Über Grenzen: Kolloquium zum 70. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum [1 ed.] 9783428539710, 9783428139712

Die Grenze als Ort der Entscheidung faszinierte Wolfgang Graf Vitzthum bereits bei seiner Freiburger Dissertation, die s

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Über Grenzen: Kolloquium zum 70. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum [1 ed.]
 9783428539710, 9783428139712

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 72

STEFAN TALMON (Hrsg.)

Über Grenzen Kolloquium zum 70. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum

Duncker & Humblot · Berlin

Stefan Talmon (Hrsg.)

Über Grenzen

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 72

Über Grenzen Kolloquium zum 70. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum

Herausgegeben von

Stefan Talmon

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13971-2 (Print) ISBN 978-3-428-53971-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-83971-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Aus Anlass des siebzigsten Geburtstags von Wolfgang Graf Vitzthum versammelten sich am 26. November 2011 im Gästehaus der Eberhard Karls Universität Tübingen ehe­ malige Schüler, Kollegen und Freunde zu einem Seminar zu Ehren des Jubilars. Nach den „Grenzen des Rechts“ und den „Grenzen des Staates“, die den Gegenstand der beiden vorangegangenen Kolloquien zum 60. und 65. Geburtstag bildeten, ging es bei diesem sehr persönlichen und herzli­ chen „akademischen Familienfest“ um das Oberthema „Über Grenzen“. Anknüpfend an die Tradition der Vorgängerkol­ loquien ging es wiederum um aktuelle praktische Grenzfra­ gen des nationalen und internationalen Rechts; dieses Mal sowohl aus Sicht der Wissenschaft als auch der Praxis. Rechtsanwälte, Ministerialbeamte, Richter, Unternehmens­ vorstände und Hochschullehrer erörterten gemeinsam auf der Grundlage einführender Referate die Grenzen des im November 2011 verabschiedeten Präimplantationsdiagnos­ tikgesetzes (Wolfgang März), die Anforderungen an das In­ tegritätsmanagement im grenzüberschreitenden Unterneh­ men (Andreas Pohlmann), die fortbestehende völkerrecht­ liche Bedeutung imperialer Grenzziehungen (Axel Kämmerer), die Grenzen und Chancen des Rechtsstaatsdialogs mit China (Philipp Molsberger), die Grenzen der Völkerrechts­ rezeption in Deutschland (Stefan Talmon), die Auswirkung der ungeklärten Seegrenzen zwischen Deutschland und den Niederlanden auf die Errichtung von Windparks in der Nordsee (Wolfram Hertel), die Zuständigkeitsgrenzen der EU-Organe im Bereich der internationalen Beziehungen (Alexander Proelß) und die Grenzen der Euro-Krisenbe­ wältigungspolitik und der EU-Entwicklungsperspektiven (Martin Nettesheim). Die Vielfalt der Themen, die mannig­ faltigen Erfahrungen der Referenten und Diskussionsteil­

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nehmer und die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Recht eröffnen interessante neue Perspektiven und legen Zeugnis ab für das fast „grenzenlose“ Interesse des Jubilars an rechtlichen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Der vorliegende Band vereinigt die für die Drucklegung erweiterten und aktualisierten Referate sowie ein Essay des Geehrten. Der Vortrag von Wolfgang März über „Grenzen des Lebens – Grenzen des Rechts“ zu den Grenzen der Neuordnung der Präimplantationsdiagnostik konnte leider nicht in diesen Band aufgenommen werden und wird an anderer Stelle selbständig veröffentlicht. Den Fachbeiträgen vorangestellt ist ein Graf Vitzthum gewidme­ tes Gedicht des Dichters und Schriftstellers Uwe Kolbe so­ wie die vom Tübinger Kollegen und Freund, Martin Nettesheim, bei der Veranstaltung gehaltene Laudatio. Eine Biblio­ graphie des Jubilars und ein Verzeichnis der von ihm seit 2008 betreuten Dissertationen und Habilitation runden den Band ab. Mein Dank gilt meinen ehemaligen „Mitschülern“ für die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Projekts „Geburtstagsseminar“; den zahlreich erschienenen Doktoranden des Geehrten, seinen wissenschaftlichen Weg­ gefährten und Fakultätskollegen für die anregende Diskus­ sion und die rundherum gelungene Veranstaltung; sowie Florian Simon für die Bereitschaft, den vorliegenden Tagungs­ band – wie schon die beiden Vorgängerbände und die vielen weiteren Arbeiten aus der Tübinger Schule – in sein Verlags­ programm aufzunehmen. Ganz besonders danken möchte ich aber dem Jubilar für die letzten 25 Jahre des gemeinsa­ men akademischen Weges – ad multos annos! Bonn, im Juni 2012

Stefan Talmon

Inhalt Wolfgang Graf Vitzthum zum 70. Geburtstag Von Martin Nettesheim  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Compliance über Grenzen. Integritätsmanagement in global operierenden Unternehmen Von Andreas Pohlmann  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Das Völkerrecht des Kolonialismus: No peace between the lines? Von Jörn Axel Kämmerer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Grenzen und Chancen des Rechtsstaatsdialogs. Funde und Folgerungen in China Von Philipp Molsberger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Die Grenzen der Völkerrechtsrezeption in Deutschland Von Stefan Talmon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Vergessene Grenzen in der Nordsee Von Wolfram Hertel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Grenzen der Zuständigkeit der Unionsorgane am Beispiel von „Erika III“ Von Alexander Proelß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 An den Grenzen der Legitimität. Euro-Krisenbewältigungspolitik und EU-Entwicklungsperspektiven Von Martin Nettesheim  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 George über Grenzen Von Wolfgang Graf Vitzthum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum 2008 – 2012. . . . . . . . . 225 Verzeichnis der von Wolfgang Graf Vitzthum betreuten Dissertationen und Habilitationen 2008 – 2012 . . . . . . . . . . . . . 229

für Wolfgang Graf Vitzthum

Wie einer doch noch hoffen kann, wie sehr, wenn ihn ein gutes Wort getroffen hat, das auf ihn wartete an unvermutet offenbarem Ort. Wie aus dem Schlamme aufersteht, gerade das, von dem er abgesehen, dem er sich recht verweigerte, ein Wehen, das ihn nun belebt. Wie neu einer noch werden darf nach seinen Waffengängen, der, übersäht von Narben, heut nach Entsühnung darbt. Der sich so sündig weiß an Maß und Schöne und Gestalt und selbstgewisser Kunst, der hofft auf neuen Fleiß. Uwe Kolbe* Zur Erinnerung an den 15. Oktober 2005 in Bingen 1

*  Uwe Kolbe lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er ist Träger zahlreicher Literaturpreise, darunter der Friedrich-Hölderlin-Preis Tübingen 1993. Von 1997–2004 war er zudem Leiter des Studios Literatur und Theater der Universität Tübingen.

Wolfgang Graf Vitzthum zum 70. Geburtstag Von Martin Nettesheim, Tübingen* 1

Wolfgang Graf Vitzthum ist am Dienstag 70 Jahre alt ge­ worden. Ich möchte ihm zu diesem Anlass nochmals auf das herzlichste gratulieren. Sehr gerne bin ich heute zu dieser Festveranstaltung gekommen. Es ehrt mich, heute an dieser Stelle einige Worte sprechen zu dürfen, und ich fühle mich unverdient beschenkt. Eigentlich könnte Wolfgang Graf Vitzthum die Laudatio auf sich am allerbesten selbst halten. Denn er ist ein herausragender Redner; immer dann, wenn es in der Fakultät oder im Kreis der Wissenschaft darum geht, einer Person oder einer Sache wirklich angemessene Gerech­ tigkeit wiederfahren zu lassen, fällt unser Blick auf ihn. Seine Gedanken sind prägnant, sein Stil nuancenreich und feinsin­ nig, seine Rede und sein schriftliches Werk wohlformuliert und glänzend. In der Ansprache wäre das, was er ausführen würde, sicherlich auch von höherem Gedankenreichtum und Neuigkeitswert als das, was ich zu sagen habe. Allein, sein Sinn für gesellschaftliche Formen – auch im akademischen Umfeld – lässt es ihm nicht zu, dass er die Laudatio auf sich selbst hält – es wäre ein interessantes Experiment gewesen. So stehe ich nun heute hier und bin berufen, einige Wor­ te zu und über meinen Freund und Kollegen zu sagen – im Rahmen eines Kolloquiums „Über Grenzen“. Es ist dies das Leitmotiv, unter dem die Festveranstaltungen zu Ehren der letzten runden Geburtstage standen. In einem Punkt jeden­ *  Prof. Dr. Martin Nettesheim ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Tübingen.

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falls ist es ein gänzlich irreführendes Motto. Üblicherweise bildet der 70. Geburtstag eine echte Grenze, jenseits derer sich – so man sie überhaupt überwindet – die Lage vollstän­ dig ändert. Man blickt zurück, ordnet, resümiert – allein, Wolfgang scheint das vermeintlich Begrenzende nicht zu fühlen. Im familiären Bereich spielt er die Rolle des liebe­ vollen Vaters intensiver und zuneigender, als es mancher 35jährige Vater vermag. In der von ihm so geliebten Welt Stefan Georges rückt er in immer wichtigere Rollen ein. Auf dem Tennisplatz jagt er mich über einen Zeitraum von 90 Minuten mit harten Schlägen von rechts nach links, und wenn ich glaube, ihn mit einem wohlplatzierten Schlag end­ lich einmal in die Defensive gedrängt zu haben, dann muss ich feststellen, dass er meine Absicht längst durchschaut hat, sich in strategisch kluger Vorwärtsbewegung über das Feld in eine günstige Retournierposition bewegt hat und dann mit unerreichbarem Schlag kontert. Ob diese meisterhafte Beherrschung eines Raums auch mit den militärischen Er­ fahrungen zusammenhängt, die die Familie Vitzthum bei der Bekleidung höchster Ämter sammeln konnte, will ich hier offenlassen. Der Unterschied zu einem anderen „Cavaliere“ ist jedenfalls enorm: Während jener jüngst zurückgetretene Politiker eines südlichen Lands sich jährlich auf dem Opera­ tionstisch hat auffrischen lassen müssen, scheint es so, als ob bei Wolfgang die Jahre ohne Spuren abperlen – wie von einer inzwischen so hoffnungsfroh erwarteten selbstreini­ ­ genden Nanooberfläche. Insofern sehe ich auch eher einen Bezug zu Präsident Obama. Jener kämpft bekanntlich seit langem gegen die in rechtskonservativen Kreisen gepflegte Verschwörungstheorie, wonach seine Geburt in Hawaii nur vorgetäuscht war, um sich so nicht nur die amerikanische Staatsangehörigkeit erschleichen zu können, sondern auch das als Amtsvoraussetzung geltende Privileg des „naturally born American“; er sah sich inzwischen veranlasst, seine Geburtsurkunde im Internet zu veröffentlichen. Während es dort um den Geburtsort geht, frage ich mich hier und heute nach der Zeit: Wolfgang wirkt so jugendlich, dass es viel­ leicht auch einmal an der Zeit wäre, die Geburtsurkunde zu



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veröffentlichen, um meine nagenden Zweifel zu beseitigen, dass er die heutige Ehrung auch zu Recht erfährt. Der Titel der heutigen Veranstaltung „Über Grenzen“ ist mit der ihm eigenen Feinsinnigkeit gewählt worden. Sein Werk zeichnet sich in einer Art und Intensität, wie sie sich kaum anderwärts beobachten lassen, durch Grenzüberschrei­ tungen aus. Dabei vermag ich drei Bezüge zu erkennen. Erstens geht Wolfgang Graf Vitzthum im echten Sinne des Wortes über Grenzen hinweg. Schon seit nunmehr drei Jahrzehnten verbindet er die Gebiete „law“ and „literature“ in einer Weise, wie sie in Deutschland einzigartig ist und auch in anderen Staaten mir so nicht bekannt ist. Das Wis­ sen um die Macht im Recht und die Notwendigkeit, diese historisch einzubetten, literarisch einzukleiden und in die Welt des Geistes zurückzubinden, haben ein ungemein reichhaltiges Œuvre entstehen lassen. Ich erinnere an Werke wie den 1991 zusammen mit W. Jens veröffentlichten Band „Dichter und Staat“, die schönen Schriften über „Stefan George“, etwa dessen Bezug zum Staat 1999, oder die Be­ schäftigung mit Hermann Broch. Im Kreise seiner Dokto­ randen sind Schriften zu Thomas Mann, Friedrich Schiller oder Kurt Tucholsky entstanden. Die in den USA in modi­ scher Kurzatmigkeit betriebene Gattung des „Law and Lite­ rature“ könnte in Wolfgangs Werken nicht nur Inspiration suchen, sondern auch tiefe Verwurzelung finden. Zweitens sind es grenzüberschreitende Prozesse, die das wissenschaftliche Interesse von Wolfgang immer schon ge­ funden haben. Er stellt sich diesen Erscheinungen der Ent­ grenzung als liberaler Konservativer, neugierig, weltoffen und weltgewandt, immer mit dem Sinn für Ästhetik und einem angelsächsisch inspirierten Gefühl für den Eigenwert des Bestehenden, die Notwendigkeit eines Sinnes für das rechte Maß und für ein pragmatisches Herangehen. Ihm ge­ lingt insofern ein idealer Brückenschlag zwischen dem deut­ schen Drängen nach Geist, dem angloamerikanischen kon­ servativen Pragmatismus und einem französisch inspirierten Lebensgefühl – vielleicht ist er ja auch deshalb ein so voll­

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kommener Botschafter unserer Fakultät etwa in Aix en Pro­ vence. Das Interesse für entgrenzende Prozesse hat Wolf­ gang etwa früh zur Beschäftigung mit den biowissenschaft­ lichen Umstellungen und Möglichkeiten veranlasst – seine Werke zeichnen sich durch ein kluges Abwägen zwischen der Anerkennung der dadurch eröffneten Möglichkeiten, ge­ rade auch des Freiheitsgewinns, und der Skepsis gegenüber einem naiven Fortschrittsoptimismus oder einem technizis­ tischen Machbarkeitswahn aus. Ihm sind positivistische Un­ bekümmertheit ebenso wie unhistorischer Fortschrittswahn fremd. Auch im Bereich des Seerechts sehe ich ihn in der Rolle des Wissenschaftlers, der sich – im Streben um das Bewah­ ren des Bewahrenswerten – um die Bewältigung von ent­ grenzenden Prozessen bemüht. Nun scheint Seerecht ja ge­ rade jenes Rechtsgebiet zu sein, in dem es scheinbar ins Endlose geht. Der Blick auf den Pazifik, wie er Wolfgang während seines Aufenthalts in Südkalifornien möglich war, scheint zunächst nur Offenheit zu vermitteln – ist doch die nächste echte Landmasse erst nach 10.000 km zu erreichen. Und doch hat die technische Entwicklung, etwa mit Blick auf den Zugriff auf die Fischbestände oder die Nutzung der Ressourcen im Meeresboden, entgrenzende Wirkung; sie un­ terwirft sich, was bislang unerreichbar war, und zerstört, was bislang nur in einem nachhaltigen Umfang genutzt wer­ den konnte. Die Rückbesinnung auf Grenzen tut not; wir wissen alle, wie unendlich mühsam dies angesichts der zu­ widerlaufenden Interessen der Staaten ist. Und schließlich meine ich, dass Wolfgangs Beschäftigung mit dem Widerstand im NS-Regime ihre Wurzeln nicht nur in persönlichen Verbindungslinien und den Bezügen zwi­ schen George und dem Kreis der widerstandleistenden Bür­ ger hat. Wer sich die Erscheinung der unendlichen Entgren­ zung vor Augen führt, die im NS-Regime stattfand und sich über alle Ordnung des Humanitären und des Rechtsstaat­ lichen hinwegsetzte, wird nicht verwundert sein, dass ein Wissenschaftler, für den Grenzen so wichtig sind, sich mit



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jenen Personen befasst, denen es um Eingrenzung, um das Einfangen der entfesselten Kräfte und die Rückkehr zu einer gerechten Ordnung ging. Drittens schließlich beschäftigt sich Wolfgang schon im­ mer auch mit genuinen Grenzen, also Trennlinien. Trennen­ des verbindet immer zugleich die auf die eine und die ande­ re Seite verwiesenen Teile des Ganzen. Grenzen ordnen ­immer auch aufeinander zu. Insofern sind seine wichtigen Ausführungen zum Föderalismus (im Rahmen der Staats­ rechtslehrertagung, in späteren wichtigen Aufsätzen, und in einer seine Offenheit kennzeichnenden Wendung hin zum multiethnischen Föderalismus) und zur horizontalen Funk­ tionenzuordnung (Parlament und Planung) ebenfalls Aus­ druck des immer wieder neuen Angezogenseins vom Phäno­ men des Getrennten, aber Verbundenen. Wir beobachten die Neuzuordnung des Getrennten, zugleich aber Verbundenen in der heutigen Zeit schon schnellen Wandels in immer neu­ en Bereichen – deutsche und europäische Identität, Grund­ rechtsschutz durch den EuGH, durch Straßburg und durch Karlsruhe, wirtschaftspolitische Verantwortlichkeiten auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene etc. Ich bin sicher, dass Wolfgang auch hierzu in den nächsten Jah­ ren Gedanken beisteuern wird, die uns Jüngere bewegen und anregen, inspirieren und nachdenklich machen werden. Wir warten darauf. Ich möchte insofern mit dem Wunsch enden, dass wir auch weiterhin das Privileg haben mögen, Dich in der Mitte Deiner Universität und Deiner Fakultät, als Kollege und Freund hier in Tübingen zu haben. Ich habe den Wunsch, dass sich das Glück fortsetze, das Du im Kreis Deiner Fa­ milie mit den nunmehr vier Kindern und Deiner schönen Frau Claudia genießen kannst (Peter Häberle sprach vor zehn Jahren davon, dass Du Werner von Simson in der Zahl der Kinder nicht wirst einholen können; nun stehst Du kurz davor). Und ich habe den Wunsch, dass Dir Lebensfreude, Gesundheit und Schaffenskraft erhalten bleiben und wir Dich so bei uns haben, wie Du bist.

Compliance über Grenzen. Integritätsmanagement in global operierenden Unternehmen Von Andreas Pohlmann, Frankfurt* I. Einführung Die Karriere des Themas Compliance hat vor über dreißig Jahren begonnen. Zwar führten US-Unternehmen bereits während des Kalten Krieges sogenannte Compliance-Pro­ gramme ein, um die Exportkontrollgesetze im Handel mit den Ostblockstaaten einzuhalten. Doch erst mit dem Foreign Corrupt Practices Act (FCPA 1977)1 – der Antwort des US-amerikanischen Gesetzgebers auf den Lockheed-Beste­ chungsskandal – rückte das Thema Compliance in den Fo­ kus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Einen weiteren Mei­ lenstein auf dem Weg zu dem, was wir heute unter Compliance im international tätigen Unternehmen verstehen, bilde­ te der in Reaktion auf die Bilanzskandale bei Enron und WorldCom 2002 erlassene Sarbanes-Oxley Act2, der den Begriff der Corporate Governance neu definierte und die *  Dr. Andreas Pohlmann wurde im Jahre 1990 mit einer von Wolfgang Graf Vitzthum betreuten Arbeit zu neueren Entwicklun­ gen im Gentechnikrecht promoviert. Nach mehr als 20 Jahren Ma­ nagementtätigkeit bei Hoechst, Celanese, Siemens und Ferrostaal ist er seit Beginn 2012 Partner der Beratungsgesellschaft Pohlmann & Company – Compliance and Governance Advisory LLP mit Sitz in Frankfurt am Main. 1  Public Law 95–213, 95th Congress, Dec. 19, 1977, 91 Stat. 1494 et seq. 2  Public Law 107–204, 107th Congress, July 30, 2002, 116 Stat. 745 et seq.

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unternehmerische Haftung erweiterte. Die USA sind inso­ weit nicht nur die führende Wirtschaftsnation, sondern auch bei der Aufarbeitung von Wirtschaftsskandalen führend. Sie sind Vorreiter und Treiber der Entwicklung des Themas Compliance. Ihr Verständnis von Compliance ist dabei aller­ dings ein eher legalistisches: Es geht ins erster Linie um die Sicherstellung der Einhaltung von vorrangig wettbewerbsre­ levanten Gesetzen. Im Zuge der Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung setzte sich ein breiteres Verständnis von Compliance durch3. Compliance gehört heute in den Kontext der sog. Corporate Social Responsibility. Dieser Begriff umfasst eine erweiterte Verantwortung und Profilierung der Unternehmen in einer Gesellschaft, die zunehmend einfordert, dass wirtschaftliche Wertschöpfung, soziale Gerechtigkeit und Erhalt der ökolo­ gischen Lebensbedingungen global in Einklang gebracht werden. Compliance gewinnt dadurch eine moralische Di­ mension und wird zu einer Bedingung nachhaltiger Wert­ schöpfung. Unternehmerischer Erfolg ist, so die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, in modernen Gesellschaften nicht mehr allein durch Innovationsfähigkeit, Produktivität und Gewinnmaximierung zu erzielen. Vielmehr sind auch Inte­ grität und nachhaltiges Wirtschaften Voraussetzung für ein Bestehen der Unternehmen im internationalen Wettbewerb. In diesem Zusammenhang geht es deshalb nicht nur um die Einhaltung von Gesetzen und Regeln, sondern auch da­ rum, Compliance als Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Unter­ nehmerische Spitzenleistung und Ethik dürfen nicht als Ge­ gensatz gesehen werden, sondern sind vielmehr als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen. Die Herausforde­ rung für die Unternehmen besteht darin, Compliance zum integralen Bestandteil der Unternehmenskultur und des 3  Aus der deutschsprachigen Literatur vgl. zu den Grundbegrif­ fen im Bereich Compliance Buff, Compliance, 2000, S. 7 ff., Hauschka, in: Hauschka (Hg.), Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, S.  2 ff. und Grundmeier, Rechtspflicht zur Compliance im Kon­ zern, 2011, S. 3 ff.



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Qualitätsverständnisses zu machen. Der Wandel im unter­ nehmerischen Denken und Agieren erfordert daher, die Grenzen eines rein legalistischen Verständnisses von Compliance zu überwinden und Compliance als strategische ­Herausforderung anzunehmen und als Führungsaufgabe zu definieren. II. Die grenzüberschreitende Problematik Eines der Hauptthemen von Compliance ist die Bekämp­ fung von Korruption4. Ein Blick auf die spektakulärsten Korruptionsfälle der jüngeren Vergangenheit ist erschre­ ckend. Man könnte von einer Pandemie sprechen, bei der eine Vielzahl privater und öffentlicher Bereiche von Kor­ ruption erfasst wurde. Allerdings sind zur selben Zeit auch die Aufklärungsraten und Strafen empfindlich gestiegen. Als Beispiele mögen hier die Fälle Siemens, Daimler, MAN und Ferrostaal dienen, die in den vergangenen fünf Jahren ein ungewöhnlich hohes Medieninteresse in Deutschland hervorgerufen haben. Das Interesse der Öffentlichkeit an den strafrechtlichen Ermittlungen in Korruptionsfällen ist ein Lehrstück für die gewandelte Sicht der Öffentlichkeit über die ethische Dimension des Wirtschaftens und über den Stellenwert der Reputation für den Erfolg eines Unter­ nehmens. Anordnung von Untersuchungshaft gegen Vorstände und Angestellte eines Unternehmens, langjährige staatsanwalt­ liche Ermittlungen im In- und Ausland, Verurteilungen von verantwortlichen Managern zu Geld- und Haftstrafen sowie Zahlungsverpflichtungen der betroffenen Unternehmen aus Verfall und Vorteilsabschöpfung in Höhe von jeweils drei­ stelligen Millionen Euro-Beträgen haben die Sensibilität für effektive Compliance im Unternehmen in den Vorstands­ etagen drastisch erhöht. Im prominenten Fall Siemens konn­ ten die US-Behörden Schmiergeldzahlungen in Höhe von 4  Vgl. etwa Greeve, in: Hauschka (Hg.), Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, S. 565 ff.

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US$ 1,4 Mrd. nachweisen5. Siemens kam die Aufarbeitung des Korruptionsfalls und der Vergleich mit den amerikani­ schen und deutschen Gerichten auf über € 2 Mrd. zu stehen. Auch die Verfahren gegen Daimler mit einer Geldbuße in Höhe von US$ 185 Mio.6 und gegen MAN in Höhe von € 151 Mio.7 gehören zu den großen Fällen der jüngeren Zeit in Deutschland. Im Fall Ferrostaal endete das Verfahren we­ gen des Vorwurfs der Bestechung ausländischer Amtsträger im Zusammenhang mit U-Boot-Geschäften nach über zwei­ jährigen Untersuchungen im Dezember 2011 mit der Verur­ teilung von zwei Ferrostaal-Managern8. Dem Unternehmen als Nebenbeteiligtem wurden Geldbußen (einschließlich ­einer Vorteilsabschöpfung) in Höhe von insgesamt fast € 140 Mio. auferlegt. Doch handelt es sich bei den genannten Beispielen keines­ wegs um Einzelfälle. Weitere Fälle finden sich über Grenzen und Branchen hinweg: Englands viertgrößter Rüstungs- und Waffenkonzern, BAE Systems, musste 2009 einem Vergleich in Höhe von über £ 286 Mio. zustimmen9, kam aber ange­ sichts des Verdachts, die höchste je gezahlte Bestechungs­ summe an einen Staatsvertreter im Mittleren Osten in Höhe von US$  1 Mrd. gezahlt zu haben, dabei noch vergleichs­ weise günstig weg.

5  Vgl. U.S. Securities and Exchange Commission, Press Release Nr. 294 v. 15.12.2008, abrufbar unter http://www.sec.gov. 6  Vgl. U.S. Securities and Exchange Commission, Press Release Nr. 51 v. 1.4.2010, abrufbar unter http://www.sec.gov. 7  Vgl. Presseerklärung der Staatsanwaltschaft München 11  /  09 v. 10.12.2009 zum Bußgeld gegen MAN, abrufbar unter http:// www.justiz.bayern.de / sta / sta / m1 / . 8  LG München I, Urteil v. 20.12.2011, Az. (StA) 565 Js 33037 / 10 sowie die Presseerklärung der Justizpressestelle beim OLG Mün­ chen vom 20.12.2011, abrufbar unter http://www.justiz.bayern. de / gericht / olg / m /. 9  Vgl. BAE Systems handed £ 286m criminal fines in UK and US, Berichterstattung der BBC vom 5.2.2010, abrufbar unter http://news.bbc.co.uk.



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Während es erheblich leichter ist, die Geberseite von Be­ stechungsgeldern zu identifizieren und zu sanktionieren, verschwimmen auf der Seite der Empfänger häufig die Spu­ ren. Diese befinden sich meist im Dickicht korrupter Re­ gime oder können sich aufgrund ihres Einflusses oder ihrer politischen Macht einer Verfolgung entziehen. Gleichwohl gibt es auch hier spektakuläre Fälle, die zur Aufklärung und Bestrafung gekommen sind, beispielsweise beim bisher größ­ ten Bestechungsskandal in Indien bei der Vergabe von Über­ tragungslizenzen (sog. „2G scam“) mit einem volkswirt­ schaftlichen Schaden von über US$ 39 Mrd.10. In China sind korrupte Führer von Staatsunternehmen oder Bürgermeister von Großstädten wegen Korruption schon zum Tode verur­ teilt worden11. Korruption ist kein Binnenphänomen von Wirtschaft und Politik. Auch Sport, Kultur und Wissenschaft sind in be­ achtlichem Maße infiziert. Der Weltfußballverband, FIFA, steht schon lange im Verdacht, ein Hort der Korruption zu sein. Jüngst kam es zum Ausschluss eines Exekutivmitglieds wegen versuchten Stimmenkaufs bei der Präsidentenwahl des Verbandes12. Die FIFA hat 2011 eine unabhängige Kom­ mission eingesetzt, die u. a. Vorschläge erarbeiten soll, wie man die Korruptionsprävention in der FIFA verbessern kann. Im Jahre 2009 flog in Deutschland ein System der kommerziellen Vermittlung von Doktortiteln auf, in das rund hundert Hochschullehrer verwickelt waren, die gegen Bezahlung Doktoranden angenommen hatten, die wegen mangelnder Examensergebnisse sonst keinen Doktorvater gefunden hätten13.

10  Vgl. Q+A – What is the 2G spectrum scandal all about?, Reu­ ters v. 2.4.2011, abrufbar unter http://www.reuters.com. 11  Vgl. Hinrichtung wegen Schmiergeldaffäre, Handelsblatt On­ line v. 19.7.2011, abrufbar unter http://www.handelsblatt.com. 12  Vgl. Presseerklärung der FIFA v. 15.9.2011, abrufbar unter http://www.fifa.com. 13  Vgl. Doktortitel verkauft?, FAS v. 23.8.2009, S. 1.

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Bezeichnend für das Phänomen Korruption ist nicht nur eine Gemengelage von Intransparenz und Verdachtsmomen­ ten. Vielfach herrscht die Auffassung, Bestechung sei im wirtschaftlichen Verkehr, zumal im Ausland, unvermeidlich. Die Rechtfertigungsmuster laufen meist auf drei Aussagen hinaus: „Jeder tut es“, oder „Es ist einfach Teil der Kultur in einigen Ländern“. Überführte Manager sagen: „Ich habe es für das Unternehmen getan. Ich habe mir kein Geld in die eigene Tasche gesteckt“. Schließlich findet sich die larmoyan­ te Aussage „Die Sauberen sind die Dummen. Compliance ist ein Wettbewerbsnachteil“. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Hohe Aufmerksam­ keit und wohl auch Zustimmung hat das ‚Bekennerschrei­ ben‘ eines mittelständischen Unternehmers gefunden, der sich 2010 in einem Handelsblatt-Interview öffentlich zum Einsatz von Schmiergeldern als unvermeidliches Instrument im Handelsgeschäft bekannte. Es sei hier nicht nur wegen seiner Naivität, sondern auch Lehrhaftigkeit in Auszügen zitiert: „Sie machen Ihr Geschäft hauptsächlich im Ausland. Haben Sie schon einmal Schmiergeld gezahlt? Natürlich. Mehr als einmal. Warum? Weil es nun einmal Länder gibt, in denen es nicht anders geht. In Algerien, Ägypten oder Nigeria kommen Sie ohne solche Zahlungen einfach nicht durch. Das gilt auch für Russland. Gibt es in diesen Ländern keine Vorschriften gegen Korruption? Wen interessieren denn Vorschriften? In China steht sogar die Todesstrafe auf Bestechung bzw. Bestechlichkeit. Trotzdem habe ich selbst erlebt, dass ich Aufträge nur durch Schmiergeld gewin­ nen konnte. Und ich habe auch Aufträge verloren, weil ein Kon­ kurrent mehr zahlte. An wen zahlen Sie das Schmiergeld? An das obere Management im Einkauf. Also die Leute, die ent­ scheiden, wer den Auftrag bekommt. Das sind meist Beamte, man hat es in diesen Ländern ja viel mit Staatsfirmen zu tun.



Compliance über Grenzen23 Und wie wird gezahlt? Das läuft in der Regel ganz ordentlich. Da kommt dann eine Rechnung, auf der steht: Vermittlungsprovision. Und dann ist da ein Konto in der Schweiz angegeben, und dahin wird das Geld überwiesen. Das heißt, Ihre Marge wird geschmälert. Nein. Der Bestechungsbetrag wird natürlich vorher auf das An­ gebot draufgeschlagen. Das rangiert so zwischen fünf und zehn Prozent der Auftragssumme.“14

Derartige Argumentationsmuster blenden vollständig aus, dass ein solches Verhalten nicht nur nach deutschem Straf­ recht kriminell, sondern auch politisch und gesellschaftlich völlig inakzeptabel ist. Sie tragen zudem zur Mythenbildung über den harten Wettbewerb bei und untergraben die vielen internationalen Anstrengungen zur Bekämpfung von Kor­ ruption. Es ist schlicht ein Mythos, dass es einen Sachzwang zur Korruption gibt. Viele Beispiele belegen, dass es durch­ aus möglich ist, saubere Geschäfte auch in problematischen Ländern zu tätigen und dass alles unternommen werden muss, um Regierungen und Unternehmen darin zu unter­ stützen, ein korruptionsfreies Marktumfeld zu schaffen und zu stärken. Die Weltbank schätzte im Jahre 2004 die Summe der weltweit geflossenen Bestechungsgelder auf ca. US$  1 Billion jährlich und den resultierenden volkswirtschaftlichen Schaden auf 2 bis 4 Prozent der jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts eines Staates15. Korruption un­ tergräbt zudem die Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerech­ tigkeit in einem Land. Sie zerstört den Wettbewerb und da­ mit die Marktwirtschaft. Sie führt zu einer Fehlallokation der Ressourcen. Am Ende trifft es vor allem die Schwächs­ ten. Korruption ist das größte Hindernis bei der Armutsbe­ kämpfung in der Dritten Welt. 14  Vgl. Der Kampf gegen Schmiergeld ist reine Heuchelei, Han­ delsblatt v. 10.8.2010, S. 20. 15  Vgl. Six questions on the cost of corruption, Interview mit Daniel Kaufmann, World Bank Institute Global Governance Di­ rector, abrufbar unter http://www.worldbank.org.

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III. Rechtliche und außerrechtliche Sanktionsmechanismen Die klassische Sanktion bei Korruption ist der Einsatz des Strafrechts gegen den korrupten Einzelnen. Doch wenn öffentlich bekannt wird, dass Mitarbeiter eines Unterneh­ mens in korruptive Tätigkeiten verwickelt sind, dann ge­ lingt es dem Unternehmen eher selten, solche Fälle nur als Individualdelikte auszugeben. Die Erfahrung zeigt, dass Be­ stechung oder Bestechlichkeit von Einzelpersonen einem unternehmensbedingten Nährboden entspringen. Führungs­ mängel, falsche Anreizstrukturen (Incentivierung), fehlen­ des Qualitätsbewusstsein, Innovationsschwäche und eine ungesunde Unternehmenskultur sind die häufigsten syste­ mischen Voraussetzungen für kriminelle Taten einzelner Manager. Nicht ohne Grund erstrecken sich deshalb die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen zumeist auch auf mögliches systematisches Fehlverhalten, vor allem aber auf die mögliche Vernachlässigung der Aufsichtspflichten durch Vorstand oder Geschäftsführung16. Mangels eigener Unter­ nehmensstrafbarkeit in Deutschland sind Grundlage für Geldbußen und Vorteilsabschöpfung §§ 130, 30 OWiG, wonach wegen Aufsichtspflichtverletzungen der Unterneh­ mensleitung (und ggf. sogar eigenen strafbaren Verhaltens) eine Geldbuße gegen das Unternehmen verhängt und der aus den korruptiven Geschäften gezogene Vorteil abge­ schöpft wird. Bei der Vorteilsabschöpfung ist umstritten, ob hierbei das Nettoprinzip oder sogar das Bruttoprinzip (d. h. der gesamte Auftragswert ohne Abzug von Kosten) zugrunde zu legen ist. Die Strafverfolgungsbehörden arbeiten im Bereich der Korruptionsverfolgung in den letzten Jahren auch interna­ tional immer enger zusammen. Die Liste der gegen die in Korruptionsfälle verwickelte Unternehmen verhängten 16  Zu der Rechtspflicht zur Compliance im Einzelgeschäft sowie im Konzern nach deutschem Recht vgl. etwa Grundmeier (Fn. 3), S.  23 ff. bzw. 33 ff.



