news/credit-card-binding-arbitration-systemcrumbling-1282.php. 7 „Bank of America ends arbitration of card disputes“, Reuters-Meldung vom 14.8.2009, abrufbar unter http://www.reuters.com/article/creditMarkets/idUSTRE57D03E20090 814?pageNumber=1&virtualBrandChannel=0. Für den vorliegenden Beitrag wurde die Entwicklung bis einschließlich November 2009 berücksichtigt. 8 „JP Morgan Chase Ends Credit Card Arbitration“, American Banker vom 20.11.2009, abrufbar unter http://www.americanbanker.com/news/jpmorgan-chase-ends-creditcard-arbitration-1004177-1.html. 9 Von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 25. Lieferung, 2009, Ziffer 28.
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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen
die durch die Verfassung garantierte Freiheit der Entscheidung, ob und wie Verträge abgeschlossen werden, und zwar sowohl des Verbrauchers als auch seines (potentiellen) Vertragspartners10. Verbraucherschutz dagegen wirkt zunächst einseitig, also zugunsten des Verbrauchers und zulasten seines Vertragspartners11. Dies wird damit begründet, dass eine „typisierbare Fallgestaltung“ gegeben sei, in der eine „strukturelle Unterlegenheit“ des einen Vertragsteils – mit anderen Worten: eine sogenannte Ungleichgewichtslage – vorliege12. In Bezug auf Schiedsvereinbarungen bedeutet dies: Vertragsfreiheit ist auch die Freiheit der Entscheidung, ob eine Schiedsvereinbarung abgeschlossen und wie sie ausgestaltet werden soll, sowohl des Verbrauchers als auch des Vertragspartners. Verbraucherschutz dagegen ist auch – was? Der Schutz vor bestimmten Schiedsvereinbarungen? Der Schutz vor Schiedsvereinbarungen allgemein? Dieser Frage soll im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden. Die umfangreiche Diskussion in der Literatur und die Rechtsfortbildung durch die Gerichte lassen dabei vermuten, dass rechtlicher Handlungsbedarf dank der Rechtsbehelfe des allgemeinen Zivilrechts in Deutschland ebenso wenig besteht, wie faktisch in naher Zukunft eine Überflutung von Verbrauchern mit Schiedsklauseln zu befürchten ist. Nach einer Begriffsbestimmung (I.) wird am Beispiel der USA demonstriert, dass eine weite Verbreitung von Schiedsklauseln auch in sogenannten „Ungleichgewichtslagen“ nicht nur ein bloßes Gedankenspiel sein muss (II.). Dieses Beispiel steht in Gegensatz zu der gegenwärtigen Verbreitung von Schiedsvereinbarungen in Deutschland (III.). Es folgen Grundsätze des deutschen Schiedsverfahrensrechts (IV.), welche die Basis für die rechtlichen Ausführungen zu Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen liefern (V.). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung (VI.).
I. Begriffsbestimmung Zunächst ist allerdings die Bestimmung der Begriffe „Verbraucher“ (1.) und „Schiedsvereinbarung“ (2.) erforderlich. 1. Verbraucher Der Begriff des „Verbrauchers“ wird im Folgenden für jede natürliche Person verwendet, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zwecke abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet
__________
10 Grundlegend BVerfG, NJW 1994, 36 ff., 38. Zur Differenzierung zwischen Vertragsabschluss- und -gestaltungsfreiheit jüngst wieder von Westphalen, Wider einen Reformbedarf beim AGB-Recht im Unternehmerverkehr, NJW 2009, 2977 ff., 2981. 11 In einschlägigen Diskussionen wird zugunsten einer Ausweitung des Verbraucherschutzes allerdings häufig (sinngemäß) angeführt, ein verbesserter Verbraucherschutz begünstige das Vertrauen in die Rechts- und Wirtschaftsordnung und komme damit allen Marktteilnehmern zugute. Vgl. nur das „Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher“ der EG-Kommission vom 27.11.2008, Absatz 1. 12 BVerfG, NJW 1994, 36 ff., 38. Weitere Erläuterungen und Nachweise bei Micklitz in MünchKomm.BGB, Vorbemerkung zu §§ 13, 14 BGB Rz. 68 ff.
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werden kann. Dies ist die Definition des § 13 BGB, und als solche ist sie maßgeblich insbesondere für die Terminologie der §§ 305 ff. BGB. Ihre Verwendung erleichtert daher die Subsumtion unter diese Vorschriften. Zwei Problemkreise klammern diese Definition und dieser Beitrag aus: – Nicht beurteilt werden soll an dieser Stelle, ob auch Kleinunternehmen in den Genuss verbraucherschützender Vorschriften kommen sollen, wie dies teilweise auf europäischer Ebene erwogen worden ist13. – Für die Zwecke dieses Beitrages ist auch die Beantwortung der Frage unnötig, inwieweit verbraucherschützende Vorschriften sinngemäß auf das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung finden sollen. Denn für individualarbeitsrechtliche Streitigkeiten ist die Vereinbarung der Schiedsgerichtsbarkeit ausgeschlossen, wie sich im Umkehrschluss aus §§ 2, 4 ArbGG ergibt. 2. Schiedsvereinbarung Der Begriff „Schiedsvereinbarung“ wird im Folgenden gemäß der Definition des § 1029 Abs. 1 ZPO verstanden, also als Vereinbarung, alle oder einzelne Streitigkeiten, die zwischen den Parteien in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis vertraglicher oder nichtvertraglicher Art entstehen, der Entscheidung durch ein Schiedsgericht zu unterwerfen. Entscheidend ist dabei zweierlei: – Die Vereinbarung muss – ihre Wirksamkeit vorausgesetzt – für zumindest eine Partei verbindlich sein. Vereinbarungen, die lediglich die grundsätzliche Bereitschaft der Parteien zur Durchführung eines Schiedsverfahrens festhalten, fallen nicht unter den Begriff. – Das vereinbarte Schiedsverfahren muss nach dem Parteiwillen das Verfahren vor staatlichen Gerichten ersetzen. Verfahren, die nur zu unverbindlichen Empfehlungen führen, sind hier ebenso wenig von Interesse wie Verfahren, die von den Parteien gleichsam als „Vorinstanz“ zum staatlichen Prozess vereinbart wurden.
II. Schiedsvereinbarungen in den USA Überlegungen zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz hinsichtlich der Verwendung von Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen sind derzeit vor allem in den USA von praktischer Bedeutung. Nach einer kurzen Einführung in die Rechtsgrundlagen (1.) wird im Folgenden aufgezeigt, dass Schiedsklauseln dort weit verbreitet sind, und zwar nicht nur in Verträgen zwischen Unternehmen (B2B – „business to business“), sondern
__________ 13 Vgl. das Grünbuch „Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz“ der EG-Kommission v. 8.2.2007, S. 17.
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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen
auch in Verträgen zwischen Unternehmen und Verbrauchern (2.). Auch im USamerikanischen Schiedsrecht finden Grundsätze des Verbraucherschutzes Beachtung (3.). 1. Rechtsgrundlagen für Schiedsvereinbarungen Zentrale Kodifikation des Schiedsrechts der USA ist der FAA aus dem Jahr 192514. In ihm sind wesentliche Fragen des Schiedsverfahrens geregelt, etwa zur Gültigkeit von Schiedsabreden (§ 2 FAA), der Einrede der Schiedsvereinbarung (§ 3 FAA) und dem Umfang der richterlichen Kontrolle von Schiedssprüchen (§§ 10, 11 FAA). Da US-amerikanisches Recht dem common law zuzuordnen ist, kommt der Rechtsprechung eine bedeutende Rolle bei der Rechtsfortbildung zu. Die Rechtsprechung zu Fragen des Schiedsrechts bildet insofern keine Ausnahme. Teilweise bestehen dabei durchaus Parallelen zur deutschen (Rechts-)Lage. Drei Beispiele zu Schiedsvereinbarungen und -verfahren seien genannt: – Laut einer jüngeren Entscheidung des Supreme Court soll die bundesrechtliche Regelung der Aufhebungsgründe in §§ 10, 11 FAA abschließend sein15. Entsprechendes gilt für die deutsche Regelung der Aufhebungsgründe in § 1059 ZPO16. – Gegen Urteile staatlicher Gerichte, mit denen Klagen wegen der Einrede der Schiedsvereinbarung abgewiesen werden, ist der Instanzenzug eröffnet17. Nichts anderes gilt in Deutschland: Dass gerade die Einrede der Schiedsvereinbarung zur Abweisung der Klage geführt hat, führt nicht zum Wegfall des Instanzenzugs, wie sich an der umfangreichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und des BGH zur Einrede der Schiedsvereinbarung ablesen lässt18. – Bundesrechtlich soll die Schiedsgerichtsbarkeit grundsätzlich gefördert werden19. Dies erinnert an das deutsche Prinzip der „schiedsfreundlichen Auslegung“20. Daneben rückt in den USA, bedingt durch die stark föderale Struktur, immer wieder die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem bundesrechtlichen FAA und dem Recht der Einzelstaaten in den Vordergrund. Die starke Verbreitung von Schiedsklauseln wird teilweise darauf zurückgeführt, dass der Supreme
__________ 14 U.S. Code Collection, Title 9. 15 US Supreme Court, Hall Street Associates, LLC. v. Mattel, inc., Urteil v. 25.3.2008. 16 Dies folgt bereits aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut. S. auch OLG München, Beschluss v. 20.4.2009 – 34 Sch 017/08. 17 US Supreme Court, Green Tree Financial Corp.-Alabama et al. v. Randolph, Urteil v. 11.12.2000. 18 Exemplarisch BGH, SchiedsVZ 2009, 122 ff. 19 US Supreme Court, Shearson/American Express inc. v. McMahon, Urteil v. 8.6.1987. 20 Exemplarisch Kröll, Die schiedsrechtliche Rechtsprechung 2008, SchiedsVZ 2009, 161 ff.
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Court bislang dem (schiedsfreundlichen) Bundesrecht den Vorrang vor dem teilweise restriktiveren Staatenrecht einräumte21. So dürfen nach Ansicht des Supreme Court Schiedsrichter selbst dann Strafschadensersatz (punitive damages) verhängen, wenn ihnen dies nach dem anwendbaren Staatenrecht untersagt ist22. Nach einer anderen insofern beispielhaften Entscheidung kann eine Schiedsvereinbarung auch für Streitigkeiten getroffen werden, die gemäß Staatenrecht von einer Verwaltungsbehörde und nicht von einem Gericht zu entscheiden wären23. 2. Verbreitung Die Nutzung von Schiedsklauseln ist in den USA weitverbreitet. Sie beschränkt sich nicht auf handelsrechtliche Streitigkeiten, weder nach dem engeren deutschen Verständnis des Begriffs „Handels“, noch nach dem weiteren Verständnis des Art. 1 UNCITRAL-Modellgesetz24. Eine Stichprobe aus dem Jahr 2007 ergab, dass rund 75 % der standardisierten Verbraucherverträge von Unternehmen Schiedsklauseln enthielten25. Verbreitet sind Schiedsklauseln zunächst bei Wertpapiertransaktionen. Dies hat den besonderen Hintergrund, dass aufgrund der für Wertpapierhändler geltenden Vorschriften Investoren – nicht aber die Wertpapierhändler – von Gesetzes wegen ein Wahlrecht zwischen staatlicher und Schiedsgerichtsbarkeit haben. Da Investoren in vielen Fällen durchaus Verbraucher nach deutschem Verständnis sein können, scheint die gesetzliche Regelung also verbraucherfreundlich. Von Seiten der Wertpapierhändler werden nun aber Schiedsklauseln in Verträge aufgenommen, um bereits bei Vertragsschluss Klarheit über die zuständige Gerichtsbarkeit zu haben – und nicht erst im Streitfall. Im Ergebnis ist der Wertpapierhandel dadurch möglicherweise jenes Geschäftsfeld, bei dem Kunden sich Schiedsklauseln am wenigsten entziehen können26. Verbreitet ist sodann die Nutzung von Schiedsklauseln in Kredit- und Kreditkartenverträgen. Derartigen Verträgen kommt aufgrund der hohen Verschuldung US-amerikanischer Privathaushalte großes wirtschaftliches Gewicht
__________ 21 Stipanowich, Due Process Protocol Protects Consumer Rights, Dispute Resolution Journal 1998, 9 ff., 9. 22 US Supreme Court, Mastrobuono v. Shearson Lehman Hutton, inc., Urteil v. 6.3.1995. 23 US Supreme Court, Preston v. Ferrer, Urteil v. 20.2.2008. 24 Dazu Schumacher, Das neue 10. Buch der Zivilprozessordnung im Vergleich zum UNCITRAL-Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit; Beilage zu BB 1998 Heft 12, S. 6 ff., 8. 25 Eisenberg/Miller/Sherwin, Arbitration’s Summer Soldiers: An Empirical Study of Arbitration Clauses in Consumer and Nonconsumer Contracts, Cornell Law School/ New York University Research Paper, abrufbar unter http://papers.ssrn.com/sol3/ papers.cfm?abstract_id=1076968. 26 So Ware, What Makes Securities Arbitration Different from other Consumer and Employment Arbitration?, University of Cincinnati Law Review, Vol. 76, S. 447 ff., 452: „As it stands, securities industry customers may have a harder time than any other industry’s customers in finding a way to do business without an arbitration clause“.
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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen
zu27. Entsprechend bedeutsam ist die Frage nach der Lösung von Streitigkeiten aus diesen Verträgen. In dieser Hinsicht hat sich die Verwendung von Schiedsklauseln etabliert: Neben den bereits erwähnten (mittlerweile ausgestiegenen) Instituten Bank of America und JP Morgan Chase verwenden auch American Express und Citigroup – und damit vier marktführende Kreditinstitute – Schiedsklauseln28. Schiedsklauseln finden darüber hinaus auch Anwendung in individualarbeitsrechtlichen Streitigkeiten. Nach einer Stichprobe sind sie in rund 90 % der standardisierten Arbeitsverträge enthalten29. Schiedsklauseln werden beispielsweise vereinbart im US-amerikanischen Pendant zu Tarifverträgen, den collective bargaining agreements, und zwar nicht nur für Streitigkeiten der Tarifparteien untereinander, sondern auch für Streitigkeiten einzelner Gewerkschaftsmitglieder als Arbeitnehmer mit den Arbeitgebern. Die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft kann, mit anderen Worten, bei Streitigkeiten mit dem Arbeitgeber zur Verweisung auf die Schiedsgerichtsbarkeit führen, sofern die entsprechende Gewerkschaft mit dem jeweiligen Arbeitgeber eine Schiedsvereinbarung getroffen hat. Inhaltlich können solche Schiedsvereinbarungen durchaus von großer Weite sein und beispielsweise Streitigkeiten wegen altersbedingter Diskriminierung abdecken30. 3. Verbraucherschutz im US-amerikanischen Schiedsrecht Das US-amerikanische Schiedsrecht kennt Sonderregelungen für bestimmte Rechtsverhältnisse. Beispiele sind etwa der Magnuson-Moss Warranty Act für Streitigkeiten aus Produktgarantien zugunsten von Verbrauchern31 oder die erwähnten Regelungen der nationalen Wertpapierbörsen für Streitigkeiten zwischen (unter anderem) Händlern und Investoren32.
__________ 27 Die Gesamtverschuldung US-amerikanischer Haushalte lag 2008 nach Auskunft der Federal Reserve bei 13832,9 Milliarden US$ (http://www.federalreserve.gov/releases/ z1/Current/z1.pdf, S. 16), was ca. 9813,84 Milliarden Euro zum Wechselkurs vom 31.12.2008 entspricht. Die durchschnittlichen Kreditkartenschulden betrugen Ende 2008 8329 US$ pro Haushalt (Nilson Report April 2009, zitiert nach http://www. creditcards.com/credit-card-news/credit-card-industry-facts-personal-debt-statistics1276.php). Zum Vergleich: 2008 lag das Gesamtvolumen der in Deutschland bankenmäßig an Privatpersonen vergebenen Kredite nach Auskunft der SCHUFA bei 1015 Milliarden Euro (http://www.schufa-kredit-kompass.de/de/statistiken/kredit kompassjahresbericht/trendsderprivkreditaufnahme/trendskreditaufnahme.jsp). 28 „Bank of America ends arbitration of card disputes“, Reuters-Meldung vom 14.8.2009. Übersicht über die Marktanteile und weitere Informationen unter http:// www.creditcards.com/credit-card-news/credit-card-industry-facts-personal-debt-statis tics-1276.php. 29 Eisenberg/Miller/Sherwin (Fn. 25), S. 17, allerdings auf nur schmaler statistischer Grundlage. 30 US Supreme Court, 14 Penn Plaza LLC et al. v. Pyett et al., Urteil v. 1.4.2009. 31 Dazu Grossberg, The Magnuson-Moss Warranty Act, the Federal Arbitration Act, and the Future of Consumer Protection, Cornell Law Review 2008, 659 ff. 32 Dazu Ware (Fn. 26).
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Die Verbreitung von Schiedsklauseln auch in Ungleichgewichtslagen führte zur Entwicklung einer besonderen Verhaltensrichtlinie der AAA. Diese Verhaltensrichtlinie, das „Consumer Due Process Protocol“ vom 17.4.1998, statuiert Grundsätze (principles) für Schiedsvereinbarungen und -verfahren, die bei Beteiligung von Verbrauchern besondere Beachtung finden sollen33. Hierzu zählen etwa die Begrenzung von Kosten auf ein vernünftiges Maß (Principle 6: Reasonable Cost), die Auswahl eines angemessenen Schiedsortes (Principle 7: Reasonable Convenient Location) und deutliche Hinweise auf die Schiedsabrede bei Vertragsschluss (Principle 11: Agreements to Arbitrate). Durchaus vergleichbare Grundsätze wurden auch europäischen Mediatoren im „European Code of Conduct for Mediators“ nahegelegt, und zwar unabhängig vom Vorliegen einer Ungleichgewichtslage34. Obgleich damit die bedeutendste US-amerikanische Schiedsinstitution Rücksicht auf die Belange von Verbrauchern nimmt, wird die Rechtsstellung von Verbrauchern in Bezug auf Schiedsvereinbarungen und -verfahren als unzureichend angesehen. Wie eingangs erwähnt, ist insbesondere die Verwendung von Schiedsklauseln in Kreditkartenverträgen in jüngerer Zeit auf Kritik gestoßen. Gegner verweisen auf die angeblich geringe Erfolgswahrscheinlichkeit für Verbraucher in Schiedsverhandlungen. So sollen beispielsweise die von Schiedsrichtern der NAF erlassenen Schiedssprüche in Verbraucherstreitigkeiten zu 94 % zugunsten der Unternehmer getroffen worden sein. Dementsprechend sollen auch lediglich 118 der rund 34000 Verfahren der NAF in Kalifornien zwischen Januar 2003 und März 2007 von Verbrauchern eingeleitet worden sein35. Zwar wird von anderer Seite die Wissenschaftlichkeit der genannten Statistiken bezweifelt36. Vielmehr sei die Schiedsgerichtsbarkeit erheblich schneller, oftmals kostengünstiger, und natürliche Personen würden üblicherweise bessere Resultate mit ihr erzielen als mit staatlichen Verfahren37. So sind nach Auskunft der AAA 48 % der Verbraucherklagen und 74 % der Unternehmens-
__________ 33 Einsehbar mit Genese und Kommentierung unter http://www.adr.org/sp.asp?id= 22019; Besprechung bei Stipanowich (Fn. 21). 34 Abrufbar unter http://ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_en.htm. 35 Zahlen aus „The Arbitration Trap – How Credit Card Companies Ensnare Consumers“, S. 2 – Studie der Verbraucherschutzorganisation Public Citizen aus September 2007, abrufbar unter http://www.citizen.org/documents/Final_wcover.pdf. 36 So mit beachtlichen Argumenten Rutledge, Arbitration – A Good Deal for Consumers, S. 10 ff. (http://www.adrforum.com/rcontrol/documents/ResearchStudiesAnd Statistics/200804ArbitrationGoodForConsumers-Rutledge.pdf): Ein schwerwiegender Mangel in der zitierten Statistik sei die Beschränkung der Daten auf Verfahren zur Forderungsdurchsetzung von Banken; in solchen Verfahren sei das Unterliegen des Verbrauchers voraussehbar. 37 Rutledge (Fn. 36), S. 6 ff. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt hinsichtlich des Verfahrens der American Arbitration Association die umfangreiche Studie „Consumer Arbitration Before the American Arbitration Association“ des Searle Civil Justice Institute vom März 2009, abrufbar unter http://www.searlearbitration.org/p/full_report .pdf.
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Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen
klagen erfolgreich38. Am gegenwärtigen Trend vermag solcher Widerspruch allerdings bislang nichts zu ändern: Die Ansicht, Schiedsverfahren seien verbraucherfreundlich oder überhaupt auch nur mit dem Verbraucherschutz vereinbar, scheint sich – wie eingangs geschildert – auf dem Rückzug zu befinden.
III. Schiedsklauseln in anderen Ungleichgewichtslagen Ein anderes Bild bietet sich in Deutschland: Hier erfreuen sich Schiedsverfahren zumindest bislang bei Verbrauchern nicht einer Beliebtheit, die in Missbrauch umschlagen könnte. Wegen der größeren Verbreitung sollen hier zunächst Vereinbarungen bei unternehmerischer Tätigkeit (1.) und sodann Vereinbarungen in Ungleichgewichtslagen dargestellt werden (2.). 1. Unternehmerische Tätigkeit a) Auslandsinvestitionen Für die unternehmerische Tätigkeit von Bedeutung sind Schiedsklauseln in bilateralen Investitionsschutzabkommen (bilateral investment treaties – BITs). Von letzteren hat Deutschland derzeit 147 abgeschlossen und verfügt damit über das dichteste Investitionsschutznetz39. Welche Rechte vor dem Schiedsgericht geltend gemacht werden können, ergibt sich aus dem jeweiligen BIT. Viele dieser BITs sehen für Investoren die Möglichkeit vor, statt eines staatlichen Gerichts ein Schiedsgericht anzurufen, wenn sich im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit Rechtsstreitigkeiten ergeben. Dabei besteht eine gewisse Standardisierung: Hat der Investitionsstaat das Abkommen des International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID) ratifiziert, kann das in diesem Abkommen geregelte ICSID-Schiedsverfahren zum Einsatz kommen. Dem ICSID kommt folglich insofern die Rolle zu, welche bei konventionellen Schiedsverfahren häufig die Schiedsinstitutionen übernehmen. Ein Beispiel für ein derartiges Verfahren wäre der von Siemens angestrengte, mittlerweile durch Klagerücknahme beendete Prozess gegen die Republik Argentinien40. Die Schiedsklausel in einem BIT wird nicht zwischen den Parteien eines potentiellen Schiedsverfahrens vereinbart. Vertragsparteien sind vielmehr der Investitionsstaat und der Investorstaat. Im Verhältnis zum Investor stellt sich das BIT als Vertrag zugunsten Dritter dar41. Es stellt sich daher insbesondere die Frage nicht, ob eine – eventuell „strukturell schwächere“ – Partei der Schiedsklausel durch die Verweisung auf ein Schiedsverfahren unangemessen benachteiligt wurde.
__________ 38 „Analysis of the American Arbitration Association’s Consumer Arbitration Caseload“, 2007 (http://www.adr.org/si.asp?id=5027). 39 Information von http://icsid.worldbank.org/ICSID/Index.jsp. 40 Dazu Newmark/Poulton, Siemens -v- Argentina: Most favoured nation clause (re)visited, SchiedsVZ 2005, 30 ff. 41 Happ, Beilegung von Steuerstreitigkeiten zwischen Investoren und ausländischen Staaten durch Schiedsgerichte, IStR 2006, 649 ff.
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Vorteile, wie sie ein BIT mit einer Schiedsklausel für Investoren mit sich bringt, können aber bei entsprechender Ausgestaltung auch den Parteien einer Schiedsvereinbarung zugutekommen, also auch der unterlegenen Partei in einer Ungleichgewichtslage: – Ein BIT mit einer Schiedsklausel statuiert unabhängig vom Recht des Investitionsstaates einklagbare Rechte für Investoren. Entsprechend können die Parteien einer Schiedsvereinbarung abweichend vom geltenden Kollisionsrecht grundsätzlich jenes Sachrecht vereinbaren, welches ihnen angemessen erscheint (vgl. Art. 28 Abs. 1 des UNCITRAL-Modellgesetzes)42. Dies mag ihnen zwar in der Theorie auch ohne eine Schiedsvereinbarung möglich sein. Im Schiedsverfahren können die Parteien aber zudem Schiedsrichter auswählen, welche mit dem gewählten Recht vertraut sind43. – Das BIT macht die Durchsetzung der gewählten Rechte unabhängig von der Qualität der Zivilgerichte des Investitionsstaates44. Entsprechendes gilt für die Parteien einer Schiedsvereinbarung hinsichtlich der Qualität der Zivilgerichte ihrer jeweiligen Sitzstaaten. Unabhängig von der Qualität deutscher Zivilgerichte ist dies zumindest als Möglichkeit zu begrüßen. b) Kaufmännische Schiedsgerichte Traditionsreich sind die kaufmännischen Schiedsgerichte und Schiedsgerichtsordnungen. Beispielsweise unterhält die Handelskammer Bremen das Wollschiedsgericht für Streitigkeiten aus dem Textilhandel, und sowohl der WarenVerein der Hamburger Börse e. V.45 als auch der Deutsche Kaffeeverband e. V. bieten eine Schiedsgerichtsordnung an. Bereits die Bezeichnungen sind indes Hinweis darauf, dass die entsprechende Schiedstätigkeit nicht für Verbraucher konzipiert ist. 2. Andere Bereiche a) Sportgerichtsbarkeit Soweit die Sportgerichtsbarkeit Streitigkeiten zwischen Vereinen regelt, befasst sie sich mit unternehmerischer Tätigkeit. Hinsichtlich der Sportgerichtsbarkeit für Streitigkeiten zwischen Vereinen und Spielern ist zunächst zu trennen zwischen der Schiedsgerichtsbarkeit im Sinne der §§ 1025 ff. ZPO (im Folgenden: Sportschiedsgerichtsbarkeit) und der internen Gerichtsbarkeit der
__________ 42 Zur Einschränkung der Rechtswahlfreiheit bei Verbraucherverträgen s. unten. 43 Zur Bedeutung eines mit dem gewählten Recht vertrauten Tribunals vgl. von Westphalen, Fallstricke bei Verträgen und Prozessen mit Auslandsberührung, NJW 1994, 2113 ff., 2116. 44 Zur Effizienz der BITs Wehland/Wagner, Unterschätzt die deutsche Wirtschaft die Wirksamkeit des völkerrechtlichen Investitionsschutzes?, SchiedsVZ 2006, 225 ff. 45 Insofern ist zu differenzieren zwischen einem Schiedsverfahren im vorliegend relevanten Sinn und der sogenannten Qualitätsarbitrage, die ihrerseits nur ein Schiedsgutachten darstellt – dazu Schwab/Walter, Kap. 2 Rz. 18 ff.
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Sportverbände (Verbandsgerichtsbarkeit). Letztere beruht auf der Vereinsautonomie gemäß § 25 BGB und Art. 9 Abs. 1 GG, ihr Verhältnis zur staatlichen Gerichtsbarkeit ist umstritten46. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs sollen Entscheidungen der Verbandsgerichtsbarkeit „nach den allgemeinen Vorschriften, das heißt in der Regel mit der Klage nach den §§ 253 ff. ZPO“ überprüfbar sein47. Damit sind Entscheidungen der Verbandsgerichtsbarkeit einer wesentlich umfassenderen gerichtlichen Prüfung ausgesetzt als „echte“ Schiedssprüche, welche nur nach Maßgabe des § 1059 ZPO angreifbar sind. Die Verbandsgerichtsbarkeit stellt sich somit als der staatlichen Gerichtsbarkeit untergeordnet dar. Der staatlichen Gerichtsbarkeit gleichgeordnet ist hingegen die Sportschiedsgerichtsbarkeit. Sie ist durchaus verbreitet, wobei indes die Bezeichnung als „Schiedsgericht“ an sich ein Entscheidungsgremium noch nicht zum Schiedsgericht im Sinne der §§ 1025 ff. ZPO macht48. Zwei Beispiele für „echte“ Schiedsgerichte sollen hier genügen: Ein Schiedsgericht im Sinne dieser Normen ist das Ständige Schiedsgericht für Vereine und Kapitalgesellschaften der Lizenzligen des DFB-Ligaverbands, welches über bestimmte Streitigkeiten zwischen dem Ligaverband und seinen Mitgliedern richtet49. Das Pendant für Streitigkeiten unter Beteiligung von Lizenzspielern ist das Ständige Schiedsgericht für Lizenzspieler50. Beide Schiedsgerichte sind der Verbandsgerichtsbarkeit übergeordnet und richten unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs. Das Verdikt von Lindemann, Schiedsgerichte nach §§ 1025 ff. ZPO seien „kaum geeignete Instrumente für die Sportgerichtsbarkeit“51, trifft somit weder der Sache nach zu noch spiegelt es die Rechtspraxis wider. Bei den von der Sportschiedsgerichtsbarkeit behandelten Streitigkeiten zwischen Vereinen und Sportlern könnte man an eine Ungleichgewichtslage denken, die gewisse Parallelen mit anderen Verhältnissen zwischen „strukturell stärkeren“ und „strukturell schwächeren“ Parteien aufweist52. Welche rechtlichen Konsequenzen hieran zu knüpfen sind, soll vorliegend nicht behandelt werden53. Festzuhalten ist, dass Schiedsvereinbarungen in Ungleichgewichtslagen auch in Deutschland möglich sind. Eine in Zukunft weitere Verbreitung bei der speziellen Ungleichgewichtslage in Verbraucherverträgen ist daher denkbar.
__________ 46 Dazu Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 25 BGB Rz. 34 ff. Zur Rechtsgrundlage ausführlich Monheim, Sportlerrechte und Sportgerichte im Lichte des Rechtsstaatsprinzips – auf dem Weg zu einem Bundessportgericht, München 2006. 47 BGH, NJW 2004, 2226 ff., 2227. 48 Zur Abgrenzung BGH, NJW 2004, 2226 ff., 2227. 49 Vgl. § 13 der Satzung des Ligaverbands, abrufbar unter http://www.bundesliga.de/ media/native/dfl/satzung/satzung_ligaverband_04-07-31_stand.pdf. 50 Muster-Schiedsvereinbarung abrufbar unter http://www.dfb.de/uploads/media/recht undverfahren.pdf. 51 Lindemann, Sportgerichtsbarkeit – Aufbau, Zugang, Verfahren, SpuRT 1994, 17 ff., 18. 52 Haas/Hauptmann, Schiedsvereinbarungen in „Ungleichgewichtslagen“ – am Beispiel des Sports, SchiedsVZ 2004, 175 ff. 53 Dazu Haas/Hauptmann (Fn. 52).
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b) Spezialregelungen Darüber hinaus sind Schiedsvereinbarungen von Gesetzes wegen für bestimmte Rechtsverhältnisse unter Beteiligung bestimmter Parteien untersagt. Bereits erwähnt wurden die §§ 2, 4 ArbGG, die zwar Schiedsvereinbarungen nicht explizit untersagen, aber individualarbeitsrechtliche Streitigkeiten zwingend an die (staatlichen) Arbeitsgerichte verweisen. Unwirksam sind sodann gemäß § 1030 Abs. 2 Satz 1 ZPO Schiedsvereinbarungen über Streitigkeiten aus Wohnraummietverträgen. In beiden Fällen können die jeweiligen Streitigkeiten daher unter keinen Umständen vor ein Schiedsgericht gebracht werden. Einen anderen Weg ist der Gesetzgeber bei Wertpapierstreitigkeiten gegangen. Laut § 37h WpHG sind Schiedsvereinbarungen über zukünftige Streitigkeiten aus bestimmten Wertpapiergeschäften nicht verbindlich, wenn nicht beide Vertragsparteien Kaufleute oder juristische Personen des öffentlichen Rechts sind. Der Gesetzgeber hat also auch hier eine Ungleichgewichtslage im Blick, knüpft aber an die (weitaus ältere) Differenzierung zwischen Kaufleuten und Nichtkaufleuten an – anders als übrigens die Rechtsprechung vor Einführung des § 37h WpHG54. Die Regelung führt nach wohl herrschender Meinung zu einer Einschränkung der subjektiven Schiedsfähigkeit55. Ein dennoch ergehender Schiedsspruch wäre daher stets gemäß § 1059 Abs. 2 Nr. 1a Var. 1 ZPO aufhebbar. Das deutsche Recht trifft damit für die Beilegung von Wertpapierstreitigkeiten eine grundlegend andere Entscheidung als das US-amerikanische. Andererseits sind Schiedsverfahren in solchen Streitigkeiten – anders als in den beiden oben erwähnten Fallgruppen – nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Es steht den Parteien vielmehr frei, im Zuge der Streitbeilegung eine Schiedsvereinbarung zu schließen: Denn § 37h WpHG bezieht sich eben nur auf zukünftige, nicht aber auf gegenwärtige Streitigkeiten. Die Regelung hat zu Recht Kritik erfahren56. In Anlehnung an den Titel dieser Festschrift lässt sich festhalten: § 37h WpHG ist hinsichtlich des Verbraucherschutzes unnötig, weil sich differenzierte Lösungen – statt eines pauschalen Verbots – auf der Basis des allgemeinen Zivilrechts finden lassen, wie im Folgenden gezeigt werden wird57. Und hinsichtlich der Vertragsfreiheit ist die Norm unerfreulich, weil sie eine national wie international geförderte Form der Streitbeilegung ohne Not dem Wirtschaftsverkehr vorenthält.
__________ 54 Rechtsprechung – und Literatur – betrachteten Privatanleger beim Abschluss von Finanztermingeschäften regelmäßig als Verbraucher gemäß § 13 BGB. Dazu Berger (Fn. 55), S. 79 m. w. N. 55 Zimmer in Schwark, 3. Aufl. 2004, § 37h WpHG Rz. 10; Jordans, Zur Europarechtswidrigkeit von § 37h WpHG, EuZW 2007, 655 ff., 655; Lehmann, Wertpapierhandel als schiedsfreie Zone? – Zur Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen nach § 37h WpHG, SchiedsVZ 2007, 219 ff., 221. Ebenso Berger, Schiedsgerichtsbarkeit und Finanztermingeschäfte – Der „Schutz“ der Anleger vor der Schiedsgerichtsbarkeit durch § 37h WpHG, ZBB 2003, 77 ff. 56 Exemplarisch Berger (Fn. 55) m. w. N. 57 S. unten V.
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IV. Grundsätze des deutschen Schiedsverfahrensrechts Aus der Notwendigkeit einer Schiedsvereinbarung folgt, dass staatliche Gerichtsverfahren rechtlich gesehen die Regel, Schiedsverfahren hingegen die Ausnahme sind. Inwieweit Verbraucher beim Abschluss von Schiedsvereinbarungen schutzbedürftig sind, ergibt sich daher in erster Linie aus einem Vergleich von Verfahren vor staatlichen Gerichten einerseits und Schiedsverfahren andererseits. Hinsichtlich der Einzelaspekte des Verfahrens bestehen viele Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, von denen hier nur die relevanten genannt und diskutiert werden sollen: Einbeziehung von Dritten: In Verfahren vor staatlichen Gerichten kann die Beteiligung von Dritten auf verschiedene Arten geschehen – über eine Drittwiderklage, eine Nebenintervention (oder mit demselben Ergebnis: eine Streitverkündung) oder eine Streitgenossenschaft. Da die Schiedsvereinbarung nur inter partes wirkt, stehen diese Möglichkeiten im Schiedsverfahren regelmäßig nicht zur Verfügung. Die Einbeziehung von Dritten ist grundsätzlich nur mit Zustimmung aller Beteiligten möglich58. Für den Verbraucher muss dies nicht unbedingt ein Nachteil sein. Er hat Gewissheit, sich nur mit dem Unternehmer auseinandersetzen zu müssen. Insbesondere muss er nicht die Streitverkündung des Unternehmers an dessen Lieferanten fürchten, die dem Unternehmer wegen § 478 BGB ansonsten grundsätzlich offenstünde59. Die Schiedsvereinbarung begünstigt somit weder den einen noch den anderen Vertragsteil, sodass trotz der grundsätzlichen Ungleichgewichtslage insofern kein rechtlicher Handlungsbedarf besteht. Kosten (Berechnung): Ebenso wie die Gerichtskosten werden die Kosten der Schiedsrichter häufig streitwertabhängig berechnet60. Gemäß dem „Textmuster für eine Vereinbarung über die Vergütung der Schiedsrichter“, herausgegeben vom DAV im Einvernehmen mit dem Deutschen Richterbund, erfolgt die Berechnung nach Maßgabe des RVG61. Unabhängig von der Höhe der Kosten ist daher zumindest die Berechnung nicht komplizierter als im staatlichen Verfahren, das Schiedsverfahren insofern also nicht weniger verbraucherfreundlich. Kosten (Höhe): Verbreitet ist die Ansicht, Schiedsverfahren zeichneten sich dadurch aus, dass sie kostengünstig seien62. Zumindest bei der derzeit
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58 Dazu Kleinschmidt, Die Widerklage gegen einen Dritten im Schiedsverfahren, SchiedsVZ 2006, 142 ff. 59 Lorenz in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 478 BGB Rz. 20. 60 Dies gilt insbesondere für die sogenannte Ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit und die Schiedsgerichtsbarkeit der DIS; dazu Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rz. 4673 ff. Nur zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass einige Schiedsordnungen eine Abrechnung auf Stundenbasis vorsehen, etwa jene der Londoner LCIA und der US-amerikanischen AAA. 61 Abrufbar unter http://anwaltverein.de/downloads/praxis/mustervertrag/Schiedsrich terverguetungDAV-DRiB.pdf. S. Lachmann (Fn. 60), Rz. 4674 ff. 62 Exemplarisch Semler, Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit in Schiedsverfahren, NJW 2009, 149 ff., 149; Gottwald/Adolphsen, Das neue deutsche Schiedsverfahrensrecht, DStR 1998, 1017 ff., 1017; BGH, NJW-RR 1991, 423 ff., 424.
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üblichen Ausgestaltung sind Schiedsverfahren zwar regelmäßig teurer als erstinstanzliche Verfahren vor staatlichen Gerichten63. Eine pauschale Antwort ist aber nicht möglich, denn die Kosten eines Schiedsverfahrens können stark variieren, unter anderem wegen der großen Freiräume bei der Ausgestaltung des Verfahrens. Bei Nutzung dieser Freiräume können die Parteien das Schiedsverfahren durchaus so gestalten, dass es kostengünstiger ist als ein Verfahren vor staatlichen Gerichten. Für einen auf typisierender Betrachtung beruhenden Verbraucherschutz besteht daher kein Anlass. Vielmehr ist zu prüfen, ob im Einzelfall die Ungleichgewichtslage eine für den Verbraucher nachteilige Ausgestaltung des Schiedsverfahrens bedingt hat. Diese Prüfung ist insbesondere im Rahmen der AGB-Kontrolle vorzunehmen64. Prozesskostenhilfe: Für die im Rahmen des Schiedsverfahrens entstehenden Kosten kann keine Prozesskostenhilfe gemäß §§ 114 ff. ZPO gewährt werden65. Ein vor einem Schiedsgericht klagender Verbraucher wird daher mit Kosten belastet, und zwar stets zunächst, und letztendlich nur dann nicht, wenn er in der Hauptsache obsiegt und § 91 ZPO Anwendung findet. Auch wird, anders als im staatlichen Verfahren, nicht das Kostenrisiko reduziert, indem der Beklagte seinerseits nach § 122 Abs. 2 ZPO von den Kosten teilweise freigestellt wird. Das aber muss für einen um Schadensersatz bemühten Verbraucher nicht nur nachteilig sein. Denn die Kosten des Schiedsverfahrens stellen auch für den potentiellen Beklagten ein Hindernis dar und können den Vergleichsdruck erhöhen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Verbraucher regelmäßig wirtschaftlich schwächer sind als Unternehmer und daher vom Wegfall der Prozesskostenhilfe stärker getroffen werden, führt dies indes nicht zwingend dazu, dass aufgrund der bestehenden Ungleichgewichtslage eine Schiedsvereinbarung per se aus Gründen des Verbraucherschutzes bedenklich wäre. Denn wie gezeigt können mit entsprechender Ausgestaltung die Kosten des Schiedsgerichtes niedrig gehalten werden, sodass der Mangel an Prozesskostenhilfe weniger ins Gewicht fällt. Und soweit die Prozesskosten durch Anwaltshonorare entstehen, besteht dank der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der aus ihr folgenden (begrenzten) Zulassung von Erfolgshonoraren ausreichend Spielraum, um auch wirtschaftlich schwachen Parteien Rechtsschutz zukommen zu lassen66. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit eines Erfolgshonorars die Prozesskostenhilfe nicht ersetzt67. Die vom Senat angeführte Argumentation verfängt aber nicht, solange auch das Erfolgshonorar unter die Kostenregelung des § 91 ZPO fällt: Dann nämlich muss auch eine finanziell schlechter gestellte Partei den
__________ 63 Umfangreicher Vergleich bei Lachmann (Fn. 60), Rz. 4682 ff. 64 S. unten V.4. 65 OLG Stuttgart, BauR 1983, 486 ff.; Motzer in MünchKomm.ZPO, § 114 ZPO Rz. 34; Philippi in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 114 ZPO Rz. 1. 66 BVerfG, NJW 2007, 979 ff. 67 BVerfG, NJW 2007, 979 ff., 981.
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Rechtsschutz nicht mit einem Teilverzicht der realisierten Forderung erkaufen68. Rechtsmittel: Der gerichtlichen Kontrolle eines Schiedsspruches sind wesentlich engere Grenzen gesetzt als jener eines staatlichen Gerichtsurteils. In Betracht kommt lediglich die Aufhebung; mögliche Gründe hierfür sind abschließend geregelt in § 1059 Abs. 2 ZPO. Kein Aufhebungsgrund ist insbesondere die inhaltliche Unrichtigkeit des Schiedsspruches, eine revision au fond findet nicht statt. Auch hier ist nicht ersichtlich, dass die eine oder andere Partei durch diese schiedsrechtliche Besonderheit benachteiligt würde. Sonstige Verfahrensgestaltung: Soweit das 10. Buch der ZPO Anwendung findet, steht den Parteien die Ausgestaltung des Verfahrens im Übrigen weitgehend frei (§ 1042 Abs. 3 ZPO). Möglich ist beispielsweise die Vereinbarung der Schiedsordnung einer Schiedsinstitution als Verfahrensordnung69. Die gesetzliche Prozessordnung erscheint daher als „(dispositive) Auffangordnung“ für die Parteien70. Einer einseitig vorteilhaften Verfahrensgestaltung steht dabei § 1042 Abs. 1 ZPO entgegen. Die Ungleichgewichtslage bei Verbraucherverträgen kann daher insofern nicht ausgenutzt werden. Verfahrensdauer: Schiedsverfahren können schneller zu einem Ergebnis kommen als staatliche Verfahren. Hierzu trägt auch, aber nicht nur der Fortfall weiterer Instanzen bei. Die Parteien eines Schiedsverfahrens haben ein besseres Druckmittel, um eine Beschleunigung des Verfahrens zu erwirken, als die Parteien des staatlichen Verfahrens: Sie können bei unangemessener Verfahrensdauer die Schiedsrichter wegen Verletzung des Schiedsrichtervertrages in Anspruch nehmen71. Dagegen ist der Rechtsschutz gegen die überlange Dauer eines gerichtlichen Verfahrens begrenzt und vom EGMR ausdrücklich als unzureichend bezeichnet worden72. Hinzu kommt, dass jedenfalls in Deutschland staatliche Gerichte einer hohen Arbeitsbelastung unterliegen: Allein im Jahr 2007 wurden über 1,6 Millionen neue Verfahren vor Zivilgerichten eingeleitet73. Hinsichtlich des Verbraucherschutzes ist eine kürzere Verfahrensdauer zu begrüßen, solange sie nicht auf Kosten der Qualität geht, ist doch zu befürchten, dass die Verfahrenslänge als Hemmschwelle gegen eine Klageerhebung wirkt. Verfahrensort: Die Parteien eines Schiedsverfahrens können den Schiedsort gemäß § 1043 Abs. 1 ZPO frei wählen. Allerdings findet das 10. Buch der ZPO gemäß § 1025 Abs. 1 ZPO nur Anwendung, wenn der Schiedsort in Deutschland liegt.
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68 S. unten V.4.d). 69 Zum Streit über die Verdrängung des nationalen Prozessrechts Schwab/Walter, Kap. 50 Rz. 2 ff. 70 Münch in MünchKomm.ZPO, § 1042 ZPO Rz. 8. 71 Schwab/Walter, Kap. 12 Rz. 9; wohl auch Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, vor § 1025 ZPO Rz. 16. 72 EGMR, NJW 2006, 2389 ff. 73 Information des Statistischen Bundesamts, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/ cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Rechtspflege/Gerichtsverfahren /Tabellen/Content75/Gerichtsverfahren.
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Insofern besteht bei Schiedsverfahren größerer Spielraum als bei staatlichen Verfahren, bei denen eine solch freie Wahl des Verfahrensortes gemäß § 38 ZPO nur bestimmten Personen oder nur unter bestimmten Bedingungen offensteht. Diese Norm findet auf Vereinbarungen des Schiedsortes keine Anwendung74. Ebensowenig findet die verbraucherschützende Vorschrift des Art. 16 EuGVVO Anwendung – gemäß Art. I II b EuGVVO sind Schiedsverfahren vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen75. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Wahl eines Schiedsortes andere Konsequenzen mit sich bringt als eine Gerichtsstandsvereinbarung. Neben der erwähnten Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit des 10. Buches bedingt die Wahl des Schiedsortes, – ob ein Schiedsspruch inländisch ist (vgl. §§ 1060, 1061 ZPO), und – welches Oberlandesgericht für die in § 1062 ZPO genannten Entscheidungen zuständig ist. Nicht erreichen lässt sich durch die Wahl des Schiedsortes insbesondere, dass Streitigkeiten einem als wohlgesonnen empfundenen Tribunal vorgelegt werden – anders als bei Gerichtsstandsvereinbarungen (oder -streitigkeiten), bei denen dies durchaus der Fall sein kann. Insofern könnte sich ein Schiedsverfahren sogar als verbraucherfreundlich darstellen, denn die Ungleichgewichtslage kann vom „überlegenen“ Unternehmer nicht ausgenutzt werden. Bedenken bestehen lediglich dann, wenn der Schiedsort so gewählt wird, dass er von einer Klageerhebung abschreckt76. Vollstreckbarkeit: Auch ein auf Leistung gerichteter Schiedsspruch muss von einem staatlichen Gericht für vollstreckbar erklärt werden, bevor er vollstreckt werden kann. Die Vollstreckbarerklärung ist allerdings gemäß § 1060 ZPO nur bei Vorliegen eines Aufhebungsgrundes zu verweigern, sodass sie häufig bloße Formalität ist. Eine Benachteiligung steht insofern nicht zu befürchten.
V. Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen Stehen damit zwingende Belange des Verbraucherschutzes der Vereinbarung von Schiedsverfahren grundsätzlich nicht entgegen, so stellt sich die Frage, ob innerhalb der großen Bandbreite möglicher Schiedsvereinbarungen nicht bestimmte Vereinbarungen als mit solchen Belangen unvereinbar erachtet werden müssen. Um die rechtliche Beurteilung auf eine sichere Grundlage zu stellen, ist zunächst eine Betrachtung der Folgen erforderlich, welche eine Unwirksamkeit einer Schiedsvereinbarung hätte: Nur so lässt sich die Abwägung zwischen Wirksamkeit und Unwirksamkeit sinnvoll treffen (1.). Sodann wird erläutert, in welchen Fällen die Wirksamkeit einer Schiedsklausel nach deutschem Recht zu beurteilen ist (2.). Schließlich werden möglich Gründe für
__________ 74 Münch in MünchKomm.ZPO, § 1043 ZPO Rz. 7. 75 Dazu Schlosser, ‚Brüssel I‘ und Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2009, 129 ff. 76 S. unten V.4.d).
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eine Unwirksamkeit dargestellt und diskutiert, und zwar sowohl allgemeine Unwirksamkeitsgründe (3.) als auch die Unwirksamkeit gemäß den §§ 305 ff. BGB (4.). 1. Rechtsfolge Ist die Schiedsvereinbarung hinsichtlich der Verweisung auf die Schiedsgerichtsbarkeit unwirksam77, hängen die Auswirkungen von den Umständen des Einzelfalls ab: – Hat eine der Parteien bereits Klage erhoben, und macht die andere Partei die Einrede der Schiedsvereinbarung geltend, so hängt der Erfolg der Einrede davon ab, dass die Schiedsvereinbarung weder nichtig noch unwirksam noch undurchführbar ist (§ 1032 Abs. 1 ZPO). Ist also ein Verbraucher Partei einer unwirksamen Schiedsvereinbarung, braucht er in einer Klage vor einem staatlichen Gericht die Einrede der Schiedsvereinbarung durch die Gegenseite nicht zu fürchten. – Wurde bereits ein Schiedsspruch erwirkt, so kann die Ungültigkeit der Schiedsvereinbarung gemäß § 1059 Abs. 2 Nr. 1a Var. 2 ZPO einen Aufhebungsantrag begründen. Dabei ist unabhängig von dem Status der Parteien grundsätzlich unerheblich, ob die Ungültigkeit schon im schiedsrichterlichen Verfahren gerügt wurde78. In jedem Fall unerheblich ist dies, wenn eine der Parteien Verbraucher ist und die Unwirksamkeit aus der Richtlinie 93/13 EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen folgt79. Wird der Schiedsspruch auf Grundlage von § 1059 Abs. 2 Nr. 1a Var. 2 ZPO aufgehoben, steht den Parteien der Weg zu den staatlichen Gerichten offen. § 1059 Abs. 5 ZPO findet insofern keine Anwendung, denn es fehlt ja bereits an einer wirksamen Schiedsvereinbarung, die „wiederaufleben“ könnte80. 2. Anwendbarkeit deutschen Rechts Damit eine Kontrolle der Schiedsvereinbarung auf ihre Vereinbarkeit mit deutschem Recht stattfinden kann, muss überhaupt erst deutsches Recht auf die Schiedsvereinbarung Anwendung finden. Hiervon sind zwei weitere Problemkreise abzugrenzen: – Schiedsvereinbarung und Hauptvertrag sind voneinander unabhängig. Das auf die Schiedsvereinbarung anwendbare Recht ist deshalb nicht zwangsläufig identisch mit dem auf den Hauptvertrag anwendbaren Recht. Art. 31
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77 Das Bestehen des Hauptvertrags ist hiervon wegen der Eigenständigkeit der Schiedsvereinbarung unberührt, auch § 139 BGB findet keine Anwendung (Schwab/Walter, Kap. 4 Rz. 16 ff.). Denkbar wäre zwar, den sonstigen Inhalt der Schiedsvereinbarung bestehen zu lassen, also beispielsweise die Vereinbarung eines Schiedsortes als Gerichtsstandsvereinbarung zu interpretieren. Bei einer Beteiligung von Verbrauchern wäre dies indes wegen § 38 Abs. 1 ZPO, wie erwähnt, nur begrenzt möglich. 78 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 68. Aufl. 2010, § 1059 ZPO Rz. 6. 79 EuGH, Elisa Maria Mostaza Claro v. Centro Móvil Milenium SL, Urteil v. 26.10. 2006. 80 So im Ergebnis auch Münch in MünchKomm.BGB, § 1059 BGB Rz. 77.
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EGBGB, der für die Bestimmung des für die Beurteilung der Wirksamkeit maßgeblichen Rechts das Bestehen des Vertrages fingiert, hilft daher nur bedingt weiter. – Das auf die Schiedsvereinbarung anwendbare Recht ist aber auch nicht zwangsläufig das Vertragsrecht jener Rechtsordnung, nach deren Verfahrensrecht das Schiedsverfahren stattfinden soll. Im Ergebnis können daher bis zu drei verschiedene Rechtsordnungen Anwendung finden: – eine zur Beurteilung des Hauptvertrags, – eine zweite zur Beurteilung der Schiedsvereinbarung – und eine dritte zur Regelung des Schiedsverfahrens. Entsprechend ist für jeden Problemkreis das anzuwendende Recht gesondert zu bestimmen. Maßgeblich ist dabei zunächst die Rechtswahl der Parteien. Hinsichtlich des auf die Schiedsvereinbarung anzuwendenden Rechts ergibt sich dies unter anderem im Umkehrschluss aus § 1059 Abs. 2 Nr. 1a ZPO. Ohne eine solche Rechtswahl findet laut dieser Norm auf die Schiedsvereinbarung deutsches Recht Anwendung. Folglich führt mangels einer Rechtswahlklausel für die Schiedsvereinbarung die Vereinbarung eines Schiedsortes in Deutschland zur Anwendung deutschen Vertragsrechts auf die Schiedsvereinbarung (aber nicht zwingend zur Anwendung deutschen Vertragsrechts auf den Hauptvertrag). Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die Rechtswahl der Parteien auch dann Priorität hat, wenn eine der Parteien Verbraucher ist. Dies könnte man bei der Anwendung von Art. 29 EGBGB verneinen. Zwar gibt es in Deutschland kein Rechtswahlverbot für Verbraucher (mehr)81. Laut Art. 29 EGBGB aber finden unabhängig von der Rechtswahl zwingende Normen des Verbraucherschutzes Anwendung. Es stellt sich daher die Frage, ob Art. 29 EGBGB auch für Schiedsvereinbarungen gilt und damit AGB-Schiedsklauseln in Verbraucherverträgen unabhängig von der Rechtswahl der Kontrolle durch deutsches AGB-Recht unterwirft82. Dies dürfte nicht der Fall sein. Art. 29 EGBGB bezieht sich auf den Hauptvertrag und die mit ihm verbundenen Finanzierungsgeschäfte. Vereinbarungen hinsichtlich der Streitbeilegung werden nicht genannt. Dies lässt sich mit der Entstehungsgeschichte erklären: Art. 29 EGBGB dient der Umsetzung des Art. 5 Abs. 2 des europäischen Übereinkommens über vertragliche Schuldverhältnisse (EVÜ), und Art. 1 Abs. 2d EVÜ sieht ausdrücklich vor, dass das Übereinkommen auf Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen nicht anwendbar sein soll83. Aus demselben Grund scheidet eine Anwendung deutschen AGB-Rechts über Art. 34 EGBGB aus.
__________ 81 Martiny in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2006, Art. 29 EGBGB Rz. 54. 82 Hiervon zu trennen ist die Frage, inwieweit Art. 29 EGBGB auf Klauseln zur Rechtswahl hinsichtlich des Hauptvertrags Anwendung findet; dazu s. unten. 83 Dazu s. den Bericht von Giuliano/Lagarde, BT-Drucks. 10/503, S. 43–44.
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Mithin steht es den Parteien frei, für die Schiedsvereinbarung ein anderes Recht als das deutsche für maßgeblich zu erklären, und zwar selbst wenn – der Schiedsort in Deutschland liegt und – eine der Parteien Verbraucher ist. Die folgenden Ausführungen zur Überprüfung von Schiedsvereinbarungen auf ihre Vereinbarkeit mit deutschem Recht gelten daher nur für Fälle, in denen die Parteien keine derartige Rechtswahl getroffen haben. 3. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Unabhängig davon, ob Schiedsvereinbarungen als Prozessverträge, als materiell-rechtliche Verträge oder als Mischform einzustufen sind84, gilt für sie grundsätzlich die Rechtsgeschäftslehre des BGB85, einschließlich der Unwirksamkeitsgründe. Eine Schiedsvereinbarung ist daher nichtig, wenn eine der Parteien geschäftsunfähig war (§ 105 BGB) oder die Vereinbarung wirksam angefochten wurde (§ 142 BGB). Hingegen bestehen keine grundlegenden Zweifel bezüglich der Sittenmäßigkeit von Schiedsvereinbarungen, wie dargestellt auch nicht unter der Berücksichtigung der spezifischen Ungleichgewichtslage bei Verbraucherverträgen, sodass die Anwendung von § 138 BGB nicht näher liegt als bei einem beliebigen anderen Vertrag: Da eine Schiedsvereinbarung grundsätzlich keine unangemessene Benachteiligung im Sinne des § 307 Abs. 1 BGB darstellt86, sind die strengeren Voraussetzungen des § 138 BGB87 erst recht nicht erfüllt. Andererseits gelten für Schiedsvereinbarungen Sonderregelungen – etwa der erwähnte § 37h WpHG –, die zur Unwirksamkeit einer Vereinbarung führen können. Zudem gelten bei Beteiligung von Verbrauchern gemäß § 1031 Abs. 5 ZPO besondere Formanforderungen: Die Schiedsvereinbarung muss in einer eigenständig unterzeichneten Urkunde enthalten sein, welche ihrerseits keine anderen Vereinbarungen enthalten darf als jene, die sich auf das Schiedsverfahren beziehen. Genügt die Schiedsvereinbarung diesem Formerfordernis nicht, ist sie gemäß § 125 BGB nichtig. Die hiermit verbundene Warnfunktion entkräftet Bedenken hinsichtlich der mit Schiedsverfahren stets verbundenen Besonderheiten und deren Vereinbarkeit mit dem Verbraucherschutz. Der beispielsweise vom „Consumer Due Process Protocol“ der US-amerikanischen AAA angestrebte Schutz wird daher insofern schon verwirklicht.
__________ 84 Übersicht über den Streitstand bei Schwab/Walter, Kap. 7 Rz. 37. 85 Münch in MünchKomm.ZPO, § 1029 ZPO Rz. 16. Vgl. auch Hanefeld/Wittinghofer, Schiedsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, SchiedsVZ 2005, 217 ff., 224. 86 S. unten V.4.c). Die Unwirksamkeit nach AGB-Recht stellt noch keinen Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot dar und bedingt somit auch nicht die Nichtigkeit; vgl. Kieninger in MünchKomm.BGB, vor §§ 305 ff. BGB Rz. 9. 87 Grüneberg in Palandt, 68. Aufl. 2009, vor § 307 BGB Rz. 16.
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4. Schiedsvereinbarung als AGB Eine Schiedsvereinbarung kann nicht nur als Individualabrede, sondern auch im Rahmen von AGB vereinbart werden. Tatsächlich werden Schiedsvereinbarungen, insbesondere im Bereich der institutionellen Schiedsgerichtsbarkeit, oftmals vorformulierte Klauseln sein, welche von der jeweiligen Schiedsinstitution empfohlen wurden. Die Annahme von AGB liegt dann nahe88, denn für AGB ist es nicht erforderlich, dass der Verwender die Bedingungen selbst vorformuliert hat89. Dieses tendenziell weite Verständnis von AGB ist insofern für die Rechtsanwendung von Vorteil, als sich auf Grundlage der §§ 305 ff. BGB differenzierte Lösungen finden und, anders als grundsätzlich nach § 139 BGB, Verträge mit dem gültigen (Rest-)Inhalt aufrechterhalten lassen. a) Schiedsvereinbarung als überraschende Klausel – § 305c BGB Gemäß § 305c Abs. 1 BGB wird eine Schiedsklausel nicht Vertragsbestandteil, wenn sie überraschend ist. Dies wird zumindest im unternehmerischen Verkehr nur in Ausnahmefällen gegeben sein90. Anders mag es bei Verbraucherverträgen aussehen. Ob die tatsächliche Nutzung von Schiedsklauseln in Verbraucherverträgen einem Überraschungseffekt entgegensteht, kann hier dahingestellt sein91. Denn, wie erwähnt, ist die Einbeziehung von Schiedsklauseln in Verbraucherverträge gemäß § 1031 Abs. 5 ZPO an das Erfordernis einer eigenhändigen Unterzeichnung gebunden. Damit ist zwar immer noch eine Einbeziehung als AGB möglich92, denn auch eigenhändig unterzeichnete Urkunden können für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Bedingungen enthalten. Mit der Unterzeichnung ist aber eine gewisse Warnfunktion verbunden. Deshalb kann von einer überraschenden Klausel in der Regel nicht ausgegangen werden93. b) Eröffnung der Inhaltskontrolle – § 307 Abs. 3 BGB Für eine inhaltliche Kontrolle der Schiedsklausel auf Vereinbarkeit mit AGBRecht müssten zunächst die Voraussetzungen des § 307 Abs. 3 BGB vorliegen. Die Schiedsklausel müsste also eine von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelung sein. Daran könnte insofern gezweifelt werden, als die Möglichkeit, Schiedsverfahren statt staatlicher Verfahren durchzuführen,
__________ 88 So auch Wagner/Quinke, Ein Rechtsrahmen für die Verbraucherschiedsgerichtsbarkeit, JZ 2005, 932 ff., 934. 89 Basedow in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 305 BGB Rz. 14. 90 Hanefeld/Wittinghofer, Schiedsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, SchiedsVZ 2005, 217 ff., 222. 91 So Wagner/Quinke, Ein Rechtsrahmen für die Verbraucherschiedsgerichtsbarkeit, JZ 2005, 932 ff., 934. 92 Anders aber Wagner, Prozessverträge, Tübingen 1998, S. 135: „Im Rechtsverkehr mit dem Verbraucher wird die formularmäßige Vereinbarung einer Schiedsklausel seit jeher praktisch unmöglich gemacht“. 93 BGH, NJW 2005, 1125 ff., 1126.
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im Gesetz ja ausdrücklich vorgesehen ist – eben im 10. Buch der ZPO. Eine die Rechtsvorschriften ergänzende Regelung könnte aber auch in einer AGB zu sehen sein, die von der Erlaubnis einer gesetzlichen (Spezial-)Vorschrift Gebrauch macht, von der gesetzlichen Grundregel abzuweichen94. Gerade dies ist bei Schiedsvereinbarungen der Fall. Daher sieht die Rechtsprechung bei Schiedsklauseln in AGB die Inhaltskontrolle als eröffnet an95. Dagegen ist von der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht eindeutig geklärt worden, ob § 1031 Abs. 5 ZPO auch die Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB ausschließt96. Dies dürfte zumindest in dieser Pauschalität zu verneinen sein. Denn der Gesetzgeber hat in § 309 Nr. 11 und 12 BGB ausschließlich bestimmte Klauseln vom eigentlich geltenden Verbot freigestellt, sofern eine separate Unterzeichnung vorliegt. Im Umkehrschluss ist eine Unterzeichnung wie nach § 1031 Abs. 5 ZPO für alle übrigen Klauselverbote unerheblich. Sie ist allerdings bei der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 BGB zu berücksichtigen. Dafür liefert § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB den erforderlichen Anknüpfungspunkt, denn die Norm gilt nach herrschender Meinung auch für Umstände, welche die Unwirksamkeitskontrolle zu Lasten des Verbrauchers beeinflussen können97. Es ist daher anhand des Einzelfalls zu beurteilen, inwieweit die Unterzeichnung zur Angemessenheit der Schiedsklausel beiträgt98. Darüber hinaus dürfte § 1031 Abs. 5 ZPO dazu führen, dass die Einbeziehung der AGB-Schiedsklausel nicht an § 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB scheitert. c) Mit Grundgedanke der disponierten Regelung nicht vereinbar – § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB Damit bleibt die Frage, ob die Verwendung einer Schiedsklausel in AGB eine unangemessene Benachteiligung entgegen den Geboten von Treu und Glauben gemäß § 307 BGB darstellt. aa) Von welchen Regelungen wird abgewichen? Beachtlich ist dabei das Regelbeispiel aus § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Die gesetzliche Regelung, von der abgewichen werden kann, ist zunächst das 10. Buch der ZPO99. Darüber hinaus kann § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB einen Vergleich mit dem staatlichen Verfahren gebieten, wenn die Vereinbarung des Schiedsverfahrens (und nicht nur seine Ausgestaltung) durch AGB erfolgt. In diesem Fall ist die gesetzliche Regelung, von der durch AGB abgewichen wird, das staatliche Verfahren. Von dessen Grundgedanken darf die Schiedsvereinbarung daher ebenfalls nicht abweichen, andernfalls ist sie unwirksam.
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94 Kieninger in MünchKomm.BGB, § 307 BGB Rz. 10; ebenso Hau in Wolf/Lindacher/ Pfeiffer, 5. Aufl. 2009, S. 1764. 95 Exemplarisch BGH, BB 1992, 229 ff.; OLG Düsseldorf, NJW 1996, 400 ff. 96 Bewusst offengelassen in BGH, SchiedsVZ 2007, 163 ff. 97 OLG Frankfurt, NJW-RR 2001, 780 ff.; Kieninger in MünchKomm.BGB, § 310 BGB Rz. 75 m. w. N.; Grüneberg in Palandt, § 310 BGB Rz. 21 m. w. N. 98 Ähnlich Kieninger in MünchKomm.BGB, § 307 BGB Rz. 286. 99 Hau in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, S. 1769.
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Dies wirkt sich vor allem dann aus, wenn der Schiedsspruch aufgehoben werden soll (siehe oben). Wäre die Schiedsklausel individualvertraglich vereinbart, so würde eine Abweichung von der gesetzlichen Regelung (oder der Parteivereinbarung) zur Aufhebbarkeit führen, wenn die Abweichung sich auf den Schiedsspruch ausgewirkt hätte (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1d ZPO). Hingegen könnte bei einer Schiedsklausel in AGB, unabhängig von den Auswirkungen auf den Schiedsspruch, eine Abweichung vom Grundgedanken der Regelung zur Unwirksamkeit und damit zur Aufhebbarkeit nach § 1059 Abs. 2 Nr. 1a ZPO führen. Die zivilprozessrechtlichen Regelungen, die im Rahmen des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB heranzuziehen sind, sind die der ZPO, wenn ein deutscher Verbraucher beteiligt ist. Denn soweit ein deutscher Verbraucher in einem (hypothetischen) Verfahren Beklagter wäre, wäre zumindest ein europäischer Unternehmer auf die deutschen Gerichte verwiesen (Art. 16 Abs. 2 EuGVVO). Und ein klagewilliger deutscher Verbraucher könnte zumindest gegen einen europäischen Unternehmer vor deutschen Gerichten Klage einreichen (Art. 16 Abs. 1 EuGVVO). bb) Schiedsvereinbarung an sich als wesentliche Abweichung In der Schiedsvereinbarung an sich, also dem Ob, ist eine solche Abweichung allerdings nicht zu sehen. Zwar sollen nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht Schiedsklauseln in AGB nur zulässig sein, wenn auf Seiten des Verwenders anerkennenswerte Gründe vorliegen würden (die im Verkehr mit Verbrauchern in der Regel nicht gegeben seien). Denn Schiedsvereinbarungen würden den Zugang zu den staatlichen Gerichten ausschließen und deshalb den Rechtsschutz beschränken100. Diese Folgerung erscheint aus zwei Gründen zweifelhaft. Zum einen müssen auch Schiedsverfahren rechtsstaatlichen Anforderungen genügen – etwa der Gewährung rechtlichen Gehörs, dessen Verweigerung durch das Schiedsgericht einen Aufhebungsgrund darstellt (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1b ZPO). Dem Rechtsschutzbedürfnis ist daher Genüge getan. Zum zweiten lässt sich, wie gezeigt, eine Beschränkung des Rechtsschutzes ohne Ansehen des im Einzelfall vereinbarten Schiedsverfahrens nicht konstatieren. Vereinbaren die Parteien beispielsweise, das Schiedsverfahren gemäß den Verfahrensregeln der ZPO durchzuführen, kann kaum von einer „Beschränkung“ die Rede sein. Der Wegfall des Instanzenzugs allein wird keine „Beschränkung“ darstellen, wenn (im Idealfall) das Verfahren von sachkundigen Schiedsrichtern abgewickelt wird101. Und selbst ohne eine solche Vereinbarung kann das Schiedsgericht auf
__________ 100 Roloff in Erman, 12. Aufl. 2008, § 307 BGB Rz. 155; s. auch die Literaturhinweise bei Hau in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, S. 1766 Fn. 6. 101 Darauf, dass die Kompetenz von Schiedsrichtern nicht als selbstverständlich angenommen werden kann, weist indes von Westphalen hin – „Abgrundtiefes Misstrauen gegen die Justiz“, ZIP 1995, 175.
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die in der ZPO statuierten Regeln zurückgreifen, und zwar auf dem Wege der Auslegung der Schiedsvereinbarung102. Es ist daher dem BGH vorbehaltlos zuzustimmen, dass „ein besonderes Bedürfnis für die Einsetzung eines Schiedsgerichts seitens des Verwenders nicht vorliegen“ muss. Deshalb stellt eine „in Allgemeinen Geschäftsbedingungen niedergelegte Schiedsvereinbarung (…) als solche keine unangemessene Benachteiligung (…) des Vertragspartners dar“103. Eine Unwirksamkeit nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB kann daher nur aus der Ausgestaltung des Schiedsverfahrens folgen. Begünstigen solche Abweichungen den Verwender bereits formell – etwa ein einseitiger antizipierter Beweismittelverzicht des Verbrauchers oder eine einseitige Begrenzung der Anzahl der Schriftsätze – muss indes nicht die AGBrechtliche Inhaltskontrolle bemüht werden. Denn eine derartige Preisgabe der Waffengleichheit im Prozess und/oder des Rechts auf rechtliches Gehör steht, wie erwähnt, gemäß § 1042 Abs. 1 ZPO nicht zur Disposition der Parteien104. d) Sonstige Inhaltskontrolle – §§ 309, 308, 307 Abs. 1 BGB Der Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle beschränkt sich mithin auf Fälle, in denen Regelungen zu einer faktischen Besserstellung des Verwenders führen, indem sie etwa dem Verbraucher das Verfahren erschweren oder unattraktiv erscheinen lassen. Insbesondere folgende Ausgestaltungen sind von Interesse: Anwaltszwang: Bei allen Vorzügen anwaltlicher Beratung ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Anwaltszwang im Verfahren insgesamt die Kostenlast erhöht. Für die Parteien stellt sich dies vorrangig als Kostenrisiko dar: Die unterlegene Partei trägt das Risiko, auch mit den Anwaltskosten der Gegenpartei belastet zu werden, jedenfalls soweit diese von dem prozessrechtlichen Kostenerstattungsanspruch aus § 91 ZPO abgedeckt sind105. Dieses Risiko ist im Einzelnen abhängig von den Erfolgsaussichten der Sache der jeweiligen Partei. Das Kostenrisiko führt möglicherweise zu einer subjektiven Zurückhaltung, es auf einen Prozess ankommen zu lassen. Diese Sorge dürfte umso geringer sein, je besser die Vermögensverhältnisse der jeweiligen Partei sind. Nun wird man indes nicht pauschal formulieren können, dass die Vermögensverhältnisse von Unternehmern generell besser sind als jene von Verbrauchern; auch die typisierende Betrachtung dürfte hier an ihre Grenzen stoßen. Überdies finden
__________ 102 Schiedsgericht Handelskammer Hamburg, NJW 1997, 613 ff. 103 BGH, MittBayNot 2007, 312 ff., 313. 104 Auch soweit die Parteien disponieren können, müssen Abweichungen für beide gleichermaßen gelten: So schon Wagner, Prozessverträge, Tübingen 1998, S. 154. 105 Die Pflicht der unterlegenen Partei zur Erstattung von Anwaltskosten beschränkt sich auf erforderliche Kosten. Nicht als erforderlich angesehen werden insbesondere Anwaltshonorare, soweit sie über die im RVG statuierten Sätze hinausgehen; dazu Giebel in MünchKomm.ZPO, § 91 ZPO Rz. 49.
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die konkreten Vermögensverhältnisse des AGB-Verwenders und seines Vertragspartners bei der Interessenabwägung im Rahmen einer AGB-Kontrolle keine Berücksichtigung106. Das Kostenrisiko führt daher nicht etwa zu einer einseitigen Benachteiligung des Klägers, denn auch der Beklagte wird ihm im Anwaltsprozess ausgesetzt. Das Kostenrisiko könnte aber die Bereitschaft reduzieren, eine Klage einzureichen. Statistische Erhebungen der EU-Kommission haben ergeben, dass das Kostenrisiko ein bedeutender Grund ist, auf gerichtlichen Rechtsschutz zu verzichten107. Auch dies trifft zwar grundsätzlich beide Vertragsparteien und scheint daher auf den ersten Blick nicht verbraucherfeindlich. Indes wird die (potentiell vom Unternehmer einzuklagende) Leistung des Verbrauchers regelmäßig in einer bloßen Zahlungspflicht bestehen. Insofern kann sich der Unternehmer schon bei Vertragsschluss absichern, indem er eine Vorleistungspflicht aushandelt. Dieser Weg steht Verbrauchern beispielsweise bei Kaufverträgen nicht offen, denn der Leistungs-(=Sach-)mangel, der die einzuklagenden Gewährleistungsrechte auslöst, mag sich erst einige Zeit nach der Leistungsabwicklung zeigen. Es ist daher möglich, dass Klagehindernisse grundsätzlich eher dem Unternehmer zugute kommen als dem Verbraucher. Folglich kann eine Klausel unwirksam sein, die auch für Verfahren mit geringem Streitwert Anwaltszwang vorsieht. Hingegen ist eine Klausel, die hinsichtlich des Anwaltszwangs die Konzeption des § 23 GVG i. V. m. § 78 ZPO übernimmt, schon gemäß § 307 Abs. 3 BGB unbedenklich. Berechtigung zum Schiedsverfahren: Hinsichtlich der Berechtigung, das Schiedsverfahren einzuleiten, ist eine formelle Gleichstellung der Parteien nicht erforderlich. Es stellt daher an sich noch keine unangemessene Benachteiligung dar, wenn die Schiedsklausel nur einer Partei ein Wahlrecht zugesteht (wie beispielsweise gemäß der gesetzlichen Regelung für Wertpapierhandel in den USA)108. Teilweise lässt sich dies bereits aus dem Postulat einer Gleichwertigkeit von staatlichem Gerichts- und Schiedsverfahren herleiten: Ein einseitiges Wahlrecht kann keine Benachteiligung darstellen, wenn keine der zur Wahl stehenden Optionen die Gegenpartei benachteiligt. Kostenerstattung: Entsprechend lässt sich im Zusammenhang mit Klauseln argumentieren, welche die Kostenerstattung abweichend von § 91 Abs. 1 ZPO regeln, also beispielsweise jede Partei unabhängig vom Verfahrensausgang die eigenen Kosten tragen lassen. Derartige Klauseln reduzieren das Kostenrisiko, erhöhen aber die Fixkosten. Sie können auf potentielle Kläger abschreckend wirken und damit den Zugang zum Rechtsschutz beschränken. Insbesondere haben derartige Klauseln zur Folge, dass Klagen, deren Streitwert unterhalb der Kosten liegt, wirtschaftlich sinnlos sind. Im US-amerikanischen System wird
__________ 106 Vgl. die Aufzählungen bei Kieninger in MünchKomm.BGB, § 307 BGB Rz. 33 ff.; Heinrichs in Palandt, § 307 BGB Rz. 8. 107 Exemplarisch die Studie „Evaluation of the effectiveness and efficiency of collective redress mechanisms in the European Union“ der EG-Kommission, dort u. a. S. 47. 108 BGH, NJW 1992, 575 ff., 576.
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dies durch die Möglichkeit kompensiert, Erfolgshonorare zu vereinbaren, wodurch die unterliegende Partei zumindest nicht mit den Anwaltskosten belastet wird. Nach deutschem Recht sind derartige Vereinbarungen allerdings gemäß § 4a RVG, § 49b Abs. 2 BRAO grundsätzlich unzulässig. Aus der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich nichts Gegenteiliges herleiten. Denn soweit das Gericht das Fehlen von Ausnahmetatbeständen bemängelt, bezieht es sich auf Fälle, in denen dem Einzelnen der Rechtsschutz aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage verwehrt wird109. Eine Zulassung von Erfolgshonoraren für Fälle, in denen die Rechtsverfolgungskosten den Streitwert übersteigen würden, fordert das Gericht nicht. Man wird daher von § 91 ZPO abweichende Regelungen zur Kostenerstattung als unangemessen und unwirksam einzustufen haben. Kostenhöhe: Wiederum Entsprechendes gilt hinsichtlich der Kostenhöhe. Diese ist in den USA einer der Hauptkritikpunkte an Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen110. Generell sind Verfahrensgestaltungen, welche die Kosten über das erforderliche Maß erhöhen, kritisch zu betrachten, wie es auch die AAA in ihrem „Consumer Due Process Protocol“ erkannt hat. Drei Beispiele seien hier genannt: – Zwar steht es den Parteien frei, die Vergütung der Schiedsrichter nach ihrem Ermessen zu regeln. Eine höhere Vergütung dürfte aber nur bis zu einer gewissen Grenze für ein Mehr an Qualität sorgen, und deshalb nur in gewissem Maße erforderlich sein. Als Vergleichsmaßstab bietet sich insofern das bereits erwähnte „Textmuster für eine Vereinbarung über die Vergütung der Schiedsrichter“ des DAV an. – Auch die Anzahl der Schiedsrichter kann von den Parteien vereinbart werden (§ 1034 ZPO). Es stellt sich aber die Frage, ob die Bestellung von mehr als einem Schiedsrichter erforderlich ist, zumal in einfachen Fragen des Gewährleistungsrechts. Das staatliche Verfahren als Vergleichsmaßstab für die Abweichung von der gesetzlichen Norm kommt regelmäßig mit einem Einzelrichter aus. Eine Klausel, welche drei Schiedsrichter vorsieht, ist allerdings noch nicht an sich bedenklich: Die Anzahl der Schiedsrichter ist insofern ein Sonderfall, als die gesetzliche Standardregelung für Schiedsverfahren selbst drei Schiedsrichter vorsieht (§ 1034 Abs. 1 ZPO). Allerdings wird eine besonders großzügige Kostenregelung mit steigender Anzahl der Schiedsrichter bedenklicher. – Eine genauere Betrachtung erfordern schließlich Klauseln, welche das Verfahren der Betreuung durch eine Schiedsinstitution unterwerfen. Derartige Institutionen haben häufig einen Sockelbetrag, den die Kosten unabhängig vom Streitwert nicht unterschreiten. In den USA zielt die Kritik hauptsächlich auf die Kosten institutioneller Schiedsgerichtsbarkeit111. Insbesondere
__________ 109 BVerfG, NJW 2007, 979 ff., 983 f. 110 Public Citizen (Fn. 35), S. 34 ff. 111 Public Citizen (Fn. 35), S. 34 ff.
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für absehbar geringwertige Streitigkeiten dürfte das Einschalten einer Schiedsinstitution nicht erforderlich sein112. Rechtswahl: Scharf zu trennen von der oben angesprochenen Wirksamkeit von Rechtswahlklauseln bezüglich der Schiedsvereinbarung ist die Wirksamkeit von Rechtswahlklauseln hinsichtlich des Hauptvertrags. Die Frage nach dem Verhältnis von Art. 27 ff. EGBGB und § 1051 ZPO ist als eines der „ungeklärten Probleme der Schiedsverfahrensrechts-Reform von 1997“ bezeichnet worden113 und ist in hohem Maße umstritten114. Dabei sprechen die besseren Argumente für eine unbeschränkte Rechtswahl. Entscheidend ist zwar nicht, dass eine Einschränkung der Wahlfreiheit mit dem Ziel unvereinbar sei, Deutschland als Schiedsort zu stärken und daher eine einfache und überschaubare Regelung zu treffen115. Eine solche Unvereinbarkeit führt lediglich dazu, dass zwischen Wahlfreiheit und Verbraucherschutz eine Abwägung zu treffen ist. Dies aber hat der Gesetzgeber mit § 1051 Abs. 1 ZPO getan: Nicht nur ist diese Norm neueren Datums als die Art. 27 ff. EGBGB. Sie statuiert auch, dass sich die Rechtswahl durchaus auf Kollisionsnormen beziehen kann (argumentum e contrario Satz 2), also beispielsweise die Vorschriften des EGBGB durch eine entsprechende Verweisung abbedungen werden können. Verfahrensort: Der Verfahrensort ist nicht mit dem Schiedsort identisch, sondern vielmehr der Ort, an dem die Verhandlung tatsächlich stattfindet. Da § 38 ZPO im Schiedsverfahren keine Anwendung findet, gilt auch nicht der Umkehrschluss, dass eine vom gesetzlichen Gerichtsstand abweichende Wahl des Verfahrensortes bei Beteiligung von Verbrauchern generell unzulässig wäre116. Andererseits unterliegen sogar Gerichtsstandsklauseln von Kaufleuten der AGB-Kontrolle nach §§ 305c, 307 BGB117. Nichts anderes kann daher für die Wahl des Verfahrensortes bei Beteiligung von Verbrauchern gelten. Eine Unwirksamkeit nach § 305c BGB kommt zwar, wie gezeigt, nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die Wahl des Verfahrensortes ist indes unwirksam, wenn sie unangemessen ist, und zwar nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB oder nach § 307
__________ 112 So im Ergebnis auch LG Düsseldorf, NJW-RR 2008, 441 ff., das allerdings die Unwirksamkeit aufgrund des Überraschungseffekts einer derartigen Klausel über § 305c BGB erreicht. 113 Junker, Deutsche Schiedsgerichte und internationales Privatrecht (§ 1051 ZPO), in FS Sandrock zum 70. Geburtstag, S. 443 ff., 450. Dies darf indes nicht verwechselt werden mit der Frage, ob die Art. 27 ff. EGBGB auch im Rahmen des § 1051 Abs. 2 ZPO, also in Ermangelung einer Rechtswahl, Anwendung finden. 114 Für unbeschränkte Rechtswahl exemplarisch BT-Drucks. 13/5274, S. 52; vgl. auch Junker (Fn. 113), S. 456. Voit in Musielak, 7. Aufl. 2009, § 1051 ZPO Rz. 3 (mit umfangreichen weiteren Nachweisen). Dagegen aber Geimer in Zöller, § 1051 ZPO Rz. 3; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 1051 ZPO Rz. 2; Münch in MünchKomm.ZPO, § 1051 ZPO Rz. 16 ff. (mit umfangreichen weiteren Nachweisen). 115 Voit in Musielak, § 1051 ZPO Rz. 3. 116 Wie hier wohl Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Übersicht § 38 ZPO Rz. 2. 117 Patzina in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 38 ZPO Rz. 22.
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Abs. 1 BGB – beispielsweise wenn der designierte Verfahrensort die Anreise erheblich erschwert und somit ein Versäumnisurteil gegen den klagenden Verbraucher nach § 330 ZPO wahrscheinlicher wird. Auch dem Bestreben nach einer „reasonable convenient location“ für Verbraucherschiedsverfahren (wie etwa jenem der AAA) kann daher mittels der Inhaltskontrolle genügt werden. Verfahrenssprache: Auch bei der Verfahrenssprache wirkt sich das Formerfordernis gemäß § 1031 Abs. 5 ZPO aus, denn aufgrund der Warnfunktion dieser Norm dürfte auch eine „exotische“ Verfahrenssprache kaum als überraschend anzusehen sein. Eine entsprechende Klausel kann aber durchaus den Verbraucher unangemessen benachteiligen, selbst wenn „nur“ Englisch als Verfahrenssprache vereinbart wird. Während im Geschäftsverkehr die englische Sprache verbreitet ist und daher Unternehmer an ihre Benutzung gewohnt sein mögen, dürften Verbraucher tendenziell weniger in der Lage sein, einen ganzen Prozess auf Englisch zu führen. Damit erschwert die Wahl einer anderen Verfahrenssprache als Deutsch den Zugang zum Rechtsschutz. Auch wird man die Verbraucher nicht darauf verweisen können, dass sie auf anwaltliche Hilfe zurückgreifen können. Denn zum einen wird auch nicht jeder Anwalt zur Prozessführung auf Englisch fähig sein, zum anderen würde so ein quasi „faktischer“ Anwaltszwang geschaffen, welcher aus den genannten Gründen für geringwertige Verfahren unangemessen ist.
VI. Zusammenfassung Trotz in manchen Aspekten ähnlichen rechtlichen Voraussetzungen stellt sich die Lage hinsichtlich der Verbreitung von Schiedsklauseln in Ungleichgewichtslagen in Deutschland erheblich weniger gewichtig dar als in den USA. Das Schiedsverfahren mag vom Gesetzgeber als vollwertige Alternative zum Verfahren vor staatlichen Gerichten konzipiert sein, eine echte Konkurrenz ist es in den vorliegend interessierenden Fallgestaltungen in tatsächlicher Hinsicht (noch) nicht. Es kann dahingestellt bleiben, ob auf diese mangelnde Verbreitung zurückzuführen ist, dass sich die Rechtsprechung bislang auch kaum mit dem Missbrauch von Schiedsklauseln befassen musste, also dem Ausnutzen der Ungleichgewichtslage zur Verschlechterung des Rechtsschutzes. Nutzt die „strukturell stärkere“ Partei die Vertragsfreiheit zur Benachteiligung der Gegenseite aus, so muss selbstverständlich im Sinne des Verbraucherschutzes gegengesteuert werden. Es stehen aber ausreichend Rechtsbehelfe zur Verfügung, um im Einzelfall Verbraucherinteressen vor unangemessener Benachteiligung durch Schiedsvereinbarungen zu schützen. Reformbestrebungen wie in den USA, wo das Pendel derzeit umso stärker in die andere Richtung, nämlich bis hin zu Vorschlägen eines vollständigen Verbots von Schiedsvereinbarungen in Verbraucherverträgen ausschlägt, sind daher unnötig. Soweit deutsches Recht Anwendung findet, sind Verbraucher hinreichend geschützt. Missstände, wie sie derzeit in den USA kritisiert werden, lassen sich durch entsprechende Vertragsgestaltung verhindern und auf der 107
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Grundlage geltenden Rechts bekämpfen. Dies ist einem pauschalen Verbot allemal vorzuziehen. Denn Schiedsverfahren können durchaus Vorteile mit sich bringen, auch für üblicherweise „strukturell schwächere“ Parteien. Gegenüber den schematisierten Rechtsbehelfen der staatlichen Gerichtsbarkeit bleibt den Parteien großer Spielraum bei der Ausgestaltung des Verfahrens. Und in Zeiten chronisch überlasteter Gerichte kommt eine überschaubare Verfahrensdauer gerade Verbrauchern zugute, die beispielsweise Gewährleistungsrechte durchsetzen wollen.
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Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das für die Auslegung von Schiedsklauseln maßgebliche Recht 1. Das Autonomieprinzip 2. Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland a) Art. 27 ff. EGBGB oder Sonderkollisionsrecht? b) Primäres Anknüpfungskriterium: Der Parteiwille aa) Ausdrückliche Rechtswahl bb) Stillschweigende Rechtswahl c) Sekundäres Anknüpfungskriterium: deutsches Recht
III. Die Auslegung von Schiedsklauseln nach deutschem Recht 1. Das Prinzip der weiten Auslegung 2. Ausgewählte Fragestellungen a) Enge und weite Schiedsklauseln b) Ansprüche wegen Unterkapitalisierung und Insolvenzverursachung c) Markenrechtlicher Unterlassungsanspruch bei nichtigem Lizenzvertrag IV. Ausblick
I. Einführung In der Praxis der Schiedsgerichtsbarkeit – in der sich ja auch der Jubilar als Schiedsrichter und Parteivertreter verdient gemacht hat – kommt es immer wieder zu Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Auslegung von Schiedsvereinbarungen. Solche Fragen betreffen üblicherweise die gegenständliche Reichweite der Schiedsvereinbarung, also die Bestimmung der von ihr erfassten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse. Durch Auslegung der Schiedsvereinbarung kann aber etwa auch zu ermitteln sein, ob sich die Parteien auf die Durchführung eines Mehrparteienschiedsverfahrens geeinigt haben1. Derartige Auslegungsprobleme können sich in jedem Verfahrensstadium stellen, d. h. nicht nur dem Einrederichter (§ 1032 ZPO) oder dem Schiedsrichter (§ 1040 ZPO), sondern auch dem Aufhebungsrichter (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und lit. c ZPO) und dem Anerkennungsrichter (§ 1061 ZPO), wenn jeweils über das Bestehen und die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung zu entscheiden ist. Nicht zuletzt sind auch die Schiedsparteien (und ihre Anwälte) betroffen, wenn zu bestimmen ist, ob Klage vor dem Schiedsgericht oder dem staatlichen Gericht oder – aus anwaltlicher Vorsicht – gar vor beiden zu erheben ist.
__________ * Der Autor dankt Rechtsanwalt Dr. Nicholas Kessler für seine wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags. 1 OLG Frankfurt, SchiedsVZ 2006, 219, 222; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 10 Rz. 15.
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Vielfach beruhen solche Schwierigkeiten auf einem mangelnden Problembewusstsein. Es werden Standardklauseln verwendet, ohne auf die Besonderheiten und die Interessenlagen des konkreten Falles Rücksicht zu nehmen. Außerdem widmen die Parteien Schiedsklauseln oft nur geringe Aufmerksamkeit, sei es aufgrund zu großer Erschöpfung am Ende eines mühsamen Verhandlungsmarathons oder aufgrund einer verständlichen Aversion, sich bereits vor Vertragsschluss mit künftigen Streitigkeiten auseinanderzusetzen. Dies in Zukunft zu vermeiden, ist das Anliegen dieses Beitrages.
II. Das für die Auslegung von Schiedsklauseln maßgebliche Recht Die mit der Auslegung von Schiedsvereinbarungen in der Sache verbundenen Schwierigkeiten (dazu III.) werden in Schiedsverfahren mit Auslandsbezug zusätzlich dadurch verstärkt, dass in einem ersten Schritt zu klären ist, nach welchem nationalen Recht die Auslegung zu erfolgen hat. Diese Vorfrage ist oft von sehr weit reichender, nicht selten gar von Streit entscheidender Bedeutung. Denn die Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen sind groß. So wird etwa auf internationaler Ebene und namentlich im angloamerikanischen Rechtskreis der Unterscheidung zwischen der Formulierung „Streitigkeiten im Zusammenhang mit diesem Vertrag“ und „Streitigkeiten aus diesem Vertrag“ weitaus größere Bedeutung für die gegenständliche Reichweite einer Schiedsklausel beigemessen als in Deutschland (dazu III. 2. a)2. 1. Das Autonomieprinzip Dass die Schiedsvereinbarung überhaupt einem eigenen, möglicherweise vom Hauptvertrag verschiedenen Recht unterliegen kann, ist Folge der Erkenntnis, dass es sich um eine vom Hauptvertrag zu trennende Vereinbarung handelt, deren rechtliches Schicksal grundsätzlich von dem des Hauptvertrages unabhängig und getrennt zu beurteilen ist. Dieses sog. Autonomieprinzip wurde in Deutschland nach anfänglicher Ablehnung durch das Reichsgericht3 erst 1970 vom Bundesgerichtshof4 höchstrichterlich anerkannt. Es ist im deutschen Schiedsverfahrensrecht mittlerweile in § 1040 Abs. 1 Satz 2 ZPO verankert und unter der Bezeichnung „doctrine of separability“ auch international allgemein akzeptiert5. Für eine Schiedsabrede, also eine selbständig neben den Hauptvertrag tretende Schiedsvereinbarung (vgl. § 1029 Abs. 2 Alt. 1 ZPO), leuchtet die rechtliche Unabhängigkeit vom Hauptvertrag auch ohne Weiteres ein, namentlich wenn
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2 Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rz. 474; Lew/ Mistelis/Kröll, Comparative International Commercial Arbitration, 2003, Rz. 7-63 ff.; Born, International Commercial Arbitration, 2009, S. 1097. 3 RG, JW 1935, 2617, 2617. 4 BGH, BGHZ 53, 315, 322. 5 Lew/Mistelis/Kröll (Fn. 2), S. 104. Vgl. etwa auch Art. 16 Abs. 1 UNCITRAL-Modellgesetz, Art. 21 Abs. 2 der UNCITRAL-SchO, Art. 6 Abs. 4 ICC-SchO, Art. 178 Abs. 3 des Schweizer IPRG.
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sie mit einem gewissen zeitlichem Abstand zu diesem geschlossen wird. Ist die Schiedsvereinbarung dagegen wie in der absolut überwiegenden Zahl der Fälle als bloße Schiedsklausel (vgl. § 1029 Abs. 2 Alt. 2 ZPO) ausgestaltet und damit lediglich eine Bestimmung unter vielen innerhalb eines einheitlichen Hauptvertrages, so bedarf diese Annahme einer besonderen Begründung. Eine solche liegt zum einen darin, dass der Willen der Parteien, ihre Streitigkeiten aus dem Hauptvertrag durch ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen, ohne eine solche rechtliche Trennung vom Hauptvertrag allzu leicht durch eine Berufung auf dessen Unwirksamkeit umgangen werden könnte6. Dies wird anschaulich durch die oben erwähnte Entscheidung des Reichsgerichts illustriert, das die Einrede der Schiedsvereinbarung gegen die auf die Nichtigkeit des Vertrages wegen arglistiger Täuschung gestützte Klage mit dem bloßen Argument zurückwies, die Schiedsvereinbarung umfasse nur Streitigkeiten „aus“ dem Vertrag und setze somit dessen Bestehen voraus7. Zum anderen dürfte der Willen der Parteien bei verständiger Würdigung regelmäßig darauf zielen, dass die übliche Formulierung „Streitigkeiten aus dem Vertrag“ gerade auch einen Disput über dessen Wirksamkeit umfassen soll. Schließlich macht auch die Anwendung des § 139 BGB auf die Schiedsvereinbarung keinen Sinn, weil diese stets nicht ohne den Hauptvertrag geschlossen worden wäre8. Auf Grundlage des Autonomieprinzips kann kollisionsrechtlich zwischen dem auf den Hauptvertrag (Statut des Streitgegenstandes), dem auf das Schiedsverfahren (Schiedsverfahrensstatut) sowie dem auf die Schiedsvereinbarung (Schiedsvereinbarungsstatut) anzuwendenden Recht unterschieden werden. 2. Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland Im Unterschied etwa zu den USA9 unterliegt in einem Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland die Auslegung der Schiedsvereinbarung dem auf diese anwendbaren Recht, also dem Schiedsvereinbarungsstatut10. Nach diesem richtet sich ebenfalls das Zustandekommen und Bestehen sowie die Gültigkeit einer Schiedsvereinbarung11.
__________ 6 Lew/Mistelis/Kröll (Fn. 2), S. 101; Yves Derains/Eric Schwarz, A Guide to the ICC Rules of Arbitration, 2. Aufl. 2005, S. 110; s. auch BGH, BGHZ 53, 315, 322. 7 RG, JW 1935, 2617, 2617. 8 BGH, BGHZ 53, 315, 318; Saenger in Saenger, 2. Aufl. 2007, § 1029 ZPO Rz. 3; Schwab, KTS 1961, 17, 20; a. A. wohl BGH, NJW 1977, 1397, 1397. 9 Born (Fn. 2), S. 1083 m. N. Hier wird auf ein „federal substantive law of arbitrability, applicable to any arbitration agreement within the coverage of the Act“ als die lex fori abgestellt. 10 Aden, Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 2003, Kap. 4, Rz. 11; Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 108; OLG Düsseldorf, RIW 1996, 239, 239; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3791; BTDrucks. 13/5274, S. 43, rechte Spalte, letzter Absatz; vgl. Wagner in Weigand, Practitioner’s Handbook on International Arbitration, 2002, Part 4 Rz. 43; vgl. auch Art. 32 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB. 11 S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 415; Schlosser, Recht der Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 1989, Rz. 420.
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Allerdings existiert im deutschen Schiedsverfahrensrecht keine einheitliche (jedenfalls ausdrückliche) Regelung über das Schiedsvereinbarungsstatut12. Die Kompetenz-Kompetenz des Schiedsgerichts bezieht sich nach § 1040 ZPO zwar ausdrücklich auch auf das „Bestehen und die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung“13, doch schweigt die Regelung dazu, nach welchem Recht diese zu beurteilen sind. Dasselbe gilt für staatliche Gerichte bei der Entscheidung gemäß § 1032 ZPO, wenn nicht ausnahmsweise Art. VI Abs. 2 des Europäischen Übereinkommens über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit von 1961 (EuÜbkIntSch) eingreift14. Nach dieser Regelung ist das Bestehen und die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung durch die staatlichen Gerichte primär nach dem gewählten Recht, subsidiär nach dem Recht des Staates, in dem der Schiedsspruch ergehen soll, und schließlich nach dem Kollisionsrecht des angerufenen Gerichts zu beurteilen15. Demgegenüber ist in den Vorschriften über die Aufhebung (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO) und Vollstreckung (§ 1060 Abs. 2 Satz 1 ZPO) inländischer Schiedssprüche zwar bestimmt, dass ein Schiedsspruch aufgehoben bzw. seine Vollstreckbarerklärung abgelehnt werden kann, wenn „die Schiedsvereinbarung nach dem Recht, dem die Parteien sie unterstellt haben, oder, falls die Parteien hierüber nichts bestimmt haben, nach deutschem Recht ungültig ist“. Eine parallele Regelung stellt § 1061 ZPO über die Verweisung auf Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention auch für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche auf16. Doch richten sich die §§ 1059, 1060, 1061 ZPO ausschließlich an den Exequatur- bzw. Aufhebungsrichter und haben damit einen eng begrenzten Anwendungsbereich. a) Art. 27 ff. EGBGB oder Sonderkollisionsrecht? Angesichts dieses Befundes nimmt es nicht wunder, dass die Bestimmung des auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechtes in den von §§ 1059, 1060, 1061 ZPO nicht erfassten Situationen, insbesondere also durch den Einrederichter (§ 1032 ZPO) und den Schiedsrichter (§ 1040 ZPO), streitig ist.
__________
12 Anders dagegen Art. 178 Abs. 2 des Schweizer IPRG: „Die Schiedsvereinbarung ist im Übrigen gültig, wenn sie dem von den Parteien gewählten, dem auf die Streitsache, insbesondere dem auf den Hauptvertrag anwendbaren oder dem schweizerischen Recht entspricht“. 13 Unter diesen Begriff fällt auch die Bestimmung der sachlichen Reichweite einer Schiedsklausel, vgl. OLG Frankfurt, NJW 1986, 2202, 2203 (zu Art. VI des Europäischen Übereinkommens über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit von 1961). 14 Voraussetzung ist, dass die Vertragsparteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz bei Vertragsschluss in verschiedenen Vertragsstaaten haben und dass es sich um eine Streitigkeit aus einem internationalen Handelsgeschäft handelt. 15 S. etwa OLG Hamburg, RIW 1996, 510, 510; OLG Frankfurt, NJW 1986, 2202, 2203. 16 Die Anerkennung und Vollstreckung kann demnach versagt werden, wenn die Schiedsvereinbarung „nach dem Recht, dem die Parteien sie unterstellt haben, oder, falls die Parteien hierüber nichts bestimmt haben, nach dem Recht des Landes, in dem der Schiedsspruch ergangen ist, ungültig ist“. Dabei ist landläufig anerkannt, dass ein Schiedsspruch in dem Land ergeht, in dem der Ort des Schiedsgerichtes liegt (etwa Schlosser in Stein/Jonas, Anhang § 1061 ZPO Rz. 78).