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Sank­ tionen ist beachtlich: Vielfältige behördliche Unter­ suchungen, strafrechtliche Verfolgung und Inhaftierung von Managern und Mitarbeitern, Geldbußen, Strafzahlungen und Vorteilsabschöpfung, erzwungene Auswechselungen des Managements, Steuernachzahlungen, Nichtigerklärung von Verträgen und Genehmigungen, Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen (sog. „blacklisting“), Schadensersatzzah­ lungen und die Einsetzung eines Monitors im Unternehmen im Falle einer Börsennotierung in den USA. Durch die erhöhte Sensibilität der Gesellschaft und der Medien für Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen, des nachhaltigen Wirtschaftens und der sozia­ len Gerechtigkeit wird Korruption heute in höherem Maße als noch vor zehn Jahren geächtet17. Compliance ist kein Nebenschauplatz in der Öffentlichkeit mehr. Die Unterneh­ men erleiden schnell einen Reputationsverlust, oftmals ein­ hergehend mit einem Wertverlust des Unternehmens am Kapitalmarkt. Anleger und Kunden werden verunsichert. Auch auf dem international immer härter umkämpften Be­ werbermarkt (international war for talent) wirken sich Kor­ ruptionsvorfälle verheerend aus. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass der Vertrauensver­ lust, den Unternehmen in Folge eines Korruptionsfalles er­ leiden, schwerer wiegt als die Kosten, die den Unternehmen durch Untersuchungen und Bußen entstehen. In einer glo­ balen Studie von PricewaterhouseCoopers18 schätzten be­ fragte Unternehmensführer die negativen Konsequenzen ei­ nes Reputationsverlustes für den geschäftlichen Verkehr um ein Vielfaches höher ein als die der Kosten für rechtlich er­ zwungene Maßnahmen.

17  Zum „para-rechtlichen Rahmen“ für Compliance vgl. Buff (Fn. 3), S. 192 ff. 18  PricewaterhouseCoopers, Confronting Corruption – the busi­ ness case for an effective anti-corruption programme, Januar 2008, abrufbar unter http://www.pwc.com / .

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IV. Herausbildung grenzüberschreitender Unternehmenspraxis im Bereich Compliance In den letzten Jahren sind länder- und branchenübergrei­ fend Erfahrungen mit der Bewältigung von ComplianceKrisen gesammelt worden. Diese zeigen, dass das Thema sowohl innerhalb des Unternehmens als auch in seiner Be­ ziehung zur Gesellschaft und den Märkten angegangen wer­ den muss: 1. Die Binnenperspektive Wenn ein Unternehmen in eine Compliance-Krise gerät, bleibt kein Stein auf dem anderen. Compliance hat Restruk­ turierungspotential. Die Bewältigung prominenter Compliance-Krisen lehrt, dass nur grundlegende Veränderungen einen nachhaltigen Erfolg versprechen. Deswegen ist es nicht erstaunlich, dass diese häufig gegen Widerstände erst durchgesetzt werden müssen. a) Das Management Hat die bisherige Unternehmensführung einen irrepara­ blen Vertrauensverlust erlitten, muss sie ersetzt werden. Gleiches gilt für die ein bis zwei nachfolgenden Management­ ebenen. Einige der erwähnten Unternehmen haben sich d ­ azu entschlossen, Compliance organisatorisch in einer Vorstands­ funktion zu verankern, also Compliance einen hierarchisch höheren Stellenwert zu geben. Neben dieser Sofortmaßnahme zur Wiederherstellung des Vertrauens der Anleger, Kunden und untersuchenden Be­ hörden geht es auch um das klare Signal nach innen. Die neue Unternehmensführung muss sich authentisch, über­ zeugend und unmissverständlich zu rechtlich-moralisch ein­ wandfreiem Handeln bekennen und diese Botschaft ins ­Unternehmen tragen. Der sogenannte „tone from the top“ ändert sich damit fundamental, und Maßnahmen werden



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ergriffen, dass dieser bis zum letzten Mitarbeiter vernom­ men wird. Wer Null-Toleranz bei gesetzes- und regelwidrigem Ver­ halten predigt, muss auch danach handeln. Der „tone from the top“ erweist sich letztlich erst dann als glaubwürdig, wenn Compliance-Verstöße ohne Ansehen der Person bzw. ohne Rücksicht auf deren Position geahndet werden. Nach mittlerweile ganz überwiegender Auffassung ist der Vor­ stand einer Aktiengesellschaft auch rechtlich verpflichtet, festgestellte Compliance-Verstöße zu sanktionieren19. Ein Entschließungsermessen – mithin ein Ermessen hinsichtlich der Entscheidung über das „Ob“ der Sanktionierung – steht ihm nicht zu. In Bezug auf Art und Umfang der Sanktionie­ rung (arbeitsrechtliche Sanktionen, Geltendmachung von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen, Initiierung von ­ Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren) ist jedoch der Anwendungsbereich der unternehmerischen Ermessenent­ scheidung (Business Judgement Rule, vgl. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) eröffnet20. Aus seiner unternehmerischen Gesamtverantwortung, sei­ ner Pflicht zur Aufsicht und zum Risikomanagement ergibt sich für die Geschäftsführung meist die Notwendigkeit, eine der Größe und Geschäftsstruktur des Unternehmens ange­ messene Compliance-Organisation aufzubauen21. Es ist aber 19  Vgl. Fleischer, in: Spindler  / Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 91 Rn. 56; Reichert / Ott, Non Compliance in der AG. Vorstands­ pflichten im Zusammenhang mit der Vermeidung, Aufklärung und Sanktionierung von Rechtsverstößen, ZIP 2009, S. 2173 (2178 f.); Schneider, Compliance als Aufgabe der Unternehmensleitung, ZIP 2003, S. 645 (649 f.); Hauschka / Greve, Compliance in der Korrup­ tionsprävention – was müssen, was sollen, was können die Unter­ nehmen tun?, BB 2007, S. 165 (171 f.). 20  Vgl. Fleischer (Fn. 19), § 91 Rn. 56; Reichert / Ott (Fn. 19), S.  2178 f.; Schneider (Fn. 19), S. 649 f.; Hauschka / Greve (Fn. 19), S.  165 (171 f.). 21  Schneider (Fn. 19), S. 645; Hauschka, Compliance am Beispiel der Korruptionsbekämpfung, ZIP 2004, S. 877; Wolf, Corporate Compliance – ein neues Schlagwort? Ansatzpunkte zur Umsetzung

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klar herauszustellen, dass eine solche Compliance-Organisa­ tion das Management nur unterstützt, die Führungskräfte daher nicht ihrer Compliance-Verantwortung enthebt und durch die Expertise einer internen Fachorganisation ersetzt. Vielmehr bleibt die Letztverantwortung für Compliance bei der Unternehmensführung bestehen22. Um die Unabhängigkeit der Compliance-Beauftragten des Unternehmens sicherzustellen, sollten diese nicht ausschließ­ lich an disziplinarische Vorgesetzte in den Geschäften, son­ dern in die Fachorganisation hinein berichten. Gerade in großen Unternehmen würde der Vorstand ein einsamer Prediger in der Wüste bleiben, wenn er nicht sein oberes und mittleres Management dazu in die Lage versetzt, den „tone from the top“ in die breite Mannschaft zu tragen. Schöne CEO-Letter werden da wenig bewirken, vielmehr geht es darum, die Führungskräfte für Compliance zu ge­ winnen und sie darin zu schulen, Compliance-Probleme zu adressieren und zu lösen. Insbesondere müssen sich die Führungskräfte den „tone from the top“ selber zu eigen ma­ chen, also die Priorität von Compliance jederzeit deutlich machen. In der Ausübung dieses „tone from the middle“ geht es dann darum, die Mitarbeiter zu ermutigen, Compliance-Probleme anzusprechen, z. B. im Vertrieb in schwieri­ gen Ländern, regelmäßig Compliance-relevante Themen in Team Meetings zu erläutern, die richtigen Kontrollinstru­ mente einzusetzen und idealerweise zu versuchen, Compliance als Wettbewerbsvorteil auszuspielen, z. B. durch Festi­ gung des Vertrauensverhältnisses zu den Kunden.

der Compliance in der Finanzberichterstattung, DStR 2006, S. 1995; Rodewald / Unger, Kommunikation und Krisenmanagement im Ge­ füge der Corporate Compliance-Organisation, BB 2007, S. 1629. 22  Vgl. Verse, Compliance im Konzern. Zur Legalitätskontroll­ pflicht der Geschäftsleiter einer Konzernobergesellschaft, ZHR 175 (2001), S. 402 (413); Bürkle, in: Hauschka (Hg.), Corporate Com­ pliance, 2. Aufl. 2010, § 8 Rn. 63 ff.



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b) Das Compliance-Programm Kernstück der Compliance-Vorkehrungen in einem Un­ ternehmen, das die oben beschriebene unternehmerische Verantwortung ernst nimmt, ist weiterhin ein dem Risiko und der Größe des Unternehmens angemessenes Com­pliance Management System oder Compliance Programm23. Dieses umfasst gleichermaßen präventive, kontrollierende und sanktionierende Maßnahmen. Zu den präventiven Maßnahmen gehören vor allem das Aufstellen und die Kommunikation von klaren und ver­ ständlichen Prinzipien und Regeln. Diese beruhen zum einen auf gesetzlichen Vorgaben, zum anderen auf internen Vor­ schriften und den Werten des Unternehmens. Verbindliche Unternehmensleitlinien (Code of Conduct), bilden dabei das Fundament für die spezialisierteren Richtlinien (policies). Der Code of Conduct stellt daher eine Art interne Verfas­ sung da. Wichtig ist es, den Sinn und Zweck dieses Regel­ werks herauszustellen und zu vermitteln. Dabei ist auf das oben beschriebene Verständnis unternehmerischer Verant­ wortung zu rekurrieren und darzulegen, wie sich das Unter­ nehmen in Sachen Compliance im Markt positionieren möchte. Das Selbstverständnis des Unternehmens in Form des Code of Conduct, die Unternehmenswerte und die entspre­ chenden Compliance-Vorschriften lassen sich am besten durch Schulungen vermitteln. Präsenzschulungen haben ge­ genüber online-Schulungen den großen Vorteil, dass der Diskussion breiter Raum eingeräumt werden kann. Thema der Schulung sollte auch das Risikoprofil des Unternehmens sein. Ein professionelles Risikomanagement identifiziert die Compliance-Risiken des Unternehmens. Die ComplianceOrganisation hat dann die Aufgabe, Instrumente zu ent­ wickeln, mit deren Hilfe diese Risiken bewältigt werden 23  Ausführlich zum Thema Compliance-Konzept etwa Buff (Fn. 3), S. 273 ff.

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können. Ein hohes Compliance-Risiko besteht oftmals beim Einsatz von Geschäftspartnern, die im Auftrag und mit Ver­ gütung des Unternehmens Geschäfte vor allem mit öffent­ lichen Auftraggebern anbahnen. Diese Berater, Lobbyisten, Vertriebsvermittler und alle anderen Mitarbeiter, die auf Entscheidungen von Amtsträgern einwirken, sind einer In­ tegritätsprüfung zu unterwerfen. Hier haben z. B. Siemens und Ferrostaal ein IT-gestütztes Business Partner (BP) Compliance Screening System (Tool) entwickelt, mit dem eine Risikoklassifizierung von Geschäftspartnern vorgenommen ­ und entsprechende vertragliche Vorkehrungen im weiteren Freigabeprozess eingebaut werden können. Zu der Kontroll-Dimension des Compliance-Programms gehört vor allem die Integration von Compliance-Kontrollen in das interne Kontrollsystem (IKS) des Unternehmens. Ziel muss es sein, Compliance in die Geschäftsprozesse zu inte­ grieren. Daher benötigen Compliance Officer gute Kenntnis­ se der Geschäftsabläufe, um operativ, d. h. beratend und kontrollierend tätig sein zu können. Gerade Unternehmen, die in einen Korruptionsfall ver­ strickt sind, weisen regelmäßig Kontrollschwächen auf. Die­ se müssen systematisch behoben werden. Ein solches Opti­ mierungsprogramm ist unter dem Namen „Remediation“ bekannt und reicht von der Analyse der Risikosituation über das Design und die Implementierung von Kontrollen bis hin zum Test und der Auditierung der Wirksamkeit der Kontrollen. Immer mehr Unternehmen halten es außerdem für sinnvoll, das IKS und damit die Compliance-Kontrollen durch ein sogenanntes Hinweisgebersystem (Whistle Blowing System) zu ergänzen. Dieses verschafft dem Unternehmen die Möglichkeit, auch anonyme Hinweise auf Fehlverhalten aufzugreifen und diese abzustellen. Letztere Tätigkeit verweist auf die dritte Dimension des Compliance-Programms, nämlich Regelverstöße aufzuklären und konsequent zu sanktionieren. Ob diese Maßnahmen al­ leine von der Personalabteilung oder von einem interdiszip­ linären Compliance Sanctioning Committee durchgeführt



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werden, ist eine organisatorische Entscheidung des Unter­ nehmens. Die Wirksamkeit des Compliance-Programms kann ent­ scheidend erhöht werden, wenn vorbildliches Verhalten be­ lohnt wird und eine schwache Compliance Performance sich nachteilig auf die variable Vergütung auswirkt. Jedoch geht es bei Compliance-bezogener Incentivierung nicht darum, die Führungskräfte durch finanzielle Anreize erst dazu zu bringen, sich an Gesetze und interne Richtlinien zu halten, sondern dass diese in ihrem Verantwortungsbereich das Compliance-Programm konsequent umsetzen und Fort­ schritte im Aufbau einer Integritätskultur erzielen. In gewis­ ser Weise werden hier Best Practices in Sachen Compliance belohnt. Es stehen dabei inzwischen eine Reihe von Mess­ kriterien zur Verfügung, wie z. B. die Mitarbeiterbefragung. Die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit des ComplianceProgramms hängt letztlich vom Zusammenspiel der drei Di­ mensionen ab: Nur wenn ein hohes Bewusstsein für Recht und Moral im Unternehmen herrscht, eine Wachsamkeit für Compliance-Risiken besteht und Fehlverhalten aufgedeckt und konsequent sanktioniert wird, „lebt“ das ComplianceProgramm. Vieles, was unter dem Titel Compliance be­ schrieben oder umgesetzt wird, beinhaltet nur das Pflicht­ programm. Compliance kann aber, richtig angewandt, von einer conditio sine qua non der guten Unternehmensführung in einen Wettbewerbsvorteil verwandelt werden. Erst durch die Kür unterscheiden sich die Unternehmen voneinander und können sich im Wettbewerb positionieren. 2. Die Außenperspektive Korruptionsbekämpfung ist heute auch ein großes Thema der Zivilgesellschaft. Die Nichtregierungsorganisation Transparency International ist mittlerweile nicht mehr das einzige Sprachrohr dieser Bürgerbewegung. Vielfältig sind die Bei­ spiele kreativer und wirkungsvoller Initiativen, insbesondere in der Dritten Welt. Der Hungerstreik des indischen Akti­

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visten Anna Hazare erlangte erhebliches Medieninteresse und übte Druck auf das indische Parlament aus, die AntiKorruptionsgesetze zu verschärfen24. Unter dem Namen „Collective Action“ sind seit einigen Jahren Initiativen von meist großen Unternehmen bekannt, in denen sich diese z. B. im Rahmen von öffentlichen Aus­ schreibungen bereit erklären, sogenannte Integrity Pacts zu unterschreiben, in denen sie sich verpflichten, ihre Produkte und Services in fairer, d. h. vor allem korruptionsfreier Wei­ se anzubieten25. Die Einhaltung dieser Integrity Pacts wird von einem neutralen Monitor (z. B. Transparency Internatio­ nal) überwacht. Der Wettbewerbsvorteil für die Mitglieder einer Collective Action besteht darin, dass sie zum einen bei öffentlichen Ausschreibungen (in einer zunehmenden Zahl von Staaten) bevorzugt werden und zum anderen dem Kun­ den die Sicherheit geben, bei ihnen in vertrauenswürdigen Händen zu sein. Collective Action bzw. Integrity Pacts mag für viele Un­ ternehmen noch eine Vision oder Neuland darstellen, in manchen Ländern verlangen aber die ausschreibenden Be­ hörden bereits die Zustimmung der Unternehmen zu sol­ chen Integritätspakten, wenn diese sich für eine Ausschrei­ bung qualifizieren wollen. Im Übrigen ist schon seit längerem zu beobachten, dass sich nicht nur ökologisch vorbildliches Verhalten für die Unternehmen auszahlt, sondern auch ethisches Verhalten bei Kunden, bei Bewerbern und Anlegern einen bedeutenden Stellenwert einnimmt. Wie man dieses Verhalten am besten sicherstellt und erfolgreich kommuniziert, ist wiederum eine Kompetenz, mit der man im Wettbewerb steht. Integrität ist am Ende eine Angelegenheit jedes Einzelnen im Unternehmen. Hier können vier einfache Fragen dem Hein, Hungern gegen Bestechung, FAZ v. 24.8.2011, S. 14. World Bank Institute, Fighting Corruption through Collective Action, A Guide for Business, 2008. 24  Vgl. 25  Vgl.



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Mitarbeiter eine erste Orientierung in einer Entscheidungs­ situation geben: – Ist meine Entscheidung im Interesse des Unternehmens? – Ist sie im Einklang mit den Unternehmenswerten und meinen Werten? – Ist sie rechtmäßig? Ist sie moralisch richtig? – Ist sie etwas, wofür ich persönlich bereit bin, Verantwor­ tung zu übernehmen? Falls die Antwort Ja ist, dann sollte der Mitarbeiter zuver­ sichtlich sein und danach handeln. Dass es bei allen Compliance-Vorkehrungen und Kon­ trollsystemen letztlich um die Menschen geht, die für ein Unternehmen arbeiten, hat in unüberbietbarer Klarheit der bekannte Investor Warren Buffet, CEO der Berkshire Hathaway Inc., zum Ausdruck gebracht: „In looking for people to hire, you look for three qualities: in­ tegrity, intelligence, and energy. And if you don’t have the first, the other two will kill you.“26

26  Zitiert nach Kilpatrick, Of Permanent Value: The Story of Warren Buffett, Bd. 2, 2010, S. 1141.

Das Völkerrecht des Kolonialismus: No peace between the lines? Von Jörn Axel Kämmerer, Hamburg* 1

I. Zur Einführung: Landnahme im Früh- und Hochkolonialismus Die Paraphrase im Titel dieses Beitrags ist durchaus pro­ grammatisch zu verstehen. Sie rührt an die Frage, ob sich im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht eine Landnahme zugetra­ gen hat, die ähnliche Züge aufweist wie die Aufteilung der Welt zur Zeit der iberischen Conquista – und die zu ähnlich gravierenden Umbrüchen in den rechtlichen Ordnungen führte. In beiden Fällen ist Kolonisation und die Aufteilung überseeischer Gebiete unter die Hoheit europäischer Mächte Auslöser der Wandlungen – die sich retrospektiv wie „Häu­ tungen“ des internationalen Rechts darstellen. Dieser Beitrag geht auf Abgrenzung kolonialer Herrschaftsbereiche in ihrer Bedeutung als ordnungsstiftende Größe ein, will aber auch der Frage nachgehen, ob und inwieweit solcher territorialen Aufgliederung überseeischer Räume nicht ein Defizit im Be­ reich des übrigen materiellen Völkerrechts gegenübersteht. Mit der von Francis Drake geprägten Formel „no peace beyond the line“ wurde der Rechtszustand (oder, nach an­ *  Prof. Dr. Jörn Axel Kämmerer, Maîtrise en droit (Aix-en-Pro­ vence  /  Marseille III), war von 1991 bis 1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und von 1995 bis 2000 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Wolfgang Graf Vitzthum. Er hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft – in Hamburg inne und ist Co-Direktor des Instituts für Unternehmens- und Kapital­ marktrecht (IUKR).

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derer Betrachtungsweise, rechtsfreie Zustand)1 umschrie­ ben, der sich nach der Entdeckung Amerikas zwischen den europäischen Seemächten etabliert hatte und der durch den Frieden von Cateau-Cambrésis im Jahre 1559 förmlich be­ stätigt wurde2. Der Versuch Spaniens und Portugals, mit päpstlicher Autorität ausschließliche Nutzungssphären zu schaffen3, wurde durch die anderen, vorwiegend protestan­ tischen, Seemächte unterlaufen, die nicht nur Beutezüge auf spanische (Silber-)Transportschiffe verübten, sondern auch in die von den Iberern beanspruchten Gebiete einfielen4. Die aus Konkurrenzstreben geborene „verrechtlichte Recht­ losigkeit“, die in einem Gebiet westlich des Längengrades der Kanareninsel Hierro und südlich des Wendekreises des Krebses herrschte5, wurde erst gegen Ende des 17. Jahrhun­ derts durch kooperative Mechanismen abgelöst. Zumindest für die Meere und damit die Handelswege ist die Entste­ hung des Ius Publicum Europaeum also mit derjenigen einer Friedensordnung verbunden, die weltweit Geltung bean­ spruchte, wenn auch nur für die europäischen Mächte: Das aus dem Westfälischen Frieden geborene Ius Publicum Europaeum schloss bis in das 19. Jahrhundert hinein nichteu­ ropäische Mächte von seinem Geltungsbereich aus, beab­ sichtigte deren Aufnahme auch nicht und wurde so zu einer partizipativ und funktional begrenzten „Clubsatzung“6, die auf einen universalen Geltungsanspruch verzichtete. Gegen­ über der Vorstellung, dass parallel hierzu außerhalb seines Wirkungsbereichs (der sich im 19. Jahrhundert auf ganz Eu­ ropa und den größten Teil Amerikas erstreckte) andere – 1  Schmitt,

Der Nomos der Erde, 1950, S. 66 ff. Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 181 ff. 3  Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 348. 4  Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 1984, S. 145. 5  Vgl. Davenport, European Treaties bearing on the History of the U.S. and its dependencies, Vol. I, 1917, S. 220. 6  Kämmerer, Das Völkerrecht des Kolonialismus, VRÜ 39 (2006), S.  397 (400 f.). 2  Grewe,



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außereuropäische – Ordnungen7 existierten, war diese Ord­ nung indifferent, sie stand zu ihrem Selbstverständnis aber auch nicht im Widerspruch. Kontakte mit Mächten, die der „europäischen“ Ordnung nicht unterlagen, waren begrenzt und wurden in ganz unterschiedlicher, häufig pragmatischer Weise ausgestaltet. In Lateinamerika hatte – noch in „vor­ westfälischer“ Zeit – eine politische Unterwerfung einge­ setzt, die letztlich zur „Verstaatsrechtlichung“ der Beziehun­ gen führte. Die Unabhängigkeit der Staaten Mittel- und Südamerikas ist faktisch als Aufnahme dieser Staaten in den „europäischen Club“ zu verstehen, in dem sie aus politi­ schen und demographischen Gründen für die folgenden hundert Jahre allerdings nur eine Randexistenz führten. Mit anderen Mächten – China, aber auch afrikanischen Potenta­ ten – wurde auf faktischer Augenhöhe verhandelt; selbst zu Unterwerfungsgesten (dem sprichwörtlich gewordenen Ko­ tau) waren pragmatisch denkende Europäer, wenn dies ihren handelspolitischen Zielen diente, mitunter bereit8. Dennoch kann den mit solchen Mächten abgeschlossenen Verträgen nicht das Attribut „völkerrechtlich“ zuerkannt werden. Denn so wenig die europäische Seite den Anspruch erhob, die andere Seite dem Ordnungsmodell des Ius Publicum Europaeum zu unterwerfen, so wenig sah sich die andere Seite, wenn sie denn überhaupt eine Vorstellung von diesem Mo­ dell hatte, davon betroffen: Für sie war das europäische Völ­ kerrecht eine res inter alios acta. Der Spätkolonialismus verschob diese Grundkoordinaten, und zwar in stärkerer Weise, als es von seinen Urhebern beabsichtigt war: Zwar hielten die europäischen Mächte der um die Wende zum 20. Jahrhundert abgeschlossenen „Er­ oberung der Welt“ an der „Clubsatzung“-Prämisse und da­ mit am numerus clausus der beteiligten Rechtssubjekte zu­ 7  Beispiele für solche parallelen Ordnungsmodelle ließen sich zwischen den ostasiatischen Gemeinschaften finden, denen vor allem Tributär- und Vasallenverhältnisse zugrunde lagen (Fisch ­ [Fn. 4], S. 37 f.). 8  Fisch (Fn. 4), S. 37 ff.

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nächst fest. Sie gingen jedoch dazu über, die Existenz oder jedenfalls die Gleichrangigkeit anderer regionaler Ord­ nungsmodelle zu negieren9. Kehrseite dieser Negation ist der nun seitens der europäischen Akteure erhobene An­ spruch, nichteuropäische Gebiete rechtswirksam unterwer­ fen zu dürfen. Aus heutiger Sicht hatte dies tatsächlich zur Folge, dass das europäische Völkerrecht alle etwaigen Par­ allelordnungen verdrängte und sich als alleinige – nunmehr universelle – Völkerrechtsordnung etablierte. Unabhängig­ keit, Souveränität und Völkerrechtssubjektivität der „newly independent States“ bestimmten sich in Begriff und Inhalt nach dieser im Ursprung „westfälischen“ Ordnung – weil es keine andere mehr gab. Die Bedeutung des Spätkolonia­ lismus für die Entwicklung des modernen Völkerrechts hier in all ihren Facetten darzustellen, würde den Rahmen die­ ses Beitrags sprengen, der sich auf einen zentralen Aspekt beschränken will: koloniale Grenzziehung und ihren Stel­ lenwert als Eintrittstor für (oder womöglich auch Puffer gegen) das europäische Völkerrecht. Denn die Vermutung, dass Kolonialgrenzen gleichsam rechtsfreien Räumen mit Einflussmonopol bestimmter Mächte Vorschub leisten, liegt nicht ganz fern. Solcher Relativismus – ius ad bellum nach innen, Frieden zwischen den Europäern nach außen – wür­ de sie von den „Freundschaftslinien“ des spanischen Zeit­ alters unterscheiden, die eine Zone des Friedens von der des Krieges trennten10. II. Europäisches Völkerrecht und außereuropäische Ordnungsmodelle im Widerstreit Was sich in Afrika und Teilen Asiens in der Zeit des Spät­ kolonialismus vollzog, wird heute gern nach völkerrecht­ lichen Maßstäben beurteilt: Waren die Indigenen zur Staats­ bildung fähig und konstituierten Völkerrechtssubjekte, die zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge in der Lage wa­ 9  Kämmerer 10  Schmitt

(Fn. 6), S. 403. (Fn. 1), S. 66.



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ren? Lassen sich die Rechtsbeziehungen zwischen Kolonial­ macht und unterworfenem Gebiet als Protektorat verstehen? Galten Prinzipien des humanitären Völkerrechts auch in ­Afrika? Allein die Prämisse, auf der diese Fragen beruhen, ist angreifbar. Die Fragen insinuieren, dass zum Zeitpunkt der rechtlichen und faktischen Kontaktaufnahme der Europäer und der außereuropäischen Gemeinschaften das Völkerrecht als europäisches „Produkt“ deren Rechtsbeziehungen gestal­ tete. Eine universelle Ordnung gab es zu dieser Zeit aber noch nicht, nur die „Clubsatzung“ des Ius Publicum Europaeum. Den Beginn der Kolonisierung markiert die Begeg­ nung dieser Völkerrechtsordnung mit ähnlichen Ordnungen von Nichteuropäern11. Kollisionsrecht, das diese Begegnung hätte abfedern können, stand nicht bereit. Am Ende der Ko­ lonisierung steht der Siegeszug des europäischen Völker­ rechts, das sich mit dem Abschluss auch des Kolonialzeit­ alters zum universellen fortzuentwickeln vermochte. 1. Indigene Ordnungen Auch wenn gegenüber allgemeinen Aussagen Vorsicht ge­ boten ist, kann doch zumindest für Afrika festgehalten wer­ den, dass ein Staatsdenken im europäischen Sinne bis zum 19. Jh. unter Einheimischen nicht existierte. Eindeutige Aus­ sagen positiver Art über das machttheoretische Fundament indigener Ordnungen zu treffen, ist hingegen schwierig: Zeitgenössische Betrachtungen aus Sicht dieser Gesellschaf­ ten sind, da sie meist über keine Schriftsprache verfügten, rar und retrospektive Untersuchungen fast unvermeidlich von der Ideenwelt des Ius Publicum Europaeum, jetzt inter­ nationale, eingefärbt. Trägt man diese Deckschichten ab, tritt die Beschaffenheit indigener Ordnungen – in Afrika jeden­ falls – wie folgt zutage: Land spielte auch für die dortigen Völker eine große Rolle, aber nicht als Konstituens von 11  Zu anderen regionalen Ordnungen siehe Yasuaki, When was the Law of International Society Born?, Journal of the History of International Law 2 (2000), S. 1 (8 ff.).

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Herrschaftsmacht, sondern als spiritueller Wert und Lebens­ substrat zur Siedlung und wirtschaftlichen Nutzung12. Die Basis der Herrschaftsausübung aber war personale Zugehö­ rigkeit13; das Gemeinwesen erscheint als dominium und räumliche Wirkungen nur als Reflex personaler Zuordnung und Zugriffsmöglichkeiten. Der Siedlungsbereich der Tiv in Nigeria beispielsweise fügt sich nach deren Vorstellung aus Raumelementen zusammen, die auf sozialer Zugehörigkeit und genealogischer Abstammung beruhen, und damit aus einer Vielzahl sich überlappender Sphären14. Mit den Domi­ zilen Einzelner und den Verwandtschaftsbeziehungen war auch das „Gebiet“ der Tiv ständigem, wenn auch diskretem Wandel unterworfen. In nicht wenigen Fällen überlappten sich Siedlungs- und Nutzungsgebiete unterschiedlicher Völ­ kerschaften, ohne dass dies zu Konflikten führte. Die Tatsa­ che, dass einige indigene Gemeinschaften die Niederlassung Gruppenfremder im Siedlungsraum des Volkes unter Er­ laubnisvorbehalt stellten15, widerlegt nicht den Befund, dass Herrschaftsausübung in Afrika nicht territorial radiziert war; ihm liegt nicht die Idee des Fremdenrechts zugrunde, sondern vielmehr das Ziel, Nutzungsteilung zu kontrollie­ ren. Dem vom europäischen Völkerrecht abweichenden Konzept der Herrschaftsbegründung entspricht es, dass Grenzen regelmäßig nicht als „boundaries“ oder „borders“, also scharf gezogene Grenzlinien, imaginiert wurden, son­ dern als Puffer- und Kontaktbereiche oder Zonen geringerer Herrschaftsdichte, welche das Englische als „frontiers“ be­ zeichnet16. 12  Allott, Boundaries and the Law in Africa, in: Widstrand (Hg.), African Boundary Problems, 1969, S. 9 (11); Fanso, Traditional and Colonial African Boundaries: Concepts and Functions in InterGroup Relations, Présence Africaine 137–138 (1986), S. 58 (63). 13  Allott (Fn. 12), S. 11; Goody, Technology, Tradition and the State in Africa, 2. Aufl. 1974, S. 30. 14  Fanso (Fn. 12), S. 66. 15  Allott (Fn. 12), S. 11. 16  Ajala, The nature of African Boundaries, Africa Spectrum 18 (1983), S. 177 (178); Shaw, Title to Territory in Africa, 1986, S. 228.



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2. Die Perspektive des Ius Publicum Europaeum Unter Europäern, insbesondere Deutschen, war die Auf­ fassung verbreitet, dass die zu kolonisierenden Gebiete im Rechtssinne terrae nullius darstellten17. Auf den ersten Blick scheint der soeben umrissene Befund sie – ironischerwei­se – zu stützen: Solange und soweit indigene Gemeinwesen auf Territorialität als Legitimationsgrundlage verzichteten, gab es niemanden, der die Gebiete im Sinne territorialer Souve­ ränität in Anspruch nahm. Daraus aber schließen zu wollen, dass sie einer territorialen Aneignung schlechterdings offen stünden, wäre voreilig; denn die Rechtsvorstellung der Indi­ genen schloss diese Option gar nicht ein. Das indigene und das europäische Völkerrecht standen insoweit in sich ver­ säult nebeneinander. Um wirkungsvoll territoriale Herr­ schaft zu begründen, bedurfte es für die Europäer dreierlei: (1) Das Ius Publicum Europaeum musste den Anspruch er­ heben, auch außerhalb seines genuinen Wirkbereichs an­ wendbar zu sein. (2) Es musste für und gegen die Indigenen Wirkung zeitigen. Ihre Völkerrechtsfähigkeit zu negieren, genügte nicht; denn dass sie am europäischen Völkerrechts­ verkehr nicht teilnahmen, ließ sich gewiss nicht bestreiten. Vielmehr bedurfte es der Verdrängung des indigenen Rechts: Ohne sie hätten relative Rechtsverhältnisse persistiert. (3) Schließlich mussten, um territorialen Gebietserwerb zu be­ schließen, auch die Bedingungen, die das europäische Völ­ kerrecht selbst dafür aufstellte, erfüllt sein, insbesondere Effektivität der Herrschaft. Insoweit handelten die Europäer in puncto Grenzziehung mancherorts, wie noch belegt wer­ den soll, auch nach ihren eigenen Maßstäben voreilig.

17  Fisch, Africa as terra nullius: The Berlin Conference and In­ ternational Law, in: Förster / Mommsen / Robinson (Hg.), Bismarck, Europe, and Africa, 1988, S. 347 (356).

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3. Die Rechtspraxis der Kolonialmächte Den europäischen Völkerrechtlern bereitete das Vordrin­ gen ihrer eigenen Rechtsordnung keine geringen Erklärungs­ schwierigkeiten. Eine scheinbar indigenen-freundliche Posi­ tion, welche die Staatseigenschaft und Völkerrechtsfähigkeit afrikanischer Gemeinwesen für möglich erachtete18, muss dem Vorwurf begegnen, dass sie den Ordnungsexternen das eigene – europäische – Recht oktroyierte, also durchaus von rechtsmissionarischem Geiste beseelt war19. Die Res-nulliusThese ist nicht nur im theoretischen Ansatz konsequen­ ter – was keiner europäischen Macht unterstand, konnte nun einmal keinem von dieser Ordnung anerkannten und sie konstituierenden Rechtssubjekte gehören – und scheint auch in der kolonialen Unterwerfungspraxis eher Bestätigung zu finden. Doch auch sie ist insoweit doppelbödig, als sie nicht ignorieren konnte und wollte, dass auf den zur Kolonisie­ rung bestimmten Gebieten durchaus Herrschaftsstrukturen bestanden und dass daher nicht ohne weiteres wie bei einer unbewohnten Insel eine einseitige Inbesitznahme zu erfol­ gen vermochte. Die Kongo-Akte von 1884 nimmt eine gleichsam neutrale Position zur Legitimität indigener Herr­ schaft einerseits und europäischer Machtausdehnung ande­ rerseits ein. Der Wortlaut ihrer Artikel 34 und 35, wo von „prendre possession d’un territoire“ die Rede ist, steht im Kontrast zur Überschrift dieses Abschnitts der Akte, die von „occupations nouvelles“ spricht. Eine mögliche Aner­ kennung indigener Herrschaft durch europäische Mächte deutet der Schlusssatz von Artikel 1 Abs. 3 der Kongo-Akte an: „Les Puissances conviennent d’employer leurs bons of­ fices auprès des gouvernements établis sur le littoral africain de la mer des Indes afin d‘obtenir ledit consentement et, en tout cas, d‘assurer au transit de toutes les nations les condi­ 18  Salomon, De l’occupation des territories sans maîtres, 1889, S.  200 ff.; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 5. Aufl. 1911, S. 279. 19  Fisch (Fn. 4), S. 319.



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tions les plus favorables.“ Da alle europäischen Mächte, die am Indischen Ozean Kolonien unterhielten, auch Vertrags­ parteien der Kongo-Akte waren, ergibt diese Bestimmung nur Sinn, wenn man sie auf afrikanische Potentaten bezogen versteht. Dabei dürften die Europäer allerdings weniger Stammeshäuptlinge im Auge gehabt haben als z. B. den Sul­ tan von Sansibar oder den Kaiser von Äthiopien. Der sehr vage Begriff „gouvernement“ lässt die Natur und Grundlage ihrer Herrschaftsausübung letztlich offen. Die Durchsetzung der europäischen Ordnung erfolgte über territoriale Überlagerung, welche die Entfaltung der personal determinierten Rechtsbeziehungen störte20, und de­ ren zentrales Moment die Grenzziehung war. Sie erleichter­ te staatsrechtliche Absorption von Rechtsverhältnissen. In einigen Fällen scheinen indigene Gemeinwesen und ihre Herrscher auch an den Rechtskreis des Ius Publicum Europaeum herangeführt worden zu sein; sie aber blieben Aus­ nahmekonstellationen. Die einseitige Unterwerfung wurde, weil sie Konflikte mit den Indigenen auslöste, gemieden. Vielfach wurde die Landnahme vertraglich (und dabei oft auf der Basis von Formverträgen)21 geregelt22. Da Europäer und Indigene nicht nur meist keine gemeinsame Sprache, sondern vor allem keine gemeinsame Rechtsordnung kann­ ten, bereitet die rechtliche Zuordnung dieser Verträge Schwierigkeiten23. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob den Indigenen die Intentionen der Europäer in den Ver­ tragsverhandlungen offen gelegt worden sind, ob die Indige­ nen eine Vorstellung von der (ihren eigenen Ordnungen we­ 20  Eckert, 125 Jahre Berliner Afrika-Konferenz: Bedeutung für Geschichte und Gegenwart, GIGA Focus Afrika 12 / 2009, S. 1 (4). 21  Für eine Vielzahl derartiger Formverträge siehe Hertslet, The Map of Africa by Treaty, Vol. I, 3. Aufl. 1967, S. 131 ff. 22  Allott, Boundaries in Africa: A Legal and Historical Survey, in: Mensah-Brown (Hg.), African International Legal History, 1975, S. 69; ders. (Fn. 12), S. 13; Shaw (Fn. 16), S. 230. 23  Vgl. Umozurike, International Law and Colonialism in Afri­ ca, 1979, S. 43 ff.; Allott (Fn. 12), S. 9 (14).

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sensfremden) territorialen Souveränität hatten oder die Eu­ ropäer24, was nicht selten vorkam, Zwang25 oder Täuschung verübten (die berühmtesten Fälle dieser Art sind wohl der Vertrag von Waitangi von 1840, dessen Textfassungen in Englisch und Maori unterschiedliche Bedeutung hatten26, und der zwischen Adolf Lüderitz und den Nama abge­ schlossene Vertrag über das Gebiet von Angra Pequena, in dem verheimlicht wurde, dass deutsche Landmeilen – 7,532 km – und nicht die den Nama vermutlich einzig ver­ trauten britischen Meilen gemeint waren27). Der intrikaten Frage, wonach sich die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit dieser Verträge bestimmte, kann an dieser Stelle nicht nach­ gegangen werden28. Einer bestimmten Rechtsordnung (Ius Publicum Europaeum oder indigenes Völkerrecht) lassen sie sich jedenfalls nicht zuordnen. In Betracht kommt neben Naturrecht eine „bifokale“ Betrachtung nach beiden Ord­ nungen zugleich, aber auch die Verneinung jeglichen Rechts­ charakters. Mit der Etablierung von Kolonien und damit staatsrechtlichen Strukturen besonderer Art verloren die Verträge jedenfalls ihre allfällige Bindungswirkung oder gin­ gen im Staatsrecht auf29, womit sich das Problem der Ord­ nungsdivergenz nicht mehr stellte.

24  Touval, Treaties, Borders, and the Partition of Africa, Journal of African History 7 (1966), S. 279 (285). 25  Vgl. Touval (Fn. 24), S. 283. 26  Illustrativ Palmer, The Treaty of Waitangi in New Zealand’s Law and Constitution, 2008, S. 61 f. (Textvergleich); ferner Kleinschmidt, Das europäische Völkerrecht und die ungleichen Verträge um die Mitte des 19. Jahrhunderts, 2007, S. 71 f. 27  Wagner, Die deutschen Schutzgebiete, 2002, S. 69. 28  Vgl. Zeller, Ex Facto Ius Oritur, 2006, S. 121 ff. 29  Vgl. für den Schutzvertrag mit den Herero: Kämmerer / Föh, Das Völkerrecht als Instrument der Wiedergutmachung, AVR 42 (2004), S. 294 (320).



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III. Grenzziehung als Element kolonialer Landnahme Europäische Grenzziehung in Afrika und Vordringen so­ wie Vorranganspruch des Ius Publicum Europaeum gingen Hand in Hand und bedingten einander auch30. Bei beiden handelt es sich um Prozesse, die allmählich Eigendynamik gewannen und durch die Berliner Konferenz beschleunigt wurden31. Anders als vielfach behauptet wird, war diese Konferenz nicht unmittelbar auf eine territoriale Aufteilung Afrikas gerichtet – viel wichtiger war den Europäern die Si­ cherung von Nutzungsvorrechten32 –, sie bereitete ihr aber den Boden und lieferte ihr faktisch Vorschub. Insbesondere katalysierte die Existenz des in Berlin sowohl anerkannten als auch scheinbar domestizierten Kongo-Freistaats die ter­ ritoriale Durchwirkung des Kontinents. Obschon allen Be­ teiligten bewusst war, dass es sich hierbei um eine artifiziel­ le Schöpfung handelte, hinter welcher einzig der belgische König stand, behandelten die europäischen und amerikani­ schen Mächte den Kongo als vollwertigen Staat33. Anders als Liberia, das 1847 unabhängig wurde (und in Wahrheit auf der Kolonialherrschaft freigelassener amerikanischer Sklaven über eine afrikanische Bevölkerung beruhte), und Äthiopien war dem Kongo-Freistaat der unbedingte Wille nach einer territorialen Abgrenzung zu eigen, die in der Definition von „boundaries“ resultierten musste. Die anderen Europäer wa­ ren als angrenzende Mächte hiervon nicht nur direkt betrof­ 30  Hargreaves, The Berlin Conference, West African Bounda­ ries, and the Eventual Partition, in: Förster / Mommsen / Robinson (Hg.), Bismarck, Europe, and Africa, 1988, S. 313 (317). 31  Geiss, Free Trade, Internationalization of the Congo Basin, and the Principle of Effective Occupation, in: Förster / Mommsen /  Robinson (Hg.), Bismarck, Europe, and Africa, 1988, S. 263 (264). 32  Fisch (Fn. 17), S. 350; Johnston, Sovereignty and Protection, 1973, S. 183. 33  Crowe, The Berlin West African Conference, 1942, S. 142– 151; Wesseling, Teile und Herrsche. Die Aufteilung Afrikas 1880– 1914, 1999, S. 113 f.

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fen, sondern schlossen sich diesem Trend zur „Territoriali­ sierung“ Afrikas auch bereitwillig an. 1. Von Interessensphären zu „boundaries“: Koloniale Territorialisierung mit Hilfe intereuropäischer Grenzverträge Der soeben umrissene Wettstreit um territoriale Souverä­ nität und Abgrenzung ist etwas Neues in der Geschichte europäischer Präsenz nicht nur in Schwarzafrika, sondern auch in Süd- und Südostasien, die in beiden Fällen mindes­ tens ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Dazu mag beigetragen haben, dass auch das europäische Völkerrecht bis ins 19. Jahrhundert territoriale Zuordnung nicht notwendigerweise als eine exklusive begriff34 – wie an zahlreichen Kondomini­ en, Koimperien und Protektoraten ablesbar ist, die heute gerade einmal für Fußnoten in Völkerrechtslehrbüchern gut sind. Territoriale Souveränität wurde auch nicht als absolu­ ter Wert verstanden; in Afrika dominierten Handelsinteres­ sen, die von halbprivaten, oft mit Hoheitsmacht belehnten Kolonialgesellschaften35 verfochten wurden. Sicherung kom­ merzieller Einflusssphären und Etablierung von Handelsnie­ derlassungen36, nicht territoriale Demarkation war das ei­ gentliche Ziel von Gebietsaufteilungsverträgen, wie sie für Afrika auch im 18. Jahrhundert schon abgeschlossen wurden (wie z.  B. der französisch-britische Senegal-Vertrag von 1783). Die Aufteilung Afrikas in Interessen- und Einfluss­ phären nach 1880 folgt scheinbar diesem Muster37, bereitet aber in Wahrheit den Boden für eine regelrechte Gebietsauf­ teilung. Als typisches Beispiel für eine Regelung von Inter­ essenzonen darf der „Vertrag über Helgoland und die Kolo­ 34  Zur Entwicklung der Bedeutung territorialer Abgrenzungen von Staaten vgl. Schmitt (Fn. 1), S. 96 ff. 35  Wagner (Fn. 27), S. 27 ff. 36  Hargreaves (Fn. 30), S. 317. 37  Grewe (Fn. 2), S. 555 ff.



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nien“ vom 1.7.189038 gelten, in dem Deutschland entgegen landläufiger und leider beharrlicher Ansicht keineswegs San­ sibar gegen Helgoland eintauschte39, sondern den Briten ge­ gen den Erwerb territorialer Souveränität über Helgoland lediglich den Einfluss über Sansibar überließ; die Insel wur­ de 1890 britisches Protektorat. Erst die imperiale Ideologie erhob kolonialen Territorialbesitz, Souveränität also (oder zumindest Suzeränität), zum Eigenwert. Sich dem Trend zu widersetzen und sich weiter auf Handelswege zu konzen­ trieren, hätte einen europäischen Staat von kolonialen Akti­ vitäten mittelfristig ausgeschlossen; denn die „Plätze an der Sonne“40 waren begrenzt und territoriale Souveränität das Recht, andere von Nutzung und Handel auszuschließen (so­ fern es nicht vertraglich, wie in der Berliner Schlussakte für das Kongo-Becken, anders verfügt war). Dies hatte Folgen für die Grenzziehung: Solange Handel im Vordergrund stand, reichte eine grobe Abgrenzung der Einflussbereiche meist aus; sie reichten so weit, wie Han­ delsinteressen durchsetzbar waren. Im ausgehenden 19. Jahrhunderts aber folgte auf die Aufteilung in Interessen­ sphären rasch eine in bilateralen Verträgen mehr oder min­ der präzise vorgenommene Ziehung von Grenzlinien im Sinne territorialer „boundaries“, in denen sich immer stärker der Wunsch manifestierte, absolute Gebietshoheit zu erlan­ gen, die gegenüber europäischen Staaten verteidigt werden konnte.41 Wenn „boundaries“ dazu dienen, zwei unter terri­ torialer Souveränität stehende Gebiete voneinander zu schei­ den, musste allerdings eine Vielzahl der Verträge für – zu­ 38  Das Staatsarchiv. Sammlung der offiziellen Aktenstücke zur Geschichte der Gegenwart, 51. Bd., 1891, S. 151. 39  Kämmerer (Fn. 6), S. 406. 40  Die Metapher wurde durch Bernhard von Bülow, damals Staatssekretär des Äußeren, geprägt, der eine expansive Kolonial­ politik befürwortete: „Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ (Reichstagsdebatte vom 6.12.1897). 41  Touval (Fn. 24), S. 280 f.; Ajala (Fn. 16), S. 179.

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mindest schwebend – unwirksam erachtet werden; denn nur selten hatten die Europäer dort, wo die Gebiete nach Brei­ ten- und Längengraden, Gewässerläufen oder Wasserschei­ den auf der Landkarte durch bilaterale Grenzkommissionen aufgeteilt wurden, bereits effektive Herrschaft etabliert42. Die deutsch-britischen Grenzverträge von 1885 und 1886 definierten den „Río del Rey“43 als Grenze zwischen Nige­ ria und Kamerun, bis sich im Jahre 1890 herausstellte, dass dieser Fluss gar nicht existierte44. Auch im sog. Gebiet Yola scheiterte die Grenzziehung, weil beide Mächte sich hierfür auf astronomische Bestimmung der Koordinaten, nur nicht auf Einzelheiten der Methode geeinigt hatten45. So entstan­ den vielfach bestenfalls „inchoate titles“,46 die sich erst mit Effektivität der Beherrschung beiderseits der Linie – welche auch die Berliner Schlussakte von 1884 zum Maßstab erklär­ te – zu territorialer Souveränität verdichten konnten. Die im Vergleich zur bloß kartographischen Abgrenzung, die keine gefahrvolle Reise erforderte, wesentlich größere Herausfor­ derung bestand in der Demarkation dieser Reißbrettgrenzen, vor allem wo sie Längen- und Breitengraden folgten, auf dem Terrain; aber gerade sie vermochte die Fähigkeit der europäischen Kolonialmächte zur tatsächlichen Beherr­ schung zu unterstreichen.

42  Zeller (Fn. 28), S. 180, 187; Prescott, Political Frontiers and Boundaries, 1987, S. 50; Kennedy, Salisbury 1830–1903: Portrait of a Statesman, 1953, S. 224 (zit. n. Prescott, ebd.). 43  Vertrag zwischen Großbritannien und Deutschland vom 14.4.1893, vgl. Hertslet, The Map of Africa by Treaty, Vol. III, 1967, S. 910. 44  Hargreaves (Fn. 30), S. 316, 319. 45  Prescott, The Evolution of Nigeria’s International and Region­ al Boundaries: 1861–1971, 1971, S. 37 (zit. n. Fanso (Fn. 12), S. 68). 46  Schmitt (Fn. 1), S. 189; siehe zu dem Begriff auch Oppenheim, International Law. A Treatise, Vol. 1, 1912, § 223.



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2. Grenzen nach indigener Rechtsvorstellung Vom europäischen Verständnis von Grenzziehung unter­ schied sich die afrikanische Konzeption diametral. Da sie Herrschaft personal begründete und ihre räumliche Ausdeh­ nung insofern fluktuierte, waren die von den Europäern ein­ geführten festen Grenzlinien mit den indigenen Vorstellun­ gen unvereinbar47; ja mehr als das: Sie machten dieses Herr­ schaftskonzept, wie man sehen wird, zunichte. Zwischen Herrschaftsbereichen der Indigenen bestanden Kontakt-, Puffer- und Übergangszonen – „frontiers“ oder „border zones“48. Begünstigt wurden solche Ordnungen durch Fak­ toren wie geringe Bevölkerungsdichte (anders als in Europa bestand keine Raumknappheit), die Verbreitung nomadi­ scher Lebensweisen (Ackerbaunationen neigen eher zu scharfer Grenzziehung) und das fast völlige Fehlen von Schriftkulturen, womit komplexen Vertragswerken ein Rie­ gel vorgeschoben war. Auch wenn sich Asien in mancher Hinsicht unterschied, wohnte auch dort Grenzen nicht die gleiche Unbedingtheit inne wie in Europa. Das chinesische Ordnungsmodell lässt sich als ein System konzentrischer Kreise wiedergeben49, das äußere Begrenzungen zu Mäch­ ten, die auf gleicher Rangstufe standen wie China, im Grun­ de gar nicht vorsah. Es war aber pragmatisch genug, Grenz­ verträge dennoch zuzulassen, wie jene mit Russland von 1689 und 1727, in denen die noch heute geltende Grenze zwischen Russland, der Mongolei und China präzise be­ stimmt wurde50. Auch im Hochkolonialismus wurden viel­ 47  Fanso (Fn. 12), S. 60; Shaw (Fn. 16), S. 228; Brownlie, African Boundaries. A Legal and Diplomatic Encyclopedia, 1979, S. 6. 48  Shaw (Fn. 16), S. 27; Ajala (Fn. 16), S. 178 f. 49  Ptak, Die Paracel- und Spratley-Inseln in Sung-, Yüan- und früheren Ming-Texten: ein maritimes Grenzgebiet?, in: Dabring­ haus / ders. (Hg.), China and her neighbours: boarders, visions of other, foreign policy 10th to 19th century, 1997, S. 159 (178) m. w. N. 50  An diesen Verträgen hatte vor allem Russland, das sich Jagd­ gründe für Zobel sichern wollte, ein markantes Interesse. Das chi­

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fach Grenzverträge mit unterschiedlichen Funktionen zwi­ schen Europäern und Indigenen abgeschlossen. Verträge, in denen sich die europäischen Mächte von indigenen Potenta­ ten Einfluss zusichern ließen, um die zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgte intereuropäische Aufteilung dieser Gebiete in Gebietserwerb umzumünzen, zählten eigentlich nicht in die Kategorie der Grenzverträge, weil sie damit ihren Ein­ fluss in den afrikanischen Gebieten über den Schein des Konsens mit Legitimität bemäntelten. Dennoch nutzten die Europäer derartige Abkommen, um ihren Gebietserwerb zu legitimieren51, so dass auch diese Form von Verträgen zur Verfestigung der zuvor intereuropäisch gezogenen Grenzen führte und die indigene Raumordnung durch das europäi­ sche Konzept beeinträchtigte. Auch „Zessionsverträge“ sind in größerer Zahl nachweisbar. Selbst wo Indigene die Vor­ stellung davon hatten, überhaupt mit solchen eine gebiets­ rechtliche Verfügung vorzunehmen, wich ihr Verständnis von der Bedeutung dieses Rechtsakts von dem der Europäer ab: Dass das Gebiet jenseits eines Flusses nunmehr einer an­ deren europäischen Macht zugewiesen war als das diesseitige Ufer, schloss nicht die Vorstellung ein, dass es damit auch für die Indigenen „fremdes Hoheitsgebiet“ sein würde52. In­ sofern trugen indigene Potentaten, ohne es zu wollen, mit ihrer Billigung der Grenzziehung dazu bei, dass Lebensräu­ nesische Kaiserhaus wich der Frage, ob Russland von vorherein als tributpflichtige Macht angesehen werden musste oder sich durch den Vertragsschluss (aus chinesischer Sicht) inzident dem „Reich der Mitte“ unterworfen hatte, im Ergebnis aus – was dadurch er­ leichtert wurde, dass der authentische Vertragstext lateinisch for­ muliert war. Ob und inwieweit es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag im Sinne des Ius Publicum Europaeum handelte, ist auch hier eine offene Frage. – Vgl. Weiers, Die Verträge zwischen Russ­ land und China 1689–1881, 1979; ders., Der russisch-chinesische Vertrag von Burinsk vom Jahre 1727, in: Florilegia Manjurica in memoriam Walter Fuchs, 1982, S. 186 ff.; Walravens (Hg.), Julius ­Klaproth: Briefe und Dokumente, 1999, darin insbes.: Die Russi­ sche Gesandtschaft nach China im Jahre 1805, S. 187 ff. 51  Allott (Fn. 12), S. 14; Touval (Fn. 24), S. 288. 52  Fanso (Fn. 12), S. 71 f.



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me ihres eigenen Volkes zerschnitten wurden. Kaum ein Ge­ genstand illustriert besser als solche „Grenzverträge“ die Unvereinbarkeit juristischer Verständnishorizonte im Mo­ ment der Begegnung des Ius Publicum Euro­paeum mit au­ ßereuropäischen Ordnungen. Staat, Gebiet, Grenze waren Begriffe, über die ein Konsens nicht erreicht werden konnte, weil sie allesamt unauflöslich mit europäischen Rechtsideen verbunden sind. Fälle, in denen die Indigenen nicht allein Rechtsordnungs-Irrtümern unterlagen, sondern durch Täu­ schung zum Vertragsschluss bewogen wurden, sind im Üb­ rigen Legion53. Freilich begegnen auch sie dem Befund, dass selbst für die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Ver­ trages ein klarer Maßstab fehlt, wo der Vertrag über die Grenzen von Rechtsordnungen hinweg abgeschlossen wor­ den ist. 3. Bedeutung der Grenzziehung für die Durchsetzung des europäischen Völkerrechtsmodells In dem Netz, das die europäischen Kolonialmächte insbe­ sondere über Afrika ausgeworfen hatten, verfingen und ver­ strickten sich die indigenen Herrschaftsordnungen. Die Ver­ festigung europäischer Herrschaft lässt sich mit der Herstel­ lung von Stahlbeton vergleichen. Immer enger wird ein Git­ ter aus Stahlstäben gezogen, in sich verflochten und schließlich mit Betonmasse aufgefüllt; in gleicher Weise ver­ dichteten sich die Interessensphären zu inchoate titles und territorialen Inseln, bis am Ende die vertragliche Fixierung von Territorien durch möglichst eindeutige Grenzlinien stand. Die Wege, auf denen es dem Ius Publicum Europaeum gelang, nicht mehr nur partikulär mit Wirkung für seine Rechtsbildner zu gelten, sondern nichteuropäische Ordnun­ gen zu verdrängen und sich als am Ende allein verbleibende Ordnung durchzusetzen und objektive Legitimität zu errin­

53  Dazu

Touval (Fn. 24), S. 283.

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gen, sind vielgestaltig. Grenzziehung spielt jedoch stets eine Schlüsselrolle. Der Herrschaftsanspruch Europas allein begründet die objektive Legitimität von Rechtsakten der Kolonialmächte mit Bezug auf außereuropäische Gebiete noch nicht; oder besser gesagt: Er kann es allenfalls auf dem Boden des euro­ päischen Völkerrechts tun. Um diese Wirkung auch für af­ rikanische und asiatische Völker aus deren eigener Perspek­ tive zu zeitigen, bedurfte es der Beseitigung ihrer regionalen Ordnungen oder ihrer Unterordnung unter das Ius Publicum Europaeum, die einer Beseitigung gleichkommt. Der Hebel, mit welchem dem europäischen Völkerrecht dies ge­ lang, lautet letztlich: Wegfall der existentiellen Legitima­ tionsbasis, welcher vor allem durch Grenzziehung erreicht wurde. „Boundaries“, die teils willkürlich, teils mit schein­ barem Konsens der Einheimischen fixiert wurden54, schnit­ ten deren personal begründeten Ordnungen praktisch die Wurzeln ab55. Dies zeigen zahllose Beispiele in Afrika, wie das der Ewe zwischen Togo und Ghana (das sich noch nach der Unabhängigkeit um eine Grenzkorrektur bemühte) oder von Nomaden wie den Somali und Massai56. Obgleich die Ignoranz des europäischen Völkerrechts gegenüber paralle­ len Ordnungen ideologisch verfestigt war,57 kann von einer Strategie, sie durchzusetzen, nicht die Rede sein; denn eine Rechtskonkurrenz wurde ja negiert. So ist die Verdrängung nichteuropäischer, völkerrechtsähnlicher Ordnungen nur ­eine faktische Konsequenz und kein vorrangiges Ziel58 des mit dem zur wirtschaftlichen Expansion parallel laufenden europäischen Machtanspruch verbundenen Machtstrebens. Durchschneidung von Lebensbereichen und Bewegungslini­ en war für den Siegeszug des europäischen Völkerrechts zu­ Touval (Fn. 24), S. 283 ff. (Fn. 20), S. 4. 56  Brownlie (Fn. 47), S. 6; Ajala (Fn. 16), S. 181. 57  Kämmerer (Fn. 6), S. 402 f. 58  Fisch, Law as a Means and as an End, in: Mommsen / de Moor, European Expansion and the Law, 1992, S. 15 ff. 54  Vgl.

55  Eckert



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mindest in Afrika letztlich bedeutsamer als das, was ihr oft folgte: die schleichende Verstaatsrechtlichung der Beziehun­ gen zwischen Indigenen und Europäern59. Wo die inter-afri­ kanischen oder -asiatischen Rechtsbeziehungen gekappt wa­ ren, wurden die verbleibenden Rechte indigener Potentaten, nicht selten auf der Grundlage von Verträgen – wirksam oder nicht – auf die Kolonialmacht ausgerichtet. Das Be­ wusstsein, dass es sich um einen Akt der Unterwerfung und nicht um das Schmieden eines Bündnisses handelte, dürfte bei den Potentaten anfangs nur selten bestanden haben. Im Detail ist die koloniale Praxis durchaus variantenreich: Wäh­ rend Frankreich, angesichts seiner staatsrechtlichen Tradi­ tion nicht überraschend, zentralistische Kolonialverwaltun­ gen etablierte,60 neigte das Vereinigte Königreich zur „indi­ rect rule“ – sei es, dass indigene Hoheitsträger in die Ver­ waltungs- und Justizstruktur eingebunden waren, sei es, dass die Herrschaft der Briten als Protektorat deklariert war. Der einheimischen Bevölkerung gereichte dies, anders als man vermuten könnte, nicht immer zum Vorteil. IV. Völkerrechtliche Determinierung der verstaatsrechtlichten Beziehungen: Kolonialvölkerrecht als „legal vacuum“? Am Ende des Hochkolonialismus steht die Unterwerfung Afrikas und großer Teile Asiens unter europäische Territori­ alhoheit, damit aber auch die Durchsetzung des Ius Publicum Europaeum als alleingültiger Ordnung. Sie hörte damit auf, genuin europäisch zu sein (was sie im rein geographi­ schen Sinne schon mit den Staatwerdungen in Nord- und Südamerika zwischen 1787 und 1828 nicht mehr war)61, oh­ 59  Kämmerer

(Fn. 6), S. 409 f. so genannten direct rule-Politik siehe Elias, Government and Politics in Africa, 1963, S. 30 f.; Ayittey, Indigenous African Institutions, 2. Aufl. 2006, S. 428. 61  Vgl. Grewe, Vom europäischen zum universellen Völkerrecht, ZaöRV 29 (1982), S. 449 (465 ff.), der die Ausweitung des Ius Pub60  Zur

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ne sich damit bereits völlig zum Ius Publicum Universale entwickelt zu haben. Dazu war die Gelegenheit zur Partizi­ pation der Indigenen an der Völkerrechtsbildung erforder­ lich, zu der Schritt für Schritt erst nach dem Ende des Ers­ ten Weltkriegs Gelegenheit geboten wurde. Eine Sonderrol­ le, die an dieser Stelle nicht vertieft betrachtet werden kann, bildete Äthiopien, dem es mit militärischer Stärke und Rü­ ckendeckung einzelner europäischer Mächte, etwas Glück und vor allem Nachahmung europäischer Strategien gelang, sich dem kolonialen Appetit zu entwinden62. Bei Lichte be­ trachtet ist Äthiopien im heutigen Afrika die letzte verblie­ bene Kolonialmacht, die hierfür wirtschaftlich und militä­ risch einen hohen Preis gezahlt hat. Was noch zu beantworten bleibt, ist die Frage, in welchem Umfang das territoriale Netz, das die Kolonialmächte ausge­ worfen haben, und das auf einer Vielzahl vor allem bilateraler Verträge (meist zwischen Europäern) beruht, auch materiell­ völkerrechtlich mit Inhalt gefüllt worden ist. Die Brutalität, die viele Mächte bei der Eroberung und der Niederkämpfung von Aufständen (bis in die 1950er Jahre hinein) haben walten lassen, scheint darauf zu deuten, dass in den Maschen des Netzes ein rechtliches Vakuum herrscht: „No peace between the lines.“ Ob überhaupt von einem Kolonialvölkerrecht ge­ sprochen werden kann, muss bezweifelt werden. Allgemeine Regeln über die Verwaltung von Kolonien und vergleichba­ ren abhängigen Gebieten, die Rechte und die Pflichten ihrer Bevölkerung brachte das Völkerrecht ebenso wenig hervor wie Bestimmungen, die für einen bestimmten Kontinent Gel­ tung beanspruchten. Dies gründete nicht allein darauf, dass Konsens über einen Status der bezogenen Gebiete, an den diese Regeln hätten anknüpfen können, beispielsweise über den Begriff „Kolonie“ als gemeinsamen Nenner, zu keiner licum Europaeum zu einem universell geltenden Völkerrecht be­ reits auf den Beginn des 19. Jahrhunderts datiert. 62  Bull, European States and African Political Communities, in: ders. / Watson, The Expansion of International Society, 1984, S. 99 (101).



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Zeit erzielt werden konnte63. So mag der Eindruck erwach­ sen, dass die forcierte Territorialisierung, verbunden mit der Vermeidung eines Konsenses über den genauen territorialen Status, das Ziel verfolgte, in den erlangten Gebieten frei zu schalten und als territorialer Souverän dem Zugriff des Völ­ kerrechts entzogen zu sein, mithin über Frieden oder Krieg ohne Bindung an Regeln bestimmen zu dürfen. Gestützt scheint diese Annahme durch eine unter europäischen Völ­ kerrechtlern vertretene Rechtsauffassung, wonach die Regeln über den Landkrieg für koloniale Gebiete außerhalb Europas keine Geltung beanspruchten64. Noch heute die völkerge­ wohnheitsrechtliche Akzeptanz einer solchen Bereichsaus­ nahme nachzuweisen, dürfte ebenso wenig gelingen wie der Versuch eines unumstößlichen Nachweises ihrer positiv-ge­ wohnheitsrechtlichen Geltung für die europäischen Mächte selbst für die Jahre nach Inkrafttreten der HLKO. Und selbst dann wäre der Befund von überaus geringer Aussagekraft, denn er spiegelte nur die Erkenntnis wider, dass sich die per­ sonelle und territoriale Reichweite des Ius Publicum Europae­ um im Zeitpunkt seiner Begegnung mit außereuropäischen Mächten und Ordnungen auf diese, die ja keine Vorstellung von europäischen Landkriegsregeln entwickelt hatten, nicht ohne weiteres erstrecken konnte; waren diese Gebiete aber einmal kolonisiert, mussten Konflikte als nicht-internationale gelten und waren schon insoweit der Geltung der HLKO entzogen65. Das Diktum von der Regelarmut des Völker­ rechts in kolonialen Belangen wird zumindest mit Blick auf Afrika geringfügig relativiert durch Artikel 6 der Kongo-Ak­ te von 1884 und die Generalakte der Brüsseler Antisklaverei­ konferenz von 1890. Letztere beansprucht für ganz Afrika (und theoretisch auch darüber hinaus) Geltung, allerdings mit Blick auf ein Prinzip, das bereits zuvor als gewohnheits­

Kämmerer (Fn. 6), S. 404 ff. Die Leipziger Prozesse, 2003, S. 234 f.; Spraul, Der „Völkermord“ an den Herero, GWU 1988, S. 713 (715). 65  Laun, Haager Landkriegsordnung, 5. Aufl. 1950, S. 10, 21. 63  Dazu

64  Hankel,

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rechtlich verfestigt gelten durfte66. Wesentlich weiter gehen die wechselseitigen Schutz- und Unterstützungsversprechen der Europäer zugunsten der Indigenen in der Kongo-Akte, deren Geltung aber wiederum dem Wortlaut nach auf das Kongo-Becken beschränkt sein sollte. Für ihre gewohnheits­ rechtliche Geltung auf dem ganzen Kontinent fehlen ausrei­ chende Belege. Im Ergebnis also unterscheidet sich die völ­ kerrechtliche Lage in Afrika, was die Bevölkerung betrifft, zwar gar nicht so grundlegend von derjenigen in Europa, wo das humanitäre Völkerrecht auch erst am Anfang seiner Ent­ wicklung stand und Menschenrechte noch nicht zu Völker­ rechtssätzen entwickelt waren. Anders als in Europa federte aber das Staatsrecht dieses völkerrechtliche Defizit nicht (durch individuelle Teilhabe- und Abwehrrechte) ab, sondern verschärfte die Diskriminierung der einheimischen Bevölke­ rung noch. Hinzu kamen paradoxe, aber durchaus erwünsch­ te Effekte der britischen „indirect rule“: Wenn sie indigenen Herrschern lokale oder regionale Autorität beließen, brauch­ te die Kolonialherrn die Durchsetzung ihrer Verpflichtungen aus den erwähnten Konventionen wenig zu kümmern67. Auch dies ist ein Grund, warum Sklaverei in Afrika noch weit über ihr Verbot hinaus faktisch Bestand hatte. V. Fazit Die Kolonien waren nicht von Völkerrechts wegen eine „Zone des Krieges“, in der das Recht des Stärkeren, der Eu­ ropäer also, waltete. Die mit der Grenzziehung durch Euro­ päer verbundene Territorialisierung generierte aber staats­ rechtliche „Zellen“, zu denen das Völkerrecht keinen Zu­ gang hatte und auch nicht haben wollte. Letztlich war das 66  Vgl. Kaczorowska, Public International Law, 4. Aufl. 2010, S.  333 f.; Henckaerts / Doswald-Beck, Customary International Hu­ manitarian Law, Vol. I, 2005, S. 327 f. 67  Morris, Protection or Annexation? Some Constitutional Ano­ malies of Colonial Rule, in: ders.  /  Read, Indirect Rule and the Search for Justice, 1972, S. 41 (43 ff.); Crowe (Fn. 33), S. 171 ff.



Das Völkerrecht des Kolonialismus57

Ius Publicum Europaeum auf die Begegnung mit außereuro­ päischen Rechtsmodellen nicht adäquat vorbereitet, es woll­ te dies auch nicht sein und hielt auch keine Antwort für die Gestaltung des Übergangs zum ius universale bereit, der sich den Indigenen als eine „feindliche Übernahme“ darstel­ len musste. Kolonialkonflikte und der Umgang der Kolonial­ herren mit ihnen sind insofern auch Geburtswehen einer internationalen Ordnung, deren Formung ihren Abschluss bis heute nicht gefunden hat und bis heute Erschütterungen auslöst.

Grenzen und Chancen des Rechtsstaatsdialogs. Funde und Folgerungen in China Von Philipp Molsberger, Stuttgart / Berlin* 1

I. Einführung Nur ein einziges Mal empfand ich während der Reise ei­ nen Anflug von Unwillen. Wir saßen, etwa acht Personen, an einem großen, runden Tisch und genossen die üppige chinesische Küche mit ihrem Sammelsurium der verschie­ densten Köstlichkeiten. Die kreisförmige Platte in der Mitte des Tisches drehte sich unaufhörlich und ließ die verhei­ ßungsvoll anmutenden Speisen rotieren. Ich hatte aus den ersten der zahllos aufgetragenen Schalen bereits gekostet, als vor mir ein Teller zum Stehen kam, der einen besonders spannenden kulinarischen Hochgenuss versprach. Von einer Chilisauce benetzte Feigenstücke, jeweils ungefähr in die Hälfte dieser Frucht geschnitten, erfreuten meine Sinne be­ reits bevor ich ein großes Stück mit den Stäbchen ergriff und zum Munde führte. Mir stieg noch der angenehme, würzig-scharfe Geruch der kleingeschnittenen Chilischoten in die Nase, dann aß ich die Feigenhälfte mit einem freudi­ gen Lächeln. Ganz. Sie flutschte fast unbekaut an meinen Zähnen vorbei und in Richtung Rachen. Und genau in dem Moment, als die Feige den point of no return passiert hatte, *  Dr. Philipp Molsberger war von Oktober 2004 bis September 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Wolfgang Graf Vitzthum. Er ist Staatsanwalt im baden-württembergischen Justizdienst und gegenwärtig als Referent zu einer Fraktion im Deutschen Bundestag beurlaubt. Die in diesem Beitrag getroffenen ­Wertungen entsprechen ausschließlich der persönlichen Auffassung des Verfassers.