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Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen
Nach der wohl als herrschend zu bezeichnenden Literaturansicht bestimmt sich das Schiedsvereinbarungsstatut losgelöst von den Regeln des deutschen internationalen Privatrechts (Art. 27 ff. EGBGB – zukünftig Art. 3 ff. Rom I-VO) primär nach der von den Parteien getroffenen Rechtswahl. Fehlt es an einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Bestimmung, so soll subsidiär das Sachrecht des Schiedsortes zur Anwendung kommen, mithin deutsches Recht17. Die Gegenauffassung stellt auf die Kollisionsregeln der Art. 27 ff. EGBGB ab, nach denen es zwar ebenfalls in erster Linie auf das von den Parteien ausdrücklich oder stillschweigend gewählte Recht ankommt (Art. 27 EGBGB), subsidiär aber auf diejenige Rechtsordnung, zu der die Schiedsvereinbarung die engsten Beziehungen aufweist (Art. 28 EGBGB)18. Dabei soll sowohl an das Recht des Hauptvertrages als auch an den Sitz des Schiedsgerichts, an das gewählte Verfahrensrecht oder an diejenige Rechtsordnung angeknüpft werden können, in der die Schiedsrichter (insbesondere der Vorsitzende) besonders verwurzelt ist19. Diese Ansicht kann sich auf ältere Entscheidungen des BGH und der Instanzgerichte aus der Zeit vor der Reform der Schiedsverfahrensrechts 1998 stützen20. Bei der Bestimmung des richtigen methodischen Ansatzes zur Ermittlung des Schiedsvereinbarungsstatutes ist den Bedürfnissen der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Dabei sind insbesondere zwei Parameter von besonderer Bedeutung: Die Vorhersehbarkeit des auf die Schiedsvereinbarung anzuwendenden Rechts und die Effektivität der Durchsetzung eines unter Anwendung dieses Rechtes ergangenen Schiedsspruches, insbesondere also dessen Anerkennungsfähigkeit und Vollstreckbarkeit im Ausland21. Vor diesem Hintergrund ist die auf Art. 27 ff. EGBGB abstellende Lösung weniger überzeugend. Denn wegen des bei der Ermittlung der „engsten Beziehung“ gegebenen gerichtlichen Beurteilungsspielraums ist das anzuwendende Recht in erheblichem Maße von den Umständen des Einzelfalles abhängig und damit nur beschränkt bei Vertragsschluss absehbar. Diese Unsicherheit wird auch nicht durch die Vermutung des Art. 28 Abs. 2 EGBGB beseitigt, da Schiedsvereinbarungen den Parteien identische Rechte und Pflichten vermitteln und
__________ 17 Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 107; ders., Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3789; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 31; Voit in Musielak, 7. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 28; S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 424; Trittmann/Hanefeld in Böckstiegel/Kröll/ Nacimiento (Hrsg.), Arbitration in Germany: The Model Law in Practice, 2007, § 1029 Rz. 11; Wagner (Fn. 10), Part 4 Rz. 41; für eine internationale Betrachtung: Fouchard/Gaillard/Goldmann, International Commercial Arbitration, 1999, Rz. 429. 18 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 67. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 11; vgl. auch Lachmann (Fn. 2), Rz. 267 ff. 19 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 67. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 11. 20 Etwa BGH, NJW 1964, 591, 592; BGH, NJW 1968, 1233, 1233; OLG Düsseldorf, RIW 1996, 239, 240. 21 So zu Recht S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 418.
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daher keine „charakteristische Leistung“ feststellbar ist22. Dazu tritt die Gefahr, dass die Schiedsvereinbarung nach dem so ermittelten Recht zwar wirksam ist, nicht aber nach dem Recht des Schiedsortes, so dass eine spätere Anerkennung und Vollstreckung des so ergangenen Schiedsspruches im Ausland an Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention scheitert. Bis zur Modernisierung des Schiedsverfahrensrechtes war diese Lösung dagegen aus methodischer Sicht vorzuziehen. Denn aus der weithin akzeptierten Qualifikation der Schiedsvereinbarung als materiellrechtlicher Vertrag oder jedenfalls als „materiellrechtlicher Vertrag über prozessrechtliche Beziehungen“23 folgt zwanglos die – zumindest analoge – Anwendung der für vertragliche Schuldverhältnisse allgemein geltenden Kollisionsregeln in Art. 27 ff. EGBGB. Dagegen wird die Lösung der herrschenden Literaturansicht (Rechtswahl der Parteien, subsidiär deutsches Sachrecht) zwar den Anforderungen des internationalen Handelsverkehrs gerecht. Sie ist aber in ihrer Begründung nicht überzeugend, soweit sie sich, wie überwiegend vertreten, auf eine Analogie zu Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention (i. V. m. § 1061 ZPO) stützt24. Denn die für eine solche Analogie erforderliche vergleichbare Interessenlage ist zu verneinen25. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift (wie der des § 1061 ZPO) ist beschränkt auf das Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren, also auf ein Verfahrensstadium, in dem bereits ein Schiedsverfahren vollständig durchgeführt worden und ein (ausländischer) Schiedsspruch in der Welt ist. Der hierfür eingesetzte Aufwand an Zeit und Geld und der Respekt vor der ergangenen Entscheidung rechtfertigen die einheitliche Anwendung des am Ort des Schiedsgerichts geltenden Rechts. Außerdem machen es die Bedürfnisse des internationalen Wirtschaftsverkehrs erforderlich, dass das vollendete Schiedsverfahren nicht später durch eine Versagung der Anerkennung oder Vollstreckbarerklärung frustriert wird. Dagegen befindet sich der Einrederichter (§ 1032 ZPO) bzw. der Schiedsrichter (§ 1040 ZPO) in einer grundlegend anderen Wertungssituation. Sie sind – üblicherweise noch vor oder zu Beginn des (inländischen) Schiedsverfahrens – konfrontiert mit einer in wesentlichen Teilen erst noch zu erfüllenden Schiedsvereinbarung, deren Gültigkeit und Umfang sie daher noch relativ unbefangen bestimmen können. In diesem Verfahrensstadium mag sogar noch nicht einmal feststehen, in welchem Land das Schiedsverfahren durchgeführt werden (§ 1043 ZPO) und ob überhaupt eine Vollstreckung erforderlich sein wird.
__________ 22 Vgl. auch Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3788. 23 BGH, NJW 1964, 591, 592; BGH, NJW 1968, 1233, 1233; Lachmann (Fn. 2), Rz. 266; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 12; a. A. Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 107. 24 Schwab/Walter (Fn. 1), Kap. 43 Rz. 5 ff.; Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 107 (für ausländische Schiedssprüche folge dies aus dem Rechtsgedanken des Art. V Abs. 1 a der New Yorker Konvention i. V. m. § 1061 ZPO); Lionnet/ Lionnet, Handbuch der internationalen und nationalen Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2005, S. 170; Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 41. 25 Zweifelnd auch schon S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 419 f., 426.
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Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen
§ 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO bietet ebenfalls keine ausreichende Grundlage für einen Analogieschluss26. Natürlich ist es wenig sinnvoll, im Rahmen eines inländischen Schiedsverfahrens auf die Schiedsvereinbarung in Ermangelung einer Rechtswahl durch die Parteien ein anderes als das deutsche Recht zur Anwendung zu bringen, so dass die Gefahr einer späteren Aufhebung nach dieser Vorschrift heraufbeschworen wird. Doch ist auch § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO auf die nachträgliche Kontrolle eines existenten Schiedsspruches angelegt und betrifft damit wie Art. V Abs. 1 lit. a der New York Konvention (und § 1061 ZPO) eine zunächst einmal grundlegend verschiedene Interessenlage. Zudem richtet sie sich an die staatlichen Gerichte und bezieht sich lediglich auf inländische Schiedssprüche. Angesichts dieser methodischen Bedenken gegen eine Analogie rückt als alternativer Begründungsansatz für die h. M. eine entsprechende – gegenüber der Analogie ohnehin vorrangige – Auslegung der betreffenden Vorschriften, namentlich also der §§ 1032 und 1040 ZPO, in den Vordergrund. Insoweit ist zunächst zu konstatieren, dass der Wortlaut dieser Vorschriften im Hinblick auf das auf die Schiedsvereinbarung anzuwendende Recht völlig offen ist. In systematischer Hinsicht kann zudem an §§ 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a, 1060 Abs. 2 ZPO für inländische und an § 1061 ZPO i. V. m. Art. V. Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention für ausländische Schiedssprüche angeknüpft werden. Vor allem aber ist auf die Entstehungsgeschichte des § 1040 ZPO und des § 1059 ZPO zu verweisen, die in der Diskussion bislang nicht ausreichend gewürdigt worden ist: Die Reform von 1998 bezweckte in ihrem Kern, das veraltete deutsche Schiedsverfahrensrecht zu modernisieren und hierbei den Bedürfnissen der in ihrer Bedeutung gewachsenen internationalen Schiedsgerichtsbarkeit Rechnung zu tragen, vor allem durch eine Harmonisierung mit internationalen Standards27. Das neue Schiedsverfahrenrecht ist deshalb maßgeblich an das UNCITRALModellgesetz von 1985 angelehnt. So hat der Gesetzgeber etwa die Aufhebungsgründe in § 1059 Abs. 2 lit. a ZPO im Wesentlichen unverändert aus Art. 36 Abs. 1 (a) (i) des Modellgesetzes übernommen. Dies geschah erklärtermaßen aus Gründen der Rechtsklarheit und der Rechtsvereinheitlichung28. Dagegen ist die Regelung der Kompetenz-Kompetenz in § 1040 ZPO Art. 16 des Modellgesetzes29 nachgebildet. In diesem Zusammenhang führt die Gesetzesbegründung aus: „Die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung ist nach den in § 1059 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a […] enthaltenen Kollisionsregeln zu beurteilen; denn für die Entscheidung des Schieds-
__________ 26 Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 35 knüpft an dieser Vorschrift an („normativer Anhalt“), ohne sich allerdings methodisch festzulegen. 27 BT-Drucks. 13/5274, S. 22 ff. 28 BT-Drucks. 13/5274, S. 59 linke Spalte, 2. Absatz, und rechte Spalte, letzter Absatz. 29 Art. 16 Abs. 1 des Modellgesetzes lautet: „The arbitral tribunal may rule on its own jurisdiction including any objections with respect to the existence or validity of the arbitration agreement. […]“.
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Siegfried H. Elsing gerichts kann insoweit nichts anderes gelten als für das staatliche Gericht im Rahmen des Aufhebungsverfahrens.“
In Bezug auf die Rüge einer Kompetenzüberschreitung gem. § 1040 Abs. 2 Satz 3 ZPO – ein Aufhebungsgrund gemäß § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. c ZPO – stellt die Gesetzesbegründung zudem ausdrücklich klar, dass die Kollisionsregel des § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO auch für die im Wege der Auslegung zu bestimmende Reichweite der Schiedsvereinbarung geltend soll30. Damit hat der Gesetzgeber eine eindeutige Aussage darüber getroffen, dass auch das Schiedsgericht bei der Prüfung der Gültigkeit und Reichweite der Schiedsvereinbarung in der von § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO vorgegebenen Reihenfolge primär auf das gewählte Recht und subsidiär auf das deutsche Recht abzustellen hat. Dass § 1059 ZPO nur inländische Schiedssprüche betrifft, schmälert die Allgemeingültigkeit dieser Aussage in keiner Weise. Denn zum einen enthält das geltende Recht in § 1061 ZPO eine nahezu parallele31 Bestimmung für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche. Und zum anderen war die Reform von 1998 gerade darauf gerichtet, ein „einheitliches Gesetz für nationale und internationale Verfahren“ auf den Weg zu bringen32. Folglich unterscheidet § 1040 ZPO auch nicht zwischen inländischen und ausländischen Schiedsvereinbarungen. Die Gesetzesbegründung kann somit nur dahin verstanden werden, dass es sich bei § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO um eine allgemeingültige Kollisionsnorm handelt, die in sämtliche Verfahrensstadien ausstrahlt und für staatliche Gerichte und Schiedsgerichte gleichermaßen Geltung beansprucht. Allein ein solch weites Verständnis entspricht auch den Bedürfnissen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit nach möglichst weitgehender Harmonisierung. Daher gilt dieser Grundsatz auch ohne entsprechende Klarstellung in der Gesetzesbegründung uneingeschränkt auch für den Einrederichter (§ 1032 ZPO). Das gilt umso mehr, als der in der Gesetzesbegründung vollzogene Rückschluss von § 1059 ZPO (staatliches Gericht) auf § 1040 ZPO (Schiedsgericht) erst Recht für § 1032 ZPO (staatliches Gericht) gelten muss. Der Gesetzgeber hat also die in § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO enthaltene Rangfolge des auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechtes zu einer eigenständigen Kollisionsnorm für das Schiedsvereinbarungsstatut erhoben und damit zugleich der an Art. 27 ff. EGBGB orientierten Auffassung eine Absage erteilt. b) Primäres Anknüpfungskriterium: Der Parteiwille Vorrangiges Anknüpfungskriterium für das Schiedsverfahrensstatut ist damit der (ausdrückliche oder stillschweigende) Parteiwille. Dies entspricht dem Grundsatz der Parteiautonomie, der obersten Maxime der internationalen
__________ 30 BT-Drucks. 13/5274, S. 43, rechte Spalte, letzter Absatz. 31 Vgl. oben Fn. 16. 32 BT-Drucks. 13/5274, S. 25 f.
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Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen
Schiedsgerichtsbarkeit33, und wird auch international durchgehend so gehandhabt34. aa) Ausdrückliche Rechtswahl Obwohl es an entsprechenden Empfehlungen nicht mangelt35, sind ausdrückliche Bestimmungen des auf die Schiedsvereinbarung anzuwendenden Rechts in der schiedsgerichtlichen Praxis allerdings weitgehend unbekannt. Oft werden sie vermutlich als unnötige Förmelei abgetan. Bezeichnenderweise empfehlen auch die Musterklauseln der namenhaften Schiedsgerichtsinstitutionen keine solche Rechtswahl, sondern allenfalls eine Festlegung des auf den Hauptvertrag anzuwendenden Rechts. Denkbar wäre etwa die folgende Formulierung: „Dieser Vertrag, einschließlich der Schiedsklausel, unterliegt dem materiellen Recht von […] mit Ausnahme des internationalen Privatrechts und des UN-Kaufrechts“.
Aus der Praxis des Verfassers verdient die folgende Schiedsklausel eine genauere Betrachtung: Alle Streitigkeiten aus diesem Vertrag werden unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs sowie unter Anwendung des französischen Rechts nach der Schiedsgerichtsordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. (DIS) endgültig entschieden. Der Ort des Schiedsverfahrens ist München.
Die in dieser Klausel getroffene ausdrückliche Rechtswahl zugunsten des französischen Rechts erstreckt sich nach ihrem Wortlaut jedenfalls auf den Hauptvertrag. Sie gibt allerdings nicht völlig eindeutig zu erkennen, ob sie auch die Schiedsklausel selbst umfasst, und ist insoweit auslegungsfähig und -bedürftig. Im Rahmen der Auslegung – die sich entsprechend der zu Art. 27 Abs. 1 Satz 1 EGBGB wohl h. M. nach der lex fori richtet36 – ist zu berücksichtigen, dass die Parteien eine Verbindung zwischen Rechtswahl- und Schiedsklausel geschaffen haben, wie sie enger kaum sein könnte. Offenbar war den Parteien auch die Trennung zwischen Haupt- und Schiedsvertrag nicht geläufig. Vor allem aber haben sie die „Anwendung des französischen Rechts“ nicht, wie sonst üblich, nur „auf den Vertrag“ beschränkt. Daraus kann geschlossen werden, dass das französische Recht für sämtliche materiell-rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Schiedsverfahren gelten sollte, wozu auch die Auslegung bzw.
__________ 33 S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 425; Berger, Internationale Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit, 1992, S. 116. 34 Redfern/Hunter, Law And Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, Rz. 2-94; Born (Fn. 2), S. 1083. 35 Craig/Park/Paulsson, ICC Arbitration, 3. Aufl. 2000, S. 108; Born, International Arbitration and Forum Selection Agreements: Drafting and Enforcing, 2. Aufl. 2006, S. 74; Redfern/Hunter, Law And Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, Rz. 2-86. 36 Vgl. Martiny in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2006, Art. 27 EGBGB Rz. 44; a. A. Spickhoff in Bamberger/Roth, BGB, 2. Aufl. 2008, Art. 27 EGBGB Rz. 35 (autonome Auslegungsmaßstäbe aus dem EVÜ).
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die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung zählt37. Die Auslegung dieser Schiedsklausel führt somit zur einheitlichen Anwendung französischen Rechts auf Haupt- und Schiedsvertrag. bb) Stillschweigende Rechtswahl Fehlt dagegen wie so oft eine speziell auf die Schiedsvereinbarung bezogene Rechtswahl, kommt noch eine stillschweigende Bestimmung in Betracht38. Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich aus dem Grundsatz der Privatautonomie, auf den dieses Anknüpfungskriterium gründet, zugleich auch Einschränkungen ergeben: Erforderlich ist stets das Vorliegen eines – wie auch immer geäußerten – realen Parteiwillens, während ein bloß mutmaßlicher (hypothetischer) Wille unbeachtlich bleiben muss39. Nach der jedenfalls bis zur Reform 1998 herrschenden, vom BGH angeführten Auffassung soll der (stillschweigende) Parteiwille „nach allgemeinen Erfahrungssätzen“ regelmäßig darauf gerichtet sein, die Schiedsvereinbarung demselben Recht zu unterstellen wie das zu regelnde materielle Rechtsverhältnis, wenn nicht aufgrund besonderer Umstände etwas anderes anzunehmen ist40. Es erscheint in der Tat auf den ersten Blick lebensfremd, dass die Parteien eines deutsch-kanadischen Liefervertrages diesen kanadischem Recht, die im Zusammenhang damit abgeschlossene Schiedsvereinbarung aber deutschem (oder gar einem ganz anderem) Recht unterwerfen wollen41. Allerdings trägt eine solche Annahme dem Prinzip der Autonomie der Schiedsvereinbarung nicht hinreichend Rechnung (oben 1.). Die Schiedsvereinbarung dient anderen Zwecken als der Hauptvertrag, und sie ist eben nicht bloß ein separater mate-
__________ 37 Noch weitgehender BGH, NJW 1976, 1591, 1591, dem zufolge die Klausel „der Vertrag und die sich daraus ergebenden Beziehungen unterliegen ausschließlich den Vorschriften der rumänischen Gesetze“ auch die Schiedsvereinbarung erfasse; vgl. auch OLG Hamburg, RIW 1996, 510, 510 in einem ähnlich gelagerten Fall (i. E. offen gelassen wegen Artikel VI Abs. 2 Alt. 2 EuÜbkSchG 1961). 38 Normativ lässt sich dies sowohl aus Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention („under the law to which the parties have subjected it or, failing any indication thereon, under …“) als auch aus dem an dieser Regelung angelehnten § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO („nach dem Recht, dem die Parteien sie unterstellt haben oder, falls die Parteien hierüber nichts bestimmt haben, nach …“) ableiten. Denn beide Regelungen beschränken sich nicht auf eine ausdrückliche Festlegung, und Art. V Abs. 1 lit. a der New Yorker Konvention nennt sogar eindeutig bloße „Anzeichen“ (indication) als ausreichend. 39 Vgl. zu Art. 27 Abs. 1 EGBGB: G. Hohloch in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, Art. 27 EGBGB Rz. 11; Heldrich in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, Art. 27 EGBGB Rz. 5 f. 40 BGH, NJW 1964, 591, 592; OLG Hamburg, RIW 1989, 574, 575; Schütze in Schütze/ Tschernig/Wais, Handbuch des Schiedsverfahrens, 2. Aufl. 1990, Rz. 560; Aden, Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 2003, Art. 6 ICC-SchO Rz. 24; Wagner (Fn. 10), Part 4 Rz. 42; Trittmann/Hanefeld (Fn. 17), § 1029 Rz. 11; i. E. auch OLG München, RIW 1990, 585, 586; BayObLG, SchiedsVZ 1004, 163, 165; für die internationale Handhabung s. Redfern/Hunter, Law And Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, Rz. 2-87. 41 So Schütze in Schütze/Tschernig/Wais, Handbuch des Schiedsverfahrens, 2. Aufl. 1990, Rz. 560.
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Zur Auslegung von Schiedsvereinbarungen
riell-rechtlicher Vertrag, sondern zeitigt auch prozessuale Wirkungen42. Dies ist den Parteien freilich meistens völlig unbekannt. Sie kennen deshalb weder die Notwendigkeit, eine doppelte Rechtswahl zu treffen, noch die mit der Wahl verbundenen Folgen für die Schiedsvereinbarung und das Schiedsverfahren. Der aufgestellte Erfahrungssatz läuft somit auf eine bloße Fiktion des mutmaßlichen Parteiwillens hinaus und verlässt die durch die Parteiautonomie gesetzten Grenzen. Lässt sich dagegen ausnahmsweise die gemeinsame Vorstellung der Parteien belegen, das auf den Hauptvertrag anwendbare Recht erfasse zugleich auch die Schiedsvereinbarung, wird man ohne Weiteres von einer Rechtswahl ausgehen können43. Entsprechende Bedenken bestehen zudem gegen den Schluss von einer ausdrücklichen Bestimmung des Schiedsverfahrensstatuts oder einer Schiedsgerichtsinstitution auf eine stillschweigende Wahl des auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechts44. c) Sekundäres Anknüpfungskriterium: deutsches Recht Das extensive Verständnis des BGH von einem stillschweigenden Parteiwillen mag auch dadurch motiviert sein, die Unsicherheiten einer objektiven Anknüpfung gemäß Art. 28 EGBGB zu vermeiden, der nach der bisherigen Auffassung des Gerichtshofes bei Fehlen einer Rechtswahl zur Anwendung kommt (vgl. 2. a) oben). Im geltenden Schiedsverfahrensrecht besteht dafür allerdings kein Bedürfnis mehr. Denn nach der hier vorgeschlagenen Lösung gilt nunmehr eine eigenständige Kollisionsnorm, die in solchen Fällen einheitlich subsidiär auf das deutsche Recht verweist.
III. Die Auslegung von Schiedsklauseln nach deutschem Recht In Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland wird somit überwiegend deutsches Recht auf die Schiedsvereinbarung zur Anwendung kommen. Deren Auslegung richtet sich dann nach den allgemeinen Regeln der §§ 133, 157 BGB45. Es ist also nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu verhaften, sondern der tatsächlichen Wille der Parteien zu ermitteln, wobei ausgehend vom Wortlaut alle Umstände des Einzelfalles heranzuziehen sind, insbesondere die Interessen der Parteien und die von ihnen verfolgten Zwecke, soweit sie gegenseitig bekannt sind. Dabei gelangen auch die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung zur Anwendung46.
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42 Zu diesen Einwendungen schon Lionnet/Lionnet (Fn. 24), S. 170; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 35; S. Koussoulis in FS Peter Schlosser, 2005, S. 415, 421; Berger (Fn. 33), S. 116 f. 43 Vgl. auch Craig/Park/Paulsson, ICC Arbitration, 3. Aufl. 2000, S. 108. 44 So etwa Berger (Fn. 33), S. 116 f.; Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 42; Geimer, Internationales Zivilrozessrecht, 6. Aufl. 2009, Rz. 3790, 3832. 45 BGH, BGHZ 40, 320, 322 ff.; OLG Karlsruhe, NJOZ 2007, 5365, 5370; Wagner (Fn. 10), Part 4 Rz. 43. 46 OLG Karlsruhe, NJOZ 2007, 5365, 5370; OLG Frankfurt, NJOZ 2003, 3559, 3561; vgl. Lachmann (Fn. 2), Rz. 321.
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1. Das Prinzip der weiten Auslegung Der BGH hat bei der Auslegung von Schiedsvereinbarungen seit jeher einen schiedsverfahrensfreundlichen Ansatz vertreten. Demnach sind Abreden, die Meinungsverschiedenheiten oder Streitigkeiten aus einem Vertrag allgemein einem Schiedsgericht zuweisen, grundsätzlich weit auszulegen47. In der Leitentscheidung aus dem Jahre 1970 – in der auch das Autonomieprinzip anerkannt wurde (II. 1.) – hat der Gerichtshof eine solche Zweifelsregel mit dem Bedürfnis gerechtfertigt, Zufallsergebnisse bei der Auslegung von vielfach gleich lautenden oder jedenfalls inhaltlich identischen Schiedsklauseln zu vermeiden. Maßgeblich sei deshalb, was verständige Parteien im Allgemeinen als ihren Interessen entsprechend ansehen würden, wobei anzunehmen sei, dass die Parteien in der Regel eine umfassende Zuständigkeit des Schiedsgerichts wünschten, um insbesondere die unliebsamen Folgen einer gespalteten Zuständigkeit zwischen Schiedsgericht und staatlichem Gericht zu verhindern. Diesem – auch international verbreiteten48 – Prinzip der weiten Auslegung hat sich die Literatur angeschlossen49. Auf seiner Grundlage erstreckt sich eine Schiedsvereinbarung beispielsweise im Zweifel auch auf alle für das rechtliche Schicksal des geltend gemachten Anspruchs bedeutende Umstände, auf Bereicherungsansprüche oder auf deliktische Ansprüche, jedenfalls soweit sie sich tatbestandlich mit einer Vertragsverletzung decken50. 2. Ausgewählte Fragestellungen Trotz der zwischenzeitlichen Konkretisierung dieses Grundsatzes in Literatur und Rechsprechung, verbleibt jedoch eine Grauzone, innerhalb derer die Grenzen des Prinzips einer weiten Auslegung nur schwer zu bestimmen sind. Dies soll zum Anlass genommen werden, einige ausgewählte Beispiele zu erörtern, mit denen der Verfasser in der jüngeren Vergangenheit befasst war. a) Enge und weite Schiedsklauseln Schiedsparteien greifen zunehmend auf vorformulierten Standardklauseln zurück, die üblicherweise alle Streitigkeiten erfassen, die sich „aus oder im Zusammenhang mit dem Vertrag“51 oder „im Zusammenhang mit dem Vertrag oder über seine Gültigkeit“52 ergeben (sog. weite Schiedsklauseln). Vor
__________ 47 BGH, BGHZ 53, 315, 320 f.; BGH, BB 1971, 369, 370; BGH, NJW-RR 2002, 387, 387; OLG Karlsruhe, NJOZ 2007, 5365, 5370; OLG Hamburg, RIW 1989, 574, 578. 48 Etwa Österreich (öOGH, RIW 1999, 789, 789), USA (U.S.D.C. New York (S.D.), YCA XII (1987), 532, 534; YCA XXII (1997), 944, 946; U.S.D.C. Illinois (N.D.), YCA XXI (1996), 793, 796); s. auch Lew/Mistelis/Kröll (Fn. 2), Rz. 7-59 ff. 49 Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 18; Schwab/Walter (Fn. 1), Kap. 3 Rz. 19; Trittmann/Hanefeld (Fn. 17), § 1029 Rz. 31. 50 Vgl. etwa Lachmann (Fn. 2), Rz. 478 ff. 51 So die Musterklausel der ICC-Rules. 52 So etwa die Musterklausel aus der DIS-SchO.
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allem ältere Verträge begnügen sich dagegen mit sog. engen Schiedsklauseln, die sich auf sämtliche Streitigkeiten „aus dem Vertrag“ oder – etwas weiter – „aus dem Vertragsverhältnis“ erstrecken. Es stellt sich hier immer wieder die Frage, welche Rückschlüsse aus dem unterschiedlichen Wortlaut für die sachliche Reichweite solcher Klauseln gezogen werden können, insbesondere unter Beachtung der gebotenen (und notwendigen) weiten Auslegung. Beim Wort genommen besteht ein erheblicher Unterschied zwischen diesen beiden Klauseltypen in Bezug auf die durch sie erfassten Ansprüche. So ist es bei einem strengen Wortlautverständnis durchaus zweifelhaft, dass etwa Ansprüche aus culpa in contrahendo oder aus Delikt von einer engen Klausel erfasst werden. Während auf internationaler Ebene und namentlich in commonlaw-Jurisdiktionen diese Unterschiede auch eher streng gehandhabt werden53, ist die deutsche Rechtsliteratur deutlich zurückhaltender und geht von keiner54 oder allenfalls geringer55 Unterscheidungskraft aus. Das Prinzip einer weiten Auslegung ist maßgeblich in Ansehung enger Schiedsklauseln entwickelt worden und hat deren sachliche Reichweite von den durch ihren Wortlaut vorgegebenen Beschränkungen gelöst. Die Rechtsprechung des BGH, dass sowohl die Nichtigkeit des Hauptvertrages samt der daraus folgenden Rückabwicklungsansprüche56 als auch mit vertraglichen Ansprüchen konkurrierende deliktische Ansprüche57 in der Regel von der Schiedsklausel umfasst werden, betraf gerade enge Schiedsklauseln. Allerdings ist eine weite Auslegung auch bei weiten Schiedsklauseln geboten, die deshalb – so der BGH – „umso größzügiger“ zu interpretieren sind58. Die weite Auslegung enger Klauseln macht diese also nicht deckungsgleich mit ihrerseits extensiv verstandenen weiten Klauseln. Es bleibt deshalb zulässig und richtig, mit der unterschiedlichen Fassung von Schiedsklauseln zu argumentieren59. Jedoch führt diese Emanzipation der Schiedsklauseln von ihrem Wortlaut dazu, dass die Übergänge zwischen engen und weiten Fassungen fließend sind und dass sich kategorische Aussagen über deren jeweilige Reichweit nicht treffen lassen. Eben aus diesem Grunde besitzen die Unterschiede zwischen engen und weiten Klauseln nur eingeschränkte Unterscheidungskraft. Gleichwohl dürfte sich die folgende Regel formulieren lassen: Durch die Wahl einer weiten Klausel bekunden die Parteien ihren Willen, eine umfassende
__________ 53 Lachmann (Fn. 2), Rz. 474, 481; ders., SchiedsVZ 2003, 29; Lew/Mistelis/Kröll (Fn. 2), Rz. 7-63 ff.; Born (Fn. 2), S. 1097. 54 Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 110 (bloße „Kurzformel“); wohl auch Schlosser (Fn. 11), Rz. 421. 55 Lachmann (Fn. 2), Rz. 479 (vorvertragliche Pflichtverletzungen würden von einer engen Klausel im Zweifel nicht erfasst). 56 BGH, BGHZ 53, 315, 323. 57 BGH, NJW 1988, 1215, 1215; BGH, NJW 1965 300, 300; zustimmend etwa Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 19; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 72. 58 BGH, BB 1971, 369, 370. 59 Auf die Unterschiede abstellend etwa BGH, NJW-RR 1991, 423, 424; BGH, NJW-RR 2002, 387, 387.
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Zuständigkeit des Schiedsgerichts zu begründen, die gerade nicht nur auf Ansprüche „aus dem Vertrag“ beschränkt ist, sondern auch sonstige Ansprüche umfasst, die mit diesem einen einheitlichen Lebensvorgang60 bilden („im Zusammenhang mit“), also etwa wegen vorvertraglicher Pflichtverletzungen oder wegen deliktischer Handlungen, die mit dem Vertrag verbunden sind, auch ohne notwendigerweise mit vertraglichen Ansprüchen materiell zu konkurrieren. Hier muss die sich auf die fehlende Schiedsbindung berufende Partei Umstände für eine einschränkende Auslegung darlegen und beweisen. Eine enge Klausel dagegen beinhaltet keinen definitiven Ausschluss einer schiedsgerichtlichen Zuständigkeit für nichtvertragliche Ansprüche. Entscheidend ist und bleibt natürlich der Parteiwillen. Lässt sich also belegen, dass die Parteien gezielt eine enge Klausel gewählt haben, um die Zuständigkeit des Schiedsgerichtes zu begrenzen, oder die Klausel bewusst weit formuliert haben, um gewisse Ansprüche einzubeziehen, muss diese Entscheidung vollumfänglich respektiert werden. Ein solcher Nachweis wird aber regelmäßig nicht geführt werden können. In diesem Falle bietet es sich an, stattdessen darauf abzustellen, inwieweit der fragliche Anspruch bei Abschluss des Vertrages vorhersehbar war und mit welcher Wahrscheinlichkeit die Parteien mit seinem Vorliegen zu rechnen hatten. Hierbei ist auf die Umstände des Einzelfalles und insbesondere auf die Besonderheiten des jeweiligen Hauptvertrages (z. B. sein Gegenstand, Laufzeit etc.) Rücksicht zu nehmen. Eine enge Klausel wird regelmäßig nur die in gesteigertem Maße wahrscheinlichen und vorhersehbaren Ansprüche umfassen. b) Ansprüche wegen Unterkapitalisierung und Insolvenzverursachung In einem internationalen Schiedsverfahren stellte sich der folgende stark vereinfachte Sachverhalt: Zur Vorbereitung der Ausgliederung der X-GmbH aus der Konzern der Schiedsbeklagten verpflichtete sich diese gegenüber der X-GmbH, eine Stammeinlage in Höhe von 50 Euro zu übernehmen und hierfür einen Teilbetrieb in die X-GmbH einzubringen. Dieser Teilbetrieb war jedoch hoch defizitär und verursachte die Insolvenz der X-GmbH. Daraufhin machte der Schiedskläger in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der X-GmbH Ansprüche wegen Unterkapitalisierung sowie Schadenersatz wegen schuldhafter Verursachung der Insolvenz der X-GmbH gegen die Schiedsbeklagte geltend. Im Zusammenhang mit der Unterkapitalisierung kamen eine Reihe gesetzlicher Ansprüche (§§ 7, 9, 9a, 56, 56a oder 30, 31 GmbHG) in Betracht, bei denen aufgrund ihrer gesellschaftsrechtlichen Natur fraglich war, ob sie der in dem Einbringungsvertrag enthaltenen weiten Schiedsklausel unterfielen
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60 Da die Parteien regelmäßig ein bestimmtes Rechtsverhältnis, nicht aber bestimmte Ansprüche der Entscheidung durch ein Schiedsgericht unterstellen, kommt es für dessen Zuständigkeit allein auf den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt, nicht auf die einschlägige zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage (BGH, NJW 1988, 1215, 1215; BGH, NJW-RR 2002, 387, 387). Außerdem entspricht es in der Regel nicht dem Willen der Parteien, einen einheitlichen Sachverhalt durch verschiedene Gerichte entscheiden zu lassen.
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(„sämtliche Streitigkeiten, die sich aus oder in Verbindung mit dieser Vereinbarung ergeben“). Ausgangspunkt der Lösung war der Umstand, dass sich aus dem Einbringungsvertrag eine parallele vertraglich begründete Kapitaleinbringungspflicht ableitete, deren Verletzung zu Ansprüchen wegen Nichterfüllung (§ 280 BGB) bzw. wegen Unmöglichkeit (§§ 280, 283 BGB) führen konnte. Diese sekundärrechtlichen Ansprüche sind vertraglicher Natur und damit von der Schiedsklausel umfasst („aus dieser Vereinbarung“). Damit war der Weg bereitet für die Erfassung der Ansprüche aus dem GmbHG. Denn nach der h. M. umfasst eine Schiedsvereinbarung im Zweifel sämtliche mit dem geltend gemachten vertraglichen Anspruch konkurrierenden gesetzlichen Ansprüche gleich welcher Rechtsnatur, sofern sie nur auf demselben Lebenssachverhalt beruhen61. Dies folgt aus dem Prinzip der weiten Auslegung und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Parteien eine Rechtszersplitterung regelmäßig zu vermeiden suchen (vgl. 1.). Außerdem soll es der klagende Vertragspartner nicht in der Hand haben, die Zuständigkeit des staatlichen Gerichts dadurch herbeizuführen, dass er sein Klagebegehren auf eine deliktische statt auf eine vertragliche Anspruchsgrundlage gründet. Zusammengehörendes soll auch zusammen bleiben62. Dass dies insbesondere auch für gesellschaftsrechtliche Ansprüche gilt, ist aus der obergerichtlichen Rechtsprechung zu gesellschaftsvertraglichen Schiedsklauseln zu schließen, die trotz ihrer vertraglichen Natur auch gesetzliche gesellschaftsrechtliche Ansprüche (etwa § 51a GmbHG) umfassen63. Nichts anderes kann dann für die Schiedsklausel in dem Einbringungsvertrag gelten, vor allem wenn sie – wie hier – besonders weit gefasst ist. Die Ansprüche wegen Insolvenzverursachung stützten sich auf eine Reihe unterschiedlicher Tatsachenkomplexe wie etwa eine fehlerhafte Ausstattung der X-GmbH mit Kapital (bzw. ein existenzvernichtender Eingriff), eine pflichtwidrige Zurückhaltung fälliger Zahlungen durch Tochtergesellschaften der Schiedsbeklagten oder eine Täuschung über die tatsächliche Bilanzprognose für den Teilbetrieb. Für sämtliche dieser Vorwürfe kam insbesondere ein Schadenersatzanspruch aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung in Betracht. Die schädigenden Handlungen fielen jedoch nur dann in die Zuständigkeit des Schiedsgerichtes, wenn sie jeweils zumindest auch einen von der Schiedsklausel erfassten Anspruch begründeten (vgl. soeben). Auch hier kam der Schiedsklägerin die gebotene weite Auslegung „zur Hilfe“. Denn es ist anerkannt, dass jedenfalls Klauseln, die sich (wie die vorliegende) auf alle Streitigkeiten „im Zusammenhang mit“ einem Vertrag erstrecken, auch quasi-vertragliche Ansprüche und damit insbesondere auch vor- und nach-
__________ 61 Voit in Musielak, 7. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 23; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 110 und Rz. 71 („prozessualer Anspruch (Streitgegenstände)“); Wagner (Fn. 10), Part. 4 Rz. 67; Haas in Weigand, Practitioner’s Handbook on International Arbitration 2002, Part. 3 Rz. 78 (zur New Yorker Konvention); BGH, NJW 1965, 300; BGH, NJW 1988, 1215, 1215; OLG Hamburg, RIW 1989, 574, 578. 62 Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 110. 63 Vgl. OLG Hamm, NZG 2000, 1182; OLG Koblenz, NJW-RR 1990, 1374.
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vertragliche Pflichtverletzungen erfassen64. Es gelang der Schiedsklägerin darzulegen, dass in der Zurückhaltung fälliger Zahlungen zugleich auch eine Verletzung des nachvertraglichen Verbotes der Entziehung des Vertragserfolgs und somit ein Anspruch aus §§ 280, 241 Abs. 2 BGB begründet lag. Für die Bilanztäuschung konnte sie dagegen an der Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB anknüpfen. Die fehlerhafte Kapitalisierung stellte zugleich auch eine Verletzung des Einbringungsvertrages dar (vgl. soeben). Die Schiedsklägerin konnte so für jeden dieser Tatsachenkomplexe eine Anknüpfung zur Schiedsklausel herstellen und damit eine umfassende Zuständigkeit des Schiedsgerichtes herleiten. c) Markenrechtlicher Unterlassungsanspruch bei nichtigem Lizenzvertrag In einem weiteren Fall aus der Praxis begehrte die klagende Lizenzgeberin auf Grundlage einer engen Schiedsklausel („alle Streitigkeiten aus diesem Vertrag“) Feststellung, dass der mit der Schiedsbeklagten geschlossene Lizenzvertrag nichtig ist, und außerdem Unterlassung der weiteren Nutzung der Markenrechte, die Gegenstand jenes Vertrages waren, durch die Schiedsbeklagte (§ 14 Abs. 5 MarkenG). Aus dem Zusammenwirken von Autonomieprinzip (I. 1.) und dem Prinzip einer weiten Auslegung (1.) folgt zunächst, dass die Schiedsklausel jedenfalls den Feststellungsantrag umfasst. Wie der BGH zu Recht angenommen hat, ist eine Schiedsklausel nicht nur als eigenständige Vereinbarung von der behaupteten Nichtigkeit des Hauptvertrags unabhängig. Sie ist darüber hinaus auch grundsätzlich weit dahingehend auszulegen, dass das Schiedsgericht „auch über die Frage der Gültigkeit des Vertrags“ entscheiden soll65, und zwar selbst dann, wenn die Schiedsklausel – wie im vorliegenden Fall – nur von „allen Streitigkeiten aus diesem Vertrag“ und nicht von „allen Streitigkeiten im Zusammenhang mit diesem Vertrag“ spricht66. Genauerer Betrachtung bedarf dagegen die Frage, ob der markenrechtlichen Unterlassungsanspruch einen Anspruch „aus dem Vertrag“ darstellt und mithin der Zuständigkeit des Schiedsgerichts (§ 1040 ZPO) unterfällt. Das war im Ergebnis zu bejahen. Bei Nichtigkeit des Hauptvertrages umfasst die Schiedsvereinbarung nach herrschender Ansicht im Zweifel auch Bereicherungs-67 und Rückabwicklungsansprüche68. Mit diesen hat der vorliegende Unterlassungsanspruch gemein, dass auch er die Nichtexistenz des Hauptvertrages zur Voraussetzung hat. Dass er keinen vertraglichen Anspruch darstellt, schadet insoweit also
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64 Lachmann (Fn. 2), Rz. 465, 479 (vorvertraglich), vgl. Rz. 466 ff. (nachvertraglich); Schlosser (Fn. 11), Rz. 421; enger wohl Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 80. 65 BGH, BGHZ 53, 315, 322. 66 BGH, BGHZ 53, 315, 320; Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 91; Schlosser in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 18. 67 Geimer in Zöller, 27. Aufl. 2009, § 1029 ZPO Rz. 80; Voit in Musielak, 3. Aufl. 2002, § 1040 ZPO Rz. 4; Schwab/Walter (Fn. 1), Kap. 4 Rz. 16 m. w. N. 68 BT-Drucks. 13/5274, S. 43; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 111 (wohl noch weitergehender § 1040 Rz. 9).
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nicht. Zwar stellt der Unterlassungsanspruch aufgrund seiner Zukunftsgerichtetheit keinen bereicherungs- (§§ 812 ff. BGB) oder rückabwicklungsrechtlichen (§§ 346 ff. BGB) Anspruch im klassischen Sinne dar, doch ist zu berücksichtigen, dass er in seiner wirtschaftlichen Bedeutung solchen Ansprüchen gleichsteht. Denn die „Rückgewähr“ des durch den Lizenzvertrag eingeräumten Nutzungsrechtes besteht nicht nur in der Leistung von Wertersatz für die Vergangenheit (§§ 812, 818 BGB), sondern gerade auch darin, dieses in Zukunft nicht mehr auszuüben. Im Übrigen ist der Unterlassungsanspruch wegen des Erfordernisses einer begangenen Markenverletzung (Wiederholungsgefahr) auch in der Vergangenheit verwurzelt. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die vom BGH verwendete Formel deutlich weiter gefasst ist und sich nicht auf Bereicherungs- oder Rückabwicklungsansprüche beschränkt. Der Gerichtshof nimmt nämlich im Falle eines nichtigen Hauptvertrages eine schiedsgerichtliche Zuständigkeit ganz allgemein für die „die bei Nichtigkeit (oder auch schwebender Unwirksamkeit) gegebenen Ansprüche“69 an. Denn zum einen werfe die Beurteilung der Folgen eines unwirksamen Vertrages oft Fragen auf, die sich auch bei einem gültigen Vertrag stellten. Und zum anderen wollten verständige Parteien gerade verhindern, dass das eine Gericht seine Tätigkeit bis zur Klärung der Wirksamkeit durch das andere Gericht unterbrechen müsse oder dass die Wirksamkeit sogar unterschiedlich beurteilt werde70. Nach dieser Begründung umfasst eine Schiedsklausel somit all diejenigen Ansprüche, die die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit des Hauptvertrages zur Voraussetzung haben. Das gilt aber eben auch für den vorliegenden markenrechtlichen Unterlassungsanspruch, der bei Gültigkeit des Lizenzvertrages die Markennutzung ja gerade gestattete. Es kann nicht dem Parteiwillen entsprochen haben, dass die Lizenzgeberin zur Durchsetzung dieses Anspruches ein staatliches Gericht anrufen muss, obwohl die hierfür vorgreifliche Frage der Nichtigkeit des Lizenzvertrages ausschließlich durch das Schiedsgericht zu entscheiden ist. Mit Blick auf den Parteiwillen ist ferner zu berücksichtigen, dass die Parteien nicht einzelne Ansprüche, sondern ein gesamtes Rechtsverhältnis (den Lizenzvertrag samt Rechteeinräumung) der Zuständigkeit des Schiedsgerichts unterstellt haben. Mit diesem Rechtsverhältnis bildet der Unterlassungsanspruch aber bei natürlicher Betrachtung einen einheitlichen Lebenssachverhalt (vgl. b) oben). Zwar besteht im konkreten Fall infolge der Nichtigkeit des Lizenzvertrages keine materielle Anspruchskonkurrenz zu einem vertraglichen Anspruch. Bei Gültigkeit des Vertrages wäre aber eine solche Anspruchskonkurrenz möglich gewesen, wenn nämlich die Schiedsbeklagte als Lizenznehmerin die Marke jenseits der ihr eingeräumten Berechtigung genutzt hätte (§ 30 Abs. 2 MarkenG). In diesem Fall hätten vertragliche Ansprüche aus §§ 280 ff. BGB neben kennzeichnungsrechtlichen Ansprüchen aus § 14 Abs. 5 und ggf. Abs. 6 MarkenG bestanden71, für die insgesamt allein das Schiedsgericht zu-
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69 BGH, BGHZ 53, 315, 323. 70 BGH, BGHZ 53, 315, 322. 71 McGuire/Donle/Grabienski et. al, GRUR Int 2008, 923, 932; Ingerl/Rohnke, MarkenG, 2. Aufl. 2003, § 30 Rz. 62.
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ständig gewesen wäre. Das spricht dafür, dass bei Unwirksamkeit des Lizenzvertrages keine abweichende Zuständigkeit beabsichtigt war. Schließlich sei noch angemerkt, dass sich der Gesetzgeber bei der Reform des Schiedsverfahrensrechts nicht nur die vorgenannte Rechsprechung des BGH ausdrücklich zu eigen gemacht, sondern in diesem Zusammenhang auch auf Art. 6 Abs. 4 ICC-SchO72 Bezug genommen hat73. Nach dieser Vorschrift „bleibt [das Schiedsgericht] auch dann befugt, über die Rechtsbeziehungen der Parteien und ihre Anträge und Ansprüche zu entscheiden, wenn der Vertrag im übrigen nicht bestehen oder unwirksam sein sollte“74. Da diese Regelung noch weiter gefasst ist als die Formel des BGH, besteht Grund zu der Annahme, dass auch der Gesetzgeber eine eher weit reichende Zuständigkeit des Schiedsgerichts bei Nichtigkeit des Hauptvertrages befürwortet. Auch das war hier zu berücksichtigen.
IV. Ausblick Die Bestimmung des auf die Auslegung einer Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechtes ist nach der Reform des Schiedsverfahrensrechts deutlich einfacher geworden, da nunmehr nach dem Willen des Gesetzgebers eine eigenständige Kollisionsnorm zur Anwendung kommt, die in § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO für einen Spezialfall explizit geregelt wurde, die aber in sämtliche Verfahrensstadien ausstrahlt und staatliche Gerichte (§ 1032 ZPO) sowie Schiedsgerichte (§ 1040 ZPO) gleichermaßen bindet. Demnach ist in Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland primär auf den Parteiwillen und subsidiär auf das deutsche Recht abzustellen. Da außerdem in einer ausdrücklichen Rechtswahl in Bezug auf das Statut des Hauptvertrages oder des Schiedsverfahrens nicht zugleich auch eine stillschweigende Rechtswahl in Bezug auf Schiedsvereinbarungsstatut gesehen werden kann, unterliegen Schiedsvereinbarungen in deutschen Schiedsverfahren regelmäßig deutschem Recht. Es verbleiben aber im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bei der Auslegung von Schiedsklauseln und namentlich bei der Bestimmung ihrer gegenständlichen Reichweite, die in diesem Beitrag anhand von ausgewählten Beispielen illustriert und diskutiert worden sind. In Anbetracht der verbleibenden Unsicherheiten kann den Vertragsschließenden nur geraten werden, die Entscheidung zwischen einer engen und weiten Schiedsklausel wohl zu bedenken und in jedem Falle in diese einen Katalog aufzunehmen, der die umfassten oder nicht umfassten Ansprüche aufzählt. Nur so können sie letztlich Rechtssicherheit schaffen.
__________ 72 In der Gesetzesbegründung: Art. 8 Abs. 4 der ICC-SchO a. F. 73 BT-Drucks. 13/5274, S. 43. 74 Art. 6 Abs. 4 Satz 2 ICC-SchO 2008 lautet im englischen Original: „The Arbitral Tribunal shall continue to have jurisdiction to determine the respective rights of the parties and to adjudicate their claims and pleas even though the contract itself may be non-existent or null and void“.
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Verbraucherschutz bei Schönheitsreparaturen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Abwälzung der Schönheitsreparaturen in Formularverträgen auf den Mieter III. Einzelne Klauseln 1. Anfangs- und Endrenovierungsklauseln
2. Renovierungsfristen 3. Fachhandwerker- und Farbwahlklauseln 4. Quotenklauseln IV. Ersatzstrategien V. Schluss
I. Einleitung Der Jubilar, dem diese Zeilen in alter Verbundenheit gewidmet sind, gilt zu Recht als einer der Großmeister des deutschen AGB-Rechts. Er hat wie wenige dazu beigetragen, in dieser wildwuchernden Materie wieder langsam für die Beachtung des Gesetzes zu sorgen – auch und gerade im Interesse eines hier besonders wichtigen, verstärkten Verbraucherschutzes. Vielleicht finden deshalb die folgenden Zeilen seine Beachtung, die die Aufmerksamkeit des geneigten Lesers auf eine Materie lenken möchten, in der seit einigen Jahren ein besonders heftiger Kampf um die Zulässigkeit der üblichen Geschäftsbedingungen, hier meistens Formularverträge genannt, tobt, ohne dass es doch bislang lang gelungen wäre, den Verbraucherschutz in dem gebotenen Maße durchzusetzen. Gemeint ist die delikate Materie der Schönheitsreparaturen, wobei sich die folgenden Ausführungen im Wesentlichen auf die Wohnraummiete beschränken sollen. Nun kann es nicht die Aufgabe eines kurzen Beitrags zu einer Festschrift sein, die Problematik der Schönheitsreparaturen insbesondere bei der Wohnraummiete in voller Breite aufzurollen. Insoweit kann ohne Bedenken auf Veröffentlichungen an anderer Stelle verwiesen werden1. Das Ziel des folgenden Beitrags ist vielmehr bescheidener: Es geht allein um die Frage, ob bei der Behandlung der üblichen Klauseln zu den Schönheitsreparaturen mittlerweile der Verbraucherschutz, vorliegend in Gestalt des Mieterschutzes, – endlich – in dem gebotenen Maße beachtet wird oder ob hier nach wie vor vieles im argen liegt, so dass es Zeit zum Umdenken, schlicht zur Rückkehr zum Gesetz ist. Es wird sich zeigen, dass es sich in der Tat so verhält – trotz der ständig verschärften Rechtsprechung des BGH zu den üblichen Klauseln.
__________ 1 S. statt aller Emmerich in Staudinger, BGB, (demnächst) 2010, § 535 BGB Rz. 101 ff.
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II. Die Abwälzung der Schönheitsreparaturen in Formularverträgen auf den Mieter Mit den Schönheitsreparaturen meint man im Kern die malermäßige Beseitigung der üblichen Dekorationsmängel infolge der unvermeidlichen Abnutzung der Räume durch den vertragsgemäßen Gebrauch des Mieters (vgl. § 28 Abs. 4 Satz 3 der II. BV). Die genaue Grenzziehung ist umstritten, kann hier aber dahinstehen. Wichtig ist allein, dass diese Reparaturen ebenso wie alle sonstigen Reparaturen nach dem Gesetz grundsätzlich dem Vermieter und nicht etwa dem Mieter obliegen, sobald die Wohnung infolge des normalen Verschleißes Mängel aufweist und dass in diesem Fall deshalb der Mieter (nicht etwa der Vermieter) von dem anderen Teil die Beseitigung der Mängel verlangen kann. Das ergibt sich unmittelbar aus § 535 Abs. 1 Satz 2 und § 536 BGB und steht außer Frage. Bei dieser Reparaturpflicht des Vermieters handelt es sich sogar um ein Wesensmerkmal der Miete, durch das sie sich vom Kauf unterscheidet, wie die §§ 433 und 434 bei einem Vergleich mit § 535 BGB zeigen. Anders als der Käufer zahlt der Mieter die Miete gerade dafür, dass die Mietsache während der ganzen Vertragsdauer in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand erhalten wird. So verhielt es sich denn auch tatsächlich ursprünglich in der Mietpraxis. Dies änderte sich erst mit der Mietnotgesetzgebung nach 1917, unter anderem gekennzeichnet durch eine strikte Begrenzung der Mieten, wodurch sich die Vermieter, weil nämlich die künstlich niedrig gehaltenen Mieten nicht mehr zur Bezahlung der laufenden Kosten ausreichten, genötigt sahen, den Reparaturaufwand nach Möglichkeit auf die Mieter abzuwälzen. So wurde es angeblich zur „Verkehrssitte“, dass die Mieter die Schönheitsreparaturen tragen müssen. Die Mietnotgesetzgebung aus den Jahren nach 1917 und dann wieder nach 1936 gehört mittlerweile längst der Vergangenheit an. Aber bei der angeblichen Verkehrssitte der Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter in den üblichen Formularverträgen der großen Vermieter und Vermieterverbände, allesamt Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB), ist es bis heute geblieben, jetzt „gerechtfertigt“ mit der frei erfundenen „Entgeltthese“ des BGH, nach der der Vermieter die Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter (angeblich) bei der Kalkulation der Miete berücksichtigt (so dass im Ergebnis die Schönheitsreparaturen einen Teil der Gegenleistung des Mieters bildeten). Tatsächlich widerspricht diese These indessen jeder wirtschaftlichen Erfahrung. Denn – natürlich – verlangt jeder Vermieter immer genau die Miete, die der Markt erlaubt, – und versucht außerdem, so viele Kosten wie möglich auf den Mieter abzuwälzen2.
__________ 2 Emmerich, NZM 2000, 1155, 1158; Emmerich, NZM 2006, 761; Emmerich, NZM 2009, 16; Derleder in FS Bub, 2007, S. 305, 319; Hannemann in FS Blank, 2006, S. 189, 197; Sternel, PiG 79 (2007), 41, 57; anders z. B. Kraemer, PiG 75 (2006), 37, 40 ff.; Kraemer, PiG 79 (2007), 15, 22 f. (deutlich zurückhaltender).
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Die Folgerungen liegen auf der Hand: Die gängige Praxis, nach der die Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter in Formularverträgen, d. h. in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, grundsätzlich zulässig ist – als Teil der Gegenleistung des Mieters –, ist schon lange nicht mehr haltbar. Sie verstößt vielmehr eindeutig gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB (weil die Reparaturpflicht des Vermieters zu den Grundgedanken der gesetzlichen Regelung gehört), gegen § 536 Abs. 4 BGB (weil die Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter dazu führt, dass dieser Mängel der Dekoration selbst beseitigen muss) sowie gegen § 556 Abs. 4 BGB, nach dem nur die Betriebskosten und eben nicht auch die Schönheitsreparaturen bei der Wohnraummiete auf den Mieter abgewälzt werden dürfen3. Nichts anderes gilt – erst recht – für eine ganze Reihe weiterer in diesem Zusammenhang üblicher Klauseln in Wohnraummietverträgen, wie jetzt zu zeigen ist.
III. Einzelne Klauseln Die Rechtsprechung steht bekanntlich – gewiss auch in Anerkennung der hier angedeuteten Zusammenhänge – neuerdings wieder zahlreichen Klauseln über Schönheitsreparaturen in Formularverträgen ausgesprochen kritisch gegenüber. Das braucht hier nicht im einzelnen nochmals referiert zu werden. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren vielmehr allein diejenigen Klauseln, die immer noch oder wieder – zu Unrecht – die Billigung der Gerichte gefunden haben. Eine kleine Auswahl derartiger Klauseln soll im Folgenden näher betrachtet werden. 1. Anfangs- und Endrenovierungsklauseln Besonders kritisch stehen die Gerichte Anfangs- und Endrenovierungsklauseln in Formularverträgen gegenüber, weil sich derartige Klauseln besonders weitgehend von dem gesetzlichen Leitbild der Miete entfernen (§§ 307 Abs. 2 Nr. 1, 535 Abs. 1 Satz 2 BGB). Zulässig sind dagegen entsprechende individualvertragliche Abreden (§ 311 Abs. 1 BGB). Anders dagegen schon wieder – wegen des so genannten Summierungseffektes –, wenn sie mit der formularvertraglichen Abwälzung der laufenden Schönheitsreparaturen zusammentreffen. So weit, so gut. Von dieser wohlbegründeten Regel will der BGH aber neuerdings wieder eine Ausnahme machen, wenn die Endrenovierungspflicht individualvertraglich ganz unabhängig von der formularvertraglichen Abwälzung der Schönheitsreparaturen begründet wurde, weil dann nämlich kein Raum für die Anwendung des § 307 BGB sei4.
__________ 3 So schon Emmerich in FS Bärmann und Weitnauer, 1990, S. 233, 239 ff.; Emmerich, NZM 2006, 761; Emmerich, NZM 2009, 16. 4 BGH, GE 2009, 321 f. Tz. 12, 14 = NJW 2009, 1075 m. abl. Anm. Kappus = NZM 2009, 233 m. abl. Anm. Derleder = ZMR 2009, 359 m. Anm. A. Disput; BGH, GE 2009, 647, 648 Tz. 19, 21 = NZM 2009, 397, 398 = NJW-RR 2009, 947; s. dazu Horst, DWW 2009, 174.
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Im Schrifttum ist diese ganz formalistisch begründete Ausnahme von der Unwirksamkeit von formularvertraglichen Endrenovierungsklauseln auf verbreitete Kritik gestoßen5, zumal sie auch mit der Rechtsprechung zum Summierungseffekt in Widerspruch steht6. Der Haupteinwand ist, dass eine derartige, an Äußerlichkeiten der Vertragsgestaltung haftende Rechtsprechung Vermietern Spielräume für strategische Verhaltensweisen zum Nachteil der Mieter eröffnet. Das aber ist offenbar mit einem recht verstandenen modernen Verbraucherschutz unvereinbar. 2. Renovierungsfristen Jedermann weiß heute, dass starre Renovierungsfristen in Formularverträgen unwirksam sind, – wovon angeblich die Hälfte bis drei Viertel der Altverträge betroffen sein sollen, für die es auch keinen Vertrauensschutz gibt7. Als zulässig sieht der BGH dagegen nach wie vor so genannte weiche Fristenpläne an, so dass hier ebenfalls alles auf die Formulierung ankommt. Denn während „regelmäßige“ oder „übliche“ Fristen als starr und damit als unzulässig gelten, werden Fristenpläne mit Zusätzen wie „im allgemeinen, normalerweise, grundsätzlich“ oder „im Regelfall“ als hinreichend „weich“ auch für den verständigen Mieter angesehen und deshalb gebilligt. Das kann nicht richtig sein. Abgesehen davon, dass der „verständige Durchschnittsmieter“, der solche semantischen Spitzfindigkeiten nachzuvollziehen vermag, erst noch gefunden werden muss, ist schon der ganze Ansatz dieser Rechtsprechung verfehlt. Nicht nur, dass die Renovierungsfristen des so genannten Mustermietvertrages des Bundesministeriums der Justiz von 1976 auf den Verhältnissen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts beruhen und deshalb völlig überholt sind, mögen sie nun generell oder nur „im allgemeinen“ gelten, es kommt auch überhaupt nicht auf Renovierungsfristen an, und dies aus folgenden Gründen: Die Schönheitsreparaturen sind, bei Lichte besehen, nichts anderes als ein aus historischen Gründen besonders hervorgehobener Teil der allgemeinen Reparaturpflicht des Vermieters aufgrund des § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB und sonst nichts. Lässt man – zu Unrecht – die formularvertragliche Abwälzung dieses Teils der Reparaturpflicht des Vermieters auf den Mieter zu, so sollte es sich angesichts der §§ 242 und 307 BGB eigentlich von selbst verstehen, dass den Mieter danach auf keinen Fall eine weitergehende Reparaturpflicht als nach dem Gesetz den Vermieter treffen kann. Alles andere wäre ein wahrlich eklatanter Verstoß gegen § 307 BGB. Genau das aber ist der Fall bei Fristenplänen welcher Art auch immer. Denn für die Reparaturpflicht des Vermieters besteht überhaupt kein Fristenplan, weder kraft Gesetzes noch kraft Verkehrssitte; er muss vielmehr immer und nur dann reparieren, wenn die Wohnung mangel-
__________ 5 Nachw. s. Fn. 4. 6 BGH, NJW 2006, 2116 = NZM 2006, 623 Tz. 17 m. Anm. Emmerich, JuS 2006, 933. 7 BGH, NJW 2008, 1438 Tz. 20; BGH, NJW 2009, 62 Tz. 20.
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haft ist (§§ 535 Abs. 1 Satz 2, 536 BGB). Für den Mieter kann dann nichts anderes gelten. Wenn er schon die Schönheitsreparaturen tragen muss, dann ebenso wie der Vermieter immer und nur, wenn die Wohnung infolge der Abnutzung der Dekoration tatsächlich mangelhaft i. S. d. § 536 BGB ist. Jedenfalls in Formularverträgen kann nichts anderes vereinbart werden, wie sich unmittelbar aus den §§ 307 und 535 BGB i. V. m. § 536 BGB ergibt, – mit der Folge, dass alle Fristenpläne, auch noch so „weiche“, gegen das Gesetz verstoßen und zur Unwirksamkeit der Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter führen. Es wird Zeit, dem Unfug der Fristenpläne, einer Erfindung ausgerechnet des Bundesministeriums der Justiz, ein unrühmliches Ende zu bereiten, – sofern man das Gesetz noch ernst nimmt, woran freilich wachsende Zweifel begründet sind. 3. Fachhandwerker- und Farbwahlklauseln Durch Fachhandwerker- und Farbwahlklauseln soll dem Mieter (obendrein) vorgeschrieben werden, durch wen und wie er die Schönheitsreparaturen vorzunehmen hat. Sie stellen im Ergebnis einen durch nichts zu rechtfertigenden Eingriff in die persönliche Lebensgestaltung des Mieters seitens des Vermieters dar. Man ist sich deshalb heute in der Ablehnung derartiger Klauseln, die an die unseligen Installationsmonopole der Energieversorgungsunternehmen erinnern, im Prinzip einig, aber eben nur im Prinzip. Denn zulässig sind nach Meinung des BGH doch die so genannten Rückgabeklauseln, durch die dem Mieter die farbliche Gestaltung der Dekoration „wenigstens“ bei Rückgabe vorgeschrieben werden soll8. Auch dies kann nicht richtig sein. Derartige Klauseln lassen dem Mieter nur die Wahl zwischen der Beachtung der vorgeschriebenen Farben während der ganzen Vertragsdauer – dann handelt es sich um eine unzulässige Farbwahlklausel – oder einer erneuten Renovierung bei Rückgabe in den vorgeschriebenen Farben – dann haben wir nichts anderes als eine unzulässige Endrenovierungsklausel vor uns (oben III. 1.). Rückgabeklauseln verstoßen deshalb ebenfalls gegen das Gesetz (§§ 242, 307 und 535 BGB). 4. Quotenklauseln Durch Quotenklauseln, auch Abgeltungsklauseln genannt, soll der Mieter – über die laufenden Schönheitsreparaturen hinaus –, auch wenn er vor Fälligkeit der nächsten Schönheitsreparaturen auszieht, wenigstens partiell an deren
__________ 8 BGH, NJW 2007, 1743 Tz. 8 f. = NZM 2007, 398; BGH, NJW 2008, 2499 = NZM 2008, 605 Tz. 17 ff.; BGH, NJW 2009, 62 Tz. 13 ff. = NZM 2008, 926; BGH, WuM 2009, 224, 225 Tz. 12 = NZM 2009, 313 = NJW-RR 2009, 656; LG Berlin, GE 2007, 194, 195; LG Berlin, GE 2007, 854, 856; LG Berlin, GE 2008, 869; LG Berlin, GE 2009, 847; AG/LG Köln, WuM 2007, 125; LG Hamburg, WuM 2007, 194, 195; Beyer, NJW 2008, 2065, 2067 f.
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Kosten beteiligt werden9. Deshalb wird bestimmt, dass der Mieter zeitanteilig, d. h. im Verhältnis der bereits abgelaufenen Renovierungsfrist zu der vermutlichen gesamten Renovierungsfrist die zukünftigen Renovierungskosten aufgrund einer Schätzung partiell mittragen muss. Derartige Klauseln werden heute nur noch unter engen Voraussetzungen von den Gerichten in Formularverträgen zugelassen, insbesondere bei hinreichender Transparenz, bei Verbindung mit weichen Fristen und bei Fristbeginn erst mit Übergabe der Wohnung an den Mieter. Unbedenklich soll es darüber hinaus aber auch sein, wenn dem Mieter seinerzeit eine nicht renovierte Wohnung übergeben wurde. Das ist ebenso unhaltbar wie die Auffassung, durch eine unwirksame Quotenklausel werde die für sich wirksame Abwälzung der laufenden Schönheitsreparaturen (mit weichen Fristen) nicht infiziert10, weil das erste auf eine verkappte Kombination einer Anfangs- und einer Endrenovierungsklausel und das zweite auf eine unzulässige geltungserhaltende Reduktion hinausläuft. Eine transparente, für den durchschnittlichen Mieter nachvollziehbare Formulierung von Quotenklauseln in Verbindung mit weichen Fristen dürfte ohnehin nicht möglich sein, ganz abgesehen davon, dass es auch auf weiche Fristen gar nicht ankommt (oben III. 2.), so dass für Quotenklauseln, die sich besonders weit von dem gesetzlichen Leitbild der Miete entfernen, wohl endgültig kein Raum mehr sein dürfte.
IV. Ersatzstrategien Infolge des absehbaren Endes der formularvertraglichen Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter „wimmelt“ es von Ersatzstrategien, mittels derer von der ach so schönen, aber eben dem Gesetz widersprechenden Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter in Formularverträgen so viel gerettet werden soll wie irgend möglich. Einer Reihe solcher Strategien haben die Gerichte bereits einen Riegel vorgeschoben; andere werden dagegen noch grundlos geduldet. Nur auf die Letzteren ist hier einzugehen. Es versteht sich von selbst, dass die (angebliche) „Vertragslücke“ infolge des Wegfalls der Klauseln über die Abwälzung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung oder auf dem Weg über § 313 BGB geschlossen werden kann, weil gar keine Vertragslücke vorliegt (§ 535 Abs. 1 Satz 2 BGB). Ebenso wenig kommt ein Zuschlag zu der Miete in Betracht, wenn der Vermieter jetzt die Schönheitsreparaturen (wieder) tragen muss, weil dafür jede gesetzliche Grundlage fehlt, weil solcher Zuschlag überhaupt nicht zu berechnen ist und weil dadurch der Mieter ohne gesetz-
__________ 9 S. dazu Artz, NZM 2007, 265; Beyer, PiG 75 (2006), 3, 12 f.; Beyer, GE 2007, 122; Beyer, NJW 2008, 2065; Bub/von der Osten, NZM 2007, 76; Heinrichs, WuM 2005, 155 = NZM 2005, 201; Kappus, NJW 2007, 3635; Kappus, ZMR 2007, 31; Kraemer, PiG 73 (2006), 37, 51 f.; Kraemer, PiG 79 (2007), 15, 29 f.; Langenberg, WuM 2007, 231. 10 So BGH, NJW 2006, 3778 = NZM 2006, 924, 926 Tz. 18; BGH, WuM 2009, 36 = NZM 2009, 177.
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liche Grundlage um die Vorteile eines günstigen Vertragsabschlusses gebracht würde, wie der BGH mittlerweile klargestellt hat11. In den so genannten Orientierungshilfen zu einem (qualifizierten) Mietspiegel kann gleichfalls für den Regelfall nichts anderes „bestimmt“ werden12. Anders entscheidet der BGH freilich nach wie vor, wenn bei einer (in seinen Augen) wirksamen Abwälzung der Schönheitsreparaturen in einem Formularvertrag nach Vertragsende die Vornahme der Schönheitsreparaturen sinnlos wird, weil der Vermieter die Räume umbaut. Dem Vermieter wird dann – auf unklarer gesetzlicher Grundlage – ein Ausgleichsanspruch zugebilligt. der sich der Höhe nach im wesentlichen auf die Personal- und Sachkosten beschränkt, die der Mieter infolge der jetzt nicht mehr möglichen Durchführung der Schönheitsreparaturen erspart hat13. Zu dieser merkwürdigen Auffassung hat die Gerichte die Entgeltthese verführt, die es rechtfertigen soll, „im Wege ergänzender Vertragsauslegung“ die nicht mehr zu realisierende „Gegenleistung“ (in Gestalt der Schönheitsreparaturen) schlicht durch eine Geldforderung zu ersetzen. Die Entgeltthese ist jedoch nicht haltbar (oben II.), – womit dieser ganzen Rechtsprechung bereits die Grundlage entzogen ist, durch die der Mieter ohne Grund und letztlich auch ohne tragfähige Begründung unnötig belastet wird. Im Ergebnis nicht besser steht es mit der jedenfalls früher vom BGH vertretenen Auffassung, an der (angeblichen) Verpflichtung des Mieters zur Durchführung der Schönheitsreparaturen ändere es nichts, wenn es dem Vermieter gelinge, die Schönheitsreparaturen (wiederum angeblich wirksam) auf den Nachmieter abzuwälzen14. Man muss sich vor Augen führen, was das heißt: Nach dem Gesetz obliegen dem Vermieter die Schönheitsreparaturen, mag er sie in Formularverträgen auf den Mieter abgewälzt haben oder nicht (oben II.). Daraus macht der BGH, dass der Vermieter – entgegen dem Gesetz – die Schönheitsreparaturen gleich zweimal verlangen kann, nämlich von dem alten und von dem neuen Mieter. Ein Kommentar erübrigt sich. Die Aufgabe dieser Praxis ist überfällig.
__________ 11 BGHZ 177, 186, 189 ff. Tz. 11 ff. = NJW 2008, 2840; BGH, WuM 2008, 487 = GE 2008, 1046 Tz. 15 ff.; BGH, NJW 2009, 1410 = WuM 2009, 240 Tz. 10 = NZM 2009, 313; LG Nürnberg-Fürth, NZM 2006, 53 = WuM 2006, 38; LG Bonn, WuM 2009, 466; Emmerich, NZM 2006, 761, 764 f. m. Nachw.; ebenso im sozialen Wohnungsbau nach dem WoBindG Wüstefeld, WuM 2008, 697; anders AG Wetzlar, WuM 2009, 172; Bellinger, WuM 2009, 158. 12 LG Bonn, WuM 2009, 466. 13 BGHZ 77, 301, 304 f. = NJW 1980, 2347; BGHZ 85, 267, 273 f. = NJW 1983, 446; BGHZ 92, 363, 369 ff. = NJW 1985, 480; BGHZ 96, 141, 145 f. = NJW 1986, 309; BGHZ 151, 53, 57 ff. = NJW 2002, 2383 = NZM 2002, 655 = WuM 2002, 484; BGH, WuM 2005, 50, 52 = NZM 2005, 58 = GE 2005, 51; BGH, WuM 2006, 308, 309 Tz. 17 = NJW 2006, 2115 = NZM 2006, 621; BGH, GE 2009, 111, 112 Tz. 30; KG, WuM 2008, 724, 725 = ZMR 2009, 277, 279; OLG Oldenburg, WuM 2000, 301 = NZM 2000, 828; LG Berlin, GE 2004, 821; LG Berlin, GE 2006, 1038. 14 BGHZ 49, 56, 61 ff. = NJW 1968, 491; KG, NZM 2005, 181, 182; LG Duisburg, NJWRR 1999, 736, 737.
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V. Schluss Die im vorstehenden kritisierte Rechtsprechung zu den Schönheitsreparaturen ist ein bedrückendes Beispiel dafür, wie sich eine in einer Notsituation begründete und seinerzeit vielleicht vertretbarer Praxis einfach aus Gewohnheit – „weil es so schön ist“ – fortschleppt, obwohl die am Anfang der Praxis stehende Notsituation – hier das Mietnotrecht während und nach den beiden Weltkriegen – buchstäblich seit Jahrzehnten entfallen ist. Statt die längst obsolete Praxis deshalb zu ändern, wird dann eine Scheinrationalisierung nachgeschoben, hier in Gestalt der nicht haltbaren Entgeltthese. Und unter Berufung auf diese Scheinbegründung wird dann munter weiter gemacht wie bisher, – obwohl die Voraussetzungen längst nicht mehr stimmen und die Konsequenzen daher fatal sind. Die Antwort kann nur lauten: Zurück zum Gesetz, d. h. hier strikte Beachtung der §§ 307, 535 Abs. 1 Satz 2 und 536 Abs. 4 BGB. Zumindest diese „Wende“ ist überfällig.
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Verbraucherschutz und öffentliches Recht Inhaltsübersicht I. Verbraucherschutz bei Verträgen über einen Leistungsaustausch mit der öffentlichen Hand 1. Fiskalgeschäfte 2. Verträge zur Verfolgung öffentlicher Zwecke a) Zur Abgrenzung von zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Verträgen b) Zivilrechtliche Verträge c) Öffentlich-rechtliche Verträge d) Prozessuales II. Verbraucherschutz gegenüber Verwaltungsakten? III. Schutzpflichten des Gesetzgebers zur Durchsetzung von Verbraucherschutzinteressen IV. Schutzmöglichkeiten und Schutzpflichten von Behörden zur Durchsetzung von Verbraucherschutzinteressen 1. Schutz der Gesundheit des Verbrauchers gegenüber gefährlicher
Beschaffenheit von Waren oder Verkaufsstätten 2. Schutz des Verbrauchers vor Täuschung 3. Schutz des Vermögens des Verbrauchers gegenüber Gefährdungen durch einen nicht leistungsfähigen Vertragspartner 4. Schutz des Persönlichkeitsrechts des Verbrauchers 5. Schutz des Verbrauchers vor Vertragsgestaltungen, die gegen den Schutz des schwächeren Vertragspartners bezweckende Rechtsvorschriften verstoßen V. Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch bei fehlenden oder verspäteten Umsetzungen von Richtlinien-Vorgaben zum Verbraucherschutz VI. Abschlussbemerkung
Einer der Schwerpunkte des wissenschaftlichen Schaffens von Fritz von Westphalen war und ist die Befassung mit der Materie des Verbraucherschutzrechts. Dies gibt Anlass, der Frage nachzugehen, inwieweit Gesichtspunkte des Verbraucherschutzes auch durch öffentliches Recht beeinflusst sind und ihrerseits in diesem eine Rolle spielen.
I. Verbraucherschutz bei Verträgen über einen Leistungsaustausch mit der öffentlichen Hand Insoweit ist zunächst an Verträge zwischen der öffentlichen Hand und Privaten zu denken, durch welche ein Leistungsaustausch erfolgt.
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1. Fiskalgeschäfte Eine erste Gruppe derartiger Verträge stellen die sog. Fiskalgeschäfte dar. Fiskalgeschäfte sind solche, bei denen die öffentliche Hand zur Deckung eigenen Bedarfs Waren oder Leistungen bezieht (Beispiel: der Kauf von Heizöl oder Schreibpapier1) oder bei denen sie Gegenstände, die sie nicht benötigt, ihrerseits veräußert, ohne mit dieser Veräußerung einen bestimmten öffentlichen Zweck zu verfolgen (Beispiel: der Verkauf von Holz aus dem Gemeindewald2). Derartige Fiskalgeschäfte unterliegen, wie auch in der Zuständigkeit der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit für hieraus folgende Rechtsstreite3 zum Ausdruck kommt, ohne Wenn und Aber dem Zivilrecht und damit auch dessen Maßstabsnormen, somit bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen auch den §§ 305 bis 309 BGB. 2. Verträge zur Verfolgung öffentlicher Zwecke Eine zweite Gruppe stellen Verträge dar, mit denen die öffentliche Hand – häufig in Gestalt einer Gemeinde, eines Landkreises oder einer auf kommunalrechtlicher Grundlage gebildeten juristischen Person des öffentlichen Rechts – öffentliche Zwecke verfolgt. Dabei sind wiederum zwei Fallgestaltungen denkbar. Zum einen kann die öffentliche Hand zur Verfolgung der entsprechenden öffentlichen Zwecke in den Formen des sogenannten Verwaltungsprivatrechts4 tätig werden und demgemäß zivilrechtliche Verträge abschließen. Zum anderen kommt auch ein Abschluss öffentlich-rechtlicher Verträge in Betracht. a) Zur Abgrenzung von zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Verträgen Da für die richterliche Inhaltskontrolle – wie im folgenden noch zu erörtern sein wird – für jede der beiden Varianten unterschiedliche Maßstabsnormen gelten5, stellt sich zunächst die Frage, wie der Rechtscharakter entsprechender Verträge zu bestimmen ist. Bei einem gemischten Vertrag, also einem Vertrag, der sowohl öffentlich-rechtliche als auch privat-rechtliche Elemente enthält, kommt es bei einem synallagmatischen Verhältnis darauf an, ob die vertraglichen Regelungen mit ihrem Schwerpunkt öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ausgestaltet sind und welcher Teil dem Vertrag das entscheidende Gepräge gibt, weil Leistung und Gegenleistung des Vertrages regelmäßig nur einheitlich beurteilt werden können6. Nur soweit eine solche gegenseitige Abhängigkeit zwischen Leistung und Gegenleistung nicht besteht, ist dagegen Raum für eine inhaltliche Aufspaltung rechtlich selbständiger, nur äußerlich
__________ 1 2 3 4 5 6
Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2008, Rz. 901 m. w. N. Vgl. VGH München, Urteil v. 30.10.1985 – 3 B 85.1122, BayVBl. 1986, 726 f. Vgl. VG Ansbach, Beschluss v. 2.9.2008 – AN 4 E 08.01365, juris. BGH, Urteil v. 17.6.2003 – XI ZR 195/02, BGHZ 155, 166, 173. Hierzu BGH, Urteil v. 29.11.2002 – V ZR 105/02, BGHZ 153, 93, 97 f. BVerwG, Urteile v. 6.7.1973 – IV C 22.72, BVerwGE 42, 331, 335 und v. 1.2.1980 – IV C 40/77, NJW 1980, 2538 sowie BGH (GS), Beschluss v. 22.3.1976 – GSZ 2/75, BGHZ 67, 81, 88 und v. 4.11.2003 – KZB 8/03, IR 2004, 46 f.
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in einer Urkunde zusammengefasster Rechte und Pflichten eines sog. zusammengesetzten Vertrages7. Als Beispiel sind Verträge im sogenannten „Einheimischenmodell“ zu nennen, also solche, mit denen eine Gemeinde bauwilligen Einheimischen Grundstücke zu einem subventionierten Preis verkauft, um etwa eine bestimmte Zusammensetzung der Wohnbevölkerung zu erhalten8. Die Frage, – ob derartige Verträge als öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Verträge anzusehen sind, und – ob die gerichtliche Inhaltskontrolle daher – in erster Linie – am Angemessenheitserfordernis des § 11 Abs. 2 BauGB oder an den §§ 305 bis 309 BGB vorzunehmen ist, wird danach maßgeblich davon abhängen, – ob für den Abschluss des entsprechenden Vertrags in erster Linie öffentliche Zwecke oder das Interesse der Gemeinde am Erlös eines Kaufpreises maßgeblich waren, und – ob die städtebaulichen Zwecken dienenden Vertragsregelungen das wesentliche Gepräge des Vertrags ausmachen. Demgemäß wird eine Qualifizierung als zivilrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Vertrag regelmäßig nur nach Ermittlung der Regelungsschwerpunkte im konkreten Einzelfall möglich sein. Diese Grundsätze gelten über Einheimischen-Verträge hinaus auch für sonstige Verträge zwischen der Gemeinde und einem Privaten mit kaufvertraglichen Elementen. So stellt etwa ein Vertrag, der zwar (auch) einen Anspruch auf Eigentumsübertragung an einem Grundstück enthält, dessen Schwerpunkt aber eine Verpflichtung zur Durchführung von Erschließungsmaßnahmen darstellt, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag dar9. Umgekehrt soll dann, wenn sich ein Grundstückskäufer in einem Kaufvertrag mit der Gemeinde dazu verpflichtet, den Sitz seines Unternehmens in das Gemeindegebiet zu verlegen, das Grundstück zu bebauen und die Bebauung unabhängig vom öffentlichrechtlichen Baugenehmigungsverfahren mit der Gemeinde abzustimmen sowie im Falle von Verstößen hiergegen einen Rückbau vorzunehmen, davon
__________ 7 OVG Magdeburg, Beschluss v. 18.3.2008 – 3 O 15/07, juris; vgl. auch Stelkens/Bonk/ Sachs, 7. Aufl., § 54 VwVfG Rz. 77 m. w. N. 8 Vgl. allgemein zu Einheimischenmodellen Huber/Wollenschläger, Einheimischenmodelle – Städtebauliche Zielverwirklichung an der Schnittstelle von europäischem und nationalem, öffentlichem und privatem Recht, 2008; Grziwotz, Probleme der sog. „Einheimischen-Modelle“, NJW 1993, 2665–2667; ders., Gestaltungsmöglichkeiten bei Einheimischenmodellen, ZfIR 1999, 254–259; ders., Risiken für Einheimischenmodelle und Gestaltungsvorschläge, KommJur 2007, 470–453. 9 OLG Schleswig, Beschluss v. 28.2.2008 – 16 W 122/07, NVwZ-RR 2008, 743 f.
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auszugehen sein, dass der Schwerpunkt des Vertrages auf dem Gebiet des Zivilrechts liegt10. Im Übrigen kann es das Gericht dann, wenn der betreffende Vertrag im Rahmen richterlicher Inhaltskontrolle sowohl den Maßstäben des Zivilrechts als auch des öffentlichen Rechts standhalten würde, dahinstehen lassen, welche Maßstabsnormen im konkreten Fall anwendbar sind11. b) Zivilrechtliche Verträge Erfolgt eine Qualifizierung als zivilrechtlicher Vertrag, so ist die richterliche Inhaltskontrolle regelmäßig zunächst anhand der durch das Privatrecht vorgegebenen Maßstäbe vorzunehmen. Im hier interessierenden Kontext handelt es sich dabei in erster Linie um die §§ 305 bis 309 BGB. § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB führt zu keiner Einschränkung, weil diese Bestimmung den umgekehrten Fall erfasst, dass nämlich Allgemeine Geschäftsbedingungen gegenüber einer juristischen Person des öffentlichen Rechts oder einem öffentlich-rechtlichen Sondervermögen verwendet werden. Weiter ist zu beachten, dass im Anwendungsbereich des Verwaltungsprivatrechts die Normen des Privatrechts durch Bestimmungen des öffentlichen Rechts ergänzt, überlagert und modifiziert werden. Es besteht dann nicht nur eine Bindung an die Grundrechte, insbesondere an den Gleichheitssatz und das daraus folgende Willkürverbot, sondern auch an das Übermaßverbot12. Demgemäß ist im Rahmen des § 307 BGB die Prüfung der Angemessenheit von Bestimmungen eines Vertrags mit einem Träger öffentlicher Gewalt auch unter Berücksichtigung von Umfang und Reichweite einschlägiger Grundrechte vorzunehmen. So ist von der Rechtsprechung etwa die Unangemessenheit der in einem als zivilrechtliches Rechtsgeschäft qualifizierten Einheimischen-Vertrag enthaltenen Verpflichtung, das eigene Haus mindestens 20 Jahre lang selbst zu bewohnen, auch mit Blick auf die Grundrechte der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG, die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und die Freizügigkeit nach Art. 11 GG angenommen worden13. Zudem sind bereichsspezifische Sonderregelungen zu berücksichtigen. So sind etwa allgemeine Versorgungsbedingungen für Verträge zwischen Fernwärmeversorgungsunternehmen und Tarifkunden am Maßstab der §§ 2 bis 34 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Fernwärme14 zu überprüfen. Eine derartige Verordnung unterliegt ihrerseits als Rechtsnorm
__________ 10 BGH, Beschluss v. 2.10.2003 – V ZB 8/03, NVwZ 2004, 253 f. 11 So ausdrücklich BGH, Urteil v. 13.10.2006 – V ZR 33/06, NotBZ 2007, 140 = BRS 70 Nr. 222. 12 BGH, Urteile v. 17.6.2003 – XI ZR 195/02, BGHZ 155, 166, 175 und v. 15.10.1993 – V ZR 19/92, WM 1994, 351, 354. 13 OLG Frankfurt, Urteil v. 27.8.2009 – 22 U 213/07, juris. 14 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Fernwärme v. 20.6. 1980, BGBl. I 1980, 742, zuletzt geändert durch Art. 20 des Gesetzes v. 9.12.2004, BGBl. I 2004, 3214.
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keiner richterlichen Inhaltskontrolle im eigentlichen Sinne; vielmehr ist die gerichtliche Kontrolle darauf beschränkt, – ob ihre Regelungen durch die in Bezug genommene Ermächtigungsgrundlage gedeckt sind, und – ob diese Regelungen auch im übrigen mit höherrangigem Recht vereinbar sind. Für Sonderabnehmer ist die in § 310 Abs. 2 BGB enthaltene Einschränkung der Anwendbarkeit von §§ 308 und 309 BGB zu beachten sowie das daraus folgende Gebot der Gleichbehandlung von Tarifkunden und Normsonderkunden nebst dem bei Preisanpassungsklauseln bedeutsamen Verhältnis von § 307 BGB und § 315 BGB15. Im Übrigen stellt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Preisanpassungsklausel, die ein gesetzliches Preisänderungsrecht unverändert in einen formularmäßigen Vertrag mit Normsonderkunden übernimmt, mithin nicht zum Nachteil des Kunden von der gesetzlichen Regelung des Preisänderungsrechts für den Grundversorger abweicht, keine unangemessene Benachteiligung des Sonderkunden im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 oder 2 BGB dar16. c) Öffentlich-rechtliche Verträge Bei einem öffentlich-rechtlichen Vertrag ist die Inhaltskontrolle regelmäßig anhand der durch das einschlägige öffentliche Recht vorgegebenen Maßstäbe vorzunehmen. Als Beispiele sind etwa die Angemessenheitserfordernisse oder die Koppelungsverbote aus § 11 Abs. 2 und § 124 Abs. 3 Satz 1 BauGB oder § 56 Abs. 1 Satz 2 des jeweils einschlägigen Verwaltungsverfahrensgesetzes bzw. von § 123 Abs. 1 Satz 2 LVwG S-H17 zu nennen. Dabei ist zu beachten, dass das Gebot angemessener Vertragsgestaltung aus den vorgenannten Vorschriften nicht nur eine Kontrolle des vertraglichen Austauschverhältnisses, sondern auch eine Überprüfung der einzelnen Vertragsklauseln ermöglicht. Bei dieser erlangen wiederum – unter Berücksichtigung der besonderen Interessenlage des entsprechenden Vertragszwecks – auch die den §§ 305 bis 309 BGB zugrunde liegenden Wertungen Bedeutung. Es ist jedoch – weitergehend als nach dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen – eine Kompensation von Vertragsklauseln, die für sich genommen unangemessen sind, durch vorteilhafte Bestimmungen im übrigen Vertrag möglich18.
__________
15 Vgl. BGH, Urteil v. 29.4.2008 – KZR 2/07, BGHZ 176, 244, 248 f.; zu den Folgen einer Fehlerhaftigkeit von Preisanpassungsklauseln von Westphalen, Preisanpassungsklauseln in Energielieferungsverträgen mit Normsonderkunden, ZIP 2008, 669, 671. 16 BGH, Urteil v. 15.7.2009 – VIII ZR 56/08, NJW 2009, 2667, 2669. 17 Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein (Landesverwaltungsgesetz – LVwG –) i. d. F. d. B. v. 2.6.1992, GVOBl. 1992, 243, 534, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 17.9.2009, GVOBl. 2009, 573. 18 BGH, Urteil v. 29.11.2002 – V ZR 105/02, BGHZ 153, 93, 102.
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Eine weitere für den „Verbraucherschutz“ des Privaten gegenüber der Behörde bedeutsame Vorschrift stellt § 56 Abs. 2 VwVfG19 dar. Danach kann dann, wenn auf die Leistung der Behörde ein Anspruch besteht, nur eine solche Gegenleistung vereinbart werden, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes Inhalt einer rechtlich zulässigen Nebenbestimmung sein könnte. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob im Falle einer Qualifizierung des betreffenden Rechtsgeschäfts als öffentlich-rechtlicher Vertrag – Vorschriften des BGB über den Verbraucherschutz als Maßstabsnormen von vornherein gänzlich außer Betracht zu bleiben haben, oder – ob sie lediglich auf eine subsidiäre und entsprechende Anwendbarkeit beschränkt sind. Anlass für eine derartige Überlegung bietet § 62 des jeweiligen Verwaltungsverfahrensgesetzes20, wonach dann, wenn sich aus den §§ 54 bis 61 dieses Gesetzes nichts Abweichendes ergibt, zunächst die übrigen Vorschriften des betreffenden Gesetzes und ergänzend die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend gelten. Aus dieser Kaskade folgt, dass die betreffenden Vertragsbestimmungen – zunächst auf ihre Vereinbarkeit mit den „verbraucherschützenden“ Vorschriften aus dem Abschnitt des betreffenden Verwaltungsverfahrensrechts über den öffentlich-rechtlichen Vertrag – insbesondere § 56 VwVfG –, – sodann auf ihre Konformität mit den übrigen Vorschriften dieses Verwaltungsverfahrensrechts, und – schließlich am Maßstab der entsprechend anwendbaren Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches zu prüfen sind. In letzterer Hinsicht ist zu beachten, dass die nur entsprechende Anwendbarkeit der Bestimmungen des BGB nach allgemeinen methodologischen Regelungen dazu führt, dass für einen – auch nur subsidiären – Rückgriff dann kein Raum ist, wenn der entsprechende Regelungskomplex nicht selbst im einschlägigen öffentlich-rechtlichen Fachgesetz oder dem maßgeblichen Verwaltungsverfahrensrecht abschließend geregelt ist21. Bedenkt man aber, dass die insoweit bestehenden Vorschriften ersichtlich darauf abzielen, der besonderen Beziehung zwischen dem betreffenden Hoheitsträger und dem seiner Gewalt
__________
19 Dem entspricht im schleswig-holsteinischen Verwaltungsverfahrensrecht § 123 Abs. 2 LVwG S-H. 20 Zum beschränkten Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes vgl. dessen § 1, insbesondere Abs. 3, wonach dieses Gesetz für die Ausführung von Bundesrecht durch die Länder nicht gilt, soweit die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden landesrechtlich durch ein Verwaltungsverfahrensgesetz geregelt ist. 21 Vgl. Kopp/Ramsauer, 10. Aufl. 2008, § 62 VwVfG Rz. 4–6.
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unterworfenen Bürger Rechnung zu tragen, so spricht dies deutlich dafür, dass sie als abschließend anzusehen sind, mit der Folge, dass für eine ergänzende Überprüfung der materiellen Richtigkeitsgewähr am Maßstab der Vorgaben des bürgerlichen Rechts kein Raum ist. d) Prozessuales Für die Frage, welche Maßstabsnormen anzuwenden sind, ist es unerheblich, vor welchem Gericht über die Rechtswirksamkeit des betreffenden Vertrags gestritten wird. Dies folgt schon daraus, – dass nach § 17a Abs. 5 GVG in der Rechtsmittelinstanz für eine Prüfung der Rechtswegzuständigkeit kein Raum mehr ist, – dass mithin das Rechtsmittelgericht immer das rechtswegmäßig zuständige Gericht ist, und – dass das rechtswegmäßig zuständige Gericht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden hat. Dies hat zur Folge, dass etwa dann, – wenn aus einem objektiv öffentlich-rechtlichen Vertrag wegen Verkennung dieses Rechtscharakters Klage vor dem Zivilgericht erhoben worden ist, und – wenn die fehlende Rechtswegzuständigkeit erst in der Berufungsinstanz deutlich wird, das Berufungsgericht den Rechtsstreit nicht an die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit verweisen kann, sondern ihn nach den für diese geltenden Maßstabsnormen des öffentlichen Rechts zu entscheiden hat. Prozessual ist weiter zu beachten, dass bei öffentlich-rechtlichen Verträgen die bereits angesprochene nachrangige Geltung der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs – damit auch der §§ 305 bis 309 BGB – nur kraft Verweisung erfolgt. Geschieht diese Verweisung nicht aufgrund von § 62 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes, sondern aufgrund der entsprechenden Vorschrift des einschlägigen Landesverwaltungsverfahrensrechts, so folgt daraus, dass auch den durch eine derartige Verweisung geltenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzesbuches nur die Qualität von Landesrecht zukommt. Dies wiederum ist deshalb von Bedeutung, weil in derartigen Fällen eine Revisibilität von Rechtsfragen, die sich im Zusammenhang mit der nur entsprechenden Anwendung der Vorschriften des BGB kraft landesrechtlicher Verweisung stellen, gemäß § 137 Abs. 1 VwGO nicht gegeben ist22.
__________ 22 BVerwG, Beschluss v. 2.7.2009 – 7 B 9/09, NVwZ 2009, 1037, v. 7.6.2002 – 9 B 30.02, juris, und v. 10.8.2007 – 9 B 19.07, Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 29.
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II. Verbraucherschutz gegenüber Verwaltungsakten? Des Weiteren stellt sich die Frage, ob Gesichtspunkte des Verbraucherschutzes auch dann von Belang sein können, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt einseitig hoheitlich gegenüber einem Privaten tätig wird. Insoweit ist von dem Grundsatz auszugehen, dass dann, wenn eine Behörde gegenüber dem Bürger Verwaltungsakte erlässt, diese allein am Maßstab des einschlägigen Fach- und Verfahrensrechts sowie des Verfassungsrechts zu überprüfen sind. Für einen – auch nur ergänzenden – Rückgriff auf Grundsätze oder Regelungen des auf die Ebene der Gleichordnung zugeschnittenen Rechts des Verbraucherschutzes ist hingegen in derartigen Fällen demgegenüber regelmäßig kein Raum. So ist etwa vom Bundesverwaltungsgericht festgestellt worden, dass dann, wenn eine Gemeinde durch Satzung für ein Wohngebiet aus Gründen des Immissionsschutzes den Zwang zur Benutzung der öffentlichen Fernwärmeversorgung angeordnet hat, ohne in der Satzung eine Ausnahme für den Betrieb von holzbefeuerten Kachelöfen vorzusehen, eine solche Ausnahme auch nicht aufgrund der verbraucherschutzrechtlichen Bestimmung des § 3 Satz 3 AVBFernwärmeV beansprucht werden kann, sofern durch die Zulassung des Betriebs der Öfen das mit der Anordnung des Benutzungszwangs verfolgte Ziel der Luftreinhaltung vereitelt werden würde23. Schon zuvor war durch das Bundesverwaltungsgericht judiziert worden, dass ein durch eine als bundesrechtliche Rechtsverordnung erlassene Allgemeine Versorgungsbedingung statuiertes Kündigungsrecht einem aus Gründen der Volksgesundheit aufgrund landesrechtlicher Ermächtigung verfügten Zwang zur Benutzung der öffentlichen Wasserversorgungsanlage nicht entgegengesetzt werden kann24.
III. Schutzpflichten des Gesetzgebers zur Durchsetzung von Verbraucherschutzinteressen Das Bundesverfassungsgericht hat auf Basis der Grundsätze seiner zunächst zum Schutz von Leben und Gesundheit entwickelten Schutzpflichttheorie25 im Jahre 2005 judiziert, dass die in Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG enthaltenen objektivrechtlichen Schutzaufträge den Gesetzgeber verpflichten, Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die Versicherten einer kapitalbildenden Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung an den durch die Prämienzahlung geschaffenen Vermögenswerten bei der Ermittlung des Schlussüberschusses angemessen beteiligt werden. In den Gründen wird u. a. festgestellt, – dass Privatautonomie voraussetzt, dass die Bedingungen der Selbstbestimmung des Einzelnen auch tatsächlich gegeben sind, und – dass dann, wenn auf Grund erheblich ungleicher Verhandlungspositionen der Vertragspartner einer von ihnen ein solches Gewicht hat, dass er den
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23 BVerwG, Beschluss v. 12.7.1991 – 7 B 17/91, Buchholz 415.1 AllgKommR Nr. 113. 24 BVerwG, Beschluss v. 15.7.1988 – 7 B 195/87, NVwZ 1988, 1126 f. 25 BVerfG, Urteil v. 26.7.2005 – 1 BvR 80/95, NJW 2005, 1127 ff.
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Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, es Aufgabe des Rechts ist, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen oder mehrere Vertragsteile die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt26. In ähnlichem Sinne hatte das Bundesverfassungsgericht bereits zuvor in der Entscheidung zur richterlichen Kontrolle von Bürgschaftsverträgen aus dem Jahre 1993 eine Pflicht der Zivilgerichte zur inhaltlichen Überprüfung von Verträgen, die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind, festgestellt27. Auch wenn der Verbraucherschutz als solcher kein Rechtsgut von Verfassungsrang ist28, so wird doch der Umstand, dass bei zahlreichen mit Verbrauchern geschlossenen Verträgen durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsgüter tangiert sind, die Zivilgerichte zunehmend veranlassen müssen, darauf zu achten, – dass die Bestimmungen des einfachen Rechts in entsprechenden Fällen stets mit Blick auf Umfang und Reichweite dieser Grundrechte angewandt werden, und – dass nicht dadurch gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie und des Sozialstaatsprinzips verstoßen wird, dass das Problem gestörter Vertragsparität gänzlich negiert oder mit untauglichen Mitteln versucht wird zu korrigieren29.
IV. Schutzmöglichkeiten und Schutzpflichten von Behörden zur Durchsetzung von Verbraucherschutzinteressen Weiter stellt sich die Frage, ob eine Behörde ggf. dann einschreiten kann oder ggf. sogar muss, wenn gegen Vorschriften verstoßen wird, die zugunsten von Personen, die im weitesten Sinne als „Verbraucher“ anzusehen sind, erlassen wurden. Dabei ist zwischen verschiedenen Gefährdungen zu unterscheiden, insbesondere zwischen Gefahren, – die dem Abnehmer durch eine bestimmte tatsächliche Beschaffenheit von in Verkehr gebrachten Waren oder den zur Inverkehrbringung vorgesehenen Einrichtungen drohen, – die ihre Ursache in Täuschungen über die Beschaffenheit der Ware oder Leistung haben,
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26 BVerfG, Urteil v. 26.7.2005 – 1 BvR 80/95, BVerfGE 114, 73, 97 ff. 27 BVerfG, Beschluss v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89, BVerfGE 89, 214, 232. 28 So ausdrücklich OVG Schleswig, Beschluss v. 22.6.2005 – 4 LB 30/04, NuR 2006, 327, 329. 29 BVerfG, Beschluss v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89, BVerfGE 89, 214, 232, 233.
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– die in fehlender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit („Vertragserfüllungsfähigkeit“) des Vertragspartners liegen, – die den Verbraucher in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigen können, und – die den Verbraucher dadurch treffen können, dass der Vertragspartner ihn im rechtsgeschäftlichen Verkehr treffende Pflichten verletzt. 1. Schutz der Gesundheit des Verbrauchers gegenüber gefährlicher Beschaffenheit von Waren oder Verkaufsstätten In ersterer Hinsicht ist regelmäßig eine Möglichkeit der zuständigen Behörde zum Einschreiten eröffnet. Dies gilt etwa dann, wenn bestehende gesetzliche Hygieneanforderungen an die Ausrüstung eines dem Handel mit Lebensmitteln dienenden Verkaufsfahrzeugs nicht eingehalten werden30 oder wenn die Inverkehrbringung kontaminierter Backwaren droht31. Es liegt auf der Hand, dass sich das Ermessen zum Einschreiten bei akuten und schweren Gefahren für die Gesundheit dahingehend auf Null reduzieren kann, dass im Ergebnis eine Pflicht zum Tätigwerden besteht. Ist von einer Gesundheitsschädlichkeit eines entsprechenden Produktes auszugehen, ist die zuständige Behörde auch dazu berechtigt, eine entsprechende Meldung gegenüber dem europäischen Schnellwarnsystem für Lebensmittel und Futtermittel vorzunehmen32. Allerdings ist stets genau zu prüfen, ob die entsprechenden Vorschriften, gegen die verstoßen wird, dem Verbraucherschutz oder dem Schutz gänzlich anderer Rechtsgüter dienen33. Die Möglichkeit zum Erlass behördlicher Anordnungen zur Abwehr drohender Gefahren für die Gesundheit von Verbrauchern ist nicht auf den lebensmittelrechtlichen Bereich beschränkt. Vielmehr kann etwa auch ein Verbot der Inverkehrbringung von Spielzeug, das gegen die einschlägigen Sicherheitsvorschriften verstößt, ausgesprochen werden34. Dem Zweck des Verbraucherschutzes dient schließlich auch die Untersagung von Dienstleistungen, die – wie etwa eine bestimmte Behandlungsmethode eines Heilpraktikers – zu konkreten Gefahren für die Gesundheit des Leistungsnehmers führen können35. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass höchstrichterlich anerkannt ist, dass die der Regierung von der Verfassung übertragene Aufgabe der politischen Krisenbewältigung durch Information und Warnung der Öffentlichkeit die Befugnis einschließt, bestimmte Unternehmer und damit konkrete Grund-
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30 S. als Beispiel etwa den Beschluss des OVG Münster v. 28.8.2009 – 13 A 624/09, juris. 31 VG Sigmaringen, Urteil v. 15.3.1989 – 7 K 1052/88, UPR 1989, 357 f. 32 VGH München, Beschluss v. 14.11.2007 – 25 CE 07.2990, Dt LebensmittelRdsch 2008, 294 f. 33 Vgl. VG Schleswig, Urteil v. 28.7.1999 – 1 A 72/98, juris. 34 S. das Beispiel der „Blechente“ aus dem Beschluss des OVG Münster v. 28.11.2003 – 21 A 1075/01, GewArch 2004, 166 f. 35 S. das Beispiel im Urteil des OVG Münster v. 4.12.1985 – 13 A 959/84, NJW 1986, 2900 f.
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rechtsträger als Quelle der bestehenden Gefahrensituation zu bezeichnen, wenn dies zur Erfüllung der genannten Aufgabe erforderlich ist und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist36. Allerdings verletzt eine Behörde ihr gegenüber dem Hersteller oder Inverkehrbringer eines Produkts bestehenden Amtspflichten, wenn sie sich bei einer entsprechenden Produktwarnung auf ein Sachverständigengutachten bezieht, ohne zu überprüfen, ob der Gutachter von zutreffenden Tatsachen ausgegangen ist und ob nicht das Ergebnis des Gutachtens unter einer einschränkenden Bedingung steht37. 2. Schutz des Verbrauchers vor Täuschung Im Übrigen besteht eine Befugnis zum Einschreiten der Behörde auch dann, wenn bei der Inverkehrbringung gegen bestimmte zum Schutz des Verbrauchers vor einer Täuschung über bestimmte Produkteigenschaften erlassene Vorschriften verstoßen wird38. In diesem Kontext hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass der in den Vorschriften des Lebensmittelrechts normierte Schutz des Verbrauchers vor Täuschung ein vernünftiger Grund des Gemeinwohls ist, der Berufsausübungsbeschränkungen rechtfertigen kann39. Insoweit ist festzuhalten, dass alleiniges Wertungskriterium etwa für die Frage, ob eine Irreführung im Sinne des § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG vorliegt, der Verbraucherschutz ist und dass dabei auf die „berechtigte Verbrauchererwartung“ abzustellen ist40. Maßstabsbildend ist jedoch nicht der oberflächliche, „flüchtige“, sondern der „vernünftige“ und „informationsfähige“ Verbraucher, der seine Kaufentscheidung anhand der – zutreffenden – Angaben über die Beschaffenheit des Produktes trifft41. Im Übrigen ist für die Annahme einer irreführenden Bezeichnung und den Erlass eines Verkehrsverbots dann kein Raum, wenn die entsprechende Bezeichnung durch Gemeinschaftsrecht zugelassen ist42. Soweit bei entsprechenden Täuschungshandlungen – etwa durch widerrechtliche Verwendung bestimmter Begriffe – ein Tätigwerden der Behörde – insbesondere durch gemeinschaftsrechtliche Rechtsvorschriften – vorgeschrieben ist, besteht sogar eine Pflicht der Behörde zum Einschreiten43.
__________ 36 Hierzu die Glykol-Entscheidung des BVerwG v. 18.10.1990 – 3 C 2/88, Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 209. 37 LG Stuttgart, Urteil v. 23.5.1989 – 17 O 411/88, NJW 1989, 2257, 2262. 38 Hierzu etwa BVerwG, Urteil v. 21.2.1980 – 3 C 123/79, BVerwGE 60, 69, 72 f. 39 BVerfG, Beschluss v. 16.1.1980 – 1 BvR 249/79, BVerfGE 53, 135, 145 f. 40 So ausdrücklich OVG Münster, Beschluss v. 12.8.2003 – 3 W 31/03, juris. 41 OVG Koblenz, Urteil v. 10.10.1995 – 6 A 11213/95, LRE 33, 406, 408 f. 42 BVerwG, Urteil v. 23.1.1992 – 3 C 33/89, BVerwGE 89, 320, 322. 43 Vgl. am Beispiel einer gegen einschlägiges Gemeinschaftsrecht verstoßenden Verwendung des Begriffs „Bio“ den Beschluss des OVG Greifswald v. 21.1.2002 – 2 M 124/01, juris.
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3. Schutz des Vermögens des Verbrauchers gegenüber Gefährdungen durch einen nicht leistungsfähigen Vertragspartner Dass der Schutzzweck von verwaltungsrechtlichen Vorschriften über höchstpersönliche Rechtsgüter hinaus auch das Vermögen des Verbrauchers umfassen kann, hat darin Ausdruck gefunden, dass etwa dem Inhaber eines Antiquitätengeschäfts, der mehrfach wegen Vermögensdelikten bestraft worden ist, die weitere Ausübung einer derartigen Tätigkeit gewerberechtlich untersagt werden kann. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich auf die Feststellung gestützt, dass ein unzuverlässiger Einzelhändler Verbrauchern (Kunden) und anderen Personen erhebliche wirtschaftliche Schäden zufügen kann44. Dass nicht nur mangelnde Zuverlässigkeit sondern auch mangelnde Leistungsfähigkeit entsprechende Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers rechtfertigen können, hat in der gerichtlichen Bestätigung dessen Niederschlag gefunden, dass die zuständige Behörde berechtigt ist, gegenüber einem Fernunterrichtsunternehmen die Neuaufnahme von Lehrgangsteilnehmern zu untersagen, wenn der Insolvenzfall eingetreten ist45. 4. Schutz des Persönlichkeitsrechts des Verbrauchers Auch zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des Verbrauchers darf die zuständige Behörde einschreiten, indem sie etwa einem Unternehmen, das Inhalte von ihr zugeteilten Mehrwertdienstenummern anbietet, untersagt, rechtswidrig Werbung an Verbraucher oder sonstige Marktteilnehmer mittels Telekommunikationsmitteln zu versenden46. 5. Schutz des Verbrauchers vor Vertragsgestaltungen, die gegen den Schutz des schwächeren Vertragspartners bezweckende Rechtsvorschriften verstoßen Schließlich ist in einzelnen Fällen auch anerkannt, dass die zuständige Behörde befugt sein kann, eine Einhaltung von die Vertragsgestaltung betreffenden Schutzvorschriften durch ordnungsbehördliche Anordnung zu erzwingen. So wurde etwa vom Verwaltungsgericht Frankfurt die behördliche Untersagung eines Bildschirmtextangebotes dann für rechtmäßig gehalten, wenn der Anbieter den Btx-Teilnehmer vor Abruf eines Angebots nicht auf die entstehenden Gesamtkosten unmissverständlich hingewiesen hat47. Schließlich wurde höchstrichterlich anerkannt, dass das – in der heutigen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aufgegangene – Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen auch nach dem Wegfall der präventiven Kontrolle von Versicherungsbedingungen befugt war, im Wege anlassbezogener nachträglicher Missstandsaufsicht eine Klausel zu verbieten, deren Verwendung die
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44 BVerwG, Urteil v. 17.1.1972 – I C 33.68, BVerwGE 39, 247, 251. 45 Vgl. VG Braunschweig, Beschluss v. 12.3.1990 – 1 B 1023/90, NVwZ 1991, 295 f. 46 Hierzu OVG Münster, Beschluss v. 26.9.2008 – 13 B 1395/08, NJW 2008, 3656, 3657 f. 47 VG Frankfurt, Beschluss v. 11.1.1990 – V/2 H 2388/89, NJW 1990, 1617, 1618.
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Versicherten unangemessen benachteiligt, ohne dass es darauf ankam, ob die Klausel bereits aufgrund einer zivilgerichtlichen Inhaltskontrolle für unwirksam erklärt worden war48. Als weiteres Beispiel ist anzuführen, dass etwa die Befugnis der Heimaufsichtsbehörde, die durch die inzwischen aufgehobene Vorschrift des § 8 HeimG49 normierten Vorgaben zur Vertragsdauer des Heimvertrags ordnungsbehördlich durchzusetzen, gerichtlicherseits nicht in Zweifel gezogen wurde50. Dass sich das Bestehen einer entsprechenden behördlichen Handlungsmöglichkeit gegenüber rechtsgeschäftlichen Maßnahmen im Einzelfall in eine Pflicht zum Einschreiten verdichten kann, erscheint zumindest nicht ausgeschlossen. Geht man nämlich mit dem Bundesverfassungsgericht von einem grundrechtlichen Schutzauftrag zur Gewährleistung der Privatautonomie aus, so erscheint es nicht fern liegend, anzunehmen, dass ein solcher über rein legislative Tätigkeiten hinausgehend dann auch behördliche Maßnahmen umfasst, wenn diese erforderlich sind, um den in Vollzug des Verfassungsauftrags erlassenen gesetzlichen Regelungen zur Durchsetzung zu verhelfen. Ausgehend hiervon dürfte aber für die Annahme einer entsprechenden Pflicht zum behördlichen Einschreiten kraft Ermessensreduktion auf Null allenfalls in solchen Ausnahmefällen Raum sein, – in denen die betreffenden Verbraucher aufgrund ihrer spezifischen Situation zu einer Durchsetzung der zu ihren Gunsten bestehenden gesetzlichen Vorgaben zur Vertragsgestaltung selbst außerstande sein sollten; – in denen die entsprechenden verbraucherschützenden Vorschriften mithin leer laufen würden, wenn sie nicht von den zuständigen Behörden durchgesetzt werden würden, und – in denen es durch ein solches Leerlaufen dazu käme, dass die hierdurch betroffenen Verbraucher in nicht nur unerheblichem Maße in grundrechtlich geschützten Positionen verletzt werden. Für eine Beschränkung einer Einschreitenspflicht auf derartige Fälle spricht auch der Umstand, dass die zuständigen Behörden nach dem das Gefahrenabwehrrecht beherrschenden Subsidiaritätsgrundsatz nur in besonderen Fällen und nur ausnahmsweise befugt sind, zum Schutz privater Rechte tätig zu werden51.
__________ 48 BVerwG, Urteil v. 25.6.1998 – 1 A 6/06, Buchholz 452.00 § 81 VAG Nr. 5. 49 Heimgesetz i. d. F. d. B. v. 5.11.2001, BGBl. I 2001, 2970, zuletzt geändert durch Art. 3 Satz 2 des Gesetzes vom 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2319. 50 Hierzu OVG Magdeburg, Urteil v. 2.7.2008 – 3 L 57/06, juris. 51 Hierzu OLG Hamburg, Beschluss v. 24.11.1988 – Ss 49/88, NStE Nr. 26 zu § 240 StGB; OVG Magdeburg, Beschluss v. 20.3.2009 – 3 M 153/09, ZMR 2009, 569 f.
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V. Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch bei fehlenden oder verspäteten Umsetzungen von Richtlinien-Vorgaben zum Verbraucherschutz Verpflichtet eine Richtlinie die Mitgliedstaaten dazu, innerhalb der Umsetzungsfrist für den einzelnen Verbraucher einen wirksamen Schutz gegen die Risiken der Zahlungsunfähigkeit und des Konkurses der Vertragspartner bei bestimmten Rechtsgeschäften zu gewährleisten, und unterlässt ein Mitgliedsstaat die danach erforderlichen Maßnahmen, so steht einem hierdurch Geschädigtem gegenüber dem Mitgliedsstaat ein Entschädigungsanspruch zu, sofern die in Rede stehende Gemeinschaftsnorm dem Geschädigten hinreichend bestimmte, individuelle Rechte verleiht52. Die Möglichkeit eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs ist deshalb bedeutsam, weil ggf. bestehende behördliche Überwachungspflichten meist nur der Allgemeinheit und nicht jedenfalls auch dem Geschädigten als Dritten i. S. v. § 839 Abs. 1 BGB gegenüber bestehen, so dass diesem ein Amtshaftungsanspruch nach deutschem Recht in entsprechenden Fällen regelmäßig nicht zusteht53. Bei entsprechenden Konstellationen ist ergänzend zu prüfen, ob die Mitgliedsstaaten nach der betreffenden Richtlinie auch verpflichtet sein sollten, zur Gewährleistung eines entsprechenden Schutzes auch zu Lasten des Vertragspartners des Verbrauchers in bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist abgeschlossene Verträge einzugreifen54.
VI. Abschlussbemerkung Auch wenn Verbraucherschutz in erster Linie das Verhältnis zwischen sich auf Ebene der Gleichordnung bewegenden Marktteilnehmern betrifft, und damit primär im Zivilrecht „zuhause“ ist, haben die vorstehenden Erwägungen deutlich gemacht, dass das öffentliche Recht zum Schutze der schwächeren Marktteilnehmer in nicht unerheblichem Umfang flankierende Hilfestellungen leistet und diese, soweit entsprechende gemeinschaftsrechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben bestehen, auch leisten muss.
__________ 52 Grundlegend am Beispiel der Pauschalreisen-Richtlinie das Urteil des EuGH v. 8.10.1996 – C-178/94 u. a., Slg 1996, I-4845 ff.; vgl. auch am Beispiel von Schäden, die einem Bankkunden durch die nicht rechtzeitige Umsetzung der EG-Einlagensicherungsrichtlinie entstanden sind, das Urteil des LG Bonn v. 10.11.1999 – 1 O 55/99, ZIP 1999, 2051 f. 53 Vgl. den Vorlagebeschluss des BGH v. 16.5.2002 – III ZR 48/01, BB 2002, 1287 f. 54 OLG Köln, Urteil v. 15.7.1997 – 7 U 23/97, NJW-RR 1998, 169 f.
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Haftungsbeschränkungs- und Regressverzichtsklauseln bei Vorstandsmitgliedern von Genossenschaften Inhaltsübersicht I. Einführung II. Zum Vergleich: Stand der Diskussion im Aktienrecht und im Recht der GmbH 1. Aktiengesellschaften 2. Gesellschaften mit beschränkter Haftung
2. Eigene Auffassung 3. Ergebnis IV. Regressverzichtsklauseln bei eingetragenen Genossenschaften 1. Meinungsstand 2. Eigene Auffassung 3. Ergebnis
III. Haftungsbeschränkungsklauseln bei eingetragenen Genossenschaften 1. Meinungsstand
I. Einführung In wirtschaftlichen Krisenzeiten reagieren Banken und Unternehmen häufig durch den Austausch ihrer Organmitglieder. Wesentlicher Kernpunkt der Verhandlungen über die Aufhebung des Anstellungsvertrags sind Erledigungs- und Regressverzichtsklauseln, mit denen Geschäftsleiter versuchen, etwaigen entstandenen Regressansprüchen zu begegnen. Dieses Ende vor Auge, verfolgen Organmitglieder bereits im Vorfeld der Anstellung das Interesse, das Haftungsrisiko im Innenverhältnis durch eine Haftungsausschluss- oder zumindest eine Haftungsbeschränkungsregelung zu begrenzen. Wurden Geschäftsleiter bereits in Regress genommen und wird – wie fast immer – eine vergleichsweise Erledigung angestrebt, stellt sich auch hier die Problematik, dass die angestrebte Vergleichsvereinbarung von einer Erledigung der die Vergleichszahlungen übersteigenden Haftungsansprüche abhängig gemacht werden soll. Die in diesen Fällen aufgeworfene Frage, ob und in welchem Umfang Haftungsausschluss- bzw. -beschränkungsklauseln in Anstellungsverträgen von Organmitgliedern und Verzichtsklauseln in Aufhebungs- oder Vergleichsvereinbarungen zulässig sind, wird für Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung regelmäßig und eingehend diskutiert. Im Bereich der eingetragenen Genossenschaften findet eine Diskussion hierüber kaum statt. Das verwundert, weil insbesondere die Genossenschaftsbanken die zahlenmäßig größte Bankengruppe unter den Kreditinstituten stellen und der Bundesgerichtshof in neuerer Zeit immer wieder über Haftungsfälle in Genossen-
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schaften zu entscheiden hatte1. Eine aktuelle Behandlung dieser Thematik ist auch deshalb gefordert, weil die Genossenschaftsgesetznovelle 20062 in § 24 Abs. 2 Satz 2 GenG und § 39 Abs. 1 GenG teilweise grundlegende redaktionelle Änderungen in der Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrates der Genossenschaft gegenüber deren Vorstandsmitgliedern vornahm. Daran knüpft sich die Frage an, ob der Gesetzgeber hiermit auch im Haftungsregime des Genossenschaftsgesetzes Veränderungen vorgenommen hat. Der Beitrag konzentriert sich auf die Regelung der Innenhaftung der Vorstandsmitglieder gegenüber der Genossenschaft, Haftungsansprüche von Drittgläubigern werden nicht behandelt.
II. Zum Vergleich: Stand der Diskussion im Aktienrecht und im Recht der GmbH 1. Aktiengesellschaften Für alle Anstellungsverträge von Organmitgliedern unter Einschluss derjenigen von Aktiengesellschaften gilt zunächst die zwingende3 Grundregelung des § 276 Abs. 3 BGB, wonach dem Schuldner die Haftung für eigenen4 Vorsatz nicht im Voraus erlassen werden kann. Die Norm gestattet lediglich vorhergehende Haftungsausschlussklauseln, die dem Organmitglied die Haftung für Fahrlässigkeit erlassen. Für die Beurteilung der Frage, ob dem aktienrechtliche Gründe entgegenstehen, wird auf die Regelung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG verwiesen: Danach darf die Aktiengesellschaft erst drei Jahre nach der Entstehung der Ersatzansprüche durch Beschluss der Hauptversammlung auf diese verzichten oder sich über diese vergleichen. Ausnahmen bestehen nur bei Zahlungsunfähigkeit des Organmitglieds oder wenn die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt wird (§ 93 Abs. 4 Satz 4 AktG). Die Beschlussfassung der Hauptversammlung vorwegnehmende Rechtshandlungen und Rechtsgeschäfte werden von § 134 BGB erfasst und sind endgültig unwirksam5. Eine Heilung durch Zeitablauf ist ebenso wenig möglich wie durch eine vor der Dreijahresfrist erfolgende Zustimmung der Hauptversammlung6. Ein Verstoß hiergegen soll sogar trotz Vorliegen einer salvatorischen Klausel die Wirksamkeit eines Aufhebungsvertrags insgesamt in Frage stellen7. Wenn die Handlung auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht, tritt eine Regresspflicht nicht ein (§ 93
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1 BGH, WM 2009, 26; BGH, WM 2007, 344; BGH, WM 2005, 933; BGH, WM 2004, 486; BGH, WM 2002, 220. 2 Gesetz zur Einführung der Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des Genossenschaftsrechts vom 18.8.2006, BGBl. I 2006, 1911. 3 Grundmann in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 276 BGB Rz. 9 und 182; H. P. Westermann in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 276 BGB Rz. 25. 4 Zur Vorsatzhaftung für Dritte s. § 278 Satz 2 BGB. 5 Arnold in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 22 Rz. 58. 6 Arnold (Fn. 5); Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 28. 7 Bauer/Krets, DB 2004, 811.
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Abs. 4 Satz 1 AktG) und steht damit einer diesbezüglichen Verzichtsregelung nicht entgegen. Eine von der Hauptversammlung beschlossene Entlastung des Vorstandsmitgliedes hat jedoch keine Verzichtswirkung (§ 120 Abs. 2 Satz 2 AktG). Demnach sind den Anforderungen von § 93 Abs. 4 AktG nicht genügende Regressverzichtsklauseln in Aufhebungs- und sonstigen Vereinbarungen von Vorstandsmitgliedern von Aktiengesellschaft generell unwirksam. Aus dem gesetzlichen Verbot des § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG wird einhellig gefolgert, dass jegliche statutarische und vertragliche Regelungen, die im Vorhinein einen Haftungsausschluss oder eine Haftungsbeschränkung für Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften vorsehen, zwingend unwirksam sind8. Gestaltungs- und Umgehungsmöglichkeiten, etwa durch Stimmbindungsvereinbarungen mit einem Großaktionär, werden zwar diskutiert, können das Unwirksamkeitsrisiko allerdings nicht ausschließen9. 2. Gesellschaften mit beschränkter Haftung Im Recht der GmbH fehlt eine § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG entsprechende Regelung. Aus § 46 Nr. 8 GmbHG folgt, dass es grundsätzlich in der Entscheidungskompetenz der Gesellschafterversammlung liegt, ob ein Geschäftsführer wegen etwaiger Sorgfaltspflichtverletzungen belangt oder ob auf Ansprüche gegen ihn verzichtet werden soll10. Lediglich ein Verzicht auf bzw. ein Vergleich über Ersatzansprüche der Gesellschaft, die auf einem Verstoß gegen die Kapitalerhaltungsvorschrift des § 30 GmbHG oder das Verbot des Erwerbs eigener Anteile nach § 33 GmbHG beruhen, sind gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 und 2 i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 GmbHG unwirksam. Das MoMiG11 erweiterte den Kreis unwirksamer Regressverzichtsregelungen auf Inanspruchnahmen wegen nicht ordnungsgemäßen Zahlungen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung der Gesellschaft (§ 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG). Zudem wird § 43 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 von der ganz herrschenden Meinung auch auf andere der Kapitalerhaltung dienende Ersatzansprüche angewendet, etwa auf die Geschäftsführerhaftung nach § 43a GmbHG12. § 9b Abs. 1 Satz 2 GmbHG enthält eine den aktienrechtlichen Bestimmungen vergleichbare Ausnahme für den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Geschäftsführers. Im Recht der GmbH sind demnach nachträgliche Regressverzichtsvereinbarungen etwa in mit Geschäftsführern geschlossenen Aufhebungsvereinbarungen
__________ 8 Krieger in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 3 Rz. 38; Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 1; Bauer/Krets, DB 2003, 811, 813. 9 Bauer/Krets, DB 2003, 811, 813. 10 BGH, NJW 2002, 3777. 11 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 12 BGH, NJW 2001, 3123; Haas in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 11 Rz. 6; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 47.
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in den beschriebenen Grenzen endgültig wirksam13 und auch nicht auf die Fälle beschränkt, in denen der Ersatzanspruch nicht zur Befriedigung der Gesellschaftergläubiger erforderlich ist14. Der Vereinbarung muss allerdings ein wirksamer Beschluss der Gesellschafter zugrunde liegen15. Eine analoge Anwendung von § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG wird im Recht der GmbH abgelehnt. Die nach § 46 Abs. 5 GmbHG von den Gesellschaftern vorzunehmende Entlastung enthält in den durch § 43 Abs. 3 Satz 1 und 2 i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 GmbHG gezogenen Grenzen zumindest insoweit eine Verzichtswirkung, als dass für das entlastende Organ aufgrund der Rechenschaftslegung Regressansprüche bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erkennbar waren16. Bei der weitgehenden Einigkeit über die Möglichkeit einer nachträglichen Verzichtsvereinbarung überrascht der intensiv geführte Meinungsstreit darüber, ob im Vorhinein vereinbarte haftungsbeschränkende Klauseln etwa in Anstellungsverträgen von GmbH-Geschäftsführern unwirksam sind. Ein vollumfänglicher Haftungsausschluss unter Einbeziehung vorsätzlichen Handelns ist auch hier durch § 276 Abs. 3 BGB ausgeschlossen. Die Meinungen reichen von der generellen Unmöglichkeit der Modifikation des Pflichten- und Sorgfaltsmaßstabs des Geschäftsführers17 über die Zulässigkeit einer Begrenzung auf Fälle des Vorsatzes und der groben Fahrlässigkeit18 bis hin zur vorzugswürdigen herrschenden Meinung, wonach in dem von § 43 Abs. 3 GmbHG gesteckten Rahmen auch die Haftung für Fälle einfacher Fahrlässigkeit im Vorhinein erlassen werden kann19. Hierfür spricht, dass dem GmbH-Recht keine zwingenden Gründe dafür zu entnehmen sind, warum von den allgemeinen Regelungen des § 276 Abs. 3 BGB abgewichen werden sollte20. Für den Gläubigerschutz ist ausreichend, dass Haftungsbeschränkungsregelungen in Anstellungsverträgen von GmbH-Geschäftführern zumindest insoweit unwirksam sind, wie § 276 Abs. 3 BGB und § 43 Abs. 3 Satz 1 und 2 i. V. m. § 9b Abs. 1 Satz 1 GmbHG dem entgegenstehen.
__________ 13 Haas in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 11 Rz. 2 ff.; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 47; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 264; Bauer/ Krets, DB 2003, 811, 814. 14 So aber Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 43 GmbHG Rz. 52. 15 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 47; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 267; Bauer/ Krets, DB 2003, 811, 813. 16 Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 46 GmbHG Rz. 41. 17 Haas in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 11 Rz. 57 ff. 18 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 46; Tillmann/Mohr, GmbH-Geschäftsführer, 8. Aufl. 2003, Rz. 606. 19 BGH, NJW 2001, 3123; BGH, NJW 2000, 576, 577; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 259 und 261; Jaeger, Der Anstellungsvertrag des GmbH-Geschäftsführers, 5. Aufl. 2009, S. 92; Bauer/Krets, DB 2003, 811, 814. 20 Bauer/Krets, DB 2003, 811, 814.
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Haftungsbeschränkungen/Regressverzichtsklauseln bei Genossenschaften
III. Haftungsbeschränkungsklauseln bei eingetragenen Genossenschaften 1. Meinungsstand Das Genossenschaftsgesetz enthält ebenso wenig wie das GmbHG eine § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG vergleichbare Regelung, die im Vorhinein vereinbarten Haftungsbeschränkungen bzw. -milderungen entgegenstünde. § 34 Abs. 1 GenG macht entsprechend dem gesetzlichen Vorbild21 des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG die Vorgabe, dass Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einer Genossenschaft anzuwenden haben. Damit wird der Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB zugleich konkretisiert und verschärft22. Eine „genossenschaftseigentümliche Sorgfaltsgrenze“, die sich aus dem durch § 9 Abs. 2 Satz 1 GenG vorgegebenen Prinzip der Selbstorganschaft ergeben soll, weil der Personenkreis, aus dem die Vorstandsmitglieder ausgewählt werden, begrenzt sei, besteht nicht23. Die Mitgliedschaft in der Genossenschaft muss zum Zeitpunkt der Bestellung des Vorstandsmitgliedes noch nicht bestehen, auch Nichtmitglieder können gewählt werden24. Gerade in Genossenschaften, bei denen sich wegen des Umfangs der Geschäfte größere Haftungsrisiken ergeben (etwa bei Kredit-, Waren- und Wohnungsgenossenschaften), ist eher die Regel als die Ausnahme, dass Vorstandsmitglieder aus einem bundesweiten Bewerberkreis ausgewählt werden. § 34 Abs. 2 Satz 1 GenG knüpft an den vom Gesetz vorgegebenen Sorgfaltsmaßstab an und stellt die zentrale Anspruchsgrundlage für die Innenhaftung der Vorstandsmitglieder gegenüber der Genossenschaft dar. Einige besondere Haftungstatbestände werden in § 34 Abs. 3 GenG beispielhaft erwähnt. § 18 Satz 2 GenG sieht, ebenfalls entsprechend aktienrechtlichem Vorbild25, vor, dass die Satzung von den Bestimmungen des Genossenschaftsgesetzes nur insoweit abweichen darf, als dies ausdrücklich für zulässig erklärt wird. Da § 34 GenG keine Regelungen darüber vorsieht, dass Satzung oder Anstellungsvertrag von dem Sorgfaltsmaßstab „nach unten“ hin abweichen dürfen26, ist die Frage aufgeworfen, ob nicht bereits § 18 Satz 2 GenG der Vereinbarung von Haftungsbeschränkungsklauseln entgegensteht27. Die herrschende Auffassung folgt diesem Ansatz und folgert, dass im Vorhinein erfolgende statutarische
__________ 21 Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 1 unter Hinweis auf BT-Drucks. 7/97, S. 23. 22 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 16. 23 A. A. Weber in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 4 Rz. 30; ähnlich Bode in FS Schaffland, 2008, S. 175, 182: Sorgfaltspflicht ist unter Berücksichtung der gesetzlich vorgegebenen Selbstorganschaft anders zu definieren, als im sonstigen kaufmännischen Bereich. 24 RGZ 144, 384; Schulte in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 9 GenG Rz. 14. 25 § 23 Abs. 5 AktG. 26 Weber in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 4 Rz. 35. 27 Weber (Fn. 26).
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oder vertragliche Abmilderungen der Haftung von Vorstandsmitgliedern nicht zulässig sind28. Dieses Ergebnis wird insbesondere in Bezug auf ehrenamtlich tätige Vorstandsmitglieder als unbefriedigend empfunden. Unter Hinweis auf die Möglichkeit eines nachträglichen Haftungsverzichts wird deshalb vereinzelt vertreten, die Haftung „ehrennebenamtlicher“ Vorstandsmitglieder könne außerhalb des von § 34 Abs. 3 GenG erfassten Bereichs durch die Satzung begrenzt werden29. Eine neben die Organwalterhaftung tretende anstellungsvertragliche Haftung könne sogar bis zur Grenze des § 276 Abs. 2 BGB ausgeschlossen werden30. Überwiegend werden Haftungsmilderungen allerdings abseits genereller Sorgfaltsanforderungen auf der Ebene der Ressortverantwortung31, im Bereich des Mitverschuldens gemäß § 254 BGB32, bei der Bestimmung des Grads des Verschuldens33 oder der Haftungsverteilung im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs nach § 426 BGB34 diskutiert. Vereinzelt wird rechtspolitisch eine Gesetzesanpassung entsprechend dem durch das Gesetz zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen vom 28.9.200935 neu eingeführten § 31a BGB gefordert36. 2. Eigene Auffassung Die Frage der Zulässigkeit haftungsbegrenzender Anstellungsvertragsklauseln beurteilt sich im Ausgangspunkt danach, ob § 34 GenG eine Differenzierung der Sorgfaltsanforderungen von Vorstandsmitgliedern eingetragener Genossenschaften zulässt. Wird dies verneint, können solche Klauseln nicht zulässig sein, weil vertragliche Vereinbarungen nicht wirksam sind, wenn sie nach § 18 Satz 2 GenG noch nicht einmal durch Satzungsregelung zugelassen werden können. Wird die Frage positiv beschieden, ist kein durchgreifender Grund dafür ersichtlich, weshalb – Verstöße gegen gläubigerschützende Kapitalerhaltungsvorschriften und gravierende Pflichtverletzungen ausgenommen – Haftungsbeschränkungen nicht dem gesetzlichen Leitbild des § 276 BGB folgend zulässig sein sollen. Der Wortlaut von § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG differenziert in den Sorgfaltsanforderungen nicht, insbesondere auch nicht nach der Art der Bestellung oder der Besoldung der Vorstandsmitglieder. Obwohl § 24 Abs. 3 Satz 1 GenG die Be-
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28 Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 20; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 8; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 131. 29 Weber in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 4 Rz. 37. 30 Weber (Fn. 29). 31 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 6; Bode in FS Schaffland, 2008, S. 175, 184. 32 Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 12. 33 Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 26; Bode in FS Schaffland, 2008, S. 175, 186. 34 BGH, NJW-RR 2004, 900 = WM 2004, 486. 35 BGBl. I 2009, 3161. 36 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 6.
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Haftungsbeschränkungen/Regressverzichtsklauseln bei Genossenschaften
stellung besoldeter (haupt- und nebenamtlicher) und unbesoldeter (ehrenamtlicher) Vorstandsmitglieder zulässt, nimmt § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG keine entsprechende Unterscheidung vor. An anderer Stelle betont das Gesetz ausdrücklich, dass die für Vorstandsmitglieder geltenden Vorschriften auch auf stellvertretende Vorstandsmitglieder anzuwenden sind (§ 35 GenG). Es besteht Einigkeit darin, dass stellvertretende Vorstandsmitglieder im Bereich ihrer Pflichten den ordentlichen gleichgestellt sind, insbesondere den gleichen Sorgfalts- und Haftungsmaßstäben unterliegen37. Dass Vergleichbares auch für ehrenamtliche Vorstandsmitglieder gelten muss, zeigt sich insbesondere an den Fällen, in denen ausschließlich ehrenamtliche Vorstandsmitglieder bestellt sind, wie dies etwa bei Winzergenossenschaften häufig vorzufinden ist. Auch wenn die Tagesarbeit durch als Arbeitnehmer angestellte Geschäftsführer erledigt wird, ändert dies nichts an der dem Vorstand durch § 27 Abs. 1 GenG übertragenen alleinigen Leitungsverantwortung und seiner gerichtlichen und außergerichtlichen Vertretungsbefugnis (§ 24 Abs. 1 GenG). Normzweck des § 34 GenG ist, die Genossenschaft, ihre Mitglieder und die Gläubiger vor Schaden zu bewahren. Damit wäre nicht vereinbar, wenn einzelne oder alle Vorstandsmitglieder sich dem strengen Sorgfaltsmaßstab des § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG entziehen könnten. § 31a BGB38 ist als lediglich für das Vereinsrecht eingefügte Spezialnorm nicht auf eingetragene Genossenschaften anwendbar, weder direkt noch in Analogie. Eine andere Beurteilung ist auch nicht deshalb gefordert, weil Kandidaten für eine ehrenamtliche Vorstandsposition wegen dieses strengen Haftungsregimes von einem Einsatz für die Genossenschaft abgehalten werden könnten: Alle Vorstandsmitglieder, ob haupt-, neben- oder ehrenamtlich tätig, trifft keine uneingeschränkte Leitungsverantwortung, diese ist vielmehr durch die Grundsätze der Ressort- und Mitarbeiterverantwortlichkeit begrenzt. Eine wirksame Geschäftsverteilungsabrede unterstellt, dürfen sich nicht ressortverantwortliche Vorstandsmitglieder im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung auf die Überwachung ihrer Vorstandskollegen beschränken39. Ehrenamtliche Vorstandsmitglieder sind im Verhältnis zu hauptamtlichen wie nichtressortverantwortliche zu behandeln40. Nebenamtliche Vorstandsmitglieder sind in ihrer Ressortverantwortung auf zumeist eng umrissene Geschäftsbereiche beschränkt. Wenn Vorstandsmitgliedern Pflichtwidrigkeiten im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung unterlaufen, gibt es keinen Grund, weshalb ehrenamtliche Vorstandsmitgliedern geringeren Sorgfaltsanforderungen unterliegen sollen, als hauptamtliche. Kernaufgabe ihrer Bestellung ist es gerade, ihre Gesamtverantwortung durch Kontrolle ihrer Vorstandskollegen oder des operativ tätigen Geschäftsführers auszuüben. Besteht im Einzelfall eine Notwendigkeit,
__________ 37 Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblatt, § 35 GenG Rz. 12; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 35 GenG Rz. 5; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 35 GenG Rz. 14. 38 Eingeführt durch das Gesetz zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen v. 28.9.2009, BGBl. I 2009, 3161. 39 BGH, NJW-RR 2004, 900 = WM 2004, 486; Bode in FS Schaffland, 2008, S. 175, 184. 40 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 6.
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den Verschuldensmaßstab zwischen einzelnen Vorstandsmitgliedern unterschiedlich zu gewichten, darf dies erst bei der im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs zu ermittelnden internen Haftungsverteilung nach § 426 BGB Berücksichtigung finden41. Das ist gerade auch in den Fällen interessengerecht, in denen ausschließlich ehrenamtliche Vorstandsmitglieder bestellt sind oder einem einzelnen ehrenamtlichen Vorstandsmitglied ein Überwachungsverschulden zu Last gelegt wird. 3. Ergebnis § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG ist zwingend und lässt eine Differenzierung des Sorgfaltsmaßstabes zwischen ehrenamtlichen und haupt- bzw. nebenamtlichen Vorstandsmitgliedern nicht zu42. Weder die Satzung noch vertragliche Abreden können im Vorhinein Haftungsmilderungen bzw. -beschränkungen für Vorstandsmitglieder vorsehen43. Entsprechende Haftungsbeschränkungsklauseln sind unwirksam44. Unwirksam sind folgerichtig auch Ausschlussfristen für die Geltendmachung von Regressansprüchen45.
IV. Regressverzichtsklauseln bei eingetragenen Genossenschaften 1. Meinungsstand Nach § 34 Abs. 4 Satz 1 GenG tritt der Genossenschaft gegenüber eine Ersatzpflicht nicht ein, wenn die Handlung des Vorstandsmitgliedes auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Generalversammlung beruht. Diese Bestimmung wird allgemein dahingehend interpretiert, dass die Generalversammlung im Nachhinein einen Verzicht auf Regressansprüche gegen Vorstandsmitglieder und einen daraufhin gerichteten Vergleich beschließen kann46. Ob die gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 GenG ausschließlich von der Generalversammlung vorzunehmende Entlastung – eine ausreichende Information unterstellt – eine Verzichtswirkung haben kann oder § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG analoge Anwendung findet47, wurde vom Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21.3.200548 zwar ausdrücklich offen gelassen. Richtigerweise kann eine Entlastung aber
__________ 41 Vgl. BGH, NJW-RR 2004, 900 = WM 2004, 486. 42 BGH, NJW-RR 2004, 900 = WM 2004, 486; Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 12. 43 Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 20; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 8; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 131. 44 So auch Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 3. Aufl. 2007, § 34 GenG Rz. 26. 45 BGH, DStR 2005, 933. 46 S. nur Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 34 GenG Rz. 21; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 54; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 142. 47 So Beuthien, GenG, 14. Aufl. 2004, § 48 GenG Rz. 8; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 48 GenG Rz. 72a. 48 BGH, DStR 2005, 933.
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bei ausreichender Information der Generalversammlung eine Verzichtswirkung haben49. Bei § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG handelt es sich um eine der Analogie nicht zugängliche Spezialvorschrift des Aktienrechts, die nicht hätte eingeführt werden müssen, wenn sie lediglich Ausdruck eines sowieso bestehenden allgemeinen Rechtsprinzips wäre50. Die in § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG enthaltene Regelung ist nicht als generelles Prinzip auf alle bestehenden Gesellschaftsformen zu übertragen. Das zeigt sich schon daran, dass der Entlastung auch bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung unter bestimmten Voraussetzungen Verzichtswirkung zugemessen wird51. Eine Beschlussfassung der Generalversammlung wurde bis zur Genossenschaftsgesetz-Novelle 200652 allgemein als zwingende Voraussetzung für einen Verzicht auf Regressansprüche gesehen. Ausschließlich von Aufsichtsräten abgesegnete Regressverzichtsklauseln in Aufhebungs- und Regresserledigungsvereinbarungen wurden allgemein als unzulässig betrachtet53. Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass nach der damaligen Regelung in § 39 Abs. 1 GenG ausschließlich die Generalversammlung zur gerichtlichen Geltendmachung von Regressansprüchen berufen war und der Aufsichtsrat dies nicht durch vorhergehende außergerichtliche Vergleiche unterlaufen dürfen sollte54. Diese Begründung kann seit der Genossenschaftsgesetz-Novelle 2006 nicht mehr uneingeschränkt herangezogen werden. Durch die Novelle wurde § 39 Abs. 1 GenG zunächst sprachlich an § 112 Satz 1 AktG angepasst, wonach der Aufsichtsrat die Genossenschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern gerichtlich und außergerichtlich vertritt (§ 39 Abs. 1 Satz 1 GenG). Im Anschluss daran wurde der Absatz aber dahingehend geändert, dass es künftig einer ausdrücklichen Satzungsregelung bedarf, wenn die Generalversammlung über die Führung von Prozessen gegen Vorstandsmitglieder entscheiden dürfen soll (§ 39 Abs. 1 Satz 3 GenG). Demnach ist mangels einer abweichenden statutarischen Regelung nunmehr ausschließlich der Aufsichtsrat zur gerichtlichen Vertretung gegenüber den amtierenden und ehemaligen55 Vorstandsmitgliedern berufen. Gerade bei den besonders haftungsträchtigen Kreditgenossenschaften enthalten die Satzungen vielfach keine entsprechende Bestimmung. Soweit die Literatur – Rechtsprechung existiert hierzu soweit ersichtlich noch nicht – bereits auf die neue Rechtslage Bezug nimmt, ist unklar, ob der bisher bestehende Konsens auch künftig noch aufrechterhalten bleibt. Teilweise wird nur darauf verwiesen, dass die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrats
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49 Ebenso Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblattsammlung, § 48 GenG Rz. 60; Cario in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 48 GenG Rz. 27. 50 Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 3. Aufl. 2007, § 34 GenG Rz. 16. 51 Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 46 GmbHG Rz. 41. 52 Gesetz zur Einführung der Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des Genossenschaftsrechts v. 18.8.2006, BGBl. I 2006, 1911. 53 Keßler in Hillebrand/Keßler, GenG, 2001, § 34 GenG Rz. 47; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 34 GenG Rz. 54; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 142. 54 Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 34 GenG Rz. 142; allerdings noch auf die alte Rechtslage gestützt. 55 BGH, NJW 1998, 1946.
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mangels statutarischer Regelung ebenso wie die rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht eine ausschließliche ist, ohne dass hier gesondert auf einen Regressverzicht eingegangen wird56. Nachdem sogar Prozessvollmachten nach dem gesetzlichen Leitgedanken grundsätzlich auch zum Abschluss eines Vergleiches ermächtigen (§ 81 ZPO), könnte man daraus folgern, dass dies auch für die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrates im Regressprozess und vielleicht sogar weitergehend im außergerichtlichen Verfahren gelten könnte. Ein anderer Teil der Literatur sieht die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrates auch noch nach der Novelle 2006 dahingehend beschränkt, dass Regressverzichte auch künftig zwingend einer Beschlussfassung der Generalversammlung unterworfen werden müssen57. 2. Eigene Auffassung Der neue Wortlaut des § 39 Abs. 1 GenG steht zunächst der Annahme nicht dagegen, dass die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrats im Regressprozess auch die Befugnis zur Abschluss eines Vergleichs und damit eines (Teil-)Verzichts umfasst. Unstreitig ist es alleinige Aufgabe des Aufsichtsrates, zu beschließen, in welchem Umfang und in welcher Höhe Regressansprüche außergerichtlich und gerichtlich geltend gemacht werden. Entscheidet er sich (etwa im Hinblick auf die vermutete Vermögenssituation des Vorstandsmitglieds) in unverjährter Zeit nur ein Viertel der Regressforderung geltend zu machen, ist damit zumeist, die Erhebung der Verjährungseinrede unterstellt, bereits inzidenter ein Regressverzicht in Höhe von drei Vierteln verbunden. Diese Möglichkeit eines faktischen Regressverzichts wird bislang mit Ausnahme der Möglichkeit einer eigenen Haftung des Aufsichtsrates, soweit ersichtlich, noch nicht problematisiert; auch das könnte für die Möglichkeit eines durch den Aufsichtsrat zu beschließenden Regressverzichts sprechen. § 81 ZPO hingegen kann entgegen dem ersten Anschein nicht als Beleg hierfür herangezogen werden. Erstens regelt er lediglich den Umfang von Prozessvollmachten Dritter, wohingegen die Prozessführungsbefugnis des Aufsichtsrates eine ausnahmsweise eingeräumte gesetzliche Vertretungsbefugnis für die Genossenschaft darstellt. Zum zweiten zeigt bereits § 83 Abs. 1 ZPO, dass Prozessvollmachten auch dem Prozessgegner gegenüber beschränkt sein können, insbesondere der Ausschluss der Eingehung eines Vergleich und eines Verzicht diesem wirksam entgegen gehalten werden können. Der Gesetzesbegründung zur Genossenschaftsgesetz-Novelle 2006 ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die bis dahin ausschließlich der Generalversammlung zugewiesene Möglichkeit eines Regressverzichts oder -vergleichs künftig auch dem Aufsichtsrat zuweisen wollte. Ziel des Gesetzgebers war zunächst nur, § 39 Abs. 1 Satz 1 GenG in Anlehnung an § 112 AktG sprachlich zu vereinfachen58. Die Anlehnung ans Aktienrecht, das trotz einer nunmehr textlich gleichlautenden gesetzlichen Vertretungsbefugnis des Aufsichts-
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56 Beuthien, GenG-Aktualisierungsband zur 14. Aufl. 2007, § 39 GenG Rz. 4a und 4b. 57 Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblattsammlung, § 39 GenG Rz. 44. 58 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/1025, S. 85.
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rats die Entscheidung über einen Regressverzicht ausschließlich der Hauptversammlung zuweist (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG)59, deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber auch für das Genossenschaftsrecht keine abschließende Kompetenzenzuweisung an den Aufsichtsrat vornehmen wollte. Die einzige vom Gesetzgeber verfolgte materielle Änderung war, Aktivprozesse der Genossenschaft gegen Vorstandsmitglieder nicht zwingend von einem entsprechenden Beschluss der Generalversammlung abhängig zu machen, weil ihm für die mit einem solchen Prozess verbundene Abwägung der Vor- und Nachteile der Aufsichtsrat in der Regel als besser geeignet erschien als die Generalversammlung60. Ein entscheidender Beleg dafür, dass die Entscheidungskompetenz über den Regressverzicht nicht in der Zuständigkeit des Aufsichtsrats liegt, findet sich in § 48 Abs. 1 Satz 2 GenG: Eine der zentralen Aufgaben der Generalversammlung ist die der Beschlussfassung über die Entlastung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern. Es handelt sich hierbei um eine ausschließliche, nicht übertragbare und nicht beschränkbare Entscheidungskompetenz der Generalversammlung61. Könnte der Aufsichtsrat tatsächlich wirksam auf Regressansprüche verzichten, liefe das der Generalversammlung eingeräumte Recht der Entlastung des Aufsichtsrats leer62. Trotz der grundlegenden Überarbeitung des Genossenschaftsgesetzes wollte der Gesetzgeber in dieses ausschließliche Recht der Generalversammlung nicht eingreifen, in § 48 GenG nahm er lediglich sprachliche Änderungen vor63. 3. Ergebnis Im Ergebnis kann der Aufsichtsrat einer Genossenschaft auch nach der Genossenschaftsgesetz-Novelle 2006 nicht ohne Beschluss der Generalversammlung wirksam über einen Regressverzicht oder einen darauf gerichteten Vergleich entscheiden. Hierauf gerichtete Regressverzichtsklauseln in Aufhebungs- und sonstigen Vereinbarungen sind ohne entsprechenden Beschluss der Generalversammlung unwirksam. Rechtshandlungen und Rechtsgeschäfte, die die Beschlussfassung der Generalversammlung vorwegnehmend, werden analog der Rechtslage bei Aktiengesellschaften von § 134 BGB erfasst und sind endgültig unwirksam. Zulässig und schwebend unwirksam sind aber Vergleichsund Verzichtsvereinbarungen, die vom Aufsichtsrat unter der aufschiebenden Bedingung der Zustimmung der Generalversammlung geschlossen werden.
__________ 59 S. hierzu oben II 1. 60 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/1025, S. 85. 61 Einhellige Auffassung, siehe nur Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblattsammlung, § 48 GenG Rz. 2; Cario in Lang/Weidmüller, GenG, 36. Aufl. 2008, § 48 GenG Rz. 2; Keßler in Hillebrand/Keßler, GenG, 2001, § 48 GenG Rz. 1; Müller, GenG, 2. Aufl. 1996, § 48 GenG Rz. 1. 62 Bauer, Genossenschafts-Handbuch, Loseblattsammlung, hier: Stand 12/06, § 39 GenG Rz. 44. 63 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/1025, S. 88.
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Weiterfresser- und Produktionsschäden in neuem Licht Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Haftung für Weiterfresserschäden am erworbenen Produkt 1. Eigentumsverletzung im Umfang der Ausweitung des Mangels? a) Keine bloße Selbstzerstörung b) Zuordnung zu Herstellungs- oder Instruktionsfehlern? aa) Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung bb) Grenzen der Zurechenbarkeit cc) Notwendigkeit der Instruktionshaftung dd) Fazit 2. Zur Subsidiarität deliktischer Haftung nach der Schuldrechtsreform a) Das alte Schuldrecht b) Das neue Schuldrecht aa) Erweiterung der Verkäuferhaftung um Schadensersatzpflicht bb) Drohende Aushöhlung der kurzen Gewährleistungsfristen (1) Der Standpunkt des Gesetzgebers (2) Objektive Auslegung (3) Unabhängigkeit der Aushöhlung von einem Kaufvertrag mit dem Geschädigten
cc) Aushöhlung des Rechts zur zweiten Andienung 3. Besonderheiten der ZuliefererHaftung 4. Fazit III. Die Haftung für Produktionsschäden 1. Der Produktionsschaden als Weiterfresserschaden 2. Deliktische Haftung für Beschädigung der unversehrten Zutaten? a) Die Entwicklung des Meinungsstandes b) Die Lehre vom rechtsverletzenden Beschaffenheitsirrtum c) Stellungnahme aa) Die Verarbeitung durch Dritte bb) Die Eigenverarbeitung (1) Zufallsergebnisse der Lehre Gsells (2) Irrelevanz von Beschaffenheitsirrtümern bei Selbstverletzung (3) Der schockierende Sonderfall: Schädigung von Tieren IV. Ergebnisse
I. Einführung Ob die mangelbedingte Verschlechterung einer Kaufsache neben den einstigen Gewährleistungsrechten bzw. neben den heutigen Käuferrechten nach § 437 BGB auch eine Produkthaftung nach § 823 Abs. 1 BGB eröffnet1, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Der Streit kreist bekanntlich um zwei Fragen: Wird in dem Umfang, in dem der bei Sacherwerb durch den Geschädigten vorhandene
__________ 1 So vor allem die Rechtsprechung, vgl. BGHZ 67, 359, 363 ff. – Schwimmerschalter; BGHZ 86, 256, 257 ff. – Gaszug; anders z. B. Wagner in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 823 BGB Rz. 127 ff.
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Mangel sich später noch ausweitet, das Eigentum dieses Erwerbers verletzt, ist ein entsprechender Verletzungserfolg dem Hersteller insbesondere zurechenbar? Und lässt das Leistungsstörungsrecht, insbesondere das Kaufmängelrecht, überhaupt Raum für die Anwendung des Deliktsrechts, obwohl die Käuferrechte wegen Sachmangels zumeist binnen zwei Jahren ab Ablieferung der Sache verjähren, während deliktische Haftung oft weiter reicht, weil die für sie typische Regelverjährung von drei Jahren erst nach der Eigentumsverletzung (Sachverschlechterung) beginnen könnte? Ähnliche Fragen stellen sich bei misslingender Produktion, nämlich dann, wenn die Herstellung eines Produkts durch den Geschädigten (oder für den Geschädigten) scheitert, weil eine dabei verwendete Zutat (Vorprodukt) untauglich war oder das Herstellungsverfahren anderweitig fehlerhaft war. Auch hier mag – über Kauf- bzw. Werkmängelrechte hinaus – eine deliktische Haftung bestehen, die insbesondere Dritte zur Verantwortung zieht. Auch dies erfordert freilich meist eine Eigentumsverletzung: sei es einen Weiterfresserschaden am entstehenden Produkt, also dessen dem Schädiger zurechenbare Verschlechterung, sei es eine Verantwortung des Schädigers für die von ihm provozierte Entscheidung des Geschädigten, zum Zwecke der Produktion mangelfreie Zutaten hinzugeben und so das daran bestehende Eigentum (sinnlos) zu opfern. Gerade diese Produktionsschäden werfen komplexe Rechtsfragen auf; sie können hier nicht ausgelotet werden. Aus aktuellem Anlass seien aber einige Vorfragen aufgegriffen, mit denen sich auch der Jubilar mehrfach befasst hat2. Denn einerseits gibt die Schuldrechtsreform (2002) der Diskussion einen neuen Rahmen. Zum anderen liegt seit dem Jahre 2003 eine eindrucksvolle Studie über „Substanzverletzung und Herstellung“ vor; Beate Gsell ist mit ihr allen Facetten deliktischer Eigentumsverletzung durch Produktfehler nachgegangen. Gsells Befund, der Hersteller mangelhafter Sachen habe für Weiterfresserschäden an der Kaufsache jedenfalls wegen Instruktionsfehlers einzustehen und für Produktionsschäden deshalb zu haften, weil der Konsument die genaue Einwirkung von Fehlern auf die von ihm investierten Zutaten nicht überblicke, ist von weitreichender Bedeutung.
II. Die Haftung für Weiterfresserschäden am erworbenen Produkt Der Erwerber eines Produkts wird, wie außer Streit steht, nicht schon dadurch in seinem Eigentum verletzt, dass diese Sache mangelhaft, nämlich ungeeignet oder sogar gefährlich, ist. Denn diese nachteilige Eigenschaft haftete der Sache schon im Zeitpunkt des Eigentumserwerbs an. Im Umfang dieses anfänglichen Mangelunwerts erwarb der Konsument also nur minderwertiges Eigentum, ohne jedoch – wie in § 823 Abs. 1 BGB vorausgesetzt – an seinem bis dahin bestehenden Recht Einbuße zu erleiden. Der VI. und VIII. Zivilsenat des BGH wenden § 823 Abs. 1 BGB jedoch seit langem an, soweit der anfängliche Man-
__________ 2 Graf von Westphalen, ZIP 1992, 18 ff.; ders., MDR 1998, 805 ff.; ders., DB 2001, 799 ff.
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gel weitere Teile des Produkts in Mitleidenschaft zieht, sich also „weiterfrisst“ und so einen mit dem Mangel nicht nur „stoffgleichen“ Schaden herbeiführt, weil nicht nur das Äquivalenzinteresse eines Käufers, sondern auch das Integritätsinteresse des Eigentümers verletzt ist3. Dies soll der Fall sein, wenn die Ausweitung des bei Gefahrübergang vorhandenen Mangels durch dessen (Auffindung und) Reparatur mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand hätte verhindert werden können4. 1. Eigentumsverletzung im Umfang der Ausweitung des Mangels? a) Keine bloße Selbstzerstörung Soweit der anfängliche Mangel weitere Teile des Produkts beeinträchtigt, wird das Eigentum in der Tat erstmals verschlechtert: Insoweit tritt, schleichend oder abrupt, jedenfalls ein Verletzungserfolg ein. Ist dieser dem Produktverantwortlichen, insbesondere dem Hersteller, auch zurechenbar? Dafür spricht auf den ersten Blick, dass derjenige, der rechtswidrig und schuldhaft den Produktfehler gesetzt hat, offenbar auch für dessen Ausdehnung verantwortlich ist. Gegen diese Zurechnung spricht nach verbreiteter Ansicht, dass jemand, der Eigentum an einer Sache erwirbt, die bereits den Keim ihrer Selbstzerstörung in sich trägt, letztlich nur ein Risiko erworben hat, dessen Realisierung nicht mehr Außenstehenden, sondern nur ihm als dem Eigentümer zuzurechnen ist (casum sentit dominus)5. Dieser Einwand erklärt freilich nicht, warum dem Eigentümer gerade in diesem Fall nicht – nach Maßgabe der jeweiligen Verkehrspflichten – Schutz vor einem Risiko gebührt, das für ihn nicht steuerbar ist, weil er nicht rechtzeitig davon erfährt, hingegen für den Produktverantwortlichen bei gebotener Sorgfalt beherrschbar war. Richtigerweise kann eine Eigentumsverletzung als solche also auch im Weiterfresserschaden liegen. b) Zuordnung zu Herstellungs- oder Instruktionsfehlern? Zu klären bleibt das dafür maßgebende pflichtwidrige und schuldhafte Verhalten des Produktverantwortlichen. Die Judikatur zur Haftung für Weiterfresserschäden knüpft auch insoweit an die typischen Herstellungsfehler an, die bereits zum anfänglichen Mangel des Produkts beigetragen haben: an Konstruktions- bzw. Fabrikationsfehler. Dem ist jetzt vor allem Gsell entgegen getreten; ihr zufolge rechtfertigt nur ein Instruktionsfehler – die schuldhaft unterlassene Warnung des Konsumenten vor dem Risiko der Mangelausweitung – eine deliktische Haftung für resultierende Schäden.
__________ 3 S. nur BGH, NJW 1983, 810, 811 f. – Gaszug; BGH, NJW 1985, 2420, 2420 f. – Kompressor. 4 BGH, NJW 1992, 1678 f. – Austauschmotor. 5 In diesem Sinne z. B. Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, 8. Aufl. 2009, Rz. 964; unscharf, nämlich unter Ausblendung möglicher Instruktionshaftung, auch noch Foerste in Graf von Westphalen (Hrsg.), Produkthaftungshandbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1997, § 21 Rz. 30.
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aa) Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung Gsell hält der BGH-Rechtsprechung u. a. Widersprüchlichkeit vor. Da der BGH Weiterfresserschäden als Folge unzulässiger Inverkehrgabe des Produkts ansehe, müsste er jede Integritätsänderung der fehlerhaften Sache als Eigentumsverletzung bewerten; er erkenne aber nur solche Verschlechterungen als Verletzungen an, die mit dem anfänglichen Mangelunwert nicht „stoffgleich“ seien6. Gründe man die Haftung für Weiterfresserschäden demgegenüber auf Instruktionsfehler, so sei sie zwanglos begrenzbar; denn eine Warnpflicht und damit auch eine Eigentumsverletzung, nämlich eine Verletzungshandlung (Handlungspflicht), seien nur gegeben, soweit der Schutz vor Fehlerausbreitung möglich und wirtschaftlich sei7. Dieser Einwand ist berechtigt, sieht man davon ab, dass das Kriterium der „Stoffgleichheit“ wohl auch nur (rechtsfortbildend) einen gewissen Vorrang des Kaufrechts sicherstellen soll. Der Vorhalt Gsells zwingt aber nicht dazu, die Haftpflicht gerade an Instruktionsfehler zu binden. Die von der Rechtsprechung angestrebte Limitierung deliktischer Haftung ließe sich nämlich stimmiger begründen: Auch dann, wenn man jedes auf dem Herstellungsfehler beruhende Weiterfressen als Eigentumsverletzung qualifizierte, bliebe die Haftpflicht doch auf den Schaden beschränkt, der erst durch das Weiterfressen entstand. Dieser Endschaden wäre also mit dem Wert zu vergleichen, den das Produkt unter Berücksichtigung seines Fehlers hatte: Konnte dieser nun trotz Ausdehnung nur Schäden verursachen, welche die Rechtsprechung „stoffgleich“ nennt, weil er sich gar nicht oder nur mit unwirtschaftlichem Aufwand beseitigen ließ, so war das Produkt schon vor seiner Verletzung so geringwertig, dass auch das Weiterfressen weiteren Schaden nicht mehr oder nur noch begrenzt8 anrichten kann. Angemessen beschränken lässt sich die Haftung also auch dann, wenn man sie an die pflichtwidrige Inverkehrgabe knüpft. bb) Grenzen der Zurechenbarkeit Gsell moniert ferner, Herstellung oder Inverkehrgabe eines Produkts könnten nicht zugleich Verletzungshandlung für dessen Verschlechterung sein: „Wenn das Eigentum die Existenz der Sache voraussetzt und deshalb Herstellung und Inverkehrgabe der fehlerhaften Sache notwendige Bedingungen dafür sind, dass Eigentum an der fehlerhaften Sache erworben werden kann, was wiederum Voraussetzung dafür ist, dass die fehlerhafte Sache als Objekt einer Eigentumsverletzung in Betracht kommt, dann kann nicht zum Schutze des Eigentums an der fehlerhaften Sache verlangt werden, Herstellung oder Inverkehrgabe der fehlerhaften Sache zu unterlassen. Eine solche Verhaltensanweisung wäre paradox“9.
__________ 6 Gsell, Substanzverletzung und Herstellung, 2003, S. 46 f. 7 Gsell (Fn. 6), S. 231 f. 8 So – schadensrechtlich korrekter, da ganz am Einzelfall orientiert – schon Gsell (Fn. 6), S. 49. 9 Gsell (Fn. 6), S. 39 ff., 231 f. (im Anschluss an Schmidt-Salzer et al.).
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Man mag einwenden, dass es ohne die (pflichtwidrige) Herstellung und Inverkehrgabe eben auch mangels Eigentumserwerbs nicht zur Eigentumsverletzung gekommen, der Konsument also doch in jedem Fall schadlos geblieben wäre10. Indessen kann von einer Rechts(guts)verletzung wohl nur die Rede sein, wenn dieses Gut ohne die Verletzung, also ohne Verletzungserfolg und -handlung, unversehrt geblieben wäre, d. h. zumindest existiert hätte – nicht anders als in dem wrongful-life-Fall, dass ein behindertes Kind Schadensersatz fordert, weil man seine Geburt nicht verhindert habe11. In Frage steht die Verletzung freilich nur dort, wo gerade die Inverkehrgabe der konkreten Sache die Produkthaftung begründete, weil sie bei pflichtgemäßem Verhalten gänzlich hätte unterbleiben müssen. Hier hätte der Geschädigte (auch) an dem Produktteil, das bei Ausdehnung eines Produktfehlers gefährdet war, in der Tat nicht einmal Eigentum erworben (Beispiel: Konstruktionsfehler, bei dessen Vermeidung die Serie gar nicht marktfähig gewesen oder doch völlig anders gestaltet worden wäre). Diese Anknüpfung ist allerdings nicht zwingend: Je nach Fall kann als Tathandlung auch eine fehlerhafte Einwirkung auf das Produkt im Vordergrund stehen, ebenso ein Unterlassen, z. B. bei der Qualitätskontrolle. Dann ist dem Hersteller weniger die Inverkehrgabe als die unsachgemäße Behandlung des konkreten Produkts vorzuhalten (Beispiel: Als später weiterfressender Mangel erweist sich, dass eine Schraube nicht angezogen wurde). Und hier hätte der Konsument bei pflichtgemäßer Produktion u. U. dasselbe Produkt in fehlerfreiem Zustand, mangels Anwendbarkeit der §§ 946 ff. BGB jedenfalls das nämliche verletzbare Eigentum erhalten, was freilich zusätzlich erfordert, dass die Umstellung auf eine sichere Konstruktion bzw. Fabrikation jedenfalls den Vertrieb (auch) des konkreten Produkts nicht beeinflusst und daher auch dessen Übereignung an den Konsumenten nicht gehindert hätte12. cc) Notwendigkeit der Instruktionshaftung Das ändert nichts daran, dass diese Haftung nicht durchweg begründbar ist: Wo für den Tatrichter offen bleibt, ob pflichtgemäße Herstellung das Eigentum gerade an dem verschlechterten Produkt unversehrt gelassen hätte, kann die Haftung allenfalls auf einen Instruktionsfehler gestützt werden. Eine solche Instruktionshaftung ist nach Wagner allerdings ausgeschlossen, weil im Zeit-
__________ 10 Gsell selbst bestreitet teils die Eigentumsverletzung (so Fn. 6, S. 41), teils erst deren Rechtswidrigkeit (so Fn. 6, S. 155). 11 Auch hier gegen eine Haftung BGHZ 86, 240, 251 ff. – Röteln (wenn auch unter Hintanstellung solcher „Argumente formaler Logik“; dazu Picker, AcP 195 [1995], 483, 539 ff.). Entsprechend zu § 826 BGB bei manipulierter Mehrverkehrseinrede LG Stuttgart, NJW 1960, 1909, 1912 m. abl. Anm. Schwab; a. A. auch Heldrich, JZ 1965, 593, 598 f. Zu einem weiteren Aspekt der Frage schon Heerwart, AcP 14 (1831), 435, 437. 12 Die diesbezügliche Beweislast trägt an sich zwar der Geschädigte. Er hat in die dafür maßgebenden Interna der Produktion aber keinen Einblick, so dass die Rechtsprechung wohl nicht zögern würde, die Grundsätze der Hühnerpest-Entscheidung entsprechend auszudehnen.
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punkt der Inverkehrgabe die Pflichten zur sicheren Herstellung einer bloßen Warnpflicht „vorgelagert“ seien13. Das spricht freilich nur gegen eine Verdrängung der Herstellungspflichten. Hier geht es indes um Ergänzung derselben, und die Produzentenpflichten stehen nicht im Verhältnis strikter Alternativität14: Wer als Hersteller z. B. eine Produktgefahr, die den Vertrieb der Ware nicht per se ausschließen soll, immerhin realisiert, jedoch verkennt, dass sie durch eine vertretbare Änderung der Konstruktion vermeidbar würde, haftet insofern wegen Fahrlässigkeit; wenn er vor dieser Gefahr aber nicht einmal warnt, kann er zusätzlich wegen Vorsatzes verantwortlich sein, was straf- wie zivilrechtlich (§ 253 BGB) durchaus relevant ist. Problematischer dürfte sein, ob eine Warnpflicht gerade zum Schutze des fehlerhaften Produkts besteht15. Grundsätzlich hängt eine Verkehrspflicht nämlich auch davon ab, ob der Verkehr auf Gefahrabwendung vertraut, und dies kann einerseits vom jeweils drohenden Schadensausmaß, andererseits von dem Haftungsregime, das die Erwartungen des Konsumenten vorprägt, beeinflusst sein16. Insofern ist zweierlei bedeutsam: Die hier drohende Schädigung des Produkts hat – im Unterschied zu den klassischen Risiken für Leben, Gesundheit oder externe Sachen – stets begrenzten, oft sogar untergeordneten Umfang17. Und den Ausgleich dieses Schadens bzw. dessen Abwendung durch Warnung erwartet der Konsument weniger vom Hersteller des Produkts als von seinem Verkäufer; diesen treffen immerhin auch Gewährleistungspflichten für die Kaufsache – wobei der Konsument sich zugleich darauf einstellen wird, dass er als Käufer schlechter Ware nach Ablauf der Fristen des § 438 BGB auf ihr „sitzen bleibt“. dd) Fazit Festzuhalten ist, dass Weiterfresserschäden dem § 823 Abs. 1 BGB teilweise nur dann subsumierbar sind, wenn man sie auf einen Instruktionsfehler zurückführen kann, dass aber eine Warnpflicht zum Schutz des in Verkehr gegebenen Produkts vor Selbstschädigung zumindest fraglich ist. 2. Zur Subsidiarität deliktischer Haftung nach der Schuldrechtsreform Die Kernfrage einer Deliktshaftung für Weiterfresserschäden war schon immer, ob damit nicht die Sonderregeln der Verkäuferhaftung für Sachmängel unterlaufen werden.
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13 Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 131, 631. 14 Dazu schon Gsell (Fn. 6), S. 187 f., 234 f., 332. 15 Gänzlich abl., da (auch) sie allein dem Äquivalenzinteresse dienen würde, Tettinger, JZ 2006, 641, 649. 16 Zutreffend Gsell (Fn. 6), S. 167 f., die diese Punkte allerdings recht knapp behandelt; krit. Spickhoff in Soergel, 13. Aufl. 2005, § 823 BGB Rz. 83 Anm. 400. 17 In diesem Sinne auch Schlechtriem, AcP 204 (2004), 300, 307. Der Hinweis Gsells, ein Produktfehler werde selten nur das Produkt selbst gefährden (Fn. 6, S. 168), hilft nicht ab, da es außerhalb des Schutzzwecks läge, eine Verhaltenspflicht zur Bewahrung externer Rechtsgüter zum Schutze des fehlerhaften Produkts heranzuziehen.
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a) Das alte Schuldrecht Nach altem Schuldrecht brauchte der Verkäufer als solcher – mangels Arglist oder Zusicherung – bekanntlich gar nicht fürchten, für Mangelschäden an der Kaufsache haften zu müssen, da die Rechtsprechung Ansprüche aus positiver Vertragsverletzung (zu Recht) nicht auf solche Schäden erstreckte18; die üblichen Gewährleistungsrechte für bewegliche Sachen verjährten binnen sechs Monaten ab Ablieferung (§ 477 Abs. 1 BGB a. F.). Unterwarf man Weiterfresserschäden hingegen auch der deliktischen Haftung, so begann deren Verjährung (binnen drei Jahren ab Kenntnis) überhaupt erst mit der Entstehung dieses Anspruchs, d. h. mit der Eigentumsverletzung, die im Weiterfressen liegt, es sei denn, dass seit der Inverkehrgabe 30 Jahre verstrichen waren (§ 852 BGB a. F.). Die Anwendung des Deliktsrechts ergänzte also insbesondere die Käuferrechte wegen Sachmangels und „verlängerte“ deren Verjährung gewissermaßen um zweieinhalb Jahre bzw. um maximal 29,5 Jahre. b) Das neue Schuldrecht Die Schuldrechtsreform hat dies nur in Nuancen geändert. aa) Erweiterung der Verkäuferhaftung um Schadensersatzpflicht Seit dem Jahre 2002 haftet der Verkäufer eines fehlerhaften Produkts bei Verschulden auch umfassend auf Schadensersatz, sei es nach §§ 280 Abs. 1, 437 Nr. 3 BGB, sei es wegen Versäumung einer Frist zur Nacherfüllung oder wegen Unmöglichkeit nach §§ 280 Abs. 1, 3, 281, 283, 311a, 437 Nr. 3 BGB; mit dieser Maßgabe kann der Produktgeschädigte daher – unstreitig – auch etwaigen Weiterfresserschaden an der Kaufsache als Mangel- bzw. Folgeschaden ausgleichen19, sofern dieser infolge – gesetzlich vermutet – schuldhafter Pflichtverletzung seines Vertragspartners eintrat. Insoweit also hat das neue Recht vertragliche und deliktische Haftung einander angenähert20. Umso wichtiger sind verbleibende Eigenheiten. bb) Drohende Aushöhlung der kurzen Gewährleistungsfristen Die skizzierte Vertragshaftung verjährt i. d. R. binnen zwei Jahren ab Ablieferung der beweglichen Sache an den Käufer, nur bei Bauprodukten, durch deren Verwendung dann auch ein Bauwerk mangelhaft wurde, binnen fünf Jahren (§ 438 Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Nr. 3, Abs. 2 BGB). Demgegenüber würde eine Deliktshaftung wieder binnen drei Jahren ab Kenntnis oder grob fahrlässiger
__________ 18 S. nur BGH, NJW 1983, 810, 811 – Gaszug; aber, wie erinnerlich, sehr umstritten. 19 S. nur Schollmeyer, NJOZ 2009, 2729, 2737 ff. m. w. N. – Besteht der Käufer statt dessen auf Minderung des Kaufpreises, so sind Weiterfresserschäden gleichfalls zu berücksichtigen, s. nur Faust in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 441 BGB Rz. 11; Matusche-Beckmann in Staudinger, Neubearb. 2004, § 441 BGB Rz. 18; a. A. Gsell (Fn. 6), S. 328 Fn. 893. 20 Zutr. Mansel/Stürner in AnwKomm.BGB, 2005, § 195 BGB Rz. 58.
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Unkenntnis der anspruchsbegründenden Umstände – vor allem der Eigentumsverletzung durch Weiterfressen – verjähren (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB), dessen ungeachtet zehn Jahre nach Entstehung des Schadensersatzanspruchs (durch das Weiterfressen) und spätestens 30 Jahre nach Inverkehrgabe des Produkts (§ 199 Abs. 3 BGB). Die Anwendung des Deliktsrechts würde einen vertraglichen Anspruch auf Ersatz des Weiterfresserschadens also insofern ergänzen, als eine ebenbürtige Haftung anschlösse21 und die meist zweijährige Verjährung nach Kaufrecht selbst bei Kenntnis des Weiterfresserschadens um immerhin ein Jahr und – mangels einer solchen Eigentumsverletzung bzw. deren Kenntnis – gar um bis zu 28 Jahre „verlängert“ würde. Damit würde die Verkäuferverantwortung für einen Sachmangel drastisch erweitert, wenn auch nur in dem Umfang, in dem jener die Kaufsache (mangels wirtschaftlich sinnvoller Reparatur) zusätzlich verschlechtert. (1) Der Standpunkt des Gesetzgebers Das Verhältnis von vertraglicher und deliktischer Haftung sollte aus Sicht des Gesetzgebers grundsätzlich dem Kumulationsprinzip folgen, auch auf Ebene der Anspruchsverjährung22. Das schließt Ausnahmen nicht aus, vor allem dort, wo Sonderverjährungsrecht für vertragliche Ansprüche auf eine spezifische Wertung des Gesetzgebers hinweist23 und konkurrierende deliktische Haftung so weitgehend inhaltsgleich wäre, dass deren Anwendung das Anliegen des Gesetzgebers unterlaufen würde. Anerkannt ist z. B., dass die kurze Verjährung von Schadensersatzansprüchen des Vermieters und Verpächters wegen Verschlechterung der überlassenen Sache (§§ 548 Abs. 1, 591b Abs. 1 BGB) auch für deliktische Ansprüche maßgebend ist24. Auch die Verjährungsfrist für Sachmängel-Ansprüche (§ 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB) war wohlüberlegt. Die Schuldrechtskommission hatte noch eine dreijährige Verjährung vorgeschlagen. Dazu äußerte die Begründung des Fraktionsentwurfs zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz mehrfach, diese Frist sei für Sachmängel zu lang25; sie sollte daher auf zwei Jahre verkürzt werden, und zwar – entgegen einem Vorschlag Eidenmüllers26 – erklärtermaßen auch für verschuldensabhängige Mängelansprüche27, also Schadensersatzansprüche.
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21 Ihr Nachweis wäre zwar nicht durch § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB, aber mindestens vergleichbar erleichtert: durch die Beweislastumkehr nach BGHZ 51, 91, 104 ff. – Hühnerpest. 22 S. nur Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 105 („nicht selten konkurrieren“); Wagner in Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 203, 205 ff. 23 So auch Gsell (Fn. 6), S. 332 ff., die dann freilich, trotz Einbeziehung der Schuldrechtsreform (S. VII), die skeptischen Äußerungen des Gesetzgebers zur Weiterfresser-Rechtsprechung nicht auswertet. 24 Vgl. BGH, NJW 1993, 2797, 2798 (zu § 558 BGB a. F.); BGH, NJW 2001, 2253 f. (zu § 591b Abs. 1 BGB); Spindler in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2008, § 823 BGB Rz. 65. 25 Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 102 f., 105 („nicht geeignet“). 26 Vgl. JZ 2001, 283, 285 f. 27 Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 102 f.
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Da Eidenmüller seine Forderung nach längerer (und kenntnisabhängiger) Verjährung am Beispiel der Verschuldenshaftung für Mangelfolgeschäden verdeutlicht hatte28, steht außer Frage, dass der Fraktionsentwurf zumindest die Haftung für Mangelschäden, also diejenigen an der Kaufsache, strikt auf zwei Jahre beschränken sollte. Man verband mit dem Entwurf denn auch die Erwartung, den Anlass für abweichende Kunstgriffe der Rechtsprechung – der Ersatz von Weiterfresserschäden nach Deliktsrecht galt ihm als „Wertungswiderspruch“29 – beseitigt zu haben. In der Entwurfsbegründung heißt es: „Die regelmäßige Verjährungsfrist ist den neuen besonderen Verjährungsfristen so nahe gerückt, dass die unterschiedliche Verjährung künftig keine Veranlassung mehr bietet, systematisch weniger nahe liegende Konstruktionen zu entwickeln, um die – so nicht mehr bestehenden – Nachteile der unterschiedlichen Verjährungsfristen auszugleichen“30. Es mag daher überraschen, dass die Verfasser des Entwurfs die Judikatur zu den Weiterfresserschäden – künftig – dennoch nicht an seine Wertungen binden wollten, sondern deren Beachtung freistellten. Erhellend ist immerhin die gegebene Begründung, selbst bei Fortführung der Rechtsprechung würde „ein Wertungswiderspruch anders als bisher weitgehend vermieden, weil die dann geltende regelmäßige Verjährung auf ein ausreichendes Maß reduziert wird.“ Dies bezeugt nämlich Irrtümer der Entwurfsverfasser über den Entwurf: Erstens änderte dieser die Verjährung deliktischer Ansprüche gegenüber § 852 Abs. 1 BGB a. F. gerade nicht so, dass sich für Weiterfresserschäden nennenswerte Folgen ergeben31. Zweitens kann ein Wertungswiderspruch kaum „weitgehend“ vermeidbar sein, wenn der Entwurf eine dreijährige Verjährung für Ersatzansprüche wegen Mangelschäden ausdrücklich verwarf, das Deliktsrecht sie aber gerade eröffnen würde, dies zumindest für eine Gruppe wichtiger, wenn auch zufällig erfasster Mangelschäden i. w. S.: die Weiterfresserschäden32. Und drittens läge darin, dass die Verjährung deliktischer Mangelhaftung dank ihres späteren Beginns diejenige vertraglicher Schadenshaftung um 28 Jahre, also um 1.500 %, verlängert, ein Wertungswiderspruch, dessen groteskes Ausmaß schlechterdings unvermeidbar ist, den Entwurfsverfassern also offenbar gar nicht präsent war. Diesen unterlief mithin ein Motivirrtum, dem später sichtlich auch der Gesetzgeber erlag. In solcher Lage hat der Interpret derjenigen Wertung zur Geltung zu verhelfen, die dem wirklichen Willen des Ge-
__________ 28 Eidenmüller, JZ 2001, 283, 286 (wenn auch nur exemplarisch). 29 BT-Drucks. 14/6040, S. 229. Weitere Skepsis klingt auf S. 228 an: „Kriterien entwickelt […], die freilich ihrerseits nur wieder andere Abgrenzungsprobleme aufwerfen.“ 30 BT-Drucks. 14/6040, S. 105. 31 Die Norm war geradezu „Vorbild“ der neuen Regelverjährung nach §§ 195, 199 BGB, vgl. Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 104 f. Neu ist die 10Jahre-Frist des § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB, die praktisch aber nur schadet, wenn die Entstehung eines Anspruchs durch Mangelausweitung 10 Jahre lang unbemerkt bleibt – da das Produkt so lange nicht benutzt wurde! 32 Dass die Entwertung der kaufvertraglichen Haftungsschranke damit nur eine partielle sein kann, schließt jene, wie auch Gsell (Fn. 6, S. 336 zu Anm. 946) konzediert, nicht aus.
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setzgebers am nächsten kommt33: hier dem Anliegen, den Wertungswiderspruch, den die Entwurfsverfasser unter Geltung des alten Schuldrechts durch die Weiterfresser-Judikatur aufgeworfen sahen34, möglichst zu vermeiden. (2) Objektive Auslegung Wer diese Ansicht nicht teilt und sich mit der irrtümlich erteilten Ermächtigung des Gesetzgebers zur Fortführung der Weiterfresser-Judikatur begnügen will, dürfte zum gleichen Ergebnis kommen35. Er sollte von dieser Ermächtigung nämlich keinen Gebrauch machen, damit der besagte Wertungswiderspruch vermieden wird. Dieser droht eben – objektiv – auch unter dem neuen Schuldrecht, unabhängig davon, ob man die fragliche deliktische Haftung des Produzenten auf einen Herstellungs- oder Instruktionsfehler zurückführt. (3) Unabhängigkeit der Aushöhlung von einem Kaufvertrag mit dem Geschädigten Der Wertungswiderspruch droht auch nicht etwa nur, soweit der Geschädigte gerade vom Hersteller kaufte36. Entscheidend ist der mit § 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB bezweckte Schutz des Verkäufers: Soll dieser für Mangelschäden nur binnen zwei Jahren ab Ablieferung an seinen Käufer haften und muss dies auch für eine nichtvertragliche Haftung für Folgeschäden an dieser Sache gelten, so kann diese Vorgabe nicht davon abhängen, wer gerade Eigentümer der Sache war, als sie sich durch Ausweitung des ihr anhaftenden Mangels verschlechterte37. Andernfalls würde das normierte Ziel mit jeder Veräußerung durch den Ersterwerber unterlaufen38. Deliktische Ansprüche müssen daher auch für solche Erwerber zurücktreten, denen das Produkt vor seiner Verschlechterung von Dritten geschenkt worden war. cc) Aushöhlung des Rechts zur zweiten Andienung Schadensersatz wegen eines Mangelschadens an der Kaufsache steht dem Käufer nach §§ 280 Abs. 1, 3, 281, 437 Nr. 3, 440 BGB grundsätzlich nur zu, wenn dem Verkäufer eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt worden ist. Eine konkurrierende, unbedingte Deliktshaftung für Weiterfresserschäden unter-
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33 Zur Korrektur von Motivirrtümern des Gesetzgebers vgl. Ph. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1, 213 ff., insb. S. 215. 34 Vgl. oben bei Fn. 29. 35 So auch Graf von Westphalen, DB 2001, 799, 803; Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 132; Spickhoff (Fn. 16), § 823 BGB Rz. 83; Mansel/Stürner (Fn. 20), § 195 BGB Rz. 57 ff.; Grigoleit, ZGS 2002, 78, 79 f.; Tettinger, JZ 2006, 641, 644; übergangen bei Masch/ Herwig, ZGS 2005, 24, 28 f. 36 So jetzt aber wieder Gsell (Fn. 6), S. 351 ff.; Masch/Herwig, ZGS 2005, 24, 26 f. 37 Auch die Rspr. ordnet „stoffgleiche“ Schäden dem Äquivalenzinteresse keineswegs nur dann zu, wenn die Parteien vertraglich verbunden waren (BGH, NJW 1983, 810 – Gaszug; BGH, NJW 1983, 812 – Hebebühne). 38 Vgl. schon von Bar, Probleme der Haftpflicht für deliktsrechtliche Eigentumsverletzungen, 1992, S. 24; Tettinger, JZ 2006, 641, 649 f.; Foerste (Fn. 5), § 21 Rz. 38.
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läuft daher nach überwiegender Ansicht auch dieses Recht zur zweiten Andienung39. Für Werkunternehmer hat auch schon der BGH entschieden, dass ihre Nacherfüllungsrechte nicht durch deliktische Haftung vereitelt werden dürften40. Dem hat Gsell widersprochen: Der Nacherfüllungsvorrang beziehe sich jeweils nur auf den anfänglichen Mangelunwert, nie aber auf die deliktsrechtlich allein relevanten Weiterfresserschäden41. Untersucht hat Gsell dies freilich nur für Werkverträge42. Beim Kauf jedenfalls spielt, soweit der Käufer Nachlieferung verlangen konnte, das Ausmaß der Mangelhaftigkeit ohnehin keine Rolle43. Auch ein Nachbesserungsanspruch des Käufers erstreckt sich nach ganz herrschender Meinung – über den Grundmangel hinaus – auf die jeweilige Ausprägung des Mangels einschließlich etwaiger Weiterfresserschäden44. Dem wird teilweise entgegen gehalten, die Verpflichtung nach § 433 Abs. 1 Satz 2 BGB sei darauf beschränkt, für Mangelfreiheit im Zeitpunkt des Gefahrübergangs zu sorgen, so dass spätere Verschlechterungen – entsprechend der Judikatur zu den Weiterfresserschäden – nur das Integritätsinteresse berühren könnten45. Das überzeugt nicht. Sachmangel i. S. der §§ 433 Abs. 1 Satz 2, 434, 439, 476 BGB ist das jeweilige Erscheinungsbild des bei Gefahrübergang vorliegenden bzw. vermuteten46 Sachmangels und, davon kaum abgrenzbar, auch jede mangelbedingte Verschlechterung der Kaufsache. Nur dann vermag (auch) Nachbesserung den Käufer so zu stellen, als hätte er bei Gefahrübergang eine mangelfreie Sache erhalten, was für den Verkäufer auch nicht etwa unzumutbar ist (vgl. § 439 Abs. 3 BGB). Die Gegenansicht höhlt das Nachbesserungsrecht vielfältig aus, indem sie den Käufer zu gespaltenem Vorgehen zwingt: Zur Behebung des anfänglichen Mangels müsste er eine Nachfrist setzen, während die mangeltypische Verschlechterung der Ware allenfalls bei Verschulden des Verkäufers umfassend auszugleichen wäre (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB); oft wird der Käufer daher gleich auf Nachlieferung ausweichen. Entsprechend beschneidet die Gegenansicht das Nacherfüllungsvorrecht des Verkäufers. Wenn dieses aber nur noch für den anfänglichen Mangel bestünde und im Übrigen ohnehin Geldersatz zu zahlen wäre, verlöre es oft sogar jeden Nutzen, was den Verkäufer neuerlich benachteiligen würde (Beispiel: Wenn das mangelhafte Teil A das intakte Produktteil B zerstört, an dem Teil A befestigt war, und der Geschädigte für Teil B sogleich Schadenersatz in Geld for-
__________ 39 Ausf. Tettinger, JZ 2006, 641, 645 f. m. w. N.; Foerste, ZRP 2001, 342; zutr. präzisierend Masch/Herwig, ZGS 2005, 24, 25 f. 40 BGHZ 96, 221, 229 f.; dazu ausf. und krit. Gsell (Fn. 6), S. 337 ff. 41 Gsell (Fn. 6), S. 337 ff. 42 Gsell (Fn. 6), S. 337 ff. – § 439 BGB wird auf S. 340 zwar erwähnt, aber nicht ausgelegt; an anderer Stelle lässt Gsell seine Tragweite denn auch ausdrücklich offen (S. 320 Anm. 865 a. E.). 43 Insoweit zutr. Schollmeyer, NJOZ 2009, 2729, 2734. 44 Ganz h. M.: Faust (Fn. 19), § 439 BGB Rz. 15; Tettinger, JZ 2006, 641, 644 f.; w.N. bei Schollmeyer, NJOZ 2009, 2729, 2734 Anm. 24. 45 Vgl. Otto/Schwarze in Staudinger, 2009, § 281 BGB Rz. C 10; näher Schollmeyer, NJOZ 2009, 2729 ff. 46 Für § 476 BGB abw. BGHZ 159, 215, 218.
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dern darf, § 280 Abs. 1 BGB, scheitert die zweite Andienung gänzlich). Bei teleologischer Deutung bezweckt § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB das Gegenteil: Vor einer Belastung mit Schadensersatz verdient der Schuldner Schutz, solange er in seinem Pflichtenkreis – grundsätzlich hätte er ja jedweden Mangel der Kaufsache beseitigen müssen – durch Nachbesserung abhelfen kann. Es bleibt also dabei: Eine Deliktshaftung für Weiterfresserschäden vereitelt in der Tat das Nacherfüllungsvorrecht, solange ein solches besteht – auch dies unabhängig davon, ob gerade der geschädigte Eigentümer Vertragspartner des Produzenten war47. 3. Besonderheiten der Zulieferer-Haftung Geht ein Weiterfresserschaden im erworbenen Produkt auf ein Teil zurück, für dessen Fehler ein Zulieferer verantwortlich gemacht wird, so können sich Besonderheiten ergeben. Zunächst müsste die Ausweitung des Mangels am Endprodukt dem Zulieferer als Eigentumsverletzung zurechenbar sein. Insoweit wird (auch hier) eine Anknüpfung an die Herstellung oder Inverkehrgabe des Teiles nicht in jedem Fall möglich sein48. Dann mag der Zulieferer immerhin wegen Instruktionsfehlers haften. Eine Warnpflicht trifft ihn eher als den Endhersteller. Denn sie würde Risiken gelten, die gerade nicht das fehlerhafte Zulieferteil, sondern die mit ihm hergestellte neue Sache (auch nur im Übrigen) bedrohen. Diese ist regelmäßig deutlich wertvoller als das Zulieferteil, ihr Endabnehmer also verstärkt auf Schutz angewiesen. Er wird diesen zwar in erster Linie wieder von seinem Verkäufer erwarten, also z. B. vom Endhersteller, und dies auch eher nach Maßgabe des Gewährleistungsrechts, d. h. befristet. Von einem Zulieferer ist jedoch mehr zu erwarten, da das von ihm verkaufte schadhafte Teil nun auch noch andere Sachen, jedenfalls das Endprodukt, gefährdet. In puncto Subsidiarität dieser deliktischen Haftung gegenüber dem Vertragsrecht gilt Entsprechendes. Für Subsidiarität spricht zwar, dass der Geschädigte das Endprodukt i. d. R. gekauft hat und insofern auf seine Gewährleistungsrechte beschränkt ist, d. h. der Vorrang des so bewerteten Äquivalenzinteresses des Geschädigten. Dessen Perspektive dürfte aber nicht maßgebend sein49, denn die mit dem Deliktsrecht konfligierenden Kaufrechtsnormen sollen den Verkäufer schützen, so dass hier auf den Zulieferer abzustellen ist. Und während das Recht zur zweiten Andienung sich überhaupt nur auf die jeweils verkaufte Sache bezieht, steht für die Verjährung außer Frage, dass bei Mangelfolgeschäden außerhalb der Kaufsache (des Zulieferers) Ansprüche nach §§ 280 Abs. 1, 437 Nr. 3 BGB mit der deliktischen Haftung und deren regelmäßiger Verjährung konkurrieren50.
__________ 47 Dazu schon oben sub II. 2. b) bb) (3). 48 Zum Kausalitätsproblem s. oben sub II. 1. b) bb). 49 Tendenziell anders Tettinger, JZ 2006, 641, 650; auch noch Foerste (Fn. 5), § 21 Rz. 38. 50 Vgl. Fraktionsentwurf zum SchRModG, BT-Drucks. 14/6040, S. 229: „Für andere Ansprüche bleibt es bei der regelmäßigen Verjährungsfrist.“; ganz h. M.
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4. Fazit Eine Haftung des Endherstellers für Weiterfresserschäden lässt sich nur bedingt auf § 823 Abs. 1 BGB stützen. Schwerer wiegt, dass sie (auch) mit dem neuen Schuld- und Verjährungsrecht nicht vereinbar wäre. Dem Zulieferer hingegen droht Instruktionshaftung, falls er nicht vor vermeidbarer Schadensausweitung am Endprodukt warnte.
III. Die Haftung für Produktionsschäden Dass industrielle oder dem Konsum dienende Produktion misslingt, kann vielfältige Ursachen haben. Im Folgenden sollen die Fälle im Vordergrund stehen, in denen ein fehlerhaftes Produkt bestimmungsgemäß genutzt wird, um durch seine Verarbeitung, Verbindung, Vermengung oder Vermischung mit anderen Sachen (Zutaten) ein neues Produkt entstehen zu lassen, dieses Endprodukt aber wegen der fehlerhaften Zutat misslingt. Haftet der Zulieferer dem Endhersteller? 1. Der Produktionsschaden als Weiterfresserschaden Ist das Endprodukt infolge des Fehlers irreparabel, sein späterer Zustand also „stoffgleich“ mit dem Fehler, so scheidet eine Eigentumsverletzung am Endprodukt aus: Insoweit wird nicht nach § 823 Abs. 1 BGB gehaftet. Für sonstige Weiterfresserschäden, d. h. für Verschlechterungen, vor denen das Endprodukt mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand hätte bewahrt werden können, mag anderes gelten. Sie führen jedenfalls zum Verletzungserfolg. Dieser wird freilich nicht immer auf den Konstruktions- oder Fabrikationsfehler des Zulieferteils zurückführbar sein: Hätte dessen ordnungsgemäße Herstellung zur Folge gehabt, dass auch der Assembler sein Produkt anders konstruiert oder bei Nutzung eines fehlerfreien Zulieferteils jedenfalls andere Sachen geschaffen hätte, so wäre das durch Weiterfressen versehrte Eigentum ohne den Herstellungsfehler nicht (so) vorhanden gewesen51. Hier mag aber immerhin eine Instruktionshaftung greifen52. Eine Warnpflicht kann, wie erwähnt, mit den Pflichten zu sorgfältiger Herstellung durchaus konkurrieren, und Zulieferer müssen auch vor Weiterfresserschäden schützen (s. oben sub II. 3.). Oft wird eine Warnpflicht – und jede Deliktshaftung – aber ausgeschlossen sein, weil dem Konsumenten mangels Behebbarkeit des Fehlers ohnehin nicht mehr zu helfen war. 2. Deliktische Haftung für Beschädigung der unversehrten Zutaten? Dann wäre dem Geschädigten geholfen, wenn er wenigstens Ersatz für die Zutaten erhielte, die er gemeinsam mit dem fehlerhaften Produkt verarbeitete. Einer Eigentumsverletzung an den Zutaten scheint aber entgegenzustehen, dass diese meist schon in der neuen Sache aufgegangen sind, also ihre sachen-
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51 Dazu vgl. wieder oben sub II. 1. b) bb). 52 Für die Zuliefererhaftung vgl. Gsell (Fn. 6), S. 204 f.
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rechtliche Selbständigkeit verloren haben, wenn sich der Fehler des Produkts nachteilig, z. B. chemisch oder physikalisch, auf den Produktionsprozess auswirkt. Dem ging zwar die Hingabe der intakten Zutaten in den Produktionsprozess voraus – man kann hier auch von „Opferung“ oder Preisgabe durch den Eigentümer sprechen −, doch scheint dies, da offenbar willentlich erfolgt, eher auf eine bewusste „Selbstverletzung“ des Konsumenten hinzudeuten. a) Die Entwicklung des Meinungsstandes Die Rechtsprechung zog über lange Zeit nicht einmal in Erwägung, dass das Eigentum an intakten Zutaten durch deren bloße Verarbeitung mit einem fehlerhaften Produkt verletzt werden könnte53. In anderen Entscheidungen verneinte der BGH (VIII. Zivilsenat) eine Eigentumsverletzung an den unversehrten Sachen, weil er für diese trotz ihrer Verarbeitung keine Wertminderung an Substanz oder Gebrauchsfähigkeit festzustellen vermochte54. Eine offenere bzw. abweichende Sicht deutete sich aber in Entscheidungen der neunziger Jahre an55, vor allem in dem Kondensatoren-Urteil des VIII. Senats56 und in der Transistoren-Entscheidung des VI. Senats. In dieser (nicht besonders klaren57) Entscheidung heißt es immerhin: „Sind nämlich […] zuvor unversehrt im Eigentum des Herstellers der Gesamtsache stehende Einzelteile durch ihr unauflösliches Zusammenfügen mit fehlerhaften anderen Teilen nicht nur in ihrer Verwendbarkeit, sondern erheblich in ihrem Wert beeinträchtigt worden, hier sogar gänzlich wertlos geworden, so ist bereits dadurch ebenso wie bei der Zerstörung ihrer Substanz eine Eigentumsverletzung eingetreten“58. Das Schrifttum ist gespalten. Die Annahme, die Verarbeitung unversehrter Zutaten mit einem fehlerhaften Produkt könne die Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB auslösen, wird teilweise gänzlich zurückgewiesen. So hat man die Verbindung usw. mit dem fehlerhaften Produkt als bloße Vermehrung der Sachsubstanz bezeichnet59 oder verlangt (und vermisst zumindest im Regelfall) eine nachteilige Einwirkung auf die sachenrechtlich noch selbständigen Zutaten60. Ich selbst habe betont, die Opferung fehlerfreier Zutaten für einen sinnlosen Produktionsprozess sei nur bewusste Selbstverletzung61 infolge
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53 Vgl. RG, JW 1905, 365, 368 – Kalk; BGH, JZ 1971, 138; BGH, NJW 1981, 2248, 2250 – Dämmelemente; BGH, NJW 1983, 812, 813 – Hebebühne; BGH, VersR 1986, 1003, 1004 – Schwimmbadfolie; näher dazu Gsell (Fn. 6), S. 263 f. m. Anm. 728. 54 BGH, NJW 1978, 1051 – Lotsand, dazu krit. Gsell (Fn. 6), S. 265 f.; BGH, BauR 1981, 491, 493 – Klinker; wenig klar BGH, VersR 1986, 1003, 1004 – Schwimmbadfolie. 55 BGH, NJW 1990, 908, 909 – Korken II; BGH, NJW 1994, 517 – Gewindeschneidemittel I; BGH, NJW-RR 1995, 342 – Gewindeschneidemittel II; BGH, NJW 1992, 283 – Möbellack. 56 BGH, NJW 1992, 1225, 1227 – Kondensatoren. 57 Krit. z. B. Foerste, NJW 1998, 2877 f. 58 BGHZ 138, 230, 236 – Transistoren; offen dann allerdings (für Baumaterialien) wieder BGH, NJW 2001, 1346, 1349 – Schlacke, erläuternd Gsell (Fn. 6), S. 253 f. 59 So z. B. Freund/Barthelmess, NJW 1975, 281, 283 (für mangelhafte Bauwerke). 60 B. Klein, NJW 1978, 1051; so wohl auch Schiemann in Erman, 2009, § 823 BGB Rz. 28. 61 So wohl auch Plum, AcP 181 (1981), 68, 109.