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bemerkte ich, dass sie keine Feige war. Den Umstand, dass dieses Etwas viel zu glatt und feigen-unartig an meinen Zäh­ nen vorbeigerauscht war, hatte ich zwar angesichts der Ge­ schwindigkeit dieses Vorgangs nicht realisiert. Geruch und Geschmack, die sich, nun da das Ding unwiederbringlich in meinem Rachen verschwunden war, eben dort und im ge­ samten Mundraum breitmachten, konnte man nicht ignorie­ ren. Schwefel. Beißende Ranzigkeit. Salzige Undefinierbar­ keit. Und wie Schuppen fiel mir der Irrtum von den Augen, als ich ungläubig, erschrocken und verstört noch einmal – und dieses Mal genauer – die verbleibenden Gegenstände auf dem immer noch vor mir verharrenden Teller betrachte­ te. Eier. Eierhälften. Grün und bernsteinfarben. Tausendjäh­ rige Eier. Und obgleich ich ein Freund der exotischen Küche war und bin, und obgleich mir gerade die chinesische Küche während dieser Tage große Momente des Glückes bereitete, so kann ich nur mit absoluter Bestimmtheit für mich fest­ stellen: Das schmeckt – zurückhaltend gesprochen – einfach nicht gut. Jedenfalls mir nicht. Und erst als die erneut ein­ setzende Rotation des Tisches den Teller mit den vermeint­ lichen Feigen von mir entfernte (und dieser Teller auch nicht mehr von der anderen Seite wieder zu mir kam), erst als ich das enigmatische Ding in meinem Magen mit einer gehöri­ gen Dosis des immer bereitstehenden Reisschnapses besiegt hatte, empfand ich wieder das Gefühl, welches mich die ge­ samte bisherige Reise begleitet hatte und auch fortan beglei­ ten würde: Faszination. Und Begeisterung. Für das Reich der Mitte. II. Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog, der auf eine Anregung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zurückgeht, besteht seit dem Jahre 2000. Basierend auf dem Grundsatz des Austausches auf gleicher Augenhöhe finden seitdem jährliche Treffen von Vertretern beider Staaten auf ministerieller Ebene statt, immer abwechselnd in Deutsch­ land und in der Volksrepublik China. Projektpartner sind



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neben den zuständigen Ministerien auch andere staatliche Einrichtungen in beiden Ländern, gesellschaftliche Organi­ sationen, politische Stiftungen, Hochschulen und Universi­ täten. Die Themen der bisherigen Symposien waren sehr weit gestreut, von „Rechtsfragen, Politik und globale Nut­ zungsmöglichkeiten der Informationstechnologie“ im Jahre 2003 über „Das Recht der Rentenversicherung im Rechts­ staat“ im Jahre 2009 bis hin zum „Recht der unlauteren Handlung im Wettbewerb“. Ziel der Rechtsstaatsinitiative war es und ist es, durch das bessere Verständnis der jeweili­ gen Traditionen und Kultur einen gemeinsamen Beitrag zur Durchsetzung rechtsstaatlichen Denkens und Handelns auf den verschiedensten Gebieten des Rechts zu leisten, dabei auch eine Respektierung der Menschenrechte im Blick zu behalten sowie die Reformen in der Volksrepublik China zu begleiten. Das Engagement der chinesischen Seite ist vor al­ lem gestützt von dem Willen, sozia­le Stabilität, marktwirt­ schaftliches Wachstum und ein hohes Maß an Rechtssicher­ heit auch für Investoren zu fördern1. Die in diesem Dialog gefundenen Ergebnisse und Anregungen haben oft einen direkten Einfluss auf die Ausgestaltung neuer Rechtsnormen in China gehabt und unterstützen damit auch die Bestre­ bungen der chinesischen Regierung, auf den verschiedensten Erscheinungsformen des Rechts dessen Herrschaft durchzu­ setzen2; schlagwortartig gesprochen: Die Entwicklung von rule by law zu rule of law zu fördern und zu gestalten. 1. Das Strafverfahrensrecht im Rechtsstaat Das Symposium des deutsch-chinesischen Rechtsstaats­ dialogs im Jahre 2011 stand unter dem Thema „Das Straf­ verfahrensrecht im Rechtsstaat“. Dieses Thema, welches auch dem ausdrücklichen Wunsch der deutschen Bundesjus­ 1  Bundesministerium der Justiz, Der deutsch-chinesische Rechts­ staatsdialog, http://www.bmj.de / . 2  Deutsche Botschaft Peking, Rechtsstaatsdialog zwischen Deutsch­ land und China, http://www.peking.diplo.de / .

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tizministerin entsprach, war von der chinesischen Seite ger­ ne angenommen worden, auch wenn es naturgemäß von einer gewissen Brisanz zu sein schien. Hintergrund für die Bereitschaft der Chinesen, dieses Thema aufzugreifen, war der Umstand, dass gegenwärtig in der Volksrepublik China eine umfassende Novellierung der dortigen Strafprozessord­ nung geplant ist. Dieses Vorhaben stellt China vor große Herausforderungen. Während in Deutschland die Strafpro­ zessordnung, ursprünglich in Kraft getreten am 1. Februar 1877, mannigfaltige – man könnte fast sagen: jährliche – An­ passungen, Änderungen und Korrekturen, manchmal auch Verschlimmbesserungen, erfahren hat, wurde das chinesische Strafverfahrensrecht – die dortige Prozessordnung trat nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 in Kraft – bislang erst zweimal, nämlich in den Jahren 1979 und 1996, geändert. Mit dem jetzigen Reformvorhaben möchte China eine Reihe rechtsstaatlicher Grundsätze unse­ res Verständnisses in sein Recht inkorporieren. Drei Prinzi­ pien – für einen Chinesen sind in allen Lebensbereichen (oft schlagwortartig formulierte) Grundsätze und Prinzipien von herausragender Bedeutung – sollen den Rahmen der Reform bilden: Zum einen möchte sich China bei der Rechtssetzung „von Fakten leiten lassen“, mithin nicht Recht im luftleeren Raum, sondern Normen auf der Grundlage von Erfahrun­ gen und (immer sehr wichtig) geschichtlichen Zusammen­ hängen schaffen. Zum anderen soll bei allen Novellierungen das Prinzip der Gewaltenteilung erhalten bleiben, wobei hierunter das System von checks and balances zwischen Ge­ richt, Staatsanwaltschaft und der in China sehr mächtigen Polizei gemeint ist. Drittens sollen alle gesetzgeberischen Maßnahmen dem Ziele dienen, eine „ausgewogene Straf­ rechtspolitik“ zu gestalten, ein System von „Härte und Mil­ de“, je nach dem zu beurteilenden Fall. Das im Kern zweitägige Programm des Rechtsstaatsdia­ logs fand in der Stadt Tsingtau in der ostchinesischen Pro­ vinz Shandong statt. Wenn wir Deutschen den Namen die­ ser Stadt hören, denken viele gewiss an die vormalige Ko­



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lonialgeschichte, eine historische Phase, die im Bewusstsein des chinesischen Volkes (ganz anders als etwa die Zeit der Besetzung durch Japan) nicht besonders negativ belegt ist. Man denkt an das – tatsächlich noch teilweise erhaltene – architektonische Erbe aus dieser Zeit, an malerische Gebäu­ de im deutschen Stil, an die olympischen Segelwettbewerbe im Jahre 2008, und natürlich denkt man an das berühmte dortige Bier, eine Spezialität, die auch im eigenen Lande von den Chinesen hochgeschätzt wird. Wenn man aller­ dings den recht spektakulären Anflug auf die Stadt, einge­ rahmt vom Gelben Meer und einer gebirgigen Kette, hinter sich gebracht hat und Tsingtau dann näher betrachtet, ver­ schlägt es einem den Atem. Tsingtau vermittelt vor Ort mitnichten den Eindruck einer malerischen ehemaligen Ko­ lonialstadt, viel eher denjenigen einer beeindruckenden Me­ tropole. Die Stadt hat an die 9 Millionen Einwohner, Ten­ denz (wie überall in den großen chinesischen Städten) stei­ gend, gebaut wird allerorts und unaufhörlich (wie ebenfalls überall in den großen chinesischen Städten). Der Hafen von Tsingtau ist der drittgrößte der Volksrepublik China und der neuntgrößte der Welt, die im Juni dieses Jahres eröff­ nete Qinqdao-Haiwan-Brücke ist mit 42 Kilometern die bisher längste über Wasser errichtete Brücke der Welt. Al­ lein in den ersten 6 Monaten dieses Jahres betrug das Han­ delsvolumen zwischen Tsingtau und der Bundesrepublik Deutschland etwa 800 Millionen Euro, wobei die Stadt nicht nur ein herausragender Exporteur von Waren ist, son­ dern auch in erheblichem Umfang insbesondere Maschinen, Anlagen und Verkehrsmittel aus Deutschland importiert. Mit zahlreichen deutschen Städten unterhält Tsingtau eine Partnerschaft, so beispielsweise mit den Städten der Metro­ polregion Rhein-Neckar, also mit Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen. Die vielfältigen Kontakte mit Deutsch­ land betreffen die unterschiedlichsten Bereiche, nicht allein Wirtschaft, sondern auch Kunst, Kultur, Wissenschaft und Sport.

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Die Teilnehmer des Symposiums auf chinesischer Seite ka­ men aus den unterschiedlichsten Bereichen. Leiter der Dele­ gation war der Minister des Rechtsamts beim Staatsrat. Wei­ tere Teilnehmer kamen von der Rechtsarbeitskommission beim Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses, jener Institution, welche die Keimzelle für gesetzgeberische Entwürfe bildet. Ferner anwesend waren Vertreter des chi­ nesischen Justizministeriums, welches vor allem Aufgaben der Justizverwaltung wahrnimmt, Richter und Beamte der Staatsanwaltschaft, Rechtsprofessoren sowie Rechtsanwälte. Auch auf deutscher Seite war das Teilnehmerspektrum der von der Bundesjustizministerin angeführten Delegation vielfältig: Neben der ministeriellen Kerndelegation waren unter anderem die Präsidenten des deutschen Anwaltvereins und der Bundesrechtsanwaltskammer anwesend, zwei Ab­ geordnete des deutschen Bundestages sowie mehrere hoch­ rangige Richter und Staatsanwälte. Im Vorfeld war Eini­ gung dahingehend erzielt worden, dass nach der Eröff­ nungsveranstaltung im Plenum drei Arbeitsgruppen gebildet wurden, welche sich dem Thema Strafverfahrensrecht zum einen vor dem Hintergrund grundsätzlicher Verfahrensprin­ zipien, zum anderen aus dem Blickwinkel des Ermittlungs­ verfahrens sowie demjenigen des gerichtlichen Verfahrens widmen sollten. 2. Der Entwurf einer neuen chinesischen Strafverfahrensordnung Der Zeitpunkt des Symposiums war gut gewählt. Der Entwurf einer neuen Strafverfahrensordnung war jüngst an die Volkskongresse der Provinzen, an Gerichte und Staats­ anwaltschaften sowie an Universitäten zur Stellungnahme versandt worden. Eine überraschende Besonderheit war die Information, dass der Entwurf im Internet frei verfügbar war und auch die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit hatten, ihre Stellungnahmen und Verbesserungsvorschläge zu übermitteln. Mehrere tausend Bürger, so wurde uns je­



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denfalls gesagt, hätten von dieser Möglichkeit bereits Ge­ brauch gemacht. Die Volksrepublik China zeigt ein großes Interesse an kontinentaleuropäischen, insbesondere deutschen, Rechts­ traditionen und -prinzipien. Die Phase der 90er Jahre und der Zeit um die Jahrtausendwende, in welcher das Reich der Mitte vorrangig auf Amerika und seine Rechtskultur blickte, scheint einer – ganz bewussten – Annäherung an Good old Europe gewichen zu sein. Man könnte auch sagen: Einer Wiederannäherung, waren doch bereits die umfassenden chi­ nesischen Reformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts an kon­ tinentaleuropäischen (bzw. daraus abgeleiteten japanischen) Rechtsvorstellungen orientiert. Dies indes nicht ganz frei­ willig – hatten doch die europäischen Mächte sowie Japan dem damals in einer unterlegenen Position befindlichen Chi­ na beispielsweise versprochen, bei entsprechenden Reformen auf die – demütigende – Konsulargerichtsbarkeit zu verzich­ ten3. Das heutige – selbstbewusste – China freilich ist an derartige Zwangslagen nicht mehr gebunden. Das Reich der Mitte – umworben von zahllosen Staaten – kann auswählen, an welchen Rechtsordnungen es sich bei seinen Reformbe­ mühungen orientieren möchte. China ist nicht mehr Emp­ fänger oktroyierten Rechts, sondern autarker Einkäufer auf dem globalisierten Rechtsmarkt. Auch hierin liegt die Be­ deutung des Rechtsstaatsdialogs begründet. Gerade Deutsch­ land, dem in China durchaus Vertrauen und Aufgeschlos­ senheit entgegengebracht wird, hat eine Verantwortung, wenn wir nicht zulassen wollen, dass das chinesische Recht der Zukunft von Alternativmodellen wie etwa dem des common law geprägt wird. Auch unter ökonomischen Erwägun­ gen kann die Vermittlung der eigenen Rechtstradition nicht hoch genug geschätzt werden: Gemeinsame Rechtsvorstel­ lungen bilden Vertrauen, sie können eine unschätzbar wich­ tige Rolle für die künftigen deutsch-chinesischen Wirt­ schaftsbeziehungen darstellen. 3  Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 2. Aufl. 2002, S. 129.

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Inhaltlich wird der Entwurf einer neuen Strafprozessord­ nung zu rechtsstaat­lichen Verbesserungen des geschriebenen Rechts führen: Der vielleicht zentralste Punkt ist dabei die Einführung des Verbots des Zwanges zur Selbstbelastung. Das nemo-tenetur-Prinzip, das Grundaxiom des Strafverfah­ rens unseres Verständnisses4, wird damit zum ersten Mal in der chinesischen Strafverfahrensordnung verankert. Zuvor war dieses Prinzip im chinesischen Recht nicht enthalten, im Gegenteil: Der Beschuldigte war verpflichtet, im Rahmen seiner Vernehmung die Wahrheit zu sagen, auch dann, wenn er sich damit selbst belastete. Aus diesem Grunde beruhte und beruht immer noch die weitaus größte Anzahl gericht­ licher Verurteilungen auf dem Geständnis des Beschuldigten, oftmals sogar als einziges Beweismittel. Für uns erscheint dieses bisherige System aus zweierlei Erwägungen heraus gänzlich inakzeptabel: Nicht nur der Umstand, dass ein Be­ schuldigter im Falle einer ihm auferliegenden Wahrheits­ pflicht letztlich zum bloßen Objekt des Verfahrens wird, eine Stellung, die bereits mit Blick auf den Menschenwürde­ schutz des Grundgesetzes im deutschen Strafverfahren gänz­ lich undenkbar ist, muss – aus unserer Sicht – gleichermaßen Kopfschütteln wie Kritik verursachen. Aber auch der – aus jener Wahrheitspflicht folgende – Umstand, dass in der Ver­ fahrenspraxis systemimmanent dann das Geständnis zum zentralen Verurteilungsgrund wird, erscheint in höchstem Maße gefährlich, öffnet es doch faktisch Tür und Tor für illegale Vernehmungsmethoden. Indes: Wie so oft darf auch hier der westliche Besucher nicht allein das Fundament sei­ ner gewachsenen Werte zur Beurteilungsgrundlage machen. Seit jeher, seit hunderten von Jahren, gilt nach chinesischer Vorstellung das Geständnis der Tat zur – auch moralischen – 4  „Kernstück des von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten fairen Verfahrens“, EGMR, J. B. gegen Schweiz, Beschwerde Nr. 31827 / 96, Urteil v. 3.5.2001, NJW 2002, S. 499 ff.; im deutschen Verfassungs­ recht kann das Verbot des Zwanges selbstbelastender Äußerungen sowohl in Art. 2 Absatz 1 GG (auch in Verbindung mit Art. 1 Ab­ satz 1 und Art. 2 Absatz 2 GG) als auch im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG (Gebot des fairen Verfahrens) verortet werden.



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Grundlage jeder Verurteilung. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, nicht der Staat, nicht Richter, Beamte und Ge­ schworene sollten die Wahrheit ermitteln, sondern der Täter selbst, da ja auch dieser am meisten Kenntnis über den Tat­ vorwurf habe und sich diesem stellen müsse5. Dies eben auch erzwungenermaßen, im dynastischen China (wie frei­ lich auch im früheren Europa) galt die Folter als Durchset­ zung des Selbstbelastungszwanges als legitimes Mittel, wel­ ches durch – bemerkenswert anmutende – Begleitregeln eine gerechtigkeitskonforme Absicherung erhalten sollte: Legte beispielsweise ein Beschuldigter trotz Anwendung der Prü­ gelfolter kein Geständnis ab, wurde der Kläger, meist das Opfer der mutmaßlichen Tat, derselben Behandlung unter­ zogen, um herauszufinden ob dieser vorsätzlich falsche An­ schuldigungen erhoben hatte6. Im Strafverfahrensrecht der Volksrepublik China war die Folter nicht mehr enthalten, das Verständnis einer Pflicht des Straftäters zur eigenen Überführung ist indes bis heute vorhanden. Mit dem nun­ mehr in § 49 des Verfahrensordnungsentwurfs enthaltenen Prinzip „Niemand darf zur selbstbelastenden Aussage ge­ zwungen werden“, würde China jedenfalls in gesetzgeberi­ scher Hinsicht einen großen Sprung in Richtung einer Straf­ prozessordnung unseres Verständnisses machen. Interessan­ terweise ist das aus dem Verbot des Zwanges zur Selbstbe­ lastung konsequent abzuleitende Recht des Beschuldigten zu schweigen, nicht expressis verbis im aktuellen Entwurf ent­ halten. Es steht zu vermuten, dass die Entwurfsgeber eine so weitreichende Neuerung auf der Subjektsseite des Beschul­ digten noch nicht wagen, sondern jenes Recht nur „impli­ zit“, wenn auch nicht vollständig, durch einen entsprechen­ den Normbefehl an die Strafverfolgungsbehörden verankern wollten. In durchaus konsequenter Fortführung des Verbots des Selbstbelastungszwanges soll nun auch gesetzlich geregelt werden, dass eine Verurteilung allein auf Grundlage eines 5  Heuser 6  Heuser

(Fn. 3), S. 334 f. (Fn. 3), S. 334.

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Geständnisses nicht erfolgen darf. Diese – wohl mit Blick auf die Praxis der Strafverfolgung erwogene – Regelung würde interessanterweise weiter gehen als die entsprechende Situation im deutschen Recht. Nach unserer Strafprozess­ ordnung ist das Gericht zwar verpflichtet, das Geständnis des Angeklagten7 nicht einfach so „hinzunehmen“, son­ dern es – auch kritisch – zu hinterfragen und auf seine Strin­ genz und Glaubhaftigkeit zu prüfen8. Dann, nach derge­ stalt erfolgter Prüfung, kann in einem deutschen Gerichts­ saal auch allein das Geständnis die Grundlage der Verurtei­ lung bilden9. Die chinesische Entwurfsregel ist mit Blick auf die – von den Gesetzesschaffenden durchaus erkannte – Praxis insbesondere in den Peking-fernen Provinzen be­ ­ grüßenswert, kann aber auch mit einem kritischen Auge gesehen werden. Ein Beispiel: Gegenwärtig – angestoßen von den Berichten über Missbrauchsfälle in öffentlichen Einrichtungen – finden verschiedene Überlegungen zur Ver­ besserung der Opferrechte in Strafverfahren statt. Oft wird in diesem Zusammenhang die Forderung geäußert, die Be­ lastungen von Opferzeugen durch Vernehmungen (Stich­ wort: sekundäre Traumatisierung) möglichst zu reduzieren10. Auch ist es durchaus übliche Praxis im deutschen Ge­ richtsalltag, einem geständigen Sexualstraftäter eine beson­ ders hohe Anrechnung des Geständnisses bei der Strafzu­ messung als „Preis“ dafür zu gewähren, dass hierdurch ein 7  Aus § 244 Absatz 1 StPO folgt zwar im Wege des Umkehr­ schlusses, dass die gerichtliche Vernehmung des Angeklagten nicht zur Beweisaufnahme gehört. Dennoch ist der Angeklagte „Beweis­ mittel in weiterem Sinne“, wenn er aussagt, vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011, § 244 Rn. 2. 8  Meyer-Goßner (Fn. 7), § 261 Rn. 3. 9  Siehe hierzu etwa BGH, NStZ 1999, S. 92 f. 10  Siehe beispielsweise den Zwischenbericht des Runden Ti­ sches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Macht­ verhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“, verabschiedet am 1.12.2010, Bd. I, S. 16 f.; ab­ rufbar unter http://www.bmbf.de / pubRD / zwischenbericht_band_ eins_kindesmissbrauch.pdf.



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Auftreten des Opfers vor Gericht vermieden werden kann11. Konstellationen, dass neben dem – glaubhaft – vollgeständi­ gen Angeklagten nur noch das Opfer als weiteres Beweis­ mittel zur Verfügung steht, sind nicht völlig ausgeschlossen. Sie werden in China zukünftig womöglich auch in Bedacht zu nehmen sein. Zum jetzigen Zeitpunkt ist freilich der Zwang zur Verwertung weiterer Beweise als das des Ge­ ständnisses ein gewiss rechtsstaatlicher Fortschritt. Mit Blick auf die Abkehr vom Prinzip der primär ge­ ständnisbasierten Verurteilung folgen in dem Entwurf auch Neuregelungen zu den Zeugen. Angesichts des herausgeho­ benen chinesischen Strebens nach Harmonie, einem Ziel, welches weite Lebensbereiche dominiert, vom Recht über die Architektur bis hin zum Verständnis der Rolle der Fa­ milie in der Gesellschaft, gibt es bislang kaum Regelungen zu den Zeugenpflichten im Strafverfahren. Weder existieren Vorschriften, welche die zwangsweise Vorführung eines Zeugen zur staatsanwaltschaftlichen oder gerichtlichen Ver­ nehmung ermöglichen, noch bestehen Regelungen zu den rechtlichen Konsequenzen für einen trotz Ladung nicht er­ schienenen Zeugen. Gerade in den ländlich geprägten Regio­ nen Chinas führt dieser Umstand dazu, dass auch in den – seltenen – Fällen, in denen in Ermangelung oder zur Ergän­ zung eines Geständnisses die Aussage von Zeugen von Re­ levanz ist, jene Zeugen sanktionslos nicht erscheinen, weil sie Repressalien von Seiten der Familie oder der Dorfbe­ wohner befürchten – als Zeuge in einem Strafverfahren aus­ zusagen, gilt in vielen Fällen als verpönt. Nach dem nun­ mehr vorliegenden Entwurf wird eine zwangsweise Vorfüh­ rung des Zeugen zum Gericht möglich, bei Nichterscheinen kann außerdem eine Haft von bis zu 10 Tagen angeordnet werden. Anders als im deutschen Recht, wo jeder Zeuge un­ abhängig von seinem Verhältnis zum Beschuldigten vor Ge­ richt erscheinen muss und dort dann gegebenenfalls die 11  Siehe Kühl in: Lackner  /  Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 46 Rn. 43.

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Aussage verweigern kann12, ist nach dem chinesischen Ent­ wurf bereits die zwangsweise Vorführung von Ehegatten, Eltern und Kindern des Beschuldigten unzulässig. Diese Vorschrift – so die chinesische Vorstellung – soll in erster Linie die „Harmonie innerhalb der Familie“ schützen. Während diese Regelungen allesamt recht positiv zu be­ werten sind, findet sich in dem Gesetzesentwurf auch An­ lass zur Kritik. Zu nennen sind dabei vorrangig die Ausnah­ metatbestände, welche bestimmte Beschuldigtenrechte bei Staatsschutzstraftaten außer Kraft setzen. Beispielsweise sol­ len künftig im Falle der Festnahme eines Beschuldigten die Familienangehörigen binnen 24 Stunden über den Grund und den Ort der Haft informiert werden. Dieses Beschul­ digtenrecht gilt indes nicht bei Straftaten gegen die Staats­ sicherheit, gerade in diesen – heiklen – Fällen ist also das von der westlichen Welt vielfach kritisierte „Verschwinden“ von Dissidenten weiterhin nicht ausgeschlossen. Auch ist – mit Blick auf die faktisch immer noch große Bedeutung des Geständnisses – kritisch zu sehen, dass weiterhin der Be­ schuldigte erst nach der ersten Vernehmung das Recht hat, sich eines Verteidigers zu bedienen. Gleiches gilt für die Pflicht des Rechtsanwalts, die Polizei und die Staatsanwalt­ schaft rechtzeitig über bestimmte entlastende Beweise (etwa betreffend das Alibi des Beschuldigten oder seine Schuldun­ fähigkeit) zu informieren. Während die chinesischen Straf­ verfolgungspraktiker diese Regelung als Entlastung und für den Beschuldigten als neutral werteten, ist in ihr doch eine nicht unerhebliche Einschränkung der prozessualen Gestal­ tungsmöglichkeiten der Verteidigung zu sehen, da es unter bestimmten Voraussetzungen prozesstaktisch geboten sein kann, bestimmte Beweismittel nicht oder erst in einem spä­ teren Verfahrensstadium zu präsentieren. Dennoch: Bei aller Kritikwürdigkeit einzelner Bestim­ mungen muss man doch sehen, dass der Gesetzentwurf in 12  Im deutschen Strafverfahrensrecht ist das Zeugnisverweige­ rungsrecht der Angehörigen in § 52 StPO verankert.



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toto eine klare Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Be­ schuldigtenrechten erzielt. 3. Grenzen des Rechtsstaatsdialogs Verbesserungen des geschriebenen Rechts sind freilich nur die eine Seite der Medaille. Um den Schritt von rule by law zu rule of law wirklich zu vollziehen, bedarf es auch der Anwendung des Rechts in der Praxis. Gerade dies stellt wei­ terhin ein großes Problem im chinesischen Justizalltag dar. Die Bindung der Administration und der Gerichte an Ge­ setz und Recht, und damit die Freiheit von externen – etwa durch die Partei ausgeübten – Einflüssen scheint mit zuneh­ mender Entfernung von Peking und den anderen großen Metropolen einer immer größeren Disposition zu unterlie­ gen. Die Regierung hat dieses Problem erkannt und versucht ihm – auch und gerade mit drakonischen Strafen bei Fällen aufgedeckter staatlicher Korruption – entgegenzuwirken. Die schiere Größe des Reichs der Mitte bewirkt indes, dass der lange Arm Pekings oft noch nicht lang genug ist, um auch in den entfernten Provinzen des Landes das geltende Recht wirklich durchzusetzen. Auf der anderen Seite sollte der westliche Besucher davon Abstand nehmen, das Reich der Mitte seinen Wertvorstellun­ gen zu subsumieren und vor dem Horizont dieser Befund­ nahme die Rechtsstaatlichkeit Chinas oder gar die grundsätz­ liche Geeignetheit eines deutsch-chinesischen Rechtsstaats­ dialogs einzuschätzen. Zu eigen ist dieses Land und zu eigen sind seine Geschichte und seine Wurzeln. Verschiedentlich wurde und wird das Instrument des Rechtsstaatsdialogs, gerade von Menschenrechtsorganisationen oder emigrierten ­ Rechtsanwälten, als nicht zielführend, ja als „blauäugig“ kriti­ siert13. Ich teile diese Kritik nicht. Die fundamentalen Unter­ 13  Besonders deutliche Kritik äußerte beispielsweise der chine­ sische Jurist Zhang Sizhi in einem Interview in der Berliner Zei­ tung vom 17.9.2011; siehe Bartsch, „Deutschland verschwendet in

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schiede zwischen unseren Rechtskulturen und Rechtsver­ ständnissen, die Verschiedenheiten zwischen den uns jeweils prägenden religiös-ethischen Traditionen lassen nach meiner Überzeugung einen Rechtsstaatsdialog keineswegs a limine als abwegig erscheinen. Dieser vermag sehr wohl China bei seinem – trotz aller Kritik grundsätzlich vorhandenen und auf pragmatischen Erwägungen basierenden – Bemühen, die Saat einer Kultur des Rechts über das Land zu streuen, zu unterstützen. Diese Saat indes von den Gebirgen im Westen bis an die Küsten des Gelben Meeres gedeihen und erblühen zu lassen, ist eine Aufgabe, die das Land vornehmlich selbst zu bewältigen hat. Hier gelangen die Möglichkeiten eines Rechtsstaatsdialogs an ihre Grenzen: Er kann das Verständnis für die Notwendigkeit der Majestät des Rechts schaffen und vertiefen, er kann durch den Austausch von Erfahrungen zu dem beitragen, was wir „Gute Gesetzgebung“ nennen. Deren Vollzug freilich, die Realisierung des Rechts in der Praxis, ist eine vornehmlich den Chinesen selbst obliegende Aufgabe. Wir können hier flankierend unterstützen, auch etwa durch breit angelegte Austauschprogramme jenseits des offiziellen Rahmens des Rechtsstaatsdialogs. Den Weg zur rule of law muss das Land aber selbst gehen. Und selbst gehen wollen. Wir können lediglich das partnerschaftliche Beispiel geben, dass dieser Weg sich lohnt. Wir dürfen – das ist für mich eines der zentralen Erkennt­ nisse jener Reise – nicht die in unserer Kultur gewachsenen Vorstellungen, Überzeugungen und Ideale im Wege eines gedanklichen Automatismus unreflektiert auf China übertra­ gen14. Gewiss müssen und dürfen wir unsere Grundwerte wie die Menschenwürde, das Recht auf Entfaltung der Per­ sönlichkeit, die Freiheitsgrundrechte überhaupt, nicht an der Klinke des Pekinger Flughafens abgeben, sondern sie auch dort selbstbewusst vertreten, wo es im Einzelfall weh tun China sein Geld“, Berliner Zeitung v. 17.9.2011, http://www. berliner-zeitung.de / . 14  Siehe hierzu auch Heuser (Fn. 3), S. 29.



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mag. „Kolonialistische Rechtsvergleichung von oben herab“ indes ist zum Scheitern verurteilt, wir sollten also an jenem besagten Flughafen zumindest ein wenig über den Rand un­ serer eigenen Brille schauen können. Und werden dann – jenseits für uns unverrückbarer Grundkonsense – feststellen dürfen, dass des Einen Feigen des Anderen Tausendjährige Eier sind. Und dass diese Erkenntnis auch eine – beidersei­ tige – Bereicherung sein kann.

Die Grenzen der Völkerrechtsrezeption in Deutschland Von Stefan Talmon, Bonn* I. Einleitung Wenn in der deutschen Staatsrechtslehre an das Völker­ recht gedacht wird, so geht es zumeist um die „offene Staat­ lichkeit“ oder die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des Grund­ gesetzes, d. h. um die Öffnung der deutschen Rechtsordnung für das Völkerrecht1. Das „Völkerrecht“ oder auch die „Vereinten Nationen“ sind in Deutschland durchweg positiv besetzte Begriffe. Völkerrecht ist gutes (oder zumindest gut­ *  Prof. Dr. Stefan Talmon LL.M. M.A war von 1997 bis 1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und von 1998 bis 2003 Wissen­ schaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Wolfgang Graf Vitzthum. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universi­ tät Bonn und Direktor am dortigen Institut für Völkerrecht. 1  Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 42. Siehe auch Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: Kaulbach  /  Krawietz (Hg.), Festschrift für Helmut Schelsky, 1978, S. 141 ff.; Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesre­ publik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 172; Hobe, Der offene Ver­ fassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; Fassbender, Der offene Bundesstaat, 2007; Röben, Außenverfassungsrecht, 2007; Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007; Sommermann, Offene Staatlichkeit – Deutschland, in: Bogdandy  /  Cruz Villalón  /  Huber (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 14; Giegerich (Hg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010.

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gemeintes) Recht. Die Frage nach den Grenzen der Anwen­ dung des Völkerrechts im deutschen Recht wird deshalb bislang kaum gestellt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass das Völkerrecht mit den Grundwertentscheidungen, Prinzipien und Normen unseres Rechts übereinstimmt. Das Risiko verfassungswidriger Einbrüche des Völkerrechts in die deutsche Rechtsordnung wird entweder von vorneherein ausgeschlossen oder als rein theoretisch abgetan2. Die zu­ nehmende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und die Ausweitung der Sachbereiche, die heute durch das Völkerrecht geregelt werden, führt jedoch zu einer Zunah­ me völkerrechtlicher Regeln, die auch innerstaatlich von Be­ deutung sind und deren Anwendung durchaus mit unserer Verfassungsordnung kollidieren können. Haupteinfallstor für das Völkerrecht ins deutsche Recht ist Art. 25 GG. Dort heißt es: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“

Art. 25 S. 1 GG erteilt einen generellen Rechtsanwen­ dungsbefehl. Die Vorschrift bewirkt nach Aussage des Bun­ desverfassungsgerichts, dass „die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ohne ein Transformationsgesetz, also unmittel­ bar, Eingang in die deutsche Rechtsordnung finden und dem deutschen innerstaatlichen Recht […] im Range vorgehen.“3 Das Grundgesetz ist insoweit wirklich völkerrechtsfreund­ licher als z. B. das englische Recht, in dem die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zwar ebenfalls Bestandteil des Com­ mon Law sind, aber unter dem Vorbehalt einfacher Parla­ mentsgesetze stehen4, was den Gedanken der „sovereignty of 2  Vgl. Steinberger, Allgemeine Regeln des Völkerrechts, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesre­ publik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 173 Rn. 61; Schorkopf (Fn. 1), S. 166. 3  BVerfGE, 6, 309 (363). 4  Siehe Jennings / Watts (Hg.), Oppenheim’s International Law, 1992, S. 57.



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Parliament“ widerspiegelt. Die perpetuierlich-dynamische Einbeziehung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in die deutsche Rechtsordnung unabhängig von ihrem materiellen Gehalt, außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens und unter Ausschluss des demokratisch legitimierten Gesetzgebers5, ein Vorgang, der auch als „Akt der blinden Unterwerfung“6 be­ zeichnet wurde, ist nicht ohne Risiko7. Zu den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ gehören das Völkergewohnheitsrecht, einschließlich des völkerrecht­ lichen jus cogens, sowie die anerkannten allgemeinen Rechts­ grundsätze im Sinne von Artikel 38 Abs. 1c des IGH-Sta­ tuts8. Gerade die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht erfordert jedoch nicht, dass alle Staaten einer Regel aus­ drücklich oder konkludent zugestimmt haben. Deutschland muss eine völkergewohnheitsrechtliche Regel also nicht not­ wendigerweise anerkannt haben, damit sie innerstaatlich zur Anwendung kommen kann9. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass eine Regel „allgemein“ im Sinne des 5  Vgl. BVerfGE 6, 309 (363): „Der Gesetzgeber hat also die Verfügungsmacht über den Rechtsbestand auch dort, wo eine [völ­ kerrechtliche] vertragliche Bindung besteht, sofern sie nicht allgemeine Völkerrechtssätze zum Gegenstand hat“ (Hervorhebung durch Verf.). Vgl. auch BVerfGE 23, 288 (316 f.). 6  Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Frem­ denrechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963, S. 4; übernom­ men z. B. von Dreier, Kontexte des Grundgesetzes, DVBl 1999, S.  667 (674 f.). 7  Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Ge­ richte, 2003, S. 63. Siehe auch Bleckmann, Grundgesetz und Völ­ kerrecht, 1975, S. 293; Geiger, Zur Lehre vom Völkergewohnheits­ recht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 103 (1978), S. 382 (384 f.). 8  Siehe z.  B. BVerfGE 15, 25 (34  f.); 23, 288 (317); 94, 315 (328); 95, 96 (129); 96, 68 (86), 112, 1 (25, 27 f.). Contra Silagi, Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts als Bezugsgegenstand in Art. 25 GG und Art. 26 EMRK, EuGRZ 1980, 632 (645 f.), der unter den allgemeinen Regeln des Völkerrechts nur das jus cogens verstehen will. 9  Anders noch die Rechtslage unter Art. 4 WRV; siehe Stein­ berger (Fn. 2), § 173, Rn. 33.

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Art. 25 GG sei, „wenn sie von der weitaus größeren Zahl der Staaten – nicht notwendigerweise auch von der Bundes­ republik Deutschland – anerkannt“ wird10. Hier lauert Kon­ fliktpotential, da Völkergewohnheitsrecht in jüngster Zeit von internationalen und internationalisierten Gerichten und Organen regelrecht „gefunden“ oder soll man sagen „erfun­ den“ wurde, ohne dass der erforderliche Nachweis einer sich in der Staatenpraxis manifestierenden Rechtsüberzeu­ gung der Staaten geführt wurde11. Zu denken ist hier nur an die Feststellung des Sondergerichts für Libanon vom Feb­ ruar 2011, dass „Terrorismus“ heute ein völkergewohnheits­ rechtlich etablierter Straftatbestand sei12 – und dies, obwohl sich die Staaten im Rahmen der Vereinten Nationen seit mehr als 20 Jahren noch nicht einmal auf eine Definition des „Terrorismus“ haben einigen können13. Das Völkergewohnheitsrecht bleibt innerstaatlich auch dann noch von Bedeutung, wenn der Regelungsgegenstand einer gewohnheitsrechtlichen Norm Eingang in einen Vertrag gefunden hat. Die Inkorporation einer gewohnheitsrecht­ lichen Norm in einen völkerrechtlichen Vertrag ändert nichts an deren gleichzeitiger gewohnheitsrechtlicher Geltung. In diesem Fall bestehen beide Rechtsquellen nebeneinander14. 10  BVerfGE 16, 27 (33); 15, 25 (34). Siehe auch Geck, Das Bun­ desverfassungsgericht und die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, in: Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 2, 1976, S. 125 (128). 11  Vgl. BVerfGE 95, 96 (129). 12  Special Tribunal for Lebanon, Interlocutory Decision on the Applicable Law: Terrorism, Conspiracy, Homicide, Perpetration, Cumulative Charging, STL-11-01 / I / AC / R176bis, 16 February 2011, paras. 83–113. Siehe auch Ambos, Judicial Creativity at the Special Tribunal for Lebanon: Is There a Crime of Terrorism under Inter­ national Law, Leiden Journal of International Law 24 (2011), S. 655 (665 ff.). 13  Siehe z. B. den Sitzungsbericht des Sechsten Ausschusses der VN-Generalversammlung v. 3.10.2011 zum Thema „Maßnahmen zur Ausschaltung des internationalen Terrorismus“, UN Doc. A / C.6 / 66 / SR.1, 24 October 2011, S.  5 (§  38).



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Da Völkergewohnheitsrecht nach Art. 25 S. 2 GG den Geset­ zen vorgeht, völkerrechtliche Verträge aber nur den Rang der sie inkorporierenden einfachen Bundesgesetze haben, ist die Unterscheidung auch von praktischer Bedeutung15. 14

Wenn das Völkergewohnheitsrecht in Deutschland also unmittelbar gilt, wenn es sogar den Gesetzen vorgeht, so stellt sich z. B. die Frage, ob somalische Piraten von deut­ schen Gerichten nach völkergewohnheitsrechtlichen Straf­ vorschriften verurteilt werden könnten; ob sich Scientology vor deutschen Behörden auf die völkergewohnheitsrecht­ liche Religionsfreiheit berufen könnte; und ob deutsche Staatsbürger auf der Grundlage einer entsprechenden völ­ kergewohnheitsrechtlichen Vorschrift an das Ausland ausge­ liefert werden könnten. Oder gibt es hier eventuell Grenzen für die Anwendung des Völkergewohnheitsrechts im deut­ schen Recht? Im Folgenden sollen zwei mögliche Grenzen aufgezeigt werden: Zum einen, die dem Völkergewohnheits­ recht selbst innewohnenden Grenzen, sog. „immanente Grenzen“; zum anderen, die sich aus dem Grundgesetz er­ gebenden Grenzen, sog. „verfassungsrechtliche Grenzen“. Diese Grenzen kommen auch dann zur Anwendung, wenn man richtigerweise davon ausgeht, dass das Völkergewohn­ heitsrecht Bestandteil des Europarechts ist16 und als solches über Art. 23 GG Eingang ins deutsche Recht findet, da sich die Grenzen des Art. 23 GG insoweit nicht wesentlich von denen des Art. 25 GG unterscheiden17. 14  BVerfG, NJW 2001, S. 1848 (1849). Siehe auch IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Jurisdiction and Admissibility, ICJ Rep. 1984, 392 (424, para. 73). 15  Contra Dreier (Fn. 6), S. 675, für den völkerrechtliche Verträ­ ge als leges speciales den allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor­ gehen. 16  Siehe z. B. EuGH (Große Kammer), Rs C-308  / 06, Intertan­ ko und Andere, Slg. 2008 I-4057, Rn. 51. 17  Siehe BVerfGE 111, 307 (319), wonach auch die – sehr weit­ gehende – Integrationsermächtigung in Art. 23 GG verfassungs­ rechtlichen Grenzen unterliegt.

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II. Immanente Grenzen Immanente Grenzen der Anwendung des Völkergewohn­ heitsrechts können sich sowohl aus dem Inhalt der einzel­ nen völkergewohnheitsrechtlichen Norm („tatbestandliche Grenzen“) als auch dem Völkerrecht als solchem („völker­ rechtliche Grenzen“) ergeben. 1. Tatbestandliche Grenzen Die Normen des Völkergewohnheitsrechts sind inner­ staatlich nur nach Maßgabe ihres Tatbestandes anzuwenden. Die Mehrzahl dieser Normen richtet sich an die Staaten und ihre Organe und begründet ausschließlich Rechte und Pflichten im Verhältnis der Staaten zueinander. Nur aus­ nahmsweise begründet das Völkergewohnheitsrecht unmit­ telbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen. Art. 25 GG verschafft den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zwar unmittelbare Geltung, verändert aber nicht deren Inhalt. Insbesondere bewirkt die Vorschrift keinen Adressaten­ wechsel der Norm18. Die Regel, wonach das Vermögen von Ausländern nur im öffentlichen Interesse und nur gegen Entschädigung enteignet oder nationalisiert werden darf, be­ gründet ein Recht des Heimatstaats des Ausländers, das im Wege des diplomatischen Schutzes auszuüben ist, und nicht ein Individualrecht des Ausländers selbst. Diese Regel be­ gründete deshalb auch über Art. 25 GG innerstaatlich kein unmittelbares Recht des Ausländers auf Entschädigungszah­ lung19. Der Grundsatz „pacta sunt servanda“ besagt auch als geltendes Bundesrecht nur, dass die Bundesrepublik Deutsch­ land verpflichtet ist, ihre vertraglich eingegangenen Ver­ pflichtungen einzuhalten. Selbst wenn man aus Art. 25 S. 2 18  BVerfGE 41, 126 (160). Siehe auch Zuleeg, in: Alternativ­ kommentar zum GG, 2. Aufl. 1989, Art. 24 Abs. 3 / Art. 25, Rn. 12. Anders jedoch Doehring (Fn. 6), S. 157 ff. 19  Vgl. Engel, Völkerrecht als Tatbestandsmerkmal deutscher Normen, 1989, S. 213.



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GG folgern wollte, dass auch die Bewohner des Bundes­ gebiets Rechte aus diesem Grundsatz herleiten können, so könnten sich diese – dem Tatbestand dieser völkerrecht­ lichen Norm entsprechend – nur darauf erstrecken, die Bun­ desrepublik Deutschland zur Erfüllung ihrer Verpflichtun­ gen anzuhalten20. Das Gleiche gilt für das die Bundesrepu­ blik Deutschland bindende völkergewohnheitsrechtliche Gewaltverbot21. In keinem Fall regeln die allgemeinen Re­ geln des Völkerrechts, welche Behörden oder Gerichte in welchem Verfahren innerstaatlich die Einhaltung dieser Pflichten sicherzustellen haben. Nicht jede Norm des Völkergewohnheitsrechts ist inner­ staatlich unmittelbar anwendbar. Voraussetzung für die in­ nerstaatliche Anwendung ist nicht, dass die Norm Rechte oder Pflichten für den Einzelnen begründet. Auch Vor­ schriften, die Rechte und Pflichten der Staaten begründen, können innerstaatliche Anwendung finden, indem sie die zuständigen Staatsorgane auch bundesrechtlich binden, diese Rechte und Pflichten zu erfüllen22. Unmittelbar anwendbar sind aber nur solche Normen, die inhaltlich hinreichend be­ stimmt sind, so dass zu ihrer Durchführung keine weiteren innerstaatlichen Rechtsakte notwendig sind. Kurzum, die Norm muss vollzugsfähig oder „self-executing“ sein23. All­ gemeine Regeln des Völkerrechts, die den Staaten lediglich eine Handlungsmöglichkeit eröffnen, d. h. sie zu einem Tun ermächtigen, ohne sie dazu zu verpflichten, sind in der Re­ gel nicht anwendungsreif, bevor im staatsrechtlich vorgese­ henen Verfahren von der Ermächtigung Gebrauch gemacht 20  BFHE

73, 399 (411 f.). BVerwGE 131, 316 (342 f.). 22  Vgl. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, S. 172; Engel (Fn. 19), S. 214  f. Vgl. auch Koenig, in: von Mangoldt  /  Klein / Starck, Kommentar zum GG, Bd. 2, 2010, Art. 25 Rn. 44 ff., der richtigerweise zwischen innerstaatlicher Geltung, unmittel­ barer Anwendung und Einräumung subjektiver Rechte unterschei­ det. 23  Schweitzer, Staatsrecht III, 10. Aufl. 2010, Rn. 436. 21  Siehe

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wurde24. So hat jeder Staat das völkergewohnheitsrechtliche Recht, Schiffe unter seiner Flagge auf der Hohen See fahren zu lassen. Daraus ergibt sich aber auch über Art. 25 S. 2 GG bundesrechtlich kein Rechtsanspruch des Einzelnen gegen die Bundesrepublik Deutschland, tatsächlich Schiffe auf Ho­ her See unter der Bundesflagge fahren zu lassen. Auch aus dem Recht der Staaten zum Fischfang auf Hoher See lässt sich kein unmittelbares Recht des Einzelnen zur Hochsee­ fischerei gegen seinen Staat ableiten25. Das Gleiche gilt für das Recht der Staaten zur Bekämpfung der Seeräuberei. Ein innerstaatlicher Rechtsanspruch auf generelles Tätigwerden der Bundesmarine ergibt sich hieraus nicht26. 2. Völkerrechtliche Grenzen Immanente Grenzen ergeben sich auch aus dem Völker­ recht selbst. Soweit das Völkerrecht der Geltung bzw. An­ wendung des Völkergewohnheitsrechts Grenzen setzt, be­ grenzt dies auch dessen innerstaatliche Anwendung. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass eine allgemei­ ne Regel des Völkerrechts nur „mit ihrer jeweiligen völker­ rechtlichen Tragweite“ Bestandteil des Bundesrechts wird27. Daraus folgt, dass sich Art. 25 GG nur auf „die die Bundes­ republik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen“ be­ zieht28. Dies bedeutet sowohl eine sachliche als auch eine zeitliche Anwendungsgrenze. Nur solche allgemeinen Re­ 24  Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, 1957, S. 43. Siehe auch Tomuschat (Fn. 1), § 172 Rn. 2 und 8. 25  Siehe dazu Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Aus­ länder in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1974), S. 7 (24). 26  Vgl. Rechte und Pflichten der Deutschen Marine bei der Be­ kämpfung der Piraterie, Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 16 / 9286, 23.5.2008, S. 3, 4. 27  BVerfGE 46, 342 (403). Siehe auch BVerfGE 18, 441 (448); 23, 288 (316 f.). Siehe ferner Koenig (Fn. 22), Art. 25 Rn. 31; Steinberger (Fn. 2), § 173 Rn. 34 m. w. N. 28  BVerfGE 112, 1 (24).



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geln des Völkerrechts werden Bestandteil des Bundesrechts, an die Deutschland völkerrechtlich gebunden ist, und nur so lange, wie dies der Fall ist. Abzustellen ist hier auf eine Pa­ rallelität von äußerer Geltung und innerer Anwendung, d. h. auf eine Kongruenz von Außen- und Innenverhältnis29. Die Geltung des Völkergewohnheitsrechts lässt sich für Deutschland mindestens auf fünferlei Weise einschränken: a) Vertraglicher Ausschluss des Völkergewohnheitsrechts Erstens ist hier an einen vertraglichen Ausschluss des Völ­ kergewohnheitsrechts zu denken. Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht stehen als Rechtsquellen gleichran­ gig nebeneinander. Völkergewohnheitsrecht ist mit Ausnah­ me der höherrangigen Normen des jus cogens nachgiebiges Recht und kann durch Vertragsrecht zwischen den Vertrags­ parteien jederzeit abbedungen werden30. Als Beispiel mag hier die völkergewohnheitsrechtliche Pflicht zur Naturalres­ titution dienen, der zufolge der für eine völkerrechtlich un­ erlaubte Handlung verantwortliche Staat soweit als möglich alle Folgen dieser Handlung zu beseitigen und den ohne sie vermutlich bestehenden Zustand wiederherzustellen hat31. Selbst wenn man diesen Grundsatz auch auf Fälle von Völ­ kerrechtsverletzungen durch die Rechtsprechung deutscher Gerichte erstrecken wollte, wäre eine Berufung auf diesen Grundsatz über Art. 25 GG bei Verletzungen der Europäi­ 29  Ähnlich stellt sich die Rechtslage beim völkerrechtlichen Vertrag dar, der innerstaatlich immer nur im Umfang seiner völker­ rechtlichen Geltung transformiert und / oder vollzogen wird. 30  Siehe z.  B. BVerfGE 18, 441 (448 f.); BVerfG, NJW 2001, S. 1848 (1849); BVerwGE, NJW 1989, S. 678 (679); BSozGE 22, 49 (53); BFHE 70, 287 (289). Siehe auch Engel (Fn. 19), S. 183 f.; Frowein, Die Bindungswirkung von Akten der auswärtigen Gewalt insbesondere von rechtsfeststellenden Akten, in: Delbrück / Ipsen /  Rauschning (Hg.), Festschrift für Eberhard Menzel, 1975, S. 125 (135). 31  Siehe StIGH, Factory at Chorzow (Germany v. Poland), 1928 PCIJ Ser. A, No. 17, S. 47.

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schen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgeschlossen, da diese in Art. 41 mit der Pflicht zur Zahlung einer gerech­ ten Entschädigung eine vertragliche Spezialregelung enthält, die von dieser allgemeinen Regel des Völkerrechts ab­ weicht32. An die Stelle der förmlichen Aufhebung des Ur­ teils tritt hier die Entschädigungszahlung. Auch die zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zählenden Immunitäts­ regelungen können vertraglich eingeschränkt werden, wie dies unter anderem in den Begleitverträgen zum NATOTruppenstatut geschehen ist33. Dass den allgemeinen Regeln des Völkerrechts innerstaatlich ein höherer Rang zukommt als einem durch Bundesgesetz transformierten Vertrag än­ dert hieran nichts34, da es bereits auf völkerrechtlicher Ebe­ ne keine durch Art. 25 GG zu inkorporierende entgegenste­ hende allgemeine Regel des Völkerrechts mehr gibt. Soweit Deutschland somit eine Regel des Völkergewohnheitsrechts vertraglich abbedungen hat, kann diese nicht Bestandteil des Bundesrechtes werden. Andernfalls wäre die Bundesrepub­ lik innerstaatlich an eine Regelung gebunden, die völker­ rechtlich für sie nicht gilt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die völkervertragliche Regel durch Bundesgesetz in das deutsche Recht transformiert wurde oder ob diese inner­ staatlich unmittelbar anwendbar ist. Abzustellen ist allein auf die völkerrechtliche Rechtslage35.

32  BVerfG,

NJW 1986, S. 1425 (1426). BAGE 48, 81 (86). 34  Zum Problem vgl. Bleckmann (Fn. 7), S. 294 f.; Silagi (Fn. 8), S. 642, die davon ausgehen, dass „das völkerrechtliche Rangverhält­ nis zwischen den Rechtsnormen auch innerstaatlich aufrecht erhal­ ten“ werden soll. 35  Ebenso Engel (Fn. 19), S. 183 Fn. 43; Frowein (Fn. 30), S.  135 f. 33  Siehe



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b) Beharrliche Rechtsverwahrung gegen neues Völkergewohnheitsrecht Die Geltung von Völkergewohnheitsrecht lässt sich für die Bundesrepublik Deutschland zweitens dadurch ein­ schränken, dass diese sich einer neuen völkergewohnheits­ rechtlichen Entwicklung verweigert36. Zwar kann ein einzel­ ner Staat die Entstehung von neuem oder die Änderung von bestehendem Völkergewohnheitsrecht nicht verhindern, doch kann er als sogenannter „persistent objector“ durch seine stetige und unzweideutige Ablehnung der Regel von Anfang an verhindern, dass er selbst durch diese Regel ge­ bunden wird37. Wie das Bundesverfassungsgericht ausge­ führt hat, kann ein Staat sein entgegenstehendes Verhalten „bei beharrlicher Rechtsverwahrung von Anfang an, der Anwendung einer bestehenden allgemeinen Regel des Völ­ kergewohnheitsrechts erfolgreich entgegenhalten“38. Selbst wenn man also davon ausginge, dass das Transitrecht der Binnenstaaten, d. h. die Freiheit des Transits durch das Ho­ heitsgebiet der Transitstaaten mit allen Verkehrsmitteln, heute völkergewohnheitsrechtlich verankert wäre, käme die­ ses Recht innerstaatlich über Art. 25 GG nicht unmittelbar zur Anwendung, da die Bundesrepublik Deutschland von Anfang an klar gemacht hat, dass ein solches Recht bei Feh­ len einer vertraglichen Spezialvereinbarung zwischen ihr und dem Binnenstaat nur nach Maßgabe der deutschen Ge­ setze besteht39. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts, der 36  Siehe z. B. Steinberger (Fn. 2), Rn. 35; Silagi (Fn. 8), S. 641; Engel (Fn. 19), S. 177–182; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, S. 145; Kunig, in: Graf Vitzthum (Hg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, S.  131; Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu / Hof­ mann / Hopfauf (Hg.), Kommentar zum GG, 12. Aufl. 2011, Art. 25 Rn. 8. 37  Siehe IGH, Fisheries Case (United Kingdom v. Norway), Urteil v. 18.12.1951, ICJ Rep. 1951, 116 (131). 38  BVerfGE 46, 342 (389). 39  Siehe die von der Bundesrepublik Deutschland am 14.10.1994 bei Hinterlegung der Beitrittsurkunde zum Seerechtsübereinkom­

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die Bundesrepublik als „persistent objector“ entgegengetre­ ten ist, gelangt damit auch innerstaatlich über Art. 25 GG nicht zur Anwendung. Spätere Erklärungen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr an eine allgemeine Regel des Völkerrechts gebunden fühle, können hingegen die innerstaatliche Anwendung der Regel über Art. 25 GG nicht mehr verhindern. Die innerstaatliche Anwendung einer für die Bundesrepu­ blik Deutschland grundsätzlich geltenden völkergewohn­ heitsrechtlichen Regel ist auch dann ausgeschlossen, wenn ein fremder Staat erfolgreich Rechtsverwahrung eingelegt hat. Soweit die betreffende Regel Verpflichtungen inter par­ tes begründet, ist die Bundesrepublik Deutschland nach dem Gegenseitigkeitsprinzip völkerrechtlich nicht dazu verpflich­ tet, dem „persistent objector“ gegenüber die Verpflichtun­ gen zu erfüllen40. Ein Staat, der sich z. B. von Anfang an gegen die Unverletzlichkeit des diplomatischen Kurierge­ päcks im Durchgangsverkehr ausgesprochen hat und diese in seiner diplomatischen Praxis nicht respektiert41, kann sich vor deutschen Behörden und Gerichten nicht auf diese über Art. 25 GG grundsätzlich rezipierte Regel des Völker­ gewohnheitsrechts berufen. Die Eingriffsermächtigungen des einfachen Bundes- oder Landesrechts werden in diesem Fall nicht durch die höherrangigen Normen des inkorporierten völkergewohnheitsrechtlich geltenden Diplomatenrechts de­ rogiert.

men der Vereinten Nationen abgegebene Erklärung, BGBl. 1995 II, S. 602 (603). 40  Engel (Fn. 19), S. 182. 41  Vgl. Art. 40 Abs. 3 Wiener Übereinkommen über diplomati­ sche Beziehungen v. 18.4.1961, BGBl. 1964 II, S. 959 und Art. 28 Abs. 1 Draft articles on the status of the diplomatic courier and the diplomatic bag not accompanied by diplomatic courier, ILC Year­ book 1989 II / 2, S. 42 f.



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c) Derogation durch Schaffung von partikularem Völkergewohnheitsrecht Drittens lässt sich die Geltung von allgemeinem Völkerge­ wohnheitsrecht mit Ausnahme von jus cogens durch die Schaffung von regionalem oder lokalem Völkergewohnheits­ recht einschränken, das die Bundesrepublik Deutschland bindet. Dieses kann auf der Grundlage der Grundsätze lex specialis und lex posterior allgemeines Gewohnheitsrecht derogieren. Soweit sich die Bundesrepublik Deutschland ak­ tiv an der Herausbildung eines solchen partikularen Völker­ gewohnheitsrechts beteiligt hat, gilt für sie das allgemeine Völkergewohnheitsrecht im Verhältnis zu den anderen Staa­ ten der Regional- oder Lokalgruppe nicht und kommt inso­ weit auch innerstaatlich nicht zur Anwendung. Zu denken wäre hier etwa an die Garantien der Europäischen Konven­ tion für Menschenrechte als europäisches Völkergewohn­ heitsrecht42. Die Frage des Ausschlusses der Anwendung von allgemeinem Völkergewohnheitsrecht durch die Her­ ausbildung von regionalem oder lokalem Völkergewohn­ heitsrecht ist jedoch von der Frage zu unterscheiden, auf welche Weise das partikulare Völkergewohnheitsrecht sei­ nerseits Bestandteil des Bundesrechts wird. Auch auf letzte­ res ist Art. 25 GG anwendbar43. Die Formulierung „allge­ meine Regeln“ bezieht sich hier nicht auf den territorialen Geltungsbereich einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm, sondern grenzt die allgemeinen Regeln des Völkerrechts von 42  Siehe Pernice, in: Dreier (Hg.), GG Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 25 Rn. 21. Dagegen Rojahn, in: von Münch / Ku­ nig (Hg.), GG Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 25 Rn. 16, der „regionales (europäisches) Völkergewohnheitsrecht“ im Menschen­ rechtsbereich nicht von Art. 25 S. 1 GG erfasst sieht. 43  Siehe Bleckmann (Fn. 7), S. 291; Streinz, in: Sachs (Hg.), GG-Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 25 Rn. 24; Koenig (Fn. 22), Art. 25 Rn. 7 und 28; Hofmann, in: Umbach / Clemens (Hg.), GG, Bd. I, 2002, Art. 25 Rn. 15. Contra Kunig (Fn. 36), S. 131; Geck (Fn. 10), S. 125 (128); Schorkopf (Fn. 1), S. 173, die den Begriff „all­ gemein“ auf das allgemeine Völkergewohnheitsrecht beziehen.

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den in Art. 59 Abs. 2 GG behandelten besonderen Regeln des Völkervertragsrechts ab. d) Suspendierung von Völkergewohnheitsrecht als Gegenmaßnahme Verletzt ein anderer Staat der Bundesrepublik Deutsch­ land gegenüber das Völkerrecht, so kann diese ihrerseits mit gewissen Ausnahmen die Erfüllung der diesem Staat ge­ schuldeten Verpflichtungen durch einseitige Erklärung zeit­ weilig aussetzen, um den Staat dadurch wieder zu rechts­ treuem Verhalten zu veranlassen44. Die Suspendierung von Regeln des Völkergewohnheitsrechts, mit Ausnahme des jus cogens, als Gegenmaßnahme gegen einen Völkerrechtsver­ stoß führt aber dazu, dass diese in den bilateralen Beziehun­ gen mit diesem Staat zeitweilig keine Geltung mehr haben und auch innerstaatlich diesem Staat gegenüber nicht mehr anwendbar sind45. Verletzt ein anderer Staat z. B. die völ­ kergewohnheitsrechtlich gewährleistete Immunität der Bun­ desrepublik Deutschland, indem er Klagen und Vollstre­ ckungsmaßnahmen gegen die Bundesrepublik in seinem Staatsgebiet zulässt46, so kann die Bundesregierung im Ge­ genzug die Immunitätsgewährung an diesen Staat aussetzen. Eine Berufung des fremden Staates auf die über Art. 25 GG grundsätzlich inkorporierten Immunitätsregeln scheidet in diesem Fall aus, da diese für den Staat in seinem Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich suspendiert sind47. 44  Siehe Art. 49, 50 der Artikel über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen, 2001, UN Doc. A / RES / 56 / 83, 28.1.2002, Annex. 45  Ebenso Engel (Fn. 19), S. 182 f. Anders aber Tomuschat, Re­ pressalie und Retorsion. Zu einigen Aspekten ihrer innerstaatlichen Durchführung, ZaöRV 33 (1973), S. 179 (195 f.). 46  Siehe IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy: Greece intervening), Urteil v. 3.2.2012. 47  Vgl. Frowein (Fn. 30), S. 136 f.



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e) Unanwendbarkeit von Völkergewohnheitsrecht bei VN-Sanktionen Eine völkergewohnheitsrechtliche Norm ist fünftens in­ nerstaatlich zumindest gegenüber einzelnen Staaten dann nicht anwendbar, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund eines bindenden Beschlusses des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ver­ pflichtet ist, gegenüber diesen Staaten gewisse Sanktions­ maßnahmen zu ergreifen, die mit der Norm kollidieren. So wird der völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz „pacta sunt servanda“ regelmäßig außer Kraft gesetzt, wenn der Si­ cherheitsrat die Staaten auffordert, trotz entgegenstehender Luftverkehrsabkommen die Landerechte für Flugzeuge aus dem mit Sanktionen belegten Staat auszusetzen. In diesem Fall geht der Beschluss des Sicherheitsrats nach Art. 103 VN-Charta der völkergewohnheitsrechtlichen Norm vor und führt zu deren vorübergehender Unanwendbarkeit im Verhältnis zum sanktionierten Staat48. Der Gleichklang von völkerrechtlicher und innerstaatlicher Rechtslage bedeutet, dass die völkergewohnheitsrechtliche Norm für den mit den Sanktionen belegten Staat (zumindest vorübergehend) nicht Bestandteil des Bundesrechts ist49.

48  Art. 103 VN-Charta spricht zwar nur von „Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften“, doch geht die h. M. davon aus, dass die Vorschrift auch einen Vorrang von Sicherheits­ ratsresolutionen vor dem Völkergewohnheitsrecht (mit Ausnahme des jus cogens) begründet; siehe z. B. Bernhardt, in: Simma (Hg.), The Charter of the United Nations: A Commentary, 2. Aufl. 2002, Art. 103 Rn. 9, 21. 49  Die Frage hat nur noch insoweit praktische Bedeutung als Sanktionsbeschlüsse des VN-Sicherheitsrats nicht durch EURechtsakte umgesetzt werden, da das EU-Recht auch den ins Bun­ desrecht inkorporierten allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor­ geht. Die Frage stellt sich jedoch in gleicher Weise auf EU-Ebene, da die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des EURechts sind.

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III. Verfassungsrechtliche Grenzen Grenzen der Anwendung des Völkergewohnheitsrechts im deutschen Recht ergeben sich aber nicht nur aus dem Völkerrecht selbst, sondern vor allem aus dem Verfassungs­ recht. So hat der Bundesfinanzhof ausgeführt, dass das „Völkergewohnheitsrecht […] nach Art. 25 GG nur inso­ weit Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung sein [kann], als es nicht dem Verfassungsrecht widerspricht.“50 Nach Art. 25 S. 2 GG gehen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts „den Gesetzen vor“. In der Literatur wurde diesen Regeln zum Teil „Verfassungsrang“51 oder (mit Blick auf das völkerrechtliche jus cogens) sogar „Überverfassungs­ rang“52 beigemessen, doch wird dies von der Rechtspre­ chung und der herrschenden Lehre zu Recht abgelehnt53. Art. 25 S. 2 GG erhebt die allgemeinen Regeln des Völker­ 50  BFHE 157, 39 (42). Fragwürdig dagegen BAG, AP Nr. 1 zu Art. 25 GG, §§ 36–39; siehe aber ebd., § 41 und die Anm. von Grunsky. Zur BAG-Entscheidung siehe auch Silagi (Fn. 8), S. 636. 51  Siehe Doehring (Fn. 6), S. 183  ff.; derselbe (Fn. 25), S. 21 ff. Kritisch hierzu die Diskussionsbeiträge von Kewenig, Zuleeg und Tomuschat, VVDStRL 32 (1974), S. 108, 110, 121. Ähnlich wie Doehring äußerten sich Vogel (Fn. 1), S. 40; Bleckmann (Fn. 7), S. 302; Steinberger (Fn. 2), § 173 Rn. 61; Kraus, Der deutsche Rich­ ter und das Völkerrecht, in: Constantopoulos  /  Wehberg (Hg.), Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 223 (227). 52  Siehe z. B. Pernice (Fn. 42), Art. 25 Rn. 25, der auch den ver­ fassungsändernden Gesetzgeber über Art. 25 an das völkerrecht­ liche jus cogens binden will; vorsichtig zustimmend auch Streinz (Fn. 43), Art. 25 Rn. 90. Siehe auch Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, Überprüfung der Transfor­ mationslehre, BDGVR 6 (1964), S. 34 ff., 61 ff. 53  Herdegen, in: Maunz-Dürig, GG Kommentar, Bd. IV, 37. Lfg. (2000), Art. 25 Rn. 7, 42; Tomuschat (Fn. 1), § 172 Rn. 11; Bleckmann (Fn. 7), S. 294, 299; Kunig (Fn. 36), S. 134 f.; Rojahn (Fn. 42), Art. 25 Rn. 55 (der jedoch den Normen des jus cogens Verfas­ sungsrang einräumen will, ebd., Rn.  57); Hillgruber (Fn. 36), Art. 25 Rn. 10; Zuleeg (Fn. 18), Art. 24 Abs. 3 / Art. 25 Rn. 23; Papadimitriou, Die Stellung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, 1972, S. 85 ff.



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rechts über die einfachen Gesetze, doch bleibt der Vorrang der Verfassung unangetastet. Wie das Bundesverfassungsge­ richt ausgeführt hat, will das Grundgesetz eine weitgehende Öffnung der innerstaatlichen Rechtsordnung für das Völ­ kerrecht; es „ordnet [aber] nicht die Unterwerfung der deut­ schen Rechtsordnung unter die Völkerrechtsordnung und den unbedingten Geltungsvorrang des Völkerrechts vor dem Verfassungsrecht an“; insbesondere will es „keine jeder ver­ fassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsgewalt“54, wozu auch die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu zählen sind. Völkerrechtsfreundlichkeit bedeutet also nicht Selbst­ aufgabe der Verfassungsordnung. Eine Gleichstellung des sich ständig weiterentwickelnden Völkergewohnheitsrechts mit der Verfassung würde nicht nur zu einer Durchbrechung des Art. 79 Abs. 1 GG über die Anforderungen an die Ver­ fassungsänderung führen, sondern liefe auch auf eine mögli­ che völkerrechtliche Abschwächung des Grundrechtsschut­ zes hinaus55. Die Stellung der allgemeinen Regeln des Völ­ kerrechts im deutschen Recht wird am besten mit einem „Zwischenrang“ zwischen dem Grundgesetz und den einfa­ chen Gesetzen umschrieben, was deren Überprüfung an­ hand des Grundgesetzes erlaubt. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, die unter anderem in Art. 25 GG zum Ausdruck kommt56, ge­ bietet zwar auch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes im Lichte der allgemeinen Regeln des Völkerrechts57. Dies bedeutet aber nicht, dass ein von der Verfassung verbürgtes Recht nicht weiter reichen kann als eine entsprechende allgemeine Regel des Völkerrechts58. 54  BVerfGE 111, 307 (318 f.); 112, 1 (25). Siehe auch BVerfGE 6, 309 (363); 18, 441 (451); 47, 365 (378); BFHE 79, 57 (65 f.). 55  Siehe Hofmann (Fn. 43), Art. 25 Rn. 23. 56  BVerfGE 111, 307 (329); 6, 309 (362). 57  Bleckmann (Fn. 7), S. 298. 58  Anders aber BayObLGZ 1964, 127 (130 ff.). Umgekehrt ge­ hen die Gerichte davon aus, dass es keine allgemeinen Regeln des

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Das rezipierte Völkerrecht determiniert nicht das ranghöhe­ re Verfassungsrecht. Kollisionen und Konflikte sind nicht grundsätzlich auszuschließen. Soweit eine harmonisierende Auslegung aufgrund der Wortlautgrenze oder der Wertent­ scheidungen der Verfassung nicht möglich ist, sind die all­ gemeinen Regeln des Völkerrechts nicht anzuwenden. Wie Hermann Mosler treffend bemerkt hat: „Sollte der Konflikt eindeutig sein, so muss der Richter der Verfassungsnorm den Vorzug geben.“59 1. Die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung als Grenze Als mögliche verfassungsrechtliche Grenze für die An­ wendung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts kommt zunächst einmal die Kompetenzordnung des Grundgesetzes in Betracht. a) Die Beziehungen zwischen dem Bund und den Ländern und zwischen den Ländern Bereits in einer seiner ersten Entscheidungen hat das Bun­ desverfassungsgericht entschieden, dass sowohl die Bezie­ hungen zwischen dem Bund und den Ländern als auch die Beziehungen zwischen den Ländern ausschließlich durch das Bundesverfassungsrecht bestimmt werden und dass „inso­ weit […] kein Raum für die Anwendung von Völkerrecht“ ist60. Art. 25 GG bietet „keinen Ansatz, die verfassungsrecht­ liche Regelung der Beziehung zwischen den Ländern, die sich aus ihrer gliedstaatlichen Stellung im Bundesstaat erge­ ben, zu modifizieren oder zu ergänzen.“61 Insbesondere las­ Völkerrechts gibt, die weiterreichen als die Grundrechte; siehe z. B. BVerfGE 6, 290 (300); BFHE 77, 267 (270). 59  Mosler (Fn. 24), S. 45. 60  BVerfGE 34, 216 (231). 61  Ebd.; so auch schon BVerfGE 1, 14 (51  f.). Zustimmend Steinberger (Fn. 2), § 173 Rn. 64.



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sen sich über Art. 25 GG, der die allgemeinen Regeln des Völkerrechts dem Bundesrecht zuweist, keine Kompetenzen des Bundes begründen62. Auch wenn das Völkergewohn­ heitsrecht dem Völkerrechtssubjekt Bundesrepublik Deutsch­ land souveräne Rechte und Hoheitsbefugnisse in der Aus­ schließlichen Wirtschaftszone zuweist, führt dies nicht zu einer Durchbrechung der grundgesetzlichen Kompetenzver­ teilung zwischen Bund und Ländern. Insbesondere erwach­ sen dem Bund dadurch keine über Art. 70 ff. GG hinausge­ henden Kompetenzen63. b) Zuständigkeitsregelungen des GG In jüngster Zeit wurde vor allem im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr diskutiert, ob völkerge­ wohnheitsrechtliche Regeln als Kompetenzgrundlage für ho­ heitliches Handeln deutscher Staatsorgane dienen können. Nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen deutsche Streitkräfte so­ wohl im Inland als auch im Ausland außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrück­ lich zulässt. Hauptrechtsgrundlage für den Streitkräfteein­ satz ist danach bislang Art. 24 Abs. 2 GG. Das Bundesver­ fassungsgericht hat im Lissabon-Urteil festgestellt, dass „der Auslandseinsatz der Streitkräfte […] außer im Verteidi­ gungsfall nur in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicher­ heit erlaubt“ ist64, d. h. im Rahmen der Vereinten Nationen, der Nato oder der EU. Dabei ist der konkrete Einsatz von der konstitutiven Zustimmung des deutschen Bundestages abhängig65. Eine generelle Ermächtigung zum militärischen und polizeilichen Einsatz der Bundeswehr im Ausland lässt 62  Anders Rudolf (Fn. 22), S. 263, der in Art. 25 GG eine Kom­ petenzbestimmung zugunsten des Bundes sieht. 63  Siehe Proelß, Ausschließliche Wirtschaftszone, in: Graf Vitz­ thum (Hg.), Handbuch des Seerechts, 2006, S. 258 f. 64  BVerfGE 123, 267 (360). 65  Vgl. BVerfGE 90, 286 (381 f.), 100, 266 (269); 104, 151 (208); 108, 34 (43); 121, 135 (153f.); 123, 267 (360).