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bloßen Motivirrtums über die Rentabilität; dessen Hervorrufung sei dem Hersteller des fehlerhaften Produkts nicht zurechenbar, da dies dem Schutzzweck des § 823 Abs. 1 BGB widerspräche und reine Vermögensschäden ersetzen würde62; letzteres ist verbreiteter Eindruck63. Andererseits erfährt die Bereitschaft des BGH, nunmehr schon die Entwertung von Zutaten im Produktionsprozess als verletzend anzusehen, zunehmend Zustimmung. Dabei wird überwiegend nicht auf negative Einwirkungen des fehlerhaften Produkts abgestellt64, sondern für ausreichend gehalten, dass die Verwendungsmöglichkeit der geopferten Zutaten verloren oder eingeschränkt ist65. Die wichtige Frage, inwiefern der Verlust der Chance, die geopferte Zutat alternativ zu verwenden, dem Produzenten zurechenbar ist, obwohl der Geschädigte sich anscheinend doch bewusst für die nachteilige Verwendung entschied, fand allerdings lange wenig Aufmerksamkeit66. b) Die Lehre vom rechtsverletzenden Beschaffenheitsirrtum Diese Lücke zu schließen bemüht sich nunmehr Gsell in ihrer Schrift „Substanzverletzung und Herstellung“. Gsell geht mit Recht davon aus, dass die Hingabe unversehrter Zutaten in den Verarbeitungsprozess nicht nur die Verwendungsmöglichkeit, sondern ihre Substanz betrifft, und zwar ungeachtet „einer Beschädigung oder Zerstörung des Materials im herkömmlichen Sinne“: Da die Substanz der beigesteuerten Zutat zumeist ergänzt, gemindert, verändert oder integriert wird, ist diese nach der Verarbeitung in der Tat – zumindest regelmäßig – „eine andere als zuvor“67. Gsell führt weiter aus, wegen der alleinigen Bestimmungsmacht des Eigentümers (§ 903 BGB) sei jede seinem Willen widersprechende Veränderung der Sachsubstanz eine Substanzverletzung und insofern tauglicher Erfolg einer Eigentumsverletzung; das gelte auch dort, wo der Verarbeitungsvorgang das Eigentum am Material nach §§ 946 ff. i. V. m. §§ 93 ff. BGB untergehen lasse68. Der Eigentümer dürfe „nicht nur entscheiden, ob die Sache so verarbeitet wird, dass ihre sachen-
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62 Foerste (Fn. 5), § 21 Rz. 14 f., 87 ff. 63 Graf von Westphalen, MDR 1998, 805, 808; Brüggemeier/Herbst, JZ 1992, 802 ff.; Brüggemeier, JZ 1999, 99 f.; Hinsch, VersR 1992, 1053, 1056; Bremenkamp/Buyten, VersR 1998, 1064, 1066 f. 64 So freilich Kullmann, NJW 1999, 97; dagegen Gsell (Fn. 6), S. 298 Anm. 830. 65 So z. B. Kullmann (seinerzeit Mitglied des VI. BGH-Senats), NJW 1999, 97; Franzen, JZ 1999, 702, 707 f. u. 1047, dazu klärend Gsell (Fn. 6), S. 277 Anm. 780; Grunewald, JZ 1987, 1089, 1100; Spickhoff (Fn. 16), § 823 BGB Rz. 82 zu Anm. 390; Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 136 f., 141; Schaub, Haftung und Konkurrenzfragen bei mangelhaften Produkten und Bauwerken, 1999, S. 15 Anm. 10; Hager in Staudinger, 13. Bearb. 1999, § 823 BGB Rz. B 108. 66 Schwankend auch noch die eingehende Darstellung bei Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 136 ff. Er folgt einerseits (a. a. O., Anm. 576) Gsell, die gerade keine bewusste Selbstverletzung annimmt (dazu sogleich), bejaht andererseits aber eine „provozierte Selbstverletzung“, die tatbestandlich sein soll (auch rhetorisch engagiert: Verweis auf Hühner-Impfung und Obst-Behandlung; „geradezu unsinnig“, „offensichtlich“, „sofort einleuchtende“, „wohl kaum bestritten werden“). 67 Gsell (Fn. 6), S. 279. 68 Gsell (Fn. 6), S. 282 ff., auch zum Folgenden.
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rechtliche Selbständigkeit verloren geht, sondern auch wie diese Verarbeitung vor sich gehen soll, mit welchen Stoffen, Zutaten, Teilen und auf welche Weise sein Material unselbständiger Teil einer anderen Sache werden soll.“ Wer z. B. Lebensmittel verarbeiten und damit ihre sachenrechtliche Individualität preisgeben wolle, sei deshalb noch nicht damit einverstanden, dass jemand diese Sachen verbrenne oder verdorbene Stoffe hinzufüge. Sein Eigentum werde folglich verletzt, wenn er die Verarbeitung einem Dritten überlasse, dieser die Zutaten jedoch mit dem fehlerhaften Produkt verarbeite69. Nicht anders sei es, wenn eine solche Verarbeitung durch den ahnungslosen Eigentümer erfolge. Laut Gsell kann dem nicht entgegengehalten werden, bei Eigenverarbeitung „opfere“ der Eigentümer seine Zutaten freiwillig und bewusst, so dass der Produzent allenfalls für die fahrlässige Erregung eines Motivirrtums verantwortlich gemacht werden könne, dies aber auf eine Haftung für reine Vermögensschäden und – letztlich – für falsche Auskünfte (§ 675 Abs. 2 BGB) hinauslaufe, was dazu zwingen würde, auch für falsche Beratung bei der Anlage von (Bar-)Geld nach § 823 Abs. 1 BGB haften zu lassen70. Wer sich bei der Vermögensanlage falsch entscheide, wisse nämlich genau, „dass und auf welche Weise“ er (im Zuge der Investition) sein Eigentum aufgebe71. Wer seine Zutaten hingegen mit einem fehlerhaften Produkt verarbeite, irre nicht nur über die Vermögensfolgen dieser Verarbeitung, sondern auch über die Beschaffenheit des genutzten Produkts und somit darüber, „welcher Veränderung genau er die Materialsubstanz tatsächlich unterzieht“ bzw. „welche Veränderung das Material durch das Hinzufügen dieser Zutat erlangt“. Das gelte selbst dann, wenn er seine Vorstellung von der Fehlerfreiheit ohne nähere Kenntnisse der Chemie, Physik oder des Maschinenbaus gebildet habe. c) Stellungnahme Eine deliktische Haftung für die Einbuße intakter Zutaten im Zuge misslingender Verarbeitung durch den Eigentümer kann nur an die Preisgabe (samt Verbindung, Vermischung usw.) anknüpfen. Schon diese Preisgabe müsste dem Hersteller des fehlerhaften Produkts als Eigentumsverletzung zurechenbar sein. Dies ist jedoch, zumindest bei bloßer Fahrlässigkeit, sehr zweifelhaft. Auch der von Gsell vorgeschlagene Weg führt nicht weiter. Zutreffend ist ihr Ausgangspunkt: Nach § 903 BGB kann sich der Eigentümer verbitten, dass Dritte seine Zutaten eigenmächtig zu neuen Sachen verarbeiten. aa) Die Verarbeitung durch Dritte Schon weniger klar ist, wie weit eine Ermächtigung Dritter reicht, Materialien mittels Verarbeitung zu verändern. Einerseits wird eine solche Einwilligung auf kunstgerechte Einwirkungen beschränkt sein: Wer den Handwerker bittet, ein Loch für die Garderobenstange zu bohren, ist noch nicht damit einverstan-
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69 Gsell (Fn. 6), S. 284, unter Verweis auf S. 254 ff. 70 So Foerste, NJW 1998, 2877 f.; ders. (Fn. 5), § 21 Rz. 14 f., 87 ff. 71 Gsell (Fn. 6), S. 297 ff., auch zum Folgenden.
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den, dass die Schrankwand perforiert wird72. Andererseits ist durchaus fraglich, ob dies auf den Fall erstreckt werden darf, dass die Opferung einer Zutat des Bestellers unsinnig ist, weil das Werk aus anderen Gründen nicht mehr gelingen kann, sei es wegen Planungs- oder Ausführungsfehlers, sei es wegen früherer oder gleichzeitiger Zugabe einer Zutat, die – das scheint Gsell genügen lassen zu wollen – objektiv mangelhaft war. Eine Annäherung an das Problem würde u. a. voraussetzen, dass zwischen einer Auslegung der (konditionierten?) Einwilligung und einem (irrelevanten?) Motivirrtum über den Nutzen der vielleicht definitiv gebilligten Preisgabe abgegrenzt wird. Dabei mag sich ergeben, dass es der Funktion des § 823 Abs. 1 BGB, keine reinen Vermögensschäden zu ersetzen73, förderlich ist, an der Einwilligung in Eigentumsverletzungen stärker festzuhalten als an einer Einwilligung in humanmedizinische Eingriffe74. bb) Die Eigenverarbeitung Soweit der Eigentümer selber Zutaten sinnlos verarbeitet, weil die Fehlerhaftigkeit eines beigefügten Produkts sein Vorhaben stört, erscheint der Vorschlag Gsells nicht schlüssig. (1) Zufallsergebnisse der Lehre Gsells Zu denken gibt schon, dass er zu Zufallsergebnissen führt. Man nehme an, dass ein Endprodukt hergestellt werden soll, indem die Komponenten A und B zum Halbfabrikat C vermischt werden, dem dann das Produkt P beizurühren ist. (a) Wenn nun P wegen Produktfehlers unwirksam ist und Alternativprodukte zwar abhelfen könnten, aber nicht existieren, muss Gsell eine Deliktshaftung des P-Herstellers ablehnen: Dass A und B sinnlos vergeudet wurden, ist für Gsell offenbar keine Eigentumsverletzung, da diese ja erfordern soll, dass die jeweils andere Zutat nicht (exakt) den Erwartungen des Verarbeiters entspricht, während die hier verbrauchten Komponenten wunschgemäß waren. Und bezüglich C ist nicht einmal eine Instruktionshaftung denkbar, weil C einerseits durch die Beigabe von P nicht schlechter wurde, andererseits ohnehin nicht weiter nutzbar ist. (b) Machte die Zugabe von P die Verarbeitung hingegen unmöglich (und half deshalb auch ein Alternativprodukt nicht), so würde Gsell wegen Irrtums über die Beschaffenheit von P sogar eine Verletzung von C und insoweit auch die Produkthaftung bejahen. (c) Mussten A und B indessen gleichzeitig mit P vermischt werden, so würde Gsell auch bei bloßer Untauglichkeit (Variante a) eine Verletzung des Eigentums an jenen Zutaten bejahen, da der Verarbeiter über die Fehlerhaftigkeit von P irrte. –
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72 Um so bemerkenswerter, dass der für das Werkvertragsrecht zuständige VII. BGHSenat eine Deliktshaftung für Schäden an den zu bearbeitenden Gegenständen ablehnt (NJW 2005, 1423, 1425 f.). 73 Wohl nicht zufällig hat Schlechtriem für dieses Schadenssegment denn auch einen Vorrang des Vertragsrechts erwogen (AcP 204 [2004], 300, 305); dieser liegt bei reinen Vermögensschäden besonders nahe, zutr. Wagner (Fn. 22), S. 203, 204 f. 74 Vgl. Möschel, JuS 1977, 1, 5 f.; Schlechtriem, JZ 1971, 449, 451.
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Dem Geschädigten muss das willkürlich erscheinen: Für ihn ist es gleichgültig, ob P wirkungslos oder destruktiv, sogleich oder später beizufügen war; für ihn zählt vielmehr, dass er in allen Fällen seine Zutaten opferte und dazu auch Anlass hatte, weil der P-Hersteller es empfahl. In der Tat liegt es näher, ihm stets (oder nie) Ersatz zu gewähren. (2) Irrelevanz von Beschaffenheitsirrtümern bei Selbstverletzung Wie gezeigt werden soll, kann die Beschaffenheit der Sachen, mit denen die zunächst unversehrte Zutat verbunden, vermischt oder verarbeitet wird, für deren „Verletzung“ denn auch keine Rolle spielen. Insofern hilft ein Blick auf den bei Verarbeitung typischen Verletzungserfolg. Dieser liegt darin, dass der Verarbeiter die Substanz (und das Recht an) seiner unversehrten Zutat überhaupt preisgibt, indem er sie verändert oder in einer neuen Sache aufgehen lässt. Daher drängt sich die Frage auf, ob nicht bereits dieser Erfolg dem Hersteller des fehlerhaften Produkts zuzurechnen ist, weil der Hersteller durch seinen, wie vermutet, pflichtwidrigen und schuldhaften Produktfehler bei dem Verarbeiter den Irrtum erregte, das Produkt sei gefahrlos und zweckentsprechend nutzbar. Gsell behandelt diese Frage nur knapp und wenig klar75: Einerseits nennt sie als Beispiele für bloße Rentabilitätsirrtümer des Verarbeiters, die nicht zur Eigentumsverletzung führen sollen, nur spezifische Kalkulationsirrtümer (was offen lässt, wie der typische Irrtum über den Nutzen einer Preisgabe von Zutaten sich auswirken soll). Andererseits formuliert sie durchaus allgemeiner, wer „ohne Irrtum darüber, was mit der Sachsubstanz bzw. seiner Eigentümerposition geschieht, die Sache bewusst zerstört, beschädigt, verändert oder weggibt“, erleide „nicht ohne Weiteres“76 eine Eigentumsverletzung. Demnach soll wohl auch die bewusste Opferung einer Zutat in der irrigen Vorstellung, diese Investition lohne sich wegen der Eignung des beigefügten Produkts, dessen Hersteller noch nicht als Eigentumsverletzung zurechenbar sein77. Um so mehr fragt sich, wie Gsell aus dem Irrtum über die Beschaffenheit des Produkts umgekehrt folgern will, das Eigentum an damit verarbeiteten Zutaten werde verletzt. Mir ist dies auch nicht deutlich geworden. Der Duktus der Darstellung78 lässt freilich vermuten, dass Gsell aus § 903 BGB Folgendes ableitet: Ein Eigentümer, der (schon) nicht hinnehmen müsse, dass Dritte seine Zutaten eigenmächtig mit einer Substanz verbinden, die seinen Vorstellungen nicht exakt entspricht (und deshalb von ihm vielleicht auch nicht zur
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75 Gsell (Fn. 6), S. 298 f.; dies mag den Eindruck Schlechtriems erklären, Gsell übergehe Begleitverluste misslingender Produktion (z. B. an Verpackungsmaterial), AcP 204 (2004), 300, 304 a. E. 76 Gsell (Fn. 6, S. 298 Anm. 832) stimmt sogar Canaris zu, der nicht einmal Verleitungen zur Verfügung als Eigentumsverletzung bewertet; einen Vorbehalt deutet Gsell nur für die Herausforderungsfälle, offenbar nach Art der Nierenspenden-Entscheidung, an. 77 Meinen diesbezüglichen Bedenken widerspricht Gsell (Fn. 6, S. 296 ff.) jedenfalls nicht; sie besteht sogar darauf, ihnen ausweichen zu können. 78 Vgl. auch Gsell (Fn. 6), S. 295: „in Gestalt einer unerwünschten Substanzmehrung“.
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Verbindung „freigegeben“ wurde), werde auch dann verletzt, wenn er selbst diese Verbindung vornehme, ohne zutreffende Vorstellungen von der Eigenschaft der fremden Substanz zu haben. Diese Gleichstellung wäre jedoch verfehlt. Während Dritte nämlich nur tun dürfen, was der Eigentümer ihnen erlaubt hat, darf dieser alles tun, was ihm § 903 BGB freistellt: Er darf auf sein Eigentum z. B. auch dann einwirken, wenn er Tragweite und Modalitäten dieses Eingriffs nicht überblickt. Ein solcher Irrtum vermag das Vorrecht des Eigentümers also gar nicht zu berühren und nichts daran zu ändern, dass dieser sich selbst verletzte, indem er seine Zutaten überhaupt preisgab. Immerhin hat Gsells Hinweis auf die subjektive Seite der Eigentumshingabe einen wahren Kern: Von einer Selbstverletzung als willentlicher Preisgabe kann nur die Rede sein, wenn der Eigentümer den Verletzungserfolg, d. h. das Ausmaß der Einbuße an Substanz bzw. Verwendungsmöglichkeit erfasst. Wer z. B. in Wasserrohre ein Gewindeschneidemittel einbringt und die Erwartung hegt, dieses wieder rückstandsfrei entfernen zu können, strebt gerade keine dauerhafte Verbindung: keine Schaffung neuer Sachen („beschichtete Wasserrohre“) an; entsteht eine solche Verbindung wider Erwarten doch, erleidet er daher ungewollte Substanzeinbuße79. Solche Fälle sind freilich selten. Der typische Produktionsschaden entsteht anders. Hier gibt der Eigentümer seine Sache in voller Kenntnis des damit einhergehenden Sachverlustes preis, weil er erwartet, die daraus hervorgehende neue Sache werde einen Mehrwert haben: Wer seinen guten Wein ahnungslos mit geliefertem Glykolwein verschneidet, weiß genau, dass er jenen Wein vollständig verliert, und dieser (allein maßgebliche) Verlust hängt denn auch in keiner Weise davon ab, ob der zugesetzte Wein gut oder schlecht ist. Wer seine Rohchemikalie mit 60 %iger Schwefelsäure vermischen will, dann aber (falsch etikettierte) 50 %ige Säure einsetzt, weiß ebenfalls, was er verliert – und diese Zutat wird, die Überspitzung sei erlaubt, während ihres Untergangs dank der geringeren Säurekonzentration sogar80 noch „schonender“ behandelt! Will man in derart klaren Fällen dennoch berücksichtigen, dass die fehlerhafte Substanz eine andere war, als der Verarbeiter dachte, so übergeht man, dass ihm die falsche Substanz faktisch, nämlich trotz und wegen seines Irrtums, nun einmal Anlass genug war, die Zutat willentlich preiszugeben, und dass damit eine fremde, d. h. tatbestandliche81 Eigentumsverletzung auszuschließen ist. Zurechenbar wäre also allenfalls die Erregung des entsprechenden Motivirrtums. Wer sie für ausreichend hält, müsste freilich auch das Eigentum solcher Investoren verletzt sehen, die, in ihrer Bank schlecht beraten, Bargeld in ungünstige Anlagen leiten: Er ließe für reine Vermögensschäden haften.
__________ 79 Angesichts dieser für den Gewindeschneidemittel I-Fall (BGH, NJW 1994, 517) denkbaren Sachverhaltsdeutung (Foerste, NJW 1994, 909, 911) besteht entgegen Gsell (Fn. 6, S. 274 f.) kein Anlass, eine widersprüchliche Bewertung des Falles zu vermuten. 80 Wenn auch erst nach oder bei ihrem Untergang als selbständige Sache, also haftungsrechtlich ohnehin belanglos. 81 Eine solche wird hier also, entgegen Wagner (Fn. 1), § 823 BGB Rz. 136, keineswegs „zugestanden“.
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(3) Der schockierende Sonderfall: Schädigung von Tieren Dem hier nahegelegten Standpunkt, Produktionsschäden von der Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB auszunehmen, hat vermutlich nichts so sehr geschadet wie die Befürchtung, er würde auch Tiere schutzlos lassen, die durch fehlerhafte Arzneimittel oder verdorbenes Futter geschädigt werden. Es versteht sich, dass diese Gefahr nicht in Fällen unbefugter Tierbehandlung oder -fütterung droht. Andererseits steht ernstlich in Frage, ob z. B. im Hühnerpest-Fall82 Eigentum verletzt wurde. Dort wurden bekanntlich „die“, also möglicherweise alle Hühner eines Hühnerfarmbetreibers mit verunreinigtem Impfstoff gegen Hühnerpest geimpft, erkrankten aber an ihr. Mutierten die derart „ergänzten“ und jedenfalls wie Sachen (§ 90a Satz 3 BGB) zu behandelnden Hühner mit der Injektion des Impfstoffes etwa zu „neuen“ Objekten (geimpften Hühnern), und lag daher ein Sonderfall des bloßen „Produktionsschadens“ vor, der eine Eigentumsverletzung somit ausschloss83? Immerhin ist nicht daran zu zweifeln, dass mit der Vermischung auch nur kleinster Mengen der Substanz A mit der Substanz B eine neue Sache entsteht. Wie auch immer man solche Fälle bewertet, man sollte im Auge behalten, dass der sie begleitende Affekt aus der Betroffenheit von Lebewesen resultiert: aus deren Behandlung als Sachen. Es wäre daher verfehlt, das bei Tier-Schädigung naheliegende Vorverständnis zum Maßstab der Bewertung regulärer Produktionsschäden zu machen. Umgekehrt ist für Tiere eine Ausnahme zu erwägen: Obwohl §§ 946 ff. BGB grundsätzlich auch für Tiere gelten (z. B. für Vermengungen nicht unterscheidbarer Tiere), mögen sie auf Zuwendungen an Tiere unanwendbar sein, da diese Analogie den von § 90a Satz 3 BGB intendierten haftungsrechtlichen (und zugleich präventiven) Tierschutz84 mindern würde.
IV. Ergebnisse Der Befund bestätigt die Skepsis des Jubilars: 1. Die Rechtsprechung zur Haftung für Weiterfresserschäden hat (zumindest) seit der Schuldrechtsreform an Boden verloren. An dem Grundsatz der freien Konkurrenz vertraglicher und deliktischer Haftung wollte der Gesetzgeber nämlich dort nicht festhalten, wo ein Wertungswiderspruch droht, und eine Haftung für Weiterfresserschäden würde die gewährleistungsrechtliche Privilegierung des Verkäufers – die kurze Verjährung von Schadensersatzansprüchen und sein Vorrecht zur zweiten Andienung – aushöhlen. Der Zulieferer hingegen haftet für Schäden, die am Endprodukt entstehen, weil es sich durch den Fehler des Zulieferteils verschlechtert, sofern der Zulieferer zur
__________ 82 BGHZ 51, 91 ff. 83 Anders war es, soweit nur einzelne Hühner geimpft wurden, diese erkrankten und dann die übrigen Hühner ansteckten, es sei denn, dass auch die Hühnerschar eine einheitliche Sache war (§ 948 BGB). 84 Rechtspolitisch maßgebend war die unterstellte Fürsorgepflicht des Menschen, BTDrucks. 11/5463 Vorblatt A.
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Weiterfresser- und Produktionsschäden in neuem Licht
Warnung des Geschädigten verpflichtet war, weil die Schadensausweitung mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand abgewendet werden konnte. 2. Für Produktionsschäden durch Verarbeitung eines fehlerhaften Produkts hat dessen Hersteller i. d. R. nur einzustehen, soweit ein Weiterfresserschaden vorliegt, für den er wie ein Zulieferer haftet. Für den Verlust intakter Zutaten, die der Geschädigte ahnungslos für die geplante Produktion opferte, haftet der Hersteller regelmäßig nicht. Soweit die Rechtsprechung anders entscheidet, weil der Geschädigte zur bewussten Selbstverletzung veranlasst wurde, überdehnt sie § 823 Abs. 1 BGB in eine Haftung für reine Vermögensschäden und falsche Auskunft. Allein der Tierschutz (§ 90a BGB) gebietet Ausnahmen.
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Stefanie Furmans
Aktien als Vergütung – Was den Arbeitnehmer derzeit in der Rechtsprechung erwartet Inhaltsübersicht I. Allgemeine Einführung II. Entscheidung des BAG aus dem Jahre 2003 III. Entscheidung des BAG im Januar 2008 IV. Entscheidung des BAG vom Mai 2008 V. BFH-Rechtsprechung
VI. Kritische Würdigung 1. Begriff des Arbeitgebers 2. Begriff der Vergütung 3. Aktienzuteilungen als Vermögenswert? 4. Steuerliche Ansätze 5. Verpflichtung zur Leistung als wirtschaftlicher Vorteil VII. Resumee
Weder das Arbeitsrecht, noch das Aktienrecht stellen Kerngebiete der Tätigkeit des Jubilars und des mit diesem Beitrag zu Ehrenden dar. Dennoch bieten sich auch im Arbeitsrecht einige Parallelen und Anknüpfungspunkte zum Schwerpunktbereich von Professor Dr. Friedrich Graf von Westphalen, dem AGB-Recht. Spätestens seit der Einfügung des AGB-Rechts in das BGB ist den Arbeitsrechtlern schmerzhaft bewusst geworden, welch breite und auch diffizile Argumentationsbasis dadurch eröffnet wurde. Dieser Beitrag soll das Augenmerk auf einen speziellen Ausschnitt des Arbeitsrechtes lenken, der weniger AGB-rechtliche, als vielmehr allgemeine, vertragliche Grundlagen betrifft. Insofern steht der Beitrag in guter Tradition zu dem Werdegang des Jubilars, nicht zuletzt auch wegen des internationalen Bezuges.
I. Allgemeine Einführung Viele Arbeitgeber sind dazu übergegangen, ihren Arbeitnehmern im Rahmen der Mitarbeiterbeteiligung zusätzlich zu dem Jahresgrundgehalt weitere Vermögenswerte zukommen zu lassen. Neben Dienstwagen und Zuschüssen zur Kinderbetreuung, werden häufig im jährlichen Rhythmus Geldboni, Aktienoptionen, Phantom Stocks oder auch Aktien zugeteilt. Die Vereinbarungen, wie auch die damit verbundenen Motive1, hierzu sind sehr vielfältig und sollen hier nicht im Einzelnen beleuchtet werden. Sowohl durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) wie auch den Bundesfinanzhof (BFH) sind in den letzten Jahren mehrfach Konstellationen beurteilt worden, in
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1 Vgl. hierzu Wagner, Mitarbeiterbeteiligung in Deutschland – ein Überblick, NJW 2003, 3081, 3082.
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Stefanie Furmans
denen dem klagenden Arbeitnehmer Aktienoptionen u. a. durch ausländische Muttergesellschaften versprochen worden waren. Dabei war immer streitig, ob der Arbeitnehmer einen direkten Anspruch gegen seinen Arbeitgeber auf Überlassung der Aktien oder Aktienoptionen geltend machen kann und welche rechtlichen Auswirkungen dies hat. In verschiedenen Urteilen wurden die Arbeitnehmer auf die Durchsetzung ihrer Ansprüche gegenüber ausländischen, z. T. außereuropäischen, Muttergesellschaften verwiesen, d. h. auf die Durchsetzung im Ausland und unter Zugrundelegung des dortigen Rechtssystems. Gerade angesichts der deutschen Kontrolldichte und des daraus resultierenden Verbraucherschutzes wird eine solche Verweisung für den betroffenen Arbeitnehmer in der Regel bedeuten, dass er von der weiteren Verfolgung seiner Ansprüche Abstand nimmt. Chancen auf eine dem AGB-Recht ähnliche Überprüfung entsprechender Aktienzuteilungsprogramme hat ein deutscher Arbeitnehmer im Ausland kaum. Bislang haben weder das BAG noch andere Gerichte Feststellungen dazu getroffen, wann ein direkter Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber auf Lieferung der Aktien(-optionen) gegeben sein und unter welchen Voraussetzungen dieser ggf. wieder entfallen kann. Dies ist insbesondere unter allgemeinen vertragsrechtlichen Gesichtspunkten näher zu untersuchen.
II. Entscheidung des BAG aus dem Jahre 2003 In der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes vom 12.3.20032 ging es um Ansprüche aus einem Aktienoptionsplan der finnischen Konzernmuttergesellschaft. Diese hatte zu Gunsten der leitenden Angestellten des gesamten Nokia-Konzerns im März 1997 einen Aktienoptionsplan aufgestellt. Alternativ dazu konnten Mitarbeiter an einem Bonusplan teilnehmen, der die Zahlung eines jährlichen, gewinnabhängigen Bonus vorsah. Der Kläger war bei einer Nokia Tochter in der Nähe von München beschäftigt. In den Bedingungen des Aktienoptionsplanes wurden die Teilnehmer verpflichtet, die Aktienoptionen unentgeltlich der Konzernmutter anzubieten, sofern sie vor einem bestimmten Stichtag bei ihrem Arbeitgeber ausschieden. Der klagende Arbeitnehmer hatte einen Zeichnungsbogen der Konzernmutter unterschrieben. Weiterhin mussten nach finnischem Recht zur Durchführung des Aktienoptionsprogrammes Schuldverschreibungen erworben werden. Den dazu erforderlichen Betrag überwies der Kläger an die finnische Konzernmuttergesellschaft. Noch in demselben Jahr ging der Arbeitgeber des Klägers im Rahmen eines Betriebsübergangs an einen Erwerber über. Die Konzernmutter teilte dem Kläger daraufhin mit, dass seine Rechte aus dem Aktienoptionsplan erloschen seien. Das Bundesarbeitsgericht hat im Ergebnis eine direkte Vereinbarung über die Aktienoptionen, deren Zuteilung und deren Ausübung zwischen dem klagen-
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2 BAG, BAGE 104, 324; BAG, DB 2003, 1065 f.
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Aktien als Vergütung – Was den Arbeitnehmer derzeit in der Rechtsprechung erwartet
den Arbeitnehmer und der Konzernmuttergesellschaft in Finnland angenommen. Der Vertrag über die Gewährung von Aktienoptionen stehe selbständig neben dem Arbeitsvertrag zwischen der Tochtergesellschaft und dem Arbeitnehmer. Das BAG hat insbesondere abgelehnt, dass die Ansprüche auf Aktienoptionsgewährung immer in demselben synallagmatischen Verhältnis zur Arbeitsleistung des Arbeitnehmers wie die vertraglich vom Arbeitgeber geschuldete Vergütung stehen. Maßgeblich seien die konkreten vertraglichen Vereinbarungen.
III. Entscheidung des BAG im Januar 20083 In diesem Verfahren ging es um die Verpflichtung des deutschen Arbeitgebers, dem Kläger Aktienoptionen der amerikanischen Muttergesellschaft zu verschaffen. Geklagt hatte ein freigestelltes Betriebsratsmitglied auf Zuteilung von Aktienoptionen für mehrere Jahre. Auf die Einzelheiten des § 37 BetrVG soll hier nicht eingegangen werden. Auch in dieser Entscheidung hat das BAG betont, dass der Vertrag über die Gewährung von Aktienoptionen rechtlich selbständig neben dem Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers mit der Tochtergesellschaft steht und letzterer nur das Motiv für den Abschluss des Optionsgewährungsvertrages darstellt. Das BAG hat die Sache jedoch zur weiteren Aufklärung zurück verwiesen. Eine eigene Verpflichtung des konzernangehörigen Arbeitgebers könne jedoch begründet werden, wenn die Arbeitsvertragsparteien ausdrücklich oder konkludent die Teilnahme des Arbeitnehmers an dem Aktienoptionsprogramm eines anderen Konzernunternehmens vereinbaren. Es sei dann Sache des Arbeitgebers, die Erfüllbarkeit der eingegangenen Verpflichtung sicherzustellen. Das BAG hat im Rahmen seiner Zurückverweisung darauf hingewiesen, dass der Vortrag des Klägers, die Optionsgewährung sei auch Gegenstand des Einstellungsgespräches gewesen, ebenso wie die Rolle des Arbeitgebers bei der Zuteilung untersucht werden müsse.
IV. Entscheidung des BAG vom Mai 20084 In dieser Entscheidung ging es auch um Ansprüche des klagenden Arbeitnehmers aus einem Aktienoptionsprogramm. Hier hat sich das BAG weniger mit dem Anspruchspartner, sondern mit der Wirksamkeit einzelner Regelungen in den Ausübungsbedingungen auseinandergesetzt. Es hat zunächst festgestellt, dass die vom BAG für bestimmte Sonderleistungen, insbesondere Gratifikationen entwickelten Rechtsgrundsätze nicht ohne weiteres auf Aktienoptionen übertragen werden können, insbesondere insofern nicht, als die Zulässigkeit von Bindungsfristen und Verfallsklauseln zu beurteilen sind. Denn Aktien-
__________ 3 BAG, DB 2009, 794 f. 4 BAG, WM 2008, 1923 f.
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optionen hätten im Vergleich zu anderen Sondervergütungen einen ungleich größeren spekulativen Charakter. Bei jährlichen Sonderleistungen, die vor allem eine zusätzliche Vergütung des Arbeitnehmers für im Kalender- oder Geschäftsjahr erbrachte individuelle Leistungen bezwecken, oder auf den Erfolg eines Unternehmens in dem betreffenden Jahr abstellten, stehe nach Ablauf des betreffenden Jahres fest, ob die Voraussetzungen für die Sonderleistung erfüllt sind. Das sei bei Aktienoptionen anders, da der Arbeitnehmer trotz eigener guter Leistungen oder Unternehmenserfolge nicht mit der Werthaltigkeit der Aktienbezugsrechte zuverlässig rechnen könne. Eine Bindung der Befugnis zur Ausübung der Bezugsrechte an das ungekündigte Bestehen des Arbeitsverhältnisses sei dem Arbeitnehmer daher eher zuzumuten, als bei Sonderleistungen ohne oder mit geringem spekulativem Charakter. Werden die Aktienoptionen durch den Arbeitgeber gewährt, werden sie Bestandteil der arbeitsvertraglichen Vergütungsregelung und damit Arbeitsentgelt. In dieser Entscheidung liegt daher der Fokus, anders als bei den beiden zuvor skizzierten Entscheidungen, im Bereich der Wirksamkeit der Bedingungen des Aktienoptionsprogrammes, während es bei den erstgenannten Entscheidungen um die grundsätzliche Frage ging, ob überhaupt ein Anspruch des klagenden Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf Erhalt der Optionen bestand.
V. BFH-Rechtsprechung Auch der Bundesfinanzhof hat sich bereits mit der Einräumung von AktienOptionsrechten durch die Konzernmutter, allerdings aus steuerrechtlicher Sicht beschäftigt5. In diesem Fall war unstreitig, dass die Aktienoptionen durch die Muttergesellschaft den jeweiligen Arbeitnehmern verschiedener Tochtergesellschaften eingeräumt worden waren. Es ging lediglich darum, ob die inländische Gesellschaft, bei welcher die Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der jeweiligen Optionszuteilung tätig waren, zum Lohnsteuerabzug verpflichtet war. Konkret prüfte der BFH, ob es sich um unechte Lohnzahlungen eines Dritten handelte und kam zu dem Ergebnis, dass in dem zu entscheidenden Fall keine unechten Lohnzahlungen eines Dritten anzunehmen waren. In den Entscheidungsgründen streift der BFH aber auch ein Urteil eines anderen Senats aus dem Jahre 20016. Dort ging es ebenfalls um die Besteuerung der Gewährung von Aktienoptionen und der BFH hatte festgestellt, dass sich die Optionen für den Arbeitnehmer als „Frucht seiner Arbeit für den Arbeitgeber“ darstellen und auch aus Sicht des Zuwendenden in Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis ständen. Dieser Zusammenhang sei erst dann auszuschließen, wenn zwischen dem Zuwendenden und dem Empfänger unmittelbare, eigene rechtliche oder wirtschaftliche Beziehungen gegeben seien. Solche Be-
__________ 5 BFH, BStBl. II 2006, 668 ff. 6 BFH, BStBl. II 2001, 509 ff.
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ziehungen waren in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Lebenssachverhalt nicht ersichtlich bzw. waren nicht geltend gemacht worden. Der BFH erteilte aber sehr deutlich Stimmen aus dem Schrifttum eine Abfuhr, wonach das Interesse der Muttergesellschaft in eine andere Richtung ziele, als das Interesse des Arbeitgebers. Denn so der BFH, dies würde nichts daran ändern, „dass er (der Dritte, Einfügung der Verfasserin) die Option mit Blick auf das jeweilige konkrete Arbeitsverhältnis einräumt“. Keinen Zweifel hat der BFH an der grundsätzlichen Qualifikation derartiger Zuwendungen als Arbeitslohn.
VI. Kritische Würdigung Was bedeutet diese Rechtsprechung nun für die Frage, wann zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber ein direkter Anspruch auf Aktiengewährung entsteht? Unstreitig ist, wie das BAG stets betont hat, dass maßgeblich stets die konkreten vertraglichen Vereinbarungen sind. Hier unbeachtlich und daher nicht weiter zu untersuchen sind daher die Konstellationen, in denen direkte Vereinbarungen zwischen dem Arbeitnehmer und der Konzernmutter oder ausdrücklich zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber getroffen wurden. Interessanter sind die Konstellationen, in den eine konkrete klare Vereinbarung fehlt und daher die Gewährungen in einem „Graubereich“ stattfinden. Eine Lösung könnte sich bereits aus der Klärung der Begriffe des Arbeitgebers, der Vergütung oder des Vermögenswertes ergeben. 1. Begriff des Arbeitgebers Arbeitgeber ist nach einer allgemeinen Definition, wer die Arbeitsleistung vom Arbeitnehmer aufgrund des Arbeitsvertrages fordern kann und diesem im Gegenzug die entsprechende Vergütung schuldet. Das BAG definiert den Arbeitgeber so, dass ihm gegenüber der Beschäftigte aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages zu einer entgeltlichen Dienstleistung verpflichtet ist und diese Dienstleistung unselbständig erbringt7. Diese Merkmale treffen auf alle bislang in der Rechtsprechung zu der Frage Aktien-/Aktienoptionen getroffenen Entscheidungen zu. Als Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers steht im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitspflicht die Vergütungspflicht8. 2. Begriff der Vergütung Die Zahlung der Vergütung ist die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers und sie steht zur Arbeitspflicht im Gegenseitigkeitsverhältnis. Die Vergütung
__________ 7 Vgl. nur Thüsing in Henssler/Willemsen/Kalb, 3. Aufl. 2008, Fn. vor § 611 BGB Rz. 24. 8 Thüsing (Fn. 7), § 611 BGB Rz. 85.
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besteht in erster Linie aus dem Gehalt und Prämien, sowie Umsatz- oder Gewinnbeteiligungen oder Provisionen. Sonderzahlungen oder auch Gratifikationen sind Vergütungen, die zusätzlich zu den sonstigen Bezügen gewährt werden. Aus Sicht des Arbeitnehmers stellen sich Aktien- oder Aktienoptionszuwendungen in aller Regel als „Frucht seiner Arbeit für den Arbeitgeber“ dar. Auch aus Sicht des Zuwendenden stehen sie eindeutig in Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis. Dies wird ja häufig gerade dadurch betont, dass das Bestehen des Dienstverhältnisses zu einem bestimmten Zeitpunkt als Voraussetzung für die Zuteilung oder die Freigabe genannt wird. Zu bedenken ist auch, dass Arbeitsverträge, die Aktien- oder AktienoptionsZuteilungen enthalten, wohl überwiegend allgemeine oder auch konkretere Regeln zu Sonderzahlungen, Boni etc. enthalten. Auffällig ist hier zunächst aus anwaltlicher Sicht, dass nun trotz Vorliegen diverser Urteile zum Thema Bonuszahlungen, Kürzungen, Verfall etc.9 die entsprechenden Regelungen im Arbeitsvertrag immer noch nicht die Klarheit, Transparenz und Detailliertheit erkennen lassen, die manches Verfahren ersparen würde. 3. Aktienzuteilungen als Vermögenswert? Der Arbeitnehmer wird umso eher von einem Vergütungsbestandteil ausgehen, je greifbarer für ihn der Vermögenszuwachs ist. Man wird eine Zusage oder Zuteilung von Aktien oder Aktienoptionen umso mehr als Vergütung einstufen, wenn dem Arbeitnehmer bereits bei Erhalt der Zusage ein Vermögenswert zufließt. Nach der herrschenden steuerrechtlichen Meinung ist ein steuerbarer Vorgang erst im Zeitpunkt der Optionsausübung, nicht aber bereits zum Zeitpunkt der Rechtseinräumung anzunehmen10. Dagegen wird allerdings eingewandt, dass die zwischenzeitlich entwickelten Optionspreismodelle eine Bewertung sowohl marktgängiger wie auch nicht marktgängiger Optionen ermöglichten11. Darüber hinaus lässt sich der objektive Wert von Aktienoptionen anhand finanztheoretischer Modelle, unabhängig von der Handelbarkeit, bestimmen12. Eine „Saldierung des Gesamtvermögens des Mitarbeiters vor und nach der Optionsgewährung ergäbe, dass ihm ein objektiv messbarer Vermögenswert zugewandt wurde“13. Selbst wenn im Zeitpunkt der Zusage der Aktien- oder Aktienoptionszuteilung noch kein steuerbarer Vermögensvorteil entsteht, vermag dies dennoch den Charakter der Zusage als „Frucht der Arbeit für den Arbeitgeber“ nicht zu nehmen.
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9 Vgl. nur BAG, NZA 2008, 40 f.; BAG, NZA 2008, 1173 ff.; BAG, DB 2009, 1601 ff. 10 Vgl. hierzu BFH, BB 2001, 1180, 1181 ff.; Grimm, Mitarbeitervergütung durch Aktienoptionen, Inauguraldissertation Berlin, S. 48. 11 Grimm (Fn. 10). 12 Grimm (Fn. 10), S. 52. 13 Grimm (Fn. 10), S. 52.
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4. Steuerliche Ansätze Diese Sichtweise entspricht auch der Definition der Begriffe der echten und unechten Lohnzahlungen im Steuerrecht. In den Lohnsteuerrichtlinien 2008 R 38.4 heißt es dazu: Eine unechte Lohnzahlung eines Dritten ist dann anzunehmen, wenn der Dritte lediglich als Leistungsmittler fungiert. Das ist z. B. der Fall, wenn der Dritte im Auftrag des Arbeitgebers leistet oder die Stellung einer Kasse des Arbeitgebers innehat. Der den Dritten als Leistungsmittler einsetzende Arbeitgeber bleibt der den Arbeitslohn Zahlende und ist daher zum Lohnsteuerabzug verpflichtet (§ 38 Abs. 1 Satz 1 EStG). Eine echte Lohnzahlung eines Dritten liegt dann vor, wenn dem Arbeitnehmer Vorteile von einem Dritten eingeräumt werden, die ein Entgelt für eine Leistung sind, die der Arbeitnehmer im Rahmen seines Dienstverhältnisses für den Arbeitgeber erbringt. In diesen Fällen hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer einzubehalten und die damit verbundenen sonstigen Pflichten zu erfüllen, wenn er weiß oder erkennen kann, dass derartige Vergütungen erbracht werden (§ 38 Abs. 1 Satz 3 EStG).
Es überrascht angesichts der Klarheit der Lohnsteuerrichtlinien, dass der BFH (in dem im Jahre 2006 entschiedenen Fall, vgl. Fn. 5) nicht bereits eine echte Lohnzahlung durch Dritte in den von ihm zu beurteilenden Konstellationen angenommen hat. Selbst wenn die „Gegenleistung“ des Arbeitnehmers nicht nur in der bloßen Arbeitsleistungserbringung zu sehen sein sollte, sondern weitergehende Verpflichtungen begründet werden sollen (z. B. Betriebstreue für einen bestimmten Zeitraum), so erbringt der Arbeitnehmer diese „Leistungen“ doch „im Rahmen seines Dienstverhältnisses“. Weitergehend ist zu beachten, dass, sofern der Arbeitnehmer auf Vorschlag seines Arbeitgebers, ein Angebot zum Bezug von Gratisaktien oder Aktienoptionen erhält, bereits der Tatbestand der echten Lohnzahlung durch Dritte, jedenfalls aber der Begriff der unechten Lohnzahlung durch Dritte erfüllt sein dürfte. 5. Verpflichtung zur Leistung als wirtschaftlicher Vorteil Zivilrechtlich geht zwischenzeitlich die herrschende Ansicht dahin, dass ein wirksames Schuldverhältnis zwischen den Parteien auch ohne einen Vermögenswert der Leistung entstehen kann14. Eine Leistung im Sinne von § 241 Abs. 1 BGB liegt immer schon dann vor, wenn entweder ein schutzwürdiges Interesse beim Gläubiger (dem Arbeitnehmer) vorliegt oder ein sinnvolles, von einem Zweck getragenes Verhalten des Schuldners, das dem Gläubiger einen wirklichen oder von ihm angenommenen Vorteil verschafft15. Ein schutzwürdiges Interesse des Arbeitnehmers, welchem als Paket für seine erbrachte Leistung sowohl Gehaltszahlungen, wie die Verschaffung von Aktien oder Aktienoptionen angeboten wird, liegt stets vor. Denn der Arbeitnehmer erbringt seine Arbeitsleistung im Glauben an die spätere Entlohnung durch die
__________ 14 Vgl. Nachweise bei Grimm (Fn. 10), S. 51. 15 Grimm (Fn. 10), S. 51.
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vereinbarte Festvergütung, wie auch zusätzliche Leistungen in Form von Sonderzahlungen o. Ä. Für den Arbeitnehmer, der nach Abschluss eines Geschäftsjahres zum einen eine Gehaltserhöhung erhält und zum anderen die Mitteilung, dass er zusätzlich Gratisaktien zugeteilt erhält oder auch Aktienoptionen, stellen sich auch diese Vermögenswerte als „Frucht seiner Arbeit“ und damit als Vergütung dar. Es ist denkbar, dass er den „Wert“ anders beurteilt, je nachdem ob ihm die Aktie bereits gutgeschrieben wurde, nur als Aktienoptionsrecht zugeteilt wird, oder als Phantom Stock oder Stock Appreciation Right16 gewährt wird. Dies spielt aber für die Einstufung derartiger Zuwendungen als „Vergütung“ keine Rolle. Für den Arbeitnehmer stellt jegliche Zuwendung derartiger Rechte oder Chancen einen Wert dar, den er sich erarbeitet hat und den er auch nicht für einseitig disponibel ansieht, zumal es sich um Vergütung im engeren Sinne handelt. Dies wird auch ganz deutlich vom Bundesfinanzhof (s. oben V.) erkannt, der unabhängig davon, wer die Aktien oder Aktienoptionen überlässt, dies als Arbeitslohn einstuft.
VII. Resumee Erfolgt die Zuteilung der Aktien- oder Aktienoptionen unmittelbar durch den Arbeitgeber, stellt sich die Gewährung aus Sicht des Arbeitnehmers auch stets als Leistung seines Arbeitgebers dar, da ein unmittelbarer Bezug zu seiner erbrachten Arbeitsleistung vorliegt. Auch sofern Aktien zugeteilt werden, ändert sich an dieser Beurteilung nichts, selbst wenn diese nicht am Unternehmen des Arbeitgebers selbst, sondern an anderen Unternehmen als dem Arbeitgeber gewährt werden, da diese Aktien ja am Markt beschafft werden können. Sind Dritte, also z. B. die Muttergesellschaft des Arbeitgebers in die Vereinbarungen bezüglich der Aktienbereitstellung eingebunden (dieses entspricht wohl der Konstellation, die das BAG in seinem Urteil aus 2003 zu beurteilen hatte), soll sich die Rechtslage hinsichtlich der Verpflichtung zur Aktienzuteilung nach bisheriger Ansicht des BAG anders darstellen. Dem kann aber so nicht gefolgt werden. Es wird hier nicht verkannt, dass es eigene Vereinbarungen zwischen dem Arbeitnehmer und der Muttergesellschaft geben mag. Dem Arbeitnehmer wird dieses Angebot aber nur unterbreitet, weil er mit einem Konzernunternehmen ein Arbeitsverhältnis, einen Arbeitsvertrag hat. Da in der Regel die Konzernmuttergesellschaft nicht alle Arbeitnehmer, denen endgültig ein solches Angebot unterbreitet wird, kennt und persönlich aussucht, wird der Arbeitgeber des begünstigten Arbeitnehmer diesen für ein solches Programm vorschlagen oder aussuchen. Indem der Arbeitgeber dergestalt die „Kette“ zwischen Konzernmuttergesellschaft und Arbeitnehmer „schließt“, liefert er den entscheidenden Ursachenbeitrag zu der Vergütungsgewährung.
__________
16 Nachweise bei Thüsing (Fn. 7), § 611 BGB Rz. 127.
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Damit geht die Initiative für die Zuwendung dieses zusätzlichen Vermögenswertes von dem vertraglichen Arbeitgeber und nicht der Konzernmutter aus. Auch diese Überlegung spricht dafür, die Zuwendung als Vergütung für die Arbeitsleistung zu sehen und sie als vom Arbeitgeber zugewandt einzustufen. Die Gesamtschau der vorstehenden Überlegungen führt dazu, dass Aktienoder Aktienoptionszuwendungen, die ein Arbeitnehmer in Zusammenhang mit seinem Arbeitsverhältnis erhält, unabhängig davon, ob sie ihm von seinem Arbeitgeber oder Dritten zugewandt werden, als Arbeitslohn anzusehen sind. Sie sind die „Früchte seiner Arbeit“ und stehen im Synallagma mit seiner Arbeitsleistung. Ein Arbeitnehmer, der derartige Ansprüche gerichtlich durchsetzen möchte, kann aber derzeit vor dem Bundesarbeitsgericht nur dann diese erfolgreich durchsetzen, wenn er eine direkte Vereinbarung mit seinem Arbeitgeber nachweist. In der Entscheidung aus dem Jahre 2008 (vgl. Fn. 3) ist zwar zu erahnen, dass das BAG bereit ist, sich derartigen Argumenten zu öffnen. Dennoch wäre wünschenswert, wenn das BAG mehr von der unbeschwerten und durchaus lebensnahen Wertung der BFH übernähme und die These von der „Frucht der Arbeit“ übernähme.
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F. Christian Genzow
Wegfall der Kfz-GVO: Die Rechtsprechung zum Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt? Inhaltsübersicht I. Die Entwicklung der Kfz-GVO II. Die Entwicklung des Vertriebs„Rechts“ III. Rechtsentwicklung unter Berücksichtigung der GVO?
IV. Rechtssituation in Europa V. Paradigmenwechsel auch in der deutschen Rechtsprechung? VI. Folgerungen und Fazit
Das deutsche Recht kennt keinen speziellen Typus des „Vertragshändlers“1. Zwar liegen – soweit bekannt – empirische Untersuchungen über den Anteil von Vertragshändlersystemen im Rahmen von geschlossenen Vertriebssystemen in Europa aus den Jahren vor Einführung der ersten Kfz-GVO im Jahre 1985 nicht vor. Nimmt man jedoch einen Abgleich mit den Feststellungen aus dem Jahre 20042 vor, dürfte eine Schätzung, dass es schon im Jahre 1985 in Europa mehr Vertragshändlersysteme als Handelsvertretersysteme gegeben hat, nicht falsch sein. Gleichwohl hat der Rat der Europäischen Gemeinschaften am 18.12.1986 lediglich eine Richtlinie zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter3 erlassen mit der Begründung, dass die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen die Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Gemeinschaft spürbar beeinträchtigen und den Abschluss und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen einem Unternehmen und einem Handelsvertreter, die in verschiedenen Mitgliedsstaaten niedergelassen sind, nachhaltig erschweren. Es sei daher notwendig, die in den Mitgliedsstaaten für Handelsvertreter geltenden Vorschriften in Anlehnung an die Grundsätze von Art. 117 EGV zu harmonisieren4. Eine Regelung oder auch nur ein Hinweis auf Vertragshändlersysteme fehlt in der Begründung zu dieser Richtlinie. Das Abstellen nur auf Handelsvertretersysteme, die schon zu diesem Zeitpunkt eine geringere Bedeutung gehabt haben dürften als Vertragshändlersysteme, ist um so erstaunlicher, weil sich die EU-Kommission seit 1977 intensiv mit Vertragshändlersystemen befasst hatte, die schließlich in die Entschließung mündeten, sogar eine branchenspezifische Gruppenfreistellungs-
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1 Zur Entwicklung s. Martinek, Aktuelle Fragen des Vertriebsrechts, 3. Aufl. 1992, Rz. 6. 2 Dazu Genzow in FS Thume, 2008, S. 49. 3 86/653/EWG. 4 Vorbemerkung zur Richtlinie 86/653 EWG.
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F. Christian Genzow
verordnung – die Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12.12.1984 über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge5 – zu erlassen6. Unter Ziff. (3) der Vorbemerkung zu dieser Verordnung wurde die Notwendigkeit einer kartellrechtlichen Regelung u. a. damit begründet, dass die Kraftfahrzeughersteller Wettbewerbsbeschränkungen und Verpflichtungen im Rahmen ihres Vertriebssystems „in gleicher oder ähnlichen Form anwenden und durch Bündelung von Vereinbarungen mit ähnlichen Wettbewerbsbeschränkungen nicht nur den Vertrieb und den Kundendienst innerhalb von Mitgliedstaaten, sondern auch den Handel zwischen ihnen erheblich beeinträchtigten“. Es ist daher davon auszugehen, dass sich die EU-Kommission vor Erlass der GVO 123/85 sehr intensiv sowohl allgemein als auch branchenspezifisch mit Vertriebssystemen auseinandergesetzt hat. Gleichwohl hat es nur eine kartellrechtliche Koordinierung als notwendig erachtet, nicht aber zugleich eine zivilrechtliche Angleichung oder Schaffung einer europaweit einheitlichen Rechtsgrundlage, obwohl die Nähe des Vertragshändlers zum Handelsvertreter – auch in rechtlicher Hinsicht – auch schon zum damaligen Zeitpunkt durchaus anerkannt war7. Da diese Erweiterung nicht vorgenommen wurde, blieben die Regelungen aus der GVO einziges „gesetzliches Korsett“ für den Bereich des Vertragshandels. Dass der Kfz-Händlervertrag dabei Prototyp des Vertragshändlervertrages ist, ist unbestritten8.
I. Die Entwicklung der Kfz-GVO Die GVO 123/85 war bis zum 30.6.1995 befristet. Nach Auffassung der EUKommission war eine Erweiterung und Ergänzung der bisherigen Regelung auch und gerade im Hinblick auf die Vertragsrechte und -pflichten des Handels gegenüber dem Hersteller dringend geboten. Die Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28.6.1995 über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertrieb- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge9 sah daher eine deutliche Erweiterung der Regeln vor, die der Hersteller bei den Vereinbarungen mit seinen Vertragspartnern zu beachten hatte, wollte er in den Genuss der Freistellung kommen. Beispielhaft sei hier nur die Erstreckung der ordentlichen Kündigungsfrist auf zwei Jahre erwähnt (Art. 5 Abs. (2) Ziff. 2) sowie die Befreiung vom Wettbewerbsverbot, wenn der Händler nachweist, dass sachliche gerechtfertigte Gründe dafür vorliegen (Art. 5 Abs. (2) Ziff. 1).
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5 ABl. Nr. L 15 v. 18.1.1985, S. 16. 6 Im Folgenden „GVO 123/85“. 7 Hierzu im Einzelnen Creutzig, EG-Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) für den Kraftfahrzeugsektor, 2003, Rz. 12 ff.; Genzow, Vertragshändlervertrag, 1996, Rz. 5 ff. m. w. N. 8 Dies wird auch von Graf von Westphalen in FS Gündisch, 1999, S. 71, 73 unterstrichen. 9 ABl. Nr. L 145 v. 29.6.1995, S. 25 – nachstehend „GVO 1475/95“.
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Wegfall der Kfz-GVO: Rechtsprechung Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt?
Nach Art. 11 Abs. 3 GVO 1475/95 hatte die Kommission vor dem 31.12.2000 einen Bericht über die Funktionsweise der GVO zu erstellen. Dieser Bericht, am 15.11.2000 von ihr verabschiedet10, kommt zu dem Schluss, dass auch diese GVO wesentliche Ziele nicht erreicht habe: Der Parallelhandel sei zu gering; die Nutzung neuer Marketingmethoden fehle, Zugang zu technischen Informationen bleibe Dritten so gut wie verschlossen und die Unabhängigkeit der Händler habe keineswegs zugenommen. Insgesamt wirft die Kommission der Automobilindustrie mit Nachdruck vor, die Regelungen der GVO 1475/95 nicht eingehalten zu haben; zudem habe es eine hohe Zahl von Beschwerden von Verbrauchern gegeben11. Aufgrund dieser Erwägungen hatte sich die Kommission entschlossen, eine deutlich veränderte branchenspezifische GVO zu erlassen, die in ihrem Umfang und Regelungsgehalt gegenüber der GVO 1475/95 nochmals erheblich zunahm: Die Kommission verfolgte mit der am 1.10.2002 in Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 vom 31.7.200212 verschiedene Ziele: Generell geht es um den Schutz des Wettbewerbs zum Wohle der Verbraucher und zur effizienten Verteilung der Ressourcen13. Ein weiteres Ziel war die Integration der Märkte, der Wettbewerb in der Gemeinschaft14 ermöglicht. Das Resultat: Die Verbindung zwischen Verkauf und Kundendienst war nicht mehr zwingend; der Mehrmarkenvertrieb wurde erleichtert, die Unabhängigkeit des Händlers durch entsprechende Klauseln (insbesondere in Art. 3 GVO 1400/02) gefördert und der Zugang zu technischen Informationen ausgedehnt. Die GVO 1400/02 ist befristet bis zum 31.5.2010. Die personelle Veränderung in der DG IV (Wettbewerb) der EU-Kommission kurz nach Einführung der GVO 1400/02 führte dort zu einem völligen Umdenken: Die in Art. 3 niedergelegten Klauseln, die u. a. die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Händler sichern sollten, wurden von der nunmehr zuständigen EU-Kommissarin Nellie Kroes und – vor allem – von dem Bereichsleiter Cesarini massiv kritisiert und als „zivilrechtliche Klauseln, die im Kartellrecht nichts zu suchen haben“ abgestraft. Es entstand der Eindruck bei vielen Beteiligten, dass nicht mehr der Verbraucher im „driver’s seat“ sitzen sollte15, sondern der Lieferant den Vorrang hat, den zu stärken es gilt. Mit der Mitte Dezember 2009 erfolgten offiziellen Bekanntgabe des Entwurfs einer neuen Kfz-GVO (mit Wirkung ab 1.6.2010, zum Teil ab 1.6.2013) wurde die nahezu vollständige Umkehr der EU-Kommission dokumentiert, der vielfach schon jetzt „Paradigmenwechsel“ genannt wird: Ausschließlich maßgebend ist nun nur noch ein „ökonomischer, wirkungsbasierter Ansatz“, bei dem „Fairness“ unter den Vertragsparteien kein Regelungsbedarf habe und nur eine Abwägung wettbewerbsfeindlicher Auswirkungen einer Vereinbarung zu
__________ 10 11 12 13 14 15
KOM(2000) 743. Dazu Creutzig (Fn. 7), Rz. 17 f. ABl. Nr. L 203 v. 1.8.2002, S. 30 – nachstehend „GVO 1400/02“. Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rz. 7, S. 1. Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rz. 7, S. 4. Wie dies noch für die GVO 1400/02 von der DG IV betont worden war.
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möglichen positiven, effizienzfördernden Auswirkungen stattzufinden habe16, wobei den Fahrzeugherstellern zur Erhaltung ihrer Existenz ein möglichst großer Freiraum einzuräumen sei. Für den Vertrieb von Neufahrzeugen bedeutet dies spätestens zum 1.6.2013 einen Wegfall der branchenspezifischen Freistellungsverordnung und damit verbunden einen Wegfall aller Regelungen in der bisherigen branchenspezifischen GVO, die (auch) der Unabhängigkeit dienten. An ihre Stelle treten nur noch sektorspezifische Leitlinien und eine „MiniGVO“, die nur für den Servicebereich und für den Ersatzteilvertrieb Geltung hat. Ab dem 1.6.2013 fällt auch der Neufahrzeug-Vertrieb unter die Allgemeine Vertikal-VO, die allerdings in ihrem Wortlaut zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht feststeht, weil die bisherige Vertikal-GVO 2790/99 wie die GVO 1400/02 am 31.5.2010 ausläuft. Es ist übrigens – soweit ersichtlich – das erste Mal in der Geschichte der EU-Kommission, dass auf die Anwendung einer Verordnung verwiesen wird, die noch nicht einmal im finalen Wortlaut vorliegt.
II. Die Entwicklung des Vertriebs-„Rechts“ Der Begriff „Vertriebsrecht“ war noch vor 20 Jahren weitgehend unbekannt. Mit Ausnahme des Bereiches IT hat wohl kaum eine andere Rechtssparte eine so umfassende Entwicklung erfahren und Bedeutung erlangt wie dieser Bereich, der heute sogar an Universitäten und Hochschulen als ein Schwerpunkt für die Ausbildung angeboten wird. 1. Die Entwicklung des Vertriebsrechts kann seit Ende der 70er Jahre als durchaus stürmisch bezeichnet werden: In einem Zeitraum von etwa nur gut 10 Jahren verkündete der BGH nicht weniger als 12 für den Vertragshändlerbereich wegweisende Entscheidungen: – – – – – – – – –
7.10.1981 „Listenpreisklauseln“17 25.3.1982 „Ausgleichsanspruch für Vertragshändler“18 2.2.1983 (Ausgleichsanspruch)19 21.12.1983 „Ford“20 26.11.1984 „Opel“21 7.1.1991 (Ausgleichsanspruch)22 10.2.1993 „Treue- und Rücksichtnahmepflicht“23 6.10.1993 (Ausgleichsanspruch)24 1.12.1993 „Porsche“25
16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
Darstellung Dr. Simon anlässlich des 9. PraxisForum Vertriebsrecht am 27.11.2009. BB 1982, 146. NJW 1982, 2819 ff. I ZR 175/83. NJW 1984, 1182 f. NJW 1985, 623 ff. NJW RR 1991, 484 f. NJW 1993, 678 ff. DB 1993, 2526 f. ZIP 1994, 136 f.
__________
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– 12.1.1994 „Daihatsu“26 – 23.11.1994 „Suzuki“27 – 21.2.1995 „Citroen I“28 2. Besondere Bedeutung haben insgesamt 7 höchstrichterliche Entscheidungen (und zum Teil auch die Entscheidungen der Vorinstanz, in denen bereits teilweise rechtskräftig entschieden worden ist), die sich mit Klauseln aus Vertragshändlerverträgen befassen: In nur 7 gerichtlichen Verfahren haben die Gerichte dabei insgesamt 79 Klauseln geprüft: 57 Klauseln wurden von den Gerichten als unwirksam befunden, 22 Klauseln als zulässig. Es handelte sich um folgende Verfahren29: – – – – – – –
„Ford“, BGH 22.12.198330 „Opel“, BGH 26.11.198431 „Daihatsu“, BGH 12.1.199432 „Suzuki“, BGH 23.11.199433 „Kawasaki“, BGH 6.10.197734 „Citroen“, BGH 13.7.200435 „Honda“, BGH 20.7.200536
III. Rechtsentwicklung unter Berücksichtigung der GVO? Viele Klauseln der in den zuvor genannten Rechtsstreiten streitbefangenen Vertriebsverträge standen im unmittelbaren Zusammenhang mit den Regelungen aus der branchenspezifischen GVO (entweder GVO 123/85, GVO 1475/95 oder GVO 1400/02). Es lag damit nahe, dass die Gerichte sich mit der Frage befassten, ob den Bestimmungen einer Gruppenfreistellungsverordnung Leitbildfunktion für die Inhaltskontrolle von Vertriebsverträgen zukommt. 1. Der 8. Zivilsenat des BGH hat in der „Daihatsu“-Entscheidung vom 12.1.1994 diese Frage ausdrücklich offen gelassen37. In seiner am 21.2.1995 verkündeten Entscheidung „Citroen I“38 hat der Kartellsenat des BGH u. a. darauf hingewiesen, dass die dort vorgesehene Kündigungsfrist den Vorgaben der damals geltenden Gruppenfreistellungsverordnung (GVO 123/85) entspreche, ohne jedoch zu der grundsätzlichen Frage Stellung zu nehmen, ob deren Regelung als Kontrollmaßstab für die Inhaltskontrolle nach § 9 AGBG (jetzt
__________ 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
NJW 1994, 1060 ff. DB 1995, 113 ff. NJW RR 1995, 1260 ff. S. auch Genzow/Siemann, Beilage zum Kfz-Betrieb Heft 18, S. 35 ff. NJW 1984, 1182. NJW 1985, 623 ff. NJW 1994, 1060 ff. DB 1995, 113 ff. NJW 2000, 515. GRUR 2005, 62 ff. NJW RR 2005, 1496 f. NJW 1994, 1064. NJW RR 1995, 1260, 1261.
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§ 307 BGB) bilde39. In seiner „Citroen II“-Entscheidung vom 13.7.200440 ließ der Kartellsenat diese Frage wiederum offen: In der Rechtsprechung des BGH sei seit langem anerkannt, dass AGB, die gegen zwingendes Recht verstoßen und aus diesem Grunde nichtig seien, den Gegner des Klauselverwenders unangemessen benachteiligen und deshalb Gegenstand von Unterlassungsansprüchen nach § 13 AGBG (jetzt § 1 UKlaG) sein können41. Händlervertragsklauseln, die die Wettbewerbsfreiheit der Händler einschränken, seien daher zugleich gemäß § 307 BGB, § 9 AGBG unwirksam, soweit sie den Händlern Beschränkungen auferlegen, die nicht durch die jeweils maßgebliche Gruppenfreistellungsverordnung vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG freigestellt und demzufolge nach Art. 81 Abs. 2 EG nichtig seien. Auch der 8. Zivilsenat des BGH ließ in der „Honda“-Entscheidung vom 20.7.200542 offen, ob die Klauseln den Händler deshalb unangemessen benachteiligen, weil sie den Anforderungen des Art. 3 Nr. 5 GVO 1475/95 oder der GVO 1400/02 nicht genügen und deshalb nach Art. 81 Abs. 2 EG nichtig seien. 2. Soweit ersichtlich, hat erstmals das OLG Köln in seiner Entscheidung vom 21.3.1994 konkret und in der Weise Stellung bezogen, dass Regelungen aus der GVO als Kontrollmaßstab für die Inhaltskontrolle in Betracht kommen. Es führt aus, dass die kartellrechtliche Regelung des Art. 5 Abs. 2 Nr. 1a der GVO 123/85 ein „geeigneter Maßstab für eine Inhaltskontrolle in Kfz-Händlerverträgen“ darstelle43. Das OLG Düsseldorf hat sich in der vorinstanzlichen Entscheidung44 zur „Citroen II“-Entscheidung des BGH vom 13.7.2004 dieser Auffassung des OLG Köln angeschlossen und eindeutig Position bezogen: Bei der Inhaltskontrolle seien Bestimmungen der GVO 1475/95 mit heranzuziehen, wobei das Unterlassungsbegehren auch nicht in Widerspruch zu der zwischenzeitlich in Kraft getretenen GVO 1400/02 stehen dürfe. Denn die aufgrund der Ermächtigung in Art. 81 Abs. 3 EG ergangene Gruppenfreistellungsverordnung sei Bestandteil der Regelung auf dem Gebiet des Europäischen Kartellrechts. EG-Kartellrecht sei im Inland unmittelbar verbindliches Recht, welches die Gerichte anzuwenden haben45. Die Wettbewerbsregeln des EG-Kartellrechts bezwecken nach Auffassung des OLG Düsseldorf den Schutz der Funktion des Wettbewerbs auf
__________ 39 Die Entscheidung ist heftig kritisiert worden, weil die GVO 123/85 bis 30.6.1995 befristet war und die ab 1.7.1995 gültige GVO 1475/95 eine 2-jährige Kündigungsfrist vorsah, der Kartellsenat jedoch noch eine 1-jährige Kündigungsfrist als angemessen und ausreichend angesehen hat. 40 GRUR 2005, 62. 41 Unter Hinweis auf BGH, NJW 1983, 1320, 1322 und Brandner in Ulmer/Brandner/ Hensen, AGBG, 9. Aufl., § 9 Rz. 41 sowie Nicklitz in MünchKomm.BGB, 4. Aufl., § 13 AGBG Rz. 46 f. 42 NJW RR 2005, 1499. 43 NJW 1995, 947, 948. 44 25.2.2003 – U (Kart) 2/00, BeckRS 2007, 01119. 45 OLG Düsseldorf v. 25.2.2003 – U (Kart) 2/00, BeckRS 2007, 01119 unter Hinweis auf Bechtold, GWB, 3. Aufl., Einführung Rz. 65, 67 m. w. N.
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dem gemeinsamen Markt. Es werden hierdurch indes auch einzelne andere und hiermit sinngemäß zusammenhängende Zwecke verfolgt: So solle das EG-Wettbewerbsrecht auch für die Verbraucher Vorteile bringen. Daneben soll es die individuelle Möglichkeit zur wirtschaftlichen Bestätigung gewährleisten. Zusammenfassend diene daher das EG-Wettbewerbsrecht nicht nur dem Schutz dem Schutz des Wettbewerbs als Institution, sondern auch dem Schutz der einzelnen Marktteilnehmer46. Dies umfasse auch den Schutz von Unternehmen, den der Händlerverband für die von ihm vertretenen Kraftfahrzeughändler im Prozess in Anspruch nehme. Die GVO bezwecke den Schutz von Vertragshändlern. Die GVO verfolge als Ziel einen Interessenausgleich zwischen dem beherrschenden Prinzipal und den von ihm abhängigen Händlern. Den Bestimmungen der GVO komme damit als geltendes Recht eine Ordnungs- und Leitbildfunktion i. S. d. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu. Dies bedeute, dass die wesentlichen Grundsätze einzelner Regelungen der GVO, soweit sie auch dem Schutz von Vertragshändlern dienen, bei der Inhaltskontrolle zu berücksichtigen seien. Sie bilden mit einen Maßstab für die Vereinbarkeit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen mit dem dispositiven Recht, welches zu verneinen sei, sofern durch Bestimmungen des im Streitfall zu beurteilenden Händlervertrages in einem nicht unerheblichen Maß in rechtlich geschützte Interessen des Vertragshändlers eingegriffen werden47. 3. In der Literatur besteht seit langem überwiegend die Auffassung, dass Regelungen aus der GVO als Kontrollmaßstab für die Inhaltskontrolle nach AGBG bzw. nach § 307 BGB in Betracht kommen, insbesondere dass die in der KfzGVO enthaltenen Kernaussagen jedenfalls für den Bereich des Kfz-Vertriebs adäquate Maßstäbe der Angemessenheitskontrolle setzen48. Ein Teil der Literatur hat allerdings die vorsichtige Zurückhaltung der Rechtsprechung übernommen: Die Gruppenfreistellungsverordnung habe keine zwingende Wirkung auf den Vertragsinhalt und berühre dessen Gültigkeit nicht unmittelbar. Die Unwirksamkeit des Vertrages richte sich vielmehr nach nationalem Recht. Da die Kfz-GVO in erster Linie dem Schutz des zwischenstaatlichen Waren- und Dienstleistungsverkehrs diene und Beschränkungen dieses Schutzes gerechtfertigt seien, wenn durch selbständige Händlerfirmen zusätzlicher Wettbewerb entstehe, sehe auch die Kfz-GVO Vorschriften zur Sicherung der Freiheit und Selbständigkeit der Vertragshändler vor. Die Einzelvorschriften der Kfz-GVO seien deshalb bei den jeweiligen Regelungspunkten „mit zu berücksichtigen“49.
__________ 46 BeckRS 2007, S. 36 unter Hinweis auf Langen/Bunte, Kart Gr., 9. Aufl., Art. 81, generelle Prinzipien Rz. 226 m. w. N. 47 BeckRS 2007, S. 36 unter Hinweis auf Löwe/Graf von Westphalen/Trinkner, AGBG, Band III., Vertragshändlerverträge Rz. 7 sowie unter Hinweis auf OLG Köln, NJW RR 1995, 947, 948. 48 Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Vertragshändlerverträge“, Rz. 6; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, 10. Aufl., Anh. § 310 BGB Rz. 946 f.; Manderla in Martinek/Semler, Vertriebsrecht, 2. Aufl., § 18 Rz. 45. 49 So Wolf in Wolf/Horn/Lindacher, AGBG, 5. Aufl., Anh § 310 Rz. V 316.
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4. Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, ob die Regelungen der Kfz-GVO auch außerhalb von Kfz-Vertragshändlerverträgen unmittelbar oder mittelbar zu berücksichtigen sind. Allen voran der Jubilar hat sich mit dieser Frage in der Festschrift für Gündisch50 umfangreich auseinandergesetzt: Mit dem Verweis, dass der Kfz-Händlervertrag der Prototyp des Vertragshändlervertrages ist, stellt er zutreffend fest, dass der gleiche Typus des Vertragshändlervertrages auch bei sonstigen Vertragsprodukten in Betracht komme, insbesondere bei solchen, die technisch kompliziert und daher kundendienstbedürftig seien (z. B. Landmaschinen, Baumaschinen, Elektrogeräte etc.). In der Typizität unterscheiden sich diese Vertragshändlerverträge in der Tat nicht von denjenigen, die in der Kfz-Branche üblich sind. Zutreffend wird auch darauf verwiesen, dass derartige Vertragshändlerverträge in aller Regel AGBKontrakte sind, deren Klauseln durch den Hersteller bzw. Lieferant keineswegs zur Disposition gestellt werden, weil dem Lieferant an einer wirtschaftlichen Einheit seines Vertriebssystems – und damit auch bedingt an einer rechtlichen Einheit seiner Verträge – gelegen ist. Eine weitere Parallelität sieht der Jubilar in der Wertung der Interessen, welche die GVO im Auge habe: Notwendigerweise und ganz zwangsläufig sei es immer so, dass der Vertragshändler die marktschwächere Partei sei, weil es sich regelmäßig um kleine oder mittelständische Unternehmen handele, wie auch der Leitfaden zur GVO mit Recht betone51. Demgegenüber sei der Hersteller grundsätzlich die marktstärkere Partei, die ihre eigenen Interessen und Belange ohne Weiteres gegenüber dem Vertragshändler durchsetzen könne und auch durchsetze. Wenn aber die GVO nachhaltig die Tendenz verfolge, die Interessen des Vertragshändlers gegenüber dem marktstarken Hersteller zu schützen und zu stützen, so wird man diese interessenspezifische Erwägung auch für die Fälle anwenden können, die in den Vertragshändlerverträgen in Rede stehen, die nicht dem unmittelbaren Anwendungsbereich der GVO unterfallen52.
IV. Rechtssituation in Europa Lediglich in Belgien existiert (im geringen Umfang) eine gesetzliche Regelung für den Vertragshändlerbereich. Seit dem 1.10.2008 findet in Griechenland das Handelsvertreterrecht (mit Einschränkungen) für den Vertragshändler aufgrund einer entsprechenden neuen gesetzlichen Regelung Anwendung. In Deutschland und Österreich wird bekanntlich ein Teil der §§ 84 ff. HGB auf Vertragshändler angewendet. In allen übrigen europäischen Ländern gibt es weder eine gesetzliche Grundlage noch eine umfassende Rechtsprechung, die etwa mit der deutschen – oben dargestellten – Rechtsprechung vergleichbar
__________ 50 Graf von Westphalen in FS Gündisch, 1999, S. 72 f. 51 Leitlinie für vertikale Beschränkungen (2000/C 291/01); Leitfaden zur VO EG 1400/2002. 52 S. dazu auch den Überblick bei Genzow in FS Thume, 2008, S. 52.
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wäre53. Dies hat zur Konsequenz: Mit Ausnahme von Belgien, Deutschland, Griechenland und Österreich kommt den Gerichten spätestens ab dem 1.6.2013 das einzige „gesetzliche Korsett“ – nämlich die GVO 1400/02 – abhanden, welches der Gerechtigkeitsmaßstab für Vertragshändlerverträge sein könnte.
V. Paradigmenwechsel auch in der deutschen Rechtsprechung? Ab 1.6.2013 stehen für den Vertragshändlervertrag die bisherigen Maßstäbe der Angemessenheitskontrolle, soweit sie mittelbar oder unmittelbar aus der KfzGVO resultieren, nicht mehr zur Verfügung. Damit stellt sich die Frage, ob sich auch hier ein Paradigmenwechsel vollziehen wird, wie er für den vertriebs-kartellrechtlichen Bereich nach dem bisherigen Kenntnisstand zu befürchten ist. 1. Fest steht: Da die noch verbleibende „Mini-GVO“ keine wesentlichen vertragsrelevanten Kernaussagen mehr enthält, ist sie nicht geeignet, adäquate Maßstäbe für eine Angemessenheitskontrolle zu setzen. Neben dieser im Regelungsgehalt stark reduzierten und auf das Aftersales- und Ersatzteilgeschäft beschränkten neuen Kfz-GVO beabsichtigt die EU-Kommission lediglich, sog. „Supplementary Guidelines“ – ergänzende Leitlinien – für den Verkauf und die Reparatur von Fahrzeugen und für den Vertrieb von Ersatzteilen für Fahrzeuge herauszugeben. Allerdings war bisher nicht von einer Rechtsqualität solcher Leitlinien auszugehen. Noch in den Leitlinien zur GVO 1400/02 heißt es, dass die Erläuterungen in diesen Leitlinien „rechtlich nicht verbindlich“ seien54. Dem stimmt auch Creutzig55 zu: Die Kommission könne keine verbindliche Auslegung geben, auch könne durch Leitlinien keine Normsetzung erfolgen. Denn die Auffassung der Kommission binde weder das Gericht erster Instanz noch den EuGH oder nationale Gerichte. Eine so eindeutige „Unverbindlichkeitserklärung“ fehlt indes in den Supplementary Guidelines zur beabsichtigten neuen Kfz-GVO. Es wird aber die Zielsetzung der EU-Kommission deutlich gemacht: Leitlinien sollen den Lieferanten eine Hilfe für die eigene Vertragsgestaltung geben. Die Leitlinien enthalten deswegen Darstellungen und Erklärungen zu Gesichtspunkten, die für den Vertrieb von Neufahrzeugen von Wichtigkeit sind, jedoch ohne Präjudiz für eine Anwendung auf die (im endgültigen Wortlaut noch nicht bekannte) Vertikal-GVO. Damit entfällt die Möglichkeit, wenigstens die Aussagen im Leitfaden als Maßstab für eine zukünftige Angemessenheitskontrolle von Vertragshändlerverträgen zu nehmen.
__________ 53 Graf von Westphalen in FS Gündisch, 1999, S. 73. 54 Leitfaden zur VO EG 1400/2002, S. 9. 55 Creutzig (Fn. 7), Rz. 174.
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2. Dies erkennend, verweist die EU-Kommission in den Supplementary Guidelines auf einen „Code of Conduct“56. Bei diesem „Code of Conduct“ handelt es sich um die von einem Teil der Automobilhersteller und Importeure herausgegebene Code of good practice regarding certain aspects of vertical agreements in the motor vehicle sector57. Indes ist die Qualität dieses „Code of Conducts“ noch ungewisser und unklarer als die Qualität der von der EUKommission herausgegebenen Leitlinien. Denn diese Leitlinien stellen zumindest eine Selbstbindung der Kommission dar58, wohingegen dieser „Code of good practice“ eine Verhaltensmaßregel darstellt, die sich jeder Lieferant unterwerfen kann, aber keineswegs muss. Und selbst wenn er es tut, ist noch völlig ungeklärt, ob und ggf. in welchem Umfang hieraus Ansprüche der Vertragspartner gegenüber dem Lieferanten abzuleiten sind. Der Hinweis der EUKommission auf den „Code of Conduct“ enthält daher keine „hard facts“, die geeignet erscheinen, als adäquater Maßstab der Angemessenheitskontrolle zu dienen. 3. Allerdings erkennt auch die Abteilung Wettbewerb (DG IV) der EU-Kommission, dass ein Schutz der Vertragshändler notwendig ist59. Es verweist die Vertragspartner der Lieferanten jedoch auf nationale Institutionen und Gerichte, womit allerdings kein Maßstab für die zukünftige Rechtsauslegung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung gegeben ist. Die Erklärung der EUKommission macht aber deutlich, dass sie keineswegs der Auffassung ist, dass derartige – weitergehenden – zivilrechtlichen Regelungen nicht notwendig seien. Sie ist eben „nur“ der Auffassung: Derartige Regelungen gehören nicht zum Kartellrecht, sie müssen daher von anderen Institutionen – etwa von nationaler Gesetzgebung oder durch entsprechende nationale Gerichtsentscheidungen – statuiert werden, möglicherweise aber auch durch andere europäische Institutionen: Darauf weisen zumindest mündlich gegebene Kommentare hin, die sich mit der Initiative der EDL60 befasst haben, die Richtlinie 86/653 EWG des Rates vom 18.12.1989 (Handelsvertreterharmonisierungsrichtlinie)61 auf Vertragshändlerrechtsbeziehungen zu erweitern. Der Vorschlag von Huhtamäki62 und Genzow63 fand dabei bei der DG IV durchaus ein „offenes Ohr“: Nämlich Art. 1 der Harmonisierungsrichtlinie um eine Definition des „Vertragshändlers“ zu ergänzen, einen Investitionsschutz analog zu § 454 UGB64 zu schaffen sowie u. a. Kündigungsfristen analog den bisher in der
__________ 56 Supplementary Guidelines I 1 (7). 57 Veröffentlicht in http://ec.europa.eu/competition/consultations/2008_motor_vehicle /acea_annex_en.pdf. 58 S. dazu auch Creutzig, EuZW 1996, 197. 59 So das Impact Assessment der EU-Kommission vom 22.7.2009 – COM (2009) 388 final, Rz. 132, 190 f., 527 ff. 60 Association of European Distribution Lawyers. 61 COM (76) 670 final, S. 1 ff. 62 Contractual protection for distributors – Proposal to amend Council Directive 86/653/EEC sowie Genzow in FS Thume, 2008, S. 54 f. 63 Genzow in FS Thume, 2008, S. 55. 64 Hierzu Hohenecker, Der neue § 454 UGB, Investitionsersatz im Vertriebs- und Zulieferwesen, Wien 2006.
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Wegfall der Kfz-GVO: Rechtsprechung Vertriebsrecht zukünftig ohne Rückhalt?
GVO 1400/02 geltenden Kündigungsfristen, um einen hinreichenden Schutz der Vertragshändler zu gewährleisten.
VI. Folgerungen und Fazit Dies aber besagt: Der von der EU-Kommission eingeleitete Paradigmenwechsel65 hat seine Grundlage in einer Neuordnung der kartellrechtlichen Struktur, wobei die EU-Kommission keineswegs eine – allerdings nur zivilrechtliche – Schutzbedürftigkeit des in der aller Regel marktschwächeren Handels verneint. Daraus folgt zwingend, dass es keinen Anlass gibt, die bisherigen Grundlagen und die bisherige Entwicklung in der Rechtsprechung zum Vertragshändlerrecht aufzugeben oder zu überdenken. Im Gegenteil: Bedenkt man, dass es in den meisten europäischen Ländern eine einheitliche Rechtslinie, wie Vertragshändlerrecht zu praktizieren ist, nicht existiert und bedenkt man weiter, dass in geschlossenen Vertriebssystemen derartige Verträge diskriminierungsfrei europaweit angewendet werden müssen66, so gelangt man zu dem Schluss: Es besteht nicht nur die Notwendigkeit, sondern sogar ein Erfordernis, die bisherige Rechtsprechung beizubehalten und – beispielsweise im Hinblick auf den Investitionsschutz67 – weiter auszubauen und europaweit zu harmonisieren. Dabei kann die deutsche Rechtsprechung durchaus einen Vorbildcharakter für andere europäische Länder oder anders gewendet: Für eine Erweiterung der Harmonisierungsrichtlinie haben. Denn schon seinerzeit war das deutsche Handelsvertreterrecht eine maßgebliche Grundlage für die Regelungen in der Harmonisierungsrichtlinie. Und es spricht nichts dagegen, die im Vertriebsrecht entwickelte deutsche Rechtsprechung auch auf alle übrigen EU-Mitgliedsstaaten zu übertragen: Denn sie ist letztlich geprägt von dem Verständnis europäischer Normen, insbesondere – wie untersucht – von den KfzGruppenfreistellungsverordnungen. Wie ebenfalls aufgezeigt wurde, hat sich die Rechtsprechung des Vertragshändlerrechts neben der GVO insbesondere auch an den §§ 84 ff. HGB orientiert. Dieser Orientierungsmaßstab bleibt und muss ggf. durch eine Erweiterung der Handelsvertreterrichtlinie um Bestimmungen, die originär aus der GVO stammen, ergänzt werden. So gesehen ist eine zukünftige Entwicklung des Vertriebsrechts auf den gesamteuropäischen Raum auf der Grundlage der Entwicklung des deutschen Vertriebsrechts durchaus angebracht und zielführend. Dafür bedarf es gewiss noch vieler Schritte und Mühen – der Paradigmenwechsel bei der Kfz-GVO stellt auf diesem Weg keinen Bruch dar, wird aber sicherlich nicht zur Beschleunigung beitragen.
__________ 65 S. dazu oben S. 195. 66 Joerges, RIW 1985, 527 ff. 67 Wie im österreichischen Recht § 454 UGB.
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Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Besonderheiten der Versorgung mit Trinkwasser 1. Wasserversorgung als Daseinsvorsorge 2. Definition von Trinkwasser 3. Trinkwasser als Lebensmittel III. Struktur der Trinkwasserversorgung 1. Situation in der Bundesrepublik a) Wettbewerb im Markt b) Wettbewerb um den Markt 2. Strukturen in ausgewählten Ländern der EU
IV. Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen im Trinkwasserrecht 1. Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (GWB) 2. Anschluss- und Benutzungszwang V. Der Vertrag über die Lieferung von Trinkwasser zwischen dem TVU und dem Grundstückseigentümer 1. Vertragsschluss 2. Vertragspartner des TVU 3. Zu einigen Aspekten der Mängelhaftung am gelieferten Trinkwasser VI. Fazit VII. Statt eines Schlusswortes
I. Einleitung Angeregt durch den Vorlagebeschluss des BGH vom 18.3.2009, Az: VIII ZR 149/081, beschäftigt sich dieser Beitrag mit dem Spannungsverhältnis von Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz bei der Trinkwasserversorgung von Verbrauchern. Dabei wird herausgearbeitet, dass sich die Rahmenbedingungen nicht unerheblich von denen anderer leitungsgebundener Versorgungsträger unterscheiden. Fraglich ist aber, ob diese Unterschiede alle gerechtfertigt und vor allem auch – für Verbraucher – wünschenswert sind. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die gegenwärtige Situation in dieser Branche in der Bundesrepublik und über wesentliche Rechtsvorschriften sowie den Stand der Rechtsprechung auf diesem Gebiet.
II. Besonderheiten der Versorgung mit Trinkwasser Ein wesentlicher Bestandteil der Wasserversorgung ist die Versorgung von Wirtschaft und Verbrauchern mit Trinkwasser. Hiervon werden die Aufbereitung, Speicherung, Zuführung und Verteilung von Trink- und Brauchwasser erfasst. Der Transport von Trinkwasser erfolgt regelmäßig über Rohrleitungen zum Endverbraucher.
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1 ZGS 2009, 277 ff.
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Vom Grundsatz her gibt es, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik, wenn auch regional sehr unterschiedlich verteilt, genügend Wasservorkommen, um eine ausreichende Versorgung der Wirtschaft und der Verbraucher mit Wasser im Allgemeinen und Trinkwasser im Besonderen sicherzustellen2. Analog den anderen leitungsgebundenen Versorgungsträgern ist Trinkwasser zum sofortigen Verbrauch bestimmt. Daraus folgen Besonderheiten im zivilrechtlichen Gewährleistungsrecht, denn in aller Regel kann der Verbraucher die in § 437 Nrn. 1 und 2 BGB postulierten Gewährleistungsrechte nicht geltend machen. Im Unterschied zu den anderen leitungsgebundenen Versorgungsträgern wie Strom oder Gas ist die Versorgung von Wirtschaft und Verbrauchern mit Trinkwasser (noch) durch Besonderheiten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht geprägt. 1. Wasserversorgung als Daseinsvorsorge Eine wesentliche Ursache hierfür dürfte darin bestehen, dass eine kontinuierliche Versorgung des Endverbrauchers mit Wasser in den Ländern der Europäischen Union kein normales Handelsgeschäft darstellt, sondern als Leistung der Daseinsvorsorge in Europa im Sinne der Mitteilung der Kommission vom 26.9.1996 angesehen wird3. Solche Leistungen werden definiert als „… marktbezogene oder nichtmarktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden“4. Aus dem Erwägungsgrund 21 der Mitteilung der Kommission ist zu entnehmen, dass die öffentlichrechtlich oder privatrechtlich organisierten Erbringer solcher Art von Dienstleistungen ausnahmsweise nicht den Bestimmungen über die Einhaltung des EG-Vertrages unterliegen, nämlich immer dann wenn die EG-Vertrags-Bestimmungen den Gemeinwohlverpflichtungen nicht entsprechen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Dies dürfte wohl in erster Linie auf die Wettbewerbsvorschriften des EU-Vertrages bezogen sein, denn Art. 106 Abs. 2 Satz 1 EU-Vertrag bestimmt, dass die Wettbewerbsregeln nur dann anzuwenden sind, wenn sie die Erfüllung der ent-
__________ 2 Merkel in Hack, Einführung in die Wasserversorgung, 2004, 18; Hansen/Herbke/ Kraemer in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 4, Überblicksdarstellungen Deutschland und Niederlande, Informationen zur Umweltpolitik Österreichischer Städtebund, Arbeitskammer, 379 ff.; Bericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“ Teil 7 BT-Drucks. 14/9200, S. 360 ff. 3 So ausdrücklich die Erwägungsgründe 1 und 15 der Wasserrahmenrichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2000, RL2000/60/EG, ABl. Nr. L 327 v. 22.12.2000, S. 1. 4 Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa in ABl. Nr. C 281 v. 26.9.1996, S. 3.
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sprechenden Aufgaben der Unternehmen nicht rechtlich oder tatsächlich verhindern5. Die Anwendung der Wettbewerbsregeln stellt also im Falle der Versorgung des Endverbrauchers mit Trinkwasser die Ausnahme von der Regel dar, sofern sich der einzelne Mitgliedsstaat darauf beruft. Im Gegensatz zu anderen leitungsgebundenen Versorgungsträgern wie beispielsweise Telekommunikation, Gas, Strom ist der Markt für die Versorgung mit Trinkwasser bisher nicht geöffnet worden6. 2. Definition von Trinkwasser Trinkwasser besteht allgemein ausgedrückt aus Wasser, zuzüglich natürlicher Mineralien sowie vom Gesetzgeber zugelassener Aufbereitungsstoffe. Außerdem sind im Trinkwasser üblicherweise auch Fremd- und Schadstoffe enthalten, die allerdings bestimmte festgelegte chemische sowie mikrobiologische Grenzwerte und so genannte Indikatorparameter nicht überschreiten dürfen. 3. Trinkwasser als Lebensmittel Nach dem Willen des Gesetzgebers ist Trinkwasser ein Lebensmittel. Dies ergibt sich zunächst indirekt aus § 2 Abs. 2 des LFGB7, der auf Art. 2 der VO8 (EG) 178/02 verweist, und zwar unbeschadet der speziellen Vorschriften für Trinkwasser. Im Rahmen der Europäischen Union wurde bereits vor knapp 30 Jahren die erste Trinkwasserrichtlinie verabschiedet, um einheitliche Standards für Trinkwasser in allen Ländern zu gewährleisten. Die zwischenzeitlich revidierte Trinkwasserrichtlinie aus dem Jahre 1998 geht davon aus, dass diese einheitlichen Mindeststandards sowohl aus Gründen der Gesundheitsvorsorge für die Bevölkerung als auch aus Gründen des Umweltschutzes erforderlich sind9. Der Anhang I zur Trinkwasserrichtlinie gibt für alle Mitgliedsstaaten der EU einen einheitlichen Mindestqualitätsstandard für das Trinkwasser vor. Dies ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 der Trinkwasserrichtlinie. Gegenwärtig laufen die Arbei-
__________ 5 Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. Nr. C 115 v. 9.5.2008, S. 47. 6 Vgl. zur Rechtslage bei Strom und Gas Scholl, „Energieliefungsverträge und Fernabsatzrecht“, ZGS 2009, 299. 7 Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch – LFGB) in der Bekanntmachung der Neufassung v. 24.7.2009 (BGBl. I 2009, 2205). 8 Verordnung (EG) 178/2002 des EP und des Rates v. 28.1.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. Nr. L 31 v. 1.2.2002, S. 1. 9 Erwägungsgründe 6 und 7 der Richtlinie 98/83/EG v. 3.11.1998, ABl. Nr. L 330 v. 5.12.1998, S. 32.
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ten zur Revision der Trinkwasserrichtlinie, um diese an die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft anzupassen10. Die Trinkwasserrichtlinie 1998 wurde durch den deutschen Gesetzgeber mit der Novelle zur Trinkwasserverordnung (TrinkwV2001) – verspätet – zum 1.1.2003 in nationales Recht umgesetzt11. Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der der TrinkwV2001sind §§ 37 Abs. 3, 38 Abs. 1 IFSG12. Der Gesetzgeber definiert in § 37 Abs. 1 IFSG, was er unter Trinkwasser verstanden wissen will. Danach gilt Wasser nur dann als Trinkwasser, wenn feststeht, „… dass durch seinen Genuss oder Gebrauch eine Schädigung der menschlichen Gesundheit, insbesondere durch Krankheitserreger, nicht zu besorgen ist.“ Wann nach den zwingenden Vorstellungen des Gesetzgebers diese Trinkwasserqualität erreicht ist, ergibt sich aus der Definition in § 4 Abs. 1 TrinkwV2001. Danach muss Trinkwasser „… frei von Krankheitserregern, genusstauglich und rein sein. Dieses Erfordernis gilt als erfüllt, wenn bei der … Verteilung die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten werden und … den Anforderungen der §§ 5 bis 7 entspricht.“
III. Struktur der Trinkwasserversorgung 1. Situation in der Bundesrepublik Die Versorgung der Wirtschaft, aber auch der Verbraucher, erfolgt in der Bundesrepublik überwiegend durch eine Vielzahl kleiner und kleinster TVU13. Der entscheidende Grund für diese im internationalen Maßstab sehr dezentralisierte Struktur der TVU liegt darin begründet, dass die Trinkwasserversorgung als Teil der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie im Sinne des Art. 28 Abs. 2 GG angesehen wird14.
__________ 10 Zum Stand der Überarbeitung der Trinkwasserrichtlinie s.: http://ec.europa.eu/ environment/water/water-drink/revision-en.html. 11 Verordnung über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch (Trinkwasserverordnung – TrinkwV2001) (BGBl. I 2001, 959), die durch Art. 363 der VO v. 31.10.2006 (BGBl. I 2006, 2407) geändert worden ist. 12 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IFSG) v. 20.7.2000 (BGBl. I 2000, 1045), das durch Art. 2a des Gesetzes v. 17.7.2009 (BGBl. I 2009, 2091) geändert worden ist. 13 Egerer/Wackerbauer in Forschungszentrum Karlsruhe in der Helmholtz Gemeinschaft, Strukturveränderungen in der deutschen Wasserwirtschaft und Wasserindustrie 1995–2005, 2006, 48. Die Autoren haben ermittelt, dass in der Bundesrepublik auf 1 Million Einwohner 88 TVU entfallen. In den anderen untersuchten westeuropäischen Ländern liegt die entsprechende Quote zwischen 4,4 (Niederlande) und 0,13 (Frankreich). 14 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im BGBI. Teil III, Gliederungsnummer 100-1 veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch das Gesetz v. 29.7.2009 (BGBI. I 2009, 2248) geändert worden ist; Pieroth in Jarass/Pieroth, 10. Aufl. 2009, Art. 28 GG S. 604 Rz. 13a m. w. N.; s. auch BVerfG, NJW 1990, 1783 m. w. N.
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Ein großer Teil dieser lokalen TVU befindet sich im Eigentum der Kommunen und wird entweder in einer öffentlichrechtlichen oder aber zunehmend auch in privatrechtlichen Rechtsformen mit einem erheblichen kommunalen Einfluss geführt15. Aus der einschlägigen Diskussion kann entnommen werden, dass die gegenwärtige kleinteilige Struktur der Trinkwasserversorgung auf Dauer modernisiert werden muss16. Dabei werden 2 verschiedene Modelle diskutiert: a) Wettbewerb im Markt Unter Wettbewerb im Markt wird eine teilweise oder vollständige Liberalisierung in der Trinkwasserversorgung des Endverbrauchers verstanden. Ähnlich wie auf dem Strom- und Gasmarkt würde es Unternehmen ermöglicht, eigene Leitungsnetze zum Endverbraucher aufzubauen, bestehende Leitungsnetze zur Durchleitung von Trinkwasser zu nutzen und/oder Wasserhändler zwischen Unternehmen und Endverbraucher einzuschalten17. Soweit ersichtlich, wird derzeit davon ausgegangen, dass diese Variante einer Liberalisierung des bestehenden Marktes, jedenfalls in der Bundesrepublik, nicht in Frage kommt. Gründe hierfür sind, neben den bestehenden rechtlichen Regelungen, die aber hier nicht erörtert werden sollen (s. unten IV.), vor allem ökonomische Art (Die hohen Kosten für den Aufbau konkurrierender Netzsysteme lassen einen kostendeckenden Betrieb nicht zu.) und qualitative Bedenken (Die Durchleitung von Trinkwasser durch ein bestehendes Netz führt zu einer Vermischung der Trinkwasserqualitäten der einzelnen TVU.). Damit würde dann aber eine Trennung von Netzbetrieb und Trinkwasserproduktion ausscheiden, so wie dies zur Anfachung des Wettbewerbs im Strom- und Gasmarkt angedacht ist18.
__________ 15 Kluge/Lux/Schramm, Marktöffnung in der Trinkwasserversorgung – Entwicklung von Verbraucherschutzpositionen in Verbraucherzentrale NRW Online Version Teil II, 2001, 9 ff.; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 43. 16 Vgl. zum Stand der Diskussion: Umweltbundesamt Liberalisierung der deutschen Wasserversorgung Berlin 2000 Texte 2/00 des UBA; Bericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“, Teil 7 BTDrucks. 14/9200, S. 374 f.; Haakh, Energie Wasser Praxis 2002, Nachhaltige Trinkwasserversorgung in Deutschland, 10 ff.; Kluge/Lux/Schramm, Marktöffnung in der Trinkwasserversorgung – Entwicklung von Verbraucherschutzpositionen in Verbraucherzentrale NRW Online Version Teil II, 2001, 17 ff.; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 59 ff.; Wackerbauer, „Struktur und Entwicklung der Wasserversorgung in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern“, ZögU 2009, 133, 144 ff.; Bericht der Bundesregierung zur Modernisierungsstrategie für die deutsche Wasserwirtschaft und für ein stärkeres internationales Engagement der deutschen Wasserwirtschaft v. 16.3.2006, BT-Drucks. 16/1094. 17 Vgl. Fn. 16. 18 Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 60; Wackerbauer (Fn. 16), 145.
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b) Wettbewerb um den Markt Bei dieser Variante bleiben die bestehenden Monopole vom Grundsatz her erhalten. Es wird allerdings durch verschiedene Maßnahmen versucht, den Wettbewerb im Markt „anzufachen“19. Ein zentraler Ansatz wäre dabei, die Gemeinden zu verpflichten, befristete Ausschreibungen zur Versorgung des Endverbrauchers mit Trinkwasser in den einzelnen Gebieten vorzunehmen. Die einzelne Gemeinde bestimmt dabei im Ausschreibungsverfahren die Kriterien und erteilt dann dem für sie günstigsten Anbieter den Zuschlag. Als eine entscheidende Voraussetzung dafür wird jedoch die Lockerung des so genannten kommunalen Örtlichkeitsprinzips in den Gemeindeordnungen gesehen, um mehr Unternehmen einen Markteintritt zu ermöglichen20. Ein weiterer Ansatz wäre die Zusammenführung von Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung. Dies ist derzeit zwar theoretisch möglich, wird aber durch das bestehende Steuersystem in der Bundesrepublik praktisch unmöglich gemacht21. Realistischerweise ist nicht mit einer schnellen Beseitigung der bestehenden steuerlichen Hindernisse zur Zusammenführung der Trinkwasser- und Abwasserentsorgung zu rechnen, da dem die unterschiedlichen fiskalischen Interessen der Kommunen, Länder und des Bundes entgegenstehen. Mit einer schnellen Änderung der bestehenden tatsächlichen Situation scheint also nicht zu rechnen zu sein. Dazu wäre es erforderlich, vor allem die rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen, um einen Wettbewerb im Markt anzufachen (s. hierzu unter IV.). 2. Strukturen in ausgewählten Ländern der EU In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur werden grundsätzlich drei verschiedene europäische Modelle der Liberalisierung der Trinkwasserversorgung seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unterschieden, und zwar neben dem deutschen, das französische und das angelsächsische Modell22. Das französische Modell ist dadurch gekennzeichnet, dass de facto eine Trennung zwischen den sich größtenteils im öffentlichen Eigentum befindlichen Versorgungsanlagen einerseits und den sich überwiegend im privaten Eigentum befindlichen Wasserversorgern andererseits herausgebildet hat, so dass die Trinkwasserversorgung auf der Basis befristeter Ausschreibungen von einigen
__________ 19 Vgl. zu den einzelnen erforderlichen Maßnahmen Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 61 ff.; Wackerbauer (Fn. 16), 146 f. 20 Vgl. hierzu im Einzelnen Bericht der Bundesregierung (Fn. 16), S. 26 f.; Wackerbauer (Fn. 16), S. 147; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 65. 21 Vgl. hierzu weiterführend Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 62 f.; Bericht der Bundesregierung (Fn. 16), 8 ff. 22 Wackerbauer, The regulation and privatisation of the public water supply and the resulting competetive effects, CESifo DICE 4/06, 42, 43 f.