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sich auch nicht, wie zum Teil in der Literatur vorgeschlagen, auf Art. 32 Abs. 1 GG stützen, wonach „die Pflege der Be­ ziehungen zu auswärtigen Staaten Sache des Bundes“ ist66. Bei dieser Vorschrift handelt es sich nicht um einen allge­ meinen außenpolitischen Kompetenztitel. Für unilaterale Einsätze der Bundeswehr mit polizeiähnli­ chem, humanitärem oder einem anderen nichtverteidigungs­ mäßigen Charakter fehlt es daher im Grundgesetz an einer Ermächtigungsgrundlage67. Zu denken ist hier an Einsätze wie die Operation „Libelle“ im Jahr 1997, als die Bundes­ wehr deutsche und ausländische Staatsbürger aus Tirana evakuiert hat68, oder die Operation „Pegasus“ Anfang des Jahres 2011, als die Bundesluftwaffe 132 Europäer, darunter 22 Deutsche, aus der libyschen Wüste ausgeflogen hat69. Zu denken ist weiter an den Einsatz der Bundesmarine auf Ho­ her See zur Bekämpfung der Seeräuberei gegen deutsche und ausländische Schiffe ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats 66  So aber z. B. Depenheuer, in: Maunz-Dürig, GG Kommen­ tar, Bd. VI, 53. Lfg. (2008), Art. 87a Rn. 171; Wiefels­pütz, Bewaff­ nete Einsätze der Bundeswehr auf See, NZWehrr 2005, S. 146 (161). 67  Zum grundgesetzlichen Trennungsgebot zwischen Verteidi­ gungs- und Polizeimaßnahmen, siehe Fischer-Lescarno / Tohidipur, Rechtsrahmen der Maßnahmen gegen Seepiraterie, NJW 2009, S. 1243 (1246). Siehe dagegen aber Wiefelspütz, Polizeilich geprägte Auslandseinsätze der Bundeswehr und das Grundgesetz, UBWV 2011, S. 81 (84 ff.). 68  Siehe z. B. Kreß, Die Rettungsoperation der Bundeswehr in Albanien am 14.3.1997 aus völker- und verfassungsrechtlicher Sicht, ZaöRV 57 (1997), S. 329 ff.; Epping, Die Evakuierung deut­ scher Staatsbürger im Ausland als neues Kapitel der Bundeswehr­ geschichte ohne rechtliche Grundlage? – Der Tirana-Einsatz der Bundeswehr auf dem rechtlichen Prüfstand –, AöR 124 (1999), S.  423 ff. 69  Siehe Evakuierungseinsatz „Pegasus“ der Bundeswehr in Li­ byen, Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 17 / 6564, 11.7.2011 sowie Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte in Libyen, Ant­ wort der Bundesregierung, BT-Drs. 17 / 5359, 4.4.2011. Siehe auch Bauchmüller, Nachspiel für Pegasus. Grüne klagen wegen deut­ schen Einsatzes in Libyen, Süddeutsche Zeitung v. 13.8.2011, S. 5.



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und außerhalb von Nato und Europäischer Union70, sowie den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr auf Ho­ her See71. Alle diese Einsätze sind völkergewohnheitsrechtlich zuläs­ sig. Das Völkerrecht reicht hier weit über das deutsche Ver­ fassungsrecht hinaus. Kurz gesagt: Deutschland kann völ­ kerrechtlich mehr, als es verfassungsrechtlich darf. Die Ret­ tung eigener Staatsbürger aus Konfliktgebieten auch unter Einsatz von Waffengewalt ist heute als völkergewohnheits­ rechtliche Ausnahme des Gewaltverbotes weitgehend aner­ kannt72. Jeder Staat hat völkergewohnheitsrechtlich das Recht, Seeräuberschiffe oder durch Seeräuber erbeutete und in deren Gewalt stehende Schiffe auf Hoher See aufzubrin­ gen, Personen an Bord festzunehmen und auf dem Schiff befindliche Vermögenswerte zu beschlagnahmen73. Dieses Recht darf von Kriegsschiffen und anderen im Staatsdienst stehenden Schiffen ausgeübt werden. Von letzteren jedoch nur dann, wenn sie deutlich als im Staatsdienst stehend ge­ kennzeichnet, als solche erkennbar und „hierzu befugt“ 70  Die Bekämpfung der Seeräuberei ist nicht „Verteidigung“ i.  S.  v. Art. 87 a Abs. 1 GG. Ebenso Fischer-Lescarno / Tohidipur (Fn. 67), S. 1245; Wagner, Pirata hostis generi humani, Humboldt Forum Recht 3 / 2010, S. 1 (15). 71  Der Einsatz der Streitkräfte bei Naturkatastrophen nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG ist auf das Inland und das deutsche Küs­ tenmeer beschränkt. Zudem dürfen die Streitkräfte bei solchen Einsätzen nur solche Waffen verwenden, die das Recht des betref­ fenden Landes für dessen Polizeikräfte vorsieht; siehe BVerfGE 115, 118 (146 f.). 72  Siehe z. B. Dau, Die militärische Evakuierungsoperation „Li­ belle“ – ein Paradigma der Verteidigung?, NZWehrR 40 (1998), S. 91 Fn. 16. Siehe auch die Erklärung des russischen NATO-Bot­ schafters zur Rechtmäßigkeit von Evakuierungsoperationen in Li­ byen, Brief military operation in Libya may not be against intl law – Russian envoy to NATO, Russia & CIS Military Newswire, 3 March 2011. 73  Vgl. Rechte und Pflichten der Deutschen Marine bei der Be­ kämpfung der Piraterie, Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 16 / 9286, 23.5.2008, S.  2.

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sind74. Das Völkergewohnheitsrecht erlaubt auch den Ein­ satz zur Gefahrenabwehr auf Hoher See, wie die Bombar­ dierung des Öltankers Torrey Canyon durch die Royal Air Force im Jahr 1967 zeigt, durch die eine Umweltkatastrophe für die englische Küste abgewendet werden sollte75. Die Frage, die sich somit stellt, ist, ob sich diese völker­ rechtlichen Ermächtigungsgrundlagen über Art. 25 GG in das deutsche Recht inkorporieren lassen und damit eine in­ nerstaatliche Rechtsgrundlage begründen können; oder mit anderen Worten, ob in Art. 25 GG die von Art. 87 a Abs. 2 GG geforderte „ausdrückliche Zulassung“ zum Einsatz der Streitkräfte zu finden ist. In der Literatur wird dies zum Teil bejaht76. Zum Beispiel Jochen Frowein hat ausgeführt: 74  Vgl. Art. 107 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Na­ tionen (SRÜ) von 1982, BGBl. 1994 II, S. 1798, der insoweit Völ­ kergewohnheitsrecht widerspiegelt. Die deutsche Übersetzung von Art. 107 SRÜ ist irreführend, da der Eindruck entsteht, dass sich das Erfordernis der innerstaatlichen Befugnis zur Pirateriebekämpfung auch auf Kriegsschiffe bezieht. Dem ist jedoch nicht so, wie der verbindliche englische Wortlaut zeigt, der zwischen Kriegsschiffen einerseits und anderen im Staatsdienst stehenden Schiffen, die dazu befugt sind, andererseits unterschiedet. Dies ergibt sich aus der Stel­ lung des Kommas im englischen Text vor dem Wort „or“, das den Satz in zwei Teile unterteilt („A seizure on account of piracy may be carried out only by warships or military aircraft, or other ships or aircraft clearly marked and identifiable as being on government ser­ vice and authorized to that effect“). Dies verkennen z. B. FischerLescarno / Tohidipur (Fn. 67), S. 1245; Wagner (Fn. 70), S. 15. 75  Siehe Hafner, Meeresumwelt, Meeresforschung und Techno­ logietransfer, in: Graf Vitzthum (Hg.), Handbuch des Seerechts, 2006, S.  410 f.; Rothwell / Stephens, The International Law of the Sea, 2010, S. 364. 76  Siehe z. B. Wolfrum, Keine Einsätze an Land, Das Parlament Nr. 52  /  2008, v. 22.12.2008, S. 2; Kokott, Integrationsbereitschaft. Deutschland in der internationalen Staatengemeinschaft, in: Zypri­ es (Hg.), Verfassung der Zukunft. Ein Lesebuch zum 60. Geburts­ tag des Grundgesetzes, 2009, S. 96 (106 f.); Wiefelspütz, Die Betei­ ligung der Bundeswehr am Kampf gegen Piraterie. Völkerrecht und Verfassungsrecht, NZWehrr 2009, S. 133 (142). Ebenso das Papier der Arbeitsgruppe Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPD-Fraktion im Bundestag zum Einsatz der Deutschen Marine



Die Grenzen der Völkerrechtsrezeption in Deutschland97 „Laut Grundgesetz darf die Bundeswehr ‚außer zur Verteidi­ gung‘ nur eingesetzt werden, wenn das Grundgesetz das vor­ sieht. Gemäß Artikel 25 des Grundgesetzes sind die Regeln des Völkergewohnheitsrechts ein solcher Ausnahmefall; dazu gehört die Bekämpfung der Piraterie. Und das gilt unabhängig davon, ob es sich um Nothilfe zugunsten eines gerade angegriffenen Handelsschiffs handelt oder ob das Handelsschiff schon lange in der Hand der Seeräuber ist. […] Wegen Artikel 25 des Grundge­ setzes sind solche völkergewohnheitsrechtlichen Regeln deut­ sches Recht – und sie gehen danach sogar einfachen Gesetzen vor. Da das Völkergewohnheitsrecht die Festnahme von Piraten durch das Militär erlaubt, sehe ich hier kein Problem.“77

Die Inkorporation einer völkergewohnheitsrechtlichen Ermächtigung deutscher Streitkräfte zur Pirateriebekämp­ fung über Art. 25 GG hätte danach den Vorteil, dass sie ent­ gegenstehendes einfaches Bundesrecht wie § 6 S. 1 BPolG verdrängt, wonach „auf See außerhalb des deutschen Küs­ tenmeers“ die Bundespolizei „die Maßnahmen zu treffen hat, zu denen die Bundesrepublik Deutschland nach dem Völkerrecht befugt ist“. Diese Bestimmung lässt zwar „die Zuständigkeit anderer Behörden oder der Streitkräfte“ un­ berührt, doch begründet § 6 S. 1 BPolG eine solche Zustän­ digkeit nicht, sondern setzt diese, auf anderer Rechtsgrund­ lage beruhend, voraus. An einer solchen Zuständigkeitszu­ weisung für die Pirateriebekämpfung an die Bundesmarine fehlt es jedoch sowohl im Grundgesetz als auch im einfa­ chen Bundesrecht78. Ganz im Gegenteil; die Pirateriebe­ kämpfung wird in § 1 Abs. 3 Seeaufgabengesetz i. V. m. § 1 Abs. 2 a der Zuständigkeitsbezeichnungs-Verordnung See ausdrücklich den Beamten der Bundespolizei zugewiesen79. zur Bekämpfung gegen Piraterie, FAZ Dokumentation, 26.6.2008, http://www.faz.net / ; sowie Stehr, Pirateriebekämpfung vor Soma­ lia – Rechtsgrundlagen, http://www.marineforum.info / . 77  Frowein, Völkerrecht zu Seeräubern: „Deutschlands Marine darf schon jetzt Piraten verfolgen“, Spiegel Online v. 26.11.2008, http://www.spiegel.de / politik / deutschland / 0,1518,592618,00.html. 78  Ebenso Wagner (Fn. 70), S. 15. 79  Seeaufgabengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 26.7.2002 (BGBl. 2002 I, S. 2876); zuletzt geändert durch Art. 2 des

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Die Bundespolizei soll nach § 6 S. 2 BPolG nur dann nicht für die Maßnahmen jenseits des Küstenmeers zuständig sein, wenn diese „ausschließlich“ Kriegsschiffen vorbehalten sind. Die Bekämpfung der Seeräuberei obliegt aber sowohl Kriegsschiffen also auch anderen im Staatsdienst stehenden Schiffen, einschließlich Polizeischiffen80. Rechtlich zuständig für die Bekämpfung der Seeräuberei ist damit die Bundespo­ lizei, auch wenn ihr dazu die tatsächlichen Mittel fehlen. Eine über Art. 25 GG inkorporierte völkergewohnheits­ rechtliche Ermächtigung deutscher Streitkräfte zu nichtver­ teidigungsmäßigen Einsätzen ist als Kompetenzgrundlage nicht ausreichend. Dies scheint auch von der Bundesregie­ rung so gesehen zu werden, die im Hinblick auf das völker­ gewohnheitsrechtliche Recht zur Bekämpfung der Piraterie erklärte: „Ob und gegebenenfalls unter welchen Vorausset­ zungen ein Schiff der Deutschen Marine von dieser völker­ rechtlichen Befugnis Gebrauch machen kann, ist verfas­ sungsrechtlich nicht abschließend geklärt.“81 Die Exekutive kann sich nicht unter Berufung auf das Völkergewohnheits­ recht von der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung lösen82. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts kann eine fehlende verfassungsrechtliche Kompetenz nicht ersetzen. Das Völkerrecht eröffnet dem Staat lediglich Handlungs­ möglichkeiten. Ob, wie und durch welche Staatsorgane er diese ausübt, bestimmt das nationale Verfassungsrecht83. Gesetzes v. 22.12.2011 (BGBl. 2011 I, S. 3069) und Zuständigkeits­ bezeichnungs-Verordnung See v. 4.3.1994 (BGBl. 1994 I, S. 442); zuletzt geändert durch Art. 121 des Gesetzes v. 21.6.2005 (BGBl. 2005 I, S. 1818). Siehe auch die Aussage des Bundesverteidigungs­ ministeriums: „Die durch Deutschland im Rahmen des Seerechts­ übereinkommens wahrzunehmende Bekämpfung der Piraterie auf hoher See liegt in der Zuständigkeit der Bundespolizei.“ (Deutsche Kriegsschiffe gegen Piraten?, FAZ v. 5.6.2008, S. 1). 80  Siehe Art. 107 SRÜ. 81  Rechte und Pflichten der Deutschen Marine bei der Bekämp­ fung der Piraterie, Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 16 / 9286, 23.5.2008, S. 4. 82  Vgl. BVerfGE 111, 307 (323).



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Art. 25 GG ist nicht dazu bestimmt, eine schleichende Aus­ höhlung der Kompetenzordnung des Grundgesetzes zu un­ terstützen. Nach Art. 79 Abs. 1 GG kann das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Im Wege des Art. 25 GG als Bundesrecht unterhalb der Verfassung inkorporiertes Völkerrecht ist hierzu nicht in der Lage84. Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes steht hier also einer Anwendung allgemeiner Regeln des Völkerrechts zur Kompetenzbegründung entgegen. 83

2. Rechtsstaatsprinzip Grenzen für die Anwendung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts können sich auch aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ent­ faltet die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes nur „im Rahmen des […] rechtsstaatlichen Systems des Grund­ gesetzes“ Wirkung85. Helmut Steinberger hat darauf hinge­ wiesen, dass über die Rezeption der allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht die rechtsstaatlichen Strukturen des Grundgesetzes im Bereich der Wahrnehmung deutscher Staatsgewalt „verunklart werden dürfen“86. Hier ist insbe­ sondere an den Vorbehalt des Gesetzes und das Bestimmt­ heitsgebot zu denken. 83  Vgl. Mosler (Fn. 24), S. 43; Tomuschat (Fn. 1), § 172 Rn. 2 und 78; Bothe, Völkerrecht und Verfassungsrecht, FAZ v. 30.6.2008, S. 9. Siehe auch Rechte und Pflichten der Deutschen Marine bei der Bekämpfung der Piraterie, Antwort der Bundesregierung, BTDrs. 16 / 9286, 23.5.2008, S. 4 („Ob und ggf. unter welchen Voraus­ setzungen [Kriegsschiffe] […] von dieser völkerrechtlichen Befug­ nis Gebrauch machen dürfen, richtet sich nach dem Recht des je­ weiligen Staates“). 84  Wagner (Fn. 70), S. 17; Rojahn (Fn. 42), Art. 25 Rn. 28. 85  BVerfGE 111, 307 (318); bestätigt in BVerfG, NVwZ-RR 2007, 266 (268). 86  Steinberger (Fn. 2), § 173 Rn. 58.

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a) Vorbehalt des Gesetzes Eingriffe des Staates in die Rechte und Freiheiten des Ein­ zelnen und die Auferlegung von Pflichten für den Einzelnen unterliegen dem Vorbehalt des Gesetzes, d. h. sie bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Grundrechtswesentliche Ent­ scheidungen muss der demokratisch legitimierte parlamenta­ rische Gesetzgeber selbst treffen. Dies gilt nicht nur für die Ausübung deutscher Staatsgewalt im Inneren, sondern rich­ tigerweise auch, wenn diese, wie bei der Bekämpfung der Seeräuberei, auf Hoher See oder in den Küstenmeeren ande­ rer Staaten, d.  h. außerhalb des Bundesgebiets, ausgeübt wird87. So stellte das VG Köln zwar fest, dass die Geltung von Grundrechen bei der Pirateriebekämpfung nicht von vornherein ausgeschlossen sei88, machte dann aber eine Aus­ nahme für Situationen „auf Hoher See fernab vom deut­ schen Hoheitsgebiet“, wo die Einhaltung grundrechtlicher Vorgaben „schlechthin unmöglich“ sei89. Das Gericht stellte die Grundrechte damit unter einen generellen Praktikabili­ tätsvorbehalt. Der Zweck der „Beteiligung Deutschlands an völkerrechtlich erwünschten Maßnahmen der Piraterie­ bekämpfung“90 soll hier über Art. 25 GG das Mittel der Grundrechtseinschränkung heiligen. Art. 1 Abs. 3 GG macht bei der Grundrechtsbindung der vollziehenden Gewalt aber keinen Unterschied danach, wo diese ausgeübt wird. Die 87  Vgl. Lorenz, Der territoriale Anwendungsbereich der Grundund Menschenrechte, 2005, S. 191; Werner, Die Grundrechtsbin­ dung der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen, 2006, S. 117 ff. (aber mit Einschränkungen für Fälle militärischer Bestatzung, ebd., S.  133 ff.); Yousif, Die extraterritoriale Geltung der Grundrechte bei der Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland, 2007, S. 100 ff., 188; Wiefelspütz (Fn. 76), S. 145 ff.; Huhn, Amtshaftung im bewaff­ neten Auslandseinsatz, 2010, S. 71  f., alle m.  w.  N. Anders z.  B. Heun, in: Dreier (Hg.), GG Kommentar, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 87a Rn. 21; Wagner, Grund- und Menschenrechte in Auslands­ einsätzen von Streitkräften, 2009, S. 81 ff. 88  VG Köln, Urteil v. 11.11.2011, 25 K 4280 / 09, Rz. 42. 89  Ebd., Rz. 44. 90  Ebd., Rz. 44.



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Grundrechtsbindung ist nicht eine Frage des „wo“, sondern des „ob“ staatlicher Hoheitsausübung91. Auch gibt es keine Regel, wonach der Grundrechtsschutz mit zunehmender Entfernung vom Bundesgebiet abnimmt. Die Bundesregie­ rung selbst hat in ihrer Denkschrift zum Seerechtsüberein­ kommen erklärt, dass deutsche Stellen, soweit sie hoheitliche Maßnahmen zur Pirateriebekämpfung ergreifen, „die ein­ schlägigen deutschen Verfahrensvorschriften“ zu beachten haben, einschließlich der in Art. 104 GG enthaltenen Rechts­ garantien92. Die extraterritoriale Geltung der Grundrechte und des Gesetzesvorbehalts kommt u. a. auch in § 106 des Seemannsgesetzes zum Ausdruck, der die Kapitäne deut­ scher Handelsschiffe zur Ausübung der Bordgewalt auf den Weltmeeren ermächtigt und dafür die Grundrechte der Art. 2 und 13 GG ausdrücklich einschränkt93. Vor dem Hin­ tergrund der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die Garantien der EMRK u. a. auch auf den Streitkräfteeinsatz im Ausland und auf Hoher See ausgedehnt hat, erscheint es wenig wahr­ scheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht in der Frage der extraterritorialen Geltung der Grundrechte hinter Straß­ burg zurückstehen würde94. Einschränkungen der Grundrechte durch deutsche Staats­ organe im Ausland (oder auch im Inland) können danach nicht unmittelbar auf allgemeine Regeln des Völkerrechts 91  Vg. Zimmermann, Grundrechtseingriffe durch deutsche Streit­ kräfte im Ausland und das Grundgesetz, ZRP 2012, S. 116 (117). 92  Denkschrift zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen v. 10.12.1981, BT-Drs. 12 / 7829, S. 229 (247). 93  Seemannsgesetz (SemG) in der im BGBl. III, Gliederungsnr. 9513-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Art. 324 der Verordnung v. 31.10.2006, BGBl. 2006 I, S. 2407. 94  Siehe EGMR, Medvedyev gegen Frankreich (Große Kam­ mer), Beschwerde Nr. 3394  /  03, Urteil v. 29.10.2010, §§ 62–67, NJOZ 2011, 231 (232 f.); Al-Skeini gegen Vereinigtes Königreich (Große Kammer), Beschwerde Nr. 55721  /  07, Urteil v. 7.7.2011, §§ 136–150, NJW 2012, 383 (286 ff.).

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gestützt werden. Die Übernahme von völkergewohnheits­ rechtlichen Regeln in das innerstaatliche Recht durch Art. 25 GG befreit nicht vom rechtsstaatlichen Vorbehalt des Geset­ zes für die Auferlegung von Pflichten für den Einzelnen95. Auch kann Art. 25 S. 2 GG selbst Belastungen des Einzel­ nen nicht gleichsam gesetzesgleich legitimieren. Der Ein­ wand, dass Art. 25 S. 2 GG, der ausdrücklich auch die un­ mittelbare Verpflichtung des Einzelnen anordnet, auf glei­ cher Ebene wie die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte stehe und zu diesen lex specialis darstelle, überzeugt nicht96. Eine solche Blankett-Legitimierung für alle auch zukünfti­ gen vom Völkergewohnheitsrecht gedeckten Grundrechts­ eingriffe wäre nicht nur mit Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG, sondern auch und vor allem mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar. Wie Christian Tomuschat treffend bemerkt hat, legt das rechts­ staatliche Verfassungs- und Verwaltungsrecht der staatlichen Souveränität sehr viel engere Fesseln an, als es die für alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft als „MinimalKompromiss“ geltenden Normen des Völkergewohnheits­ rechts tun97. Aus dem Vorbehalt des Gesetzes lassen sich mehrere kon­ krete Grenzen für die Anwendung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts ableiten. (1) A  usschluss völkergewohnheitsrechtlicher Straftatbestände Zunächst ist hier an den Ausschluss völkergewohnheits­ rechtlicher Straftatbestände zu denken. Das Völkergewohn­ heitsrecht hat über die Jahre zahlreiche Straftatbestände her­ 95  Steinberger (Fn. 2), § 173 Rn. 68; Rojahn (Fn. 42), Art. 25 Rn. 28, 45, 51; Herdegen (Fn. 53), Art. 25 Rn. 48; Kunig (Fn. 36), S. 143; Streinz (Fn. 43), Art. 25 Rn. 6; Zimmermann (Fn. 91), S. 118. 96  So aber Hillgruber (Fn. 36), Art. 25 Rn. 19. Für eine konsti­ tutive Wirkung des Art. 25 S. 2 GG auch Pernice (Fn. 42), Art. 25 Rn. 30; Koenig (Fn. 22), Art. 25 Rn. 61. 97  Tomuschat (Fn. 45), S. 199.



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vorgebracht, darunter die Seeräuberei, die Verletzung des sicheren Geleits, den Angriff auf Diplomaten, die Aggres­ sion sowie den Völkermord, die über Art. 25 S. 1 GG Be­ standteil des Bundesrechts geworden sind98. Es stellt sich somit die Frage, ob deutsche Gerichte Rückgriff auf diese völkergewohnheitsrechtlichen Straftatbestände nehmen kön­ nen99. Nicht alle Ausprägungen der Seeräuberei werden z. B. von den strafrechtlichen Bestimmungen in § 316c StGB über den Angriff auf den Luft- und Seeverkehr erfasst100. Auch der Tatbestand der Aggression in § 80 StGB erfasst bislang nur Angriffskriege, an denen die Bundesrepublik Deutsch­ land beteiligt ist und bleibt damit hinter dem völkergewohn­ heitsrechtlichen Tatbestand zurück. Praktische Anwen­ dungsbereiche für die Inkorporation völkergewohnheits­ rechtlicher Straftatbestände gäbe es bei der Anforderung der doppelten Strafbarkeit in Auslieferungsfällen101, bei der Gel­ tendmachung der Komplementarität in der internationalen Strafrechtspflege und bei der Aburteilung von Straftätern. Im Fall Re Piracy jure gentium entschied der Rechtsaus­ schuss des britischen Kronrates 1934, dass das völkerge­ wohnheitsrechtliche Verbrechen der Piraterie kraft automa­ tischer Inkorporation auch im Common Law ein Verbre­

98  Siehe aber Rudolf (Fn. 22), S. 259, der davon ausgeht, dass Art. 25 GG keine Straftatbestände transformiert. 99  So spricht z.  B. BVerfG, NJW 2001, S. 1848 (1850) davon, dass die Strafbarkeit einer Tat „in erster Linie auf Grund des Straf­ rechts der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen“ ist (Hervor­ hebung durch Verf.). 100  Die folgenden Straftatbestände kommen bei Piraterie eben­ falls in Betracht: Tötungsdelikte, Körperverletzung, Nötigung, Raub und räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, erpresseri­ scher Menschenraub, Geiselnahme sowie gefährlicher Eingriff in den Schiffsverkehr. Nicht alle diese Deliktstatbestände sind jedoch auf Auslandstaten anwendbar, so dass es hier zu einer Strafbar­ keitslücke kommen kann. Vgl. Schaller, Die strafrechtliche Verfol­ gung von Piraten, in: Mair (Hg.), Piraterie und maritime Sicherheit, SWP-Studie, 2010, S. 91 (94). 101  Siehe § 3 Abs. 1 IRG.

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chen sei, und verurteilte den Angeklagten auf der Grundlage des völkerrechtlichen Piraterieverbots102. Im deutschen Recht scheitert eine Bestrafung allein auf­ grund der Verwirklichung eines völkergewohnheitsrechtlich normierten, durch Art. 25 S. 1 GG innerstaatlich zur An­ wendung gebrachten Tatbestandes nicht nur am regelmäßig fehlenden völkerrechtlich determinierten Strafrahmen, son­ dern vor allem an Art. 103 Abs. 2 GG, wonach eine „Tat […] nur bestraft werden [kann], wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“103 Dabei handelt es sich um eine Ausprägung des Rechts­ staatsprinzips104. Im Interesse der Rechtssicherheit und Ge­ rechtigkeit gewährleistet Art. 103 Abs. 2 GG, dass im Be­ reich des Strafrechts, auf dessen Grundlage der Staat in die Persönlichkeit des Einzelnen auf das Schwerwiegendste ein­ greifen darf, nur der parlamentarische Gesetzgeber die strafwürdigen Rechtsgutverletzungen und Rechtsfolgen bestimmt. Dies führt zu einem „strengen Parlaments­ ­ vorbehalt“105, der nicht über Art. 25 GG ausgehebelt wer­ den kann106. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Völkerge­ wohnheitsrecht in der Regel durch die vollziehende und rechtsprechende Gewalt der Staaten geschaffen wird; die Entscheidung über die Strafbarkeit eines Verhaltens nach dem Grundgesetz aber gerade der Legislative vorbehalten sein soll. Auch bei völkergewohnheitsrechtlichen Straftatbe­ 102  Re Piracy jure gentium [1934] AC 586. Heutzutage können auch im englischen Recht neue Straftatbestände nur noch durch Parlamentsgesetz geschaffen und nicht mehr über das Völkerge­ wohnheitsrecht ins Common Law eingeführt werden; siehe House of Lords, Regina v. Jones [2007] 1 AC 136 (160 ff, 179 f.). Siehe auch Berman, Jurisdiction: The State, in: Capps / Evans / Konstadi­ nidis (Hg.), Asserting Jurisdiction: International and European Le­ gal Perspectives, 2003, S. 3 (11). 103  Hervorhebung durch Verf. 104  BVerfGE 95, 96 (130); 78, 374 (382). 105  BVerfGE 95, 96 (131). 106  Vgl. Tomuschat (Fn.  1), §  172 Rn.  16. Vgl. auch Kunig (Fn. 36), S. 133; Rojahn (Fn. 42), Art. 25 Rn. 29, 45.



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ständen ist somit die inländische Strafbarkeit an den Erlass eines Gesetzes gebunden. Nach Art. 103 Abs. 2 GG müssen der Straftatbestand, zu dem sämtliche materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit zählen, einschließlich des räumlichen Anwen­ dungsbereichs des Strafrechts, und die Strafandrohung durch Parlamentsgesetz bestimmt sein. Eine Ausdehnung des deut­ schen Strafrechts auf Auslandssachverhalte auf der Grundla­ ge des völkergewohnheitsrechtlichen Weltrechtsprinzips für schwerwiegende Straftaten wie Folter, Seeräuberei oder Völ­ kermord scheidet demnach ebenfalls aus. Der von den Princeton Principles on Universal Jurisdiction von 2001 vor­ gesehene Weg, wonach nationale Gerichte sich bei schwer­ wiegenden Verbrechen auf das Weltrechtsprinzip stützen sollen, selbst wenn die nationalen Gesetze dies nicht aus­ drücklich vorsehen107, ist für Deutschland somit kein gang­ barer Wege zur räumlichen Ausdehnung des deutschen Strafrechts108. Lücken im deutschen Strafanwendungsrecht, insbesondere bei der Bekämpfung der Piraterie, lassen sich somit nicht unter Rückgriff auf das Völkergewohnheitsrecht schließen109. Art. 103 Abs. 2 GG steht einer Internationali­ sierung des deutschen Strafrechts durch die Hintertür des Art. 25 GG entgegen. Daran ändern auch Art. 7 EMRK und Art. 15 des Inter­ nationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) nichts, die beide eine Bestrafung auch nach inter­ nationalem Recht und den von der Völkergemeinschaft an­ erkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen zulassen. Hier 107  The Princeton Principles on Universal Jurisdiction, 2001, Principle 3. 108  Siehe Kolb / Neumann / Salomon, Die Entführung deutscher Seeschiffe: Flaggenrecht, Strafanwendungsrecht und diplomatischer Schutz, ZaöRV 71 (2011), S. 191 (213) m. w. N. 109  Kolb / Neumann / Salomon (Fn. 108), S. 211–223. Siehe auch Werle / Jeßberger, in: Laufhütte / Rissing-van Saan / Tiedemann (Hg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2007, Vor § 3 Rn. 96; Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983, Rn. 434.

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zeigt sich nur das gegenüber dem Grundgesetz geringere Schutzniveau des Völkerrechts. Ein von der Bundesrepub­ lik Deutschland bei Ratifikation im Jahr 1952 angebrachter Vorbehalt zu Art. 7 Abs. 2 EMRK, wonach sie „die Be­ stimmungen des Artikels 7 Abs. 2 der Konvention nur in den Grenzen des Artikels 103 Abs. 2 des Grundgesetzes […] anwenden wird“110, wurde im Jahr 2001 zurückge­ nommen111. Dies bedeutet aber nicht, dass nun auch in Deutschland eine Bestrafung nach völkergewohnheitsrecht­ lichen Straftatbeständen oder allgemeinen Rechtsgrund­ sätzen möglich sein soll. Beide Bestimmungen erlauben zwar eine solche Bestrafung, schreiben sie aber nicht vor112. Es bleibt den Vertragsstaaten der beiden Abkommen vor­ behalten, innerstaatlich ein höheres Schutzniveau zu garan­ tieren. Von der Regel des Art. 103 Abs. 2 GG gibt es jedoch ge­ wisse Ausnahmen. So hat das Bundesverfassungsgericht fest­ gestellt, dass für strafrechtliche Rechtfertigungsgründe nicht der strikte Gesetzesvorbehalt gilt. Im Wege einer bonam partem Ergänzung des bestehenden Strafrechts können diese „auch gewohnheitsrechtlich […] Geltung erlangen.“113 Mit dem Rückwirkungsverbot unvereinbar wäre es dagegen, wenn das Völkergewohnheitsrecht herangezogen würde, um bestehende gesetzliche Rechtfertigungsgründe für unan­ wendbar zu erklären. Die sog. „Mauerschützenprozesse“ stellen insofern einen Sonderfall dar, als es um Rechtferti­ gungsgründe eines anderen Staates ging, die die von „der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschen­ 110  BGBl. 1954 II, S. 14. Ein entsprechender Vorbehalt zum fast gleichlautenden Art. 15 Abs. 2 IPBPR wurde nicht angebracht. 111  Zur Rücknahme des Vorbehalts zur EMRK siehe BGBl. 2003 II, S. 1575 (1580). 112  Siehe Innerstaatliche Umsetzung von Menschenrechtsstan­ dards, Antwort der Bundesregierung, BR-Drs. 14 / 3892, 14.7.2000, S.  2 f. 113  BVerfGE 95, 96 (132). Zu völkergewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgründen, siehe auch BGH, NStZ 1991, S. 429 (430).



Die Grenzen der Völkerrechtsrezeption in Deutschland107

rechte in schwerwiegender Weise“ missachteten114. Solche Rechtfertigungsgründe nehmen nicht am besonderen Ver­ trauensschutz teil, den die vom an die Grundrechte gebun­ denen, demokratischen Gesetzgeber erlassenen Rechtferti­ gungsgründe genießen. Art. 103 Abs. 2 GG verlangt nicht, dass der Gesetzgeber Tatbestand und Rechtsfolge vollständig regeln muss. Die Verwendung unbestimmter, wertausfüllungsbedürftiger Be­ griffe und Generalklauseln ist zulässig115. Völkergewohn­ heitsrecht kann zur Konkretisierung von Tatbestand und Rechtsfolge herangezogen werden, insbesondere in Fällen, in denen das deutsche Strafrecht völkerrechtliche Straftatbe­ stände innerstaatlich umsetzt116. Man kann insofern von normkonkretisierendem Völkergewohnheitsrecht sprechen. So wurde z. B. vor Erlass des Völkerstrafgesetzbuches der völkergewohnheitsrechtliche Völkermordtatbestand zur Auslegung des Straftatbestandes des Völkermordes im Straf­ gesetzbuch herangezogen117. Die Auslegung des deutschen Strafrechts im Lichte des Völkergewohnheitsrechts darf aber nicht zu einer Verschärfung oder Erweiterung des Straftat­ bestandes oder der Rechtsfolgen führen, wohl aber, in An­ wendung des bonam partem Grundsatzes, zu einer Ein­ schränkung des Straftatbestandes und zu einer Strafmilde­ rung. Selbst bei einer bloßen Interpretation wird man aber im Hinblick auf das rechtsstaatliche Erfordernis der Vorher­ sehbarkeit der Strafe Rückgriff nur auf die sogenannten Kernstraftatbestände des Völkergewohnheitsrechts im Sinne von Art. 7 EMRK und Art. 15 IPBPR zulassen dürfen. Ein förmliches Gesetz kann auch auf eine Regel des Völ­ kergewohnheitsrechts verweisen. So setzen zum Beispiel mehrere Bestimmungen des Völkerstrafgesetzbuches voraus, 114  Siehe

BVerfGE 95, 96 (133). z. B. BVerfGE 66, 337 (355); 92, 1 (12). 116  Vgl. z. B. Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf (Hg.), Kommentar zum GG, 12. Aufl. 2011, Art. 103 Rn. 31; Mosler (Fn. 24), S. 11 ff. 117  Siehe BVerfG, NJW 2001, S. 1848 (1850). 115  Siehe

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dass eine Handlung „unter Verstoß gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts“ begangen wurde118. Es gelten hier neben Art. 103 Abs. 2 GG die allgemeinen, sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Erfordernisse an Verweisun­ gen. Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass eine Verweisung auf fremdes Recht, selbst dynamischer Art, grundsätzlich möglich ist119. Die Verweisung muss aber re­ gelungstechnisch klar sein, und die völkergewohnheitsrecht­ liche Regel muss die Voraussetzungen der Strafbarkeit hin­ reichend deutlich bestimmen120. Problematisch ist eine dynamische Verweisung auf Normen des Völkergewohn­ ­ heitsrechts in der jeweils geltenden Fassung, wenn es um Freiheitsbeschränkungen und andere schwerwiegende Grund­ rechtseingriffe geht121. Die Völkerrechtsentwicklung ist oft­ mals nicht absehbar und nur schwer nachzuvollziehen. Vor allem aber ist die Normfeststellung bezüglich des unge­ schriebenen Völkergewohnheitsrechts mit Unsicherheiten befrachtet122, wie gerade die Entwicklung der strafrechtli­ chen Tatbestände der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit über die letzten 20 Jahre zeigt. (2) K  eine Auslieferung deutscher Staatsbürger aufgrund völkergewohnheitsrechtlicher Regeln Eine weitere Grenze für die Anwendung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts findet sich in Art. 16 Abs. 2 S. 1GG. Danach darf kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen 118  Siehe §§ 7 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 9, 8 Abs. 1 Nr. 6 Völkerstraf­ gesetzbuch v. 26.7.2002, BGBl. 2002 I, S. 2254. 119  BVerfGE 47, 285 (311 ff.); 67, 348 (363); 92, 191 (197 f.). 120  Vgl. BVerfGE 75, 329 (342); BGHSt 37, 266 (272); 42, 219 (221 f.). 121  Vgl. Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 65; Silagi (Fn. 8), S. 638. 122  Vgl. Kunig (Fn. 36), S. 134 f.