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wenigen großen TVU gewährleistet wird, die im Besitz entsprechender Konzessionen des Staates sind23. In England und Wales erfolgte eine Vollprivatisierung sowohl der TVU als auch der Versorgungsanlagen durch den Water Act 198924. Seither werden die Endverbraucher überwiegend durch kleine und mittlere private Unternehmen mit Trinkwasser versorgt25. Mit der Vollprivatisierung wurden zugleich drei Aufsichtsbehörden geschaffen, die den Markt unter verschiedenen Aspekten regulieren26. Durch den Competition Act 1998 wurde für die Verbraucher in England und Wales grundsätzlich die Möglichkeit geschaffen, sich gebietsunabhängig ein TVU auszuwählen, also Wettbewerb im Markt ermöglicht27. Seit einigen Jahren wird darüber diskutiert, eine Trennung zwischen der Infrastruktur und der Wasserversorgung herbeizuführen, indem die Infrastruktur an den Staat bzw. eine gemeinnützige oder genossenschaftliche Einrichtung verkauft wird. Der Betrieb soll analog dem französischen Modell über eine Konzession an private TVU vergeben werden28. In der Mehrzahl der übrigen westeuropäischen EU-Ländern sowie der Schweiz überwiegt die Versorgung der Wirtschaft und der Verbraucher durch öffentliche oder quasi-öffentliche TVU29. In den mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU scheint hingegen ein großflächiger Trend zur Privatisierung der kommunalen TVU zu bestehen30.
__________ 23 Barraque/Beyer in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 3, Länderstudie Frankreich, Informationen zur Umweltpolitik Österreichischer Städtebund, Arbeitskammer, 276 f.; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 47 ff.; Wackerbauer (Fn. 22), 43 f. 24 Vgl. zur Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen Hall/Lobina in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft Band 2 Länderstudie England und Wales, Informationen zur Umweltpolitik Österreichischer Städtebund, Arbeitskammer, S. 161 ff. 25 Wackerbauer (Fn. 16), 140; Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 48; Wackerbauer weist in diesem Zusammenhang aber auch darauf hin, dass die Trinkwasserversorgung in Schottland und Nordirland nach wie vor öffentlich betrieben wird (Fn. 22), 43. 26 Vgl. im Einzelnen Hall/Lobina (Fn. 24), 163 ff.; s. auch Wackerbauer (Fn. 22), 43. 27 Hall/Lobina (Fn. 24), 166 f. 28 Hall/Lobina (Fn. 24), 168. 29 Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 46 ff.; Wackerbauer (Fn. 16), 133, 139 ff.; zur speziellen Situation in Österreich, die der deutschen ähnlich ist, vgl. Beyer/Hansen/Herbke in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 1, Länderstudie Österreich (Fn. 2), 13 ff.; zur Rechtslage in den Niederlanden Nikolavcic in Schönbäck/Oppolzer/Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 4 (Fn. 2), 421 ff. 30 Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 43 f.
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IV. Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen im Trinkwasserrecht Die Trinkwasserversorgung von Wirtschaft und Verbrauchern in der Bundesrepublik ist sehr detailliert durch rechtliche und technische Normen geregelt und basiert wesentlich auf den einschlägigen europäischen Richtlinien. Diese wiederum haben ihre Grundlage in den Empfehlungen der WHO31. Das Wasserrecht im Allgemeinen und das Trinkwasserrecht im Besonderen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Vielzahl öffentlichrechtlicher, privatrechtlicher und strafrechtlicher Normen umfassen, die auf eine große Zahl von Rechtsvorschriften verteilt sind32. Damit einhergehend werden auch unterschiedliche Zuständigkeiten in Bund, Ländern und Kommunen begründet. Dies resultiert letztlich daraus, dass der Bund gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 18, 19, 20, 32 GG keine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz besitzt, sondern lediglich im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung zuständig ist33. 1. Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (GWB) Die Übergangsvorschrift des § 131 GWB34 bestimmt ausdrücklich eine Ausnahme für die öffentliche Wasserversorgung und erklärt die §§ 103, 103a, 105 sowie die auf sie verweisenden Vorschriften des GWB 199035 für weiterhin anwendbar. Daraus ergibt sich praktisch, dass Verstöße gegen das in § 1 GWB 1990 normierte Kartellverbot ausdrücklich erlaubt bleiben, wenn sie denn bei der zuständigen Kartellbehörde angemeldet worden sind. Dies gilt auch für die Gestattung der Abweichung vom Preisbindungsverbot (§ 15 GWB 1990) sowie der in § 18 GWB 1990 geregelten Ausschließlichkeitsbindung. Aus § 103 GWB 1990 ergibt sich, dass in der Wasserwirtschaft nach wie vor folgende Vertragsgestaltungen zulässig sind: a) § 103 Abs. 1 Nr. 1 GWB 1990 gestattet den Abschluss von Demarkationsverträgen zwischen den TVU untereinander bzw. mit Gebietskörperschaften zur Sicherung des Versorgungsmonopols des Endverbrauchers. b) § 103 Abs. 1 Nr. 2 GWB 1990 ermöglicht den Abschluss von Konzessionsverträgen, in denen Gebietskörperschaften TVU das exklusive Recht zur Versorgung des Endverbrauchers einräumen.
__________ 31 Guidelines for Drinking-water Quality, 3rd. Edition, Vol. 1 WHO, Geneva 2008. 32 Vgl. hierzu im Einzelnen Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl. 2004, 5 ff. m. w. N. 33 Überblick bei Breuer (Fn. 32), 1 ff. 34 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 26.8.1998 i. d. F. der Bekanntmachung v. 15.7.2005 (BGBl. I 2005, 2114), das zuletzt durch Art. 13 Abs. 21 des Gesetzes v. 25.5.2009 (BGBI. I 2009, 1102) geändert worden ist. 35 BGBl. I 1990, 235 i. d. F. des Art. 2 Abs. 3 des Gesetzes v. 26.8.1998 (BGBl. I 1998, 2512).
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c) § 103 Abs. 1 Nr. 3 GWB 1990 verpflichtet die TVU Preisbindungsverträge abzuschließen. d) § 103 Abs. 1 Nr. 4 GWB 1990 räumt den TVU die Möglichkeit ein, untereinander Verbundverträge zum exklusiven Aufbau, Unterhaltung und Nutzung von Leitungen abzuschließen. Wackerbauer ist zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass damit „die wesentlichen Vorschriften des GWB und das Verbot wettbewerbswidrigen Verhaltens … im Bereich der Wasserwirtschaft keine Anwendung (finden)“36. Damit hat sich der Gesetzgeber – vorläufig – gegen eine Liberalisierung des Trinkwassermarktes entschieden37 und die bestehenden Gebietsmonopole der TVU festgeschrieben38. 2. Anschluss- und Benutzungszwang Ein weiteres wesentliches, wenn nicht das entscheidende Hindernis für einen beginnenden Wettbewerb im Trinkwassermarkt der Bundesrepublik stellt der gemeindliche Anschluss- und Benutzungszwang39 an die öffentliche Trinkund/oder Abwasserbeseitigungsanlagen für Grundstückseigentümer dar, der mit Ausnahme des Landes Hamburg in den Gemeindeordnungen aller Bundesländer (Im Land Berlin wurde eine Rechtsverordnung erlassen.) verankert ist40. Begründet wird der Anschluss- und Benutzungszwang regelmäßig mit Gründen des Gemeinwohls und wird als eine zulässige Einschränkung der Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 2 GG angesehen41. Alle landesrechtlichen Regelungen zum Anschluss- und Benutzungszwang sehen vor, dass die entsprechenden gemeindlichen Satzungen Ausnahmen vom Anschluss- und Benutzungszwang festlegen können42. Entsprechende Ausnahmen sind ebenfalls in den gemeindlichen Satzungen enthalten.
__________ 36 Wackerbauer (Fn. 16), 134. 37 Zum Stand der Diskussion Fn. 16. 38 Es soll hier nicht die von Egerer/Wackerbauer (Fn. 13), 84 ff. vertretene ökonomische Theorie der Wasserwirtschaft als natürliches Monopol diskutiert werden. Danach stellen die bestehenden Leitungsnetze ein solches natürliches Monopol dar, nicht hingegen die Produktion von Trinkwasser. 39 Vgl. hierzu weiterführend Schmidt-Aßmann in von Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 1988, 174 ff. 40 § 11 Abs. 1 GO BW; Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 Bay GO; § 12 Abs. 1 und 2 BRB KVerf; § 2 der VO über den Anschluss an die öffentliche Wasserversorgung Berlins und deren Benutzung § 16 Abs. 1 Verf Brhv; § 19 Abs. 2 HGO; § 15 Abs. 1 KVM-V; § 8 Nr. 2 Nds GO; § 8 Abs. 2 GO NRW; § 26 Abs. 1 RP; § 22 Abs. 1 KSVG Saarland; § 14 Abs. 1 GO SA; § 8 Nr. 2 GOLSA; § 17 Abs. 2 GO SchlH; § 20 Abs. 2 Nr. 2 KO Thür. 41 S. auch Jarass in Jarass/Pieroth, 10. Aufl. 2009, S. 396 Rz. 63 m. w. N. 42 § 12 Abs. 3 BRBKVerf lautet „Die Satzung kann vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Bestimmungen Ausnahmen vom Anschluss- und Benutzungszwang zulassen. Dies gilt insbesondere, wenn auf Grundstücken Anlagen betrieben werden, die einen höheren Umweltstandard aufweisen als die von der Gemeinde vorgesehene Einrichtung. Die Satzung kann den Zwang auch auf bestimmte Teile des Gemeindegebietes und auf bestimmte Gruppen von Grundstücken beschränken.“
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Allerdings ist zu konstatieren, dass es sich dabei wohl eher um theoretische Ausnahmen handeln dürfte, denn der Anschluss- und Benutzungszwang wird durch die entsprechenden Versorgungsbetriebe regelmäßig gerichtlich durchgesetzt, und zwar bis hin zu verwaltungsrechtlichen Zwangsmaßnahmen43. Grundsätzlich gilt, dass wenn eine Gemeinde in ihrer Satzung den Anschlussund Benutzungszwang einführt, dann die Grundstückseigentümer verpflichtet sind, auf eigene oftmals nicht unerhebliche Kosten ihre Grundstücke an die öffentliche Trinkwasserversorgung und/oder Abwasserentsorgung anzuschließen. Eine Befreiung vom Anschluss- und Benutzungszwang soll nach Auffassung der Rechtsprechung nur in „atypischen Ausnahmefällen“ zulässig sein44. Aus der einschlägigen verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass der Anschluss- und Benutzungszwang nicht im Widerspruch sowohl zu den Vorgaben des europäischen Gesetzgebers, als auch dem des Grundgesetzes stehen soll45. Weder die erhebliche Kostenbelastung für den Grundstückseigentümer noch der Umweltschutz, wie beispielsweise der Einwand, eine sparsame Nutzung der Ressource Trinkwasser durch einen Hausbrunnen realisieren zu wollen, sollen geeignet sein, eine Ausnahme vom Anschluss- und Benutzungszwang zu rechtfertigen. Maßstab soll einzig und allein das Kriterium der so genannten „Volksgesundheit“ sein46. Der Anschluss- und Benutzungszwang soll sogar dann durchgesetzt werden können, wenn Sachverständige festgestellt haben, dass das im hauseigenen Brunnen geförderte Trinkwasser, verglichen mit dem öffentlich zur Verfügung gestellten Trinkwasser, eine bessere Qualität aufweist47. Die Monopolisierung der Trinkwasserversorgung wird zwar gesehen, aber als mit dem europäischen Recht in Übereinstimmung stehend hingenommen,
__________ 43 Vgl. z. B. Der Tagesspiegel v. 9.7.2008 „Abwasserkrieg in Rauen“; MAZ v. 13.9.2008 „Angst um Job nach Zwangsanschluss – Hausbesitzerin aus Briesensee soll Grundgesetz in Frage gestellt haben.“ 44 So ausdrücklich OVG Brandenburg, NuR 2004, 602 m. w. N., Volltext in DRsp Nr. 2008/841, Rz. 22. 45 BVerwG, NVwZ 1998, 1080 m. w. N.; BVerwG, NJW 2006, 2059 m. w. N. Dieses Urteil bezieht sich zwar ausdrücklich auf die Fernwärmeversorgung, jedoch dürfte es auf die sehr ähnliche Problematik im Trinkwasserrecht analog anwendbar sein. Interessanterweise wird durch das BVerwG ausdrücklich eine Vorlage an den EuGH abgelehnt, und zwar u. a. mit der Begründung, dass bereits ein Auslandsbezug nicht erkennbar sei; OVG Brandenburg (Fn. 44), Rz. 14; Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl. 2004, 374 f. und 397 f., jeweils m. w. N. 46 So ausdrücklich OVG Brandenburg (Fn. 44), Rz. 14 m. w. N. 47 VerfG Brandenburg v. 20.4.2006, DRsp Nr. 2007/23461. Danach ist einzig und allein maßgebend, dass das öffentlich angebotene Trinkwasser qualitativ den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Eine Ausnahme kann wohl dann gegeben sein, wenn das Trinkwasser des örtlichen Versorgers nicht den Kriterien des Gesetzgebers entspricht. Einen solchen Nachweis zu führen, dürfte aber schlicht unmöglich sein, denn Trinkwasser unterliegt nach dem Willen des Gesetzgebers strikten Kontrollen sowohl durch den Inhaber einer Wasserversorgungsanlage als auch den zuständigen Gesundheitsbehörden, §§ 14 ff. TrinkwV2001.
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weil der EG-Vertrag Ausnahmen vom Monopolverbot zulasse, wenn u. a. Gründe zum Schutz der Gesundheit geltend gemacht werden48. Inwieweit die deutsche Politik beabsichtigt, die derzeitige Rechtslage zu ändern, bleibt abzuwarten. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU/FDP sieht zwar vor, dass die Regierungsparteien beabsichtigen, in ländlichen Räumen alternative Systeme und Technologien sowie Kooperationen zu unterstützen49. Aus dem Koalitionsvertrag ist aber nicht zu entnehmen, dass die Regierungsparteien beabsichtigen, auch die bestehenden rechtlichen Rahmnbedingungen zu ändern. Ob sich diese Position der deutschen Politik auf Dauer durchhalten lässt, kann durchaus bezweifelt werden, zumal in den europäischen Nachbarländern, so denn überhaupt ein Anschluss- und Benutzungszwang existent ist, dieser offenbar flexibel gehandhabt wird50. Ein Ansatz dabei dürfte die grundsätzliche Einbeziehung auch der (Trink-) Wasserwirtschaft in die Dienstleistungsrichtlinie sein51. Die Mitgliedsstaaten werden nach Art. 1 der Dienstleistungsrichtlinie zwar nicht verpflichtet Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu liberalisieren oder bestehende Monopole zu beseitigen. Gleichwohl steht fest, dass auch die (Trink-)Wasserwirtschaft in den sachlichen Geltungsbereich dieser Richtlinie einbezogen worden ist. Dies ergibt sich bereits aus dem Umkehrschluss der in Art. 2 Abs. 2 und 3 der RL definierten Ausnahmen vom sachlichen Anwendungsbereich52. Daraus folgt dann aber auch, dass die (Trink-)Wasserwirtschaft sich den in der Dienstleistungsrichtlinie bestimmten Grundsätzen zu unterwerfen hat. Dies gilt jedoch nicht für die in Art. 16 geregelte Dienstleistungsfreiheit für die Erbringung von Dienstleistungen, da Art. 17 Abs. 1 der RL eine Ausnahme für netzgebundene Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zulässt. Art. 17 Abs. 1 lit. d RL rechnet dazu ausdrücklich auch die (Trink-) Wasserwirtschaft. Allerdings ist die (Trink-)Wasserwirtschaft damit nicht automatisch als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse anzusehen. Dies stellt die Kommission auch in ihren Anwendungsempfehlun-
__________
48 Ebenda. 49 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“, S. 42. 50 Vgl. für Frankreich, England, Wales, Österreich Oppolzer in Schönbäck/Oppolzer/ Kraemer/Hansen/Herbke, Internationaler Vergleich der Siedlungswasserwirtschaft, Band 5, Systemvergleich vor europapolitischem und ökonomischem Hintergrund (Fn. 2), 531. In den Niederlanden gibt es zumindest bei der Abwasserentsorgung keinen Anschluss- und Benutzungszwang. Vgl. Nikolavcic, ebenda (Fn. 2), Band 4, 428. 51 „Richtlinie 2006/123/EG des EP und des Rates v. 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt“, ABl. Nr. L 376 v. 27.12.2006, S. 36. 52 In dem von der Kommission herausgegebenen „Handbuch zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie“ (http://ec.europa.eu/internal-market/services/docs/services-dir/ guides/handbook-de.pdf) wird ausdrücklich ausgeführt, dass die Richtlinie auf alle Dienstleistungen Anwendung findet, die nicht ausdrücklich aus dem sachlichen Anwendungsbereich ausgenommen wurden, 10 f.
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gen klar: „Der Verweis auf diese Dienstleistungen bedeutet nicht, dass derartige Dienstleistungen in jedem Fall als Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu betrachten sind. Die Beurteilung… muss in jedem spezifischen Fall unter Anwendung der in Erwägungsgrund 70 dargestellten Prinzipien erfolgen“53. Jedenfalls für eine Liberalisierung der Trinkwasserversorgung ist die Charakterisierung der Trinkwasserversorgung als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nicht von Bedeutung. Seit den 90er Jahren wurden bereits viele Sektoren der von der Kommission als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse angesehenen Bereiche in den Mitgliedsländern der EU liberalisiert, ohne dass es zu erheblichen Engpässen bei der Versorgung von Wirtschaft und Verbrauchern gekommen ist. Tatsächlich führte die Liberalisierung solcher Bereiche in aller Regel zu sinkenden Preisen für Wirtschaft und Verbraucher und dies bei zumindest gleich bleibender wenn nicht verbesserter Qualität der Dienstleistung.
V. Der Vertrag über die Lieferung von Trinkwasser zwischen dem TVU und dem Grundstückseigentümer 1. Vertragsschluss Der Vertrag über die Lieferung mit Trinkwasser kommt zwischen dem TVU und dem Kunden grundsätzlich unter Verwendung von dessen AGB auf der Grundlage der AVBWasserV54 zustande55. Auf diesen Versorgungsvertrag zwischen dem TVU und seinem Kunden ist nach allgemein herrschender Rechtsauffassung Kaufvertragsrecht über § 453 Abs. 1 2. Alternative BGB analog anzuwenden, und zwar ohne dass es auf die Rechtsform des TVU ankommt56. § 1 Abs. 1 AVBWasserV bestimmt ausdrücklich, dass die einzelnen Bestimmungen der AVBWasserV grundsätzlicher Bestandteil des Wasserversorgungsvertrages zwischen dem TVU und dem Kunden werden, soweit nicht die Ausnahmen der §§ 1 Abs. 3, 35 AVBWasserV vorliegen, sofern das TVU, und dies wird regelmäßig der Fall sein, Vertragsmuster und Vertragsbedingungen benutzt, die vorformuliert, für eine vielfache Verwendung ausgelegt sind. Nach § 1 Abs. 3 AVBWasserV ist es, letztlich wohl im Einzelfall, möglich, einen Trinkwasserversorgungsvertrag mit abweichenden Vertragsbedingungen
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53 Ebenda, S. 48. Erwägungsgrund 70 der Dienstleistungsrichtlinie bestimmt, dass die entsprechende Dienstleistung der Erfüllung eines „besonderen Auftrages von öffentlichem Interesse“ dienen muss. 54 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Wasser AVBWasserV v. 20.6.1980 (BGBl. I 1980, 750, 1067), die zuletzt durch die Verordnung v. 13.1.2010 (BGBl. I 2010, 10) geändert worden ist. 55 Im Rahmen dieses Beitrages werden die in § 1 Abs. 2 AVBWasserV geregelten Ausnahmen vom sachlichen Anwendungsbereich der AVBWasserV für die Industrie, die Weiterverteilung von Wasser sowie die Vorhaltung von Löschwasser außer Betracht gelassen. 56 BGH v. 4.10.1972, DRsp Nr. 2000/8156 m. w. N.; s. auch Weidenkaff in Palandt, 69. Aufl., vor § 433 BGB S. 632 Rz. 5; § 453 BGB S. 668 Rz. 6.
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zu schließen, wenn das TVU zuvor einen Vertrag unter Einbeziehung der AVBWasserV angeboten hat und der Kunde sein ausdrückliches Einverständnis mit einer hiervon abweichenden Vertragsgestaltung erklärt hat. Damit bestimmt dann aber letztlich der Bundesgesetzgeber den wesentlichen Inhalt (fast) aller Trinkwasserversorgungsverträge zwischen dem TVU und seinem Kunden, der in den meisten Fällen zugleich auch als Verbraucher handeln dürfte. Dies ergibt sich ausdrücklich aus dem Regelungsgehalt des Art. 243 EGBGB, der den bis zum 31.12.2001 geltenden § 27 AGBG ersetzt hat57. Der Gesetzgeber kann damit de facto auch weiterhin durch eine Rechtsverordnung den wesentlichen Vertragsinhalt eines Trinkwasserversorgungsvertrages zwischen dem TVU und dem Kunden bestimmen. Die Normen der AVBWasserV selbst unterliegen als vom Gesetzgeber erlassene Rechtsnormen der Versorgungswirtschaft nicht der AGB Inhaltskontrolle der §§ 305 ff. BGB58. Dies gilt jedoch ausdrücklich nicht für die auf der Grundlage der AVBWasserV erarbeiteten AGB des einzelnen TVU. Dabei handelt es sich ja dann gerade nicht mehr um Rechtsnormen, sondern um privatrechtlich ausgestaltete Versorgungsbedingungen des einzelnen Unternehmens im Verhältnis zu seinem Kunden. Daraus folgt dann aber auch, dass wenn die AGB des TVU auch nur geringfügig vom gesetzlichen Leitbild der entsprechenden Formulierung der AVBWasserV abweichen, dann der Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB eröffnet ist. Der Vertrag zwischen dem TVU und seinem Kunden kommt, so er denn nicht ausdrücklich gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 AVBWasserV schriftlich abgeschlossen wird, dadurch zustande, dass der Kunde durch eine Wasserentnahme gegenüber dem TVU zu erkennen gibt, dass er die Realofferte des Unternehmens auf Abschluss eines Versorgungsvertrages angenommen hat, und zwar zu den Vertragsbedingungen, die das TVU stellt. Der BGH hat dazu wörtlich ausgeführt: „Nach ständiger Rechtsprechung … und allgemeiner Meinung im Schrifttum … nimmt derjenige, der aus einem Verteilungsnetz eines Versorgungsunternehmens Elektrizität, Gas, Wasser oder Fernwärme entnimmt, das Angebot zum Abschluss eines entsprechenden Versorgungsvertrages konkludent an; eine Erklärung, er wolle mit dem Unternehmen keinen Vertrag schließen, ist unbeachtlich, da dies im Widerspruch zu seinem eigenen tatsächlichen Verhalten steht …“59. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob derjenige, der Trinkwasser aus der Leitung entnommen hat, zu diesem Zeitpunkt ein entsprechendes Erklärungsbewusstsein besaß oder nicht60.
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57 Eingefügt durch Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts v. 26.11.2001 (BGBl. I 2001, 3137). 58 Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 310 BGB Rz. 6 m. w. N.; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., S. 12, Rz. 23 m. w. N. 59 BGH, BGHReport 2003, 914; s. auch Ellenberger in Palandt, 68. Aufl., vor § 145 BGB S. 160 Rz. 27 m. w. N. 60 BGH, BGHReport 2005, 618 unter Verweis auf seine Entscheidung v. 10.10.1991 für den Bereich der Realofferte und deren Annahme durch den Kunden in NJW 1992, 171.
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Mit dieser Fiktion des Abschlusses eines Vertrages durch die Inanspruchnahme der Realofferte des TVU soll vermieden werden, dass zwischen dem Kunden und dem TVU ein vertragsloser Zustand besteht, den letztlich beide Parteien des Vertrages nicht wollen61. Diese Fiktion des Abschlusses eines Vertrages soll grundsätzlich auch dann gelten, wenn sich die Vertragspartner über Einzelheiten des Vertrages (noch) nicht einig sind, wie beispielsweise über den Preis. Allerdings dürfte es letztlich gar nicht darauf ankommen, ob sich die Parteien über den Preis für das zu liefernde Trinkwasser einigen oder nicht. Aufgrund des noch nicht geöffneten Trinkwassermarktes hat der Kunde des TVU praktisch kaum eine Möglichkeit, auf die Preisgestaltung seines Versorgers aktiv Einfluss zu nehmen, d. h. über den Preis der zu liefernden Ware zu verhandeln. Als Neukunde ist der Verbraucher mangels Alternativen und/oder aufgrund des gemeindlichen Anschluss- und Benutzungszwangs letztlich an das Angebot des lokalen TVU gebunden, denn §§ 2 Abs. 2 Satz 2, 4 Abs. 1 AVBWasserV bestimmen, dass die Versorgung des Kunden zu den Preisen erfolgt, die für gleichartige Versorgungsverhältnisse gelten. Nach der Rechtsprechung des BGH wäre damit zunächst davon auszugehen, dass der Anwendungsbereich des § 315 BGB nicht eröffnet ist, wenn ein Neukunde den Tarif des TVU nicht akzeptiert, und zwar auch dann nicht, wenn ihm die Preiskalkulation des Versorgers bei Vertragsschluss unbekannt ist62. Diese Urteile sind zwar zur Preisgestaltung im Gas- und Strommarkt ergangen, könnten jedoch in ihrer Aussage analog anwendbar sein, da die zwischenzeitlich aufgehobenen AVBEltV63 und AVBGasV64 sehr ähnliche Reglungen wie § 4 AVBWasserV enthielten. Diese Rechtsprechung zur Unanwendbarkeit des § 315 BGB kann aber tatsächlich, wenn überhaupt, nur marginal Anwendung auf einen Trinkwasserversorgungsvertrag finden. Dies wird durch den BGH damit begründet, dass bei Unternehmen, die „… Leistungen der Daseinsvorsorge anbieten, auf deren Inanspruchnahme der andere Vertragsteil im Bedarfsfall angewiesen, nach billigem Ermessen festgesetzt werden müssen und einer Billigkeitskontrolle entsprechend § 315 Abs. 3 BGB unterworfen sind … (Dies gilt erst recht) für den hier vorliegenden Fall eines Anschluss- und Benutzungszwanges … (weil)
__________ 61 BGH, BGH Report 2006, 760 (LS), Volltext in DRsp Nr. 2006/7860. 62 BGH, BGHReport 2009, 209 (LS), Volltext in DRsp Nr. 2008/24016; BGH, BGHReport 2007, 1009 (LS), Volltext in DRsp Nr. 2007/14150; BGH, BGHReport 2007, 741. 63 § 4 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV) v. 21.6.1979 (BGBl. I 1979, 684), zuletzt geändert durch Art. 17 des Gesetzes v. 9.12.2004 (BGBl. I 2004, 3214), aufgehoben durch Art. 4 der Verordnung v. 1.11.2006 (BGBl. I 2006, 2477). 64 Vgl. § 4 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung von Tarifkunden (AVBGasV) v. 21.6.1979 (BGBl. I 1979, 676), zuletzt geändert durch Art. 18 des Gesetzes v. 9.12.2004 (BGBl. I 2004, 3214), aufgehoben durch Art. 4 der Verordnung v. 1.11.2006 (BGBl. I 2006, 2477).
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der Kunde der einseitigen Preisfestsetzung des Versorgungsunternehmens nicht durch die Wahl eines anderen, konkurrierenden Anbieters entgehen (kann) …“65. Damit ist dann aber (auch) der Neukunde eines TVU nicht auf einen Rückforderungsprozess angewiesen, sondern kann direkt die Einrede der Unbilligkeit im Sinne des § 315 Abs. 3 BGB gegen den entsprechenden Tarif des TVU erheben. Die Darlegungs- und Beweislast für die Billigkeit des angebotenen Tarifs liegt in Rechtsprechung und Literatur unbestritten bei demjenigen, dem ein einseitiges Bestimmungsrecht für den Tarif obliegt, also beim TVU66. Während der Vertragslaufzeit besitzt das TVU ebenfalls das Recht, den Preis einseitig zu ändern. § 24 Abs. 3 AVBWasserV räumt dem Versorger einen relativ weiten Spielraum bei der Preisgestaltung ein, denn danach sind Preisänderungen dann möglich und für den Kunden verbindlich, wenn sich die Faktoren für die Beschaffung und Bereitstellung des Wassers ändern. Damit verbleibt dem einzelnen TVU ein nicht unerheblicher Spielraum für die Preisbestimmung, denn welche konkreten Faktoren zu berücksichtigen sind, bleibt offen und unterliegt letztlich der Billigkeitskontrolle. Der BGH hat sich bisher diesbezüglich bisher nicht konkret erklärt67. Die reine Weitergabe gestiegener Bezugspreise an den Verbraucher ist zweifellos möglich68. Dies dürfte auch für die Weitergabe von reinen Kostensteigerungen im Zusammenhang mit der Aufbereitung und Zurverfügungstellung des Trinkwassers für den Verbraucher gelten. Der Versorger ist aber nicht verpflichtet, etwaige Kostensenkungen in anderen Bereichen, so denn vorhanden, seines Unternehmens praktisch zur Quersubventionierung zu nutzen69. Dieser Aspekt dürfte aber für den hier interessierenden Bereich keine große Bedeutung haben, da sich der größte Teil der TVU ausschließlich auf die Bereiche der Trinkwasserversorgung und der Abwasserentsorgung beschränkt. Jedenfalls für den Bereich der Versorgung mit Gas hat der BGH entschieden, dass eine Offenlegung der internen Kalkulation des Verbrauchers zur Kontrolle der Billigkeit einer vorgenommenen Preisänderung im Sinne des § 315 BGB, und in aller Regel dürfte eine Preiserhöhung vorgenommen werden, nur ausnahmsweise gefordert werden kann, wenn nämlich andere Beweismittel nicht zur Verfügung stehen und eine entsprechende Abwägung zwischen dem verfassungsrechtlich geschützten Geheimhaltungsinteresse des Unternehmens
__________ 65 BGH, BGHReport 2005, 1339, 1340. 66 BGH, NJW 1987, 1828, Volltext in DRsp Nr. 1996/5786 Rz. 10 m. w. N.; BGH, BGHReport 2005, 1339, 1340; Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 315 BGB S. 527 Rz. 19 m. w. N.; Brandner in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB Gesetz, 8. Aufl., S. 519 Rz. 15 m. w. N. 67 BGH, BGHReport 2003, 914, 915 m. w. N.; Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 315 BGB S. 527 Rz. 19 m. w. N. 68 BGH, BGHReport 2007 (Fn. 62), Rz. 21; BGH, BGHReport 2009 (Fn. 62), Rz. 25. 69 BGH, BGHReport 2009 (Fn. 62), Rz. 35.
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und dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes erfolgt ist70. Von einer Relevanz für den hier interessierenden Bereich muss deshalb ausgegangen werden, weil auch in dem entschiedenen Fall ein Versorgungsunternehmen betroffen war, das eine Monopolstellung im regionalen Markt besaß. Problematisch an dieser Entscheidung ist insbesondere, dass der Kunde respektive der Verbraucher in aller Regel keine Kenntnis davon haben dürfte, welche konkreten Kriterien das Versorgungsunternehmen für die Preisbestimmung zu Grunde legt. Normalerweise wird davon ausgegangen, dass Preisfestsetzungen oder Preisvereinbarungen nicht der richterlichen Inhaltskontrolle der §§ 307 ff. BGB unterliegen, und zwar „… wo die Parteien die alleinige Disposition über den Gegenstand des Vertragspreis … kraft privat-autonomer Gestaltung wahrnehmen …“71. Dies gilt jedoch ausdrücklich nicht für die Preisbestimmung von Unternehmen öffentlicher Versorgungsträger, wie beispielsweise dem TVU. Grund hierfür ist, dass das Versorgungsunternehmen bei der Preisbestimmung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Leistung und Gegenleistung zu beachten hat72. Dies ist auch sachgerecht, weil der Preis eben durch das TVU bestimmt und nicht von den Parteien ausgehandelt wird. Ein anderer und relativ neuer Weg zur Preiskontrolle ist die Überprüfung der Trinkwasserpreise der TVU durch die Kartellbehörden der Länder73. Diese Vorgehensweise wird damit begründet, dass die jeweiligen lokalen TVU eine marktbeherrschende Rolle in ihrem Einzugsgebiet haben und es dem Endkunden in aller Regel nicht möglich ist seinen Versorger zu wechseln. Vorreiter dieser Entwicklung scheint die Hessische Landeskartellbehörde zu sein, die seit Jahren Ermittlungen gegen verschiedene lokale TVU geführt und zwischenzeitlich auch mehrere allerdings nicht rechtskräftige Preissenkungsverfügungen erlassen hat, und zwar auf der Grundlage des § 103 GWB a. F. Die Hessische Landeskartellbehörde führt als Grund für ihr Tätigwerden an, dass in Hessen durch die TVU die höchsten Trinkwasserpreise (in den alten Bun-
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70 Ebenda, Rz. 41 f. 71 Graf von Westphalen in Henssler/Graf von Westphalen, Praxis der Schuldrechtsreform, 2001, 316 f. 72 BVerfGE 20, 257, Volltext in DRsp Nr. 1996/7731, Rz. 46; BGH, NJW 1985, 3013, Volltext in DRsp Nr. 1992/4510, Rz. 15 m. w. N.; BGH (Fn. 66), Volltext in DRsp Nr. 2005/11694, Rz. 34; Brandner in Ulmer/Brandner/Hensen (Fn. 66), S. 519 Rz. 15 m. w. N.; Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeifer (Fn. 58), S. 395 Rz. 313 m. w. N. 73 Die Kartellbehörde kann allerdings nur TVU kontrollieren und vergleichen, die privatrechtlich organisiert sind und Preise für die Lieferung von Trinkwasser erheben. Öffentlich-rechtlich organisierte TVU erheben dagegen auf der Grundlage von Satzungen Gebühren, für deren Kontrolle nicht die Kartellbehörden, sondern die Kommunalaufsicht zuständig ist. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass ein erfolgreichen Vorgehen der Kartellbehörden gegen die Trinkwasserpreise dazu führt, dass auch bei der Kommunalaufsicht ein Umdenken einsetzt, zumal die Trinkwassergebühren in aller Regel noch höher sind als die Trinkwasserpreis der privatrechtlich organisierten Unternehmen. Der Grund hierfür dürfte in der öffentlich rechtlichen Quersubventionierung zu suchen sein.
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desländern) gefordert werden. Teilweise sollen sie sogar über den entsprechenden Preisen der neuen Bundesländer liegen. Mit Hilfe des so genannten „Vergleichsmarktkonzepts“, also dem Vergleich von Unternehmen auf gleicher Marktstufe und gleicher Marktfunktion, werden die Trinkwasserpreise der einzelnen Unternehmen anhand so genannter Musterfälle verglichen74. Bisher liegt zu dieser Problematik eine jetzt rechtskräftige Entscheidung des OLG Frankfurt vom 24.11.2008 vor, in der die Vorgehensweise der Landeskartellbehörde im Wesentlichen gebilligt wurde75. Das OLG Frankfurt stellt zunächst fest, dass entgegen der Auffassung des TVU der von der Landeskartellbehörde vorgenommene Vergleich der Preise mit anderen TVU in der Sache zulässig ist und mithin auf § 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 GWB a. F. gestützt werden. Aus Gründen der Effektivität ist es auch nicht erforderlich, dass diese Anforderungen an die Gleichartigkeit der vergleichbaren TVU zu hoch angesetzt werden, da es Sache des betroffenen TVU ist darzulegen und zu beweisen, dass die Preisunterschiede auf Umständen beruhen, die dem TVU nicht zurechenbar sind76. Im Gegensatz zu anderen Energieträgern sind die Beschaffungskosten des TVU als relativ gering anzusetzen, während die Verteilungskosten für das Trinkwasser aufgrund der Besonderheiten des Wassers relativ hoch sind77. Allein die Behauptung des TVU, dass der geforderte Preis die eigenen Kosten nicht deckt, ist ohne Offenlegung der Kostenstruktur durch das TVU nicht erfolgversprechend78. Der BGH hat in seinem Beschluss vom 2.2.2010 die Entscheidung des OLG Frankfurt/Main bestätigt und ausdrücklich für Recht erkannt, dass die Preisgestaltung der TVU der kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle gem. §§ 103 Abs. 5, 22 Abs. 5 GWB 1990 unterliegt79. Mit dieser grundlegenden Entscheidung des BGH haben nunmehr die Landeskartellbehörden die Möglichkeit die Preisgestaltung der lokalen TVU eingehend zu prüfen, um gegen überhöhte Trinkwasserpreise vorzugehen. Der Ber-
__________ 74 Vgl. zum gegenwärtigen Stand der Ermittlungen der Hessischen Landeskartellbehörde gegen hessische TVU sowie den Wortlaut der erlassenen Verfügungen http:// www.wirtschaft.hessen.de//irj/HMWVL_Internet?cid=5108ccbcc241ce5b. 75 Beschluss OLG Frankfurt Az: 11 W 23/07(Kart), Volltext in DRsp Nr. 2009/2429 Az. BGH: KVR 66/08. Zwei weitere vor dem Kartellsenat des OLG Frankfurt rechtshängige Verfahren sind im Hinblick auf die Grundsatzentscheidung des BGH zu dieser Problematik zum Ruhen gebracht worden. 76 Ebenda, Rz. 49 f. m. w. N. 77 Im entschiedenen Fall betrug der Anteil er Beschaffungskosten lediglich 22.5 % des Gesamtpreises, während dieser Anteil bei Gas und Strom bis zu 70 % betragen kann. Der Anteil der Verteilungskosten soll nach den Ermittlungen der Landeskartellbehörde in Hessen hingegen bis zu 87 % des Gesamtpreises betragen. 78 Beschluss OLG Frankfurt (Fn. 75), Rz. 83. 79 Bisher liegt lediglich die Pressemitteilung des BGH 24/2010 v. 2.2.2010 vor.
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liner Senat hat in einer ersten Reaktion auf dieses Urteil bereits angekündigt, dass die Landeskartellbehörde umgehend prüfen wird, ob es einen Anfangsverdacht für eine überhöhte Trinkwasserpreisgestaltung der Beliner Wasserbetriebe gibt80. Nach Auffassung des BGH dürfen „… an der Feststellung der Gleichartigkeit der Vergleichsunternehmen (keine) überhöhten Anforderungen gestellt werden.“81 Daraus ist dann aber zu schlussfolgern, dass es Sache des jeweiligen TVU ist, nachzuweisen, dass seine Trinkwasserpreise gerechtfertigt sind und nicht auf einem marktbeherrschenden Verhalten beruhen, sie also der Billigkeit im Sinne des § 315 BGB entsprechen82. 2. Vertragspartner des TVU Die AVBWasserV bezeichnen den Vertragspartner des TVU durchgängig als Kunden, ohne dass eine Unterscheidung zwischen einem Verbraucher und einem Nichtverbraucher, wie beispielsweise einem Selbständigen oder Gewerbetreibenden getroffen wird. Die AVBWasserV lässt ferner offen, wer Vertragspartner des TVU werden kann. Die Rechtsprechung zu § 2 Abs. 2 AVBWasserV geht jedoch davon aus, dass in aller Regelmäßigkeit der Vertrag mit dem Grundstückseigentümer zustande kommt83. Nur ausnahmsweise nimmt die Rechtsprechung an, dass mit dem Grundstückseigentümer kein Vertrag zustande kommt. Dies soll nur dann der Fall sein, wenn es einen anderen Vertragspartner gibt, mit dem ein Vertrag, auch konkludent, geschlossen wurde84. Maßgeblich ist nach der Rechtsprechung allein derjenige, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss des TVU ausübt und die angebotene Versorgungsleistung abnimmt oder mit dem ein entsprechender Vertrag abgeschlossen worden ist85.
__________ 80 Berliner Zeitung v. 3.2.2010, S. 1. 81 Pressemitteilung des BGH (Fn. 79). 82 Allerdings scheint es bei den privatrechtlich organisierten TVU in Hessen andere Schlussfolgerungen aus dem Beschluss des BGH zu geben. Der Geschäftsführer des vom Beschluss des BGH betroffenen regionalen Wasserversorgers überlegt, die Trinkwasserversorgung aus dem Unternehmen herauszulösen und in die Stadtverwaltung, etwa als Eigenbetrieb, zu integrieren. Damit könnte dann die Stadt für die Trinkwasserversorgung auf der Grundlage einer Satzung Gebühren erheben, die nur noch von der Kommunalaufsicht geprüft werden würden (vgl. „Wasserversorger will Poschs Zugriff entkommen“ Rhein-Main Zeitung in FAZ.NET. v. 11.2.2009, S. 1). 83 BGH, BGHReport 2009, 432, Volltext in DRsp Nr. 2009/2846; s. auch OLG Dresden v. 5.4.2001, DRsp Nr. 2001/9277, Rz. 13; BGH, Nichtannahmebeschluss v. 15.1.2008, DRsp Nr. 2008/4556 m. w. N. 84 BGH (Fn. 83), 434 f., Volltext in DRsp Nr. 2009/2846. Der BGH lehnt in dieser Entscheidung ausdrücklich eine Unterscheidung zwischen einem förmlich abgeschlossenen und einem durch konkludentes Verhalten geschlossenen Vertrag ab, da beide die gleichen Rechtswirkungen entfalten. 85 BGH 15.1.2008 (Fn. 83).
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Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser
Entscheidend kommt es dabei darauf an, dass „… gegenläufige Auslegungsgesichtspunkte vorliegen, die unübersehbar in eine andere Richtung weisen …“86. Damit kann dann zwischen einem Grundstücksnutzer, also beispielsweise dem Pächter oder einem Mieter, sowie einem TVU nur ausnahmsweise ein Vertragsverhältnis über den Bezug von Trinkwasser entstehen, nämlich dann, wenn dieser nicht lediglich Rechnungsempfänger, sondern tatsächlich Vertragspartner sein soll. Auf welche Art der Vertragsschluss erfolgt, ist dagegen irrelevant. Jedoch ist es dem TVU verwehrt, sowohl mit dem Grundstückseigentümer als auch mit dem Pächter oder Mieter Verträge, das gleiche Grundstück betreffend, abzuschließen87. Dies dürfte auch sachgerecht sein. Andererseits steht aber auch fest, dass das TVU nicht verpflichtet ist, mit einem Mieter oder Pächter eines Grundstücks Versorgungsverträge abzuschließen, und zwar auch dann nicht, wenn der Grundstückseigentümer dies ausdrücklich wünscht. Das TVU muss einem solchen Ansinnen des Grundstückseigentümers expressis verbis zustimmen und kann zur Voraussetzung für den Abschluss eines solchen Vertrages mit den Mietern machen, dass der Grundstückeigentümer bereit ist, die Mithaftung für die den Mietern in Rechnung gestellten Verbrauchskosten zu übernehmen88. Dem TVU ist es aber andererseits verwehrt, in seinen AGB einseitig unter Berufung auf § 10 Abs. 2 AVBWasserV zu bestimmen, dass „jedes Haus oder jedes Grundstück“ über einen eigenen Anschluss an die zentrale Trinkwasserversorgung verfügen muss. Das TVU hat zwar nach dem Willen des Verordnungsgebers das Recht, die Zahl der Hausanschlüsse auf einem Grundstück zu bestimmen, jedoch sind dabei auch die Interessen des Grundstückseigentümers bei der Abwägung durch das TVU mit einzubeziehen89. Das TVU kann über § 22 AVBWasserV darauf Einfluss nehmen, wie der Kunde mit dem gelieferten Trinkwasser weiter verfährt. § 22 Abs. 1 Satz 1 AVBWasserV bestimmt, dass das gelieferte Trinkwasser durch den Kunden nur für eigene Zwecke, Zwecke seiner Mieter und sonstiger Berechtigter verwendet werden darf. Für eine anderweitige Verwendung des gelieferten Trinkwassers durch den Kunden bedarf es ausdrücklich einer vorherigen schriftlichen Zustimmung des TVU.
__________ 86 87 88 89
BGH (Fn. 83), 434. Ebenda Rz. 15. Ausdrücklich BGH (Fn. 59) m. w. N., 915. BGH, BGHReport 2005, 1090 (LS), Volltext in DRsp Nr. 2005/8023. In dieser Entscheidung hat der BGH die Regelung in den AGB eines TVU unter Berufung auf § 307 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB für unwirksam erklärt, dass „jedes Haus und jedes Grundstück“ mit einem eigenen Anschluss an die Trinkwasserversorgungsleitung auszustatten ist. Begründet hat dies der Senat damit, dass die entsprechende AGB Klausel des TVU von der Formulierung des Verordnungsgebers abweicht und damit für eine einzelfallbezogene Regelung kein Raum mehr sei. Damit kann dann aber der Anschlussnehmer einseitig benachteiligt, wenn ihm jede Möglichkeit abgeschnitten werde, seine Vorstellungen beim TVU einzubringen.
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Dem Kunden des TVU wird es damit verwehrt, mit dem von ihm gekauften Gegenstand, nämlich dem Trinkwasser, so zu verfahren, wie es ihm beliebt90. Dem TVU wird mit diesem Zustimmungserfordernis im Sinne des § 182 BGB das Recht eingeräumt zu kontrollieren, ob der Käufer des gelieferten Trinkwassers dieses auf eigene Rechnung weiterverkauft und wenn ja zu welchen Bedingungen. Diese Zielrichtung ergibt sich direkt aus § 22 Abs. 1 Satz 3 AVBWasserV, der dem TVU im Fall der Weiterleitung praktisch ein Vetorecht gewährt. Mit diesem Vetorecht wird damit die Monopolstellung des örtlichen TVU zementiert und aktiv ein Wettbewerb um den Markt verhindert91. Damit besitzen die TVU derzeit eine sonst im Zivilrecht kaum vorstellbare starke Rechtsstellung gegenüber dem Käufer, in aller Regel also gegenüber dem Grundstückseigentümer. Diese kann letztlich nur damit erklärt werden, dass der Vertragspartner des TVU de facto keine andere Bezugsmöglichkeit für das Trinkwasser besitzt, und zwar sobald durch die Gemeinde eine Satzung in Kraft gesetzt wurde, die den Anschluss- und Benutzungszwang für die Grundstückseigentümer einführt, dem der Grundstückseigentümer praktisch nicht entgehen kann92. 3. Zu einigen Aspekten der Mängelhaftung am gelieferten Trinkwasser Direkte Vertragsbeziehungen bestehen, wie vorstehend ausgeführt, in aller Regel zwischen dem TVU und dem Grundstückseigentümer, nicht hingegen zwischen dem TVU und dem Endverbraucher. Trinkwasser ist wie Gas und Strom zum sofortigen Verbrauch bestimmt. Daraus ergeben sich zwangsläufig Besonderheiten bei der Geltendmachung von Käuferrechten, denn aufgrund seiner Eigenschaft als zum sofortigen Verbrauch bestimmt scheidet regelmäßig eine Nacherfüllung im Sinne des § 437 Nr. 1 BGB aus. Ein Vertragsrücktritt im Sinne des § 437 Nr. 2 1. Alternative BGB im Falle der Lieferung von Trinkwasser, das nicht den geforderten Kriterien entspricht, scheidet ebenfalls aus. Dies scheitert regelmäßig bereits daran, dass es aufgrund der Monopolstellung des TVU kein Konkurrenzangebot gibt, auf das der Käufer zurückgreifen kann. Die dem Käufer normalerweise zustehenden Gewährleistungsrechte im Falle der Mangelhaftigkeit des gelieferten Trinkwassers werden de facto auf das Recht zur Preisminderung sowie die Geltendmachung von Schadenersatz reduziert. Als vereinbarte Beschaffenheit im Sinne des § 434 Abs. 1 BGB ist davon auszugehen, dass das vom TVU gelieferte Trinkwasser den vom Gesetzgeber geforderten qualitativen Standards, definiert in § 4 TrinkwV2001, entspricht.
__________ 90 Zur analogen Anwendbarkeit des Kaufrechts bei Lieferungen durch öffentliche Versorgungsträger, vgl. V. 1. insbesondere BGH v. 4.10.1972 (Fn. 56) zitierte Entscheidung des BGH. 91 Vgl. hierzu die Ausführungen unter III. 1. a. 92 S. hierzu die Ausführungen unter IV. 2.
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Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser
Danach gilt für das Trinkwasser zwingend als vereinbart, dass es frei von Krankheitserregern, genusstauglich und rein sein muss, § 4 Abs. 1 Satz 1 TrinkwV2001. Diese Bedingung gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 TrinkwV2001 als erfüllt, wenn bei der Wassergewinnung, der Aufbereitung und der Verteilung die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten sind und die vom Gesetzgeber in den §§ 5–7 TrinkwV2001 festgelegten Parameter eingehalten worden sind. Die Einhaltung dieser Beschaffenheitskriterien für das zu liefernde Trinkwasser wird bei Abschluss des Vertrages durch das TVU zugesichert. § 4 Abs. 3 Satz 1 AVBWasserV ist durch den Gesetzgeber als eine „muss“-Vorschrift ausgestaltet worden. Aufgrund dieser normierten Pflicht des TVU zur Lieferung des Trinkwassers in der vereinbarten Beschaffenheit, kann der Käufer, d. h. in aller Regel der Grundstückseigentümer bzw. Anschlussnehmer, davon ausgehen, dass das angelieferte Trinkwasser auch der vertraglich vereinbarten Beschaffenheit entspricht. Weicht das vom TVU gelieferte Trinkwasser von diesen fest vereinbarten Qualitätskriterien ab, so ist davon auszugehen, dass das Trinkwasser nicht die vereinbarten Beschaffenheiten aufweist, es also mit einem Mangel behaftet ist. Stellt das TVU im Rahmen seiner vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Kontrollen im Sinne des § 14 TrinkwV2001 fest, dass das produzierte Trinkwasser nicht den vom Gesetzgeber geforderten Qualitätskriterien entspricht, unterliegt das TVU einem Abgabeverbot, welches sich direkt aus § 4 Abs. 2 und 3 TrinkwV2001 ableitet93. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist § 4 Abs. 2 TrinkwV2001 sogar als Verbotsnorm ausgestaltet worden94. Für eine nicht unverzügliche Unterbrechung der Belieferung des Anschlussnehmers haftet das TVU direkt aus § 6 Abs. 1 AVBWasserV, § 280 BGB. § 280 BGB findet ausdrücklich auch Anwendung auf ein als öffentlichrechtliches Schuldverhältnis ausgestaltetes Vertragsverhältnis zwischen einem TVU, das als Eigenbetrieb der Kommune geführt wird, und dem Grundstückseigentümer95. Die Anwendbarkeit des § 280 BGB hat gerade in diesen Fällen den Vorteil, dass sich ein gemeindlich geführter Eigenbetrieb nicht mit Hinweis auf das Haftungsprivileg des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB exkulpieren kann, sondern voll nach den Vorschriften der §§ 276, 278 BGB für den Schaden des Anschlussnehmers haftet96.
__________ 93 Mehlhorn, „Die Pflichten des Wasserversorgungsunternehmens nach der Trinkwasserverordnung“ in Grohmann/Hässelbarth/Schwerdtfeger „Die Trinkwasserverordnung“ 4. Aufl., 61; Seeliger in Oehmichen/Schmitz/Seeliger „Die neue Trinkwasserverordnung, 2. Aufl., WVGW, 29. 94 Amtlicher Kommentar zur TrinkwV2000, gültig ab 1.1.2003, Drucksache 721/00 mit Auszug zu relevanten Themen der Betriebs- und Regenwassernutzung, 42-100, www. regenwater.com/industries.htm, 57. 95 Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 280 BGB S. 367 Rz. 11 m. w. N. 96 BGH, BGHReport 2007, 206, Volltext in DRsp Nr. 2007/679, Rz. 8 ff. m. w. N.; Grüneberg in Palandt, 69. Aufl., § 280 BGB S. 367 Rz. 10 m. w. N.
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Verletzt das TVU seine Pflicht, nur Trinkwasser auszuliefern, das den normierten Qualitätskriterien entspricht, entweder weil die Mängel im Rahmen der Kontrollen nicht festgestellt worden sind oder aber die Kontrollen rechtswidrig unterlassen wurden, so löst dies die Haftung des TVU nach § 823 BGB aus, da der BGH die TrinkwV2001 als ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ansieht97. In der Praxis wird davon ausgegangen, dass das von den TVU ausgelieferte Trinkwasser grundsätzlich den vom Gesetzgeber geforderten Qualitätskriterien entspricht, mithin frei von Mängeln im Sinne des § 434 BGB ist, und der Anschlussnehmer, also in aller Regel der Grundstückseigentümer, auch hierauf vertrauen kann. Diese Aussage ist von erheblicher Bedeutung für das Vertragsverhältnis zwischen dem Grundstückseigentümer und seinen Mietern, Pächtern und Nutzern. Entspricht das Trinkwasser am Zapfhahn des Verbrauchers nicht der vereinbarten Beschaffenheit, ist also mit einem Sachmangel im Sinne des § 434 Abs. 1 BGB behaftet, wird vermutet, dass die Ursache in einer nicht ordnungsgemäßen Trinkwasserinstallation des Grundstückseigentümers zu suchen ist, er mithin gegenüber seinem Vertragspartner haftet98. Die Haftung des Grundstückseigentümers99 für die Beschaffenheit des angelieferten Trinkwassers ergibt sich aus folgender Rechtslage: Die Verantwortung des Grundstückseigentümers für die Trinkwasserqualität beginnt nach dem Willen des Gesetzgebers direkt am Übergabepunkt auf seinem Grundstück, § 3 Nr. 3 TrinkwV2001100. Er erfasst das gesamte Verteilungssystem auf dem Grundstück zwischen der in aller Regel am Übergabepunkt angebrachten Wasseruhr und dem Wasserhahn des Endverbrauchers, §§ 5 Abs. 1 Satz 1, 10 Abs. 1 Satz 1, 12 AVBWasserV101. Dieses Verteilungssystem ist für den Grundstückseigentümer deshalb von Bedeutung, weil sich aus § 8 Nr. 1 TrinkwV2001 eindeutig ergibt, dass die in den §§ 5–7 TrinkwV2001 bestimmten Parameter am Wasserhahn des Endverbrau-
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97 Sprau in Palandt, 69. Aufl., § 823 BGB S. 1303 Rz. 71 m. w. N.; BGH v. 25.1.1983, Volltext in DRsp Nr. 2002/15600, Rz. 13; diese Entscheidung des BGH ist zwar noch zur Vorgängervorschrift der aktuellen TrinkwV2001 ergangen, jedoch kann man davon ausgehen, dass sich die Auffassung der Rechtsprechung hierzu nicht verändert hat. 98 So ausdrücklich Schwarz, Die Haftungsfragen sind geklärt, in „Der Immobilienverwalter“, 2007, 96. 99 Der Begriff Grundstückseigentümer wird hier zugleich als Synonym für Wohnungsverwalter, die gerade für größere Wohnanlagen sehr häufig eingesetzt werden, verwendet, da auch diesen ggf. eine gesamtschuldnerische Haftung treffen kann. Hierzu weiterführend Schwarz (Fn. 98); Fischer, „Anlagen der Hausinstallation nach § 3 (2) c Trinkwasserverordnung: Erfahrungen mit der Umsetzung der TrinkwV im Bereich der Wohnungswirtschaft“ in GWF-Wasser/Abwasser, 2008, 215. 100 Amtlicher Kommentar zur TrinkwV2000 (Fn. 94), 55. 101 S. hierzu weiterführend Mehlhorn (Fn. 93), 59 ff. Die Hauswasserinstallation darf aber nicht verwechselt werden mit dem Hauswasseranschluss im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 2 AVBWasserV. Der Hauswasseranschluss (oft auch als Hausanschluss bezeichnet) selbst steht im Eigentum des TVU, und zwar selbst dann, wenn er sich auf dem Grundstück befindet. Dies hat der BGH entschieden. BGH, BGHReport 2008, 431 (LS), Volltext unter DRsp Nr. 2008/4505, Rz. 15 m. w. N.
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Verbraucherrechte bei der Versorgung mit Trinkwasser
chers einzuhalten sind und der Gesetzgeber darüber hinaus festgelegt hat, dass der Grundstückseigentümer außerdem für die Einhaltung aller maßgeblichen Rechtsvorschriften bei der Errichtung, Änderung, Unterhaltung und Erweiterung des Hausanschlusses die volle Verantwortung auch für die Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik trägt, §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1, 12 Abs. 4 AVBWasserV, § 4 Abs. 1 TrinkwV2001102. Da davon auszugehen ist, dass dem Grundstückseigentümer und/oder dem Anschlussnehmer regelmäßig die erforderlichen Kenntnisse fehlen, um die Beschaffenheit des Trinkwassers zu prüfen, ist er weiterhin verpflichtet, laufend die Qualität des Trinkwassers in der Hausinstallation untersuchen zu lassen, und zwar durch entsprechend zugelassene Unternehmen, § 14 TrinkwV2001103. Resümierend bleibt festzustellen, dass u. a. dem Grundstückseigentümer durch den Gesetzgeber in der TrinkwV2001 umfangreiche Verpflichtungen auferlegt worden sind, deren Nichteinhaltung Schadenersatzansprüche des Geschädigten auslöst104.
VI. Fazit Es ist davon auszugehen, dass sich in den nächsten Jahren im Trinkwassermarkt einiges bewegen wird, und zwar in Richtung einer vorsichtigen Deregulierung im Sinne eines Wettbewerbs um den Markt. Woher der erste Anstoß kommt, ob durch ein Tätigwerden des Gesetzgebers oder aber durch die Rechtsprechung, bleibt abzuwarten.
__________ 102 Hierzu weitergehend Gollnisch u. a., Wechselwirkungen zwischen Zivilrecht und der Trinkwasserverordnung, in HLH Sonderdruck 2007, 3 f. m. w. N. Die Verantwortung des TVU kann allerdings aufgrund einer speziellen Vereinbarung mit dem Grundstückseigentümer im Einzelfall auch noch früher enden. Dies ergibt sich direkt aus § 10 Abs. 1 Satz 1 AVBWasserV. Ausführlich Seeliger (Fn. 93), 38. 103 Im Einzelnen dazu Seeliger (Fn. 93), S. 54 ff.; weiterführend Moll, Die Regelungen für die Hausinstallation nach der Trinkwasserverordnung der AVBWasserV und der DIN 1988, in Grohmann/Hässelbart/Schwerdtfeger (Fn. 93), 75 ff.; Oemichen, Umfang und Häufigkeit von Untersuchungen, in Oemichen/Schmitz/Seeliger (Fn. 93), 136 ff. 104 Neben einer Haftung des Grundstückseigentümers kann auch u. U. die Haftung weiterer Personenkreise für Mängel an einer Trinkwasserhausinstallation in Betracht kommen, wenn festgestellt wird, dass eine geplante und errichtete Hausinstallation nicht den Anforderungen der TrinkwV2001 entspricht. Auch Produkthaftungsansprüche gegen den Produzenten entsprechender Komponenten für die Hauswasserinstallation sind denkbar. Da der Gesetzgeber gemäß § 8 Nr. 1 TrinkwV2001 bestimmt hat, dass der maßgebliche Ort für die Einhaltung der vorgegebenen Trinkwasserqualität, der Wasserhahn des Endverbrauchers ist, ergeben sich hieraus auch Mietminderungsansprüche des Mieters, wenn an seinem Wasserhahn das Trinkwasser kontaminiert ist. Der Vermieter ist demzufolge auch vertraglich verpflichtet, den Mietern nur Trinkwasser zur Verfügung zu stellen, dass den Anforderungen der §§ 5 ff. TrinkwV2001 entspricht. Dies ergibt sich als Nebenpflicht des Vermieters aus §§ 535 ff. BGB. S. hierzu Weidenkaff in Palandt, 69. Aufl., § 535 BGB S. 763 Rz. 65 m. w. N.
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Der BGH hat mit seiner Entscheidung vom 2.2.2010 einen Weg aufgezeichnet, wie im Rahmen der bestehenden Rechtslage versucht werden kann, die Preisgestaltung der lokalen und als Monopole organisierten TVU einer kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle zu unterziehen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Landeskartellbehörden bzw. die jeweilige Kommunalaufsicht, bei öffentlichrechtlich organisierten TVU, die ihnen nunmehr an die Hand gegebenen Möglichkeiten nutzen. Damit besteht dann aber für die Verbraucher die realistische Möglichkeit auf sinkende Trinkwasserpreise hoffen zu können.
VII. Statt eines Schlusswortes Der Verfasser hat in dem vorstehenden Beitrag den Versuch unternommen, kursorisch den Trinkwassermarkt in der Bundesrepublik unter verschiedenen rechtlichen und nicht rechtlichen Aspekten zu beleuchten. Um eine möglichst umfassende Darstellung der Problematik zu gewährleisten war es leider aus Platzgründen nicht möglich, einzelne, vor allem auch rechtliche, Aspekte vertiefend auszuführen. In diesem Sinne, lieber Fritz, Herzlichen Glückwunsch zu Deinem 70. Geburtstag und ad multos annos.
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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB? Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Regelungen, die das vorvertragliche Schuldverhältnis betreffen III. Einseitige Erklärungen 1. Einseitige Erklärungen als Bestandteil weitergehender Allgemeiner Geschäftsbedingungen 2. Einseitige Erklärungen des Verwenders
3. Einseitig vorformulierte Erklärungen, die nicht Bestandteil von weitergehenden Regelwerken sind IV. Aufforderung zur Abgabe von Angeboten 1. Anwendbarkeit der Regeln über Allgemeine Geschäftsbedingungen 2. Die Unterlassungsklage 3. Lösung des Ausgangsfalls V. Zusammenfassung
I. Fragestellung Nach § 305 Abs. 1 BGB sind Allgemeine Geschäftsbedingungen vorformulierte Vertragsbedingungen. Diese Definition erscheint jedenfalls auf den ersten Blick hinreichend klar. Denn was Vertragsbedingungen sind, steht im Grundsatz fest: Es sind eben Regelungselemente eines Vertrages. Ob dies aber wirklich alles ist, was als Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB anzusehen ist, erwies sich schon bald als unsicher. Es stellte sich die Frage, ob auch einseitige Erklärungen, die der Verwender der Allgemeinen Geschäftsbedingungen für den Adressaten oder für sich vorformuliert, unter die Norm fallen. Auch war zu klären, ob Absprachen, die das vorvertragliche Schuldverhältnis betreffen, in den Regelungsbereich der Norm fallen. Anfang 2009 hatte der BGH1 dann eine weitere Fallkonstellation, in der es darum ging, ob eine Klausel als Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB anzusehen ist, zu entscheiden. In einem Versandkatalog fand sich der Hinweis: „Änderungen und Irrtümer vorbehalten. Abbildungen ähnlich.“ Hiergegen ging der Bundesverband der Verbraucherzentralen mit der Unterlassungsklage vor. Der BGH hat diese Klage mit der Begründung abgewiesen, es handle sich bei den Katalogangaben nicht um AGB. Es fehle an einer Erklärung des Verwenders, die bei dem Empfänger den Eindruck erwecken könne, es solle damit der Inhalt eines Rechtsverhältnisses bestimmt werden. Denn der Hinweis verdeutliche lediglich den werbenden und unverbindlichen Charakter der Katalogangaben. Die Herausgabe des Katalogs stelle noch kein verbindliches Angebot zum Abschluss eines Vertrages dar, sondern sei lediglich eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten.
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1 MDR 2009, 556.
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Im Weiteren wird der Frage nachgegangen, ob dieser Judikatur zu folgen ist. Dafür muss geklärt werden, was unter Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB zu verstehen ist.
II. Regelungen, die das vorvertragliche Schuldverhältnis betreffen Mittlerweile entspricht es der h. M., dass auch Vereinbarungen, die das vorvertragliche Schuldverhältnis betreffen, Allgemeine Geschäftsbedingungen sein können2. Hierzu zählen Vertragsabschlussklauseln, also Klauseln, die sich mit den Voraussetzungen des Vertragsabschlusses befassen, sowie Regelungen, die sich auf das vorvertragliche Schuldverhältnis beziehen (z. B. Bestimmungen über die Taschenkontrolle im Supermarkt3). Zwar findet man immer wieder den Hinweis, von Vertragsbedingungen könne man streng genommen noch nicht sprechen4. Aber das trifft nicht zu. Denn vertragliche Absprachen können auch den vorvertraglichen Bereich regeln und da § 305 BGB unstreitig für Verträge mit beliebigem Inhalt gilt (etwa auch für Verfügungsgeschäfte und prozessuale Vereinbarungen), kommt es folglich auch nicht darauf an, ob der geregelte Bereich sich auf den Zeitraum vor Abschluss (eines weiteren) Vertrages bezieht oder nicht5. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Fall betrachtet, dass ein weiterer Vertrag nicht zustande kommt. So würde es etwa liegen, wenn im Eingangsbereich eines Supermarkts ein Schild zum Einschließen der Taschen auffordert und für den Fall, dass dem nicht nachgekommen wird, eine Taschenkontrolle für möglich erklärt wird. Die Frage, ob es sich insoweit um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, kann ersichtlich nicht davon abhängen, ob der Besucher des Supermarktes späterhin tatsächlich etwas kauft oder nicht. Daher können etwa auch Absprachen, nach denen bei Nichtabschluss eines Vertrages eine „Entschädigung“ zu leisten ist, Allgemeine Geschäftsbedingungen enthalten6. Demgemäß ist im Bereich vorvertraglicher Regelungen auch mit einer wortlautkonformen Auslegung von § 305 Abs. 1 BGB auszukommen. Es handelt sich in der Tat um vertragliche Regelungen. Der Inhalt dieses Vertrages bezieht sich auf ein vorvertragliches Schuldverhältnis.
__________ 2 BGHZ 104, 95, 99; BGH, NJW 2005, 1515; Berger in Prütting/Wegen/Weinreich, 4. Aufl. 2009, § 305 BGB Rz. 1; Grünberger, JURA 2009, 249, 253; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2008, § 305 BGB Rz. 9; Roloff in Erman, 12. Aufl. 2008, § 305a BGB Rz. 5; Schlosser in Staudinger, 2006, § 305 BGB Rz. 11; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl., Rz. 110; von Westphalen, NJW 1994, 367, 367. 3 Auch BGHZ 133, 184, 187 sieht darin Allgemeine Geschäftsbedingungen. Von Westphalen, NJW 1994, 367, 367 f. hält eine solche Klausel aber gemäß § 9 Abs. 1 AGBG = § 307 Abs. 1 BGB n. F. für unwirksam. 4 Stoffels (Fn. 2), Rz. 111. 5 Ausführlich Grunewald, ZIP 1987, 353. 6 Pfeiffer (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 14.
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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB?
III. Einseitige Erklärungen 1. Einseitige Erklärungen als Bestandteil weitergehender Allgemeiner Geschäftsbedingungen Allgemeine Geschäftsbedingungen können auch einseitige Erklärungen umfassen7. Diese können rechtsgeschäftlicher wie auch nicht rechtsgeschäftlicher Natur sein. Solche einseitigen Erklärungen liegen etwa vor, wenn im Rahmen eines Klauselwerkes Tatsachen bestätigt oder Empfangsbekenntnisse abgegeben werden, ein Patient seine Einwilligung in eine ärztliche Behandlung oder eine Obduktion erteilt, wenn dem Verwender Werbung oder Beratung gestattet, eine Vollmacht erteilt wird oder wenn der Verwender eine Widerrufsbelehrung vornimmt, einen Hinweis auf die Rechtslage gibt oder Gewinnzusagen macht. Wollte man die in einem umfassenden Regelwerk enthaltenen einseitigen Erklärungen nicht als Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB verstehen, hätte dies zur Folge, dass diese einer gesonderten Behandlung zu unterziehen wären und man infolgedessen das Regelwerk zerstückeln müsste. Sinnzusammenhänge würden dann auseinander gerissen. Das wäre wenig sachgerecht. Hinzu kommt, dass auch die Rechtsstellung des Adressaten der Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch ihm vorgezeichnete einseitige Erklärungen nicht weniger belastet wird als durch zweiseitige Absprachen8. Denn: Die einseitigen Erklärungen sind ja gerade Teil der Ausgestaltung – meist Einschränkung – der Rechtsstellung des Adressaten. Es wäre alles andere als überzeugend, gerade diesen Teil des Regelwerks nur deshalb nicht als AGB zu behandeln, weil er auch unabhängig von vertraglichen Absprachen formulierbar gewesen wäre. Hinzu kommt, dass auch diese einseitigen Erklärungen Teil der Vertragsbedingungen sind und daher unter den Wortlaut von § 305 Abs. 1 BGB subsumiert werden können. Auch enthält das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in § 309 Nr. 12b BGB selbst eine Regelung, die sich auf die Bestätigung von Tatsachen und damit auf eine einseitige Erklärung bezieht. Auch dies zeigt, dass auch einseitige Erklärungen unter den Begriff der Vertragsbedingung in § 305 Abs. 1 BGB fallen können. 2. Einseitige Erklärungen des Verwenders Dies wird für einseitige Erklärungen des Verwenders bisweilen anders gesehen. Es wird gesagt, dass das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen dann keine Anwendung finde, da der Erklärende mit der Vorformulierung keine
__________ 7 BGHZ 141, 124, 126 (Telefonwerbungsklausel); BGH, NJW 2000, 2677 (Beratung bei Kontoeröffnung); BGH, NJW 1986, 2428 (Überweisungsformular); BGH, NJW 1987, 2011 (Überziehungsvollmacht); Basedow in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 305 BGB Rz. 9; Becker in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 305 BGB Rz. 12; Berger (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 3; Kollmann in AnwaltsKomm.BGB, 2005, § 305 BGB Rz. 7; Möllers, JZ 1999, 1124; Pfeiffer (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 11; Roloff in Erman (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 6; Trinkner in Löwe/von Westphalen/Trinkner, AGBG-Komm., § 1 Rz. 7. 8 Kollmann (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 7.
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fremde, sondern lediglich eigene Gestaltungsmacht in Anspruch nehme9. Aber das überzeugt nicht10. Denn das gesamte Schutzkonzept der Sonderregeln für Allgemeine Geschäftsbedingungen beruht auf der Beobachtung, dass die Vorformulierung die Gefahr einseitiger Ausnutzung der Vertragsgestaltungsfreiheit zu Lasten des Kunden mit sich bringt11, und genau diese Gefahr besteht eben auch, wenn der Verwender durch Vorformulierung seine Rechtstellung durch einseitige Erklärungen ausgestaltet. Dass der Verwender seine eigene Gestaltungsmacht nutzt, ändert daran nichts. Vielmehr ist das bei der Vorformulierung von Vertragsbedingungen nicht anders. Allein die Tatsache, dass in Bezug auf einseitige Erklärungen eine irgendwie geartete Annahme des Kunden nicht erforderlich ist, macht sie ja für ihn nicht weniger riskant. Im Gegenteil: Es entfällt gerade auf Grund der Einseitigkeit der Erklärung dieses Korrektiv der Akzeptanz durch den Kunden. Auch der BGH hatte schon einmal über eine einseitige Erklärung des Verwenders zu entscheiden. In Rede stand die Empfangsvollmacht eines Versicherungsagenten12. In dem Urteil wird ausgeführt, dass der Verwender mit einer Beschränkung der Empfangsvollmacht seines Agenten nur seine eigenen Verhältnisse und nicht die des Vertragsgegners regelt. Dies – so das Urteil – sei aber im zu entscheidenden Fall nicht relevant, da die Empfangsvollmacht des Versicherungsagenten eine gesetzliche Ausgestaltung erfahren habe. Daher sei eine Inhaltskontrolle unabhängig davon angebracht, dass es sich um eine einseitige Erklärung des Verwenders handle. Entgegen der Annahme des Bundesgerichtshofs kann es darauf, ob eine gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses vorliegt, schon deshalb nicht ankommen, weil zwingendes Recht stets zu beachten ist und dispositives Recht immer zur Verfügung steht. Davon, ob dieses mehr oder weniger detailliert ausformuliert ist, hängt aber die Schutzbedürftigkeit des Adressaten nicht ab. Daher bleibt es dabei, dass jedenfalls jede einseitige Erklärung, die Bestandteil eines Regelwerks ist, Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB ist. In einer Entscheidung aus dem Jahr 200913 hat der BGH eine Widerrufsbelehrung und damit eine einseitige Erklärung unter Hinweis darauf, dass sie Teil der Allgemeinen Geschäftsbedingungen sei, der Inhaltskontrolle unterzogen. Dem ist mit der Begründung, dass diese Widerrufsbelehrung keine Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB sei, widersprochen worden14. Denn
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9 Basedow (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 9; Becker (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 14; Berger (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 3; Grünberger, JURA 2009, 249, 253; Heinrichs, NJW 1997, 1408; Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 305 BGB Rz. 18; a. A. Beckmann, NJW 1996, 1378, 1379. 10 Kritisch auch Kollmann (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 8; einschränkend Roloff in Ermann (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 6: erforderlich sei ein Eingreifen in die Rechtsposition des Kunden. Das hat im Ergebnis eine Überprüfung aller erheblichen einseitigen Erklärungen des Verwenders zur Konsequenz, da für Klauseln, die den Kunden besser stellen, die Frage, ob §§ 305 ff. BGB gelten, irrelevant ist. 11 Ulmer (Fn. 9), Einl. Rz. 48. 12 NJW 1999, 1634, 1635; im Ergebnis ebenso BVerwG, NJW 1998, 3216, 3218. 13 ZIP 2009, 362. 14 Corzelius, EWiR 2009, 243, 244 = § 2 HWiG a. F., 1/09.
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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB?
schließlich bestehe das Widerrufsrecht qua Gesetz und die Belehrung weise lediglich auf diese Rechtslage hin. Nun ist ein korrekter Hinweis auf die Rechtslage sicher stets unproblematisch. Aber es geht ja genau darum, die Kriterien zu nennen, an Hand derer zu bestimmen ist, ob der Hinweis ordnungsgemäß ist sowie die Rechtsfolgen festzulegen, falls er es nicht ist. Es muss also zuerst geklärt werden, ob Allgemeine Geschäftsbedingungen vorliegen oder nicht. Erst danach geht es darum, ob die Erklärung inhaltlich in Ordnung ist und Bestand hat. Denn je nach dem, um welche Art von Regelungen es sich handelt, ist die Überprüfungsdichte unterschiedlich. Aus demselben Grund kann auch nicht mit der Begründung, die Anwendung von §§ 305 ff. BGB sei „nicht erforderlich“, der AGB-Charakter (konkret einer Gewinnzusage) verneint werden15. Damit ergibt sich, dass dem BGH in Bezug auf die Überprüfung der Widerrufsbelehrung zu folgen ist: Auch einseitige Erklärungen und auch bloße rechtliche Hinweise unterliegen jedenfalls dann, wenn sie Bestandteil eines Klauselwerkes sind, der Inhaltskontrolle. Entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht, gilt dies auch nicht nur für einseitige Erklärungen gegenüber einem Verbraucher16. Die in § 310 Abs. 3 BGB enthaltenen Sonderregeln für Verbraucherverträge treffen insofern keine Bestimmung und auch sonst beruht das hier entwickelte Ergebnis nicht auf Wertungen, die nur für Verbraucher einschlägig sind. 3. Einseitig vorformulierte Erklärungen, die nicht Bestandteil von weitergehenden Regelwerken sind Wenn einseitige Erklärungen nicht Bestandteil von darüber hinaus gehenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind, kann es nur noch um eine analoge Anwendung von § 305 Abs. 1 BGB gehen. Denn Vertragsbedingungen stehen dann mangels Vertrages nicht zur Debatte. Gleichwohl kann das Ergebnis kein anderes sein. Es kommt bei einseitigen Erklärungen nicht darauf an, ob sie mit genuin vertraglichen Absprachen eine Einheit bilden oder nicht. Denn die Schutzbedürftigkeit des Adressaten hängt davon nicht ab. Dies entspricht auch der ganz h. M.17.
IV. Aufforderung zur Abgabe von Angeboten 1. Anwendbarkeit der Regeln über Allgemeine Geschäftsbedingungen In dem eingangs geschilderten Fall des Bundesgerichtshofes ging es um Katalogangaben, die auf mögliche Änderungen und Irrtümer hinwiesen und diese
__________ 15 A. A. Roloff in Erman (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 6; offen OLG München, NJW 2004, 1672. 16 So Heinrichs, NJW 1997, 1407, 1408. 17 BGHZ 141, 124, 126; BGH, NJW 2000, 2677; Basedow (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 9; Ulmer (Fn. 9), § 305 BGB Rz. 16; a. A. wohl OLG Stuttgart, NJW 1979, 222, 223.
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für unbeachtlich erklärten. Diese Klausel hielt der BGH wie ausgeführt nicht für kontrollfähig. Zutreffend weist das Urteil darauf hin, dass Katalogangaben nichts weiter als eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten enthalten. Die erste gezielt auf den Vertragsschluss gerichtete Willenserklärung (Angebot) liegt im Regelfall in der Bestellung des Kunden. Dieses Angebot nimmt der Katalogherausgeber dann durch Versand des gewünschten Artikels oder durch eine „Auftragsbestätigung“ an. Doch folgt aus dieser Art des Vertragsschlusses keineswegs, dass die Katalogangaben für die Bestimmung des Vertragsinhalts irrelevant wären. In der Praxis – und eben auch in dem der Unterlassungsklage zu Grunde liegenden Fall – wird der Besteller davon ausgehen, dass die Hinweise verbindlich sind – womit er nach einer Bestellung, jedenfalls wenn er das übliche vorgedruckte Angebotsformular nutzt18, ja auch richtig liegt. Denn sein Angebot ist auf dem Hintergrund des Katalogs zu verstehen. Der Kunde bestellt zu den dort genannten Bedingungen die aufgeführten Artikel. Und genau zu diesem Angebot des Kunden erklärt der Katalogherausgeber sein Einverständnis. Daher steht auch außer Zweifel, dass nach Vertragsschluss Katalogangaben als Allgemeine Geschäftsbedingungen zu verstehen sind19. Dass es sich irgendwann einmal um eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten gehandelt hat, interessiert dann nicht mehr. Sollte es nicht zum Vertragsschluss kommen (etwa weil der Verkäufer eine andere als die bestellte Ware versendet und daher lediglich gemäß § 150 Abs. 2 BGB ein neues Angebot abgibt), ändert dies nichts daran, dass AGB vorliegen! Denn auch einseitige Erklärungen des Verwenders können – wie geklärt – AGB sein. Gleich zu entscheiden wäre etwa bei einem Plakat, das für eine Veranstaltung wirbt und neben der Verkaufsstelle aushängt. Zwar enthält auch ein Plakat nichts weiter als eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten. Nach Vertragsschluss ist der Vertragsinhalt aber auf diesem Hintergrund zu ermitteln und daher eine Klausel, die dem Veranstalter beispielsweise Änderungen der Veranstaltung offen hält, an § 308 Nr. 4 BGB zu messen. Damit scheint die Gefahr zu bestehen, dass eine große Anzahl von vorformulierten Texten als Allgemeine Geschäftsbedingungen zu verstehen und damit gegebenenfalls der Kontrolle zu unterwerfen wären. Denn viele Texte können für den Vertragsinhalt relevant werden. Zu denken ist insbesondere an die Werbung. Für Kaufverträge bestimmt § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB ja sogar explizit, dass die Beschaffenheitsvereinbarung in Bezug auf die Kaufsache im Lichte der Werbung verstanden werden soll. Das führt zu der Frage, ob auch diese Texte jedenfalls nach Vertragsschluss als Allgemeine Geschäftsbedingungen zu verstehen sind.
__________ 18 BGH, NJW 2005, 3567, 3568 (Internetversandhandel); Ulmer (Fn. 9), § 305 BGB Rz. 132. 19 Ausdrücklich Kollmann (Fn. 7), § 305 BGB Rz. 5; ohne Einschränkung auf die Zeit nach Vertragsabschluss Ulmer (Fn. 9), § 305 BGB Rz. 11a.
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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB?
Für die meisten Werbetexte lässt sich dies ohne weiteres verneinen. Sie enthalten keine ernsthaften Angaben, sondern sind nichts weiter als Anpreisungen und offensichtliche Übertreibungen („endlos haltbar“, „der Mercedes unter den Rasierern“)20 und werden auch so von den Adressaten verstanden. Ihr Ziel ist es nicht, die geschuldete Leistung zu definieren. Gerade im Anwendungsbereich von § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB ist dies allgemein anerkannt. Demgemäß sind die genannten Anpreisungen für die Festlegung der geschuldeten Leistung irrelevant21. Bei präzisen Aussagen (PKW verbraucht 6l / 100km) ist dies klar anders. Aber auch insoweit stellt sich regelmäßig die Frage, ob dies Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB sind, nicht. Denn Werbung zielt darauf ab, das Produkt in einem möglichst positiven Licht darzustellen, nicht aber – wie üblicherweise Allgemeine Geschäftsbedingungen – die Rechtstellung des Adressaten zu verkürzen. Daher ist auch der in Bezug auf die Sonderregeln der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ganz im Vordergrund stehende Aspekt des Verbraucherschutzes insoweit nicht einschlägig. Allenfalls die Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB) könnte relevant werden, wobei – wie gesagt – gerade unklare Äußerungen im Bereich der Werbung zur Folge haben, dass sie als bloße Anpreisungen verstanden werden und daher als rechtlich nicht relevant anzusehen sind. Auch bleibt zu bedenken, dass sich die Inhaltskontrolle gegen den Verwender richtet. Sind die AGB von Dritten aufgestellt, so setzt dies voraus, dass sich die Vertragspartei die Klauseln zurechnen lassen muss22. 2. Die Unterlassungsklage Gemäß § 1 UKlaG kann der Verwender unwirksamer Allgemeiner Geschäftsbedingungen auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. In dem eingangs geschilderten Urteil des BGH zu Prospektangaben heißt es, der genannten Änderungs- und Irrtumsklausel sei wettbewerbsrechtlich zu begegnen. In der Tat könnte man daran denken, Allgemeine Geschäftsbedingungen, die zugleich Werbung sind, aus dem Anwendungsbereich von § 1 UKlaG herauszunehmen und die Betroffenen auf den Rechtsschutz des UWG zu verweisen. Dies setzt allerdings voraus, dass man genau sagen kann, was Werbung ist und folglich allein an Hand des UWG zu messen wäre. Diese Abgrenzung ist meines Erachtens nicht zu leisten, da alle Vertragsbedingungen auch zur Werbung genutzt werden können. Hinzu kommt, dass eine solche Sonderbehandlung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die zugleich Werbung sind, auch nicht gerechtfertigt wäre. Denn letztlich bereitet
__________ 20 Beispiele bei Faust in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 434 BGB Rz. 83, der die Aussage, der Mercedes unter den Rasierern für konkret genug hält; Beispiele auch bei Grunewald in Erman, 12. Aufl. 2008, § 434 BGB Rz. 24. 21 Grunewald (Fn. 20), § 434 BGB Rz. 24; Westermann in MünchKomm.BGB, 5. Aufl., § 434 BGB Rz. 22. 22 BGH, NJW 1994, 2825, 2826; Schlosser (Fn. 2), § 305 BGB Rz. 28.
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Barbara Grunewald
die Eröffnung beider Rechtsschutzmöglichkeiten, sowohl nach den Regeln des UWG wie auch nach den Regeln des UKlaG, keine unlösbaren Probleme. Demgemäß entspricht es der h. M., dass beide Normenkomplexe nebeneinander zur Anwendung kommen23. 3. Lösung des Ausgangsfalls Wie dargelegt steht allein die Tatsache, dass die vorformulierte Klausel in einem Versandkatalog enthalten war, der Annahme, es handle sich um eine Vertragsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB, nicht entgegen. Somit ist die Klausel entgegen der Annahme des BGH einer Inhaltskontrolle zu unterziehen. Der BGH hat in seinem Urteil auch ausgeführt, dass die Klausel auch inhaltlich nicht zu beanstanden sei, da sie nur das wiederhole, was sowieso gelte, nämlich dass der Katalogherausgeber vor Annahme eines Angebots des Kunden nicht an die Katalogangaben gebunden sei. Ob die Klausel von den Kunden wirklich so verstanden wird, erscheint aber eher fraglich. Im Möbelhandel finden sich beispielsweise ganz ähnliche Klauseln (sog. Abweichungsklauseln24), die allgemein als Leistungsbeschreibung verstanden werden. Der BGH hat die Klausel: „Sollte ein bestimmter Artikel nicht lieferbar sein, senden wir Ihnen in Einzelfällen einen qualitativ und preislich gleichwertigen Artikel (Ersatzartikel) zu“ selbst dahingehend verstanden, dass der Verwender es sich vorbehalte, einen Ersatzartikel als vertragsgemäße Leistung zu liefern25. Nun lagen in dem Fall einige Besonderheiten vor: Die Klausel fand sich unter der Rubrik „Gewährleistung“ und war mit einem Rückgaberecht des Kunden, das innerhalb von 14 Tagen auszuüben war, verbunden. Aber die Grundaussage, dass jedenfalls bei der im Unterlassungsklageverfahren gebotenen kundenfeindlichsten Auslegung (§ 305c Abs. 2 BGB) die Klausel auch so verstanden werden kann, dass Änderungen auch nach Vertragsschluss hinzunehmen seien, gilt auch im Katalogfall26. Das hat zur Folge, dass § 308 Nr. 4 BGB eingreift. Der in Folge dessen vorzunehmenden Interessenabwägung hält die Klausel schon deshalb nicht stand, weil kein Interesse des Verwenders erkennbar ist, das zur Gestattung noch nicht einmal näher spezifizierter Änderungen führen könnte27. Sollte es dagegen auf Grund der Zusendung einer anderen als der bestellten Ware nicht zum Vertragsschluss gekommen sein, scheitert die Klausel an
__________ 23 Hensen in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 1 UKlaG Rz. 2; von Westphalen, NJW 2009, 2355, 2356. 24 Dammann in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., M 161; H. Schmidt in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 308 Nr. 6 BGB. 25 NJW 2005, 3567, 3568, dazu von Westphalen, NJW 2006, 2228, 2231. 26 Allerdings war auch die Vorinstanz OLG Hamm, WM 2008, 499 zu der Annahme gelangt, die Klausel beziehe sich nur auf den vorvertraglichen Bereich. 27 S. zu der generell restriktiven Auslegung von § 308 Nr. 4 BGB H. Schmidt (Fn. 23), § 308 Nr. 4 BGB Rz. 9.
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Was sind Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 BGB?
§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB (Transparenzgebot)28. Denn sie erweckt den Eindruck, dass ein Vertrag bereits geschlossen und der Kunde daher zur Abnahme der Ware verpflichtet sei.
V. Zusammenfassung 1. Absprachen über vorvertragliche Schuldverhältnisse, einseitige Erklärungen des Verwenders und des Adressaten sowie Katalogangaben können Vertragsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB sein. 2. Irrtums- und Änderungsklauseln im Versandhandel unterliegen der Inhaltskontrolle.
__________ 28 Für diesen Hinweis danke ich Wiss. Mit. Anja Käunicke.
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Jürgen Gündisch
Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz Inhaltsübersicht I. Sprache und Stil des Jubilars II. Das Ziel der EU: Verbesserung der Rechtsetzung
III. Die Verwirklichung im Verbraucherschutzrecht IV. Sprache und Stil im Vorschlag einer neuen Verbraucherschutzrichtlinie
I. Sprache und Stil des Jubilars Graf von Westphalen ist Rechtsanwalt und Wissenschaftler. Er ist aber mehr, nämlich Journalist und Philosoph mit Zügen ins Theologische. Die journalistische Ader wird schon an seinem Lebenslauf deutlich. Während seines Studiums in Washington, D.C., berichtete er nebenbei als Auslandskorrespondent für den Rheinischen Merkur. Nach Ende seiner juristischen Ausbildung war er zunächst bei dieser Zeitung außenpolitischer Redakteur, zog dann aber hauptberuflich die Juristerei vor und wurde Syndikus in der Industrie1. Schon das zeigt seine Vielseitigkeit. Vielseitig war der Jubilar aber auch bei seiner juristischen Arbeit. Sein erster Tätigkeitsschwerpunkt war das Produkthaftungsrecht. Es folgten Veröffentlichungen und Mandate zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, zur Bankgarantie im internationalen Handelsverkehr und vor allem eine vielfältige Befassung mit dem Verbraucherschutzrecht, dem Generalthema dieser Festschrift. Neben diesen speziellen Problemen äußerte sich Westphalen aber immer wieder zu allgemeinen Fragen des Rechts und des anwaltlichen Berufs einschließlich seiner europarechtlichen und internationalen Bezüge. Als einige Beispiele seien genannt „Der Mensch im Recht – nur ein Verbraucher?“2, „Vom Bild des Menschen im Recht“3 und „Recht und Macht – ein Zwischenruf“4. In einem Aufsatz „Wie viel Einheitlichkeit braucht das Recht?“5 betonte er, dass die Rechtssprache Teil der kulturellen Identität sei und beklagte das Vordringen der englischen Sprache in grenzüberschreitenden Verträgen. Die Bedeutung der Sprache, hier der freien Rede, war auch Thema seines kritischen Beitrages „Der Fluch der Technik“6. Die Bedeutung des europäischen Rechts,
__________ 1 2 3 4 5 6
Pöllath/Saenger (Hrsg.), Wirtschaftsanwälte in Deutschland, 2009, 234. ZIP 2002, 1327. AnwBl. 2003, 665. AnwBl. 2006, 257. AnwBl. 2005, 21. NJW 2000, 1161.
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Jürgen Gündisch
vor allem mit Blick auf das Verbraucherschutzrecht, stellte er, ebenfalls kritisch, in seinem umfangreichen Aufsatz „Auslegung von Gesetzen. Vom nationalen zum Europäischen Privatrecht“ dar7. Dass seine eigenen Arbeiten angesichts dieser seiner Grundauffassung und seiner journalistische Erfahrung in einer hervorstechend klaren und gleichzeitig lebendigen Sprache verfasst sind, zeigt schon ein kurzer Blick in sein umfangreiches oeuvre. Angesichts dieser Liebe des Jubilars zur Sprache und der Erfahrungen des Autors mit dem Europarecht8 erscheint es angebracht, die europäische Rechtsetzung zum Verbraucherrecht nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern im Blick auf Stil und Sprache zu untersuchen. Denn Sprache und Stil sind für das Verständnis des Rechts und damit für seine Akzeptanz und Durchsetzung von herausragender Bedeutung. Es geht im Folgenden also um die formellen Aspekte der europäischen Rechtsetzung auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes.
II. Das Ziel der EU: Verbesserung der Rechtsetzung Generell war diese formelle Qualität der Rechtsetzung seit vielen Jahren Gegenstand der Aktivitäten der Institutionen der EU, aber auch der Diskussionen in den Mitgliedstaaten. 1. Zunächst ist im Rahmen unseres europarechtlichen Themas zu fragen, ob es im Hinblick auf die formelle Qualität der Rechtsetzung in der Europäischen Union besondere Aspekte gibt, die diese von der Qualität in den Mitgliedstaaten unterscheidet. Der mit europäischen Rechtsnormen seit Jahrzehnten Befasste kann sagen: So unklar nationale Gesetze heutzutage häufig sind, so wird dieser Mangel von den Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft bei weitem übertroffen. Das wird am besten mit einem Zitat von Generalanwalt Manzini in seinen Schlussanträgen vor dem Europäischen Gerichtshof charakterisiert: „Ich bezweifle, dass Marguerite Yourcenar oder Graham Greene bereit wären, sich jeden Morgen, pour prendre le ton, ein paar Rechtsakte der Gemeinschaft durchzulesen, wie Stendhal das mit den Artikeln des Code civil tat. Ich will damit sagen, dass ich zwar die Weisheit des Gemeinschaftsgesetzgebers bewundere, jedoch nicht seine schludrige und allzu oft ungenaue Sprache“9.
Was sind die Gründe für diese „ungenaue Sprache“, die über die nationalen Mängel in der formellen Qualität der Rechtsetzung hinausgeht? Hier ist zuerst die Vielsprachigkeit zu nennen. 25 Amtssprachen erfordern nicht nur eine genaue Übersetzungsarbeit, sie repräsentieren auch Sprachkulturen und sprachliche Stile, die schwer zu vereinheitlichen sind. Für die Verfasser der Entwürfe, vor allem bei Spezialmaterien, ist die zu verwendende Sprache häufig nicht ihre Muttersprache. Wenn klare Gesetzestexte schon in der eigenen Sprache
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7 AnwBl. 2008, 1. 8 Vgl. insbesondere Gündisch/Mathijsen, „Rechtsetzung und Interessenvertretung in der Europäischen Union“, 1999. 9 EuGH v. 28.3.1985 – Rs. 100/84 (Kommission / Vereinigtes Königreich), Slg. 1985, 1169, 1173.
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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz
eine hohe Kunst sind, so wird diese Kunst in einer Fremdsprache zu einem Kunststück. Eine weitere Schwierigkeit liegt in den vielen Beteiligten des europäischen Rechtsetzungsprozesses. Zwar werden auch nationale Gesetze nicht von einem einzigen Gesetzgeber geschaffen, sondern von einer Gesetzgeber-Versammlung, dem Parlament, teilweise unter der Beteiligung anderer (wie z. B. dem Bundesrat in Deutschland und des Senats in den USA). Aber die Vielfalt und die Divergenzen sind in der Europäischen Union wesentlich größer. Das gilt vor allem für den Rat mit seinen aus den Mitgliedstaaten entsandten Beamten und in immer stärkerem Maße auch für das Parlament. Mit dieser Vielfalt der nationalen und politischen Kräfte hängt die Tendenz zum Kompromiss zusammen, ohne den häufig keine Entscheidung getroffen werden könnte. Das ist zwar im Prinzip zu begrüßen. Der Kompromiss bringt aber häufig Unklarheit mit sich. Die Versuchung ist groß, sachlich nicht zu beseitigende Unklarheiten durch mehrdeutige Formulierungen zu überdecken. 2. Die europäischen Institutionen haben diese Mängel und Schwierigkeiten schon lange erkannt und sich um Abhilfe bemüht. Der Europäische Rat hat sich auf der Regierungskonferenz von Edinburgh im Dezember 1992 mit dem Thema befasst und konkrete Maßnahmen für eine einfachere und klarere Rechtsetzung verlangt. Auf Grund dessen hat dann der Ministerrat im Juni 1993 eine Entschließung über die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften erlassen10, in der er zehn Leitlinien für die Abfassung von Rechtsakten aufstellte. Darin heißt es u. a.: – der Rechtsakt soll einfach, kurz und unzweideutig abgefasst sein; – Verweise auf andere Texte und Querverweise sollen vermieden werden; – für einen bestimmten Gedanken soll stets derselbe Begriff verwendet werden; – Wünsche und politische Erklärungen sollten vermieden werden. Die Kürze und Klarheit dieser Leitlinien ist bemerkenswert. Sie waren aber nur eine Entschließung des Rates, nicht auch der anderen an der Rechtsetzung beteiligten Organe, also auch von Rat und Parlament. So war es ein Fortschritt, dass am 22.12.1998 in Form einer interinstitutionellen Vereinbarung Gemeinsame Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften aufgestellt wurden11. Allerdings: Die Gemeinsamen Leitlinien sind erheblich länger und komplizierter, als die Entschließung des Rates fünf Jahre zuvor. Statt der „Zehn Gebote“ wurden es nun 22 Leitlinien. Es genügte nicht mehr, zu sagen, „Verweise auf andere Texte und Querverweise sollten vermieden werden“, sondern hieß: „Bezugnahmen auf andere Akte sollten so weit wie möglich vermieden werden. Wenn eine Bezugnahme erfolgt, so wird der Akt oder die Bestimmung, auf den bzw. die verwiesen wird, genau bezeichnet. Überkreuzverweise (Bezugnahmen auf einen Akt oder einen Artikel, der wiederum auf die Ausgangsbestimmung verweist), und Bezug-
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10 ABl. (EG) Nr. C 166/1 v. 17.6.1993. 11 ABl. (EG) Nr. C 73/1 v. 17.3.1999.
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nahmen in Kaskadenform, (Bezugnahme auf eine Bestimmung, die wiederum auf eine andere Bestimmung verweist), sind ebenfalls zu vermeiden.“ Wahrhaft kein Vorbild und kein Ansporn für klare und kurze Regelungen! Diesen Leitlinien folgte ein Gemeinsamer Leitfaden des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 16.12.2000, mit einer letzten Aktualisierung am 4.8.200312. Er ist ein dickes Kompendium mit 22 Abschnitten und unzähligen Punkten und Unterpunkten. Da er „für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken“, bestimmt ist, ist dagegen an sich nichts einzuwenden. Allerdings fragt man sich bei manchen Bestimmungen des Leitfadens, welche intellektuelle und sprachliche Kompetenz die Verfasser den Beamten der EU und den Abgeordneten des Parlaments zutrauen. Muss man wirklich anordnen: „Auf Jargon und Modeworte oder lateinische Ausdrücke, die vom juristischen Sprachgebrauch abweichend verwendet werden, ist zu verzichten“? Vor allem ist aber zu fragen, ob die vielen guten Anweisungen und Ratschläge des Leitfadens auch von den Beamten und Abgeordneten der Europäischen Union bei den von ihnen initiierten und verabschiedeten Rechtsetzungsverfahren befolgt wurden, was später an Hand des Verbraucherschutzrechts untersucht werden soll. 3. Insbesondere die Kommission bemühte sich in den folgenden Jahren um eine Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union. In Mitteilungen an Rat, Parlament, Wirtschafts- und Sozialausschuss und Ausschuss der Regionen veröffentlichte sie 2006, 2008 und 2009 „Strategische“ Überlegungen zu diesem Thema13. Die ersten „Strategischen Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union“ beginnen mit dem Satz: „Rechts- und Verwaltungsvorschriften sind für einen wettbewerbsfähigen Markt mit fairen Bedingungen, den Wohlstand der Bürger sowie den wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt von grundsätzlicher Bedeutung. Bessere Rechtsetzung zielt darauf ab, bei möglichst geringen Kosten größtmögliche Wirkung zu entfalten.“
Das ist eine im Wesentlichen ökonomische Sicht, die auch an anderen Stellen der Mitteilungen der Kommission wiederkehrt. Auf den gegenwärtig und auch schon vor drei Jahren diskutierten Aspekt der mangelnden Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bürgern in den Mitgliedstaaten wird nicht eingegangen. Auch die als Priorität genannte Einsetzung eines Ausschusses für Folgenabschätzung stellt primär auf die finanziellen Folgen ab. Wenn dann von Rat und Parlament eine „höhere Priorität für die Behandlung anhängiger Vereinfachungsvorschläge, Kodifizierung und Aufhebung von überholten Rechtsvorschriften“ verlangt wird, so zeigt das einerseits eine gewisse Rivalität zwischen den obersten Organen der Union, die sicher nicht zu einer besseren Rechtsetzung beiträgt, andererseits aber die Erkenntnis, dass Vereinfachung und Systematisierung für das Verständnis des Rechts von großer Bedeutung sind. Bei der so genannten Kodifizierung werden die Bestimmungen eines Rechtsaktes mit allen späteren Änderungen in einem einzigen Rechtsakt zu-
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12 http://eur-lex.europa.eu/de/techleg/index.htm. 13 KOM(2006) 689 endgültig; KOM(2008) 32 endgültig; KOM(2009) 15 endgültig.
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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz
sammengefasst. So rühmt sich die Kommission ihres Kodifizierungsprogramms für 500 Rechtsakte, von dem allerdings 2006 erst 85 Vorschläge vorgelegt worden waren. In ihren Dritten Strategischen Überlegungen vom 28.1.2009 berichtet die Kommission schließlich, dass sie die Kodifizierung von 229 von insgesamt 436 Rechtsakten abgeschlossen habe, wovon immerhin 142 verabschiedet waren. Durch Vereinfachung und Kodifizierung habe die Kommission – und damit auch Rat und Parlament – eine Verringerung des gemeinschaftlichen Besitzstandes um fast 10 % oder 1.300 Rechtsakte und 7.800 Amtsblattseiten bewirkt. Es ist leicht zu errechnen, wie viele Rechtsakte und Amtsblattseiten jetzt noch übrig bleiben. Als Beispiel für klarere und zugänglichere Rechtsvorschriften wird der Vorschlag für eine Richtlinie über die Rechte der Verbraucher genannt, mit der vier bestehende Richtlinien zu einem Regelwerk vollständig harmonisierter Vorschriften zusammengefasst werden. In einer vollständigen Harmonisierung mitgliedstaatlicher Vorschriften sieht offenbar die Kommission schon eine Vereinfachung im Sinne einer besseren Rechtsetzung, „denn es ist wesentlich einfacher und wirksamer, in allen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Vorschrift anzuwenden, als in einem komplizierten Geflecht unterschiedlicher Regelungen aus nationaler und regionaler Ebene zu agieren“14. Dass Recht in nationalen Traditionen gewachsen und in jeweils einen nationalen Kontext eingebettet ist, wird dabei ausgeblendet Neben den dargestellten, recht hochgestochenen „Strategischen Überlegungen“ hat sich die Kommission bemüht, ihre Vorstellungen über eine bessere Rechtsetzung auch in einfacherer, klarerer Sprache, sozusagen für das Volk, den europäischen Bürger, Unternehmer und Verbraucher, zu veröffentlichen. In der Broschüre „Bessere Rechtsetzung – einfach erklärt15. ist ihr das weitgehend gelungen. Kommissionspräsident Barroso erklärt im Vorwort, eine bessere Rechtsetzung zähle zu den „obersten Prioritäten“ seiner Kommission. Die Broschüre wendet sich gegen den Vorwurf, Brüssel sei gleichzusetzen mit Normenflut und Bürokratie. Die Wirklichkeit sehe ganz anders aus, ohne dass dafür allerdings eine Begründung gegeben wird. Mit gewissem Stolz wird betont, dass in den meisten Politikfeldern die Kommission vorschlage, wie eine Politik gestaltet und rechtlich umgesetzt werden sollte. Das trifft zu, führt aber zu dem berechtigten Vorwurf eines Demokratie-Defizits in Europa und zu Akzeptanz-Hemmungen. Durch den Lissabon-Vertrag ist das geändert worden. In der Broschüre wird auch das vertraglich verankerte Prinzip der „Subsidiarität“ genannt, ohne es näher zu erläutern. Stattdessen heißt es, gelte in allen Mitgliedstaaten eine einzige – europäische – Vorschrift, so sei dies wesentlich einfacher und effizienter, als ein unüberschaubares Netz nationaler und regionaler Regeln. Mit dieser These könnte man eine völlige Vereinheitlichung des Rechts in ganz Europa rechtfertigen, von Subsidiarität keine Spur. Was mitunter als „Brüsseler Bürokratie“ bezeichnet werde, habe in Wirklichkeit seine Ursache in nationalen Gesetzen. Das liege an den Richtlinien, in
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14 Erste Strategische Überlegungen, a. a. O., S. 3 f. 15 http://ec.europa.eu/governance/better_regulation/brochure_en.htm.
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denen nur Zielvorgaben festgelegt würden, Einzelheiten könnten die Mitgliedstaaten regeln. Leider sind Richtlinien häufig so detailliert, dass den nationalen Gesetzgebern, den Parlamenten, kaum mehr ein Spielraum verbleibt. Nationale Traditionen und mitgliedstaatliche Demokratie werden verdrängt. Die Kommission anerkennt sodann in ihrer Broschüre zur „Besseren Rechtsetzung“, dass Vorschriften mit finanziellen Kosten für Unternehmen, Bürger und Behörden verbunden sind, ob es nun darum gehe, Informationen bereitzustellen, Produkte zu kennzeichnen oder Überwachungs- und Berichterstattungspflichten nachzukommen. Dazu habe die Kommission eine Methode zur Messung von Verwaltungskosten entwickelt. Wie steht es aber mit den Kosten für den Bürger, insbesondere Unternehmer und Verbraucher? Erfreulich ist, dass am Ende der Broschüre das Vereinfachen und die Aufhebung von Vorschriften behandelt werden. Mitunter würden Rechtsvorschriften im Zuge der Marktentwicklung überflüssig und müssten aufgehoben werden. Als Beispiel wird die Richtlinie zur Klassifizierung von Holz genannt, in der Holzqualität, Knotengröße und der Durchmesser von Rohholz festgelegt waren. Meint die Kommission, dass eine derartige Richtlinie bei ihrem Erlass wirklich notwendig, verhältnismäßig und dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend war? Beim Thema Kodifizierung wird eine Richtlinie für Kosmetika erwähnt, mit der sage und schreibe 45 einzelne Rechtsakte verschmolzen wurden. Hätte man mit einer solchen Flut von Rechtsakten nicht warten können und müssen, bis die Zeit für eine umfassende Rechtsetzung gekommen war? Die Broschüre schließt mit einem Appell zum gemeinsamen Handeln an das Europäische Parlament, den Ministerrat und die Mitgliedstaaten sowie der Feststellung: „Gute Rechtsvorschriften zu konzipieren, ist schwer.“ Wie wahr! 4. Zu unserem Thema des Verbraucherschutzes hat die Kommission im Jahre 2007 ein Grünbuch mit dem Titel „Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz“16 vorgelegt, in dem sie auch ihre gesetzgeberischen Absichten recht offen darlegte. Darin wird als Ziel der Überprüfung „die Verwirklichung eines echten Binnenmarktes für Verbraucher mit einem möglichst ausgewogenen Verhältnis zwischen einem hohen Verbraucherschutzniveau und wettbewerbsfähigen Unternehmen unter gleichzeitiger strenger Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips“ genannt. Es müsse sichergestellt werden, dass die Wirtschaft – nicht zuletzt die kleinen und mittleren Unternehmen – von „unkomplizierten EU-Vorschriften profitieren können …“. Die Überprüfung des acquis communotaire gebe eine einmalige Gelegenheit, die bisherigen Richtlinien zum Verbraucherschutz zu modernisieren und das „Regelungsumfeld“ (warum nicht die Rechtsnormen selbst?) „sowohl für den Handel als auch für den Endverbraucher zu vereinfachen und zu verbessern und ggf. den Schutz, der Verbrauchern gewährt wird, zu erweitern.“ Zur bisherigen Verbraucherschutzrechtsetzung heißt es: „Die meisten Richtlinien, die Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz sind, sind eher präskriptiver Art als grundsatzorientiert.“ Ein längerer Abschnitt wird der Rechtszersplitterung gewidmet. Einerseits räumten die
__________ 16 KOM(2006) 744 endgültig.
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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz
geltenden Richtlinien den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, bei der Umsetzung in nationales Recht strengere Bestimmungen zu erlassen (Mindestharmonisierung). Von dieser Möglichkeit hätten viele Mitgliedstaaten um eines höheren Verbraucherschutzniveaus willen Gebrauch gemacht. Andererseits würden viele Aspekte in den Richtlinien uneinheitlich geregelt. Die von der Kommission gewünschte und angestrebte Harmonisierung wird dann mit statistischen Daten gestützt. So seien 43 % aller Einzelhandelsunternehmen in der EU der Meinung, dass eine Harmonisierung der Verbraucherschutzvorschriften sich positiv auf ihren Umsatz außerhalb ihres eigenen Landes auswirken dürfte. Ausführlich werden schließlich die möglichen Optionen für die Zukunft aufgezeigt. Option I: Vertikaler Ansatz, Option II: Kombinierter Ansatz und Option III: Nichts auf legislativem Gebiet unternehmen. Deutlich wird, dass die Kommission den Kombinierten Ansatz favorisiert. Gemeinsame Aspekte, wie z. B. die Definitionen für Grundbegriffe, wie Verbraucher oder Unternehmer, die Dauer der Widerrufsfrist oder die Modalitäten für die Ausübung des Rücktrittsrechts, könnten in einem horizontalen Rechtsinstrument gemeinsam geregelt werden. Damit könnten die bestehenden Verbraucherschutzrichtlinien ganz oder teilweise aufgehoben werden und der gemeinschaftliche Besitzstand vom Umfang her reduziert werden. Diese Überlegungen und Absichten dürften unstreitig sein. Harmonisierung, sachgerecht durchgeführt, trägt immer zu besserer Rechtsetzung bei. Problematischer sind die Äußerungen der Kommission in ihrem Grünbuch zum möglichen Geltungsbereich eines horizontalen Instruments. Soll es sowohl auf Geschäfte rein nationalen Umfangs als auch auf grenzüberschreitende Geschäfte angewandt werden? „Die Schaffung eines einzigen Instruments für sämtliche Arten von Verbraucherverträgen würde eine erhebliche Vereinfachung des Regelungsumfelds für Verbraucher wie auch für Wirtschaft und Handel bedeuten“ Die Alternative, die Einführung eines horizontalen Instruments ausschließlich für grenzüberschreitende Verträge, würde zwar das Vertrauen der Verbraucher in den grenzüberschreitenden Handel stärken, andererseits aber die Rechtszersplitterung erhöhen. Die Sympathie der Kommission für eine völlig einheitliche Regelung wird an ihren Ausführungen deutlich. Noch bedeutsamer sind die Ausführungen der Kommission zum Grad der Harmonisierung. Sie verweist auf die heutigen Verbraucherschutzrichtlinien, die auf dem Grundsatz der Mindestharmonisierung beruhen. Den Mitgliedstaaten ist darin nämlich gestattet, ein höheres Verbraucherschutzniveau festzulegen oder beizubehalten, als in der jeweiligen Richtlinie vorgesehen. Davon hätten viele Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht. Das habe zur Folge, dass Verbraucher sich nicht sicher sein könnten, bei Einkäufen im Ausland genau so geschützt zu sein wie im Inland. Unternehmer würden durch unterschiedliche Standards möglicherweise davon abgehalten, ihre Produkte oder Dienstleistungen in ganz Europa anzubieten. Zur Lösung dieses Problems nennt die Kommission die Überarbeitung mit dem Ziel einer vollständigen Harmonisierung. Sie sieht und erwähnt auch, dass die Aufhebung von Regelungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Folge haben könnte, „dass sich das Verbraucherschutzniveau in einigen Mitgliedstaaten ändern könnte“. Nicht erwähnt 245
Jürgen Gündisch
wird allerdings, dass eine solche Änderung nur auf ein niedrigeres Verbraucherschutzniveau möglich wäre, weil bislang den Mitgliedstaaten nur von der Richtlinie abweichende Regelungen für einen höheren Verbraucherschutz erlaubt waren. Wie Derartiges mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Ziel eines möglichst hohen Verbraucherschutzes zu vereinbaren wäre, wird nicht erläutert.
III. Die Verwirklichung im Verbraucherschutzrecht Wie haben sich die guten Vorsätze von Kommission, Rat und Parlament für eine bessere Rechtsetzung in den geltenden Verbraucherschutzrichtlinien niedergeschlagen? Was ist aus den Überlegungen der Kommission in ihrem Grünbuch zum Verbraucherschutz geworden? Die Sprache europäischer Verbraucherschutznormen soll zunächst anhand von vier gegenwärtig geltenden Richtlinien überprüft werden, und zwar der Richtlinie 85/577/EWG des Rates betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Verträge17, der Richtlinie 93/13/EWG des Rates über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen18, der Richtlinie 97/7 des Europäischen Parlaments und des Rates über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz19 und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter20. Zur Klarheit der Sprache gehört, dass dieselben Begriffe in den verschiedenen, zumindest in den verwandten Rechtsnormen gleich definiert werden. Das ist in den vier betrachteten Richtlinien bei dem wichtigsten Rechtsbegriff des Verbraucherschutzrechts, dem des Verbrauchers, fast vollständig gelungen. Dieser Begriff wird in der Richtlinie über außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Verträge definiert als „eine natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie erfassten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.“ Fast gleich lautend steht es in der Richtlinie 93/13 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, in der Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG und in der Richtlinie 1999/44/EG betreffend den Verbrauchsgüterkauf. Diese gleiche Definition in vier verschiedene Rechtsnormen fordert eine einzige Definition in einer harmonisierten horizontalen Richtlinie geradezu heraus! Unterschiede gibt es allerdings schon bei dem Gegenüber, dem „Gewerbetreibenden“. In den zwei älteren Richtlinien wird mit gleichem Wortlaut definiert. In der Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG ist dann aber vom „Lieferer“ die Rede, der aber gleichfalls als eine Person definiert wird, „die beim Abschluss von Verträgen im Sinne dieser Richtlinie im Rahmen ihrer gewerblichen Tätigkeit handelt“ (Art. 2 Nr. 4). In der Verbrauchsgüterrichtlinie schließlich erhält die gleiche
__________ 17 18 19 20
ABl. (EG) Nr. L372/31 v. 31.12.1985. ABl. (EG) Nr. L 95/29 v. 21.4.1993. ABl. (EG) Nr. L 144/19 v. 4.6.1977. ABl. (EG) Nr. L 171/12 v. 7.7.1999.
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Sprache und Stil der europäischen Rechtsetzung zum Verbraucherschutz
Person den Namen „Verkäufer“. Das zeigt, dass die Verbraucherschutzrichtlinien immer andere Teilgebiete eines im nationalen Recht einheitlichen Vertragsrechts sektoral regeln – ein Grundübel der europäischen Rechtssetzung, das sich in einem Staatenverbund allerdings kaum beseitigen lässt. Die sonstigen Formulierungen der untersuchten Rechtsnormen sind allerdings nicht von gleicher Kürze und Klarheit. Das sei an Art. 3 Abs. 2 der Verbraucherschutzrichtlinie für außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossene Verträge durch wörtliche Wiedergabe exemplifiziert: a) „Diese Richtlinie gilt nicht für Verträge über den Bau, den Verkauf und die Miete von Immobilien; Verträge über die Lieferung von Waren und ihre Einfügung in vorhandene Immobilien oder Verträge über die Reparatur bestehender Immobilien werden von dieser Richtlinie erfasst. b) Verträge über die Lieferung von Lebensmitteln oder Getränken oder sonstigen Haushaltsgegenständen des täglichen Bedarfs, die von ambulanten Einzelhändlern in kurzen Zeitabständen regelmäßig geliefert werden; c) Verträge über die Lieferung von Waren und die Erbringung von Dienstleistungen, vorausgesetzt, dass die drei folgenden Bedingungen erfüllt sind: i) … ii) … iii) …“ Insgesamt sind das 18 bis 20 Zeilen zur Kennzeichnung von Ausnahmen und Gegenausnahmen unter mehreren komplizierten Bedingungen! Welcher Verbraucher oder Händler soll sich da zurechtfinden? Ein Beispiel für eine unklare Leerformel ist Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/ EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen: „Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“
Diese umständliche Generalklausel wird auch nicht dadurch besser, dass in Art. 4 Abs. 1 – wiederum mit vielen Worten – auf die Umstände und den Gesamtzusammenhang abgestellt wird. Nicht genug der Kompliziertheit: In Art. 4 Abs. 2 folgt eine Ausnahme oder Einschränkung. „Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“
Wieviel einfacher und klarer ist die Formulierung in § 307 Abs. 1 BGB in der seit dem 1.1.2002 geltenden Fassung, wo es heißt: „Die Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind wirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten nach Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.“ 247
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Genug der Beispiele. Die wenigen präsentierten zeigen zur Genüge, dass die vier gegenwärtigen Verbraucherschutzrichtlinien einer Überarbeitung und Verbesserung in Stil und Sprache bedürfen
IV. Sprache und Stil im Vorschlag einer neuen Verbraucherschutzrichtlinie 1. Ihre seit längerer Zeit geäußerte und in dem genannten Grünbuch konkret niedergelegte Absicht hat die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher vom 8.10.2008 verwirklicht21. Mit der vorgeschlagenen Richtlinie sollen die vier oben untersuchten gegenwärtigen Verbraucherschutzrichtlinien kodifiziert und aufgehoben werden. Das ist, wie gesagt, im Sinne einer „besseren Rechtsetzung“ zu begrüßen. Nur: die Kommission schlägt umfangreiche Änderungen vor, die von dem bisherigen Konzept der europäischen Verbraucherschutz-Rechtsetzung abweichen. Vor allem soll der bisherige Grundsatz der Mindestharmonisierung, nach dem es den Mitgliedstaaten erlaubt ist, strengere Verbraucherschutzvorschriften beizubehalten oder einzuführen, aufgegeben und durch eine zwingende und einheitliche Vollharmonisierung ersetzt werden. Ehe aber auf diese grundsätzliche Problematik eingegangen wird, soll zunächst die Sprache des neuen Vorschlags untersucht werden. Ist sie knapper und klarer, als die jetzigen vier Verbraucherschutzrichtlinien? Schon der Umfang der neuen Richtlinie erweckt Zweifel daran, dass das Ziel der Vereinfachung und Kürzung mit dem Vorschlag der Kommission erreicht werden kann. Sie enthält 50 Artikel, während die gegenwärtigen und aufzuhebenden vier Verbraucherschutzrichtlinien nur geringfügig mehr, nämlich 52 Artikel umfassen. Dieser generelle Eindruck wird bei der Detailbetrachtung einzelner Vorschriften bestätigt. Bei der Definition des Verbraucherbegriffs kann man nicht viel falsch machen. Warum muss aber in Art. 2 Abs. 1 und 2 von der „gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit“ geschrieben werden, wo doch in den bisherigen Richtlinien zwei Charakteristika des Gewerbetreibenden genügen? Jedes überflüssige Wort ist von Übel! Die neun Zeilen lange Definition des einfachen Begriffes „außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Vertrag“ ist kein Muster sprachlicher Kürze. Die Ausnahmen vom Widerrufsrecht des Verbrauchers werden bei Fernabsatzverträgen von sechs auf acht erhöht, sind allerdings bei außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verträgen klarer gefasst, als in der gegenwärtig geltenden Richtlinie 85/577, die schon oben dargestellt und kritisiert worden ist. Es gibt also doch Fortschritte in der Sprache der Gesetze! Zusammenfassend lässt sich bei der Bewertung der sprachlichen Qualität und Kürze des Vorschlags der Kommission sagen, dass diese im Vergleich zu den
__________ 21 KOM(2008) 614 endgültig.
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gegenwärtig geltenden vier Verbraucherschutzrichtlinien zwar eine Zusammenfassung, aber keine Straffung der Rechtsnormen darstellt. Sprachlich enthält sie zwar einige wenige Verbesserungen, aber auch Verschlechterungen und Komplizierungen. Eine bessere Rechtsetzung ist dadurch trotz der langen Vorarbeiten nicht erreicht worden, allenfalls ein Gleichstand. 2. Nach dieser formellen Betrachtung soll auf das grundsätzliche Problem des Geltungsumfangs und der Geltungskraft der vorgeschlagenen Richtlinie eingegangen werden. Dies ist zwar keine rein formelle, sondern auch eine materielle Frage, ihre Beantwortung ist aber für den Stil der europäischen Rechtsetzung, vor allem die Vorgehensweise der Kommission, von großer Bedeutung. Der wesentlichste Unterschied zu den gegenwärtigen vier Richtlinien liegt darin, wie es in den Erwägungsgründen heißt, dass der „den älteren Richtlinien zugrunde liegende Mindestharmonisierungsansatz, der es den Mitgliedstaaten erlaubte, strengere innerstaatliche Rechtsvorschriften aufrecht zu erhalten oder einzuführen, aufgegeben werden“ sollte. Wie ist das im Lichte der gegenwärtigen fachlichen Diskussion, aber auch der allgemeinen Stimmung der Bevölkerung zum europäischen Einigungsprozess, zu beurteilen? Der Vorschlag einer neuen Richtlinie wird auf Art. 95 EG-Vertrag gestützt, nicht auf den die Kompetenz zum Verbraucherschutz normierenden Art. 153 EG-Vertrag. Der Grund ist klar erkennbar. Die nach Art. 153 Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 b. „beschlossenen Maßnahmen hindern die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen.“ Das ist bislang häufig geschehen, auch in Deutschland. Wir haben ein höheres Verbraucherschutzniveau, als in den gegenwärtigen Richtlinien der Gemeinschaft normiert. Art.153 Abs. 3 a. sieht demgegenüber vor, dass die Gemeinschaft zur Förderung des Verbraucherschutzes auch Maßnahmen „im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes nach Art. 95“ erlassen darf. Bei Anwendung dieses Artikels gilt das Recht der Mitgliedstaaten, strengere Verbraucherschutzvorschriften beizubehalten oder zu ergreifen, nicht. Art. 4 des Vorschlags der Kommission sieht in Ausnützung dieser Kompetenz vor: „Die Mitgliedstaaten dürfen keine von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften aufrecht erhalten oder einführen; dies gilt auch für strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Verbraucherschutzniveaus.“
Begründet wird diese grundsätzliche Änderung der Geltungskraft des europäischen Verbraucherschutzrechts verständlicherweise mit Binnenmarkt-Überlegungen. In Nr. 3 der Erwägungsgründe des Kommissionsvorschlags heißt es, durch die gemeinschaftsweite vollständige Harmonisierung „wird es zur Beseitigung der sich aus der Rechtszersplitterung ergebenden Hindernisse auf diesem Gebiet kommen. Die betreffenden Hindernisse lassen sich nur durch die Einführung einheitlicher Rechtsvorschriften auf Gemeinschaftsebene abbauen. Darüber hinaus werden die Verbraucher in den Genuss eines hohen, einheitlichen Verbraucherschutzes in der gesamten Gemeinschaft kommen.“
Die Kommission versucht, mit dieser gewundenen Formulierung eine Abwägung, ja einen Gleichklang zwischen den Zielen des Binnenmarktes und des 249
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Verbraucherschutzes herzustellen. Am Ende der Erwägungsgründe heißt es in ähnlicher Weise, aber noch vollmundiger: „Da die Ziele dieser Richtlinie auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen sind, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Art. 5 EG-Vertrag niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Richtlinie nicht über das zur Beseitigung der Binnenmarkthindernisse und zur Gewährleistung eines hohen, einheitlichen Verbraucherschutzniveaus erforderliche Maß hinaus.“
Treffen diese pauschalen Behauptungen der Kommission zu? Sind ihre Begründungen ausreichend, um zu erreichen, dass ihr Paradigmawechsel zur Vollharmonisierung vor dem Europäischen Gerichtshof und notfalls vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben kann? Zur rechtlichen Begründung kommt es darauf an, ob die Vollharmonisierung tatsächlich erforderlich ist, um den Binnenmarkt zu vollenden. Fast ein Vierteljahrhundert lang, seit der Verbraucherschutzrichtlinie 85/577 vom 20.12.1985, schien das nicht notwendig. Außerdem: die vorgeschlagene Richtlinie soll nicht nur für grenzüberschreitende, sondern auch für innerstaatliche Verträge gelten. Wieso kann durch unterschiedliche Verbraucherschutzvorschriften in den Mitgliedstaaten bezüglich solcher lokaler Verträge der einheitliche Binnenmarkt gestört werden? Das Vertrauen der Verbraucher, das die Kommission häufig zitiert, wird dadurch nicht gestärkt. Im Gegenteil: der Verbraucher muss bei der Mehrzahl der Geschäfte, die er ja im Inland tätigt, auf sein ihm bekanntes nationales Recht verzichten und sich an ein neues, kompliziertes und überall zwingendes Recht gewöhnen. Das pauschale Argument der Beseitigung von Rechtszersplitterung reicht für eine derart weitgehende Vereinheitlichung eines wesentlichen Teiles des Privatrechts nicht aus. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Tabakwerbungsurteil22 ausgeführt, wenn mit einer Maßnahme nicht reale Handelshemmnisse und spürbare Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt beseitigt werden sollen und können, könne Art. 95 nicht als Kompetenzgrundlage herangezogen werden. Ein bloßer Verweis auf bestehende Unterschiede in nationalen Regelungen reiche nicht aus. Die „Rechtszersplitterung“ in den Mitgliedstaaten ist aber eines der Hauptargumente der Kommission für ihre Vollharmonisierung, wobei jedoch nicht betont wird, dass die Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen nur in Richtung auf eine Erhöhung, nicht aber auch auf eine Verschlechterung des Verbraucherschutzniveaus gehen können. Damit kommen wir zum zweiten Gesichtspunkt, der dem Vorschlag der Kommission rechtlich und verbraucherpolitisch entgegengehalten werden kann und muss. Der Richtlinienvorschlag beinhaltet insgesamt eine Schlechterstellung des Verbrauchers, und zwar sowohl durch eine Absenkung des Schutzniveaus gegenüber den bisherigen Richtlinien, als auch durch die Beseitigung der Mög-
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22 EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 (Deutschland/Parlament und Rat), Slg. 2000, I-8419; EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 (The Queen / Secretary of State for Health), Slg. 2002, I-11453.
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lichkeit strengerer Verbraucherschutzvorschriften in den Mitgliedstaaten. Wenn in den Erwägungsgründen des Richtlinienvorschlags immer wieder von einem hohen einheitlichen Verbraucherschutzniveau die Rede ist, so bestätigt sich das bei einer genauen Analyse nicht23. Ob eine derartige Verschlechterung mit dem in Art. 3 Abs. 1t. genannten Ziel der Gemeinschaft, einen Beitrag zur Verbesserung des Verbraucherschutzes zu leisten, zu vereinbaren ist, lässt sich bezweifeln. 3. Abschließend sollen die verfassungsrechtliche Problematik des Paradigmawechsels der Kommission in ihrem Richtlinien-Vorschlag im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 30.6.2009 zum Lissabon-Vertrag24 und die Frage seiner Akzeptanz in der Bevölkerung kurz behandelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil mehrfach die Bedeutung der „begrenzten Einzelermächtigung“ betont. Es hat zwar den Lissabon-Vertrag nach deutschem Verfassungsrecht gebilligt, aber für die Zukunft offenen und versteckten Kompetenzerweiterungen der Europäischen Union strenge Grenzen gezogen. Die Rechte der souveränen Mitgliedstaaten müssten gewahrt bleiben. So heißt es unter Nr. 249 des Urteils: „Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt.“
Nachdem die Bedeutung des Prinzips der „begrenzten Einzelermächtigung“ hervorgehoben wird, heißt es an anderer Stelle (Nr. 251 des Urteils): „Darüber hinaus sollen materiell-rechtliche Schutzmechanismen, insbesondere Zuständigkeitsausübungsregeln, gewährleisten, dass die auf europäischer Ebene bestehenden Einzelermächtigungen in einer die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten schonenden Weise wahrgenommen werden. Dazu gehöre das Gebot, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, der Grundsatz der Subsidiarität und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.“
Ohne dass in diesem kurzen Beitrag schon eine verfassungsrechtliche Beurteilung, gar ein Verdikt ausgesprochen werden kann, ist doch zu sagen: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (das zur Zeit der Vorarbeiten zum Richtlinien-Vorschlag der Kommission noch nicht existierte), sollte den europäischen Organen Veranlassung geben, die Richtigkeit, Durchsetzbarkeit und politische Weisheit des Paradigmawechsels im Vorschlag der Kommission noch einmal zu überdenken. Wahrt das Prinzip der Vollharmonisierung für grenzüberschreitende und rein inländische Geschäfte die nationale Identität der Mitgliedstaaten? Ist die Senkung des seit Jahrzehnten in vielen Staaten, so auch in Deutschland, bestehenden hohen Verbraucherschutzniveaus eine „schonende Weise“ der Wahrnehmung der europäischen Einzelermächtigungen? Das ist zu bezweifeln, denn Verbraucherschutzrecht ist ein wichtiger Teil
__________ 23 So Micklitz/Reich, Der Kommissionsvorschlag einer Richtlinie über „Rechte der Verbraucher“ oder: „Der Beginn einer neuen Ära …“, EuZW 2009, 279 ff. 24 2 BvE 2/08 u. a., NJW 2009, 2267.
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des gewachsenen nationalen Privatrechts und im Bewusstsein der Bürger tief verankert. Damit ist übergeleitet zum letzten Gesichtspunkt, dem der Akzeptanz des europäischen Rechts bei den Behörden, Gerichten und in der Bevölkerung der europäischen Mitgliedstaaten. Die europäische Einigungsbewegung trifft in den letzten Jahren – leider – auf zunehmende Skepsis. Die geringe Beteiligung bei der Wahl zum Europäischen Parlament ist ein Indiz dafür. Europäische Rechtsakte, so wichtig sie auch sind, werden als fremd empfunden. Das umso mehr, je mehr sie regulieren und je häufiger sie geändert werden. Zusammenfassung verschiedener und verwandter Normen ist gut. Der Richtlinienvorschlag der Kommission sieht aber keine Kodifizierung vor, sondern ist eine grundsätzliche Änderung zu Lasten der Mitgliedstaten. Das schwächt das Vertrauen in eine „gute Rechtsetzung“ der europäischen Instanzen und stärkt die Europa-Kritik. Auch hier gilt der alte Grundsatz: weniger wäre mehr. Das ist sicher auch die Auffassung von Friedrich Graf von Westphalen. In seinem eingangs genannten Aufsatz „Wie viel Einheitlichkeit braucht das Recht?“ (oben Fn. 5) betonte er: „Das Recht ist wesentlicher Teil der jeweils unterschiedlichen nationalen Kultur“. Mit ihr muss auch der europäische Gesetzgeber im Verbraucherschutzrecht schonend umgehen.
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Urteilsvertretendes Anerkenntnis und Verjährung Inhaltsübersicht I. Anknüpfungspunkt des urteilsvertretenden Anerkenntnisses II. Ursprung der Rechtsfigur III. Anwendungsbereich 1. Keine Sonderrechtsprechung zum Haftpflichtrecht 2. Typische Fallgestaltungen IV. Dogmatische Einordnung 1. Voraussetzungen eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses 2. Rechtsfolge des kausalen Schuldanerkenntnisses 3. Der Wille der Parteien, den Gläubiger freizustellen von der Verjährungseinrede V. Die Reichweite der Autonomie 1. Der Inhalt des § 225 BGB a. F. 2. Zulässigkeit mittelbarer Erschwerungen
VI. Rechtsvergleichung VII. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten 1. Abgrenzung von § 205 BGB a) Wesensmerkmale von Stundung und Stillhalteabkommen b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis 2. Abgrenzung zu § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB a) Merkmale eines Anerkenntnisses b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis 3. Abgrenzung zur Verjährungserschwerung nach § 202 BGB a) Die von § 202 BGB erfassten Rechtsgeschäfte b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis VIII. Zusammenfassung
Die Vertragsparteien haben verschiedene Möglichkeiten, auf den Lauf der Verjährung einzuwirken. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa Maßnahmen der Rechtsverfolgung (§ 204 ZPO), das Anerkenntnis (§ 212 BGB), die Vereinbarung eines Leistungsverweigerungsrechts (§ 205 BGB), schwebende Verhandlungen (§ 203 BGB) oder Verjährungsvereinbarungen i. S. des § 202 BGB. Neben diesen gesetzlichen Möglichkeiten hat die Rspr. die – ungeschriebene – Rechtsfigur des titel- bzw. urteilsvertretenden bzw. urteilsersetzenden Anerkenntnisses gestellt. Dieses Rechtsinstitut soll nachfolgend näher untersucht werden.
I. Anknüpfungspunkt des urteilsvertretenden Anerkenntnisses Die Rechtsfigur des urteilsvertretenden Anerkenntnisses wurde von dem BGH noch vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform entwickelt. Anknüpfungspunkt hierfür war der § 218 BGB a. F. (§ 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB n. F.), wonach ein rechtskräftig festgestellter Anspruch in 30 Jahren verjährt, auch wenn er sonst einer an sich kürzeren Verjährung unterliegt. Einem rechtskräftig festgestell253
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ten Anspruch standen nach § 218 Satz 2 BGB a. F. (§ 197 Abs. 1 Nr. 4, 5 BGB n. F.) Ansprüche aus einem vollstreckbaren Vergleich, einer vollstreckbaren Urkunde sowie solche Ansprüche gleich, die durch die im Insolvenzverfahren erfolgte Feststellung vollstreckbar geworden sind. Über den Wortlaut hinaus hat der BGH im Wege der Rechtsfortbildung eine weitere Fallgruppe in den Anwendungsbereich des § 218 BGB a. F. einbezogen und einem rechtskräftig festgestellten Anspruch gleichgestellt, nämlich das urteilsvertretende Anerkenntnis. Auch dieses sollte die 30-jährige Verjährungsfrist auslösen.
II. Ursprung der Rechtsfigur Die „Rechtsfigur“ des urteilsersetzenden Anerkenntnisses hat der BGH erstmals in einer Entscheidung aus dem Jahr 1984 bemüht. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der damals in der Ausbildung zum Fachingenieur stehende Kläger wurde am 29.8.1962 bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. Die Ersatzpflicht des Beklagten für alle unfallbedingten Schäden des Klägers war außer Streit. Es kam dennoch zu langjährigen Verhandlungen mit dem Haftpflichtversicherer des Beklagten. Mit Schreiben vom 21.7.1970 hatte der Versicherer dem Kl. hinsichtlich des bis Januar 1970 geltend gemachten Schadens die Klageerhebung anheimgestellt, im übrigen aber in Nr. 4 des Schreibens besonders hervorgehoben: „Ein weitergehender materieller Zukunftsschaden wird dem Grund nach anerkannt“. Als der Kläger Letzteren dann später geltend machte, berief sich die Versicherung auf die Verjährung. Daraufhin erhob der Kläger am 11.6.1971 Klage.
In den Entscheidungsgründen führt der BGH hierzu aus1: „Das Schreiben des Haftpflichtversicherers vom7.1970 war … von der Absicht des Haftpflichtversicherers getragen, den Kl. hinsichtlich seiner Ersatzansprüche für den ihm ab Februar 1970 entstehenden Schaden materiellrechtlich so zu stellen, als ob er eine gerichtliche Feststellung der Ersatzpflicht des Bekl. erwirkt hätte. In dieser Weise hat der Kl. das Schreiben auch verstanden, wie sich aus seinem Vorbringen in der Klageschrift ergibt, dass sich in Anbetracht des Anerkenntnisses eine Feststellungsklage erübrige. Damit ist durch das Anerkenntnis und seine spätestens mit der Klageschrift erfolgte Annahme durch den Kl. eine vergleichsähnliche Vereinbarung zwischen den Parteien zustandegekommen, durch die der Kl. auf die Erlangung eines Feststellungsurteils und der Bekl. auf eine gerichtliche Feststellung der gegen ihn gerichteten Ersatzansprüche bezüglich des Zukunftsschadens verzichteten (vgl. BGH, NJW 1963, 2316 [2317]).
Im amtlichen Leitsatz fasst der BGH die vorstehenden Gedanken dann wie folgt zusammen: „Erteilt der Haftpflichtversicherer des Schädigers dem Geschädigten ein schriftliches Anerkenntnis, mit dem er dessen materiellen Zukunftsschaden dem Grunde nach anerkennt, um ihm eine Feststellungsklage zu ersparen, so kann das Anerkenntnis unter Umständen ein Feststellungsurteil über die Schadensersatzpflicht mit der Folge ersetzen, dass sich die Verjährung der Ersatzansprüche des Geschädigten für den Zukunftsschaden nach § 218 BGB [a. F.] richtet.“
__________ 1 BGH, NJW 1985, 791, 792.
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In der Folgezeit hat der BGH2 – aber auch die obergerichtliche Rspr.3 – in einer Vielzahl von Fällen die „Rechtsfigur“ des urteilsvertretenden Anerkenntnisses immer wieder bestätigt.
III. Anwendungsbereich Typisch für die von der Rspr. entschiedenen Fälle ist zumeist, dass ein (Haftpflicht-)Versicherer des Schädigers dem Geschädigten ein schriftliches Anerkenntnis erteilt, mit dem er dessen materiellen Zukunftsschaden dem Grunde nach anerkennt4. Wenn ein solches Anerkenntnis – so der BGH – nach dem Willen der Parteien den Zweck hatte, dem Schädiger die Erhebung einer Feststellungsklage gegen den Haftpflichtversicherer (zwecks Verjährungsunterbrechung) zu ersparen, dann richtet sich die Verjährung aus einem solchen (urteilsvertretenden) Anerkenntnis nach § 218 BGB (a. F.)5. 1. Keine Sonderrechtsprechung zum Haftpflichtrecht Auch wenn die von der Rspr. entschiedenen Fälle zumeist dem „Haftpflichtrecht“ entstammen, wäre es falsch, wollte man das urteilsersetzende Anerkenntnis auf eine „versicherungsrechtliche Rechtsfigur“ reduzieren. In keiner der Entscheidungen jedenfalls beschränkt der BGH den Anwendungsbereich des „urteilsvertretenden Anerkenntnisses“ explizit auf das „Versicherungs-“ bzw. Haftpflichtrecht. Auch verlangt der BGH in persönlicher Hinsicht nicht, dass das „urteilsvertretende Anerkenntnis“ zwischen einem Versicherer und dem Geschädigten geschlossen sein muss6. So hebt der BGH etwa in einer Entscheidung aus dem Jahr 2002 in den tragenden Urteilsgründen hervor, dass ein „urteilsvertretendes Anerkenntnis“ (nach st. Rspr.) vorliegt, wenn der „Schädiger“ oder der „(KfZ-)Haftpflichtversicherer“ den Geschädigten durch die Vergleichs- und Abfindungsvereinbarung klaglos stellen7. Das urteilsersetzende Anerkenntnis wirkt auch nicht notwendig nur gegen einen (Haftpflicht-)Versicherer8. Ohne Bedeutung ist ebenfalls die Rechtsnatur des zugrunde liegenden Anspruchs. Maßgebend dafür, dass im konkreten Fall ein „urteilsvertretendes Anerkenntnis“ vorliegt, ist für den BGH einzig und allein der in der Vereinbarung zum Ausdruck kommende Parteiwille, nämlich einen
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2 BGH, VersR 1986, 684 ff.; BGH, NJW-RR 1990, 664; BGH, NJW 1992, 2228 f.; BGH, NJW 2003, 1524, 1525. 3 KG, VersR 2000, 1145; OLG München, AnwBl. 1998, 609; OLG Oldenburg, NJWRR 1997, 1181; OLG Thüringen, SVR 2005, 383; OLG Karlsruhe, NZV 1990, 428 f.; OLG Karlsruhe, VersR 1998, 632; OLG Düsseldorf, VersR 1999, 587, 588; OLG München, NJOZ 2005, 4548; OLG Saarbrücken, BeckRS 2006 08219; OLG Saarbrücken, OLGR Saarbrücken 2007, 223 ff. 4 BGH, NJW 1985, 791, 792; ebenso BGH, NJW-RR 1990, 664 f.; BGH, NJW 1992, 2228 f. 5 BGH, NJW 1985, 791, 792; ebenso BGH, NJW-RR 1990, 664 f.; BGH, NJW 1992, 2228 f. 6 S. insoweit insbesondere den Fall BGH, NJW 1985, 791 f. 7 BGH, VersR 2002, 474, 475. 8 S. den Fall in BGH, VersR 1986, 684 ff.
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Anspruch des Anspruchsinhabers wie bei einem Feststellungsurteil nach § 218 Abs. 1 BGB a. F. bzw. nach § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB n. F. von der Verjährungseinrede des Anspruchsgegners zu befreien. Dass dieser in der Parteiautonomie wurzelnde Gedanke außerhalb des Versicherungsrechts unanwendbar sein soll, findet in den Entscheidungen des BGH jedenfalls keinen – auch keinen ansatzweisen – Niederschlag. Ein Blick in die rechtswissenschaftliche Literatur bestätigt diesen Befund. Hinweise auf die Rechtsfigur des „urteilsvertretenden Anerkenntnis“ finden sich hier vor allem in den Kommentierungen zum Verjährungsrecht, und zwar ohne jegliche Beschränkungen auf ein bestimmtes Rechtsgebiet9. In den Kommentierungen kommt mithin durchweg zum Ausdruck, dass es sich bei dem urteilsersetzenden Anerkenntnis um ein rechtsgebietsübergreifendes Phänomen handelt, nämlich um ein solches, das auf der Parteiautonomie beruht. 2. Typische Fallgestaltungen Eröffnet der Grundsatz der Parteiautonomie grundsätzlich einen rechtsgebietsübergreifenden Anwendungsbereich für das urteilsersetzende Anerkenntnis, dann stellt sich – praktisch gesehen – die Frage, wann für die Ausübung dieser Autonomie aus der Sicht der Parteien im konkreten Fall ein Bedürfnis besteht. Insoweit kommt es maßgeblich auf die Interessenlage der Parteien an. Das Bedürfnis für ein urteilsersetzendes Anerkenntnis ist – in erster Linie – im Verjährungsrecht zu suchen. Dieses zwingt den Gläubiger zur gerichtlichen Geltendmachung seines Anspruchs innerhalb einer gewissen Frist, weil sich anderenfalls seine Forderung in eine Naturalobligation wandelt10. Einer gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs bedarf es aber im Grundsatz nur dann, wenn der Anspruch zwischen den Parteien streitig bzw. der vermeintliche Schuldner zahlungsunwillig ist. Ist dies nicht der Fall, wird der Schuldner nämlich auf eine entsprechende Aufforderung des Gläubigers zahlen. Nun gibt es aber Fallgestaltungen, in denen allein aus verjährungsrechtlichen Gründen die gerichtliche Klage notwendig ist, obwohl der Anspruch unstreitig und der Schuldner im Grundsatz zahlungswillig ist. Das ist der Fall, wenn die Verjährung zwar schon zu laufen beginnt, der Anspruch zurzeit aber noch nicht geltend gemacht werden kann. Genau dies trifft in den Haftpflichtfällen aufgrund des Grundsatzes der Schadenseinheit11 i. d. R. zu, soweit es um den
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9 Peters in Staudinger, 2004, § 212 BGB Rz. 5 und § 202 BGB Rz. 18; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 197 BGB Rz. 12; J. Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 197 BGB Rz. 14; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 13; Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 197 BGB Rz. 19. 10 Grüneberg/Sutschet in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 241 BGB Rz. 24. 11 Zum Grundsatz der Schadenseinheit s. BGH, NJW 1997, 2448, 2449; BGH, NJW 2000, 861, 862; Panier, Der Grundsatz der Schadenseinheit, 2009 (passim); Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 199 BGB Rz. 9 ff.; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 199 BGB Rz. 14; Henrich/Spindler in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 199 BGB Rz. 27 ff. Nur Schäden, die auf ganz und gar untypischen Kausalverläufen beruhen und deshalb nicht vorhersehbar waren, werden aus der Schadenseinheit herausgelöst, BGH, NJW 2000, 861, 862.
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Ersatz von Zukunftsschäden geht. Letztere können – weil sie noch gar nicht eingetreten sind – gegenüber dem Schuldner noch nicht eingefordert oder vom Gläubiger beziffert werden. Dennoch läuft insoweit aber – h. M. zufolge – die Verjährungsfrist, wenn ein Erstschaden bereits entstanden ist. Dies hat zur Folge, dass hier die Klage – selbst wenn der Anspruch dem Grunde nach unstreitig ist – allein aus verjährungsrechtlichen Gründen erhoben werden muss, ohne dass die weitergehenden Zwecke des Zivilprozesses, nämlich die verbindliche Feststellung des streitigen Anspruchs bzw. der Nichtschuld und/ oder die Schaffung der vollstreckungsrechtlichen Grundlagen für die zwangsweise Durchsetzung des Anspruchs von Nöten wären. Hier liegt es für die Parteien daher nahe, die Kosten und Mühen des – sieht man einmal von der Verjährungsproblematik ab – nutzlosen Zivilprozesses dadurch zu ersparen, indem sie vereinbaren, den Gläubiger verjährungsrechtlich so stellen, wie er stehen würde, wenn er den Anspruch gerichtlich geltend gemacht hätte. Für den Abschluss eines „urteilsersetzenden Anerkenntnisses“ bestehe hier also ein Bedürfnis. Ähnlich ist die Rechtslage dort, wo der Anspruch zwar schon voll umfänglich entstanden ist (und damit die Verjährungsfrist läuft), dessen Berechnung aber tatsächliche Schwierigkeiten bereitet. Hier können die Parteien ein Interesse daran haben, den Anspruch verjährungstechnisch mit derselben Wirkung anzuerkennen wie wenn er bereits gerichtlich (in Gestalt der Feststellungsklage) geltend gemacht worden ist. Nicht anders ist schließlich die Interessenlage in solchen Fällen, in denen der – unstreitige – Anspruch entstanden ist und die Verjährungsfrist läuft, die Parteien aber dem Gläubiger vorbehalten wollen, diesen Anspruch jederzeit zu einem späteren Zeitpunkt noch geltend machen zu können. Auch hier können die Parteien ein Interesse daran haben, den Anspruch verjährungstechnisch so zu stellen, wie wenn er bereits gerichtlich geltend gemacht worden wäre. Hat beispielsweise der Pflichtteilsberechtigte gegen den Erben unstreitig einen Pflichtteilsanspruch, weiss er aber noch nicht, ob er sich durch dessen Geltendmachung gegen den Erblasserwillen auflehnen soll, wäre es – wirtschaftlich gesehen – unsinnig den Pflichtteilsberechtigten allein um der Verjährung willen zur Klage zu zwingen. Im Interesse beider Parteien liegt hier vielmehr der Abschluss eines urteilsvertretenden Anerkenntnisses, das die Folgen des nutzlosen Prozesses vermeidet und dem Pflichtteilsberechtigten die Entscheidung über die (steuerrechtlich bedeutsame)12 Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs für einen späteren Zeitpunkt vorbehält.
IV. Dogmatische Einordnung Bei dem urteilsvertretenden Anerkenntnis handelt es sich um einen Vertrag13, der – zumeist14 – als deklaratorisches Schuldanerkenntnis einzuordnen ist. Das
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12 S. hierzu Haas in Staudinger, 2006, § 2317 BGB Rz. 59 ff. 13 S. auch Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 9. 14 S. aber zur Möglichkeit zum abstrakten Schuldanerkenntnisses, BGH, NJW 1992, 2228 f.; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 13.
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(deklaratorische oder kausale) Schuldanerkenntnis, das – anders als das abstrakte Schuldanerkenntnis – nicht gesetzlich geregelt ist, wurzelt in der Vertragsfreiheit15. Sinn und Zweck des kausalen Schuldanerkenntnisses ist es, das Schuldverhältnis – ohne dieses auf eine neue Grundlage zu stellen – insgesamt oder in bestimmten Punkten einem Streit oder einer Ungewissheit zu entziehen und es damit endgültig und verbindlich festzulegen16. Insoweit ähnelt das kausale Schuldanerkenntnis einem Vergleich (§ 779 BGB). Beide Vertragstypen gehören zu den so genannten Feststellungsgeschäften17. 1. Voraussetzungen eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses Nicht alle Bekundungen und Versprechungen des Schuldners können freilich als kausales Schuldanerkenntnis eingeordnet werden. Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung insbesondere zu solchen Erklärungen, die im Vorfeld einer rechtsgeschäftlichen Einigung verbleiben, in denen m. a. W. ein Rechtsbindungswille fehlt. Letzteres ist im Regelfall anzunehmen, wenn sich die Erklärung in der Anerkennung der gesetzlichen Rechtslage erschöpft, wenn also den Erklärungen der Parteien nicht der Wille entnommen werden kann, die Rechtslage abweichend von den gesetzlichen Vorschriften selbst verbindlich festlegen zu wollen18. Hier fehlt letztlich der für ein Feststellungsgeschäft typische Wille der Parteien, eine Unsicherheit zu beseitigen. Eine Rechtsbindungswille der Parteien fehlt zumeist auch dann, wenn der Schuldner zur Abgabe einer „Erklärung“ verpflichtet bzw. hierzu eine Obliegenheit besteht; denn dann will er mit der Erklärung nicht dazu beitragen, eine bestehende Unsicherheit zu beseitigen. Vielmehr dient hier die Erklärung allein dazu, der Pflicht bzw. Obliegenheit nachzukommen. Beispiele hierfür sind die Erklärung des Drittschuldners nach § 840 Abs. 3 ZPO, die in Versicherungsbedingungen vorgesehene Erklärung des Versicherers, ob und inwieweit er die aus dem Versicherungsfall hergeleiteten Ansprüche anerkennt oder die Erklärungen des Schuldners, die dieser in einer Klageerwiderung abgibt19. Hier liegt in aller Regel kein (kausales) Schuldanerkenntnis, sondern nur eine tatsächliche Auskunft über die Zahlungsbereitschaft vor. Umstände, die einen
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15 BGH, WM 1976, 689, 690; Gehrlein in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 781 BGB Rz. 7; Habersack in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 3; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 8. 16 BGH, NJW 2002, 1791; BGH, NJW 2002, 1041; BGH, WM 1976, 689, 690; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 8; Gehrlein in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 781 BGB Rz. 8; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 3; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 1 und Rz. 8; BuckHeeb in PWW, 4. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 9; Stadler in Jauernig, 2007, § 781 BGB Rz. 15. 17 BGH, NJW 1963, 2316, 2317; KG, NJW 1971, 1219, 1220; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 8; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 3; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 8. 18 Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 31. 19 S. hierzu Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 26 und 28 f.; Heckelmann/Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 10; vgl. auch BGH, NJW 2002, 1041.
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Rechtsbindungswillen der Parteien indizieren sind dagegen, wenn dem Anerkenntnis bereits Regulierungsgespräche vorausgegangen sind20 oder das Anerkenntnis sich auf eine bestimmte Summe bezieht. Aber auch wenn eine unbezifferte Verpflichtung seitens des Schuldners anerkannt wird, kann dennoch ein kausales Schuldanerkenntnis vorliegen, sofern die Person des Anerkennenden und die Umstände der Erklärung gewährleisten, dass die Übernahme der Zahlungspflicht mehr ist als ein anders formuliertes Schuldbekenntnis. Dies wird man insbesondere dann annehmen müssen, wenn die Parteien darüber hinausgehende Zwecke mit ihren Erklärungen verfolgen21, insbesondere wenn die Parteien mithilfe der Vereinbarung einen Streit oder eine (subjektive) Ungewissheit beseitigen wollen22. Zwar gilt die Formvorschrift des § 781 BGB nicht für das kausale Schuldanerkenntnis. Ein Indiz für einen rechtsgeschäftlichen Bindungswillen wird man aber regelmäßig dann annehmen müssen, wenn sich die Anerkennung in einer schriftlichen Erklärung niederschlägt23. 2. Rechtsfolge des kausalen Schuldanerkenntnisses Als charakteristische Rechtsfolge zeitigt das deklaratorische Schuldanerkenntnis einen Einwendungsausschluss. Danach werden dem Schuldner Einreden sowie rechtshindernde oder rechtsvernichtende Einwendungen abgeschnitten24. Soweit der Einwendungsausschluss mit der (ansonsten) bestehenden Rechtslage übereinstimmt, wirkt das Schuldanerkenntnis lediglich deklaratorisch. Wird hingegen das Schuldverhältnis hierdurch abweichend fixiert, ohne dass dadurch eine neue Schuld begründet wird, spricht man von einer konstitutiven Wirkung des (deklaratorischen) Anerkenntnisses. Auch soweit das Schuldanerkenntnis konstitutiv wirkt, richten sich die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten aber im Übrigen nach dem Typus der vorherigen Schuld, deren Eigenschaft hierdurch nicht verändert wird25. Die Reichweite des Einwendungsausschlusses richtet sich nach dem Willen der Parteien26. Letzterer ist durch Auslegung zu ermitteln.
__________ 20 Geigel, Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 2008, 38. Kap. Rz. 12; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 32; s. auch KG, NJW 1975, 1326, 1327. 21 S. KG, NJW 1971, 1219 f.: Vermeidung von Scherereien, insbesondere einer polizeilichen Unfallaufnahme; s. auch Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 32. 22 Geigel, Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 2008, 38. Kap. Rz. 13; s. auch BGH, NJW 1999, 2889; BGH, NJW 1995, 960. 23 Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 32; s. auch Lindacher, JuS 1973, 79, 82. 24 BGH, WM 1976, 689, 690; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 5; Gehrlein in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 781 BGB Rz. 10; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 11. 25 BGH, WM 1976, 689, 690; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 14; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 5. 26 BGH, WM 1976, 689, 690; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 21; Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 12.
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3. Der Wille der Parteien, den Gläubiger freizustellen von der Verjährungseinrede Verfolgen die Parteien mit der Vereinbarung die Absicht, dem Schuldner Einwendungen und Einreden ebenso abzuschneiden wie durch ein stattgebendes staatliches Urteil zugunsten des Gläubigers, Letzteren also m. a. W. insoweit einredefrei zu stellen, liegen die Voraussetzungen eines kausalen Schuldanerkenntnisses vor. Hier erschöpft sich nämlich die Erklärung der Parteien nicht in der Anerkennung der gesetzlichen (bzw. vertraglichen) Rechtslage. Vielmehr ist der Wille der Parteien darauf gerichtet, die Unsicherheit zu beseitigen, ob und inwieweit der Schuldner in Zukunft die Einrede der Verjährung erheben wird oder nicht. Der Wille der Parteien ist damit darauf gerichtet, die bestehende Rechtslage durch die Vereinbarung zu modifizieren, d. h. zu verhindern, dass die Durchsetzung des Anspruchs an der Möglichkeit der Geltendmachung der Verjährungseinrede scheitert. Wird ein derartiger Wille der Parteien zudem schriftlich niedergelegt, liegt die Annahme eines urteilsersetzenden Anerkenntnisses nahe, das dem Schuldner – vergleichbar § 218 Abs. 1 BGB a. F. (§ 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB n. F.) – die Berufung auf die ansonsten maßgebende Verjährungsfrist abschneidet. Diese Überlegungen hat der BGH in der – oben bereits zitierten – Entscheidung aus dem Jahr 1985 wie folgt zusammengefasst: „Nicht zu beanstanden ist die vom BerGer. vorgenommene Auslegung des Anerkenntnisses dahin, dass der Haftpflichtversicherer damit keine selbständige Grundlage für den Schadensersatzanspruch des Kl. i. S. eines sogenannten konstitutiven Anerkenntnisses schaffen wollte. Der Begründung eines solchen neuen Anspruchs bedurfte es hier nach den gesamten Umständen schon deshalb nicht, weil die Schadensersatzpflicht des Bekl. dem Grunde nach von jeher außer Streit war. Insoweit hat das BerGer. deshalb das Anerkenntnis unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten rechtsfehlerfrei nicht für schuldbegründend (konstitutiv), sondern lediglich für schuldbestätigend (deklaratorisch) gehalten. Mit dieser Auslegung ist jedoch die Tragweite des Anerkenntnisses nicht erschöpft. Wie das BerGer. richtig sieht, wollte der Haftpflichtversicherer des Bekl. den Kl. hinsichtlich des materiellen Zukunftsschadens klaglos stellen. Dies konnte sich nach der gesamten Sachlage nur auf die Entbehrlichkeit einer Feststellungsklage beziehen, da der Zukunftsschaden des Kl. seinerzeit noch nicht mit einer Leistungsklage gerichtlich geltend gemacht werden konnte.“
V. Die Reichweite der Autonomie Im Wege eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses können die Parteien über ein Schuldverhältnis freilich nur insoweit disponieren, wie dieses der Dispositionsbefugnis der Parteien unterliegt27. Aus dem Prozessrecht ergeben sich vorliegend keine Einschränkungen der Parteiautonomie, denn es stehen ja nicht die prozessualen Wirkungen der Rechtskraft in Frage. Vielmehr stehen die (materiell-rechtlichen) Tatbestandwirkungen mit Blick auf das materielle
__________ 27 Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 21.
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Recht im Vordergrund. Denn trotz des neu gefassten § 202 BGB ist heute unstreitig, dass auch die Erschwerung der Verjährung in bestimmten Grenzen der Autonomie der Parteien unterliegt. Das war freilich nicht immer so. Vor allem für die Zeit vor der Schuldrechtsreform stellte sich die Frage, wie sich das urteilsvertretende Anerkenntnis zu § 225 BGB a. F. verhält. Mit letzterer Vorschrift stand das urteilsvertretende Anerkenntnis nämlich – zumindest auf den ersten Blick – in Konflikt. Die Vorschrift sah nämlich vor, dass die Verjährung durch Rechtsgeschäft weder ausgeschlossen noch erschwert werden kann. Die Vorschrift war – h. M. – Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB28. 1. Der Inhalt des § 225 BGB a. F. Das Verbot des § 225 Satz 1 BGB a. F. galt in erster Linie für Vereinbarungen zwischen Schuldner und Gläubiger, die die Verjährung erschweren. Voraussetzung war allerdings, dass die Verjährung noch nicht eingetreten war. Entgegen der (nicht amtlichen) Gesetzesüberschrift, in der von „Vereinbarungen“, also einer zweiseitigen Abmachung die Rede ist, spricht der Gesetzestext selbst von „Rechtsgeschäft“. Die h. M. subsumierte nun unter letzteren Begriff auch einseitige Rechtsgeschäfte, z. B. einen Verzicht auf die Verjährungseinrede. Auch dieser war mithin vor Eintritt der Verjährung (nicht aber danach) verboten29. Dies galt auch dann, wenn der Verzicht zwar vor der Verjährung ausgesprochen, die Wirkungen des Verzichts aber erst nach Vollendung der Verjährung eintreten sollten30. (Einseitige oder zweiseitige) Rechtsgeschäfte, die gegen § 225 BGB a. F. verstießen, waren grundsätzlich nichtig. Ob eine „Erschwerung“ der Verjährung vorlag, war unter der Geltung des alten Rechts allein nach objektiven Maßstäben zu bestimmen. Was der Schuldner als Erschwerung empfand, war demgegenüber nicht maßgebend; denn die Vorschrift in § 225 BGB a. F. diente – h. M. zufolge – nicht nur dem Schuldnerschutz, sondern zugleich auch der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden und damit dem öffentlichen Interesse31. Erfasst wurden von dem Verbotsgesetz in § 225 BGB a. F. daher nicht nur der Verjährungsausschluss, sondern auch die (rechtsgeschäftliche) Verlängerung der Verjährungsfrist32. 2. Zulässigkeit mittelbarer Erschwerungen Der BGH ist vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform in ständiger Rspr davon ausgegangen, dass die Parteien die durch § 225 BGB a. F. gezogenen Grenzen der Parteiautonomie nicht überschreiten, wenn sie ein urteilsersetzendes An-
__________
28 Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 225 BGB Rz. 1; Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 1; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 1; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 1. 29 BGH, NJW 1979, 866, 867; BGH, NJW 1998, 902, 903; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 3. 30 BGH, NJW 1998, 902, 903. 31 Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 1. 32 Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 225 BGB Rz. 1; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 2.
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erkenntnis vereinbaren. Die Begründung hierfür sah man darin, dass das Verbotsgesetz in § 225 BGB a. F. – h. M. zufolge – nur solche Rechtsgeschäfte erfasste, die die Verjährung unmittelbar ausschließen oder erschweren. Ausgeschlossen war die Parteiautonomie somit nur auf der Ebene des Verjährungsrechts. Dagegen sollte § 225 BGB a. F. die Parteien nicht daran hindern, auf eine andere – nämlich schuldrechtliche – Regelungsebene auszuweichen. Das galt selbst dann, wenn die anderweitige schuldrechtliche Ebene einen Bezug zum Verjährungsrecht aufwies und dieses mithin mittelbar beeinflusste33. Beispiele hierfür sind etwa Stundungsabreden oder das (einseitige) Hinausschieben der Fälligkeit34. Kennzeichnend für diese Kategorie an Rechtsgeschäften ist, dass es sich hierbei um selbständige (zulässige) Vereinbarungen auf der Grundlage des Schuldrechts handelt, die quasi als weitere (und damit mittelbare) Folge eine Verlängerung der Verjährungsfrist mit sich bringen35. Derartige Vereinbarungen sollten aber im Hinblick auf § 225 BGB a. F. stets zulässig sein. Statthaft waren derartige (selbständige) Vereinbarungen auf der Ebene des Schuldrechts – h. M. zufolge – selbst dann, wenn diese allein um ihrer verjährungsrechtlichen Nebenfolgen willen geschlossen wurden36. Daher war auch eine Stundungsabrede zulässig, deren Zweck allein darauf gerichtet war, die Verjährung hinauszuschieben. Aus dem gleichen Grund war auch die Verlängerung der Verjährungsfrist durch eine Garantievereinbarung zulässig37. Statthaft war überdies auch die Novation, wenn also beispielsweise ein in Frage stehender Pflichtteilsanspruch gänzlich in einen anderen Anspruch – etwa in ein Darlehen – umgewandelt wurde, um auf diese Weise in den Genuss einer längeren Verjährungsfrist zu gelangen38. Im Lichte der vorstehenden Vorgaben stellte sich das urteilsersetzende Anerkenntnis ebenfalls als eine nur mittelbare und damit zulässige Erschwerung der Verjährungsfrist dar; denn der primäre Zweck eines kausalen Schuldanerkenntnisses diente ja einem erlaubten und berechtigten Anliegen. Erschöpft sich aber das Rechtsinstitut des kausalen Schuldanerkenntnisses nicht darin, die Verjährung zu erschweren, sondern hat dieses einen breiteren Anwendungsbereich, dann sind die von einer solchen Vereinbarung ausgehenden Auswirkungen auf die Verjährung – selbst wenn das Rechtsgeschäft allein um deretwillen vorgenommen wurde – mittelbare und damit zu billigende Nebenfolgen. Nach altem Recht konnte mithin § 225 BGB a. F. das urteilsersetzende Anerkenntnis nicht sperren.
__________ 33 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 1 f.; Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 225 BGB Rz. 1; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 4. 34 Vgl. dazu J. Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 3. 35 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 1. 36 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 1. 37 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 2. 38 Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 225 BGB Rz. 1; Grothe in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2001, § 225 BGB Rz. 4; Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 225 BGB Rz. 2.
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VI. Rechtsvergleichung Die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform in Deutschland gleicht – zumindest im Ausgangspunkt – der gegenwärtigen Rechtslage in der Schweiz. Nach Art. 129 OR können die Verjährungsfristen39 durch Verfügung der Beteiligten nicht abgeändert werden40. Wertungsgrundlage dieser Vorschrift ist, dass die Unabänderlichkeit der Verjährungsfristen der Rechtssicherheit und damit dem öffentlichen Interesse dient und daher der rechtsgeschäftlichen Abänderung durch die Parteien entzogen ist41. Flankiert wird die Vorschrift durch Art. 141 OR. Danach kann „auf die Verjährung nicht zum Voraus verzichtet werden“. Vereinbarungen, die gegen § 141 oder Art. 129 OR verstoßen, sind nach Art. 20 Abs. 1 OR nichtig. Trotz dieser – dem Gesetzeswortlaut nach – sehr eingeschränkten Parteiautonomie sieht Art. 137 Abs. 2 OR Folgendes vor: „Wird die Forderung durch Ausstellung einer Urkunde anerkannt oder durch Urteil des Richters festgestellt, so ist die neue Verjährungsfrist stets die zehnjährige.“
Für die urkundliche Anerkennung der Forderung gilt mithin im schweizerischen Recht dieselbe Frist wie für die richterliche Feststellung der Forderung. Hinter der richterlichen Feststellung der Forderung verbirgt sich – ebenso wie in § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB – eine richterliche Entscheidung, die rechtskräftig den Bestand der Forderung zum Ausdruck bringt42. Der Begriff der Schuldanerkennung i. S. des Art. 137 Abs. 2 OR ist allerdings von dem Schuldanerkenntnis nach deutschem Recht – zumindest auf den ersten Blick – verschieden. Als Schuldanerkennung i. S. des Art. 137 Abs. 2 OR gilt nämlich nur eine urkundliche Anerkennung, die nach Art. 82 SchKG auch Grundlage einer provisorischen Rechtsöffnung im Rahmen der Zwangsvollstreckung sein kann (Art. 82 SchKG)43. Danach muss die Forderung schriftlich beziffert und vom Schuldner unterschriftlich anerkannt sein44. Das Anerkenntnis kann (muss aber nicht) in einem Vertrag niedergelegt bzw. enthalten sein. Damit sind die Anforderungen an ein „urteilsersetzendes Anerkenntnis“ nach schweizerischem Recht teils leichter, teils strenger als nach deutschem Recht. Während die Schuldanerkennung nach deutschem Recht ein Vertrag, d. h. ein zweiseitiges Rechtsgeschäft ist (siehe bereits oben)45, kann die Schuldanerken-
__________ 39 Aus dem Wortlaut des Art. 129 OR folgert die h. M., dass der Anwendungsbereich der Vorschrift auf die im 3. Titel des OR genannten Verjährungsfristen beschränkt ist, s. BGE 132 III 226, 234; Honsell/Däppen, Obligationsrecht Kurzkommentar, 2008, Art. 129 Rz. 1. 40 Die Rspr. fährt dieses Verbot zunehmend zurück. Nach einer aktuellen Entscheidung soll Art. 129 OR nicht für Parteivereinbarungen nach Abschluss des Vertrages gelten, vgl. BGE 132 III 226, 238 ff. 41 Däppen in Honsell/Vogt/Wiegand (Hrsg.), Basler Kommentar zum Obligationenrecht, 4. Aufl. 2007, Art. 1. 42 Däppen in Honsell/Vogt/Wiegand (Hrsg.), Basler Kommentar zum Obligationenrecht, 4. Aufl. 2007, Art. 139 Rz. 4. 43 BGE v. 23.10.2003 – 5C.61/2003/frs. 44 BGE 113 II, 264, 268 f.; Däppen in Honsell/Vogt/Wiegand (Hrsg.), Basler Kommentar zum Obligationenrecht, 4. Aufl. 2007, Art. 139 Rz. 3. 45 BGH, NJW-RR 2007, 530.
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nung nach schweizerischem Recht auch einseitig erklärt werden. Unterm Strich ist dieser Unterschied freilich wenig bedeutsam; denn die Anforderungen an einen Vertragsschluss werden im deutschen Recht nicht überspannt. Findet sich nämlich eine Erklärung des Schuldners mit entsprechendem Rechtsbindungswillen, dann wird in der Regel die konkludente Annahme der Erklärung durch den Gläubiger unterstellt46. Darüber hinaus hält die h. M. in einem solchen Fall auch den Zugang der Annahmeerklärung nach § 151 Satz 1 BGB grundsätzlich für entbehrlich47. Strenger ist das schweizerische Recht allerdings hinsichtlich der für die Schuldanerkennung notwendigen Form. Während nach deutschem Recht für das kausale Schuldanerkenntnis keine besondere Form vorgesehen ist, da § 781 BGB hierauf keine Anwendung findet48, handelt es sich bei der Schuldanerkennung nach Art. 137 OR um eine schriftliche, vom Schuldner unterzeichnete vorbehaltlose Erklärung, dem Gläubiger einen genau bestimmten Betrag zu schulden49. Freilich werden die Unterschiede zwischen beiden Rechtsordnungen dadurch ein wenig nivelliert, dass – nach deutschem Recht – die Schriftlichkeit der Anerkennung als Indiz für einen entsprechenden Rechtsbindungswillen der (erklärenden) Partei herangezogen wird (siehe oben) und damit ein urteilsersetzendes Anerkenntnis in Form einer mündlichen Abrede nach deutschem Recht in aller Regel ausscheidet50. (Relevante) Unterschiede verbleiben jedoch. Insbesondere genügt nach schweizerischem Recht eine schriftliche Anerkennung der Schuld dem Grunde nach nicht, um die für rechtskräftige Urteile geltende Verjährungsfrist auszulösen. Vielmehr muss nach schweizerischem Recht das Anerkenntnis die Forderung wie „im Falle eines Urteils beziffern“, um die verjährungsrechtlichen Rechtsfolgen des Art. 137 OR auszulösen51.
VII. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten Fraglich ist, ob die Parteien das mit dem urteilsersetzenden Anerkenntnis angestrebte Ziel nicht auch auf andere Weise erreichen können. Das BGB sieht jedenfalls eine Reihe ausdrücklich geregelter Rechtsinstitute vor, um auf die Verjährungsfrist einzuwirken. Damit stellt sich die Frage, ob und inwieweit das urteilsvertretende Anerkenntnis mit diesen anderen Rechtsinstituten deckungsgleich bzw. wie es von diesen abzugrenzen ist.
__________ 46 Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 9. 47 BGH, NJW 2000, 276, 277; Buck-Heeb in PWW, 4. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 9. 48 Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 3; Heckelmann/ Wilhelmi in Erman, 12. Aufl. 2008, § 781 BGB Rz. 9. 49 BGE 113 II 264, 268. 50 Geigel, Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 2008, 38. Kap. Rz. 24. 51 BGE 113 II 264, 268.
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1. Abgrenzung von § 205 BGB Nach § 205 BGB wird die Verjährung durch eine Vereinbarung gehemmt, wenn der Schuldner aufgrund einer Vereinbarung mit dem Gläubiger vorübergehend52 zur Verweigerung der Leistung berechtigt ist. Die Vorschrift geht zurück auf § 202 BGB a. F. Anders aber als § 202 BGB a. F. erfasst § 205 BGB keine gesetzlichen Leistungshindernisse. Dies gilt auch dann, wenn diese vertraglich nachvollzogen werden53. In den Anwendungsbereich des § 205 BGB fallen vor allem die Stundung und das Stillhalteabkommen (pactum de non petendo). a) Wesensmerkmale von Stundung und Stillhalteabkommen Inhalt einer Stundungsvereinbarung ist, die Fälligkeit der Forderung – nach Verjährungsbeginn – hinaus zu schieben54. Dabei setzt auch die Stundung i. S. des § 205 BGB – wie das urteilsvertretende Anerkenntnis – eine Einigung zwischen den Parteien voraus55. Ein einseitiges Stundungsangebot des Gläubigers genügt demgegenüber nicht56. Dem Gläubiger soll nämlich nicht erlaubt sein, selbst darüber zu entscheiden, wann der Anspruch verjährt. Vielmehr bedarf es hierfür eines Einvernehmens mit dem Schuldner. Der Stundung gleich gestellt ist – h. M. zufolge – das so genannte „Stillhalteabkommen“57. Darunter versteht man die Absprache zwischen Gläubiger und Schuldner, den Anspruch einstweilen nicht geltend zu machen (ohne dabei jedoch die Fälligkeit hinauszuschieben). Allerdings muss in einem solchen Fall der Wille der Parteien darauf gerichtet sein, für den Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht zu begründen oder die Klagbarkeit zumindest vorübergehend auszuschließen58. Der Gläubiger muss sich also mit anderen Worten rechtsverbindlich der Möglichkeit begeben haben, den Anspruch jederzeit weiter verfolgen zu können.
__________ 52 Auf peremptorische Verweigerungsrechte findet § 205 BGB keine Anwendung, Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 205 BGB Rz. 1; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 1. 53 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 2; Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 205 BGB Rz. 2. 54 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 3; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 205 BGB Rz. 2. 55 Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 205 BGB Rz. 1. 56 BGH, NJW 1983, 2496, 2497; BGH, WM 1977, 895, 896; vgl. auch Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 205 BGB Rz. 10; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 3. 57 Vgl. BGH, NJW 1983, 2496, 2497 f.; BGH, NJW 2000, 2661, 2662; Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 205 BGB Rz. 5 f.; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 205 BGB Rz. 5. 58 BGH, NJW 1983, 2496, 2497; BGH, NJW 1998, 2274, 2277; BGH, NJW 1999, 1101, 1102; BGH, NJW 2000, 2661, 2662; BGH, NJW 2002, 1488 f.
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b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis Auch wenn urteilsvertretendes Anerkenntnis und die von § 205 BGB erfassten Verhaltensweisen beide auf einer Vereinbarung der Vertragsparteien beruhen, so sind sie doch von ihrem Inhalt her nicht deckungsgleich. H. M. zufolge hat das kausale Schuldverhältnis eine vergleichsähnliche Rechtsnatur (s. oben I). Im Unterschied zum Vergleich werden hier jedoch Streit und Ungewissheit nicht durch gegenseitiges, sondern durch einseitiges Nachgeben, nämlich das des Schuldners beseitigt59. Wollen die Parteien mithin lediglich die Zweifel an der künftigen Durchsetzbarkeit des Anspruchs ausschließen, gleichzeitig aber dem Gläubiger das Recht vorbehalten, den Anspruch jederzeit durchsetzen zu können, dann ist dieses Ziel nicht durch eine Vereinbarung nach § 205 BGB zu erreichen. Kennzeichnend für eine derartige Vereinbarung ist nämlich, dass sich der Gläubiger gegenüber dem Schuldner rechtsgeschäftlich bindet, befristet oder zumindest vorübergehend auf die Geltendmachung des Anspruchs zu verzichten. Der Verpflichtete muss also – zumindest zeitweise – zur Verweigerung der Leistung berechtigt sein60. Auch wenn an das rechtliche Hindernis keine hohen Anforderungen anzulegen sind61, so scheidet doch ein solches aus, wenn der Gläubiger jederzeit die Forderung einziehen kann, ohne nach der Vereinbarung rechtliche Nachteile fürchten zu müssen62. Voraussetzung für eine Vereinbarung nach § 205 BGB ist mithin, dass dem Gläubiger die Entscheidung, wie er mit der Forderung umgehen will, nicht gänzlich offen gelassen wird63. Vielmehr muss er sich insoweit mit Wissen und Billigung der anderen Partei – zumindest zeitweise – Beschränkungen unterworfen haben. Dies zeigt nicht zuletzt auch ein Blick auf § 202 Abs. 2 BGB a. F. Dort nahm das Gesetz nämlich solche (gesetzliche) Einreden vom Anwendungsbereich der Vorschrift aus, die der Gläubiger selbst beseitigen kann, d. h. die ihn in seiner Rechtsverfolgung nicht beschränkten64. 2. Abgrenzung zu § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB Nach § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB beginnt die Verjährung erneut an zu laufen, wenn der Schuldner den Anspruch „anerkennt“. Die Anerkennung muss der Schuldner durch Erklärung gegenüber dem Berechtigten abgeben. Die Erklärung setzt voraus, dass sie für den Berechtigten bestimmt ist65. Anders als für das urteilsersetzende Anerkenntnis ist für die „Anerkennung“ i. S. des
__________ 59 Marburger in Staudinger, 2009, § 781 BGB Rz. 8; Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 5; Buck-Heeb in PWW, 4. Aufl. 2009, § 781 BGB Rz. 9. 60 BGH, NJW 1973, 316, 317; BGH, NJW 1983, 2496, 2497; OLG Zweibrücken, NJW-RR 1995, 260, 261. 61 Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 202 BGB Rz. 4. 62 BGH, NJW 1998, 2274, 2277. 63 BGH, NJW 2000, 2661, 2662; BGH, NJW 1999, 1101, 1103. 64 S. hierzu Hefermehl in Erman, 10. Aufl. 2000, § 202 BGB Rz. 11; Niedenführ in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 202 BGB Rz. 19. 65 BGHZ 51, 125, 126 f.; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 5.
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Urteilsvertretendes Anerkenntnis und Verjährung
§ 212 Abs. 1 BGB kein Vertrag notwendig. Das Anerkenntnis des Schuldners bedarf also nicht der Annahe durch den Gläubiger66. a) Merkmale eines Anerkenntnisses Überwiegender Ansicht nach ist für ein Anerkenntnis i. S. des § 212 BGB keine rechtsgeschäftliche Willenserklärung erforderlich67. Ausreichend ist vielmehr ein rein tatsächliches Verhalten des Schuldners gegenüber dem Gläubiger, aus dem sich das Bewusstsein vom Bestehen des Anspruchs unzweideutig ergibt und das daher das Vertrauen des Gläubigers begründet, der Schuldner werde sich nicht nach Ablauf der Verjährungsfrist alsbald auf Verjährung berufen68. Als Beispiele für Verhaltensweisen, denen das Bewusstsein des Schuldners über das Bestehen des Anspruchs entnommen werden kann, nennt das Gesetz Abschlags- und Zinszahlungen oder Sicherheitsleistungen. Das Bewusstsein vom Bestehen des Anspruchs ist jedoch nicht gegeben, wenn der Schuldner die Leistung nur aus Kulanz oder zur gütlichen Beilegung des Rechtsstreits anbietet69. Gleiches gilt, wenn lediglich Verhandlungen geführt werden, ohne aber dass der Anspruch dem Grunde nach oder in Teilen nicht mehr bestritten wird, die Parteien also m. a. W. ihre ursprünglichen Standpunkte aufrechterhalten70. Allerdings sieht das Gesetz in § 203 BGB von Gesetzes wegen vor, dass im Falle von (schwebenden) Verhandlungen zwischen Gläubiger und Schuldner über den Anspruch oder über den Anspruch begründende Umstände die Verjährung so lange gehemmt ist, bis der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlung verweigert. Das Anerkenntnis muss sich auf den in Frage stehenden Anspruch beziehen. Dabei reicht es aus, wenn sich das Anerkenntnis auf den Grund des Anspruchs bezieht71. Auch dann werden die Wirkungen des § 212 BGB in Bezug auf den gesamten Anspruch ausgelöst. Das gilt selbst für den Fall, dass sich der Schuldner über den Gesamtumfang des Anspruchs noch nicht im Klaren ist oder an so weitgehende Ansprüche gar nicht gedacht hat72. Abzugrenzen ist allerdings das Anerkenntnis dem Grunde nach von dem Teilanerkenntnis73. Ist nämlich die Verbindlichkeit teilbar und bezieht sich das Anerkenntnis nur auf
__________ 66 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 6; Kessler in PWW, 4. Aufl 2009, § 212 BGB Rz. 3. 67 BGH, NJW-RR 1994, 373; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 212 BGB Rz. 2; SchmidtRäntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 6. 68 BGH, WM 1975, 559; BGH, NJW 2000, 2661, 2663; BGH, NJW 1999, 1101, 1103; Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 212 BGB Rz. 6. 69 BGH, NJW 1988, 254. 70 BGH, MDR 2003, 78. 71 BGH, MDR 2002, 1240; BGH, NJW-RR 1986, 324 f.; BGH, WM 1975, 559; BGHZ 113, 234, 238; BGHZ 135, 9, 11; MünchKommBGB/Grothe, 5. Aufl. 2006, § 212 BGB Rz. 7; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 7. 72 RGZ 135, 9, 11 f.; BGH, NJW 1970, 1682. 73 RGZ 113, 234, 238; BGH, NJW-RR 1986, 324 f.
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einen bestimmten Teil der Forderung, dann sind die Wirkungen des § 212 BGB auch nur auf diesen Teil begrenzt74. b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis Anerkenntnis und urteilsvertretendes Anerkenntnis sind nicht nur hinsichtlich ihrer Voraussetzungen verschieden (einseitige Erklärung bzw. zweiseitiges Rechtsgeschäft), sondern auch im Hinblick auf ihre Wirkungen. Der Neubeginn der Verjährung nach § 212 führt nämlich dazu, dass die ursprünglich Verjährungsfrist sofort, d. h. mit dem auf das Anerkenntnis folgenden Tag neu zu laufen beginnt75. Das urteilsvertretende Anerkenntnis führt zu einem neuen Beginn der Verjährung. Anders aber als bei dem Anerkenntnis nach § 212 BGB gilt insoweit nicht die ursprüngliche, sondern die für rechtskräftig festgestellte Ansprüche geltende Frist. Insoweit sind die von der urteilsersetzenden Anerkennung bezweckten Rechtsfolgen deutlich weiter als diejenigen, die mit dem Anerkenntnis nach § 212 BGB einhergehen. Beide Rechtsfiguren sind mithin nicht deckungsgleich. 3. Abgrenzung zur Verjährungserschwerung nach § 202 BGB Nach § 202 Abs. 2 BGB kann die Verjährung durch Rechtsgeschäft erschwert werden. Allerdings sind derartigen Vereinbarungen Grenzen gesetzt. Die Verjährung darf nicht über die Verjährungsfrist von 30 Jahren ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn hinaus erschwert werden. a) Die von § 202 BGB erfassten Rechtsgeschäfte § 202 BGB erfasst in erster Linie Erschwerungsvereinbarungen zwischen Gläubiger und Schuldner. Gegenstand der Vereinbarung können die Länge der Verjährungsfrist, deren Beginn, Hemmung oder Ablaufhemmung oder der Verzicht auf die Verjährung sein76. Nicht erfasst werden von § 202 BGB solche Vereinbarungen, die sich nur mittelbar auf die Verjährung auswirken (Stundung, Vereinbarung einer aufschiebenden Bedingung, etc. – s. oben)77. Vereinbarungen über die Verjährung sind zudem nicht an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden. Die neue Vertragsfreiheit gestattet vielmehr derartige Vereinbarungen sowohl vor Entstehung des Anspruchs zu treffen als auch nachträglich eine bereits laufende Verjährungsfrist zu verlängern78.
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74 Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 212 BGB Rz. 9; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 7. 75 BGH, NJW 1998, 2274, 2277; BGHZ 109, 220, 223; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 212 BGB Rz. 2; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 212 BGB Rz. 7. 76 Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 202 BGB Rz. 3; Grothe in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 202 BGB Rz. 11; Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 7; Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 202 BGB Rz. 4. 77 Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 202 BGB Rz. 3; a. A. Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 2. 78 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 202 BGB Rz. 5; Henrich in Bamberger/ Roth, 2 Aufl. 2007, § 202 Rz. 3; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 2.
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§ 202 Abs. 2 BGB bestimmt, dass die Verjährung des Anspruchs durch „Rechtsgeschäft“ erschwert werden kann. Unter diesen Begriff „Rechtsgeschäft“ ist sicherlich eine Vereinbarung der Parteien, d. h. ein zweiseitiges Rechtsgeschäft zu subsumieren, mit dem die Verjährung erschwert wird. H. M. fällt unter den Begriff „Rechtsgeschäft“ aber auch ein einseitiger Verzicht des Schuldners auf die Einrede der Verjährung79. Dies steht zwar mit der amtlichen Gesetzesüberschrift nicht in Einklang, die lediglich von „Vereinbarungen“ spricht. Jedoch wurde schon nach altem Recht der Begriff „Rechtsgeschäft“ in § 225 BGB a. F. weit ausgelegt (siehe oben). Im Gegensatz zum alten Recht, bei dem ein Verzicht auf die Verjährungseinrede nur nach Ablauf der Verjährung möglich war80, kann dieser nunmehr (auch) vor Verjährungsvollendung erklärt werden81. Eine besondere Form ist hierfür nicht vorgesehen82. Streitig ist, welche Bedeutung ein – vor Verjährungsvollendung – erklärter unbefristeter Verjährungsverzicht hat. Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass dann die Reichweite des Verzichts mit Blick auf die Obergrenze des § 202 Abs. 2 BGB auf das zulässige Maß zu reduzieren ist83. Andere wollen den so erklärten Verzicht dagegen dahin verstehen, dass damit die Verjährungsfrist neu zu laufen beginnt84. In jedem Fall aber ist die Vereinbarung in einem solchen Fall nicht nichtig85. b) Unterschiede zum urteilsvertretenden Anerkenntnis Urteilsvertretendes Anerkenntnis und (befristeter) Verzicht auf die Verjährungseinrede unterscheiden sich dahingehend, dass es sich bei ersterem um ein zweiseitiges und bei letzterem um ein einseitiges Rechtsgeschäft handelt. Darüber hinaus unterscheiden sich beide Rechtsinstitute aber auch in Bezug auf die Bindungswirkung; denn der einseitige Verzicht auf die Verjährung ist – überwiegender Ansicht nach – widerrufbar. Die genauen Grenzen der Widerruflichkeit sind allerdings umstritten. In einer älteren Entscheidung hat der BGH – eher beiläufig – erwähnt, dass der Verzicht jedenfalls nicht frei widerruflich sei86. In der Literatur wird demgegenüber die Ansicht vertreten, dass der einseitige Verzicht durch den Schuldner frei widerruflich ist, und zwar auch dann, wenn er einen Termin genannt hat, bis zu dem er mit seiner Verjährungseinrede „stillhalten“ will. Bis zum Widerruf wird der Gläubiger in seinem Vertrauen auf die Erklärung geschützt; alsdann muss er – dieser An-
__________ 79 BGH, DNotZ 2008, 277, 278. 80 BGH, NJW 1973, 1690, 1691. 81 BGH, DNotZ 2008, 277, 278; OLG Brandenburg, NJW-RR-2005, 871; Grothe in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2006, § 202 BGB Rz. 13; Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 5; Lakkis, ZGS 2003, 423, 424. 82 Lakkis, ZGS 2003, 423, 425; Peters in Staudinger, 2004, § 214 BGB Rz. 29. 83 BGH, DNotZ 2008, 277, 278; Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 19; Kessler in PWW, 4. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 7; Lakkis, ZGS 2003, 423, 425. 84 OLG Brandenburg, NJW-RR 2005, 871, 872; Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 202 BGB Rz. 7. 85 BGH, DNotZ 2008, 277, 278; Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 202 BGB Rz. 7. 86 BGHZ 22, 267, 271.
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sicht zufolge – alsbald verjährungshemmende Maßnahmen ergreifen87. Anders ist das freilich bei dem urteilsersetzenden Anerkenntnis. Hier unterliegt das Anerkenntnis aufgrund der Zweiseitigkeit des Rechtsgeschäfts der Bindungswirkung und kann keinesfalls einseitig widerrufen werden. Fraglich und umstritten ist demgegenüber, ob zwischen dem urteilsersetzenden Anerkenntnis und der verjährungserschwerenden Vereinbarung Deckungsgleichheit besteht. Teilweise wird dies bejaht und daraus die Schussfolgerung gezogen, dass für eine Anwendbarkeit der Rechtsfigur des urteilsersetzenden Anerkenntnisses für die Zeit nach Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes kein Raum mehr besteht88. Teilweise wird in der Literatur aber auch – nach wie vor – der Abschluss eines urteilsersetzenden Anerkenntnisses für möglich gehalten89. Die Rechtsprechung hat zu dieser Frage noch nicht abschließend Stellung genommen90. Zu folgen ist der Ansicht, wonach auch heute für das urteilsersetzende Anerkenntnis ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt. Wenn schon nach altem Recht der Ausschluss der Parteiautonomie in Bezug auf das Verjährungsrechts einen Rückgriff auf die schuldrechtliche Regelungsebene nicht verhindern konnte, so muss dies erst recht heute gelten, wo es eine solche Barriere aufgrund der Liberalisierung des Verjährungsrechts nicht mehr gibt. Es steht den Parteien daher frei, wie sie auf die Verjährung des Anspruchs einwirken wollen. Vereinbaren die Parteien daher ausdrücklich ein „urteilsersetzendes Anerkenntnis“, dann ist die Vereinbarung in jedem Fall als kausales Schuldanerkenntnis und nicht als Verjährungserschwerung nach § 202 Abs. 2 BGB einzuordnen. Fraglich kann allenfalls die Abgrenzung sein, wenn der Wille der Parteien keinen ausdrücklichen Niederschlag in der Erklärung gefunden hat und mithin auszulegen ist. Zu beachten ist allerdings, dass beide Vereinbarungen nicht deckungsgleich sind. So gestattet die Verjährungserschwerung nach § 202 BGB eine Verlängerung der Verjährung nicht „über eine Frist von 30 Jahren ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn“. Anders ist die Rechtslage hingegen beim urteilsersetzenden Anerkenntnis, wenn dieses nach Beginn der Verjährungsfrist vereinbart wird. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich die Verjährungserschwerung nach § 202 BGB nicht auf die Anspruchsvoraussetzungen bzw. rechtvernichtenden Einwendungen bezieht und mithin keine Anerkennung (dem Grunde und/oder der Höhe nach) des Anspruches enthält. Ist dem Willen der Parteien aber zu entnehmen, dass sie nicht nur die Verjährungseinrede, sondern auch die Geltendmachung anderer Einwendungen durch den Schuldner ausschließen wollen, liegt die Annahme eines urteilsersetzenden Anerkenntnisses näher als eine Verjährungserschwerung.
__________ 87 Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 5 und § 214 BGB Rz. 33; Lakkis, ZGS 2003, 423, 426. 88 Schmidt-Räntsch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 197 BGB Rz. 14; Mansel/Stürner in AnwK.BGB, 2005, § 197 BGB Rz. 59. 89 Heinrichs in Palandt, 68. Aufl. 2009, § 197 BGB Rz. 12; Henrich in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 197 BGB Rz. 19; Peters in Staudinger, 2004, § 202 BGB Rz. 18 und § 212 BGB Rz. 5. 90 Ausdrücklich offen gelassen in OLG Saarbrücken, OLGR Saarbrücken 2007, 223 ff.
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VIII. Zusammenfassung Das Gesetz gewährt den Parteien verschiedene Möglichkeiten auf die Verjährung eines Anspruchs einzuwirken. Diese Möglichkeiten haben sich durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz deutlich erhöht. All dies aber hat dem durch die Rspr geschaffenen Institut des urteilsersetzenden Anerkenntnisses einen eigenständigen Anwendungsbereich nicht genommen. Vielmehr sollte daran gedacht werden, diesen Anwendungsbereich auf Fälle jenseits des Haftpflichtrechts auszuweiten. Die dogmatischen Grundlagen des urteilsersetzenden Anerkenntnisses geben dies ohne weiteres her. Auch ein rechtvergleichender Blick zeigt, dass hierfür auch außerhalb des Haftpflichtrechts ein Bedürfnis besteht.
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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundlagen 1. Akzessorietät der Bürgschaft 2. Gesetzlicher und gewillkürter Nachrang der Forderung a) Gesetzlicher Nachrang b) Gewillkürter Nachrang III. Haftung des Bürgen für die nachrangige Forderung 1. Rechtsprechung des BGH
2. Präzisierung a) Gesetzlicher Nachrang b) Gewillkürter Nachrang IV. Regress des Bürgen 1. Präzisierung der Fragestellung 2. Gesetzlicher Nachrang 3. Anfechtung nach § 6 AnfG 4. Gewillkürter Nachrang V. Ergebnis
I. Einleitung Im wissenschaftlichen Werk Friedrich Graf von Westphalens nimmt die Interzession eine besondere Stellung ein. Seine in dritter Auflage vorliegende „Bankgarantie im internationalen Handelsverkehr“ darf als Standardwerk bezeichnet werden1; und zu Fragen des Bürgschaftsrechts hat sich der Jubilar wiederholt und engagiert zu Wort gemeldet2. Schon dies legt es nahe, in einer Graf von Westphalen gewidmeten Festschrift Fragen der Interzession aufzugreifen. Es kommt hinzu, dass der Verfasser vor nunmehr gut zehn Jahren Gelegenheit hatte, im Rahmen eines internationalen Schiedsverfahrens, das Fragen der auf erstes Anfordern gestellten Bürgschaft zum Gegenstand hatte, einen intensiven und nachhaltigen Eindruck von den besonderen Fähigkeiten und Erfahrungen des Jubilars auf diesem Gebiet zu erfahren. Aus dem nahezu unerschöpflichen Fundus an interessanten Fragen zum Recht der Interzession sei im Folgenden eine herausgegriffen, die, soweit ersichtlich, im Schrifttum bislang keine allzu große Aufmerksamkeit erfahren hat, die indes angesichts der zunehmenden Komplexität der Finanzierungs- und Kreditsicherungspraxis und veränderter rechtlicher Rahmenbedingungen künftig größere Bedeutung erlangen dürfte. Die Rede ist von der Bürgschaft für eine nachrangige Forderung, mithin der Besicherung einer Forderung, die in der
__________ 1 Graf von Westphalen/Jud, Die Bankgarantie im internationalen Handelsverkehr, 3. Aufl. 2005. 2 Aus jüngerer Zeit: Graf von Westphalen, Ist das rechtliche Schicksal der „auf erstes Anfordern“ zahlbar gestellten Garantie besiegelt?, BB 2003, 116; ders., Unwirksamkeit der Bürgschaft auf erstes Anfordern – Wirksamkeit der Bankgarantie?, ZIP 2004, 1433.
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Insolvenz des Hauptschuldners nur im Range nach den gewöhnlichen Gläubigern und, wenn der Nachrang auf Rechtsgeschäft beruht, außerhalb der Insolvenz typischerweise nur aus nicht zur Schuldendeckung benötigtem Aktivvermögen bedient wird. Eine solche Bürgschaft wirft zunächst die Frage auf, ob sich der Bürge auf den Nachrang der Hauptforderung berufen und damit seine Inanspruchnahme abwenden kann (dazu unter III). Soweit dies dem Bürgen nicht gestattet (er also zur Leistung verpflichtet) ist, fragt sich weiter, ob er den Hauptschuldner als gewöhnlicher – also nicht nachrangiger – Gläubiger in Regress nehmen kann (dazu unter IV.). Zu beginnen ist jedoch mit einer näheren Entfaltung der Problematik (unter II.).
II. Grundlagen 1. Akzessorietät der Bürgschaft Die Frage, ob und inwieweit der Bürge für eine nachrangige Forderung des Gläubigers gegen den Hauptschuldner einzustehen hat, ist vor dem Hintergrund der Akzessorietät der Bürgschaft zu sehen. Nach § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB kann nämlich der Bürge die dem Hauptschuldner zustehenden Einreden geltend machen. § 768 Abs. 1 Satz 2 BGB nimmt hiervon zwar die Einrede der beschränkten Erbenhaftung aus; ergreift also der Erbe des Hauptschuldners Maßnahmen der Haftungsbeschränkung (§§ 1973 f., 1975 ff., 2014 f. BGB), so lässt dies die Haftung des Bürgen unberührt. Im Übrigen aber scheint die Befugnis des Bürgen, neben seinen eigenen Einreden auch diejenigen des Hauptschuldners geltend zu machen, unbeschränkt zu sein. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass der Gläubiger gegenüber dem Bürgen keine besseren Rechte als gegenüber dem Hauptschuldner hat; die mit der Befugnis zur Geltendmachung abgeleiteter Einreden verbundene Durchbrechung des Grundsatzes der Unzulässigkeit einer exceptio ex iure tertii trägt dem Umstand Rechnung, dass der Bürge für fremde Schuld einzustehen hat3. § 768 BGB ergänzt im Übrigen § 767 BGB, der Fortbestand und Umfang der Bürgenschuld an die Hauptschuld knüpft und damit gleichfalls eine wesentliche Ausprägung der Akzessorietät der Bürgschaft zum Ausdruck bringt. Die in der Hauptschuld von Anfang an angelegten Erweiterungen muss sich zwar auch der Bürge entgegenhalten lassen; hierzu zählen nach Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Vorschrift namentlich Sekundäransprüche und Kosten4. In sachlicher Übereinstimmung mit § 768 Abs. 2 BGB, dem zufolge der Bürge eine Einrede nicht durch Verzicht des Schuldners verliert, bestimmt freilich § 767 Abs. 1 Satz 3 BGB, dass sich der Bürge die auf ein Rechtsgeschäft zwischen dem Gläubiger und dem Hauptschuldner zurückgehenden Erweiterungen der Hauptschuld nicht entgegenhalten zu lassen braucht. Auch der Vorschrift des § 767 BGB geht es also darum, den Bürgen an den Verteidigungsmitteln des
__________
3 Habersack in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2009, § 768 BGB Rz. 1; Häuser in Soergel, 12. Aufl. 2007, § 768 BGB Rz. 1; allg. zum Grundsatz der Akzessorietät Habersack, JZ 1997, 857 ff. 4 Näher Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 767 BGB Rz. 7 ff.