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Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Für den Internationalen Strafgerichtshof ist eine solche gesetz­ liche Grundlage im § 2 IStGH-Gesetz geschaffen worden123. „Internationaler Gerichtshof“ im Sinne von Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG ist aber nicht auf den Internationalen Strafgerichts­ hof beschränkt und setzt nicht notwendigerweise voraus, dass der Gerichtshof durch Vertrag errichtet wurde, dessen Partei die Bundesrepublik Deutschland ist124. So wurden die ad hoc Straftribunale für das Ehemalige Jugoslawien und Rwanda durch Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geschaffen. Einer sich eventuell entwickelnden völkergewohnheitsrechtlichen Auslieferungspflicht an inter­ nationale Gerichtshöfe wäre in Deutschland innerstaatlich die Anwendung zu versagen, sofern im konkreten Einzelfall keine gesetzliche Grundlage bestünde und rechtsstaatliche Grundsätze nicht gewahrt wären. Auch eine Auslieferung deutscher Staatsbürger an das Ausland aufgrund allgemeiner Regeln des Völkerrechts scheidet aus. In der Literatur wird der Grundsatz „aut de­ dere aut judicare“ zumindest für schwerste Völkerrechtsver­ brechen teilweise bereits als Völkergewohnheitsrecht angese­ hen125. Eine solche Verpflichtung zur Strafverfolgung oder Auslieferung käme in Deutschland jedoch nicht zur Anwen­ dung, da Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt, dass kein Deut­ scher an das Ausland ausgeliefert werden darf. Eine solche 123  Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGHG) v. 21.6.2002, BGBl. 2002 I, S. 2144. 124  Kokott, in: Sachs (Hg.), GG-Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art.  16 Rn.  50. Anders aber Kämmerer, in: Dolzer / Graß­ hof / Kahl / Waldhoff, Bonner Kommentar zum GG, Lfg. 118 (2005), Art. 16 Rn. 96 ff. 125  Siehe z. B. Enache-Brown / Fried, Universal Crime, Jurisdic­ tion and Duty: The Obligation of Aut Dedere Aut Judicare in ­International Law, McGill Law Journal 43 (1998), S. 613 (631 f.). Siehe auch den Schriftsatz Belgiens im Fall Questions Relating to the Obligation to Prosecute or Extradite (Belgium v. Senegal) vor dem IGH, Bd. I, 1. Juli 2010, §§ 4.65, 4.89, 5.08 und 5.23.

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völkergewohnheitsrechtlich begründete Auslieferungspflicht bedürfte in Deutschland der Umsetzung durch Verfassungs­ änderung. Nicht nur die Auslieferung selbst, sondern auch die völ­ kergewohnheitsrechtlich zulässige Zustimmung zum Ver­ bringen eines deutschen Staatsbürgers ins Ausland zu Zwe­ cken der Strafverfolgung ist verfassungsrechtlich ausgeschlos­ sen. Kraft ihrer Flaggenhoheit steht es der Bundesrepublik Deutschland zwar frei, andere Staaten jederzeit dazu zu er­ mächtigen, deutsche (und andere) Staatsbürger auf deutschen Schiffen auf Hoher See festzunehmen und ins Ausland zu verbringen. Als Teil des Bundesrechts steht diese Befugnis aber unter dem Vorbehalt des Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG. (3) K  eine sonstigen Grundrechtseinschränkungen auf der Grundlage der allgemeinen Regeln des Völkerrechts Der Gesetzesvorbehalt steht auch der Vornahme sonsti­ ger völkergewohnheitsrechtlich zulässiger Grundrechtsein­ schränkungen durch die deutsche Staatsgewalt entgegen, so­ weit diese nicht durch eine gesetzliche Ermächtigungsgrund­ lage gedeckt sind. Zum Beispiel dürfen die Kriegsschiffe aller Staaten zum Zwecke der Bekämpfung der Seeräuberei auf Hoher See Schiffe anhalten, diese betreten, Dokumente über­ prüfen, verdächtige Personen festnehmen und Vermögens­ werte beschlagnahmen126. Selbst die Tötung von Personen, die sich der Festnahme widersetzen oder die Heraus­gabe ge­ kidnappter Personen verweigern, ist erlaubt. Solche Grund­ rechtseingriffe der Bundesmarine lassen sich verfassungs­ rechtlich jedoch nicht im Wege des unmittelbaren Rückgriffs auf diese Normen des Völkergewohnheitsrechts rechtferti­ 126  Vgl. Art. 105 SRÜ, der insoweit Völkergewohnheitsrecht wi­ derspiegelt. Das VG Köln ging in seinem Urteil v. 11.11.2011, 25 K 4280 / 09, Rz. 33, fälschlicherweise davon aus, dass die Festnahme von Piraten „ihre Rechtsgrundlage in Art. 105 S. 1 SRÜ“ findet, ohne näher auszuführen, wie eine völkervertragliche Vorschrift eine verfassungsrechtliche Eingriffsermächtigung darstellen kann.



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gen127. Es ist vielmehr ein Parlamentsgesetz er­forderlich, das dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG genügt. Aus diesem Grund scheidet auch ein Rückgriff auf das Zustimmungsgesetz zum Seerechtsübereinkommen der Ver­ einten Nationen aus, das dem Völkergewohnheitsrecht ent­ sprechende Ermächtigungen zur Bekämpfung der Seeräube­ rei enthält128. In diesem Gesetz wird zwar dem Beitritt zum Abkommen zugestimmt; von einer Ermächtigung zu etwai­ gen Grundrechtseinschränkungen ist aber nicht die Rede129. Das Seerechtsübereinkommen enthält auch keine ausdrück­ liche Ermächtigung zur Tötung von Personen, die sich der Festnahme widersetzen oder die Herausgabe gekidnappter Personen verweigern. Das Zustimmungsgesetz kann zudem den konstitutiven Parlamentsbeschluss für den Einsatz der Streitkräfte nicht ersetzen130. Auch der konstitutive Parlamentsbeschluss erfüllt die An­ forderungen des Gesetzesvorbehalts nicht. Ein formelles Ge­ setz ist mehr als ein bloßer Parlamentsbeschluss und invol­ viert weitere Staatsorgane, wie den Bundesrat und den Bun­ despräsidenten. Auch dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wird in Parlamentsbeschlüssen nicht Genüge getan131. 127  Baldus, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck, Kommentar zum GG, Bd. 3, 2010, Art. 87a Rn. 95. Siehe auch Eser, Dürfen Soldaten überhaupt töten?, FAZ v. 28.12.2001, S. 29, der ebenfalls eine „Zu­ flucht zum Gewohnheitsrecht“ zur Rechtfertigung von Grund­ rechtseingriffen ablehnt. 128  So aber Baldus (Fn. 127), Art. 87a Rn. 103; Fastenrath, Ran an den Feind, FAZ v. 19.6.2008, S. 6. Wie hier Zimmermann (Fn. 91), S. 119. 129  Siehe Gesetz zu dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (Vertragsgesetz Seerechtsübereinkom­ men) v. 2.9.1994, BGBl. 1994 II, S. 1798. Siehe dagegen § 70 BPolG, der ausdrücklich eine Einschränkung von Grundrechten bei Tätig­ werden der Bundespolizei auch im Ausland vorsieht. 130  Vgl. Bothe (Fn. 83), S. 9. 131  Zimmermann (Fn.  91), S.  119. Siehe auch Weingärtner, Braucht die Bundeswehr ein Einsatzgesetz?, DVBl. 2012, S. 344. Vgl. auch den Parlamentsbeschluss zur Operation Atalanta zur Be­

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Der Vorbehalt des Gesetzes steht auch einer völkerge­ wohnheitsrechtlich zulässigen Ermächtigung anderer Staaten zum Grundrechtseingriff entgegen. So kann die Bundesre­ publik Deutschland z. B. kraft ihrer Flaggenhoheit andere Staaten dazu ermächtigen, Schiffe unter deutscher Flagge, die des Drogenschmuggels, des Sklaventransports oder des Transports von Massenvernichtungswaffen verdächtig sind, auf Hoher See anzuhalten, zu durchsuchen und verdächtige Personen festzunehmen. Innerstaatlich fehlt es hierzu jedoch an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage. b) Bestimmtheitsgebot Neben dem Gesetzesvorbehalt setzt vor allem das Be­ stimmtheitsgebot der Anwendung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts Grenzen132, da diese häufig nicht dem rechtsstaatlichen Erfordernis hinreichender Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit genügen133. Karl Doehring hat das Völkerrecht einmal mit einem „absoluten Monarchen“ ver­ glichen, von dem der Rechtsunterworfene weiß, dass er et­ was will, dessen Willensinhalt aber nicht immer klar ist134. Die Grundrechte befinden aber auch über die von einer völ­ kergewohnheitsrechtlichen Regel zu fordernde inhaltliche Bestimmtheit. Schon aus diesem Grund scheidet ein Rück­ griff auf völkerrechtliche Straftatbestände aus, da diese in der Regel keine Aussage über das Strafmaß treffen. Die spe­ zifische Unrechtsfolge „Bestrafung“ als solche ist nicht hin­ reichend bestimmt und bedarf der Ausgestaltung durch den nationalen Gesetzgeber135. Auch die rechtsbegründende und kämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias, BT-Drs. 16 / 11337, 10.12.2008. 132  Vgl. zum Bestimmtheitsgebot BVerfGE 17, 306 (313 f.); 47, 109 (121); 64, 389 (393f.); 69, 1 (35, 42); 80, 103 (107f.); 110, 33 (53 f.). 133  Vgl. Hofmann (Fn. 43), Art. 25 Rn. 22; Steinberger (Fn. 2), § 173 Rn. 58; Silagi (Fn. 8), S. 638. Vgl. auch Kunig (Fn. 36), S. 143. 134  Doehring (Fn. 6), S. 5. 135  Vgl. Kunig (Fn. 36), S. 133; Rojahn (Fn. 42), Art. 25 Rn. 29, 45.



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verpflichtende Wirkung des Art. 25 S. 2 GG ist auf eine aus­ reichende inhaltliche Schärfe der jeweiligen Völkerrechtsre­ gel angewiesen. An dieser mangelt es z. B. der in Art. 105 SRÜ kodifizierten Regel des Völkergewohnheitsrechts für die Festnahme von Piraten136. Fehlt diese, ist es Aufgabe des deutschen Gesetzgebers, die durch Art. 25 S. 2 GG erzeugte subjektive Recht- und Pflichtenstellung durch Gesetz den Erfordernissen ihrer inhaltlichen Anwendbarkeit durch Ge­ richte und Exekutive anzupassen137. 3. Demokratieprinzip Grenzen für die Anwendung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts können sich letztlich auch aus dem Demokra­ tieprinzip ergeben. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes entfaltet Wirkung nur „im Rahmen des de­ mokratischen […] Systems des Grundgesetzes“138. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts folgt aus dem verfas­ sungsrechtlich verankerten und der Ewigkeitsgarantie unter­ liegenden Demokratieprinzip, dass gewisse Sachbereiche von den demokratisch legitimierten Vertretern des Volkes selbst geregelt werden müssen. Hier besteht eine gewisse Über­ schneidung mit dem bereits angesprochenen Vorbehalt des Gesetzes. So sind völkergewohnheitsrechtliche Straftatbe­ stände auch deshalb ausgeschlossen, weil die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten, über den Rang von Rechtsgü­ tern und den Sinn und das Maß der Strafandrohung in be­ sonderem Maße dem demokratischen Entscheidungsprozess überantwortet sind139. Zu den wesentlichen Bereichen 136  Vgl. Schaller (Fn. 100), S. 95; von Arnauld, Die moderne Pi­ raterie und das Völkerrecht, AVR 47 (2009), S. 454 (473 f.); FischerLescarno / Kreck, Piraterie und Menschenrechte. Rechtsfragen der Bekämpfung der Piraterie im Rahmen der europäischen Operation Atalanta, AVR 47 (2009), S. 481 (499 ff.). 137  Vgl. Koenig (Fn. 22), Art. 25 Rn. 61. 138  BVerfGE 111, 307 (318); bestätigt in BVerfG, NVwZ-RR 2007, 266 (268). 139  BVerfGE 123, 267 (360). Vgl. auch BVerfGE 120, 224 (241 f.).

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­emokratischer Gestaltung, dem „Identitätskern der Ver­ d fassung“140, gehören auch kulturelle Fragen, wie die Gestal­ tung der Familienverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis141. In den meisten dieser Bereiche kann man sich heute noch keine völkergewohnheitsrechtlichen Regelungen vorstellen, die mit den Vorstellungen des Grundgesetzes kollidieren könn­ ten. Mit der zunehmenden Verrechtlichung der internationa­ len Beziehungen und dem Ausbau des internationalen Men­ schenrechtsschutzes kann dies aber in einigen Jahren bereits ganz anders sein. Zu denken ist hier u. a. an die Ausgestal­ tung der Medienordnung142, die Definition von Ehe und Familie, Holocaust-Leugnung als Ausdruck der Meinungs­ äußerungsfreiheit oder die Frage, was eine Kirche bzw. Re­ ligions- und Weltanschauungsgemeinschaft ist. Keineswegs müssen hier die deutschen Wert- und Moralvorstellungen mit denen der internationalen Gemeinschaft übereinstim­ men. So ist die Holocaust-Leugnung selbst in einigen Län­ dern der Europäischen Union von der Meinungsäußerungs­ freiheit gedeckt143, und Scientology wird in Dokumenten der Vereinten Nationen unter „Religionen und religiöse Gruppen“ geführt144, während die Gruppe in Deutschland als „kommerzielles Unternehmen“ angesehen wurde145 und 140  Vgl.

BVerfG, NJW 2011, S. 2946 (2951). 123, 267 (358, 363). 142  Siehe bereits das Beispiel bei Silagi (Fn. 8), S. 635. 143  Siehe z. B. die Entscheidung des spanischen Verfassungsge­ richts Nr. 235  /  07 v. 17.11.2007, verfügbar in englischer Sprache unter http://www.tribunalconstitucional.es / es / jurisprudencia / rest rad  /  Paginas  /  JCC2352007en.aspx. Siehe auch Institut suisse de droit comparé, Étude comparative sur la négation des génocides et des crimes contre l’humanité, Avis 06-184, 19.12.2006 und Human Rights Committee, General Comment No. 34, UN Doc. CCPR /  C / GC / 34, 12.9.2011, S.  12 (§  49). 144  Siehe z.  B. UN Doc. E / CN.4 / 1996 / 95, 15.12.1995, S. 7, 9; UN Doc. A  /  HRC  /  9  /  7, 12.9.2008, S. 7. Siehe auch UN Doc. CCPR / C / SR.2171, 21.4.2004, S. 8 (§ 45) und S. 9 (§ 55). 145  BAG, NZA 1995, S. 823 (827 ff., 830). 141  BVerfGE



Die Grenzen der Völkerrechtsrezeption in Deutschland115

vom Verfassungsschutz beobachtet wird146. Auch wenn Re­ geln in den genannten Sachbereichen in den kommenden Jahren einen völkergewohnheitsrechtlichen Status erlangen würden, kämen sie in Deutschland über Art. 25 GG nicht unmittelbar zur Anwendung. Das Demokratieprinzip er­ richtet hier eine inhaltliche Grenze. IV. Bewertung Offene Staatlichkeit und Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes bedeuten nicht die Unterwerfung der deut­ schen Rechtsordnung unter die Völkerrechtsordnung oder deren unbedingten Geltungsvorrang. Wie Frank Schorkopf zutreffend festgestellt hat, liegt „der Schlüssel zur offenen Staatlichkeit […] in der Erkenntnis, dass die Offenheit ihrer­ seits Grenzen besitzt.“147 Unter dem Eindruck der national­ sozialistischen Erfahrung geht ein Großteil der Staatsrechts­ lehre in Deutschland jedoch noch immer davon aus, dass die Gefahren staatlichen Machtmissbrauchs durch überstaatliche Institutionen und das freiheitsgerichtete Völkerrecht einzu­ hegen sind. Der Staat soll durch das Völkerrecht vor sich selbst geschützt werden. Ein solch blindes Vertrauen in das Völkerrecht setzt sich aber über die Realitäten hinweg148. Nicht nur der Staat kann eine Gefahr für die Freiheit dar­ stellen, sondern auch der im überstaatlichen Völkerrecht zum Ausdruck kommende kumulierte Staatenwille149, wie die freiheitsverletzenden Sanktionsmaßnahmen des VN-Si­ cherheitsrats gegen Einzelpersonen jüngst gezeigt haben150. 146  Siehe z. B. OVG NRW, Urteil v. 12.2.2008, 5 A 130 / 05 (Be­ obachtung von Scientology durch Verfassungsschutz zulässig). 147  Schorkopf (Fn. 1), S. 232. 148  Vgl. Doehring (Fn. 6), S. 122. 149  Siehe Schorkopf (Fn. 1), S. 20 f. 150  Siehe EuGH (Große Kammer), verb. Rs. C-402  / 05 P und C-415 / 05, Kadi und Al Barakaat gegen Rat und Kommission der EU, Slg. 2008 I-6351. Zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der VN-Sanktionen umsetzenden deutschen Rechtsakte, siehe Fassben-

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Das Völkerrecht kann immer dann zu einer Bedrohung für die Freiheit werden, wenn die staatlichen Freiheitsverbür­ gungen über den völkerrechtlichen Mindeststandard hinaus­ gehen. In diesem Fall birgt die uneingeschränkte Inkorpora­ tion des Völkerrechts in die innerstaatliche Rechtsordnung die Gefahr einer Absenkung des verfassungsrechtlich ge­ schützten Freiheitsstandards in sich. Dies wird besonders deutlich, wenn versucht wird, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts als Vademekum zur verfassungsrechtlichen Lü­ ckenfüllung heranzuziehen. In diesen Fällen wird die Ver­ fassung zur letzten Brandmauer gegen das internationale „dumbing down“ national gewährleisteter Freiheitsrechte. In Deutschland ist die Überwachung dieser Brandmauer in Art. 100 Abs. 2 GG dem Bundesverfassungsgericht zugewie­ sen, das nicht nur darüber entscheidet, ob eine bestimmte Regel eine „allgemeine Regel des Völkerrechts“ ist, sondern auch, ob eine solche Regel „Bestandteil des Bundesrechtes“ ist151. Grundgesetzwidrige Regeln des allgemeinen Völker­ rechts werden nicht zum „Bestandteil des Bundesrechtes“. Das Verfassungsrecht fungiert hier als Filter des Völker­ rechts.

der, Art. 19. Abs. 4 GG als Garantie innerstaatlichen Rechtsschut­ zes gegen Individualsanktionen des UN-Sicherheitsrates, AöR 132 (2007), S. 257 (274 ff.). 151  BVerfG, NJW 2001, S. 1848; BVerfG, NVwZ 2008, S. 878 (878).

Vergessene Grenzen in der Nordsee Von Wolfram Hertel, Berlin* Jeder, der Prof. Graf Vitzthum kennt, weiß: Eines seiner Lebensthemen ist das Recht der Grenzziehung im Meer. Unermüdlich hat er versucht, seine Leidenschaft für Fein­ heiten der Abgrenzung des Küstenmeers, der Ausschließ­ lichen Wirtschaftszone und des Festlandsockels seinen Stu­ denten und Doktoranden näherzubringen. Aus Tübinger Studenten- und Doktorandensicht ist das Meer allerdings weit entfernt. Auch schien dieses Thema entweder in der Vergangenheit (mir jedenfalls schienen die Grenzfragen in der Nordsee spätestens seit der Festlandsockelentscheidung des IGH von 19691 geklärt zu sein) oder in der fernen Zukunft zu liegen (Manganknollenabbau in der Tiefsee hör­ te sich nach einem Roman von Jules Verne an). Nie hätte ich geglaubt, damit jemals in der Praxis zu tun zu bekommen. Es mir deshalb eine große Freude, dass ich Prof. Graf Vitzthum zu seinem 70. Geburtstag eingestehen kann: Ich habe mich geirrt. In den vergangenen Jahren beschäftigte eine *  Dr. Wolfram Hertel, LL.M. (NYU) wurde im Jahr 1998 mit einer von Wolfgang Graf Vitzthum betreuten Arbeit über die Grundlagen der supranationalen Verfassung der EU promoviert. Nach einer Tätigkeit bei der WTO in Genf war er ab 2001 Rechts­ anwalt in der internationalen Sozietät Hogan & Hartson LLP, da­ von ab 2008 als Partner. Im Jahr 2010 gehörte er zu den Gründern der Sozietät Raue LLP in Berlin. 1  Fragen des Rechts des Festlandsockels einschließlich der hier­ zu ergangenen IGH-Entscheidungen sind allen Doktoranden des Jubilars wohlbekannt und brauchen hier nicht weiter vertieft zu werden. Allen anderen sei folgende Lektüre ans Herz gelegt: ­Proelß, in: Graf Vitzthum (Hg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, 5. Ab­ schnitt, Rn.  55 ff.

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offene Grenzfrage deutsche Verwaltungsbehörden und Rechtsanwälte. Der Fall spielt direkt vor unserer Haustür – in der Nordsee. Es geht dort um die Abgrenzung des Küs­ tenmeers zwischen Deutschland und den Niederlanden. Die­ sen Fall und die aufgeworfenen Rechtsprobleme möchte ich dem Jubilar als kleines Geburtstagsgeschenk vorstellen. I. Das Vorhaben Erklärtes energiepolitisches Ziel der Bundesregierung ist es, den Anteil regenerativer Energieträger an der Strom­ erzeugung deutlich zu erhöhen. Dieses Ziel ist nur durch drastischen Ausbau der Offshore-Windenergieerzeugung erreichbar. Aus diesem Grund hat das Bundesministerium ­ für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) im Jahr 2009 Raumordnungspläne für die deutsche Ausschließliche Wirtschaftszone in Nord- und Ostsee erlassen, die dort wei­ te Teile für Energienutzung reservieren2. Bereits jetzt sind ca. 30 Windparks in der Nord- und Ostsee von dem für die Genehmigung zuständigen Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg (BSH) genehmigt3. Zusätzlich gibt es Projekte innerhalb der 12-Seemeilen-Zone, für deren Genehmigung nicht das BSH, sondern die jeweils für die entsprechenden landseitigen Windparkgenehmigungen zu­ ständigen Landesbehörden zuständig sind. Für Niedersach­ sen ist dies hinsichtlich der Anlagengenehmigung das staat­ liche Gewerbeaufsichtsamt Oldenburg und hinsichtlich der Planfeststellung für Kabeltrassen im Küstenmeer und auf 2  Verordnung des BMVBS über die Raumordnung in der deut­ schen AWZ in der Nordsee vom 21.09.2009 (Bundesgesetzblatt I, S. 3107), die am 26.09.2009 in Kraft getreten ist. Verordnung des BMVBS über die Raumordnung in deutschen AWZ in der Ostsee vom 10.12.2009 (Bundesgesetzblatt I, S. 3861), die am 19.12.2009 in Kraft getreten ist; näheres: Website des Bundesamtes für Seeschiff­ fahrt und Hydrographie BSH http://www.bsh.de. 3  Website des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie, http://www.bsh.de.



Vergessene Grenzen in der Nordsee119

dem Festland die Niedersächsische Landesbehörde für Stra­ ßenbau und Verkehr4. Der Windpark, der nun die Frage des deutsch-niederlän­ dischen Grenzverlaufs aufwirft, ist das Offshore-WindparkProjekt „Riffgat“. Dieses befindet sich innerhalb der 12-See­ meilen-Zone, ca. 15 km nordwestlich der Insel Borkum5. Für das Projekt erteilte das staatliche Gewerbeaufsichtsamt Oldenburg am 22. Januar 2008 einen Vorbescheid nach § 9 BImSchG und am 29. September 2010 die immissionsschutz­ rechtlichen Anlagengenehmigung6. Zur Anbindung des Windparks an das deutsche Stromnetz wurde in den Jahren 2010 bis 2012 ein Planfeststellungsverfahren für die Seeka­ beltrasse und die Landkabeltrasse eingeleitet. Der Planfest­ stellungsbeschluss für die Seekabeltrasse erging am 28. Juni 2011 und ist seit dem 10. September 2011 bestandskräftig7. 4  Bis heute fehlt allerdings eine klare Regelung der Zuständigkeit dieser Behörde für Planfeststellungen von Energieleitungen. Wie bereits der Name der Behörde nahe legt, wurde die mögliche Zu­ ständigkeit dieser Behörde für energierechtliche Planfeststellungs­ verfahren im Jahr 2005 bei der Abschaffung der zuvor für Planfest­ stellungsverfahren zuständigen ehemaligen Regierungspräsidien in Niedersachsen in den entsprechenden Zuständigkeitserlassen der Landesregierung und des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr schlicht übersehen (vgl. Beschluss der Landesregierung vom 13.7.2004 und 7.9.2004 über Organisations- und Standortent­ scheidungen im Geschäftsbereich des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr, Nds. MBl. 2004, S. 879, ber. 2005, S. 53; Runder­ lass vom 22.12.2004, Nds. MBl. 2004 Nr. 41, S. 879, ber. 2005, S. 53). 5  Der genaue Standort: Das Projektgebiet befindet sich ca. 4,2 km südlich des Verkehrstrennungsgebiets Terschelling-Deutsche Bucht, etwa 3,6 km westlich zur Grenze des Nationalparks Nie­ dersächsisches Wattenmeer und in rund 15 km nordwestlicher Richtung zur Insel Borkum. Der Offshore-Windpark befindet sich dabei in den potentiellen Eignungsgebieten für OffshoreWindenergienutzung, die das Land Niedersachsen in seinem „Ak­ tionsprogramm zur Offshore-Windenergienutzung“ ausgewiesen hat. 6  Website des Betreibers http://www.enova.de. 7  Website der Planfeststellungsbehörde, dem Niedersächsi­ schen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr, http://www.

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Der Planfeststellungsbeschluss für die Landkabeltrasse er­ ging am 17. Februar 20128. Baubeginn war im Mai 2012. Bei plangemäßem Verlauf soll der Windpark im Sommer 2013 in Betrieb genommen werden. Der Standort von Riffgat befindet sich im sogenannten Ems-Dollart-Gebiet. Dies ist ein Gebiet im Bereich des Küs­ tenmeers vor der Ems-Mündung, in dem der Grenzverlauf zwischen Deutschland und den Niederlanden seit Jahrhun­ derten strittig ist – zu den Einzelheiten sogleich. Im Geneh­ migungsverfahren beteiligte die Genehmigungsbehörde ent­ sprechend den üblichen Verfahrensregeln für Vorhaben in Grenznähe auch die niederländischen Behörden. Die völker­ rechtliche Dimension des Vorhabens wurde allerdings erst kurz vor der Genehmigungserteilung deutlich: Am 13. Sep­ tember 2010 richtete das niederländische Außenministerium ein Schreiben an die Vorhabensträgerin. Darin bekräftigt das Außenministerium seine Ansicht, dass sich die Anlagen in niederländischen Gewässern befinden und deshalb eine Ge­ nehmigung nach niederländischem Recht erforderlich sei. Ei­ ne Errichtung ohne eine derartige Genehmigung sei verbo­ ten. Die Genehmigungsbehörde erteilte gleichwohl die Ge­ nehmigung, wies den Vorhabenträger aber darauf hin, dass das Vorhaben in einem Bereich gebaut werden soll, der zwi­ schen Deutschland und den Niederlanden umstritten sei. II. Der Grenzkonflikt Der historische Grenzkonflikt zwischen Deutschland und den Niederlanden über den Verlauf der Grenze im Küsten­ meer ist von Hans-Dietrich Treviranus9 und Daniel-Eras­ mus Kahn10 ausführlich beschrieben worden. Ich möchte strassenbau.niedersachsen.de („Anbindung der 155-kV-AC-Leitung des Offshore-Windparks Riffgat“). 8  Ebd. 9  Treviranus, Der deutsch-niederländische Ems-Dollart-Vertrag, ZaöRV, 23 (1963), S. 536. 10  Kahn, Die deutschen Staatsgrenzen, 2004, S. 399 ff.



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mich hier auf einen zusammenfassenden Überblick be­ schränken. 1. Ausgangslage: Der Konflikt um den Grenzverlauf in der 3-Meilen-Zone Die Niederlande betrachten den Talweg in der EmsMündung als Grenze zwischen Deutschland und den Nie­ derlanden. Dagegen vertritt Deutschland den Standpunkt, die Staatsgrenze verlaufe am westlichen Ufer der Ems11. Ausgangspunkt der divergierenden Rechtsauffassung ist die im Grundsatz nicht strittige Tatsache, dass der Verlauf der Staatsgrenze im Grenzabschnitt nie Gegenstand einer aus­ drücklichen vertraglichen Regelung durch die beiden Nach­ barstaaten oder ihre jeweiligen Rechtsvorgänger war. a) Standpunkt der Niederlande Die Niederlande ziehen daraus den Schluss, dass mangels spezieller völkervertraglicher Grenzfestsetzung die allge­ meinen Grundsätze der Grenzziehung in Grenzgewässern gelten. Hier müsse das bei schiffbaren Wasserwegen ge­ wohnheitsrechtlich geltende Talwegprinzip zur Anwendung kommen. Im angrenzenden Küstenmeer müsse sodann eine Abgrenzung nach dem seit langem anerkannten und zuerst in Art. 12 der Küstenmeerkonvention aus dem Jahr 1958 und nunmehr inhaltsgleich auch in Art. 15 der Seerechts­ konvention von 1982 kodifizierten Äquidistanzprinzips er­ folgen12.

11  Eine anschauliche kartographische Darstellung ist im Inter­ net abrufbar unter http://de.wikipedia.org („Deutsch-Niederländi­ sche Grenzfrage“). 12  Näheres bei Kahn (Fn. 10), S. 422.

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b) Der deutsche Rechtsstandpunkt Für den deutschen Rechtsstandpunkt kommt eine An­ wendung des Talwegprinzips für die inneren Gewässer und des Äquidistanzprinzips für das Küstenmeer hier nicht in Betracht, denn diese Prinzipien seien gegenüber speziellen Rechts­titeln subsidiär. Deutschland könne sich hier auf zwei speziellere Titel stützen: Zum einen auf den historisch be­ gründeten, von seinen territorialen Rechtsvorgängern abge­ leiteten Titel und zum anderen auf den hieraus folgenden lange andauernden ungestörten tatsächlichen Besitz13. Zur Herleitung des historischen Titels verweist Deutsch­ land auf einen Lehnsbrief vom 1. Oktober 1464. Hier­ durch soll Ulrich Cirksena im Kloster Faldern von Kaiser Friedrich III. in den Reichsgrafenstand erhoben und mit Ostfriesland als Reichsgrafschaft belehnt worden sein. Darin findet sich folgende Formulierung: Die Reichsgrafschaft um­ fasse „wonung, wesen und sloss Norden, Emeden, Emesgonien, mit den slossen Gretzil, Berum, Aurike, Lerort und Stickhusen, die da geen uns stossen von der Westeremse osterwards biss an die Weser, von der see zutwert biss an die teutschen palen“.

Die Grafen und Fürsten von Ostfriesland und ihre Rechts­ nachfolger hätten demzufolge die Hoheit über die ganze Ems seitdem ununterbrochen ausgeübt. Als die Niederlande im Frieden von Münster als Teil des westfälischen Friedens am 30. Januar 1648 auch formell aus dem Verband des Hei­ ligen Römischen Reiches Deutscher Nation ausschieden (mit diesem Vertrag erkannte Spanien nunmehr auch formell die seit langem faktisch bestehende Unabhängigkeit der Nie­ derlande an), wurde im Vertragswerk ausdrücklich der terri­ toriale Status quo festgeschrieben. Hinsichtlich des Gebiets­ umfangs dieses Neustaates heißt es dort: „Unusquisque habeat ac realiter fruatur ditionibus, uribibus, lo­ cis, terris, ac dominiis, que impraesentiarum tenet ac possidet.“ 13  Kahn

(Fn. 10), S. 423.



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Also in einer zeitgenössischen Übersetzung: „Ein jedweder soll behalten und würklichen gebrauchen die Landschaften / Stätte / Oerter / Länder und Herrschafften / die er anjetzo inhat und besitzet.“14

Nach deutscher Rechtsauffassung wird die Richtigkeit dieser Position dadurch unterstrichen, dass die holländi­ schen Generalstaaten weder im Jahr 1648 noch später Ho­ heitsrechte innerhalb des Ems-Mündungs-Gebiets ausgeübt haben. In den folgenden Jahrzehnten und letztlich bis in das 20. Jahrhundert hinein habe sich die ungestörte und dauern­ de Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Grafen von Ost­ friesland im Ems-Mündungs-Gebiet zu einem vollwertigen völkerrechtlichen Gebietserwerbstitel verdichtet. Spätestens seit dem Schiedsspruch von Max Huber im Rechtsstreit „Island of Palmas“ sei anerkannt, dass die effektive Aus­ ­ übung der staatlichen Territorialgewalt einen selbstständigen Rechtstitel darstelle15. Damit könne sich der deutsche Rechtsstandpunkt auf zwei Gesichtspunkte stützen, die je­ weils für sich genommen die deutsche Rechtsauffassung tra­ gen: Ableitung der historischen Besitztitel und jahrhunder­ telang ausgeübte tatsächliche Herrschaftsgewalt. c) Das Ems-Dollart-Vertragsregime Im Ems-Dollart-Vertrag vom 8. April 1960 haben beide Staaten versucht, das Problem pragmatisch zu lösen, ohne den jeweiligen Rechtsstandpunkt aufzugeben. Der Vertrag regelt vor allem die Sicherstellung der Schiffbarkeit im Be­ reich der Ems-Mündung. Der deutsche Hafen Emden soll angesteuert werden können, ohne dass die Schiffe zuvor den niederländischen Regelungen im niederländischen Küsten­ meer unterworfen würden. Art. 46 des Ems-Dollart-Vertrags stellt klar, dass die Bestimmung des Vertrages nicht die Fra­ 14  So zitiert bei Kahn (Fn. 10), S. 425, unter Hinweis auf Grewe, Fontes Historiae Iuris Gentium, Bd. 2, S. 419. 15  Vgl. hierzu Hailbronner / Kau, in: Graf Vitzthum (Hg.), Völ­ kerrecht, 5. Aufl. 2010, 3. Abschnitt, Rn. 133 ff.

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ge des Verlaufs der Staatsgrenze in der Ems-Mündung be­ rührt und sich jede Vertragspartei insofern ausdrücklich ih­ ren eigenen Rechtsstandpunkt vorbehalte. Die Grenzfrage könne gem. Art. 46 Abs. 2 des Vertrags vor dem internatio­ nalen Gerichtshof oder schiedsgerichtlich geklärt werden. Hiervon hat aber bislang keine Partei Gebrauch gemacht. Beim Ems-Dollart-Vertrag handelt es sich insoweit also um ein „agreement to disagree“: Der Grenzkonflikt wird nicht gelöst, sondern durch die vereinbarte Kooperation nur prak­ tisch handhabbar gemacht16. 2. Die Komplikation durch die Erweiterung des Küstenmeers auf 12 Seemeilen Deutlich verkompliziert hat sich der Grenzkonflikt durch die Ausweitung des Küstenmeers auf 12 Seemeilen infolge des Seerechtsübereinkommens vom 10. Dezember 198217. Der Standort des Windparks liegt nämlich nicht in der 3-Meilen-Zone, sondern außerhalb, in der heutigen 12-Mei­ len-Zone. Sowohl die Niederlande als auch Deutschland ha­ ben mittlerweile von der Möglichkeit in Art. 3 des See­ rechtsübereinkommens Gebrauch gemacht, durch einseitige Proklamation ihre Küstengewässer auf 12 Meilen parallel zur Basislinie festzulegen. In der Proklamation der Bundes­ regierung über die Ausweitung des deutschen Küstenmeers vom 11. November 199418 wird die Frage der Grenzbestim­ 16  Der Ems-Dollart-Vertrag wurde sodann durch weitere Zu­ satzabkommen ergänzt, die jedoch für die hier in Rede stehenden Fragen keine Bedeutung haben: Zusatzabkommen vom 14.05.1962, welches das Aufspüren und der Förderung von Bodenschätzen im Ems-Dollart-Gebiet zum Gegenstand hat; Kooperationsvertrag Ems-Dollart vom 10.09.1984; Ems-Dollart-Umweltprotokoll vom 22.08.1996. 17  Das UN-Seerechtsübereinkommen ist ein weiteres Schwer­ punktthema des Jubilars. Wer sich damit befassen möchte, sei fol­ gendes Werk ans Herz gelegt: Graf Vitzthum, Handbuch des See­ rechts, 2006. 18  Bundesgesetzblatt I, S. 3428.