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Schuldners teilhaben zu lassen; zudem soll er vor „Fremddisposition“, d. h. einer Erweiterung seiner Haftung allein aufgrund einer Vereinbarung zwischen Gläubiger und Schuldner, geschützt werden5. Freilich ist es anerkannt, dass der Grundsatz der Akzessorietät hinsichtlich des Fortbestands und der Durchsetzbarkeit auch über die in § 768 Abs. 1 Satz 2 BGB geregelte Ausnahme hinaus immer dann einzuschränken ist, wenn dies der Sicherungszweck der Bürgschaft erfordert. So versteht es sich von selbst, dass der Bürge seiner Inanspruchnahme nicht unter Hinweis darauf entgehen kann, dass der Hauptschuldner vermögenslos und in der Folge gemäß § 394 FamFG erloschen sei6. Auch kommt dem Bürgen nach §§ 254 Abs. 2 Satz 1, 301 Abs. 2 Satz 1 InsO das insolvenzbedingte (teilweise) Erlöschen der Hauptschuld nicht zugute7. Und schließlich ist es dem Bürgen, um ein weiteres Beispiel anzuführen, verwehrt, die Notbedarfseinrede des § 519 BGB zu erheben8. 2. Gesetzlicher und gewillkürter Nachrang der Forderung a) Gesetzlicher Nachrang Der Nachrang der durch Bürgschaft gesicherten Forderung des Gläubigers gegen den Hauptschuldner kann bekanntlich auf Rechtsgeschäft oder auf Gesetz beruhen. Was zunächst die kraft Gesetzes nachrangige Forderung betrifft, so ist sie nach § 39 Abs. 1 InsO in der Insolvenz des Hauptschuldners nur im Rang nach den übrigen Forderungen der Insolvenzgläubiger zu befriedigen9. Herausragende Bedeutung kommt insoweit den in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO genannten Forderungen auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens und ihnen wirtschaftlich entsprechenden Forderungen zu. Eine solche Forderung ist nach Inkrafttreten des MoMiG10 unabhängig davon nachrangig, ob sie kapitalersetzenden Charakter hat, mithin während einer Krise der Gesellschaft begründet oder „stehengelassen“ worden ist11. Die Bürgschaft für ein solches
__________ 5 Vgl. BGHZ 165, 28, 34; Horn in Staudinger, 13. Bearbeitung 1997, § 767 BGB Rz. 40; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 767 BGB Rz. 10. 6 Vgl. BGHZ 153, 337, 340 ff.; BGH, ZIP 2008, 1376 Tz. 24 f.; näher Becker-Eberhard, Die Forderungsgebundenheit der Sicherungsrechte, 1993, S. 201 ff., 459 ff., 477 ff.; Habersack, JZ 1997, 857, 862 f. 7 Dazu Noack/Bunke in FS Uhlenbruck, 2000, S. 335, 351 f. 8 Jauernig, NJW 1953, 1207; Herrmann in Erman, 12. Aufl. 2008, § 768 BGB Rz. 4. 9 Unter Geltung der KO war die Geltendmachung eines kapitalersetzenden Darlehens im Konkurs der Gesellschaft nach § 32a Abs. 1 Satz 1 GmbHG a. F. gänzlich ausgeschlossen; zur Anpassung an die InsO s. Art. 48 EGInsO v. 5.10.1994, BGBl. I 1994, 2911. 10 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen vom 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026; dazu Goette, Einführung in das das neue GmbH-Recht, 2008, mit Abdruck sämtlicher Materialien; s. ferner Huber/Habersack, BB 2006, 1 ff. 11 Für einen Überblick zum neuen Recht der Gesellschafterdarlehen s. Altmeppen, NJW 2008, 3601 ff.; Bayer/Graff, DStR 2006, 1654 ff.; Haas, ZInsO 2007, 617 ff.; Habersack in ders./Goette, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, § 5; Mülbert, WM 2006, 1977 ff.
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Darlehen hat die Rechtsprechung – freilich vor Inkrafttreten des MoMiG – schon wiederholt beschäftigt; hierauf ist zurückzukommen. Eine solche Bürgschaft ist im Übrigen schon im Ansatz von dem nunmehr in § 44a InsO geregelten Fall zu unterscheiden, dass der Gesellschafter das Darlehen eines Dritten besichert. Derlei mittelbare Gesellschafterfinanzierungen werfen schon deshalb nicht die Frage einer Haftung für nachrangige Verbindlichkeiten auf, weil die verbürgte Forderung in diesem Fall nicht kraft Gesetzes nachrangig ist12. Konzentriert man sich im Folgenden also auf die Bürgschaft eines Dritten für ein Gesellschafterdarlehen im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO als Paradigma einer Bürgschaft für eine kraft Gesetzes nachrangige Forderung, so stellt sich im Wesentlichen die Frage, ob sich der Bürge in der Insolvenz der Gesellschaft gegenüber dem Gesellschafter darauf berufen kann, dass die gesicherte Forderung nur Nachrang genießt. Macht der Gesellschafter hingegen die Forderung außerhalb des Insolvenzverfahrens geltend, so erwächst der Gesellschaft aus dem Nachrang grundsätzlich keine Einwendung oder Einrede, mit der sie die Geltendmachung der Forderung außerhalb des Insolvenzverfahrens abwenden könnte13. Es bleibt dann nur die Möglichkeit, dass die Befriedigung des Gläubigers nach § 135 Abs. 1 InsO, § 6 AnfG angefochten wird. In diesem Fall lebt die Forderung des Gläubigers gegen die Gesellschaft wieder auf. Für die Insolvenzanfechtung bestimmt dies ausdrücklich § 144 Abs. 1 InsO; für die Anfechtung außerhalb des Insolvenzverfahrens folgt das Wiederaufleben aus § 12 Abs. 1 AnfG14. Mit der Forderung gegen die Gesellschaft lebt im Allgemeinen auch die Bürgschaftsforderung wieder auf15, so dass sich auch insoweit die Frage einer Haftung des Bürgen für die – in der Insolvenz nachrangige – Forderung sowie eines anschließenden Regresses des Bürgen stellt. b) Gewillkürter Nachrang Rangrücktrittsvereinbarungen begegnen in der Praxis nicht nur im Zusammenhang mit der Finanzierung der Gesellschaft durch ihre Gesellschafter; vielfach stellen auch Nichtgesellschafter dem Schuldner mit Nachrang versehenes
__________ 12 Näher zur Neukonzeption der §§ 44a, 143 Abs. 3 InsO K. Schmidt, BB 2008, 1966 ff. 13 Zur davon abweichenden Rechtslage vor Inkrafttreten des MoMiG s. BGHZ 90, 370; BGH, ZIP 2005, 82, 83; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, 2006, §§ 32a/b GmbHG Rz. 215 ff. 14 Vgl. Ganter, WM 2006, 1081, 1084 f.; Huber, 10. Aufl. 2006, § 12 AnfG Rz. 5; Hess/ Weis, Das neue Anfechtungsrecht, 1996, § 12 Rz. 1045; Zeuner, Die Anfechtung in der Insolvenz, 2. Aufl. 2007, Rz. 506, 509. 15 Vgl. für die Insolvenzanfechtung BGH, NJW 1974, 57; OlG Brandenburg, ZInsO 2004, 504; OLG Frankfurt/M., NZI 2004, 267; OLG München, WM 2008, 2112, 2113; OLG München, ZIP 2009, 1310, 1311; OLG Schleswig, NZI 2008, 166, 167; Kirchhof in MünchKomm.InsO, 2. Aufl. 2008, § 144 InsO Rz. 10c; Kreft in HeidelbergerKomm. InsO, 5. Aufl. 2008, § 144 InsO Rz. 3; eingehend Bork in FS Kreft, 2004, S. 229 ff.; für die Anfechtung nach dem AnfG s. Huber (Fn. 14), § 12 AnfG Rz. 5.
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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung
Kapital zur Verfügung16. Die Ausgestaltung des Rangrücktritts ist Sache der Parteien. Nach § 39 Abs. 2 InsO ist allerdings im Zweifel anzunehmen, dass eine qua Rechtsgeschäft subordinierte Forderung erst nach den in § 39 Abs. 1 InsO bezeichneten – und damit kraft Gesetzes nachrangigen – Forderungen berichtigt wird. Hieran anknüpfend bestimmt § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO, dass Forderungen auf Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen oder aus wirtschaftlich entsprechenden Rechtshandlungen, die mit einem Nachrang im Sinne von § 39 Abs. 2 InsO versehen sind, in der Überschuldungsbilanz nicht anzusetzen sind. Die Überlassung eines Nachrangdarlehens verschafft somit nicht nur Liquidität; sie ist vielmehr auch zur Beseitigung oder Vermeidung des Eröffnungsgrundes der Überschuldung geeignet17. Um so überraschender ist es, dass § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO die Entbehrlichkeit der Passivierung nur für Forderungen im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO anordnet; für sonstige Forderungen, insbesondere also Nachrangdarlehen Dritter, kann bei Lichte betrachtet nichts anderes gelten18. Im Allgemeinen enthält die Nachrangabrede allerdings nicht nur eine Regelung für den Insolvenzfall. Typisch ist vielmehr die Abrede, dass die überlassenen Mittel der Stärkung der Eigenkapitalbasis der Gesellschaft dienen und die Forderung deshalb in der Insolvenz nur im Rang nach den Forderungen aller gewöhnlichen und kraft Gesetzes nachrangigen Insolvenzgläubiger und außerhalb des Insolvenzverfahrens nur aus dem Nettoaktivvermögen berichtigt werden soll19. Anders als die kraft Gesetzes nachrangige Forderung unterliegt deshalb die durch Rechtsgeschäft subordinierte Forderung auch außerhalb der Insolvenz einer – allerdings nicht notwendigerweise dauerhaften, vielmehr von der Existenz einer Unterbilanz abhängigen – Durchsetzungssperre20, was die Frage aufwirft, ob diese nach § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB auch vom Bürgen geltend gemacht werden kann.
__________ 16 Zur Qualifizierung des nachträglichen Rangrücktritts als Schuldänderungsvertrag und damit als eine – in ihren Rechtsfolgen hinter dem Erlass zurückbleibende – Verfügung über die Forderung s. Knobbe-Keuk, ZIP 1983, 127, 129; s. ferner dies., StuW 1991, 306, 309; Haarmann in FS Röhricht, 2005, S. 137, 138 f.; Peters, WM 1988, 685, 689; Habersack, ZGR 2000, 387, 402 ff. mit weit. Nachw., auch zu abw. Konzeptionen. 17 Vgl. neben den Nachw. in voriger Fn. noch K. Schmidt in FS Goerdeler, 1987, S. 487; ders., ZIP 1999, 1241 ff. 18 So auch Ekkenga, ZGR 2009, 581, 621; zur Rechtslage vor Einführung des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO Drukarczyk/Schüler in MünchKomm.InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 119 InsO Rz. 107. 19 Vgl. BGH, NJW-RR 2004, 1683; Kaiser, DB 2001, 1543; Herrmann, Quasi-Eigenkapital im Kapitalmarkt- und Unternehmensrecht, 1996, S. 135 ff.; Priester, DB 1977, 2429 ff.; Schrader, Die Besserungsabrede, 1995, S. 15 ff.; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 13), §§ 32a/b GmbHG Rz. 238 f. 20 K. Schmidt in Scholz, 10. Aufl. 2006, §§ 32a/b GmbHG Rz. 105; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 13), §§ 32a/b GmbHG Rz. 240.
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III. Haftung des Bürgen für die nachrangige Forderung 1. Rechtsprechung des BGH Mit der Frage einer Haftung des Bürgen für ein kraft Gesetzes oder kraft Vereinbarung nachrangiges Darlehen hatte sich der BGH schon verschiedentlich zu befassen. An erster Stelle zu nennen ist das Urteil des IX. Zivilsenats des BGH vom 15.2.199621, in dem über die Haftung des Bürgen für ein eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen im Sinne des § 32a Abs. 1 GmbHG a. F. zu befinden war, nachdem die Gesellschaft die Rückzahlung des Darlehens unter Hinweis auf dessen eigenkapitalersetzenden Charakter verweigert hatte. Der Senat weist zu Recht darauf hin, dass sich der Bürge nach dem insbesondere in §§ 767 Abs. 1, 768 Abs. 1 BGB zum Ausdruck gebrachten Grundsatz der Akzessorietät an sich auf den kapitalersetzenden Charakter der Verbindlichkeit und das damit einher gehende Leistungsverweigerungsrecht der Gesellschaft aus § 30 Abs. 1 GmbHG (analog)22 berufen könnte, um sodann auszuführen23: „Da bei Gesellschafterdarlehen der Kapitalersatzcharakter jedoch in aller Regel ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Insolvenz ist, würde dies oft dem Sicherungsinteresse des Gläubigers und dem Sicherungszweck einer Bürgschaft nicht entsprechen. Es kann auf sich beruhen, ob dieser Umstand es rechtfertigen könnte, bei kapitalersetzenden Darlehen ganz allgemein den Grundsatz der Akzessorietät hinter dem Sicherungszweck zurücktreten zu lassen (…). Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn ein Bürge weiß, dass der Darlehensgeber Gesellschafter der darlehensnehmenden GmbH ist und dass diese sich in einer finanziellen Krise befindet. In einem solchen Fall wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Bürgschaft auch das Kapitalersatzrisiko abdecken soll. Andernfalls wäre das Sicherungsmittel für den Gläubiger fast immer wertlos. Für ihn ist die Absicherung des Kapitalersatzrisikos oft von noch größerer Bedeutung als die des Konkursrisikos, weil eigenkapitalersetzende Darlehen im Konkursfall nicht geltend gemacht (§ 32a Abs. 1 GmbHG), d. h. nicht zur Konkurstabelle angemeldet werden können (…)“24.
In späteren Entscheidungen hat der IX. Zivilsenat – im Zusammenhang mit Überlegungen zur anderweitigen Begrenzung des Akzessorietätsgrundsatzes durch den Sicherungszweck der Bürgschaft – auf sein Urteil vom 15.2.1996 verwiesen und hierbei den Grundsatz der Vertragsfreiheit betont, der es gestatte, eine Bürgschaft auch zur Sicherung von Ansprüchen zu vereinbaren, die der Gläubiger gegen den Hauptschuldner aus Rechtsgründen nicht durchsetzen könne25. Der XI. Zivilsenat des BGH hat sich in seinem Urteil vom 10.6.2008 der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats angeschlossen und ausgeführt26:
__________ 21 22 23 24
BGH, NJW 1996, 1341 = DStR 1996, 877 mit Anm. Goette. BGH, NJW 1996, 1341, 1342; s. ferner die Nachw. in Fn. 13. BGH, NJW 1996, 1341, 1342. Zur Änderung der Rechtsfolge des § 32a Abs. 1 GmbHG a. F. durch Art. 48 EGInsO s. Fn. 9. 25 BGH, NJW 2003, 59, 60; BGHZ 143, 381, 385; s. ferner OLG Hamm, NZG 1998, 551, 552. 26 BGH, ZIP 2008, 1376 Tz. 21 ff.
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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung „Zwar bestimmt sich die Haftung des Bürgen grundsätzlich nach Inhalt und Beschaffenheit der Hauptschuld (§ 767 BGB). Dies spricht grundsätzlich dafür, dass auch der für ein Gesellschafterdarlehen einstehende Bürge nach § 768 BGB gegenüber dem Gläubiger die Durchsetzungssperre des § 30 GmbHG in Anspruch nehmen kann. Die Akzessorietät findet ihre Grenze jedoch in der Sicherungsabrede der Parteien. Wird der vereinbarte oder bei Abschluss der Bürgschaft vorausgesetzte Sicherungsfall durch einen Umstand ausgelöst, der zugleich zur eingeschränkten Durchsetzbarkeit der gesicherten Forderung oder gar zu deren Wegfall führt, so kann sich der Bürge darauf nicht berufen. … Erfasst der ausdrücklich oder schlüssig erklärte Sicherungszweck den Fall, dass die schuldende Gesellschaft in eine Krise gerät, so kann sich der für ein Gesellschafterdarlehen haftende Bürge nicht auf eine das Eigenkapital der Gesellschaft sichernde Rückzahlungssperre berufen, da sich dabei gerade das mit der Bürgschaft abgesicherte Risiko verwirklicht (…). … Besitzt der Bürge aus der objektiven Sicht des Empfängers der Bürgschaftserklärung keine Kenntnis von der Gesellschafterstellung des Gläubigers und ergeben sich auch keine anderen Anhaltspunkte für eine entsprechende Risikoübernahme, so kann dies nach den konkreten Umständen einer Auslegung seiner Sicherungserklärung entgegenstehen, er wolle auch für das Risiko einer die Hauptverbindlichkeit wegen ihrer kapitalersetzenden Funktion treffenden Durchsetzungssperre einstehen.“
Bereits zuvor – im Urteil vom 27.4.2004 – hatte der XI. Zivilsenat Gelegenheit, sich zur Haftung des GmbH-Gesellschafters, der einen Schuldbeitritt zu einem Eigenkapitalergänzungsdarlehen erklärt hatte, zu äußern27. Der Darlehensvertrag enthielt die Abrede, dass das Darlehen der Verstärkung der Eigenkapitalbasis der Gesellschaft dienen sollte und die Gesellschaft deshalb nicht zu leisten brauchte, wenn ihr dies nicht aus Gewinnen, aus einem Liquidationsüberschuss oder aus einem anderen, die sonstigen Schulden übersteigenden Vermögen möglich war. Dem Einwand des Gesellschafters, auch ihm komme diese Beschränkung der Darlehensschuld zugute, hielt der XI. Zivilsenat die Rechtsprechung zur Bürgschaft für ein eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen entgegen, um sodann auszuführen28: „Einen vergleichbaren Fall hat das Berufungsgericht hier rechtsfehlerfrei bejaht, da die Mithaftungserklärung der Gesellschafter mit Rücksicht auf den Eigenkapitalergänzungscharakter des ausgereichten Darlehens nur einen Sinn ergibt, wenn sie gerade auch im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Darlehensnehmerin eingreifen soll. Da die im Rahmen eines Eigenkapitalergänzungsdarlehens ausgezahlten Darlehensmittel der Verstärkung der Eigenkapitalbasis des Darlehensnehmers dienen sollen, kann dieser im Fall nicht ausreichender Gewinne und erst recht im Fall der Zahlungsunfähigkeit nicht auf Rückzahlung des Darlehens in Anspruch genommen werden. Könnten sich die Beitretenden ebenfalls auf diese Rückzahlungssperre berufen, wäre der Schuldbeitritt, obwohl er Voraussetzung der Darlehensgewährung und einzige Sicherheit war, überflüssig. Die Beitretenden wären nämlich … gerade im Sicherungsfall, für den die Sicherheit bestellt war, leistungsfrei. Ein solches Verständnis der vertraglichen Regelungen hat das Berufungsgericht daher ausgehend von der Interessenlage der Vertragsparteien zu Recht abgelehnt. …“
__________ 27 BGH, NJW-RR 2004, 1683. 28 BGH, NJW-RR 2004, 1683, 1684; zuvor bereits Kaiser, DB 2001, 1543, 1544.
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2. Präzisierung a) Gesetzlicher Nachrang Nach Ansicht sowohl des IX. als auch des XI. Zivilsenats des BGH kommt es also in den Fällen des gesetzlichen Nachrangs ganz entscheidend darauf an, ob sich Gläubiger und Bürge zumindest stillschweigend darauf verständigt haben, dass der Sicherungszweck der Bürgschaft auch das Risiko des Nachrangs umfassen soll. Dem kann im Ausgangspunkt gewiss zugestimmt werden. Zwar soll nicht verkannt werden, dass sich die gesetzlichen Einschränkungen der Akzessorietät, die, wie namentlich § 768 Abs. 1 Satz 2 BGB, §§ 254 Abs. 2 Satz 1, 301 Abs. 2 Satz 1 InsO, der Verwirklichung des Bürgschaftsrisikos Rechnung tragen, ihrerseits ohne Weiteres aus einer am typischen Geschäftszweck orientierten Auslegung des Bürgschaftsvertrags herleiten ließen, die Grenzen zwischen objektivem Recht und Vertragsauslegung also auch insoweit fließend sind. Die Maßgeblichkeit des vertraglich festgelegten Sicherungszwecks wird hierdurch freilich nicht in Frage gestellt. Es bleibt deshalb im Wesentlichen die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen von einer Übernahme des Nachrangrisikos durch den Bürgen ausgegangen werden kann. Insoweit konnte sich der IX. Zivilsenat des BGH in der Entscheidung vom 15.2.1996 einer Stellungnahme enthalten, verhielt es sich doch so, dass der Bürge Kenntnis davon hatte, dass der Darlehensgeber Gesellschafter der darlehensnehmenden GmbH war und dass diese sich in einer finanziellen Krise befand29. Dann aber hatte sich das Kapitalersatzrisiko bei Lichte betrachtet bereits bei Übernahme der Bürgschaft verwirklicht. In einem solchen Fall wäre es schon widersprüchlich, wollte der Bürge in Kenntnis der Umstände einwenden, die Gesellschaft sei aus Gründen des Rechts der eigenkapitalersetzenden Gesellschafterhilfen zur Leistung nicht verpflichtet. Allzu viel gewonnen ist damit freilich nicht. Denn in den typischen Fallgestaltungen des alten Eigenkapitalersatzrechts verhielt es sich so, dass die Krise als das für die Umqualifizierung des Gesellschafterdarlehens wesentliche Element erst nach Übernahme der Bürgschaft eingetreten war. Der Verstrickung des Darlehens stand dies nicht entgegen, hatten doch Rechtsprechung und Schrifttum der Gewährung eines Krisendarlehens das „Stehenlassen“ eines außerhalb der Krise gewährten Darlehens gleichgestellt und hierdurch die Undurchsetzbarkeit auch desjenigen Darlehens befürwortet, das erst im nachhinein zum Krisendarlehen geworden war30. Für diesen typischen Fall ist das Urteil des XI. Zivilsenats des BGH weiterführend, in dem der Senat eine Übernahme des Risikos, „dass die schuldende Gesellschaft in eine Krise gerät“, vorbehaltlich anderer Anhaltspunkte in Zweifel zieht, wenn „der Bürge aus der objektiven Sicht des Empfängers der Bürgschaftserklärung keine Kenntnis von der Gesell-
__________ 29 BGH, NJW 1996, 1341, 1342. 30 BGHZ 105, 168, 185; BGH, NJW 1985, 2719, 2720; BGH, WM 1987, 284, 285; BGH, NJW 1990, 516, 517; BGHZ 127, 336, 341; BGH, NJW 1996, 722; BGH, NJW 2000, 3565; BGH, NZG 2003, 393; BGH, ZIP 2005, 82; näher Habersack in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 13), §§ 32a/b GmbHG Rz. 43 ff.
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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung
schafterstellung des Gläubigers“ hat und sich auch keine anderen Anhaltspunkte für eine entsprechende Risikoübernahme ergeben31. Positiv gewendet bedeutet dies, dass die Kenntnis von der Gesellschafterstellung des Gläubigers genügt, um hieraus die Aufnahme des Kapitalersatzrisikos in den Sicherungszweck der Bürgschaft herleiten zu können; nicht erforderlich ist hingegen, dass sich das Risiko des Nachrangs bereits verwirklicht und der Bürge hiervon Kenntnis hat. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen, kommt es doch auch in den gesetzlich geregelten Fällen einer Durchbrechung der Akzessorietät (§ 768 Abs. 1 Satz 2 BGB, §§ 254 Abs. 2 Satz 1, 301 Abs. 2 Satz 1 InsO) sowie in dem Fall, dass die Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit gelöscht ist, allein darauf an, dass sich das Bürgschaftsrisiko verwirklichen kann und der Bürge dieses einer jeden Bürgschaft immanente Risiko bei Übernahme der Bürgschaft kennt. An dem Erfordernis der Kenntnis von der Gesellschafterstellung sollte freilich auch festgehalten werden32. Da nämlich das Risiko an die Stellung des Gläubigers als Gesellschafter der finanzierten Gesellschaft anknüpft und damit über das allgemeine – und jedem Bürgen bekannte – Risiko der Inanspruchnahme hinausgeht33, verfügt der Bürge erst dann über ein hinreichendes Risikobewusstsein, wenn er Kenntnis von der Gesellschafterstellung als dem maßgebenden Risikoerhöhungsfaktor hat. Dem kommt nicht zuletzt mit Blick auf die Neukonzeption des Rechts der Gesellschafterdarlehen durch das MoMiG34 Bedeutung zu; auch insoweit gilt also, dass die Kenntnis des Bürgen von der Gesellschafterstellung des Gläubigers notwendige, aber auch hinreichende Voraussetzung für die stillschweigende Übernahme des Nachrangrisikos ist. b) Gewillkürter Nachrang Wendet man die vorstehend skizzierten Grundsätze auf den gewillkürten Nachrang an, so ist die Übernahme des Nachrangrisikos immer, aber auch nur dann zu bejahen, wenn der Bürge Kenntnis von der Nachrangabrede hat35. In diesem Fall ist dem Bürgen bewusst, dass sein Versprechen nur für den Fall von Bedeutung ist, dass der Schuldner nicht über hinreichend freie Mittel verfügt und die Leistung deshalb gegenüber dem Gläubiger verweigern darf. Fehlt es hingegen an entsprechender Kenntnis des Bürgen, so ist die Annahme, er wolle auch dann zur Zahlung verpflichtet sein, wenn dem Gläubiger der Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen aufgrund der besonderen Ausgestaltung des Darlehensverhältnisses möglich wäre, ohne hinreichendes vertragliches Fundament. Es hat dann vielmehr bei § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB zu bewenden; das Nachrangrisiko verbleibt beim Gläubiger. Verhält es sich schließlich so, dass sich Gläu-
__________ 31 BGH, ZIP 2008, 1376 Tz. 23. 32 Unklar noch Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 768 BGB Rz. 7, wonach die Bürgschaft für ein Gesellschafterdarlehen „regelmäßig“ das Nachrangrisiko erfasst; s. ferner Wittig, NZI 2001, 169, 171. 33 Zutr. Betonung dieses Umstands in BGH, ZIP 2008, 1376 Tz. 24. 34 Dazu bereits unter II. 2. a) mit Nachw. in Fn. 10, 11. 35 Vgl. bereits Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 768 BGB Rz. 7.
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biger und Schuldner erst nach Übernahme der Bürgschaft auf den Nachrang der gesicherten Forderung verständigen, so kommt dies nach § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB auch dem Bürgen zugute.
IV. Regress des Bürgen 1. Präzisierung der Fragestellung Nach den bislang getroffenen Feststellungen umfasst der Sicherungszweck der Bürgschaft das Nachrangrisiko immer dann, wenn der Bürge Kenntnis von der Nachrangabrede oder – in den Fällen des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO – von der Gesellschafterstellung des Gläubigers hat. Herrscht hierüber jedenfalls im Grundsatz durchaus Einvernehmen, so brauchte sich die Rechtsprechung zur Frage, ob der solchermaßen vom Nachranggläubiger in Anspruch genommene Bürge seinerseits Regress beim Schuldner nehmen kann, bislang, soweit ersichtlich, nicht zu äußern. Auch im Schrifttum findet sich allenfalls der Hinweis, dass sich der Bürge, soweit er die im Wege der cessio legis gemäß § 774 Abs. 1 Satz 1 BGB erworbene Forderung geltend macht, deren Nachrang entgegenhalten lassen muss36. Was dagegen den Aufwendungsersatzanspruch aus § 670 BGB37 betrifft, so zeichnet er sich bekanntlich dadurch aus, dass er seine Grundlage allein im Verhältnis des Bürgen zum Hauptschuldner findet und deshalb durch das Hauptschuldverhältnis nicht beeinflusst wird. Hiervon betroffen ist zum einen die Verjährung38; zum anderen erlangt der Bürge nur vermittels der cessio legis die für die gesicherte Forderung bestehenden Nebenrechte und Vorzüge39. Die Vorschrift des § 774 Abs. 1 Satz 3 BGB verknüpft zwar die beiden Regressmodi insoweit, als der Schuldner dem Bürgen auch insoweit, als dieser den Regress auf die übergegangene Forderung stützt, nur im Rahmen des Innenverhältnisses zum Ausgleich verpflichtet ist, so dass kraft des hierdurch begründeten Vorrangs des Innenverhältnisses der Schuldner auch gegenüber der auf den Bürgen übergegangenen Hauptforderung einwenden kann, er sei diesem nicht oder nicht vollumfänglich zum Ausgleich verpflichtet40. Hingegen kann der Schuldner gegenüber dem auf § 670 BGB gründenden Regressanspruch des Bürgen grundsätzlich keine Einwendungen aus dem Verhältnis zum Gläubiger entgegenhalten41. Da der Nachrang der übergegangenen Forderung anhaftet und deshalb dem Verhältnis des Schuld-
__________
36 Vgl. Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 8. 37 Gegebenenfalls in Verbindung mit § 675 BGB oder § 683 BGB, s. BGH, WM 1993, 1668; OLG Stuttgart, NJW-RR 1994, 876 f.; Horn in Staudinger (Fn. 5), § 774 BGB Rz. 1; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 19. 38 Vgl. BGH, ZIP 2000, 1576, 1577. 39 Näher dazu Horn in Staudinger (Fn. 5), § 774 BGB Rz. 4; Pecher in Soergel (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 30; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 8 ff. 40 BGH, NJW-RR 1992, 811; BGH, WM 1970, 751, 752; näher J. Dieckmann, Der Derivativregress des Bürgen gegen den Hauptschuldner im englischen und deutschen Recht, 2003, S. 332 ff.; Habersack, AcP 198 (1998), 152, 156 ff. 41 Im Ausgangspunkt wohl unstreitig, s. Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 21; Horn in Staudinger (Fn. 5), § 774 BGB Rz. 35; Pecher in Soergel (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 23.
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ners zum Gläubiger entspringt, scheint er deshalb den Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen nicht zu beeinflussen. Tatsächlich ist jedoch eine differenzierende Betrachtung geboten, die insbesondere den Vorgaben des Insolvenz- und Anfechtungsrechts Rechnung zu tragen hat. 2. Gesetzlicher Nachrang Wird der Bürge aus einer nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nachrangigen Forderung in Anspruch genommen, so kann er nach § 44 InsO am Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft teilnehmen, und zwar unabhängig davon, ob er vor oder nach Insolvenzeröffnung (etwa nach Anfechtung der Leistung der Gesellschaft an den Gläubiger gemäß § 135 InsO)42 in Anspruch genommen worden ist, und unabhängig davon, ob er seinen Regress auf die cessio legis oder auf § 670 BGB stützt43. Die Gesellschaft kann zwar, wie bereits erwähnt44, dem Bürgen den Nachrang der gesicherten Forderung nach §§ 412, 404 BGB unzweifelhaft insoweit entgegenhalten, als dieser den Regress auf die cessio legis stützt. Was hingegen den Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen betrifft, so scheint er, da er auf dem Rechtsverhältnis zur Gesellschaft beruht, eine gewöhnliche Insolvenzforderung zu sein. Aus Sicht der nicht nachrangigen Insolvenzgläubiger hätte dies zur Folge, dass die gesicherte Forderung, wiewohl als solche in der Hand des Gläubigers und des Zessionars nachrangig, in Gestalt des Aufwendungsersatzanspruchs des Bürgen als nicht nachrangige Forderung am Insolvenzverfahren teilnimmt und damit die Quote schmälert. Die Gesellschaft und ihre Gläubiger stünden im Ergebnis so, als wäre die gesicherte Forderung von vornherein nicht nachrangig gewesen; der Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO bliebe mit anderen Worten deshalb ohne praktische Folge, weil die nachrangige Forderung durch eine das Nachrangrisiko umfassende Bürgschaft gesichert ist. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ergebnis, betrachtet man es allein aus Sicht des Insolvenzrechts und damit aus der Perspektive der Insolvenzgläubiger, keinen Bestand haben kann. Die Frage ist indes, ob sich die Wertungen des Insolvenzrechts auch gegenüber den Interessen des Bürgen durchzusetzen vermögen. Hieran bestehen nicht zuletzt deshalb Zweifel, weil es der – nunmehr insolvente – Schuldner war, der dem Bürgen das Mandat zur Übernahme der Bürgschaft erteilt hat; mag auch die Bürgschaft das Nachrangrisiko umfasst haben, so macht es doch aus Sicht des Bürgen einen Unterschied, ob er sich gegenüber dem Gläubiger verpflichtet, für die Schuld des Hauptschuldners unter Verzicht auf dessen Nachrangeinrede einzustehen, oder ob er auch im
__________ 42 Zum Wiederaufleben der gesicherten Forderung und der Bürgschaftsforderung s. bereits unter II. 2. a). 43 Vgl. RGZ 14, 172 ff.; RGZ 42, 35, 37; BGHZ 27, 51, 54; BGHZ 55, 117, 120; BGH, NJW 1985, 1159, 1160; BGH, ZIP 2008, 85 Tz. 8 ff., 13; näher dazu sowie zur Rechtslage bei Teilleistungen des Bürgen Bitter in MünchKomm.InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 44 InsO Rz. 3 f., 7 f., 23 f., 28 f.; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 3), § 774 BGB Rz. 5, 17, 20; ders., BKR 2007, 77, 78 f.; Vogel, ZIP 2007, 2198 ff. (2201). 44 Unter IV. 1.
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Verhältnis zu seinem Auftraggeber – und damit schlussendlich – das Nachrangrisiko übernimmt. Der hiernach bestehende Widerstreit zwischen den Interessen der Insolvenzgläubiger und denen des Bürgen muss gleichwohl zu Lasten des Bürgen aufgelöst werden. Nimmt man die Bürgschaft für eine nach § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO nachrangige Forderung, mithin für einen Anspruch des Beschenkten gegen den – nunmehr insolventen – Schenker, so wäre es ganz und gar ungereimt, könnte der Bürge, nachdem er den Beschenkten befriedigt hat, seine Aufwendungen als gewöhnlicher Insolvenzgläubiger geltend machen. Die Unfähigkeit des Schuldners, mit Wirkung gegenüber den gewöhnlichen Insolvenzgläubigern ein Schenkungsversprechen abzugeben, muss vielmehr auch das Auftragsverhältnis zum Bürgen des Beschenkten ergreifen, soll nicht der Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO leerlaufen. Obgleich das Auftragsverhältnis des Bürgen zum Schenker als solches jedenfalls aus Sicht des insolventen Schenkers nicht unentgeltlich im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO ist45, umfasst der Sicherungszweck der Bürgschaft für eine unentgeltliche Forderung notwendigerweise auch das Risiko, dass nicht nur die im Wege der cessio legis erworbene gesicherte Forderung, sondern gleichermaßen der Aufwendungsersatzanspruch nur im Range des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO bedient werden kann46. Nichts anderes hat für die Bürgschaft für eine Forderung im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu gelten. Hierfür spricht auch die Erwägung, dass ein Dritter, der im Auftrag der Gesellschaft oder als Geschäftsführer ohne Auftrag nach § 267 BGB auf die Schuld der Gesellschaft leistet, mit seinem Aufwendungsersatzanspruch aus §§ 683, 670 BGB47 nicht besser stehen kann als der Gläubiger gestanden hätte, wäre er nicht befriedigt worden; der Aufwendungsersatzanspruch muss dann vielmehr den Rang der befriedigten Forderung teilen. Nichts spricht dafür, den Bürgen zu privilegieren. 3. Anfechtung nach § 6 AnfG Nach den vorstehend getroffenen Feststellungen kann der Bürge, der den Gläubiger einer kraft Gesetzes nachrangigen Forderung befriedigt hat, mit seinen Regressansprüchen nur als Nachranggläubiger am Insolvenzverfahren teilnehmen. Verhält es sich hingegen so, dass die Leistung der Gesellschaft auf das Gesellschafterdarlehen nach § 6 AnfG angefochten und daraufhin der Bürge vom Gläubiger in Anspruch genommen wird, so stellt sich die Frage eines Nachrangs des Regress nehmenden Bürgen nicht. Dem Bürgen bleibt es dann unbenommen, sich bei der Gesellschaft zu erholen. Mit Blick auf die An-
__________ 45 Dies gilt auch dann, wenn der Bürge keine Avalprovision erhält, mithin auf der Grundlage eines Auftrags- und nicht eines Geschäftsbesorgungsverhältnisses tätig wird; zum Begriff der „Entgeltlichkeit“ im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO s. Ehricke in MünchKomm.InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 39 InsO Rz. 23 f. 46 Dem entspricht es, dass das Verbot der Doppelanmeldung in § 44 InsO beide Regressmodi erfasst, s. Bitter in MünchKomm.InsO (Fn. 43), § 44 InsO Rz. 3 f., 7, dort auch zur entsprechenden Rechtslage unter Geltung der KO. 47 Dazu Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 267 BGB Rz. 19.
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fechtungsvoraussetzungen des § 2 AnfG wird der Regress zwar zumeist ohne Aussicht auf Erfolg sein. Doch lässt sich weder ausschließen, dass die Gesellschaft nach erfolgter Anfechtung ihrer Leistung an den Gesellschafter zu Vermögen gelangt, noch, dass sie bereits zuvor über Vermögen verfügt hat, etwa in Gestalt werthaltiger, aber verborgener Ansprüche gegen ihre Gesellschafter oder Organwalter. Soweit der Bürge seinen Regressanspruch tatsächlich durchsetzen konnte, stellt sich freilich die Frage der Anfechtbarkeit der Leistung der Gesellschaft. Die Antwort kann nicht anders ausfallen als im Falle der Insolvenz der Gesellschaft48. Danach unterliegt also nicht nur die Leistung auf die auf den Bürgen übergegangene gesicherte Forderung, sondern auch die Leistung auf den Aufwendungsersatzanspruch dem § 6 AnfG. 4. Gewillkürter Nachrang Nach den zum Regress bei gesetzlichem Nachrang getroffenen Feststellungen steht zugleich fest, dass der Bürge, der den Gläubiger einer kraft Vereinbarung nachrangigen Forderung befriedigt hat, über einen nicht nachrangigen Aufwendungsersatzanspruch aus § 670 BGB49 verfügt, den er innerhalb und außerhalb eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners geltend machen kann, ohne dass ihm entgegengehalten werden könnte, die gesicherte Forderung des Gläubigers hätte nur aus freiem Vermögen bedient werden müssen. Insolvenz- oder anfechtungsrechtliche Erwägungen, die einen solchen Regress ausschließen könnten, sind nicht ersichtlich, so dass es dabei zu bewenden hat, dass zwischen dem Rechtsverhältnis des Schuldners zum Gläubiger und demjenigen des Schuldners zum Bürgen zu trennen ist und der Schuldner sich gegenüber dem Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen nicht mit Einwendungen aus dem Rechtsverhältnis zum Gläubiger verteidigen kann50. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass die Eigenkapitalergänzungsfunktion des gewillkürten Nachrangs durch den nicht nachrangigen Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen nicht unerheblich relativiert wird. Doch kann der Schuldner über diese seine Position disponieren, ohne Rücksicht auf die übrigen Gläubiger nehmen zu müssen, die – das ist der Unterschied zum gesetzlichen Nachrang – keinerlei gesicherte Aussicht auf den Nachrang des Gläubigers hatten. Die übrigen Gläubiger hätten es vielmehr akzeptieren müssen, dass der gesicherte Gläubiger dem Schuldner ein nicht nachrangiges Darlehen überlässt und auf dessen Rückzahlung besteht. Dann aber müssen sie es auch hinnehmen, dass der Gläubiger zwar ein Nachrangdarlehen gewährt, indes auf Besicherung durch den Bürgen besteht; der Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen, der im Übrigen insolvenzfest besichert werden kann51, substituiert dann gleichsam den Rückzahlungsanspruch des Gläubigers.
__________ 48 Dazu unter IV. 2. 49 Hinsichtlich der durch cessio legis erworbenen gesicherten Forderung bewendet es allerdings auch in diesem Fall bei dem Nachrang, s. §§ 404, 412 BGB und dazu unter IV. 1. 50 Näher dazu unter IV. 1. 51 BGH, NJW-RR 2008, 1007 Tz. 8 ff. (13).
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Aus Sicht der finanzierten Gesellschaft erweist sich die Überlassung gesicherten Nachrangkapitals gleichwohl als attraktiv. Denn ungeachtet der Sicherung durch eine Bürgschaft hat es dabei zu bewenden, dass das Nachrangdarlehen im Überschuldungsstatut nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO nicht zu passivieren ist52. Der Aufwendungsersatzanspruch des Bürgen ist aus Sicht der Gesellschaft eine Eventualverbindlichkeit, die nach allgemeinen Grundsätzen53 nur insoweit zu passivieren ist, als mit der Geltendmachung zu rechnen ist. Erscheinen die Sanierung der Gesellschaft und die Rückzahlung des Nachrangdarlehens aus freiem Vermögen gesichert, besteht kein Anlass für den Gläubiger, den Bürgen in Anspruch zu nehmen. Dann wiederum ist auch nicht mit der Entstehung und Geltendmachung eines Aufwendungsersatzanspruchs des Bürgen gegen die Gesellschaft zu rechnen54. Es bleibt allerdings die Frage, wie das Nachrangdarlehen und dessen Besicherung im Jahresabschluss abzubilden sind. Insoweit ist davon auszugehen, dass die kraft Parteivereinbarung nachrangige Verbindlichkeit im Jahresabschluss zwar zu passivieren ist55, der Nachrang indes kenntlich zu machen ist, und zwar nach zutreffender Ansicht in der Bilanz selbst und nicht nur im Anhang oder im Lagebericht56. Vor diesem Hintergrund sprechen gute Gründe dafür, dass die Verlautbarung des Nachranges mit einem über den Pauschalvermerk nach § 251 HGB hinausgehenden Hinweis auf die Besicherung durch eine Bürgschaft und die Möglichkeit der Regressnahme zu verbinden ist. Hierfür spricht nicht zuletzt auch die Erwägung, dass die Aufhebung eines im Jahresabschluss offengelegten Rangrücktritts angesichts des Schutzbedürfnisses derjenigen Gläubiger, die im Vertrauen auf den Rangrücktritt neuen Kredit ge-
__________ 52 Dazu unter II. 2. b). 53 Uhlenbruck in Uhlenbruck, 12. Aufl. 2003, § 19 InsO Rz. 54; Müller in Jaeger, Bd. 1, 1. Aufl. 2004, § 19 InsO Rz. 75. 54 Zum Einfluss einer positiven Fortbestehensprognose im Rahmen des Ansatzes von Passiva s. Drukarczyk in MünchKomm.InsO (Fn. 18), § 19 InsO Rz. 89 f., 98 ff., 114 ff.; Uhlenbruck in Uhlenbruck (Fn. 53), § 19 InsO Rz. 49, 58 f.; allg. zur Erfassung von Eventualverbindlichkeiten im Rahmen von Rückstellungen Müller in Jaeger (Fn. 53), § 19 InsO Rz. 75; a. A. – Verzicht auf Passivierung des Aufwendungsersatzanspruchs nur bei Nachrang auch dieses Anspruchs – Wittig, NZI 2001, 169, 171. 55 BGH, BB 2006, 792, 794 (mit Vorbehalt für Rückstufung auf den Rang des § 199 Satz 2 InsO); BFH, BB 1992, 676, 677; K. Schmidt in Scholz (Fn. 20), §§ 32a/b GmbHG Rz. 114; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 42 GmbHG Rz. 60 f.; Müller, DStR 1997, 1577, 1581; offen gelassen in BGHZ 124, 282, 284 = NJW 1994, 724. – Zur bilanziellen Erfassung auf Seiten des Gläubigers vgl. auch BFH, ZIP 2006, 249, 251 f. mit weit. Nachw. 56 So für eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen im Sinne von §§ 32a/b GmbHG a. F. zutr. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 16. Aufl. 2004, § 42 GmbHG Rz. 43 f.; Fleck, GmbHR 1989, 317; Schulze-Osterloh, WPg 1996, 97, 105; Bormann, Eigenkapitalersetzende Gesellschafterleistungen in der Jahres- und Überschuldungsbilanz, 2001, S. 151 ff.; a. A. – gegen jegliche Pflicht zur Kenntlichmachung – Klaus, BB 1994, 680, 685 ff.; wohl auch Altmeppen in Roth/Altmeppen (Fn. 55), § 42 GmbHG Rz. 60 f.; K. Schmidt in FS Goerdeler, 1987, S. 487, 509.
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Die Bürgschaft für eine nachrangige Forderung
währt haben, unwirksam ist57. Wird der Nachrang nicht aufgehoben, aber von vornherein mit der Maßgabe vereinbart, dass der Nachranggläubiger durch Bürgschaft gesichert ist, so darf der Rechtsverkehr Verlautbarung der vollen Wahrheit erwarten.
V. Ergebnis Die Bürgschaft umfasst das Nachrangrisiko des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, wenn der Bürge die Gesellschafterstellung des Gläubigers kennt, und das Risiko der rechtsgeschäftlichen Subordination, wenn er die Nachrangabrede kennt. Hinsichtlich des Regresses des Bürgen ist jedoch zwischen gesetzlichem und rechtsgeschäftlichem Nachrang der gesicherten Forderung zu unterscheiden. Gegenüber der im Wege der cessio legis erworbenen Forderung kann der Schuldner den Einwand nur nachrangiger Haftung zwar in jedem Fall erheben. Der Anspruch des Bürgen aus § 670 BGB nimmt indes nur an dem gesetzlichen Nachrang der gesicherten Forderung teil. Im Falle der vertraglichen Subordination gebührt dem Bürgen hingegen ein nicht nachrangiger Aufwendungsersatzanspruch gegen den Schuldner.
__________ 57 Vgl. Knobbe-Keuk, ZIP 1983, 127 ff.; K. Schmidt in FS Goerdeler, 1987, S. 487, 502 f. (allerdings auf der Grundlage eines pactum de non petendo); Habersack, ZGR 2000, 387, 406 f.; ablehnend Teller/Seffan, Rangrücktrittsvereinbarungen zur Vermeidung der Überschuldung bei der GmbH, 3. Aufl. 2003, Rz. 383 ff.; Wittig, NZI 2001, 169, 175; Haarmann in FS Röhricht, 2005, S. 137, 150.
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Hans-Jürgen Hellwig
Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts Inhaltsübersicht I. Vorbemerkungen 1. Grundlage des Normenscreenings 2. Allgemeine Übersicht über die Dienstleistungsrichtlinie 2006 3. Die verschiedenen Blickrichtungen bei der Prüfung 4. Abgrenzung zwischen niedergelassener und vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeit II. Fällt die anwaltliche Dienstleistung unter das Normenscreening? 1. Keine rechtsgebietsbezügliche Ausnahme von der Richtlinie 2. Keine tätigkeitsbezügliche (sektorale) Ausnahme von der Richtlinie 3. Verdrängung der Richtlinie durch andere Gemeinschaftsrechtsakte? a) Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Dienstleistungsrichtlinie aa) Die Niederlassungsrichtlinie (1) Inhalt
(2) Verhältnis zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie bb) Die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie (1) Inhalt (2) Verhältnis zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie b) Art. 17 Nr. 4 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie c) Ergebnis III. Gemeinsame Prüfkriterien im Rahmen der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit 1. Keine Diskriminierung 2. Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses 3. Verhältnismäßigkeit IV. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Normenscreening
Wer unter den Juristen kennt ihn nicht, den Jubilar, als namensgebenden Gründer einer bedeutenden Anwaltskanzlei und als profunden Kenner insbesondere des Verbraucherrechts im weitesten Sinne, das er in seinen Aufsätzen und Kommentierungen nicht nur nachzeichnet, sondern auch prägt, in derselben grundsätzlichen und hinterfragenden Art, die auch seine journalistischen Beiträge im „Rheinischen Merkur“ auszeichnen, dem er seit Jahrzehnten eng verbunden ist – es gibt nur ganz wenige, die wie Friedrich Graf von Westphalen auf zwei derart unterschiedlichen Feldern so erfolgreich tätig sind. Weniger bekannt ist hingegen sein Engagement in der anwaltlichen Berufspolitik, seit 2003 im Vorstand und seit 2004 im Präsidium des Deutschen Anwaltvereines (DAV) in Berlin sowie seit 2003 in der Deutschen Delegation beim Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) in Brüssel, seit dem 1. Januar 2010 als deren Leiter. Deshalb widme ich ihm den folgenden Beitrag zu einigen aus der Sicht auch des CCBE besonders wichtigen Fragen des von der EGDienstleistungsrichtlinie 2006 angeordneten Normenscreenings – als kleines Zeichen großen Dankes für die enge persönliche Freundschaft, die uns seit 289
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dem Studium in Bonn vor 47 Jahren durch die Höhen und Tiefen des Lebens hindurch verbunden hat und weiter verbindet.
I. Vorbemerkungen 1. Grundlage des Normenscreenings Sedes materiae des Normenscreenings nach der Dienstleistungsrichtlinie 20061 ist nicht so sehr Art. 15 RL2, auch wenn dessen Überschrift „Zu prüfende Anforderungen“ lautet. Diese Bestimmung findet sich im Kapitel III der RL (Art. 9–15), das der „Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“ gewidmet ist. In diesem Kapitel III ist Abschnitt 1 (Art. 9–13) den Genehmigungen3 im Zusammenhang mit der Ausübung der Niederlassungsfreiheit gewidmet. Gegenstand von Abschnitt 2 sind sonstige „Unzulässige oder zu prüfende Anforderungen“. Art. 14 listet auf, welche Anforderungen4 unzulässig sind, und Art. 15 regelt, welche Anforderungen nach welchen Kriterien von den Mitgliedstaaten zu prüfen sind. All diese Bestimmungen von Kapitel III beziehen sich nur auf die „Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“. Der „Freie Dienstleistungsverkehr“, d. h. die vorübergehende grenzüberschreitende Dienstleistung ohne Niederlassung im Zielland der Tätigkeit, wird behandelt in Kapitel IV (Art. 16–21). Abschnitt 1 handelt von der Dienstleistungsfreiheit und damit zusammenhängenden Ausnahmen, indem Art. 16 Regelungen zur Dienstleistungsfreiheit und zu einzelnen Ausnahmen enthält, wobei sich weitere Ausnahmen in Art. 17 und Art. 18 finden. In diesem Kapitel IV gibt es keine Bestimmung, welche Mitgliedstaatlichen Anforderungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit nach welchen Kriterien zu prüfen sind, wie dies Art. 15 für den Bereich der Niederlassungsfreiheit anordnet. Auch dieser Umstand zeigt, dass Art. 15 der Richtlinie nicht die Grundlage für das umfassende Normenscreening sein kann. Sedes materiae für das umfassende Normenscreening ist vielmehr Art. 39 „Gegenseitige Evaluierung“5. Danach muss ein Mitgliedstaat der Kommission bis zum 28.12.2009 über folgende Themen schriftliche Berichte erstatten: a. Bericht gemäß Art. 9 Abs. 2 über die Genehmigungsregelungen im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit, zusammen mit einer Begründung, weshalb diese Regelungen mit Art. 9 Abs. 1 vereinbar sind – diese Begründung setzt eine vorherige Überprüfung voraus.
__________ 1 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EU Nr. L 376 v. 27.12.2006, S. 36 ff. 2 So aber Henssler, Die internationale Entwicklung und die Situation der Anwaltschaft als freier Beruf, AnwBl. 2009, 1, 3. 3 Definiert in Art. 4 Nr. 6. 4 Definiert in Art. 4 Nr. 7. 5 Ebenso Streinz, Die Ausgestaltung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, S. 97, 122 f., in Leible (Hrsg.), Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie – Chancen und Risiken für Deutschland, 2008.
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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts
b. Bericht gemäß Art. 15 Abs. 5 über die zu prüfenden Anforderungen im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit, verbunden mit der Aussage, welche Anforderungen die Mitgliedstaaten beabsichtigen beizubehalten und warum sie der Auffassung sind, dass diese die Bedingungen von Art. 9 Abs. 3 erfüllen, und welche Anforderungen aufgehoben oder gelockert worden sind – dies verlangt eine über Art. 15 hinausgehende Evaluierung. c. Bericht gemäß Art. 25 Abs. 3 über die multidisziplinären Tätigkeiten, verbunden mit einer Darlegung, welche Dienstleistungserbringer welchen Anforderungen bezüglich der multidisziplinären Tätigkeit unterworfen sind und weshalb diese Anforderungen für gerechtfertigt gehalten werden – auch dies verlangt eine entsprechende vorherige Überprüfung. d. Bericht über die nationalen Anforderungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit, deren Anwendung unter Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3 Satz 1 fallen könnte, mit Darlegung der Gründe, aus denen die betreffenden Anforderungen für mit den Kriterien nach Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3 Satz 1 vereinbar gehalten werden – auch dies verlangt eine entsprechende vorherige Evaluierung. Art. 25 ist die einzige Bestimmung von Kapitel V „Qualität der Dienstleistungen“, die in dieser Weise ausdrücklich eine Evaluierung anordnet. Für die übrigen Bestimmungen von Kapitel V fehlt es an einer derartigen ausdrücklichen Regelung. Dies gilt insbesondere für Art. 24 „Kommerzielle Kommunikation für reglementierte Berufe“. Danach sind absolute Verbote der Werbung für reglementierte Berufe aufzuheben (Abs. 1) und Beschränkungen nur in engem Umfang zulässig (Abs. 2). Werbebeschränkungen stellen sich jedoch als Regelung eines Teilaspekts der eigentlichen Dienstleistungserbringung dar6. Dies spricht dafür, dass die kommerzielle Kommunikation für reglementierte Berufe nach Art. 24 auf diesem Umweg doch unter das ausdrückliche Evaluierungsgebot nach Art. 39 fällt. Was die elektronische Berichterstattung der Mitgliedstaaten an die Kommission angeht, scheint es keine Vorgaben der Kommission zu geben. Das äußere Format der einzelnen nationalen Berichte wird deshalb – möglicherweise erheblich – voneinander abweichen, was die Kommission bei der Auswertung vor einige Schwierigkeiten stellen dürfte. In Deutschland liegt die Federführung für die Berichterstattung an die Kommission beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi). In Deutschland ist für das Normenscreening festgelegt worden, dass jede Normebene für das Screening der von ihr gesetzten Normen selbst zuständig ist. Damit es zu einem kohärenten deutschen Bericht an die Kommission kommen kann, ist es erforderlich, dass das Screening auf allen Ebenen (Bundesebene, Länderebene, Kommunalebene und Kammerebene als sog. mittelbare Staatsverwaltung) – unbeschadet der Verantwortlichkeit jeder Ebene für
__________ 6 Vgl. EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 29: „Die Niederlassung beinhaltet Kundenwerbung.“
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die Prüfung und gegebenenfalls Anpassung der eigenen Normen – nach einem einheitlichen Prüfungsraster erfolgt und dass dabei einheitliche Übermittlungsmasken verwendet werden. Das BMWi hat für den elektronischen Bericht ein „Raster für die Normenprüfung“ erstellt7. Das Ministerium hat zu diesem Raster zwei Handreichungen gefertigt, die eine mit dem Titel „Normenprüfung verstehen und durchführen“8 als allgemeine Einführung mit Beispielsfällen, die andere mit der Überschrift „Häufig gestellte Fragen zur Normenprüfung“9. Das Raster von 39 Seiten ist EDV-mäßig aufgemacht, d. h. der Leser arbeitet sich durch das Raster durch, indem er bei jedem Schritt eine bestimmte Frage beantwortet und dann je nach Antwort zu einer weiteren Frage geführt wird, usw. Die Antworten zu den einzelnen Fragen sind in das Rasterdokument einzutragen. Die in sich schon gegebene Komplexität der Richtlinie mit ihren zahlreichen Ausnahmen und Rückausnahmen macht das Normenraster und die Arbeit mit ihm überaus kompliziert. Hinzu kommt, dass das Normenraster für alle Normen jedweder Art bei allen Dienstleistungsberufen gedacht ist. Dies führt dazu, dass es im Einzelfall sehr schwierig ist, konkrete Konstellationen „unterzubringen“, die nur bei einzelnen Dienstleistungsarten auftreten. Wenn schon den Rechtsanwälten der richtige Umgang mit diesem Prüfraster schwer fällt, obwohl ihnen die Rechtsmaterie an sich vertraut ist, wieviel mehr muss das dann für andere Dienstleistungsbereiche gelten! Welche Schwierigkeiten wird beispielsweise eine mit dem Europarecht nicht weiter vertraute Kommune haben, ihre zahlreichen Gemeindesatzungen auf Verstöße gegen das Europarecht zu evaluieren! Zuständig nach dem oben Gesagten für das Screening des deutschen anwaltlichen Berufsrechts ist somit, soweit es sich um gesetzliche Regelungen handelt, die Bundesebene, d. h. das Bundesministerium der Justiz (BMJ) und, soweit es sich um die Berufsordnung der Rechtsanwälte und die Fachanwaltsordnung handelt, die Satzungsversammlung bei der Bundesrechtsanwaltskammer als Satzungsgeber nach § 59b BRAO10. Zur Vorbereitung dieses Screenings von BORA und FAO hat die Satzungsversammlung einen Unterausschuss gebildet, bestehend aus je zwei Mitgliedern ihrer insgesamt fünf Ausschüsse. Dieser Unterausschuss hat am 24.2.2009 einen von mir als Vorsitzendem und Berichterstatter gefertigten Bericht über seine Arbeit an die Satzungsversammlung erstellt. Dieser Bericht macht zunächst allgemeine Ausführungen zum Screeningauftrag und -umfang und befasst sich sodann mit den einzelnen Vorschriften von BORA und FAO. Die fünf Ausschüsse der Satzungsversammlung haben ihre Beratungen über diesen Bericht abgeschlossen
__________ 7 Vgl. Materialien der Satzungsversammlung bei der Bundesrechtsanwaltskammer, SV-Mat. 26/2007 und SV-Mat. 25/2008. 8 SV-Mat. 25/2008. 9 SV-Mat. 25/2008. 10 Es handelt sich um sog. Verbandsrecht, unbeschadet der Tatsache, dass die betreffenden Satzungsbeschlüsse vor ihrem Inkrafttreten durch das BMJ überprüft werden (§ 191d Abs. 5 und § 191e BRAO).
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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts
und darüber an die Satzungsversammlung berichtet. Diese hat sich mit dem Thema Normenscreening am 6. und 7.11.2009 ausführlich befasst11. 2. Allgemeine Übersicht über die Dienstleistungsrichtlinie 2006 Die Dienstleistungsrichtlinie 2006, die bis zum 28.12.2009 umgesetzt werden musste, ist eine horizontale Richtlinie für alle Dienstleistungsberufe. Sie will bestehende Schranken für Dienstleistungen im Binnenmarkt abbauen. Verfahren und Formalitäten sollen vereinfacht, die Aufnahme und Ausübung von Dienstleistungen erleichtert werden. Angesprochen sind dabei die niedergelassene wie die vorübergehende grenzüberschreitende Tätigkeit. Grundsätzlich angesprochen sind auch diejenigen Dienstleistungsberufe, für die sektorale Richtlinien bestehen, wie die anwaltliche Dienstleistung12. Die Richtlinie hat insgesamt 118 Erwägungsgründe. Dies spiegelt die Komplexität der Materie und die politischen Schwierigkeiten im gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebungsverfahren wider. Kapitel I enthält „Allgemeine Bestimmungen“. Wichtig sind folgende Artikel. Art. 1 „Gegenstand“ regelt u. a., welche Rechtsgebiete durch die Richtlinie nicht berührt werden. Aus Art. 2 ergibt sich, auf welche Tätigkeiten (z. B. Finanzdienstleistungen) die Richtlinie keine Anwendung findet. Art. 3 regelt, in welchem Verhältnis die Richtlinie zu anderen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts steht. Soweit ein Widerspruch besteht, hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtaktes Vorrang. Art. 4 definiert insgesamt zwölf Begriffe, die in der Richtlinie Verwendung finden. Definiert werden insbesondere die Begriffe Genehmigungsregelung, Anforderung und zwingende Gründe des Allgemeininteresses. Kapitel II handelt von der „Verwaltungsvereinfachung“. Kapitel III befasst sich mit der „Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“. Abschnitt 1 handelt von den Genehmigungen. Abschnitt 2 befasst sich mit Anforderungen bei der niedergelassenen Dienstleistungstätigkeit (Art. 14 Unzulässige Anforderungen und Art. 15 Zu prüfende Anforderungen). Kapitel IV ist dem „Freien Dienstleistungsverkehr“ gewidmet. Abschnitt 1 befasst sich mit der Dienstleistungsfreiheit und damit zusammenhängenden Ausnahmen. Art. 16 „Dienstleistungsfreiheit“ regelt, dass die Mitgliedstaaten die Dienstleistungsfreiheit achten müssen und welche Anforderungen sie für die Aufnahme oder Ausübung einer vorübergehenden grenzüberschreitenden Dienstleistung in ihrem Hoheitsgebiet stellen dürfen und welche nicht. Art. 17 regelt „Weitere Ausnahmen von der Dienstleistungsfreiheit“, Art. 18 Ausnahmen im Einzelfall. Abschnitt 2 befasst sich mit den Rechten der Dienstleistungsempfänger. Kapitel V ist der „Qualität der Dienstleistungen“ gewidmet. Kapitel VI regelt die „Verwaltungszusammenarbeit“. Kapitel VII beinhaltet das „Konvergenzprogramm“, darunter den bereits erwähnten Art. 39 „Gegenseitige Evaluierung“. Kapitel VIII enthält die „Schlussbestimmungen“.
__________ 11 Dieser Beitrag beruht weitgehend auf dem vorgenannten Bericht des Unterausschusses Normenscreening der Satzungsversammlung. 12 Vgl. Erwägungsgrund 33: „Rechts- oder Steuerberatung“.
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Die Kommission hat im Jahre 2007 ein 93 Seiten starkes „Handbuch zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie“ veröffentlicht. Dieses rechtlich unverbindliche Handbuch enthält hilfreiche Informationen über die Richtlinie allgemein und ihre einzelnen Bestimmungen13. 3. Die verschiedenen Blickrichtungen bei der Prüfung Wie bereits erwähnt hat die Evaluierung sowohl im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit als auch mit Blick auf die Dienstleistungsfreiheit zu erfolgen. Erfasst wird also die niedergelassene grenzüberschreitende Tätigkeit wie die vorübergehende grenzüberschreitende Tätigkeit. Bei jeder dieser beiden Prüfungen sind jeweils zwei Fallkonstellationen in den Blick zu nehmen. Deutschland, dessen Normen evaluiert werden sollen, kann bei der grenzüberschreitenden Tätigkeit Herkunftsland sein (ein deutscher Dienstleister ist in Frankreich tätig, sog. Tätigkeit outbound) oder Zielland (ein französischer Dienstleister ist in Deutschland tätig, sog. Tätigkeit inbound). Es gibt also insgesamt vier Kombinationsmöglichkeiten. Jede zu evaluierende Norm muss grundsätzlich auf jede dieser vier Kombinationsmöglichkeiten durchgeprüft werden. 4. Abgrenzung zwischen niedergelassener und vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeit Die Richtlinie unterscheidet zwischen niedergelassener und vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeit. Abgrenzungsregelungen durch den Gemeinschaftsgesetzgeber fehlen. Unter Rückgriff auf die Rspr. des EuGH heißt es dazu im Handbuch der Kommission14: „Die Niederlassung umfasst die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch eine feste Niederlassung auf unbestimmte Zeit15. Im Gegensatz dazu wird die Dienstleistungsfreiheit nach der Rechtsprechung des EuGH zufolge (sic) durch das Fehlen einer stabilen und kontinuierlichen Beteiligung am Wirtschaftsleben des Aufnahmemitgliedstaates gekennzeichnet16. Wie der EuGH beständig entschieden hat, muss die Unterscheidung zwischen Niederlassung und Erbringung von Dienstleistungen auf Einzelfallbasis unter Berücksichtigung nicht nur der Dauer, sondern auch der Häufigkeit, der Regelmäßigkeit und der Kontinuität der Erbringung von Dienstleistungen erfolgen17. Daraus folgt, wie durch den EuGH geschlussfolgert, dass keine allgemeingültige Höchstdauer festgesetzt werden kann, um zwischen Niederlassung und Erbringung von Dienstleistungen zu unterscheiden18. Überdies ist auch die Tatsache, dass der Anbieter eine
__________
13 http://ec.europa-eu/internal_market/services/services-dir/index_de.htm. 14 Vgl. Nr. 7.1.1, S. 55. 15 EuGH v. 25.7.1991, Factortame, RS C-221/89, Rz. 20. S. auch die Definition von „Niederlassung“ in Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie. 16 EuGH v. 13.2.2003, Kommission ./. Italien, RS C-131/01, Rz. 23. 17 EuGH v. 30.11.1995, Gebhard, RS C-55/94, Rz. 39; EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 28. 18 EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 31.
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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts bestimmte Infrastruktur verwendet, nicht entscheidend, da ein Erbringer von Dienstleistungen auch im Aufnahmemitgliedstaat eine Infrastruktur zur grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen verwenden kann, ohne dort niedergelassen sein zu müssen19. Im Fall Schnitzer erklärte der EuGH, dass selbst eine über mehrere Jahre in einem anderen Mitgliedstaat ausgeführte Tätigkeit, je nach den Umständen des Falles, als Dienstleistungserbringung im Sinne des Artikels 49 des EG-Vertrages betrachtet werden kann, wobei das Gleiche auch auf wiederholt ausgeführte Dienstleistungserbringungen über einen längeren Zeitraum – wie beispielsweise Consulting oder Beratungsdienstleistungen – zutrifft. Die Niederlassung erfordert die Integration in das Wirtschaftsleben des Mitgliedstaats und beinhaltet Kundenwerbung in dem Mitgliedstaat auf der Grundlage eines stabilen professionellen Sitzes“20.
Aus dieser Rspr. des EuGH folgt, dass die Trennungslinie zwischen niedergelassener und vorübergehender grenzüberschreitender Tätigkeit im konkreten Einzelfall unscharf sein kann. Dieses Problem stellt sich jedoch nur dort, wo es darum geht, einen konkreten Fallsachverhalt unter die betreffenden Normen zu subsumieren. Es handelt sich also um ein Problem der Normanwendung. Bei der Normevaluierung stellt sich dieses Abgrenzungsproblem nicht. Die Evaluierung ist abstrakt vorzunehmen mit Blick auf die niedergelassene grenzüberschreitende Tätigkeit einerseits und die vorübergehende grenzüberschreitende Tätigkeit andererseits, beide Tätigkeiten jeweils im idealtypischen Sinne verstanden. Das Normenscreening ist also eine abstrakte Normenevaluierung, bei der sachverhaltsbedingte Abgrenzungsprobleme ohne Belang sind.
II. Fällt die anwaltliche Dienstleistung unter das Normenscreening? Nach diesen Ausführungen zum Normenscreening allgemein ist auf die Frage einzugehen, ob speziell die anwaltliche Tätigkeit überhaupt von der Richtlinie erfasst wird, und wenn ja, in welchem Umfang. Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund, dass die grenzüberschreitende anwaltliche Tätigkeit bereits einigen gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien unterliegt: – Die Dienstleistungsrichtlinie für Rechtsanwälte vom 22.3.1977 (77/249/ EWG) regelt bestimmte Aspekte der vorübergehenden grenzüberschreitenden Anwaltstätigkeit. – Die Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte vom 16.2.1998 (98/5/EG) regelt bestimmte Fragen der niedergelassenen grenzüberschreitenden Tätigkeit von Rechtsanwälten. Beide Richtlinien sind, weil sie sich auf die anwaltliche Tätigkeit beschränken, sog. sektorale Richtlinien. – Die Diplomanerkennungsrichtlinie vom 21.12.1988 (89/48/EWG) regelte die grenzüberschreitende Anerkennung von Diplomen bestimmter Berufe. Diese Richtlinie ist durch die (ebenfalls horizontale) Richtlinie über die An-
__________ 19 EuGH v. 30.11.1995, Gebhard, RS C-55/94, Rz. 27; EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 28. 20 EuGH v. 11.12.2003, Schnitzer, RS C-215/01, Rz. 29.
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erkennung von Berufsqualifikationen vom 7.9.2005 (2005/36/EG) abgelöst worden. 1. Keine rechtsgebietsbezügliche Ausnahme von der Richtlinie Art. 1 regelt den Gegenstand der Dienstleistungsrichtlinie. Danach berührt die Richtlinie bestimmte Rechtsgebiete nicht, z. B. das Strafrecht, das Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherheit. Das anwaltliche Berufsrecht ist dort nicht genannt. 2. Keine tätigkeitsbezügliche (sektorale) Ausnahme von der Richtlinie Art. 2 Abs. 2 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie nimmt bestimmte, im Einzelnen aufgelistete Dienstleistungsarten von der Richtlinie insgesamt aus, beispielsweise Finanzdienstleistungen und die in besonderen Richtlinien geregelten elektronischen Kommunikationsdienstleistungen. Anwaltliche Dienstleistungen sind dort nicht genannt, genießen also keine Totalausnahme von der Richtlinie. Bei den Beratungen im Europaparlament waren, veranlasst durch den CCBE und andere Anwaltsorganisationen, Anträge auf Totalausnahme gestellt worden, fanden aber keine Mehrheit. 3. Verdrängung der Richtlinie durch andere Gemeinschaftsrechtsakte? a) Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Dienstleistungsrichtlinie Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie lautet: „Widersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, so hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung.“
Dies gilt nach Satz 2 neben drei weiteren hier von vorneherein nicht einschlägigen beispielhaft genannten sekundärrechtlichen Gemeinschaftsrechtsakten für „die Richtlinie 2005/36/EG“ (sog. Berufsqualifikationsrichtlinie). Anders als Art. 2 Abs. 2 führt Art. 3 Abs. 1 nicht zu einer Totalausnahme von der Richtlinie, sondern nur zu einer teilweisen Ausnahme, nämlich insoweit, als Bestimmungen anderer Gemeinschaftsrechtsakte, von denen die Dienstleistungsrichtlinie abweicht, Vorrang haben. Nur insoweit, als ein Widerspruch besteht, tritt die Dienstleistungsrichtlinie zurück und hat der andere Gemeinschaftsrechtsakt Vorrang. Im Einzelfall kann allerdings die Bestimmung, was alles unter den „vorfahrtsberechtigten“ anderen Gemeinschaftsrechtsakt fällt, Schwierigkeiten bereiten. Die in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie beispielhaft genannte „vorfahrtsberechtigte“ Berufsqualifikationsrichtlinie von 2005 regelt die wechselseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen durch die Mitgliedstaaten. Des weiteren bestimmt Art. 17 Nr. 6 der Dienstleistungsrichtlinie, dass die Regelungen 296
Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts
in Art. 16 zur Dienstleistungsfreiheit keine Anwendung finden auf Angelegenheiten, die unter Titel II der Berufsqualifikationsrichtlinie fallen. Es handelt sich in beiden Fällen um eine zusätzliche Kollisionsnorm für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit, die zu der allgemeinen Kollisionsnorm von Art. 3 Abs. 1 hinzutritt und sie in dieselbe Richtung gehend ergänzt. Aus beiden Vorschriften ergibt sich die Frage, ob die Berufsqualifikationsrichtlinie auf die rechtsdienstleistende Tätigkeit Anwendung findet. Das BMJ, wie mündlich in Erfahrung gebracht wurde, und die einschlägige Literatur21 gehen davon aus, dass die Berufsqualifikationsrichtlinie wegen deren Erwägungsgrund 42 in wesentlichen Teilen nicht auf die Anwaltschaft anwendbar ist, sondern dass dieser Richtlinie die anwaltsspezifischen Richtlinien (Dienstleistungsrichtlinie 1977, Niederlassungsrichtlinie 1998) vorgehen. Daraus ergibt sich, dass die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie, soweit ein Widerspruch besteht, anwendungsmäßig nicht gegenüber der Berufsqualifikationsrichtlinie zurücktritt, wohl aber möglicherweise gegenüber den beiden anwaltsspezifischen Richtlinien. Dass diese Richtlinien in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 nicht genannt sind, ist nicht weiter von Bedeutung, denn die dortige „insbesondere“-Aufzählung ist nur beispielhaft. Entscheidend ist allein, ob die beiden anwaltspezifischen Richtlinien Bestimmungen enthalten, denen die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie widerspricht. Soweit dies der Fall ist, kommen insoweit nicht die betreffenden Bestimmungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie, sondern die der anwaltspezifischen Richtlinien zur Anwendung. aa) Die Niederlassungsrichtlinie (1) Inhalt Diese Richtlinie soll nach Art. 1 die ständige Ausübung des Anwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem erleichtern, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde. Nach Art. 2 hat jeder in der Auflistung der anwaltlichen Berufsbezeichnungen der einzelnen Mitgliedstaaten aufgeführte Anwalt das Recht, unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung in einem anderen Mitgliedstaat auf Dauer (d. h. niedergelassen) die in Art. 5 genannten Anwaltstätigkeiten auszuüben. Dies sind nach Art. 5 Abs. 1 dieselben beruflichen Tätigkeiten, die von einem Anwalt des Aufnahmestaats ausgeübt werden dürften, insbesondere Rechtsberatung im Recht des Herkunftsstaats, im Gemeinschaftsrecht, im internationalen Recht und im Recht des Aufnahmestaats. Abs. 2 und 3 geben dabei den Mitgliedstaaten die Möglichkeit der Einschränkung für bestimmte Urkundstätigkeit und für die Vertretung und Verteidigung vor Gericht (Einschaltung eines sog. Einvernehmensanwalts).
__________ 21 Vgl. Schmidt-Kessel in Schlachter/Ohler (Hrsg.), Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Handkommentar, 1. Aufl. 2008, Art. 17 Rz. 62.
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Art. 3 regelt die Eintragung des Anwalts bei der zuständigen Stelle des Niederlassungsstaats. Nach Art. 4 übt der niedergelassene grenzüberschreitend tätige Anwalt seine Tätigkeit unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung aus, d. h. der Berufsbezeichnung seines Herkunftslandes. Art. 5 wurde bereits im Zusammenhang mit Art. 2 behandelt. Art. 6 ist den Berufs- und Standesregeln gewidmet. Die zentrale Frage ist insoweit, welche Berufs- und Standesregeln bei der grenzüberschreitenden Tätigkeit zur Anwendung kommen. Die erste Frage ist dabei, ob dies durchnormierte europäische Regeln sein sollen, die von der Richtlinie gesetzt werden, vergleichbar den Regelungen in Art. 2 und 5, oder nationale Regelungen. In dieser Kompetenzfrage zwischen gemeinschaftlicher und nationaler Ebene hat die Richtlinie in Art. 6 grundsätzlich keine eigene sachnormative Regelung getroffen, sondern diese dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten überlassen. Auf dieser Grundlage stellt sich als nächstes die Frage, welche nationalen Regeln zur Anwendung kommen sollen, die des Herkunftsstaates oder die des Aufnahmestaates. Bei dieser Kollisionsfrage auf der nationalen Ebene hat sich die Richtlinie in Art. 6 grundsätzlich dafür entschieden, dass je nach Entscheidung der beiden Mitgliedstaaten beide Regeln zur Anwendung kommen können, allerdings mit der Vorgabe an den Aufnahmestaat, dass die grenzüberschreitend niedergelassenen Anwälte mit den Anwälten des Aufnahmestaates gleich behandelt werden müssen. Ansonsten enthält Art. 6 für den Inhalt der nationalen Regeln, seien es die des Herkunftsstaates, seien es die des Aufnahmestaates, keine inhaltlichen Vorgaben, sondern beschränkt sich auf eine kompetenzmäßige Festlegung betreffend das Verhältnis Gemeinschaftsrecht/nationales Recht und eine kollisionsrechtliche Festlegung betreffend das Verhältnis nationales Recht des Herkunftsstaates/nationales Recht des Aufnahmestaates. Art. 7 handelt von der grenzüberschreitenden Information u.Ä. bei Disziplinarverfahren, Art. 8 regelt die Berufsausübung im abhängigen Beschäftigungsverhältnis, Art. 9 befasst sich mit Begründungszwang und Rechtsmittelfähigkeit im Zusammenhang mit Entscheidungen über die Eintragung des Anwalts bei der zuständigen Stelle des Aufnahmestaats nach Art. 3. Art. 10 regelt, unter welchen Voraussetzungen der niedergelassene ausländische Anwalt die Gleichstellung mit den Rechtsanwälten des Aufnahmestaats beantragen kann, d. h. die Zulassung zur örtlichen Anwaltschaft unter dem örtlichen Titel. Art. 11 befasst sich mit der gemeinsamen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs. Niedergelassene Anwälte können sich im Aufnahmestaat untereinander oder mit Anwälten aus anderen europäischen Ländern zusammenschließen. Niederlassen kann sich auch ein Anwalt, der in seinem Herkunftsstaat einem beruflichen Zusammenschluss angehört. Gehören diesem Zusammenschluss berufsfremde Personen an (multidisziplinäre Zusammenschlüsse), kann der Aufnahmestaat es untersagen, dass der Anwalt sich dort als Mitglied seines Zusammenschlusses betätigt. 298
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Nach Art. 12 darf die heimatliche Kanzlei- und Zusammenschlussbezeichnung auch im Aufnahmestaat geführt werden. Art. 13 handelt von der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Stellen der beiden Staaten, Art. 14 verlangt die Benennung der zuständigen Stellen und Art. 15 einen Bericht an die Kommission spätestens zehn Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie. (2) Verhältnis zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie Die vorstehend kurz wiedergegebenen Bestimmungen der Niederlassungsrichtlinie gehen, wie bereits ausgeführt, in ihrem Regelungsgehalt – und nur in diesem – etwaigen abweichenden Bestimmungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie nach deren Art. 3 Abs. 1 vor, mit der Folge, dass Vorschriften des nationalen Rechts, die der Niederlassungsrichtlinie entsprechen, insoweit nicht im Normenscreening nach der Dienstleistungsrichtlinie zu beanstanden sind. Allerdings ist, was den „vorfahrtsberechtigten“ Regelungsgehalt der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie betrifft, zu differenzieren. Diese Richtlinie enthält zum einen Sachnormen, zum anderen Kompetenz- und Kollisionsnormen. Dies gilt insbesondere für Art. 6, der, wie oben näher ausgeführt, darauf verzichtet, gemeinschaftsrechtliche Berufsregeln zu setzen und statt dessen grundsätzlich die herkunftsstaatlichen und aufnahmestaatlichen Berufsregeln nebeneinander zur Anwendung zulässt, ohne dass diese nationalen Berufsregeln gemeinschaftsrechtlich harmonisiert werden. Soweit Art. 6 der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie Sachnormen enthält, haben diese Vorrang vor etwaigen abweichenden Bestimmungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie. Innerhalb von Art. 6 betreffend die Berufs- und Standesregeln hat derartigen sachnormativen Charakter nur die Anordnung, dass auf den niedergelassenen Anwalt im Aufnahmestaat dieselben Regeln wie die für Anwälte des Aufnahmestaates Anwendung finden müssen. Im Übrigen handelt es sich in Art. 6 um Kompetenz- und Kollisionsnormen. Bei ihnen beschränkt sich der Vorrang bei einem etwaigen Widerspruch zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie auf diese Kompetenz- und Kollisionsregelung. Hingegen sind die von der Kollisionsregelung erfassten nationalen Sachnormen nicht über Art. 3 Abs. 1 Satz 1 von der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie ausgenommen, da sie nur hinsichtlich der Frage ihrer Anwendbarkeit, nicht aber hinsichtlich ihres sachrechtlichen Inhalts Gegenstand der anwaltsspezifischen Niederlassungsrichtlinie sind. Daraus ergibt sich als Zwischenergebnis, dass der sachrechtliche Inhalt der nationalen Berufsregelungen durch die bloßen kompetenz- und kollisionsrechtlichen Regelungen der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie von der Evaluierung nach der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit nicht ausgenommen ist.
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bb) Die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie (1) Inhalt Nach ihrem Art. 1 gilt diese Richtlinie innerhalb der darin festgelegten Grenzen und unter den darin vorgesehenen Bedingungen für die in Form der (vorübergehenden) Dienstleistung ausgeübten Anwaltstätigkeiten. Es folgt der übliche Vorbehalt für die Abfassung förmliche Urkunden. Ferner werden die anwaltlichen Berufsbezeichnungen in den einzelnen Ländern aufgeführt. Diese Berufspersonen werden nach Art. 2 als Rechtsanwalt anerkannt. Nach Art. 3 handelt der Rechtsanwalt unter seiner Herkunftsbezeichnung unter Angabe seiner Beruforganisation oder des Zulassungsgerichts. Art. 4 ist wiederum den Berufs- und Standesregeln gewidmet. Insoweit bestehen bei der vorübergehend grenzüberschreitenden Tätigkeit dieselben Regelungsnotwendigkeiten wie bei der niedergelassenen grenzüberschreitenden Tätigkeit. Wie schon Art. 6 Niederlassungsrichtlinie verzichtet auch Art. 4 anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie darauf, die Berufs- und Standesregeln, die zur Anwendung kommen sollen, inhaltlich selbst festzulegen, vergleichbar der Regelung der Tätigkeitsbefugnisse in Art. 2 und 3, sondern belässt es grundsätzlich beim nationalen Recht. Wie schon bei Art. 6 Niederlassungsrichtlinie ergibt sich daraus die Frage, ob die Regeln des Herkunftsstaates oder die des Aufnahmestaates zur Anwendung kommen sollen. Diese Frage wird wie bei Art. 6 Niederlassungsrichtlinie dahingehend entschieden, dass beide Regeln anwendbar sein können, die des Herkunftsstaates und – mit gewissen Einschränkungen – die des Aufnahmestaates. Gesetzestechnisch wird dabei nach der Art der Tätigkeit differenziert, wie folgt: Nach Art. 4 Abs. 1 und 2 muss der Rechtsanwalt bei der Vertretung oder der Verteidigung eines Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden neben seinen herkunftsstaatlichen Verpflichtungen auch die Standesregeln des Aufnahmestaates einhalten, ausgenommen das Erfordernis von Wohnsitz und Zugehörigkeit zu einer Berufsorganisation im Aufnahmestaat. Insofern werden also sachnormativ bestimmte Standesregeln des Aufnahmestaates nicht zur Anwendung zugelassen. Bei sonstigen Tätigkeiten, insbesondere der Beratung, bleibt der Rechtsanwalt nach Art. 4 Abs. 4 den herkunftsstaatlichen Bedingungen und Regeln unterworfen, daneben hat er die im Aufnahmestaat geltenden Berufsausübungsregeln einzuhalten, insbesondere solche in Bezug auf die Unvereinbarkeit zwischen den Tätigkeiten des Rechtsanwalts und anderen Tätigkeiten im Aufnahmestaat, das Berufsgeheimnis, die Beziehungen zu Kollegen, das Verbot des Beistands für Parteien mit gegensätzlichen Interessen durch denselben Rechtsanwalt und die Werbung. Diese aufnahmestaatlichen Regeln sind aber – wiederum eine sachnormative Regelung der Richtlinie – nur dann anwendbar, wenn sie von einem Rechtsanwalt beachtet werden können, der nicht im Aufnahmestaat niedergelassen ist, und nur insoweit, als ihre Einhaltung in diesem Staat objektiv gerechtfertigt ist, um eine ordnungsgemäße Ausübung der Tätigkeiten des Rechtsanwalts sowie die Beachtung der Würde des Berufs und der Unvereinbarkeiten zu gewährleisten. Für den sonstigen 300
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Inhalt der Regeln des Herkunfts- und des Aufnahmestaates, soweit letztere anwendbar sind, machen Art. 4 Abs. 1, 2 und 4 keine gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, sondern überlassen die Festlegung des Inhalts dem nationalen Recht. Art. 4 Abs. 1, 2 und 4 beschränken sich vielmehr insoweit – wie Art. 6 Niederlassungsrichtlinie – auf die Regelung der kompetenziellen und kollisionsrechtlichen Frage, ob (und in welchem Umfang) es eigene gemeinschaftsrechtliche Regeln geben soll oder nationale Regeln zur Anwendung kommen sollen, und in letzterem Fall, ob die des Herkunftsstaates oder die des Aufnahmestaates oder beide. Nach Art. 5 kann ein Mitgliedsstaat für die Vertretung und Verteidigung im Bereich der Rechtspflege verlangen, dass der ausländische Anwalt beim Gerichtspräsidenten oder Vorsitzenden der Anwaltskammer des Aufnahmestaats eingeführt ist und mit einem zugelassenen örtlichen Einvernehmensanwalt handeln muss. Wenn in einem Mitgliedsstaat Syndikusanwälte für ihren Arbeitgeber im Bereich der Rechtspflege nicht tätig sein dürfen, kann dieser Mitgliedsstaat nach Art. 6 diese Regelung auch ausländischen Anwälten auferlegen. Nach Art. 7 muss der Rechtsanwalt dem Aufnahmestaat auf Verlangen seine Eigenschaft als Rechtsanwalt nachweisen. Bei Verletzung der im Aufnahmestaat geltenden Verpflichtungen nach Art. 4 entscheidet die zuständige Stelle des Aufnahmestaats nach den eigenen Vorschriften über die rechtlichen Folgen, d. h. über etwaige disziplinarische Maßnahmen. Sie unterrichtet die zuständige Stelle des Herkunftsstaats von jeder Entscheidung, die sie getroffen hat. Zur Disziplinarzuständigkeit des Herkunftsstaates sagt die Richtlinie nichts. Weil sie nicht ausgeschlossen wird, besteht sie weiter. Art. 7 ist insoweit, ebenso wie Art. 4 eine Kollisionsregel. (2) Verhältnis zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie Mit ihren inhaltlichen Regelungen, die vorstehend kurz skizziert worden sind, geht die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie etwaigen abweichenden Bestimmungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie vor. Soweit Vorschriften des nationalen Rechts mit der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie übereinstimmen, kann ein Verstoß gegen die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie nach deren Art. 3 Abs. 1 Satz 1 nicht vorliegen, weil deren der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie widersprechende Bestimmungen zurücktreten. Was oben im Zusammenhang mit der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie zur Reichweite des Vorrangs gesagt worden ist, gilt mutatis mutandis auch bei der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie. Sachnormative inhaltliche Festlegungen haben im Falle eines Widerspruchs Vorrang vor etwaigen inhaltlichen Festlegungen der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie. Bei kompetenzund kollisionsmäßigen Festlegungen beschränkt sich der Vorrang auf diese kompetenz- und kollisionsrechtliche Festlegung, hinsichtlich des Inhalts der dabei angesprochenen Sachnormen hingegen gibt es keinen Vorrang.
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b) Art. 17 Nr. 4 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie Was die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie betrifft, ist insbesondere auch auf Art. 17 Nr. 4 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie einzugehen. Danach findet deren Art. 16 zur grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit, die nur unter den dort genannten engen Voraussetzungen beschränkt werden darf, keine Anwendung auf „die Angelegenheiten, die unter die Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (sc. die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie) fallen.“
Art. 17 Nr. 4 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie beinhaltet also eine per se-Ausnahme. Anders als bei Art. 3 Abs. 1 gilt der Vorrang der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie per se und nicht nur dort, wo sie von Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie abweicht. In der Literatur zu Art. 17 Nr. 4 wird von Schmidt-Kessel vertreten, dass die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie „das komplette Tätigkeitsspektrum“ eines Anwalts erfasse, mit der Konsequenz, dass für eine Anwendung von Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie überhaupt kein Raum bleibe; das gelte auch und gerade für das anwaltliche Beratungsgeschäft; etwas anderes könne allenfalls insoweit gelten, als die Tätigkeit nicht mehr als anwaltliche zu qualifizieren sei, was etwa in den Fällen der Einsetzung als Trustee, als amtliches Organ oder als Träger eines privaten Amtes in Betracht kommen könne22. Diese Rechtsauffassung ist unzutreffend. Über Art. 17 Nr. 4 sind anwaltliche Dienstleistungen von Art. 16 nur insoweit ausgenommen, als sie in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie geregelt sind. Schmidt-Kessel gibt allerdings keine nähere Begründung für seine Auffassung. Er lässt insbesondere eine Analyse der Systematik bei den Ausnahmeregelungen in der Richtlinie insgesamt und in Art. 17 insbesondere vermissen. Nach Art. 2 der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie werden, wie bereits erwähnt, die Angehörigen der in Art. 1 aufgelisteten Rechtsanwaltsberufe für die (grenzüberschreitende) Dienstleistung als Rechtsanwalt anerkannt, woraus sich die Tätigkeitsbefugnisse eines Rechtsanwalts im Aufnahmestaat ergeben. Der grenzüberschreitend tätige Rechtsanwalt ist dabei nach Art. 3 unter seiner Herkunftsbezeichnung tätig. Art. 1, 2 und 3 enthalten also sachnormative inhaltliche Regelungsvorgaben für die nationalen Berufsrechte der Mitgliedstaaten, die durch Umsetzung auf nationaler Ebene verwirklicht werden müssen. Art. 4 Abs. 1, 2 und 4 hingegen sind, wie oben bereits ausgeführt, kompetenz- und kollisionsrechtliche Normen betreffend das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalen Regeln sowie betreffend das Verhältnis zwischen den nationalen Regeln von Herkunfts- und Aufnahmestaat. Wie diese nationalen Regelungen inhaltlich auszusehen haben, wird von der Richtlinie nicht vorgegeben. Festgelegt wird nur, wer regeln darf, nämlich das nationale Recht von Herkunfts- und Aufnahmestaat. Der Inhalt der jeweiligen
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22 Vgl. Schmidt-Kessel (Fn. 21), Art. 17 Rz. 63 f. Die sonstige Literatur zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie befasst sich, soweit ersichtlich, mit dieser Frage nicht.
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nationalen berufsrechtlichen Regelung wird in Art. 4 der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nicht (sachnormativ) geregelt. Angesichts dieses begrenzten Regelungsgehaltes der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie stellt sich die Frage, ob der Begriff „Angelegenheiten, die unter die (sc. anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie) fallen“, rechtlich zu verstehen ist im Sinne von „Regelungsangelegenheiten“ (d. h. Regelungsgehalt) oder faktisch im Sinne von „grenzüberschreitende Anwaltstätigkeit“ mit allen ihren Aspekten, auch soweit sie in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nicht geregelt oder auch nur angesprochen werden, wie z. B. die Themen Gebühren und Werbung. Die Bedeutung der vorstehenden Auslegungsfrage sei an folgenden Beispielen verdeutlicht. – Die Berufs- und Standesregeln eines Herkunftsstaates sehen vor, dass der Rechtsanwalt, bevor er vorübergehend grenzüberschreitend tätig wird, das Einverständnis seiner Kammer einholen muss. Eine derartige Beschränkung auf Seiten des Herkunftsstaates wird von der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nicht erfasst. Diese adressiert nur Beschränkungen im Aufnahmestaat (Art. 4 Abs. 4). Nach Art. 16 Abs. 3 b) allgemeine Dienstleistungsrichtlinie ist das genannte Zustimmungserfordernis unzulässig. Hält man Art. 16 allgemeine Dienstleistungsrichtlinie nicht für anwendbar, dann kann das nationale Berufsrecht für die vorübergehende grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistung ein derartiges Zustimmungserfordernis einführen. – Die Berufs- und Standesregeln eines Aufnahmestaates verlangen, dass ein ausländischer Rechtsanwalt, der im Aufnahmestaat vorübergehend grenzüberschreitend dienstleistend tätig ist, das Gebührenrecht des Aufnahmestaates (und nicht das Gebührenrecht des Herkunftsstaates) einzuhalten hat, insbesondere wenn er für im Aufnahmestaat ansässige Mandanten tätig ist. Diese Anforderung ist von der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nicht erfasst, nach Art. 16 Abs. 2 d) allgemeine Dienstleistungsrichtlinie ist sie unzulässig. Nach der Auffassung, die die vorübergehende grenzüberschreitende Anwaltsdienstleistung über Art. 17 Nr. 4 von Art. 16 allgemeine Dienstleistungsrichtlinie ausnehmen will, kann deshalb ein deutscher Rechtsanwalt im Aufnahmestaat dem dortigen Gebührenrecht unterworfen werden. Nach richtiger Auffassung ist der Begriff der Angelegenheiten in ersterem Sinne, also rechtlich zu verstehen. Es erscheint als ausgeschlossen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber über Art. 17 Nr. 4 auch diejenigen Aspekte der anwaltlichen Tätigkeit, die in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie überhaupt nicht angesprochen sind, blanko von der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie ausnehmen wollte. Andernfalls wäre die gesamte vorübergehende grenzüberschreitende Rechtsdienstleistung durch Rechtsanwälte in allen ihren Aspekten von Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie bereits deshalb ausgenommen, weil einzelne Aspekte dieser Tätigkeit in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie geregelt oder angesprochen sind. Wegen einer solchen teilweisen Regelung bzw. Erwähnung 303
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die vorübergehende anwaltliche Dienstleistung in vollem Umfang für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit aus der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie herauszunehmen, würde dem allgemeinen Liberalisierungszweck der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie und dem gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsprinzip des effet utile23 ebenso widersprechen wie dem systematischen Aufbau der Richtlinie, denn die Vorrangregelung von Art. 3 Abs. 1 Satz 1, die sowohl für die Niederlassungsfreiheit als auch für die Dienstleistungsfreiheit gilt, würde durch Art. 16 Nr. 4 – völlige Ausnahme von der Dienstleistungsfreiheit – für die Dienstleistungsfreiheit bedeutungslos gemacht. Für diese Auslegung von Art. 17 Nr. 4 spricht auch der Vergleich mit Art. 2 Abs. 2, wonach die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie auf bestimmte Katalogtätigkeiten keine Anwendung findet. Unter diesen ausdrücklich ausgenommen Katalogtätigkeiten befinden sich mehrere Tätigkeiten, die Gegenstand besonderer sektoraler Richtlinien sind, beispielsweise Finanz- und Bankdienstleistungen. Teilweise werden diese ausgenommenen Richtlinien durch ausdrücklichen Verweis auf die betreffenden sektoralen Richtlinien gekennzeichnet, insbesondere die elektronischen Kommunikationsdienstleistungen. Wenn dem gegenüber Art. 17 Nr. 4, anders als Art. 2 Abs. 2, eine Ausnahme nicht für die gesamte Rechtsdienstleistung vorsieht, die in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie geregelt ist, sondern nur für „Angelegenheiten“, die unter die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie fallen, stützt diese unterschiedliche Formulierung den Schluss, dass Art. 17 Nr. 4 für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 16 keine Totalausnahme für die grenzüberschreitende Anwaltstätigkeit nach der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie vorsieht, sondern eine Ausnahme nur insoweit, als es sich um Angelegenheiten handelt, die tatsächlich Gegenstand dieser sektoralen Richtlinie als Regelung des Sekundärrechts sind. Für diese Auslegung von Art. 17 Nr. 4 spricht schließlich auch der Vergleich der einzelnen in Art. 17 geregelten Ausnahmen: – In Nr. 1 werden bestimmte Dienstleistungen, also Tätigkeiten ausgenommen, darunter in lit. a), b) und c) solche, die von einer bestimmten Dienstleistung „erfasst“ sind. – In Nr. 5 wird die gerichtliche Beitreibung von Forderungen ausgenommen, also eine Tätigkeit. – In Nr. 12 werden Handlungen ausgenommen, für die die Mitwirkung eines Notars gesetzlich vorgeschrieben ist, also eine Tätigkeit. – In Nr. 14 wird die Zulassung von in einem anderen Mitgliedsstaat geleasten Fahrzeugs ausgenommen, also wiederum eine Tätigkeit. – Nach Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 10 und 13 sind hingegen „Angelegenheiten“ ausgenommen, die unter eine bestimmte Richtlinie bzw. Verordnung fallen, dar-
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23 Nach diesem Prinzip soll die Auslegung im Bereich der Grundfreiheiten sicherstellen, dass die einzelne Grundfreiheit bestmöglich verwirklicht wird, vgl. ausführlich mit Nachweisen aus der Rspr. des EuGH Potacs, Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465, 467 f.
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unter die hier interessierende Nr. 4 betreffend Angelegenheiten, die unter die anwaltliche Dienstleistungsrichtlinie fallen. Art. 17 hat also einen differenzierenden Regelungsansatz. In bestimmten Fällen werden durch Bezugnahme auf Richtlinien oder durch verbale Beschreibung definierte Dienstleistungen und Tätigkeiten ausgenommen, in anderen Fällen werden Angelegenheiten ausgenommen, die unter eine bestimmte Richtlinie (oder Verordnung) fallen. Dieser unterschiedliche Formulierungsansatz macht nur dann Sinn, wenn er einen inhaltlichen Unterschied widerspiegelt, indem in einem Fall die Tätigkeit insgesamt ausgenommen ist, im anderen Fall hingegen nur die Regelung des anderweitigen Sekundärrechtsaktes. Die vorstehende Auffassung entspricht der der Kommission. Im Handbuch der Kommission heißt es24: „Von der Richtlinie 77/249 EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte erfasste Angelegenheiten Die Ausnahme in Art. 17 Ziffer 4 stellt sicher, dass die genannte Richtlinie auch weiterhin vollständig Anwendung findet, insoweit sie speziellere Vorschriften zur Erbringung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen durch Rechtsanwälte enthält. Aus diesem Grund findet im Rahmen dieser Ausnahme Art. 16 für Rechtsanwälte nur für die Angelegenheiten Anwendung, die nicht von der besagten Richtlinie erfasst sind.“
c) Ergebnis Soweit die Niederlassungsrichtlinie und die Dienstleistungsrichtlinie für Rechtsanwälte Bestimmungen enthalten, denen die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie widerspricht, haben die Bestimmungen der anwaltlichen Richtlinien Anwendungsvorrang (Art. 3 Abs. 1 Satz 1). Angelegenheiten, die in der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie geregelt sind, d. h. die dortigen Normen in der Reichweite ihres Regelungsinhaltes, sind zudem nach Art. 17 Nr. 4 von Art. 16 betreffend die Dienstleistungsfreiheit ausgenommen, ohne dass es auf einen Widerspruch zur allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie oder deren Art. 16 ankommt25.
__________ 24 Vgl. Rz. 7.1.4, S. 65. 25 Diese Auffassung wird von weiteren fünf Mitgliedern des oben bei Fn. 11 erwähnten Normenscreening-Unterausschusses der Satzungsversammlung bei der BRAK geteilt, vgl. SV-Mat. 05/2009 unter B. III. 2. b). Drei Mitglieder sehen in Art. 17 Nr. 4 eine Totalausnahme für die anwaltliche Tätigkeit. Zur Begründung beziehen sie sich auf die oben im Text erwähnte Kommentierung von Schmidt-Kessel, vgl. oben zu Fn. 21, sowie auf die Tatsache, dass es den Mitgliedstaaten nach Art. 4 der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie und nach der Entscheidung des EuGH v. 19.2.2002, Wouters, Rs. C-309/99, Rz. 99) freisteht, das Berufsrecht der Rechtsanwälte für ihr Hoheitsgebiet zu regeln, vgl. die Abweichende Stellungnahme, SV-Mat 06/2009 unter I. Bei diesem Argument wird übersehen, dass die mitgliedstaatliche Kompetenz zur Regelung des Berufsrechts in Art. 4 der anwaltlichen Dienstleistungsrichtlinie nur im Sinne einer Kompetenz- und Konfliktnorm geregelt wird, ohne dass die Richtlinie dabei eine inhaltliche gemeinschaftsrechtliche Regelung trifft; eine solche erfolgt jetzt durch die allgemeine Dienstleistungsrichtlinie. Ferner hat der EuGH in
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Diese Ausnahme gilt aber nur für Art. 16 und nicht für die übrigen Bestimmungen der Richtlinie im Zusammenhang mit der vorübergehenden grenzüberschreitenden Dienstleistung, nämlich die Rechte der Dienstleistungsempfänger nach Art. 19 ff. und die weiteren Bestimmungen in Art. 22 ff. betreffend Informationen über Dienstleistungserbringer und deren Dienstleistungen, Berufshaftpflichtversicherungen und Sicherheiten, Werbung, multidisziplinäre Tätigkeiten, Qualitätssicherung und Streitbeilegung.
III. Gemeinsame Prüfkriterien im Rahmen der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit Bei Genehmigungsregelungen und Anforderungen im Bereich der Niederlassungsfreiheit und bei Anforderungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit gelten, soweit nicht nach der Richtlinie ein ausdrückliches Verbot besteht, folgende Prüfungsmaßstäbe (vgl. Art. 9 Abs. 1, Art. 15 Abs. 3, Art. 16 Abs. 1 und Unterabs. 3). 1. Keine Diskriminierung Es darf keine Diskriminierung vorliegen, d. h. eine Ungleichbehandlung von Inländern und EU-Ausländern aufgrund der Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen oder aufgrund des Mitgliedstaats, in dem sie niedergelassen sind, bei juristischen Personen. Diskriminierung liegt nicht nur dann vor, wenn die betreffende Regelung unmittelbar an diese Kriterien anknüpft, sondern auch dann, wenn eine Regelung ohne ausdrückliche Anknüpfung an diese Kriterien typischerweise EU-Ausländer betrifft. 2. Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses Bei der niedergelassenen grenzüberschreitenden Tätigkeit kann die Rechtfertigung aus allen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses erfolgen (Art. 10 Abs. 2 lit. b) i. V. m. Art. 4 Nr. 8). Es handelt sich dabei insbesondere um alle Gründe, die der EuGH in ständiger Rechtsprechung als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anerkannt hat. Die nicht abschließende Aufzählung in Art. 4 Nr. 8 nennt u. a. den Schutz der Verbraucher. Belange der ordnungsmäßigen Rechtspflege werden dort nicht als Beispiel genannt, wohl aber in Erwägungsgrund 40. Weil die Aufzählung in Art. 4 Nr. 8 nicht abschließend ist und Belange der Rechtspflege vom EuGH als Grund des zwingenden Allgemeininteresses anerkannt sind, können auch Rechtspflegebelange im Rahmen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigende Wirkung haben.
__________ Wouters die mitgliedstaatliche Freiheit zur Regelung des anwaltlichen Berufsrechts ausdrücklich nur „in Ermangelung besonderer gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften“ eingeräumt. Im Falle Wouters gab es keine einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, wie sie jetzt hier durch die Vorgaben der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie bestehen.
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Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit sind hingegen die Gründe des zwingenden Allgemeininteresses, die eine Anforderung erforderlich machen und rechtfertigen können, nach der ausdrücklichen Bestimmung von Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 lit. b) und Abs. 3 ausdrücklich auf die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Gesundheit und den Schutz der Umwelt beschränkt. Im Anwendungsbereich von Art. 16 sind daher weitere Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen vollständig ausgeschlossen. Das gilt vor allem für den gesamten übrigen Katalog der vorstehend genannten zwingenden Allgemeininteressen, die im Bereich der Niederlassungsfreiheit zur Anwendung kommen können. Belange der Rechtspflege haben also im Bereich der Dienstleistungsfreiheit keine rechtfertigende Wirkung mehr. Daraus ergibt sich die Frage, ob diese Beschränkung mit dem gemeinschaftsrechtlichen Primärrecht vereinbar ist, oder ob auch im Bereich der Dienstleistungsfreiheit kraft Primärrecht der Gesamtkatalog aller vom EuGH anerkannten Gründe des zwingenden Allgemeininteresses zur Rechtfertigung herangezogen werden kann und ggfls. muss. Sollte dies der Fall sein, dann wären die genannten Bestimmungen in Art. 16 nicht konform mit dem Primärrecht der Gemeinschaft und müssten diese Bestimmungen gemeinschaftsrechtskonform erweiternd ausgelegt werden. Das Handbuch der Kommission zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie hält die Liste der Rechtfertigungsgründe in Art. 16 Abs. 1 unter Abs. 3 lit. b) und Abs. 3 für abschließend26. Die Frage der Konformität mit dem Primärrecht wird von der Kommission nicht erörtert. Das BMJ hat in mehreren Gesprächen wissen lassen, dass es die Beschränkung der Rechtfertigungsgründe in Art. 16, die es im Rat mitverhandelt habe, für gemeinschaftsrechtskonform hält. Die Literatur hält einhellig die Aufzählung der Rechtfertigungsgründe in Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 lit. b) und Abs. 3 für abschließend und, soweit sie die Frage überhaupt erörtert, primärrechtskonform27. Dass ein Verstoß gegen das primäre Gemeinschaftsrecht nicht vorliegt, ergibt sich aus den nachfolgenden Überlegungen. Die Beschränkung der Rechtfertigungsgründe in Art. 16 der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie führt dazu, dass die primärrechtliche Dienstleistungsfreiheit weniger beschränkt werden kann, als dies bei Berücksichtigung aller zwingenden Allgemeininteressen nach Primärrecht der Fall wäre. Der Geltungsbereich der Dienstleistungsgrundfreiheit wird also
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26 Kommissionshandbuch, Rz. 7.1.3.1. 27 Vgl. Calliess, Europäischer Binnenmarkt und europäische Demokratie: Von der Dienstleistungsfreiheit zur Dienstleistungsrichtlinie – und wieder Retour?, DVBl 2007, 336, 343; Hatje, Die Dienstleistungsrichtlinie – Auf der Suche nach dem liberalen Mehrwert, NJW 2007, 2357, 2362; Korte, Mitgliedsstaatliche Verwaltungskooperation und private Eigenverantwortung beim Vollzug des europäischen Dienstleistungsrechts, NVwZ 2007, 501, 504 f.; Lemor, Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie auf ausgesuchte reglementierte Berufe, EuZW 2007, 135, 139; Roth, Die Dienstleistungsrichtlinie und der Verbraucherschutz, S. 205, 216 f., sowie Streinz, Die Ausgestaltung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit durch die Dienstleistungsrichtlinie – Anforderungen an das nationale Recht, S. 95, 112 f., beide in Leible (Hrsg.), Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie – Chancen und Risiken für Deutschland, 2008; ferner Schmidt-Kessel (Fn. 21), Rz. 42 zu Art. 16.
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gegenüber dem Primärrecht nicht eingeschränkt, sondern in dem Sinne erweitert, dass Beschränkungen nur in engerem Umfang als nach Primärrecht zugelassen werden. Gemessen an der Dienstleistungsgrundfreiheit liegt also kein Verstoß gegen das Primärrecht vor. Eingeschränkt wird nicht die Dienstleistungsgrundfreiheit, eingeschränkt werden die Rechtfertigungsgründe für eine etwaige Beschränkung durch mitgliedstaatliche Regelungen. „Leidtragender“ dieser Beschränkung der Rechtfertigungsgründe ist nicht der einzelne Dienstleister, sondern der jeweilige Mitgliedstaat. Die Mitgliedstaaten haben jedoch bei Verabschiedung der Richtlinie im Ministerrat der Beschränkung der Rechtfertigungsgründe auf nationaler Ebene zugestimmt. Diese Zustimmung verstößt nicht gegen das Primärrecht der Gemeinschaft. Die Rechtspflege und der Verbraucherschutz fallen zwar aufgabenmäßig in die Mitzuständigkeit der Gemeinschaft (Art. 31 und 34 EUV bzw. Art. 3 Abs. 1 lit. t EG). Diese Mitzuständigkeit ist durch separate Rechtsakte wahrzunehmen und auszufüllen. Im Gegensatz zu den vier Grundfreiheiten, insbesondere der Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. und 43 ff. EG), haben die Rechtspflege und der Verbraucherschutz im Primärrecht der Gemeinschaft keine inhaltliche Ausgestaltung gefunden. Es gibt auch keine primärrechtlichen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts für die Mitgliedstaaten, ob und in welchem Umfang sie mit Blick auf Belange der Rechtspflege oder des Verbraucherschutzes die Ausübung von gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten beschränken müssen. Dies liegt vielmehr in der autonomen Entscheidung der einzelnen Mitgliedsstaaten. 3. Verhältnismäßigkeit Die Genehmigungsregelungen bzw. Anforderungen im Rahmen der Niederlassungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 c) und Art. 15 Abs. 3 lit. c)) sowie die Anforderungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit (Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 lit. c)) müssen verhältnismäßig sein, d. h. sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich ist. Insofern ist anzumerken, dass eine Relevanz für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit immer dann bestehen dürfte, wenn derselbe Sachverhalt in anderen Mitgliedstaaten durch mildere Maßnahmen geregelt wird.
IV. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Normenscreening Nach der Rspr. des EuGH ist – verkürzt formuliert – nationales Recht im Lichte des Gemeinschaftsrechts (Primär- und Sekundärrecht) auszulegen und hat das Gemeinschaftsrecht im Fall eines Widerspruchs Anwendungsvorrang, d. h. das entgegenstehende nationale Recht darf von Gerichten und Behörden nicht angewandt werden28. Daraus ergibt sich die abschließende Frage, ob und wie weit diese Grundsätze für das Normenscreening relevant sind und ob
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28 Vgl. Geiger, EUV/EGV, 4. Aufl. 2004, Rz. 31 und 44 zu Art. 10 EGV mit Nachweisen aus der Rspr. des EuGH.
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Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts
ggfls. gemeinschaftsrechtswidrige Normen des nationalen Rechts durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung vor einem Verdikt im Normenscreening bewahrt werden. Zweck des Normenscreenings ist es, dass die Mitgliedstaaten das nationale Recht nicht nur überprüfen, sondern im Fall eines Widerspruchs gemeinschaftsrechtskonform abändern bzw. aufheben. Diesem Zweck entsprechend kann das Normenscreening (mit der etwaigen Folge der Änderung bzw. Aufhebung von gemeinschaftsrechtswidrigen Vorschriften) nicht deshalb entfallen, weil die dem Wortlaut nach gemeinschaftsrechtswidrige Vorschrift wegen des Verstoßes des Gemeinschaftsrechts von Gerichten und Behörden nicht angewendet werden darf. Der Wortlaut der nationalen Vorschriften soll vielmehr so sein, dass er nicht dem Gemeinschaftsrecht widerspricht, denn der nicht-rechtskundige Bürger ist nicht in der Lage, die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zu erkennen, noch weiß er, dass dem Gemeinschaftsrecht widersprechendes nationales Recht von Gerichten und Behörden nicht angewendet werden darf. Das Ergebnis kann eigentlich nicht anders lauten, denn andernfalls würde der Normenscreeningbefehl der Dienstleistungsrichtlinie von vornherein ins Leere laufen. Anders ist die Rechtslage, wenn die einzelne Norm des nationalen Rechts dem Wortlaut nach nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt. Eine derartige „offene“ Norm kann und muss nach der Rspr. des EuGH gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden.
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Martin Henssler
Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen Zur Befugnis einer Rechtsanwaltskammer zur Zulassung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG
Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das handels- und gesellschaftsrechtliche Verbot der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG III. Die verfassungsrechtliche Beurteilung des Verbots der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG IV. Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit des Verbots der RechtsanwaltsGmbH & Co. KG 1. Entscheidungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungswidrigen Gesetzen a) Nichtigkeit des Gesetzes als regelmäßige unmittelbare Folge b) Bloße Unvereinbarkeit des Gesetzes als unmittelbare Folge, insbesondere bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz 2. Mittelbare Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen a) Grundsätze b) Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Gerichte und Behörden c) Verwerfungskompetenz von Gerichten und Behörden im Stadium vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
d) Verhalten von Gerichten und Behörden im Stadium nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 3. Folgerungen für die Praxis a) Keine Verwerfungskompetenz der mit der Sache befassten Rechtsanwaltskammer b) Bloße Unvereinbarkeit der verfassungswidrigen Normen? V. Möglichkeit einer Zulassung der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG zur Anwaltschaft 1. Die Anerkennung von Berufsausübungsgesellschaften nach WPO und StBerG 2. Die Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft nach der BRAO 3. Ergebnis VI. Zulässigkeit einer Rechtsanwalts-AG & Co. KG VII. Praktische Überlegungen 1. Gerichtliche Überprüfung einer Kammerverfügung 2. Gerichtliche Überprüfung einer ablehnenden Entscheidung des Registergerichts VIII. Zusammenfassung der Ergebnisse
I. Einführung Graf von Westphalen, dem dieser Beitrag in enger Verbundenheit und hoher Wertschätzung gewidmet ist, ist ein herausragender Vertreter der deutschen Anwaltschaft, der sich zugleich durch eine bewundernswerte Vielseitigkeit auszeichnet. Engagiert in vielfältigen verbandlichen Funktionen in nationalen und internationalen Organisationen ist er zugleich Autor eines breit angeleg311
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ten wissenschaftlichen Werkes. Der ihm zugedachte Beitrag versucht, dieses breite Spektrum als Anwalt, Verbandsfunktionär und Rechtswissenschaftler zumindest andeutungsweise inhaltlich widerzuspiegeln. Rechtsanwaltskammern standen in den letzten Jahrzehnten immer wieder vor der Frage nach dem richtigen Verhalten bei berufsrechtlichen Vorschriften, deren Verfassungsmäßigkeit zumindest zweifelhaft erschien. Schaut man auf die zahlreichen Vorschriften in BRAO, BORA und FAO, die in den vergangenen Jahrzehnten vom Bundesverfassungsgericht beanstandet wurden1, zeigt sich, dass es sich hierbei um keine theoretische Fallkonstellation, sondern um ein Problem von hoher praktischer Relevanz handelt. Darf eine Rechtsanwaltskammer etwa belehrende Hinweise oder gar eine Rüge erteilen bzw. berufsrechtliche Maßnahmen initiieren, wenn ein Verstoß gegen eine Berufsrechtsnorm im Raum steht, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz im Schrifttum verneint und über deren Verfassungsmäßigkeit sich die Kammer selbst im Zweifel ist? Aktuell stellt sich dieses Problem bei den Anträgen auf Zulassung von Rechtsanwaltsgesellschaften in der Rechtsform der GmbH & Co. KG, mit denen sich verschiedene Kammern konfrontiert sehen.
II. Das handels- und gesellschaftsrechtliche Verbot der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG Nach dem aktuellen einfachgesetzlichen Rechtszustand scheitert die Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG zum einen an handelsrechtlichen Vorschriften2. Die KG steht als Handelsgesellschaft für die freiberufliche Berufsausübung nicht zur Verfügung. Der Gesetzgeber hat sich anlässlich der Reform des Jahres 1998 bewusst gegen die Einbeziehung der Freien Berufe entschieden3. Es fehlt somit an einer Regelungslücke, die durch eine analoge Anwendung der handelsrechtlichen Vorschriften auf die Freien Berufe ausgefüllt werden könnte. Aufgrund der Anknüpfung in §§ 161, 105 HGB an die Ausübung eines Handelsgewerbes stehen folglich KG und OHG Rechtsanwälten als Angehörige eines Freien Berufs nicht zur Verfügung. Zwar öffnet § 105
__________ 1 Vgl. nur zum Verbot der Erfolgshonorare BVerfGE 117, 163 ff., zur Singularzulassung von Rechtsanwälten an den Oberlandesgerichten BVerfGE 103, 1 ff.; zum Verbot widerstreitender Interessen nach § 3 Abs. 2 BORA BVerfGE 108, 150 ff.; zur Standeswidrigkeit der Beantragung eines Versäumnisurteils nach § 13 BORA BVerfGE 101, 312; zur Verfassungswidrigkeit der anwaltlichen Standesrichtlinien BVerfGE 76, 196. Verschiedene Entwürfe zur BORA sind bereits durch das Bundesministerium der Justiz wegen Verfassungsverstoßes verworfen worden, bspw. zu sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen einer Zweigniederlassung in § 5 BORA-E vom 15.6.2009; zur Beratungshilfe nach § 16a BORA-E vom 16.11.2008; zur Nennung von Teilbereichen der Berufstätigkeit nach § 7 Abs. 2 BORA-E vom 21.2.2005 (hierzu BRAK-Mitt. 2005, 184). 2 Eingehend Henssler in FS Kreutz, 2010, S. 635 ff.; vgl. auch die Darstellung bei K. Schmidt, DB 2009, 271, 273. 3 So eindeutig die amtliche Begründung BT-Drucks. 13/8444, S. 22 ff.; 33 f.; kritisch gegenüber der Entscheidung des Gesetzgebers, die Freien Berufe nicht in das HGB einzubeziehen K. Schmidt, ZIP 1997, 909; dagegen Henssler, ZIP 1997, 1481.
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Abs. 2 HGB die Rechtsformen der OHG und KG in einem sehr engen Ausschnitt auch für nicht gewerbliche Tätigkeiten. K. Schmidt will unter § 105 Abs. 2 HGB sogar jede nicht gewerbliche Außengesellschaft fassen und bezieht damit als Extremfall auch die Freiberufler-Gesellschaft ein4. Die Ausnahme in § 105 Abs. 2 HGB dient aber nur dazu, Immobilienfonds sowie Objekts- und Besitzgesellschaften, die sich auf die Verwaltung des Fondsvermögens bzw. des sonstigen Vermögens beschränken, den Weg zur KG zu eröffnen5. Da die Freien Berufe aber gerade nicht auf die GbR beschränkt sind, sondern mit der Partnerschaft über eine haftungsrechtlich sogar privilegierte Alternative verfügen, lässt sich diese Sondervorschrift nicht im Wege der Analogie auf Freiberuflergesellschaften übertragen6. Die Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG scheitert außerdem an berufsrechtlichen Vorschriften. So steht § 59c Abs. 2 BRAO einer Gesellschaft entgegen, bei der sowohl die Komplementär-GmbH als auch die KG als anwaltliche Berufsausübungsgesellschaften aktiv werden sollen7. Außerdem kann nach § 59a Abs. 1 BRAO eine Kapitalgesellschaft generell nicht Gesellschafterin einer anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft in Form einer Personengesellschaft sein8. Damit entfällt auch die Möglichkeit, die KomplementärGmbH als anwaltliche Organisationsgesellschaft auszugestalten.
III. Die verfassungsrechtliche Beurteilung des Verbots der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG Die handelsrechtlichen und berufsrechtlichen Vorschriften, die der Gründung einer GmbH & Co. KG damit de lege lata entgegenstehen, halten allerdings einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Zunächst erscheint schon zweifelhaft, ob es überhaupt eine sachliche Rechtfertigung für das Verbot eines freiberuflichen Zusammenschlusses in den Rechtsformen der OHG und KG gibt9. Jedenfalls für Rechtsanwälte verletzen diese Verbotsnormen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 GG. Die Berufsrechte der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater enthalten im Vergleich zum anwaltlichen Berufsrecht deutlich großzügigere Regelungen (§ 50a StBerG; § 28 WPO). Nach dem jüngst neu gefassten § 28 Abs. 1 Satz 2 WPO können „persönlich haftende Gesellschafter“ einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und damit gemäß § 27 Abs. 2 WPO einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in der Rechtsform der KG auch „Wirtschaftsprüfungsgesellschaften oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelas-
__________ 4 K. Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2006, § 105 HGB Rz. 64; ders., DB 1998, 61, 62; ders., DB 2009, 271, 273. 5 Vgl. BT-Drucks. 13/8444, S. 40 f. 6 So ausdrücklich BT-Drucks. 13/8444, S. 33 f.; anders dagegen Römermann, AnwBl. 2008, 609, 610. 7 Eingehend Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 640 f. 8 Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 643. 9 Dazu eingehend Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 648.
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sene Prüfungsgesellschaften sein“. Nach der Parallelnorm des § 50 Abs. 1 Satz 3 StBerG kann persönlich haftende Gesellschafterin einer Steuerberatungsgesellschaft auch eine Steuerberatungsgesellschaft sein, welche die Voraussetzungen des § 50a StBerG erfüllt10. Das Bundesverfassungsgericht11 hat zu Recht betont, dass die drei wirtschaftsnahen Beratungsberufe wesensverwandt sind und daher grundsätzlich gleich behandelt werden müssen. Jede Differenzierung in den berufsrechtlichen Vorschriften muss durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt werden. Eine Ungleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) ist nur dann hinzunehmen, wenn zwischen den Vergleichsgruppen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen12. Das Bundesverfassungsgericht hat die Zugehörigkeit zu einer der Berufsgruppen der Steuerberater, Rechtsanwälte oder Wirtschaftsprüfer ganz selbstverständlich zum Anlass genommen, für die Gleichheitsprüfung von Regelungen, die zwischen Angehörigen dieser Berufe differenzieren, die strengeren Kriterien nach Maßgabe seiner sog. „neuen Formel“ heranzuziehen. Mit dieser Formel hat das Bundesverfassungsgericht13 im Jahre 1980 vor dem Hintergrund früherer Bemühungen, den Gleichheitssatz mit Hilfe von Anforderungen der Systemgerechtigkeit aufzuwerten, über das allgemeine Willkürverbot hinausgehende strengere Maßstäbe formuliert. Das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG ist danach „vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (…)“. Gelegentlich wird im Rahmen entsprechender Formulierungen darauf verwiesen, dass es um die Rechtfertigung „unter Berücksichtigung des Normzwecks“ gehe14. Für das Verhältnis zwischen Rechtsanwälten einerseits und Steuerberatern bzw. Wirtschaftsprüfern andererseits bedeuten diese strengeren Kriterien, dass nicht irgendwelche Unterschiedlichkeiten der Vergleichsgruppen, die dem bloßen Willkürverbot standhalten könnten, ausreichen, um den tatbestandlichen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG auszuschließen; vielmehr müssen sich zur Rechtfertigung des Verbots der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG Unterschiede feststellen lassen, die unter Berücksichtigung des Normzwecks die vorgenommene Sonderbehandlung der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer rechtfertigen können.
__________ 10 Vgl. zur Steuerberater-GmbH & Co. KG Neufang/Beißwenger, BB 2009, 932. 11 BVerfGE 80, 269, 280 – Steuerberater und Rechtsanwälte; BVerfGE 98, 49, 63 = JZ 1998, 1062, 1064 mit Anm. Henssler – Steuerberater und Wirtschaftsprüfer; dazu auch BGHZ 148, 270, 282 f. und schon Sachs, MDR 1996, 1197 ff. 12 Ständige Rechtsprechung, BVerfGE 55, 72, 88; BVerfGE 60, 123, 133 f.; Heun in Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rz. 19 m. w. N. 13 Zuerst BVerfGE 55, 72, 88; zum Ganzen näher Sachs, JuS 1997, 124 ff.; aus neuerer Zeit Osterloh in Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 3 Rz. 13 ff. 14 So namentlich für eine Differenzierung zwischen Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern bei Sozietätsverboten BVerfGE 98, 49, 63.
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Die amtlichen Begründungen der genannten Novellen von WPO und StBerG15 stellen auf die steuer- und haftungsrechtlichen Vorteile der GmbH & Co. KG ab. Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern soll danach eine Begünstigung zukommen, die ohne nachvollziehbaren Sachgrund den Rechtsanwälten verwehrt bleibt. Der nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung maßgebliche Normzweck erzwingt damit eine Gleichbehandlung. Auf Seiten der Rechtsanwälte ist außerdem deren Grundrecht aus Art. 12 GG betroffen. Die Möglichkeit, auf bestimmte haftungs- und steuerrechtlich attraktive Berufsausübungsformen zurückgreifen zu können, berührt die Berufsausübung in einem Kernbereich. Angesichts der Wettbewerbssituation, in der sich Rechtsanwälte einerseits und Steuerberater/Wirtschaftsprüfer andererseits seit In-Kraft-Treten des RDG16 verstärkt befinden, müssen die Anforderungen, die an die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu stellen sind, hoch angesiedelt werden. Solche Rechtfertigungsgründe sind vorliegend nicht einmal ansatzweise ersichtlich17. Als personenbezogene Differenzierung lässt sich das Verbot der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG nicht durch gerade bei den Rechtsanwälten oder Anwaltsgesellschaften bestehende Besonderheiten sachlich rechtfertigen; auch eine Legitimation aufgrund des Verständnisses als Typisierung scheidet aus. Vielmehr ging es dem Gesetzgeber darum kleinere und mittelständige Praxen zu begünstigen. Diese prägen aber auch bei der Anwaltschaft das Erscheinungsbild am Markt. Die handels- und berufsrechtlichen Vorschriften, die der Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehen, verletzen somit insbesondere aufgrund der abweichenden Regelung für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Abhilfe über die verfassungskonforme Auslegung der Verbotsvorschriften lässt sich nicht schaffen. Da es sich um vom Gesetzgeber bewusst vorgenommene Differenzierungen handelt, kommt eine Rechtsfortbildung über die verfassungskonforme Auslegung der Verbotsbestimmungen nicht in Betracht18.
IV. Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit des Verbots der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG Die Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit der Vorschriften, die der Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehen, sind zum einen im Hinblick auf die unmittelbaren Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen für diese selbst, zum anderen mit Blick auf die Folgewirkungen für Rechtsakte, die auf der Grundlage des verfassungswidrigen Gesetzes vorgenommen werden, zu bestimmen.
__________ 15 16 17 18
BT-Drucks. 16/2858, S. 24; BR-Drucks. 508/07, S. 40; BT-Drucks. 16/7077, S. 30. Dazu Henssler/Deckenbrock, DB 2008, 41 ff. Ausführlich hierzu Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 650 ff. Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 655.
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1. Entscheidungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts bei verfassungswidrigen Gesetzen a) Nichtigkeit des Gesetzes als regelmäßige unmittelbare Folge Im Verfassungsstaat des Grundgesetzes, der von dem in Art. 20 Abs. 3 GG mit der Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung zum Ausdruck gebrachten Vorrang der Verfassung auch vor dem formellen Gesetz geprägt ist19, ist die regelmäßige Folge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes seine Ungültigkeit (vgl. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) oder – gleichbedeutend – Nichtigkeit (vgl. § 78 Satz 1 BVerfGG)20. Diese Folge tritt nach nicht unbestrittener, aber namentlich in der Gerichtspraxis nach wie vor vorherrschender Auffassung ipso iure und ex tunc ein, also von Gesetzes wegen ohne Notwendigkeit einer Aufhebung oder vorgängiger autoritativer Feststellung und von Anfang an, also mit dem Eintritt des Normwiderspruchs21. b) Bloße Unvereinbarkeit des Gesetzes als unmittelbare Folge, insbesondere bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz Abweichend von der regelmäßigen Rechtsfolge der Nichtigkeit eines Gesetzes nimmt das Bundesverfassungsgericht in ständiger, seit langem in § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfG auch gesetzlich sanktionierter Rechtsprechung in bestimmten Fällen die bloße Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz an22. Eine solche für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärte Vorschrift scheidet grundsätzlich nicht aus dem Normenbestand aus. Die Feststellung der Unvereinbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht führt aber zu einer Anwendungssperre23. Gerichte und Exekutive müssen die nicht abgeschlossenen Verfahren bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber aussetzen24. Das Bundesverfassungsgericht kann allerdings in seiner Entscheidung
__________ 19 Vgl. hierzu Schulze-Fiedlitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 81; Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, München 2005, Art. 20 GG Rz. 249, 253. 20 Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 20 GG Rz. 256. 21 Vgl. BVerfGE 84, 9, 20; zum Ganzen nur Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2001, Rz. 1251 f.; Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Loseblatt, Stand: 30 Lfg. 2009, § 31 BVerfGG Rz. 142 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, Vierter Teil, 1. Kapitel, S. 147 ff. und Fünfter Teil, 2. Kapitel, S. 258 ff.; Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 95 m. w. N.; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 84; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1980, § 44 V 3, S. 1039 ff.; a. A. Grzeszick in Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz Kommentar, Loseblatt, Stand: 55. Lfg. 2009, Art. 20 VI GG Rz. 45 ff.; kritische Auseinandersetzung bei Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, 1977, V., S. 114 ff. 22 Vgl. Ipsen (Fn. 21), Dritter Teil, 2. Kapitel, 1., S. 109 ff. und Fünfter Teil, 1. Kapitel 1. e), S. 217 ff. 23 BVerfGE 99, 280, 298; BVerfGE 100, 59, 103; BVerfGE 100, 104, 136; BVerfGE 100, 226, 248; BVerfGE 107, 133, 149; BVerfGE 107, 150, 186; Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1274; Heußner, NJW 1982, 257, 258; Moench (Fn. 21), VIII. 1., S. 171 f. m. w. N.; Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 98. 24 Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1275.
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zugleich die Weitergeltung der Norm für eine bestimmte Frist anordnen, innerhalb der der Gesetzgeber eine Neuregelung treffen muss25. Diese Praxis greift insbesondere für die hier zu beurteilenden Verstöße gegen Gleichheitsgrundrechte, bei denen die bloße Unvereinbarkeit sogar die Regel ist26. Die Beschränkung der Entscheidungsfolgen im Regelfall auf bloße Unvereinbarkeit beruht auf der Überlegung, dass bei einem Gleichheitsverstoß eine verfassungsgemäße Rechtslage nicht nur durch die Kassation des Gesetzes, sondern in unterschiedlicher Weise herbeigeführt werden kann, indem auf verschiedenen Wegen eine für die jeweiligen Vergleichsgruppen gleichheitsgemäß gestaltete Neuregelung getroffen wird27. Zudem passt eine Nichtigkeitsfolge nicht bei einer Gesetzeslücke sowie bei einer sich erst aus der Normrelation bzw. der Gesetzessystematik ergebenden Verfassungswidrigkeit28. Anderes gilt allerdings jedenfalls dann, „wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber bei Beachtung des Art. 3 GG die nach der Nichtigerklärung verbleibende Fassung der Norm wählen würde“29. Diese Grundsätze gelten in ähnlicher Form für den Fall einer auf einen Verstoß gegen Art. 12 GG gestützten Verfassungswidrigkeit. In seiner aktuellen Entscheidung zum Verbot des Erfolgshonorars in § 49b Abs. 2 BRAO a. F. hat das Bundesverfassungsgericht den aufgezeigten Weg beschritten. Es hat die Verfassungswidrigkeit der Norm in der Form der Unvereinbarkeit festgestellt, die gegen die Anwältin verhängte anwaltsgerichtliche Maßnahme jedoch nicht aufgehoben. Vielmehr wurde dem Gesetzgeber eine Frist gesetzt, innerhalb derer er einen verfassungskonformen Rechtszustand herzustellen habe30. Dort hat das Gericht darauf hingewiesen, dass die Weiteranwendung der verfassungswidrigen Regelung ausnahmsweise deshalb geboten sei, weil anderenfalls
__________ 25 BVerfGE 117, 163, 200 f.; Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1277; Bethge in Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 31 BVerfGG Rz. 206; zur Weitergeltungsanordnung ebenda Rz. 227; Ipsen (Fn. 21), Dritter Teil, 3. Kapitel 3., S. 122 ff.; Moench (Fn. 21), VIII. 4., S. 177. Vgl. zur Befristung BVerfGE 90, 263, 277; BVerfGE 92, 158, 186; BVerfGE 99, 216, 244; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 90 f. 26 Vgl. BVerfGE 22, 349, 361 f.; BVerfGE 93, 121, 148; BVerfGE 99, 69, 83; Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1269; Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 31 BVerfGG Rz. 211 f.; Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 20 GG Rz. 258. Zu den nicht ganz seltenen Fällen, in denen es zur Nichtigkeit kommt, vgl. Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 98 m. w. N. 27 BVerfGE 22, 349, 361 f.; BVerfGE 93, 121, 148; BVerfGE 99, 69, 83; Ipsen (Fn. 21), Dritter Teil, 2. Kapitel 2., S. 113 ff.; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 90. 28 Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 1269; Ipsen (Fn. 21), Fünfter Teil, 1. Kapitel 1. c), S. 213. 29 BVerfGE 22, 163, 174 f.; BVerfGE 85, 191, 212 m. w. N.; ähnlich BVerfGE 55, 100, 113, für den Fall, dass die Möglichkeit einer anderen Beseitigung des Verfassungsverstoßes „aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen derart gering (ist), daß kein Anlaß besteht, lediglich die Unvereinbarkeit … festzustellen“; s. ferner nur Osterloh in Sachs (Fn. 13), Art. 3 GG Rz. 131. 30 Vgl. BVerfGE 117, 163, 200 f.
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für eine Übergangszeit ein Zustand entstehe, der von der verfassungswidrigen Ordnung noch weiter entfernt sei, als der bisherige31. 2. Mittelbare Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen a) Grundsätze Mit mittelbaren Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen sind die Folgen gemeint, die sich aus der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen für auf diese Normen gestützte Rechtsakte ergeben. Sie sind in § 79 BVerfGG hinsichtlich staatlicher Entscheidungen geregelt und zwar insoweit als die Entscheidungen rechts- oder bestandskräftig geworden sind. Abgesehen vom Sonderfall rechtskräftiger Strafurteile, für die eine Wiederaufnahme zugelassen wird (§ 79 Abs. 1 BVerfGG), sieht § 79 Abs. 2 BVerfGG vor, dass (im Interesse der Rechtssicherheit) unanfechtbare (behördliche und gerichtliche) Entscheidungen unberührt bleiben32. Allerdings ist die Vollstreckung solcher Entscheidungen nicht mehr möglich33. Während § 79 BVerfGG ursprünglich nur für nichtig erklärte Normen ansprach, erfasst inzwischen § 79 Abs. 1 BVerfGG auch den Fall der Unvereinbarerklärung einer Norm mit dem Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon zuvor die analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG bei Unvereinbarkeitserklärungen bejaht und diese Auffassung ungeachtet der Änderung des Abs. 1 bestätigt34. Soweit Entscheidungen staatlicher Stellen noch anfechtbar sind, kann die Verfassungswidrigkeit ihrer gesetzlichen Grundlage im Rahmen der dafür vorgesehenen Rechtsbehelfe geltend gemacht werden. Auf nichtige Gesetze gestützte Entscheidungen der Behörden und Gerichte sind rechtswidrig und aufzuheben35; bei bloßer Unvereinbarkeit kommt dieses Prozedere grundsätzlich nicht in Betracht, vielmehr sind die einschlägigen Verfahren bis zu einer Neuregelung auszusetzen36. b) Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Gerichte und Behörden Gerichte und Behörden sind nicht ohne weiteres befugt, die Konsequenzen aus dem Eintritt der Nichtigkeit einer Norm zu ziehen und das Gesetz als ungültig (nichtig) zu behandeln. Insbesondere bei formellen, nachkonstitutionellen Gesetzen wie der BRAO steht den Fachgerichten zwar ein Prüfungs-, aber kein Verwerfungsrecht zu. Letzteres ist vielmehr bei den Verfassungsgerichten, für Bundesgesetze im Falle von Verstößen gegen das Grundgesetz beim Bundesverfassungsgericht, monopolisiert. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG normiert eine
__________ 31 BVerfGE 117, 163, 200 f.; vgl. auch BVerfGE 92, 53, 73; BVerfGE 111, 191, 224; Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 20 GG Rz. 256; vgl. zur Fortgeltung auch Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 91. 32 Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 79 BVerfGG Rz. 43 ff. 33 Zur Vollstreckungssperre Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 79 BVerfGG Rz. 57 ff. 34 BVerfGE 115, 51, 65 m. w. N. 35 Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 79 BVerfGG Rz. 51. 36 Vgl. Ipsen (Fn. 21), 4. Teil, 5. Kapitel, 5., S. 298 f.
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Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen
absolute Letztentscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts über die Vereinbarkeit eines nachkonstitutionellen Gesetzes mit dem Grundgesetz37. Die Fachgerichte sind, wenn sie ein Gesetz der bezeichneten Art, das in ihren Verfahren entscheidungserheblich ist, für grundgesetzwidrig halten, nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Erst nach dessen Entscheidung und auf ihrer Grundlage können sie in dem von der Nichtigkeit des Gesetzes abhängigen Rechtsstreit entscheiden38. Hierdurch wird Rechtssicherheit hergestellt und eine einheitliche Rechtsprechung sowie eine gründliche und sachkundige Prüfung der Gesetze ermöglicht. Andernfalls müsste über die Verfassungswidrigkeit und damit die Nichtanwendung einer Norm in jedem konkreten Rechtsstreit entschieden werden, wobei einheitliche Entscheidungen nicht gewährleistet wären39. Darüber hinaus wird die Autorität des Gesetzgebers gesichert40. Die Berechtigung sonstiger Staatsorgane, insbesondere die der Verwaltungsorgane, aber auch der Organe mittelbarer Staatsverwaltung wie der Rechtsanwaltskammern, vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein Gesetz als nichtig zu behandeln, ist zwar nicht abschließend geklärt41. Nach der zutreffenden herrschenden Meinung verbietet aber das Gebot der Gesetzesbindung bei förmlichen Gesetzen eine Verwerfungskompetenz der Exekutive, auch wenn die Verwaltung Normen für verfassungswidrig hält42. Grundsätzlich ist die Exekutive darauf beschränkt, durch die Bundesregierung bzw. eine zuständige Landesregierung als Behördenspitze ein abstraktes Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. §§ 13 Ziff. 6, 76–79 BVerfGG anzustrengen43. Ausnahmen sind nur in Fällen evidenter Verfassungswidrigkeit44 und im Einzelfall bei schwebenden gerichtlichen Verfahren anzuerkennen45.
__________ 37 BVerfGE 2, 124, 131; BVerfGE 22, 373, 378; Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 767 m. w. N.; Meyer in v. Münch/Kunig, 5. Aufl. 2003, Art. 100 GG Rz. 2; Morgenthaler in Epping/ Hillgruber, Grundgesetz Kommentar, 2009, Art. 100 GG Rz. 2. 38 Vgl. Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 96; näher etwa Sturm in Sachs (Fn. 13), Art. 100 GG Rz. 5, 9 ff.; Sachs, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2007, Rz. 176 ff.; Sieckmann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 100 GG Rz. 7 f. 39 Vgl. Maunz in Maunz/Dürig/Herzog (Fn. 21), Art. 100 GG Rz. 2 ff. 40 Benda/Klein (Fn. 21), Rz. 767; Sieckmann in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 100 GG Rz. 3. 41 S. dazu nur Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 97 m. w. N. 42 Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG Rz. 98; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 20 GG Rz. 36; Ossenbühl in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rz. 4; Somemrmann in v. Mangodt/Klein/ Stark (Fn. 19), Art. 20 GG Rz. 257; ausführlich M. Wehr, Inzidente Normenverwerfung durch die Exekutive, 1998, S. 107 ff., 180 ff.; a. A. Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 97 m. w. N. Offengelassen von Grzeszick in Maunz/Dürig/Herzog (Fn. 21), Art. 20 VI GG Rz. 48 ff. 43 Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 98; Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Strack (Fn. 19), Art. 20 GG Abs. 3 Rz. 257. 44 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1347 ff.; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 19), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 98. 45 BVerfGE 12, 180, 186; Schulze-Fielitz in Dreier (Fn. 12), Art. 20 GG (Rechtsstaat) Rz. 98.
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Auch eine Rechtsanwaltskammer muss als Organ mittelbarer Staatsverwaltung damit formelle Gesetze, wie das HGB oder die BRAO, die sie für verfassungswidrig hält, grundsätzlich beachten. Angesichts des Umstands, dass das Verbot der freiberuflichen GmbH & Co. KG seit vielen Jahrzehnten anerkannt und bis in die jüngste Zeit nicht einmal ansatzweise in Zweifel gezogen wurde, kann von einer Ausnahmekonstellation, in der einer Rechtsanwaltskammer ein eigenständiges Verwerfungs- bzw. Nichtanwendungsrecht zu gewähren wäre, nicht ausgegangen werden. c) Verwerfungskompetenz von Gerichten und Behörden im Stadium vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts können und müssen die Fachgerichte somit ein als verfassungswidrig eingestuftes Gesetz nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, nicht aber vor dessen Entscheidung selbständig außer Anwendung lassen. Der vollziehenden Verwaltung und damit auch den Rechtsanwaltskammern bleibt im Stadium vor der Unvereinbarkeitserklärung grundsätzlich nur die Anwendung des Gesetzes. Ausnahmen gelten – wie erwähnt (oben 1. a) – in Fällen evidenter Verfassungswidrigkeit und bei schwebenden gerichtlichen Verfahren. Eine weitere Ausnahme hat das Bundesverfassungsgericht46 für den Fall angenommen, in dem es im Ermessen der Behörde steht, die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes auszusetzen. Sei die Norm, auf dem der Verwaltungsakt beruhe, verfassungswidrig, so sei das Ermessen der Behörde auf null reduziert, das Verfahren müsse also ausgesetzt werden. Das Gericht knüpfte in einem steuerrechtlichen Sachverhalt an die Verpflichtung der Finanzverwaltung an, die Beitreibung öffentlicher Abgaben auszusetzen, falls ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen47. Rechtfertigten aber schon ernstliche Zweifel an der Richtigkeit von Auslegung und Anwendung des Gesetzes die Aussetzung, so müsse entsprechendes erst recht dann gelten, wenn ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit des Gesetzes selbst erhoben werden können. Denn auch die vollziehende Gewalt sei nach Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht, insbesondere an die Grundrechte gebunden. Aus dem Prinzip der Gewaltenteilung und aus Sinn und Zweck der Ermächtigung zur Aussetzung folge nichts anderes. Der Grundsatz der Gewaltenteilung werde durch die wechselseitige Kontrolle der Gewalten ergänzt; er zwinge nicht zum Vollzug eines Gesetzes, das wahrscheinlich für nichtig erklärt werden müsse. Die Sorge, unzureichend begründete Aussetzungen könnten überhand nehmen und die Verwaltung lähmen, sei nicht begründet; einem Missbrauch können die höheren Verwaltungsstellen entgegentreten. In letzter Linie seien Bundesregierung oder Landesregierungen in der Lage, durch Einleitung eines Verfahrens nach Art. 93
__________ 46 BVerfGE 12, 180, 186. 47 Vgl. z. B. BFH in BStBl. III 1954, 116 und 328; FR 1958, 209 und OVG Münster in JZ 1960, 709.
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Abs. 1 Nr. 2 GG eine Klärung der verfassungsrechtlichen Zweifel herbeizuführen. Zwar sei eine Aussetzung nicht allein deshalb gerechtfertigt, weil der Betroffene die Verfassungswidrigkeit einer Norm behaupte oder die Verfassungswidrigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht geltend mache. Ein solches Vorbringen könne aber Anlass geben, eine Aussetzung in Betracht zu ziehen48. d) Verhalten von Gerichten und Behörden im Stadium nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts In den Fällen der verfassungsgerichtlichen Unvereinbarkeitserklärung ohne Weitergeltungsanordnung steht die Verfassungswidrigkeit dem weiteren Gesetzesvollzug entgegen. Gerichtliche und behördliche Verfahren sind daher auszusetzen, bis der Gesetzgeber die Gesetzeslage neu gestaltet hat, was grundsätzlich auch rückwirkend möglich sein soll49. Der Bürger muss das Gesetz, das mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt wurde, also nicht beachten. Er handelt dabei aber in gewissem Umfang auf eigenes Risiko, da er mit der verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen Neuregelung auch für die Vergangenheit rechnen muss. Nicht vorhersehbare Belastungen muss er dagegen nicht befürchten. 3. Folgerungen für die Praxis a) Keine Verwerfungskompetenz der mit der Sache befassten Rechtsanwaltskammer Für die Behandlung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG durch eine mit der Sache befasste Rechtsanwaltskammer ergeben sich damit folgende Grundsätze: Ist das derzeitige Verbot der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG als verfassungswidrig anzusehen, steht der Rechtsanwaltskammer, die bei einem Zulassungsantrag im Rahmen der mittelbaren Staatsverwaltung als Behörde im Sinne der vorigen Ausführungen tätig wird, keine eigene Verwerfungskompetenz zu. Das gilt unabhängig davon, ob das Bundesverfassungsgericht im Falle seiner Anrufung zur Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit der Regelung kommt. Insbesondere hinsichtlich der Vorschriften der BRAO als eindeutig nachkonstitutionellem formellem Gesetzesrecht ist die Verwerfung beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert. Gleiches wird man aufgrund der Handelsrechtsreform des Jahres 1998 auch für die Definition des Handelsgewerbes in §§ 1 ff. HGB annehmen müssen. Eine umwandlungswillige Kanzlei müsste gegen einen ablehnenden Bescheid der Rechtsanwaltskammer gerichtlich vorgehen und nach Ausschöpfung des Rechtswegs gegebenenfalls Verfassungsbeschwerde erheben.
__________ 48 BVerfGE 12, 180, 186. 49 Vgl. zum Ganzen nur BVerfGE 99, 280, 298; BVerfGE 100, 59, 103; BVerfGE 100, 104, 136; BVerfGE 100, 226, 248; BVerfGE 107, 133, 149; BVerfGE 107, 150, 186; Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 21), § 31 BVerfGG Rz. 221 ff.; Heußner, NJW 1982, 257, 258; Sachs in Sachs (Fn. 13), Art. 20 GG Rz. 98.
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Selbst im Falle des Obsiegens könnte sie die Gründung einer GmbH & Co. KG nicht sofort durchsetzen. b) Bloße Unvereinbarkeit der verfassungswidrigen Normen? Die Nichtigkeit der einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehenden Vorschriften würde nach den vorgestellten Grundsätzen voraussetzen, dass mit Sicherheit anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber bei Beachtung des Art. 3 GG die nach der Nichtigerklärung verbleibende Fassung der Norm wählen würde. Ob diese Voraussetzung tatsächlich zu bejahen ist, lässt sich nach den recht unbestimmten Kriterien des Bundesverfassungsgerichts kaum rechtssicher beurteilen. Da die Folgen sehr weitreichend sind und es im Prinzip einer völligen Neuordnung des Rechts der Berufsausübungsgesellschaften der Freien Berufe bedarf, erscheint es denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht – sofern es zum Ergebnis der Verfassungswidrigkeit gelangt – die verfassungswidrige Regelung für weiterhin anwendbar erklärt, dem Gesetzgeber aber eine Frist zur Neuregelung setzt. Dem Gesetzgeber würde so die Gelegenheit eingeräumt, die gerichtlich festgestellte Verfassungswidrigkeit der geltenden Rechtslage zum Anlass für eine grundlegende Neuregelung des Systems der Personengesellschaften zu nehmen. In diese Richtung weist auch die österreichische Regelung in dem neuen UGB50. Dass die generelle Anerkennung der freiberuflichen GmbH & Co. KG vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen wird, erscheint dagegen eher unwahrscheinlich. Vorstellbar ist etwa, dass für den Fall der Ausübung einer Treuhandtätigkeit durch die verwandten Berufe der Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer die KG zur Verfügung gestellt und außerdem das Verbot der Beteiligung von Kapitalgesellschaften an anwaltlichen Personengesellschaften gelockert wird. Gerade die letztgenannte Gesetzesänderung ist freilich nicht zwingend. Verfassungsrechtlich wäre der Gesetzgeber (wohl) nicht gehindert, die Beteiligung von Kapitalgesellschaften an freiberuflichen Personengesellschaften weiterhin zu beschränken. Hinsichtlich der Anforderungen, die insoweit aufzustellen sind, steht dem Gesetzgeber ein recht weiter Entscheidungsspielraum zur Verfügung. Die komplette Nichtigerklärung der in §§ 59a Abs. 1 und 59c Abs. 2 BRAO angeordneten Beschränkungen dürfte vor diesem Hintergrund fragwürdig sein. Die Besonderheit, dass selbst den Steuerberatern und den Wirtschaftsprüfern die KG nur für die treuhänderische Tätigkeit zur Verfügung gestellt wird (vgl. § 27 Abs. 2 WPO und § 49 Abs. 2 StBerG), verdeutlicht die Notwendigkeit einer klaren, widerspruchsfreien und den Gleichheitssatz achtenden gesetzlichen Regelung. Die bestehenden Rechtsunsicherheiten legen es nahe, dass eine mit der Sache befasste Rechtsanwaltskammer über einen gerichtlich überprüfbaren Bescheid den Weg zu einer verfassungsrechtlichen Klärung ebnet51. Die Rechtslage ist
__________ 50 Dazu Henssler in FS Kreutz (Fn. 2), S. 635, 648 f.; ausführlich Zib/Verweijen, Das neue Unternehmensgesetzbuch, 2006. 51 Dazu im Einzelnen unter VII.
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insoweit anders als bei den schlicht ungeregelten Gesellschaftsformen wie etwa der Rechtsanwalts-AG, bei der es ja nicht darum ging, eine explizite Verbotsvorschrift unter Missachtung der Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers außer Acht zu lassen. Dort stellte sich allein die Frage, wie angesichts einer bestehenden Gesetzeslücke zu verfahren ist. Bei der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG würde dagegen der Rechtsanwaltskammer abverlangt, eine klare gesetzliche Regelung nicht anzuwenden.
V. Möglichkeit einer Zulassung der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG zur Anwaltschaft Bejaht man – entgegen der hier vertretenen Auffassung – die Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG schon de lege lata, so stellt sich die Anschlussfrage, ob eine solche Gesellschaft einer berufsrechtlichen Zulassung bedarf bzw. ob sie eine solche Zulassung durch die Kammer freiwillig erreichen kann. 1. Die Anerkennung von Berufsausübungsgesellschaften nach WPO und StBerG Nach dem System der BRAO bedürfen anwaltliche Berufsausübungsgesellschaften, die in der Rechtsform einer Personengesellschaft betrieben werden, keiner Zulassung. Weder die Sozietät als Gesellschaft bürgerlichen Rechts noch die Partnerschaft können nach geltender Rechtslage zur Anwaltschaft zugelassen und selbst Mitglied einer Rechtsanwaltskammer werden. Die Rechtslage unterscheidet sich hinsichtlich der PartG insoweit von derjenigen bei Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Wirtschaftsprüfer können gemäß § 27 Abs. 1 WPO eine Partnerschaft als Wirtschaftsprüfungsgesellschaft anerkennen lassen, wenn sie die Voraussetzungen des § 28 WPO erfüllt52. Zusätzlich wird in § 43a Abs. 2 Satz 1 WPO die einfache, d. h. nicht in einem Zulassungsverfahren anerkannte Partnerschaft ausdrücklich als Rechtsform für die gemeinsame Berufsausübung genannt53. Ähnlich ist die Regelung im StBerG: Nach § 49 Abs. 1 StBerG können auch Partnerschaften als Steuerberatungsgesellschaften anerkannt werden, wenn sie die Voraussetzungen für die Anerkennung nach §§ 49 ff. StBerG erfüllen54. Seit der zum 1.7.2000 erfolgten Rechtsänderung ist außerdem auch die einfache Partnerschaft über § 3 Nr. 2 StBerG zur geschäftsmäßigen Steuerberatung befugt55. § 56 Abs. 2 StBerG stellt ergänzend klar, dass Steuerberater sich zur gemeinschaftlichen Berufs-
__________ 52 Burret, WPK-Mitt. 1994, 201, 206 f.; Naumann in WP-Handbuch 2006, 13. Aufl. 2006, A Rz. 129, 217 ff.; vgl. auch Henssler, PartGG, 3. Aufl. 2008, § 4 PartGG Rz. 41. 53 Ausführlich Henssler, PartGG (Fn. 52), § 1 PartGG Rz. 293 ff.; Naumann in WPHandbuch 2006 (Fn. 52), A Rz. 217, 220. 54 Vgl. Henssler, PartGG (Fn. 52), § 1 PartGG Rz. 311. 55 Vgl. Henssler, PartGG (Fn. 52), § 1 PartGG Rz. 312 f.; Naumann in WP-Handbuch 2006 (Fn. 52), A Rz. 221.
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ausübung in einer Partnerschaft organisieren dürfen, die nicht als Steuerberatungsgesellschaft anerkannt ist. Voraussetzung ist nach § 51a Abs. 1 i. V. m. § 51 BOStB allerdings, dass ausschließlich natürliche Personen i. S. v. § 3 Nr. 1 StBerG Partner sind56. 2. Die Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft nach der BRAO Der BRAO ist ein vergleichbares Wahlrecht dagegen für Personengesellschaften fremd. Weder die Sozietät noch die PartG sind zulassungsfähig oder zulassungspflichtig. Nur für die GmbH sieht sie ein Zulassungsrecht, aber auch eine Zulassungspflicht in §§ 59c und 59d BRAO vor57. Dieses Zulassungsrecht wird in Rechtsprechung und Schrifttum auf die Rechtsanwalts-AG übertragen58. Die berufsrechtliche Zulassung der Rechtsanwalts-AG kann mangels planwidriger Regelungslücke zwar nicht über eine analoge Anwendung der §§ 59c ff. BRAO erzwungen werden. Genügt die AG jedoch in einer ihrer Rechtsform entsprechenden Weise den wesentlichen Voraussetzungen, die an die Zulassung einer Kapitalgesellschaft als Rechtsanwaltsgesellschaft zu stellen sind und die in § 59c ff. BRAO ihren Niederschlag gefunden haben, so folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG ein Anspruch auf berufsrechtliche Zulassung in einem § 59g BRAO entsprechenden Verfahren59. Die fehlende gesetzliche Regelung eines Zulassungsverfahrens stellt kein Hindernis für die berufsrechtliche Zulassung der Anwalts-AG dar60. Für die AG ist die berufsrechtliche Zulassung von Bedeutung, weil sie nur auf diese Weise die eigene Postulationsfähigkeit in Anlehnung an die in § 59l BRAO geregelte Postulationsfähigkeit erlangen kann61. Außerdem soll sie nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nur bei Zulassung befugt sein, geschäftsmäßige Hilfeleistung in Steuersachen zu erbringen62. Auf die KG als Personengesellschaft lassen sich diese spezifisch auf Kapitalgesellschaften zugeschnittenen Regelungen nicht übertragen63. Für das Berufsrecht der Rechtsanwälte ist die Vorgabe für Personengesellschaften eindeutig. Da das Zulassungsverfahren anders als bei Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern keine Vorteile bzw. zusätzliche Rechte vermittelt, besteht auch gar kein Anlass, contra legem ein Recht auf Zulassung zu konstruieren. Geht man davon aus, dass die Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG schon nach geltendem Recht aufgrund der Nichtigkeit der entgegenstehenden Bestimmungen gegründet wer-
__________ 56 Späth in Mittelsteiner/Gilgan/Späth, BOStB, 2002, § 51 StBerG Rz. 3, § 51a StBerG Rz. 3, 12. 57 Vgl. Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl. 2009, § 59c BRAO Rz. 1 ff., insbes. Rz. 9. 58 BGHZ 161, 376, 384 ff.; Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 57), Vor §§ 59c ff. BRAO Rz. 28. 59 BGHZ 161, 376, 384 ff.; zustimmend Kempter/Kopp, BRAK-Mitt. 2005, 174; Henssler, AnwBl. 2005, 374; vgl. auch BFH/NV 2004, 224; BGH, NJW 2006, 1132. 60 So aber Kempter/Kopp, NJW 2004, 3605, 3607; Römermann, ZAP Fach 23, 425, 428 f. 61 Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 57), Vor §§ 59c ff. BRAO Rz. 26. 62 BFH, DStRE 2005, 486. 63 A. A. Römermann, AnwBl. 2008, 609, 612.
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den kann, dann ist sie ebenso wie die Partnerschaft (vgl. § 7 Abs. 4 PartGG), die vom Gesetzgeber als Schwesterfigur zu OHG und KG konstruiert wurde, als postulationsfähig anzusehen, soweit sie durch zugelassene Rechtsanwälte handelt64. 3. Ergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass – sofern man die berufsrechtliche Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG bereits nach geltendem Recht bejaht – eine Zulassung dieser Rechtform als Rechtsanwaltsgesellschaft durch die Rechtsanwaltskammer weder erforderlich noch möglich ist.
VI. Zulässigkeit einer Rechtsanwalts-AG & Co. KG Sieht man die Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG – erneut entgegen der hier vertretenen Auffassung – schon nach geltendem Recht als zulässig an, so kann als Komplementärin konsequenterweise auch eine Rechtsanwalts-AG gewählt werden. Strengere Anforderungen gelten insoweit nicht. Erwägenswert erscheint im Gegenteil, ob nicht über die Wahl einer Rechtsanwalts-AG einzelne Hindernisse, die der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehen, sogar ausgeräumt werden können. Das gilt zwar nicht für die allgemeinen aus der Freiberuflichkeit herzuleitenden handelsrechtlichen Bedenken. Jedoch könnten sich die berufsrechtlichen Beschränkungen, die sich aus der unmittelbar nur die GmbH betreffenden Regelung des § 59c Abs. 2 BRAO ergeben, bei Wahl einer AG vermeiden lassen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die §§ 59c ff. BRAO mangels planwidriger Regelungslücke grundsätzlich nicht im Wege der Analogie auf die Rechtsanwalts-AG übertragbar sind. Jedoch werden diese Vorschriften von der Rechtsprechung als Referenzbestimmungen herangezogen, soweit es gilt, berufsrechtliche Kriterien für die Zulassung einer Rechtsanwalts-AG zu entwickeln. Der Bundesgerichtshof65 knüpft eine Zulassung „in Anlehnung an die §§ 59c ff. BRAO“ an folgende Voraussetzungen: – die Eigenverantwortlichkeit und Weisungsfreiheit der in der AG tätigen Rechtsanwälte muss gewährleistet sein, – die Mehrheit der Aktien und Stimmrechte muss Rechtsanwälten zustehen, – hinsichtlich der Aktionäre müssen die auch für die Gesellschafter einer GmbH geltenden Bestimmungen in § 59e BRAO, insbesondere die Beschränkung des Kreises der Aktionäre auf in der Gesellschaft tätige Rechtsanwälte und Angehörige der sozietätsfähigen Berufe (vgl. § 59e Abs. 1 und 2 BRAO i. V. m. § 59a Abs. 1 und 3 BRAO) Anwendung finden,
__________ 64 Zur PartG vgl. Henssler, PartGG (Fn. 52), § 7 PartGG Rz. 47 ff. 65 BGHZ 161, 376, 386 f.
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– das Verbot der Beteiligung einer Rechtsanwalts-AG an anderen Berufsausübungsgesellschaften (vgl. § 59c Abs. 2 BRAO) muss beachtet werden, – die finanzielle Solvenz der Gesellschaft im Sinne von § 7 Nr. 9 BRAO, § 59d Nr. 2 BRAO muss sichergestellt sein und – der Aufsichtsrat der AG muss mehrheitlich durch Rechtsanwälte besetzt sein66. Auch das hier interessierende Beteiligungsverbot des § 59c Abs. 2 BRAO wird vom Bundesgerichtshof damit auf die Rechtsanwalts-AG übertragen, so dass sich auf der Grundlage der Rechtsprechung keine Erleichterungen ergeben. Gegen die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Übertragung des Verbots der Beteiligung an anderen beruflichen Zusammenschlüssen (§ 59c Abs. 2 BRAO) auf die Anwalts-AG sprechen nach der vom Verfasser dieses Beitrags vertretenen Auffassung allerdings verfassungsrechtliche Bedenken67. Zu beachten ist insoweit, dass die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung der §§ 59c ff. BRAO gerade nicht erfüllt sind. Auf die Rechtsanwalts-AG übertragen lassen sich schon aufgrund des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots nur solche Einschränkungen, die sich eindeutig allgemeinen berufsrechtlichen Vorgaben entnehmen lassen, etwa der Unabhängigkeit der Berufsträger. Die verwandten Berufe der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer unterliegen jedoch keinen vergleichbaren Beschränkungen (vgl. die bereits angesprochenen Vorschriften § 50a Abs. 1 Nr. 1 StBerG, § 28 Abs. 5 WPO sowie die Neuerungen in § 50 Abs. 1 StBerG und § 28 Abs. 1 WPO). In Anbetracht der Tatsache, dass die Tätigkeit des Steuerberaters nur einen Ausschnitt aus der anwaltlichen Berufsausübung bildet, ist kein Sachgrund für strengere Anforderungen an eine Rechtsanwalts-AG ersichtlich. Ebenfalls für anwendbar erklärt werden vom Bundesgerichtshof jene Bestimmungen, welche die zweite berufsrechtliche Hürde für die RechtsanwaltsGmbH & Co. KG bilden, nämlich die § 59e Abs. 1 und 2 BRAO i. V. m. § 59a Abs. 1 und 2 BRAO68. Auch insoweit ergeben sich nach der Rechtsprechung somit keine Erleichterungen. Da § 59a Abs. 1 BRAO einen allgemeinen Rechtsgedanken des anwaltlichen Berufsrechts enthält, der, wie der Verweisung in § 59e BRAO zu entnehmen ist, für alle Anwaltsgesellschaften gleich welcher Rechtsform gilt, und der auch auf die Anwaltspartnerschaft angewendet wird, ist – ungeachtet rechtspolitischer Zweifel an der Berechtigung dieser Vorschriften – davon auszugehen, dass de lege lata diese Beschränkung für die Rechtsanwalts-AG ebenfalls greift. Für den Fall einer Zulässigkeit der Rechtsanwalts-AG & Co. KG wäre der aktienrechtlich vorgeschriebene Aufsichtsrat (vgl. §§ 90, 95 ff. AktG) der Komplementär-AG mit aktiv in der AG tätigen Angehörigen der sozietätsfähigen
__________ 66 Hierzu Kilian, JR 2006, 206, 207. 67 Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 57), vor § 59c BRAO Rz. 31. 68 BGH, NJW 2005, 1568, 1571; vgl. auch Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 57), Vor §§ 59c ff. BRAO Rz. 22 ff. und 41.
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Berufe zu besetzen69. Dies folgt aus der aufgrund des Einsichtsrechts (§ 111 AktG) denkbaren Kollision mit dem anwaltlichen Berufsgeheimnis70. Der Bundesgerichtshof verlangt darüber hinausgehend eine mehrheitliche Besetzung mit Rechtsanwälten, wenn dem Aufsichtsrat per Satzung Geschäftsführungskompetenzen übertragen wurden71. Die Bindung einer Mandatsübernahme an die Zustimmung des Aufsichtsrats verletzt dagegen nicht die anwaltliche Unabhängigkeit. Diese verlangt lediglich die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts bei der Bearbeitung des Mandats, gibt ihm dagegen nicht zu Lasten der Mitgesellschafter ein Recht auf die Bearbeitung eines bestimmten, beispielsweise risikoträchtigen oder unwirtschaftlichen Mandats72.
VII. Praktische Überlegungen 1. Gerichtliche Überprüfung einer Kammerverfügung Für die Praxis stellt sich damit die Frage, wie denn nun die notwendige Klärung der Zulässigkeit der Berufsausübung in einer Rechtsanwalts GmbH & Co KG herbeigeführt werden kann. Nach der hier vertretenen Ansicht bedarf die Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG keiner berufsrechtlichen Zulassung; sie ist außerdem als Personengesellschaft de lege lata gar nicht zulassungsfähig. Bei einem schlichten Antrag auf Zulassung besteht damit die Gefahr, dass dieser Antrag von der mit der Sache befassten Rechtsanwaltskammer mit der Begründung abgelehnt wird, die KG sei jedenfalls nicht zulassungsfähig, so dass die allgemeine Frage der Zulässigkeit der Berufsausübung in einer solchen Rechtsform gar nicht geprüft wird. Auch die Gerichte könnten sich anschließend auf diesen Standpunkt stellen, so dass die eigentlich interessante Frage keiner Klärung zugeführt wird. Erwägenswert erscheint es, mit der Rechtsanwaltskammer eine Abstimmung herbeizuführen, wie die Angelegenheit einer rechtlichen Überprüfung zugeführt werden kann. Dieses Vorgehen empfiehlt sich schon deshalb, weil es der Kammer nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts ohnehin freisteht, ob sie mit Mitteln des Wettbewerbs-
__________ 69 Eingehend Henssler in Henssler/Streck, Handbuch des Sozietätsrechts, 2001, F Rz. 21 ff.; Hommelhoff/Schwab, WiB 1995, 115, 117; a. A. Kraus/Senft in Kraus/Kunz u. a., Sozietätsrecht, 2. Aufl. 2006, § 16 Rz. 39; Kilian, NZG 2001, 150, 152; ders., JR 2006, 206, 207; Muthers, NZG 2001, 932; Römermann in Hartung/ Römermann, BORA, 4. Aufl. 2008, vor § 59a BRAO Rz. 111; ders., Entwicklungen und Tendenzen bei Anwaltsgesellschaften, 1995, S. 185 ff.; Schumacher, AnwBl. 2000, 409, 411. 70 So auch Stabreit, NZG 1998, 453; Hommelhoff/Schwab, WiB 1995, 115; Henssler, ZIP 1997, 1481; Heublein, AnwBl. 1999, 306; Schumacher, AnwBl. 1998, 366, der allerdings nicht die aktive Mitarbeit verlangt. 71 BGHZ 161, 376, 387; so auch Schumacher, AnwBl. 1998, 366; kritisch Römermann, BB 2005, 1135, 1136; Pluskat, AnwBl. 2005, 609, 611. 72 Vgl. auch Kraus/Senft in Kraus/Kunz (Fn. 69), § 16 Rz. 40, Henssler in Henssler/ Streck (Fn. 69), F Rz. 25, Muthers, NZG 2001, 930, 932; Pluskat, AnwBl. 2003, 130, 136.
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rechts oder des Berufsrechts bei Gesetzesverstößen vorgeht73. So hatte die Rechtsanwaltskammer etwa in dem Fall BGH, NJW 2002, 2039 den beklagten Rechtsanwalt auf Unterlassung in Anspruch genommen, und beantragt, ihm unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verbieten, „seinen Beruf als in München zugelassener Rechtsanwalt im Rahmen einer beim Registergericht in Köln eingetragenen und mit „xxx“ firmierenden Rechtsanwaltsgesellschaft zu betreiben, wenn und solange nicht am Kanzleisitz in München sowie an jedem anderen auf den vom Beklagten verwendeten Briefkopf angegebenen Kanzleisitz mindestens ein Anwalt seine berufliche Tätigkeit ausübt, der alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der „xxx“ ist …“. Entsprechend könnte damit die für den jeweiligen Antragsteller zuständige Rechtsanwaltskammer auch jeden einzelnen der in einer „Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG“ tätigen Rechtsanwälte auf Unterlassung der Berufsausübung in einer entsprechenden Gesellschaft in Anspruch nehmen. Berufsrechtlich stehen der Kammer die Mittel der Belehrung und Rüge zur Verfügung. Gegen den keinen Schuldvorwurf enthaltenden belehrenden Hinweis einer Rechtsanwaltskammer ist gemäß §§ 112a, 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO i. V. m. § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO Anfechtungsklage vor dem Anwaltsgerichtshof zulässig74. Gegen das daraufhin ergehende Urteil des Anwaltsgerichtshof ist unter den Voraussetzungen des § 112e BRAO i. V. m. §§ 124 ff. VwGO die Berufung zum Bundesgerichtshof gegeben. Gegen eine missbilligende Rüge der Kammer gemäß §§ 73 Abs. 2 Nr. 4, 74 BRAO ist hingegen nach § 74 Abs. 5 BRAO lediglich der Einspruch statthaft. Über den Einspruch entscheidet der Kammervorstand. Wird der Einspruch gegen den Rügebescheid zurückgewiesen, kann der betroffene Rechtsanwalt gemäß § 74a Abs. 1 BRAO die Entscheidung des AnwG beantragen. Der daraufhin ergehende Beschluss des AnwG ist nach § 74a Abs. 3 Satz 4 BRAO unanfechtbar75. Mithin kann bei einer Rüge niemals die Entscheidung des Bundesgerichtshofs herbeigeführt werden. Eine Anwaltskanzlei, welche die Rechtsform der GmbH & Co KG erwägt, könnte etwa einen belehrenden Hinweis der Kammer initiieren, um die notwendige gerichtliche Überprüfung herbeizuführen. So könnte etwa der Kammer mitgeteilt werden, dass man beabsichtige, künftig in einer GmbH & Co. KG den Anwaltsberuf auszuüben. Daraufhin könnte die Kammer einen belehrenden Hinweis erteilen, dass die Berufsausübung in dieser Rechtsform unzulässig sei, gegen den sodann Klage erhoben werden könnte.
__________ 73 BGH, NJW 2002, 2039; BVerfG, NJW 2004, 3765. 74 Kleine-Cosack, BRAO, 6. Aufl. 2009, Anhang § 112c, § 42 VwGO Rz. 4, Anhang: Leistungsklage Rz. 3; vgl. auch (zu § 223 BRAO a. F.) BVerfGE 50, 16, 24 ff.; BGH, NJW 1984, 1042; BGH, BRAK-Mitt. 1985, 170; BGH, NJW 2002, 608; BGH, NJW 2005, 2692; BGH, NJW 2007, 3349. 75 Ausnahmsweise kommt eine Verfassungsbeschwerde in Betracht, vgl. BVerfGE 76, 171, 205.
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Konsequenzen verfassungswidriger Berufsrechtsnormen
2. Gerichtliche Überprüfung einer ablehnenden Entscheidung des Registergerichts Ein denkbarer Weg wäre es auch, eine Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG beim zuständigen Registergericht zur Eintragung anzumelden. Die Erfahrung zeigt, dass die Registergerichte bei der Prüfung berufsrechtlicher Vorschriften tendenziell großzügig sind. Ein Registergericht könnte somit eine entsprechende Eintragung schlicht vornehmen. Im Falle der Ablehnung durch das Amtsgericht müsste über eine Beschwerde zum LG und eine eventuelle weitere Beschwerde zum OLG die rechtliche Klärung der Zulässigkeit erreicht werden76. Dieses Verfahren hat den Vorteil der Kostengünstigkeit und wohl auch Schnelligkeit für sich. Allerdings besteht im Falle einer schlichten Eintragung die Gefahr, dass Rechtsanwaltskammern wegen eines von ihnen angenommenen Berufsrechtsverstoßes gleichwohl gegen die Gesellschaft und die in ihr tätigen Anwälte vorgehen. Rechtssicherheit lässt sich auf diese Weise nicht erreichen. In der Praxis kann diese Vorgehensweise zu der misslichen Situation führen, dass die Gerichte das Auftreten einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG mangels Postulationsfähigkeit zurückweisen. Verwiesen sei außerdem auf den Fall Bundesfinanzhof DStRE 2005, 486, in dem der Bundesfinanzhof die Befugnis einer eingetragenen, aber nicht zugelassenen Rechtsanwalts-AG zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen mangels Zulassung abgelehnt hat. Es ist zu erwarten, dass auch bei der GmbH & Co. KG – ungeachtet der hier vertretenen Rechtsauffassung – der Streit über das Zulassungserfordernis vor den Gerichten ausgetragen werden muss.
VIII. Zusammenfassung der Ergebnisse Die zentralen Erkenntnisse der vorstehenden Überlegungen lassen sich in insgesamt sechs Thesen zusammenfassen: 1. Nach der aktuellen gesetzlichen Regelung scheitert die Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG an handelsrechtlichen und an berufsrechtlichen Vorschriften. Die KG steht als Handelsgesellschaft für die freiberufliche Berufsausübung nicht zur Verfügung. Aus berufsrechtlicher Sicht sind die durch §§ 59c Abs. 2, 59a Abs. 1 BRAO gezogenen Grenzen zu beachten. 2. Die handelsrechtlichen und berufsrechtlichen Vorschriften, die der Gründung einer Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG de lege lata entgegenstehen, halten allerdings einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Aufgrund der abweichenden Regelung für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer verletzen diese Normen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 GG. 3. Nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen spricht vieles dafür, dass im Falle einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung nur die Unvereinbarkeit der Vorschriften festgestellt wird, die einer Rechts-
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76 Vgl. etwa die Verfahren OLG Köln, NJW-RR 1998, 271 und BayObLG, NJW 1995, 199.
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anwalts-GmbH & Co. KG entgegenstehen. Angesichts des offensichtlichen Bedarfs nach einer in sich stimmigen gesetzlichen Neuregelung ist zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht – sofern es sich der hier vertretenen These von der Verfassungswidrigkeit der Verbotsnormen anschließt – das geltende Recht für weiterhin anwendbar erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist für die Herstellung eines verfassungskonformen Rechtszustands setzen wird. 4. Den Berufskammern steht kein eigenes Verwerfungs- bzw. Nichtanwendungsrecht hinsichtlich der als verfassungswidrig erkannten Normen zu. 5. Sofern man die berufsrechtliche Zulässigkeit der Rechtsanwalts-GmbH & Co. KG entgegen der hier vertretenen Auffassung bereits nach geltendem Recht bejaht, ist gleichwohl eine Zulassung dieser Rechtform als Rechtsanwaltsgesellschaft durch die Rechtsanwaltskammer weder erforderlich noch möglich. 6. Um die für die Praxis wünschenswerte Klärung der Rechtslage herbeizuführen, ist von einer (um)gründungswilligen Kanzlei ein belehrender Hinweis der Rechtsanwaltskammer anzustreben. Gegen den belehrenden Hinweis der Rechtsanwaltskammer, mit dem die Berufsausübung in dieser Rechtsform nach geltendem Recht für unzulässig erklärt wird, könnte Klage erhoben werden.
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Die Abschlussgebühr in der AGB-rechtlichen Kontrolle Inhaltsübersicht I. Allgemeine Vorüberlegungen 1. Anlass 2. Privatautonomie und „Consideration“ 3. Der Begriff der Abschlussgebühr II. Zur Abgrenzung des Bausparens vom Kreditgeschäft 1. Geschichtliche Wurzeln 2. Das Kollektiv 3. Zinsbindung und Kollektiv 4. Der Solidargedanke in der Rechtsordnung 5. Parallelen in anderen Bereichen 6. Abschlussgebühr in der Rechtsprechung 7. Ergebnis
III. Keine Kontrollfähigkeit der Gebührenregelung 1. Keine Preisnebenabrede 2. Teilentgelt im Rahmen einer bei Abschluss fälligen Gesamtvergütung 3. Keine Eigeninteressen 4. Rechtspflicht zur Angabe der Abschlussgebühr 5. Keine Risikoverlagerung 6. Parallele: Versicherung 7. Genehmigung durch die BaFin IV. Wirksamkeit der Klausel bei Inhaltskontrolle 1. Keine Vertragszweckgefährdung 2. Parallele: Versicherung V. Transparenz VI. Zusammenfassung
I. Allgemeine Vorüberlegungen 1. Anlass Graf von Westphalen hat sich in seinem enormen wissenschaftlichen und forensischen Schaffen zentral mit Fragen des AGB-Rechts und seiner Anwendung in verschiedenen Wirtschaftszweigen beschäftigt und hier die Landschaft nachhaltig verändert. Wie sollte man einen solch potenten und genialen Pionier anders würdigen als mit einem Beitrag zu einer aktuellen AGB-rechtlichen Streitfrage: der Erhebung der Abschlussgebühr bei Abschluss eines Bausparvertrages. Derzeit laufen mehrere Abmahnverfahren der Verbraucherzentrale NRW gegen Bausparkassen zu dieser Frage; es liegen auch erste Gerichtsurteile vor1. Anlass der Streitigkeiten war eigentümlicherweise ein Vortrag, den der damalige Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Gerd Nobbe am 26.11.2007 bei der WM-Tagung Bankrecht gehalten und anschließend in der Zeitschrift WM veröffentlicht hat2. In diesem Vortrag beschäftigt sich
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1 So etwa LG Heilbronn, WM 2009, 603, bestätigt durch OLG Stuttgart, Urteil v. 3.12.2009 – 2 U 30/09, sowie LG Hamburg, WM 2009, 1315 und LG Dortmund, Urteil v. 15.5.2009 – 8 O 319/08, BeckRS 2009 18346, die die Klagen der Verbraucherschutzzentrale Nordrhein-Westfalen in dieser Frage als unbegründet abwiesen. 2 WM 2008, 185 ff.
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Nobbe mit der Zulässigkeit von Bankentgelten und kommt im Rahmen dieses Vortrags bei der Darstellung verschiedener Entgeltklauseln in wenigen Zeilen auch auf Bausparverträge zu sprechen3. Wegen der späteren Bedeutung dieser kurzen Passage sei diese ausnahmsweise vollständig zitiert: „Was in der Praxis existiert sind so genannte „Abschlussgebühren“ von meistens 1 % der Summe bei Bausparverträgen. Ein solches Abschlussentgelt ist AGB-rechtlich unzulässig. Der Vertragsabschluss als solcher und die Eröffnung des Bausparkontos sind keine Dienstleistungen für den Kunden. Das wird deutlich, wenn die so genannte „Abschlussgebühr“ – wie üblich – ganz oder zum Teil als Provision an die Bausparkassenvertreter fließt. Es handelt sich also um Vertriebskosten.“
2. Privatautonomie und „Consideration“ Bekanntermaßen geht das deutsche Recht vom Grundsatz der Privatautonomie aus, der auch verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 1 im Grundgesetz seine Verankerung gefunden hat. Aus der Privatautonomie ist vertragsrechtlich das Prinzip der Gestaltungsfreiheit abgeleitet, das es ermöglicht, schuldrechtliche Verträge frei zu gestalten. Insofern hat das deutsche Recht überhaupt kein Problem damit, dass jemand eine Zahlungspflicht einführt, der keine Gegenleistung gegenübersteht. Gerade dies gilt als einer der entscheidenden Unterschiede des deutschen zum anglo-amerikanischen Recht. Wo das deutsche Rechtsverständnis die erklärte Willensübereinstimmung der Vertragsparteien zur hinreichenden Grundlage der Bindungswirkungen von Vereinbarungen macht, sieht das Common Law zusätzlich vor, dass auch eine jeweilige Leistung der Vertragsparteien im Vertrag vorgesehen sein muss, um die andere Partei zu binden. Diese so genannte Consideration ist immer noch elementarer Bestandteil des anglo-amerikanischen Vertragsrechts, was sich z. B. daran bemerkbar macht, dass nach dem Verständnis des Common Law ein Anspruch eines Dritten aus einem Vertrag zu seinen Gunsten undenkbar ist, weil der Dritte keine Consideration geleistet hat4. Nach § 307 Abs. 3 BGB sind nur solche allgemeinen Geschäftsbedingungen kontrollfähig, die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen enthalten. Durch § 307 Abs. 3 BGB soll verhindert werden, dass künftig aufgrund der §§ 307 ff. BGB eine „Preiskontrolle“ stattfindet5. Preisvereinbarungen sind grundsätzlich nicht kontrollfähig; dahinter verbirgt sich der alte römisch-rechtliche Grundsatz „Iudex non calculat“. Auch wenn die Rechtsprechung über die Qualifizierung von Preisabreden als Preisnebenabreden und unter Einbeziehung des Transparenzgebotes teilweise doch eine Kontrolle von Preisbestimmungen vornimmt, handelt es sich um einen Ausnahmefall auch im AGB-rechtlichen Sinne. Vom Grundsatz her ist eine AGBKontrolle von Preisbestimmungen weder vom Gesetzgeber gewollt noch wünschenswert. Denn ansonsten würde Rechtsprechung in den Bereich des Wett-
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3 WM 2008, 185, 193. 4 S. dazu Hay, Einführung in das Amerikanische Recht, 4. Aufl. 1995, S. 77 f.; Reimann, Einführung in das US-amerikanische Privatrecht, 2. Aufl. 2004, S. 28 ff. 5 So ausdrücklich BT-Drucks. 7/3919, S. 22.
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bewerbs und des Marktes eingreifen; grundsätzlich fehlen in der Rechtsprechung auch Maßstäbe zur Bestimmung eines „gerechten Preises“6. Kontrollfrei sollen solche vertraglichen Regelungen bleiben, die an der marktorientierten, privatautonomen Entscheidung des Vertragspartners teilnehmen7. Insofern sind Hauptabreden, über die sich die Vertragsparteien stets Gedanken machen müssen und deren Inhalt über den Markt festgelegt wird, regelmäßig der Inhaltskontrolle entzogen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach AGB, die den Leistungsinhalt festlegen oder das für die Leistung zu zahlende Entgelt bestimmen, grundsätzlich gemäß § 307 Abs. 3 BGB von der Anwendung der §§ 307–309 BGB ausgenommen werden müssen und sollen8. Insofern geht auch die Rechtsprechung von der Produktund Preisgestaltungsfreiheit von Unternehmen, zur Wahrung der marktwirtschaftlichen Prinzipien und im Hinblick auf den fehlenden rechtlichen Kontrollmaßstab, aus9. Die Rechtsordnung geht insofern im Regelfall von der Kontrollfreiheit der Preisgestaltung aus und greift schon aus verfassungsrechtlichen Gründen10 nicht in die synallagmatische Vertragsbeziehung im Hinblick auf Leistungen und Preise ein. Die von der neueren Rechtsprechung entwickelten Ansätze einer AGB-rechtlich motivierten Preiskontrolle sind demgegenüber eine Ausnahmeerscheinung, die entsprechend restriktiv und mit besonderer Vorsicht zu handhaben ist. 3. Der Begriff der Abschlussgebühr Der Begriff der Abschlussgebühr ist mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg gängig und von der Rechtsprechung auch als solche akzeptiert. Abschlussgebühren waren schon in der Gründerzeit der deutschen Bausparkassen üblich11. So findet er sich schon im frühen Urteil des Bundesfinanzhofs wieder12. Auch in der bausparkassenrechtlichen Literatur findet sich der Begriff früh13. Die ältere Literatur sah Abschlussgebühren als Gegenleistung für den Spar- und Darlehensvertrag an14. So sah man steuerlich die Abschlussgebühr als Kreditaufwand des Bausparers, der die Effektivverzinsung des Kredites
__________ 6 BAG, BAGE 115, 372 ff. = NZA 2006, 324 ff.; dazu auch Preis, in: Festschrift für Richardi, 2007, S. 339, 345; Tschöpe, DB 2002, 1830 ff. 7 Coester-Waltjen in Staudinger, 2006, § 307 BGB Rz. 324; Stoffels, JZ 2001, 843, 848. 8 BGHZ 116, 117; BGHZ 124, 254, 256 = NJW 1992, 688 ff.; Niebling, WM 1992, 854 ff. 9 Bunte in Schimansky/Bunte/Lwowsky, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 5 Rz. 52. 10 Offen gelassen sei die Frage, ob eine richterliche Unwirksamerklärung von Abschlussgebührenklauseln nicht wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verfassungsrechtlich problematisch wäre. 11 Lehmann, Die Bausparkassen, 2. Aufl. 1963, S. 17. 12 BFH, WM 1957, 887 ff.; BFH, NJW 1959, 1799 ff.; BFH, BB 1959, 1237 ff. 13 S. etwa Lehmann/Schäfer, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, Bonn 1973, S. 46. 14 List, BB 1988, 1003 ff.
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erhöhe und insofern die Bedeutung eines Aufgeldes für das spätere Bauspardarlehen habe15.
II. Zur Abgrenzung des Bausparens vom Kreditgeschäft Die Verbraucherzentrale wendet sich mit ihren Klagen gegen die Erhebung einer Abschlussgebühr in Höhe von 1 % der Bausparsumme. Unter der Abschlussgebühr versteht die Verbraucherzentrale eine Gebühr, die den Aufwand abdecke, der der Bausparkasse im Zusammenhang mit dem Vertragsschluss entstehe. Der Vertragsabschluss und die Eröffnung eines entsprechenden Bausparkontos erfolge im ureigenen Interesse der Bausparkasse, nicht jedoch im Auftrag oder im Interesse des Kunden. Zur rechtlichen Rechtfertigung wird weiter auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13.2.2001 – XI ZR 197/00 sowie auf den eingangs bereits erwähnten Aufsatz von Nobbe, WM 2008, 185 ff. verwiesen. Die Abschlussgebühr sei vornehmlich dafür bestimmt, die Provisionsaufwendungen, die die Bausparkasse gegenüber dem vermittelnden Handelsvertreter im Außendienst aufzuwenden habe, zu kompensieren. Insofern handele es sich um Vertriebskosten, welche die Bausparkasse in ihrem eigenen Interesse aufwende, um neue Kunden zu gewinnen. Der Argumentation der Verbraucherzentrale liegt ebenso wie der von Nobbe ein Missverständnis zugrunde, was die Gleichstellung von Bausparkassen mit dem allgemeinen System der Kreditvergabe angeht. 1. Geschichtliche Wurzeln Dazu muss man zunächst einmal den Blick auf die geschichtlichen Wurzeln des Bausparens legen. Das Bausparwesen beruht schon von seiner Wurzel her auf gemeinnützigen Spargesellschaften auf Gegenseitigkeit. Dies zeigt schon die erste Gründung einer solchen Bausparkasse in Deutschland im Jahre 1885 durch den Pastor von Bodelschwingh in Bielefeld als „Bausparkasse für jedermann“. Nur dieser genossenschaftlichen Konstruktion von Bausparkassen war es möglich, große Geldreserven wohnungswirtschaftlich zu binden und den nach dem Zweiten Weltkrieg notwendigen Wiederaufbau zu forcieren. Insofern wird auch als besonderes Element des Bausparens das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe angesehen, der den Staat auch veranlasst, Bausparen staatlicherseits zu fördern16. 2. Das Kollektiv Wichtig zu verstehen ist auch die Zweiteilung des Bausparkonzepts, in eine Spar- und eine Darlehensphase. In der hier relevanten ersten Phase, der Spar-
__________ 15 BFH, NJW 1983, 1752 ff. = BStBl. II 1983, 355 ff. = BB 1983, 1137 ff. 16 Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 26.
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phase, stellen die Bausparer der Bausparkasse gegen geringe Verzinsung ihr angespartes Geld als Einlage zu Verfügung. Diese Einlagen sind zweckgebundenes Vermögen der Bausparkasse und werden deshalb auch als BausparKollektiv bezeichnet. Dieses Geld kommt wieder anderen Sparern zugute, denen zu günstigen Zinskonditionen Gelddarlehen zu wohnungswirtschaftlichen Zwecken gewährt werden kann17. Die Beziehungen zwischen den Sparern untereinander und der Bausparkasse sind viel dichter und komplexer als die bei einem einfachen bilateralen Kreditvertrag. Begriffe wie Spareinlage und Sparkollektiv machen deutlich, dass hier gesellschaftsrechtsähnliche Bindungen bestehen, die auch dem Grundgedanken der Hilfe zur Selbsthilfe und den genossenschaftlichen Wurzeln des Bausparwesens entsprechen. 3. Zinsbindung und Kollektiv Den Besonderheiten des Bausparkassenwesens entsprechen auch die Bindungen, was die Konditionen angeht. Typischerweise sind während der gesamten Vertragslaufzeit die Konditionen fest und verbindlich vereinbart. Die Darlehenszinsen sind unabhängig von den Zinsschwankungen des Kapitalmarktes. Der Geldzufluss sollte in einem ausgewogenen Verhältnis zum Geldabfluss stehen, damit die in der Zuteilungsmasse der Bausparergemeinschaft verwalteten Mittel gleichmäßig und möglichst kurzfristig an die zuteilungsberechtigten Bausparer zur Verfügung gestellt werden können (§ 6 BSpkG). Oberstes Ziel der Kapitalversorgung einer Bausparkasse ist es, eine gemeinsame Kasse aufrechtzuerhalten, aus der die Bausparer in einer bestimmten Reihenfolge die von vornherein festgelegte, aus dem eingezahlten Bausparguthaben und dem Bauspardarlehen bestehende Bausparsumme erhalten. 4. Der Solidargedanke in der Rechtsordnung Dementsprechend sind die Bausparkassen auch nicht nur den normalen Regelungen des Kreditwesengesetzes unterworfen, sondern unterliegen einer Fülle zusätzlicher gesetzlicher Vorgaben, die der besonderen genossenschaftsähnlichen Bindung aller Beteiligten entspricht. Zu erwähnen sei hier nur das Bausparkassengesetz sowie die Bausparkassen-Verordnung. Die Besonderheiten hat das damalige Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen mit Schreiben vom 16.1.1976 noch einmal herausgehoben: „So werden z. B. in der Sparzeit im Wesentlichen nur von einer Seite – vom Sparer – Zahlungen erfolgen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass auf die Bausparkasse, die ihr zustehenden Gebühren, wie etwa die Abschlussgebühr, (…) dem Bausparkonto belastet. Bei Zuteilung des Bausparvertrages wird dieses Verhältnis umgekehrt, und der Bausparer wird zum Schuldner des Instituts“18.
Insofern handelt es sich bei den Bausparkassen um einen Zweig der Kreditwirtschaft, der im Hinblick auf das Bausparkollektiv in besonders hohem
__________ 17 Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 30. 18 Zitiert nach Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 43.
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Maße spezialisiert ist und dem eine – den sonstigen Bankgeschäften unbekannte – Wartezeit – und Refinanzierungsproblematik eigentümlich ist19. Dementsprechend dürfen Bausparkassen – anders die allgemeine Kreditwirtschaft – wohnungsbaufinanzierungsfremde Bankgeschäfte typischerweise nicht tätigen (s. § 4 BauSparkG). Insofern ist – wie die Gesetzesbegründung zum Bausparkassengesetz betont – das charakteristische Merkmal des Bausparens das Kollektiv, „das heißt die Geschlossenheit des teilnehmenden Personenkreises, wobei dieselben Personen zunächst (bis zur Auszahlung des Bausparguthabens) Gläubiger und später (nach Zuteilung des Bauspardarlehens) Schuldner der Bausparkasse sind. Mit diesem System wird im Wege der Selbsthilfe ein in sich geschlossener Markt geschaffen, bei dem durch Verzicht auf marktgerechten Einlagenzins ein niedriger Darlehenszins ermöglicht wird“20.
Diesen Besonderheiten hat der Gesetzgeber auch durch zahlreiche Sonderregelungen Rechnung getragen. So wollte der Gesetzgeber mit den Regelungen des Bausparkassengesetzes Vorsorge für eine gesunde Weiterentwicklung der Bausparkassen und des Bausparkassengeschäfts treffen. Dabei war er sich der dem Bauspargeschäft als Zwecksparsystem innewohnenden strukturellen Risiken bewusst21. Insofern sind die bausparkassenrechtlichen Vorschriften gerade auch auf dem Hintergrund des Verbotes von Zwecksparunternehmen in § 3 Nr. 2 KWG zu lesen. Hier übernimmt der KWG-Gesetzgeber das entsprechende Verbot des Gesetzes über die Auflösung der Zwecksparunternehmen vom 13.12.1934, das mit Zweifeln an der Solidität von kollektiven Sparsystemen begründet wurde. Zwecksparsysteme funktionieren nämlich in der Tat nur dann, wenn dem Kollektiv immer neue Mittel zugeführt werden22. Von diesem generellen Zwecksparverbot wurden die Bausparkassen in § 3 Nr. 2 KWG ausdrücklich ausgenommen, da der Gesetzgeber „wegen gewisser Besonderheiten ihres Geschäftes und unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die in über vier Jahrzehnten auf diesem Gebiet gesammelt worden sind“, mit einem anhaltenden Zugang neuer Bausparer gerechnet hatte23. Insofern ging aber auch der Gesetzgeber davon aus, dass das Bausparkollektiv ständigen Liquiditätsfluss durch Neuzugänge von Bausparverträgen benötige24. Wegen dieser Verpflichtung zur permanenten Anbahnung neuer Kundenbeziehungen hatte dement-
__________ 19 So Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 54. 20 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über Bausparkassen (1972 – allgemeiner Teil, II.1.) – BT-Drucks. VI/1900 – Lehmann/Schäfer/Cirpka, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 4. Aufl. 1992, S. 300 f. 21 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über Bausparkassen (1972 – allgemeiner Teil, III) – BT-Drucks. VI/1900 – Lehmann/Schäfer/Cirpka, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 4. Aufl. 1992, S. 302. 22 Reischauer/Kleinhans, Kreditwesengesetz (KWG), Kza 115, § 3 KWG Anm. 8. 23 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über Bausparkassen (1972 – allgemeiner Teil, III) – BT-Drucks. VI/1900 – Lehmann/Schäfer/Cirpka, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 4. Aufl. 1992, S. 302 f. 24 Gesetzesbegründung zu § 6 des Änderungsgesetzes zum Bausparkassengesetz 1990, vgl. Schäfer/Cirpka/Zehnder, Bausparkassengesetz und Bausparkassenverordnung, 5. Aufl. 1999, S. 306.
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sprechend die Bausparkassenaufsicht – anders als bei sonstigen Kreditinstituten – früher gefordert, dass jede Bausparkasse über einen eigenen Vertrieb verfügt, auf dessen Steuerung sie zumindest aufgrund einer mehrheitlichen gesellschaftsrechtlichen Beteiligung maßgebend zentralen Einfluss ausüben kann. Auch die BaFin hat darauf hingewiesen, dass Bausparkassen durch entsprechende Kooperationsvereinbarungen sicherzustellen haben, dass sie den Vertrieb entsprechend der besonderen Bedeutung des Vertriebs für die Existenzfähigkeit wirksam steuern und kontrollieren können25. Der Gedanke der Bausparergemeinschaft findet sich auch im Gesetz selbst wieder, wenn man etwa § 8 Abs. 1 BauSparkG betrachtet. Hiernach kann die Erlaubnis, Geschäfte einer Bausparkasse zu betreiben, versagt werden, wenn die allgemeinen Bedingungen für Bausparverträge 1. die Erfüllbarkeit der Bausparverträge nicht dauerhaft gewährleistet erscheinen lassen, insbesondere weil die einzelnen Bausparverträge, bezogen auf ihre gesamte Laufzeit, kein angemessenes Verhältnis zwischen den Leistungen der Bausparer und denen der Bausparkasse (individuelles Sparer-KassenLeistungsverhältnis) aufweisen oder 2. Spar- und Tilgungsleistungen oder andere Verpflichtungen vorsehen, welche die Zuteilung der Bausparverträge unangemessen hinausschieben, zu unangemessen langen Vertragslaufzeiten führen oder sonstige Belange der Bausparer nicht ausreichend wahren. Diese Regelungen machen nur Sinn, wenn es um den Schutz der Bausparergemeinschaft geht. Im Übrigen spricht das Gesetz ausdrücklich von den Anforderungen an die Erfüllbarkeit aller Bausparverträge. Auch der zweite Versagungsgrund will den Bausparer nur als Mitglied der Bausparergemeinschaft schützen, wie der Verweis auf die „sonstige Belange der Bausparer“ deutlich macht26. Insofern wird hier – ähnlich wie im Versicherungswesen – der Grundgedanke der Risikogemeinschaft in den Vordergrund gerückt27. Der überindividuelle Systemzweck wird im Übrigen auch in der Literatur und sonstigen Rechtsprechungen betont. So verweist etwa Pfeiffer darauf, dass gerade im Hinblick auf die öffentlich-rechtliche Regulierung des Bausparens Vorsicht bei der zu starken individuellen Betrachtung der einzelnen Vertragsbeziehungen im Bausparwesen geboten sei und deshalb auch eine Berücksichtigung des kollektiven Systemszwecks möglich und geboten sei28. Ähnlich hat z. B. das Kammergericht wegen der „kollektiven Verknüpfung“ darauf verwiesen, dass im Bausparbereich die Vertragsäquivalenz des Einzelvertrages der „Leistungsäquivalenz des Gesamtkollektivs“ unterzuordnen sei29. Auch der BGH hat im
__________ 25 S. Schreiben der BaFin v. 10.5.2005, BA 33 – 20.2030, in Bausparkassen-Fachbuch 2007/2008, S. 385. 26 Schäfer/Cirpka/Zehnder, § 8 BauSparkG Anm. 6 und der Hinweis auf BVerwG, NJW 1990, 1003. 27 S. dazu auch BGH, Urteil v. 12.10.2005 – IV ZR 245/03, BeckRS 2005 12969. 28 Pfeiffer, Allgemeine Bausparbedingungen, in Graf von Westphalen, AGB-Klauselwerke, 2001, Rz. 14. 29 Kammergericht, NJW-RR 1990, 544, 559.
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Bausparkassenurteil auf die Besonderheiten des Bausparwesens bei der materiellen Inhaltskontrolle hingewiesen30. Im Kern handelt es sich folglich bei den Bausparkassen um Risikogemeinschaften, die nicht nach dem Leitbild synallagmatischer Do-ut-des-Verträge konzipiert, sondern als Bausparergemeinschaft auf den gemeinschaftlichen Zweck der Sicherung des Systems „Bausparen“ im Interesse aller ausgerichtet sind31. Die Rechtsordnung hat solche Risikogemeinschaften in verschiedensten Konstellationen anerkannt und dem darin enthaltenen Solidargedanken Rechnung getragen. Das Ziel solcher Risikogemeinschaften mit Risikoverteilung auf einen begrenzten Vermögensbestand besteht in Anlehnung an die Regeln der großen Haverei (§§ 700 ff. HGB) und an das Recht der Gemeinschaft in einer anteilsgerechten Risikoverteilung unter den Teilhabern. Insofern schützt die Rechtsordnung als Sonderbeziehung zum Beispiel die gemeinschaftliche Verwahrung von Eigentum in Notsituationen32. 5. Parallelen in anderen Bereichen Sucht man nach einer Parallele für die Abschlussgebühr in anderen Lebenslagen, stößt man zunächst einmal auf die Parallele der Aufnahmegebühr für Golfclubs. Im Golfbereich ist es gängig, dass dort Aufnahmebeiträge bezahlt werden. Zur Legimitation wird auf die gesetzlichen Regelungen des Vereinsrechts verwiesen; typischerweise wird die Aufnahmegebühr in Satzungsbestimmungen eines Golfvereins festgelegt. Darin sieht die Rechtsprechung kein Problem und hat eine entsprechende Beitragsordnung des Vereins für rechtlich unbedenklich erachtet33. Kein Problem wurde auch darin gesehen, dass neben den Entgelten für den Erwerb der Mitgliedschaft in einem solchen Verein Aufwendungen in Form einer Art Kommanditeinlage erbracht werden müssen34. Der BGH hat aber im jüngsten Urteil sogar die Verpflichtung eines Vereinsmitglieds, dem Verein neben der Zahlung der Aufnahmegebühren und des Jahresbeitrages, ein zinsloses Darlehen zur Steigerung der Attraktivität des Vereins zu gewähren, als unproblematisch angesehen, sofern der Sonderbeitrag dem Grunde und der Obergrenze nach in der Satzung verankert ist35. Zu beachten ist insofern die Rechtsprechung zur Aufnahmegebühr außerhalb vereins- und gesellschaftsrechtlicher Konstellationen. So hat zum Beispiel das Oberlandesgericht Nürnberg für Partnerschaftsvermittlungs-AGB die Auffassung vertreten, dass es kein Problem sei, so genannte Aufnahmegebühren zu verlangen. Dies gelte auch für den Fall, dass diese Gebühr selbst dann nicht mehr zurückgezahlt werde, wenn der Aufgenommene nach kurzer Zeit wieder zurücktritt36. Das Oberlandesgericht sah Probleme nur dann, wenn die Auf-
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BGH, NJW 1991, 2559 = WM 1991, 1452, 1454 – Bausparkassenurteil. S. dazu auch Langbein in Staudinger 2002, § 741 BGB Rz. 167 ff. K. Schmidt in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 741 BGB Rz. 72 f. S. z. B. OLG Brandenburg, OLG-NL 2005, 177 ff. = MDR 2005, 640 ff. BFH, NVWZ-RR 2004, 450 ff.; BFH, NJW 2008, 1471 ff. BGH, NZG 2008, 675 ff. = NJW-RR 2008, 1357 ff. OLG Nürnberg, NJW-RR 1997, 1556 ff.
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nahmegebühr in keinem angemessenen Verhältnis zu dem bereits vom Verwender verdienten Anteil der vereinbarten Gesamtvergütung stehe. Keine Probleme sah der BGH mit der Erhebung einer Eintrittsgebühr bei einem Franchise-System37. Im Versicherungsbereich geht die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs davon aus, dass die einmaligen Abschlusskosten zu einem wesentlichen Anteil mit den ersten Versicherungsprämien verrechnet werden können, selbst wenn dies zur Folge hat, dass der Rückkaufswert des Vertrages so lange gegen Null geht38. Ähnlich sah das Oberlandesgericht Nürnberg in der Erhebung von Abschlusskosten im Versicherungsbereich kein Problem39. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat sich ausführlich mit Abschlusskosten beschäftigt und deren Erhebung für zulässig erachtet, sofern deren Höhe mit genauer Bezifferung oder etwa durch Prozentsätze hinlänglich klar gestellt werde40. Das Oberlandesgericht sah kein Problem darin, dass der Kunde „für nichts außer die Kosten des bloßen Vertragsabschlusses zahlen muss“41. 6. Abschlussgebühr in der Rechtspre