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mung im Verhältnis zu den Niederlanden ausdrücklich aus­ geklammert. Dort heißt es, dass die im Ems-Dollart-Vertrag getroffene Regelung unberührt bleibe. Damit erweitert sich das potentiell streitige Grenzgebiet ganz erheblich19. Für unseren Fall stellt sich zunächst die Frage, ob das Vertragsregime des Ems-Dollart-Vertrag im Bereich zwi­ schen 3 und 12 Seemeilen anwendbar ist: Problematisch da­ ran ist, dass der Vertrag im Jahr 1960 auf der Grundlage der damaligen Definition des Küstenmeers geschlossen wurde, also beide Parteien von einer 3-Seemeilen-Zone ausgingen. Im Ems-Dollart-Vertrag ist die Rede davon, dass das Ver­ tragsgebiet20 sowohl was die seeseitige Grenze insgesamt als auch was seinen westlichen Endpunkt angeht, allein durch die Bezugnahme auf die „Grenze des Küstenmeers zur ho­ hen See“ begrenzt ist. Diese Art der Umschreibung des Ver­ tragsgebiets ermöglicht grundsätzlich zwei verschiedene In­ terpretationen: Einerseits kann das in Bezug genommene „Küstenmeer“ so verstanden werden, dass es sich dynamisch dem jeweiligen Umfang anpasst und deshalb nunmehr das gesamte Seegebiet bis zu einer Entfernung von 12 Seemeilen dem Ems-Dollart-Regime untersteht. Für ein solches Ver­ ständnis spricht, dass es den Parteien beim Abschluss des Ems-Dollart-Vertrags insbesondere darum ging, für den Schiffsverkehr zwischen der Hohen See und den Häfen in der Ems-Mündung ein einheitliches „supranationales“ Rechtsregime zu schaffen. Den deutschen Schiffen und sol­ chen von Drittstaaten sollte es ermöglicht werden, ohne Passieren von unstreitig niederländischem Hoheitsgebiet den deutschen Hafen Emden anzulaufen. Eine derartige Anpas­ sung des Vertragsgebiets an die neue Küstenmeerbreite wür­ de allerdings andererseits bedeuten, dass der nordwestliche Endpunkt des Vertragsgebiets nunmehr nördlich der West­ spitze der Insel Terschelling liegen würde und damit weit auch Kahn (Fn. 10), S. 429. hierzu den Wortlaut der Anlage B des Vertrages, § 1 Unterabsatz 1 und Unterabsatz 9. 19  So

20  Vgl.

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außerhalb jedes denkbaren Bezugs zur „Ems-Mündung“. Ein schwerlich durchzuhaltendes Ergebnis. Versteht man das Gebiet des Ems-Dollart-Vertragsregimes hingegen statisch – also bezogen auf die im Jahr 1960 gel­ tende 3-Meilen-Küstenmeergrenze – so hätte die Erweite­ rung des Küstenmeers durch die Niederlande zur Folge, dass sich im Bereich des Schifffahrtswegs ein Streifen nie­ derländischen Hoheitsgebiets zwischen die „Ems-Mündung“ und die Hohe See schieben würde. Dies wiederum wider­ spricht dem eigentlichen Sinn des Ems-Dollart-Vertrags. Al­ le Schiffe, die den deutschen Hafen Emden ansteuern müs­ sen seit 1985 – zwischen der 12. und 3. Seemeile – zunächst niederländisches Hoheitsgebiet passieren, bevor für sie so­ dann, ab der alten 3-Seemeilen-Grenze, das Rechtsregime des Vertrages vom 8. April 1960 gilt. Für den Ems-Dollart-Vertrag ist die Ausweitung des Küs­ tenmeers von 3 auf 12 Seemeilen deshalb im Hinblick auf die Regelung der Schifffahrt von und zu den deutschen Hä­ fen in der Emsmündung außerordentlich problematisch: Entweder die Erweiterung von 3 auf 12 Seemeilen führt da­ zu, dass das völkerrechtlich unbefriedigend geregelte Gebiet trichterförmig auf ein Vielfaches des ursprünglichen Ver­ tragsgebiets erweitert würde. Oder aber man schneidet das Vertragsgebiet nach 3 Seemeilen in Richtung Hohe See ab, womit die Vorteile dieses Vertragsregimes verloren wären. Für den Windpark bietet das Ems-Dollart-Vertragsregime ohnehin keinen Lösungsansatz, da bei Einigung über die Vertragsregelungen keine Vertragspartei an Offshore-Wind­ parks heutiger Prägung dachte: Der Standort des geplanten Windparks liegt somit in einem Gebiet, für welches es keine klaren vertraglichen Grundlagen gibt und welches beide An­ rainerstaaten als ihr eigenes Staatsgebiet ansehen.



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III. Die Konsequenzen und ein Lösungsvorschlag 1. Relevanz der völkerrechtlichen Frage Der Grenzkonflikt zwischen Deutschland und den Nie­ derlanden hat vielfältige Folgen in verschiedensten Fallkon­ stellationen. Nachfolgend exemplarisch einige Beispiele, wie entscheidungserheblich völkerrechtliche Fragen in den ver­ schiedensten völkerrechtlichen, aber auch allgemein öffent­ lich- und zivilrechtlichen Fallkonstellationen sein können. a) Klassische völkerrechtliche Fallgestaltungen Sicherlich ist nicht zu befürchten, dass die niederländi­ sche Marine den Windpark auf den Meeresgrund versenken wird. Aber: Werden die Niederlande die Bauarbeiten „auf ihrem (vermeintlichen) Staatsgebiet“ widerstandslos zulas­ sen? Werden sie Zugang zu dem Windpark gewähren, ins­ besondere es zulassen, dass ein Versorgungsschiff für War­ tungen ankern wird? Werden die Stromversorgung und das Strom­ kabel gekappt? Können die Niederlande Bußgelder ver­hängen? Welche Folgen hätte es für Deutschland, wenn die Nie­ derlande den Bau und Betrieb des Windparks behindern würden? Müsste Deutschland in einem solchen Fall nicht eingreifen und seine Rechtsordnung durchsetzen? Wären et­ waige Bußgelder, die von Niederländischen Behörden ver­ hängt würden, in Deutschland durchsetzbar? Auch im Fall, dass die Niederlande den Bau des Wind­ parks tolerieren, kann es Folgeprobleme geben. So etwa, falls durch ein Marinemanöver der Windpark beschädigt werden sollte. Sind dann Entschädigungsansprüche nach holländischem Recht gegen den niederländischen Staat durchsetzbar? Könnte etwa auch die Bundesrepublik Deutschland haftbar gemacht werden, wenn sie solche Ma­ növer im umstrittenen Staatsgebiet nicht verhindert und da­ mit mittelbar an der Verursachung der Schäden teilnimmt?

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b) Öffentlich-rechtliche Fallkonstellationen Auch jenseits der völkerrechtlichen Konflikte stellen sich viele Fragen. Setzt sich das Land Niedersachsen Amtshaf­ tungspflichten aus, wenn es zwar einerseits eine Genehmi­ gung für einen Windpark erteilt, andererseits aber nicht durchsetzen kann, dass diese Genehmigung ausgenutzt wer­ den kann, falls der Bau durch niederländische Behörden blo­ ckiert werden sollte? Kann sich die Genehmigungsbehörde von dem Amtshaftungsrisiko freizeichnen, indem sie den Investor auf den Grenzkonflikt hinweist? Kann die Genehmigung der Kabelverbindung an das Fest­ land durch betroffene Grundstückseigentümer mit der Be­ gründung angegriffen werden, diese diene dem Anschluss eines rechtswidrigen Vorhabens, indem sie sich der nieder­ ländischen Auffassung anschließen und vortragen, der Wind­ park werde außerhalb des deutschen Küstenmeers errichtet? Besteht das Risiko, dass Dritte (insbesondere der Übertra­ gungsnetzbetreiber) die vorrangige Einspeisung des Stroms ins deutsche Stromnetz mit der Begründung verweigern, dass der Strom möglicherweise nicht im Inland produziert wurde? c) Zivilrechtliche Fallkonstellationen Auch zivilrechtlich sind Fallkonstellationen denkbar: Könnte z. B. ein Arbeitnehmer, der im Windpark beschäftigt ist, sich auf (ggf. günstigere) arbeitsrechtliche Bestimmungen nach niederländischem Recht berufen? Kann ihm das Gehalt gekürzt werden, wenn er am 30. April nicht zur Arbeit er­ scheint, sondern an diesem Tag den niederländischen Koninginnedag feiern will? 2. Lösungsvorschlag Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die so­ eben exemplarisch aufgezeigten Fragestellungen nach Völ­



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kerrecht, öffentlichem Recht und Zivilrecht lösen zu wollen. Die Fragen zeigen aber das Kernproblem auf, welches in allen Fallgestaltungen entscheidungserheblich ist: Ist die Auffassung Deutschlands über den Verlauf der deutschen Grenzen vor einem deutschen (oder ausländischen) Gericht überprüfbar? Wer entscheidet über Deutschlands Grenzen? Kommt der Rechtsauffassung der deutschen Behörden vor den Gerichten ein irgendwie gearteter besonderer Stellen­ wert zu? Lässt es sich vermeiden, dass verschiedene Gerich­ te und Behörden mit unterschiedlichen Ergebnissen über diese Frage entscheiden (dass z. B. die Anlagengenehmigung erteilt wird, nicht aber die Genehmigung für die Anbindung an das Strom-Übertragungsnetz)? a) Justiziabilität des Verlaufs der deutschen Grenzen Die Frage der örtlichen Zuständigkeit von Behörden ist ebenso eine Rechtsfrage wie diejenige nach dem räumlichen Geltungsbereich des einfachgesetzlichen deutschen Verwal­ tungs-, Zivil- und Arbeitsrechts. Damit ist auch die Rechts­ frage des korrekten Verlaufs der deutsch-niederländischen Grenze grundsätzlich justiziabel und einer Entscheidung durch den jeweils zuständigen Richter zugänglich. Die volle Justiziabilität von Rechtsfragen ist nicht nur eine Grundvo­ raussetzung für das Funktionieren eines Rechtsstaats, son­ dern auch verfassungsrechtlich garantiert (Art. 19 Abs. 4 GG). Konsequenterweise war die Frage des Geltungsbe­ reichs des deutschen Rechts und der Möglichkeiten, diesen Geltungsbereich abzugrenzen, schon vielfach Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen21.

21  Beispielhaft in diesem Zusammenhang zu nennen ist die Ent­ scheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Möglichkeit eines Seeschifffahrts-Zweitregisters, mit welchem der Abschluss arbeits­ rechtlicher Vereinbarungen nach Maßgabe ausländischen Rechts auf unter deutscher Flagge fahrenden Schiffen erleichtert wurde; BVerfGE 92, 26.

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b) Bindung an verfassungsrechtliche Vorgaben Daraus folgt jedoch noch nicht zwingend, dass alle jeweils berufenen Gerichte diese Rechtsfrage von neuem und ggf. abweichend entscheiden. Die Rechtsprechung ist an Gesetz und Recht gebunden. Dem Gesetzgeber wäre es nicht ver­ wehrt, die Frage des Verlaufs der deutschen Außengrenze durch ein Gesetz zu regeln, an welches (jedenfalls die deut­ schen) Gerichte gebunden wären. Ein solches, ausdrück­ liches Grenzziehungsgesetz existiert jedoch nicht. Allerdings ist die räumliche Abgrenzung Deutschlands und damit auch des Geltungsbereichs des deutschen Rechts nicht der freien Rechtsfindung und -fortentwicklung der Gerichte zugewiesen. Es finden sich im Grundgesetz und in der Landesverfassung Niedersachsen Anknüpfungspunkte, die einem zur Entscheidung berufenen Richter Maßstäbe für die Entscheidung geben: Das Grundgesetz bezieht sich in Satz 2 der Präambel auf die 16 Länder, in denen die Deut­ schen in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet haben. Diesem Satz kommt norma­ tive Bedeutung im Sinne einer konstitutiven und endgültigen Festlegung des deutschen Staatsgebiets zu22. Die Präambel setzt mit dem Anknüpfungspunkt an die 16 Länder ein be­ stimmtes, hergebrachtes Verständnis über diese Länder vor­ aus. Insbesondere der Sinn von Satz 3 der Präambel („Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk“), der zum Ausdruck bringen soll, dass Deutschland keine weiteren Gebietsansprüche mehr stellen wird23, würde Ma­ kulatur, könnten die vom vorhergehenden Satz 2 genannten 22  So ausdrücklich Kahn (Fn. 10), S. 37; ähnlich Dreier, in: ders. (Hg.), GG Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 77: „klargestellt, dass sich das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutsch­ land in den genannten 16 Ländern erschöpft“; weiter­führend zum normativen Bedeutungsgehalt von Präambeln vgl. Häberle, Verfas­ sungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff.; ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Listl / Schram­ beck (Hg.), Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 211.



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16 Länder in ihrer territorialen Ausdehnung beliebig inter­ pretiert und verstanden werden. Maßgebend für die Abgren­ zung des Geltungsbereichs des Grundgesetzes und damit auch des Geltungsbereichs des einfachgesetzlichen deutschen Rechts ist deshalb ein hergebrachtes Verständnis vom terri­ torialen Umfang dieser 16 Länder. 23

Entsprechend bestimmt Art. 1 Abs. 1 der Niedersächsi­ schen Verfassung vom 19. Mai 1993 wiederum, dass sich der territoriale Geltungsanspruch der Landesverfassung Nieder­ sachsens auf denjenigen der vier Vorgängerstaaten bezieht: „Das Land Niedersachsen ist hervorgegangen aus den Ländern Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe.“

Das hier in Bezug genommene Land Hannover war 1946 mit Auflösung der preußischen Provinz Hannover wiederer­ richtet worden24. Es existierte nur 92 Tage, bevor es im neu gegründeten Land Niedersachsen aufging25. Das Land Han­ nover sah sich in der Rechtsnachfolge der preußischen Pro­ vinz Hannover und dem bis 1866 existierenden Königreich Hannover. Auch Art. 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Ver­ fassung setzt also ein hergebrachtes Verständnis vom räum­ lichen Umfang des Landes Niedersachsen voraus. Die Verfassungsgeber des Grundgesetzes und des Landes Niedersachsen hatten eine Vorstellung davon, was sie unter „Niedersachsen“ bzw. dem Land „Hannover“ verstanden. Selbst wenn diese nichts von dem konkreten deutsch-nieder­ ländischen Grenzkonflikt in der Emsmündung wussten: Sie hatten denjenigen territorialen Umfang Deutschlands und Niedersachsens vor Augen, der nach der damaligen Vorstel­ lung als Gebiet des Vorgängerstaats (Landesverfassung Nie­ 23  Allgemeine Meinung, vgl. nur Starck, in: von Mangoldt / Klein /  Starck, Kommentar zum GG, 6. Aufl. 2010, Präambel Rn. 48; Dreier (Fn. 22), Rn. 77. 24  Gegründet durch Verordnung Nr. 46 der britischen Militärre­ gierung v. 23.8.1946 „Betreffend die Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Preußen in der Britischen Zone und ihre Neu­ bildung als selbständige Länder“. 25  Näher http://de.wikipedia.org / wiki / Land_Hannover.

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dersachsen) bzw. Gliedstaats (Grundgesetz) galt. Dieser tra­ dierten Auffassung vom Gebiet Deutschlands wird in einem Verfahren wegen der verfassungsrechtlichen Anknüpfungen in den Präambeln deshalb eine besondere Rolle zukommen müssen. Nur wenn sich evidente Anhaltspunkte für eine Fehlinterpretation der deutschen Grenzen durch die deut­ schen Behörden finden lassen, könnte sich ein Richter über dieses tradierte Verständnis hinwegsetzen. c) Bindung an verwaltungsrechtliche Tatbestände Abschließend sei noch an einen weiteren Grundsatz erin­ nert, welcher es je nach Fallkonstellation einem Richter er­ leichtert bzw. erspart, über Deutschlands Grenzen entschei­ den zu müssen: Ein einmal erteilter Verwaltungsakt ist von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidungen als „gegebener Tatbestand“ zugrunde zu legen26. Dies be­ deutet, dass die jeweils zur Entscheidung befugten Behör­ den – und in der Konsequenz auch die diese Behördenent­ scheidung überprüfenden Gerichte – an die Tatsache, dass eine deutsche Behörde den Offshore-Windpark bestands­ kräftig genehmigt hat und auch an den Inhalt dieser Ge­ nehmigung gebunden sind, ohne die Rechtmäßigkeit dieser Tatsache überprüfen zu müssen. Ebenso muss jeder andere Betroffene die Wirksamkeit der durch die Genehmigung er­ folgten Regelung gegen sich gelten lassen, solange und so­ weit sie besteht. Etwas anderes gilt nur in Fällen grober Rechtsmängel27. Ist also – wie hier durch die immissionsschutzrechtliche Anlagengenehmigung vom 29. September 2010 – der Wind­ park durch eine deutsche Behörde im Rahmen der von die­ ser angenommenen räumlichen und sachlichen Zuständigkeit erteilt worden, haben diejenigen Behörden, die nachfolgende 26  Allg. Auffassung, vgl. BVerwGE 59, 310 (315); Maurer, All­ gemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2005, § 11 Rn. 8; Fehling /  Kastner, Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2010, § 43 VwVfG Rn. 19 ff. 27  BVerwGE a. a. O.



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Entscheidungen (z.  B. über die Kabelanbindung an das Strom-Übertragungsnetz) zu treffen haben, als gegeben vo­ rauszusetzen, dass der Windpark nach deutschem Recht ge­ nehmigt wurde. Im Interesse der Einheit der Rechtsordnung ist es ihnen dann verwehrt, diese Entscheidung insofern zu hinterfragen, indem sie den Einwand der fehlenden räum­ lichen Zuständigkeit der genehmigenden Behörde erheben. Jedenfalls für eine grobe Rechtswidrigkeit der deutschen völkerrechtlichen Position ist nämlich nichts ersichtlich. IV. Ergebnis Der Fall zeigt, dass Fragen der völkerrechtlichen Grenz­ ziehung, insbesondere im Küstenmeer und auf dem Fest­ landsockel, auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Das Völkerrecht ist kein bloß theoretisches Recht, sondern spielt für die verschiedensten Fallkonstella­tionen im Verwaltungs- und Zivilrecht eine unmittelbar entscheidungs­ erhebliche Rolle. Das deutsche Recht hält allerdings norma­ tive Anknüpfungspunkte und rechtliche Konstruktionen be­ reit, die verhindern, dass die Frage der Grenzziehung inner­ halb desselben Lebenssachverhalts immer wieder neu aufge­ worfen werden muss. Dies wiederum ist auch im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens Deutschlands mit seinen Nach­ barn. Auch die Nachbarstaaten haben ein Interesse daran, dass sich ihnen gegenüber die deutsche Rechtsposition weit­ gehend einheitlich darstellt, insbesondere, dass ein einmal mit Deutschland gefundener modus vivendi nicht durch je­ des gerichtliche Verfahren, das in einem Zusammenhang mit diesem Lebenssachverhalt steht, neu in Frage gestellt wird.

Grenzen der Zuständigkeit der Unionsorgane am Beispiel von „Erika III“ Von Alexander Proelß, Trier* I. Einführung Bei dem „Erika III“-Paket handelt es sich um das dritte Maßnahmenbündel, mit dem die Europäische Union (EU) auf den Untergang der Öltanker Erika (1999) und Prestige (2002) reagiert hat1. Es beinhaltet Regelungen, die im We­ *  Prof. Dr. Alexander Proelß war von Juli 2000 bis August 2007 zunächst Wissenschaftlicher Mitarbeiter und dann Wissenschaft­ licher Assistent am Lehrstuhl von Wolfgang Graf Vitzthum. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Völ­ kerrecht und Europarecht, an der Universität Trier und Direktor des Instituts für Umwelt- und Technikrecht (IUTR). 1  Das „Erika I“-Paket umfasst folgende Maßnahmen: Verord­ nung (EG) Nr. 417  /  2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.2.2002 zur beschleunigten Einführung von Doppelhül­ len oder gleichwertigen Konstruktionsanforderungen für Einhül­ len-Öltankschiffe und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr.  2978 / 94 (ABl.  EG 2002, Nr.  L 64 / 1); Richtlinie 2001 / 106 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.2001 zur Än­ derung der Richtlinie 95 / 21 / EG des Rates zur Durchsetzung inter­ nationaler Normen für die Schiffssicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen und in Hoheitsge­ wässern der Mitgliedstaaten fahren (ABl. EG 2002, Nr. L 19 / 17); Richtlinie 2001 / 105 / EG des Europäischen Parlaments und des Ra­ tes v. 19.12.2001 zur Änderung der Richtlinie 94 / 57 / EG des Rates über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprü­ fungs- und -besichtigungsorganisationen und die einschlägigen Maßnahmen der Seebehörden (ABl. EG 2002, Nr. L 19 / 9). Das „Erika II“-Paket besteht aus folgenden Rechtsakten: Verordnung (EG) Nr. 1406 / 2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v.

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sentlichen dazu dienen sollen, die Sicherheit auf See – hier verstanden als „safety at sea“, nicht als „security at sea“ – zu erhöhen. In einer Entschließung zur Verbesserung der Si­ cherheit auf See aus dem Jahre 2004 hatte das Europäische Parlament betont, dass eine „rasche und vollständige Ein­ führung und strenge Handhabung“ der mit den „Erika I“und „Erika II“-Paketen getroffenen Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten an erster Stelle stehen müsse2. Indes hatte es zugleich seiner Erwartung Ausdruck verliehen, dass die Kommission die bereits angekündigten weitergehenden Vor­ schläge zur Verbesserung der Sicherheit auf See zügig vorle­ gen solle3. Mit Blick auf das Verhältnis von Internationaler Seeschifffahrtsorganisation (International Maritime Organi­ zation – IMO) und EU hatte es sein Verständnis für die Besorgnis des Generalsekretärs der IMO über das unilatera­ le und regionale Auftreten der Länder außerhalb des Rah­ mens der IMO ausgedrückt, zugleich aber die Auffassung vertreten, dass „ein einseitiges Auftreten der EU im Interesse des Sicherheit […] manchmal notwendig sein kann […], [und dass] Maßnahmen der Europäischen Union zum Katalysator innerhalb der IMO wer­ den können, wie unter anderem im Falle der beschleunigten all­ mählichen Abschaffung von Einhüllen-Tankern“.4

Damit hatte das Europäische Parlament nicht nur die verbreitete Ansicht zum Ausdruck gebracht, dass die globa­ len, im Rahmen der IMO vereinbarten Sicherheitsstandards nicht ausreichten – der erste Erwägungsgrund der Ent­ 27.6.2002 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die Si­ cherheit des Seeverkehrs (ABl. EG 2002, Nr. L 208 / 1); Richtlinie 2002  /  59  /  EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.6.2002 über die Einrichtung eines gemeinsamen Überwa­ chungs- und Informationssystems für den Schiffsverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 93  /  75  /  EWG (ABl. EG 2002, Nr. L 208 / 10). 2  2003  / 2235(INI), Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Verbesserung der Sicherheit auf See, § 8. 3  Ebd., § 9. 4  Ebd., § 36.



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schließung betont denn auch, dass „seit der Havarie der Erika und der Prestige mehrere Zwischenfälle in europäi­ schen Gewässern zu verschmutzten Küsten geführt ha­ ben“ –, sondern zugleich eine Chance aufgezeigt, wie die Kooperation zwischen den beiden internationalen Organi­ sationen ausgestaltet werden könnte. Diesbezüglich hatte Wolfgang Graf Vitzthum bereits 2001 im Rahmen eines Vortrags auf dem 9. Rostocker Seerechtsgespräch weitsich­ tig die Bedeutung der EU als „potentieller Durchsetzungs­ degen der IMO“ unterstrichen und hervorgehoben, dass die Union für die Um- und vor allem Durchsetzung der ein­ schlägigen völkerrechtlichen Standards vor dem Hinter­ grund ihres supranationalen Charakters und ihres wirt­ schaftlichen Gewichts geradezu prädestiniert sei5. Nichts anderes als dieses frühzeitige Bemühen um Lösung eines möglichen Jurisdiktionskonflikts ist gemeint, wenn das Eu­ ropäische Parlament davon spricht, die Union könne zum „Katalysator“ der IMO werden. Ein Jahr später legte die Kommission mit ihrer Mitteilung vom 23. November 2005 dann den vom Parlament eingefor­ derten dritten Maßnahmenkatalog zur Seeverkehrssicherheit vor6. Sie verfolgte damit keineswegs ausschließlich das Ziel einer Verbesserung der Sicherheit auf See. Zwar wurde als grundlegendes Problem die „Durchfahrt von Schiffen be­ denklicher Sicherheitsstandards unter der Flagge von Dritt­ staaten außerhalb der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten“ identifiziert7. Die bereits verabschiedeten Maßnahmen seien freilich in einer Weise zu verschärfen, die der Bedeutung der Seeverkehrsindustrie für die Wettbewerbsfähigkeit Europas Rechnung trage8. Die Fortentwicklung der europäischen Schiffssicherheitspolitik verkörpere einen Beitrag zur „Kon­ 5  Graf Vitzthum, Schiffssicherheit: Die EG als potentieller Durchsetzungsdegen der IMO, ZaöRV 2002, S. 163 (177). 6  KOM(2005) 585 endg. v. 23.11.2005, Mitteilung der Kommis­ sion, Drittes Packet „Seeverkehrssicherheit“. 7  Ebd., S. 6. 8  Ebd., S. 3.

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solidierung der sicherheitsrelevanten Aspekte einer sich ent­ wickelnden integrierten europäischen Seeverkehrspolitik“9, die wirtschaftliche, soziale und ökologische Belange sowie Sicherheitsaspekte umfasse. Letztlich gehe es darum, „die Erhaltung der Ressourcen, die Verbesserung der Wettbe­ werbsfähigkeit sowie die langfristige Entwicklung des Wachstums und der Beschäftigung im maritimen Sektor mit­ einander zu verbinden.“10 Mittelbar zielte die Kommission somit auf die Schaffung eines freien Marktes für Seever­ kehrsdienstleistungen auf gemeinschaftlicher und internatio­ naler Ebene11. Dies erklärt das deutlich größere seehandelsrechtliche Gewicht des „Erika III“-Pakets im Vergleich mit seinen beiden Vorgängern. Hinzu trat der zum wiederholten Male geäußerte Wunsch, die Union möge Mitglied in der IMO werden12 – ein Wunsch, der bis heute nicht in Erfül­ lung gegangen ist und mangels Änderung des IMO-Grün­ dungsstatuts, das eine Mitgliedschaft internationaler Organi­ sationen nicht vorsieht13, auch nicht in Erfüllung gehen konnte. Das von der Kommission vorgeschlagene Maßnahmenpa­ ket umfasste sechs Richtlinien und zwei Verordnungen. Nachdem die Entwürfe im Laufe des Gesetzgebungsverfah­ rens zum Teil signifikant geändert worden waren, traten im Mai 2009 die endgültigen Fassungen der Bestandteile des „Erika III“-Pakets, gestützt auf die sachlich-gegenständliche (und damit gegenüber anderen ggf. in Betracht kommenden 9  Ebd. 10  Ebd. 11  Deutlich

ebd., S. 4. etwa auch SEC(2002) 381 final v. 9.4.2002, Recommen­ dation from the Commission to the Council in order to authorise the Commission to open and conduct negotiations with the Inter­ national Maritime Organization (IMO) on the conditions and ar­ rangements for accession by the European Community. 13  Vgl. Art. 4 des Übereinkommens über die Internationale See­ schifffahrts-Organisation v. 6.3.1948 (BGBl. 1965 II, S. 313): „Un­ ter den im III. Teil aufgestellten Bedingungen kann jeder Staat Mitglied der Organisation werden.“ 12  Siehe



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Zuständigkeitstiteln speziellere)14 Kompetenznorm des Art. 100 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Eu­ ropäischen Union (AEUV)15, in Kraft. Im Folgenden werden die „Erika III“-Maßnahmen zu­ nächst im Wege eines Überblicks dargestellt, bevor anhand der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichts­ hofs (EuGH), insbesondere am Beispiel der den Hinter­ grund vorliegender Skizze (wenn auch nicht das „Erika III“-Paket selbst) betreffenden Intertanko-Entscheidung, allgemein auf die Befugnisse der EU als Akteurin in den internationalen Beziehungen eingegangen wird. Dabei geht es primär um Existenz und Verortung der vom Völkerrecht unmittelbar oder mittelbar gezogenen Grenzen des Han­ delns der Union – ggf. auch um ihre Überschreitung –, d. h. um das Oberthema des zu Ehren des Jubilars veranstalteten Seminars, wenn auch in einem übertragenen Sinne. An­ schließend werden die in diesem Rahmen gewonnenen Er­ kenntnisse auf die Frage der Vereinbarkeit der Bestandteile des „Erika III“-Pakets mit den globalen, d. h. völkerrecht­ lichen, Schiffssicherheitsstandards angewendet. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Relevanz des Themas für die allgemeine Völkerrechtsentwicklung. Das so umrissene Arbeitsprogramm bietet Gelegenheit, an eine Diskussion anzuknüpfen, die der Jubilar mit dem be­ reits erwähnten Vortrag auf dem Rostocker Seerechtsge­ spräch sowie seiner vielzitierten kompetenzrechtlichen Skiz­ ze „Europäisches Seerecht“16, auf deren Schlussfolgerungen noch näher einzugehen ist, maßgeblich geprägt hat. Letztlich schließt sich so auch für den Verfasser vorliegender Überle­ 14  So Proelß, Meeresschutz im Völker- und Europarecht, 2004, S. 314 ff. im Anschluss an Nettesheim, Horizontale Kompetenz­ konflikte in der EG, EuR 1993, S. 243 (248); ders., Das Umwelt­ recht der Europäischen Gemeinschaften, Jura 1994, S. 337 (338). 15  Konsolidierte Fassung: ABl. EU 2010, Nr. C 83 / 47. 16  Graf Vitzthum, Europäisches Seerecht. Eine kompetenz­ rechtliche Skizze, in: Brenner / Huber / Möstl (Hg.), Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 1189 ff.

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gungen ein Kreis, bildete doch das Rostocker Seerechtsge­ spräch des Jahres 200017, an welchem er als soeben Exami­ nierter auf Anregung von Wolfgang Graf Vitzthum teilneh­ men durfte, die Initialzündung seiner eigenen Dissertation zum Thema „Meeresschutz im Völker- und Europarecht“. II. Das „Erika III“-Paket: Überblick Die Maßnahmen des „Erika III“-Pakets enthalten über­ wiegend verschärfte Standards hinsichtlich von Kontrollen, Haftung und Versicherung18. Gemäß der Richtlinie 2009  /  21  /  EG über die Erfüllung der Flaggenstaatpflichten19 muss stets eine Sicherheitsprü­ fung durchgeführt werden, bevor einem Schiff das Recht verliehen werden darf, die Flagge eines EU-Mitgliedstaats zu führen (vgl. Art. 4). Die Richtlinie sieht vor, dass die Verwaltungen der Mitgliedstaaten mindestens alle sieben Jahre einem IMO-Audit unterzogen werden (vgl. Art. 7); dabei handelt es sich um ein an sich freiwilliges Schema zur Überprüfung der Frage, in welchem Umfang ein Staat sei­ nen Pflichten gerecht wird, die in den verbindlichen IMOInstrumenten, denen er beigetreten ist, festgelegt sind20. 17  Vgl. die Beiträge in: Ehlers / Erbguth (Hg.), Aktuelle Entwick­ lungen im Seerecht II, 2003, S. 51 ff. 18  Siehe bereits die allgemeinen Darstellungen bei van der Mensbrugghe, Le paquet Erika III: Un bouquet varié de proposi­ tions concernant la sécurité de l’Union Européenne, ADM XI (2006), S.  85 ff.; ders., Le paquet Erika III sur la sécurité maritime dans la Communauté Européenne enfin ficelé, ADM XIV (2009), S.  295 ff.; Jenisch, New EU Legislation on Safety at Sea 2009, Han­ sa International Maritime Journal, 146 (2009), S. 52 ff.; ders., Prä­ vention zur Vermeidung von Unfällen und von Umweltverschmut­ zung auf See, NuR 2007, S. 392 (393 ff.). 19  Richtlinie 2009 / 21 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2009 über die Erfüllung der Flaggenstaatpflichten (ABl. EU 2009, Nr. L 131 / 132). 20  Grundlage des Audit-Schemas bilden die folgenden IMODokumente: A 23 / Res.946 v. 27.11.2003, Voluntary IMO Member



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Innerhalb der EU liegt die Durchführung des Audits mit­ hin nicht mehr im freien Ermessen der Mitgliedstaaten. Da­ rüber hinaus mussten die Mitgliedstaaten bis Mitte 2012 ein zu zertifizierendes Qualitätsmanagementsystem für die ope­ rativen Teile der Tätigkeiten ihrer Verwaltung mit Bezug zu den Flaggenstaatenpflichten entwickeln, umsetzen und fort­ schreiben (vgl. Art. 8). Ungeachtet dieser Vorgaben bleiben die Bestimmungen der Richtlinie weit hinter der ursprüng­ lich vorgesehenen europäischen Schiffsverwaltung (ein­ schließlich der Einführung einer europäischen Flagge) zu­ rück. Die Richtlinie 2009 / 15 / EG21 und die Verordnung (EG) Nr.  391 / 200922 über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen und die einschlägigen Maßnahmen der Seebehörden ersetzen und verschärfen die Klassifikationsgesellschaften-Richtli­ nie des „Erika I“-Pakets. Sie behandeln die Anerkennung und Kontrolle der Klassifikationsgesellschaften unmittelbar durch die Kommission (vgl. Art. 3 ff. der Verordnung [EG] Nr. 391 / 2009) sowie die Etablierung eines „Auftragsverhält­ nisses“ zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen und den für sie tätigen Klassifikationsgesellschaften (vgl. Art. 5 der Richtlinie 2009 / 15 / EG), das zu klareren und effektive­ ren Regelungen bezüglich der Aufgabenwahrnehmung, Haf­ tung usw. führen soll. State Audit Scheme; A 24 / Res.974 v. 1.12.2005, Framework and Procedure for the Voluntary IMO Member State Audit Scheme; A 24  /  Res.975 v. 1.12.2005, Future Development of the Voluntary IMO Member State Audit Scheme. 21  Richtlinie 2009 / 15 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2009 über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen und die einschlägigen Maßnahmen der Seebehörden (ABl. EU 2009, Nr. L 131 / 47). 22  Verordnung (EG) Nr. 391 / 2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2009 über gemeinsame Vorschriften und Nor­ men für Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen (ABl. EU 2009, Nr. L 131 / 11).

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Die für die Durchsetzung der globalen Sicherheitsstan­ dards zentralen Vorgaben zur Hafenstaatkontrolle wurden mit der Richtlinie 2009 / 16 / EG über die Hafenstaatkontrol­ le23 reformiert. Sie regelt die Einführung eines Qualitäts­ schemas für eine möglichst umfassende Kontrolle aller die Häfen der Union anlaufenden Schiffe auf der Grundlage eines näher konkretisierten Auswahlverfahrens. Für jedes ei­ nen Unionshafen anlaufende Schiff muss ein Risikoprofil erstellt werden, das sich anhand allgemeiner (Schiffstyp, Al­ ter, Flagge, beteiligte Klassifikationsgesellschaften, Leistung des Unternehmens) und historischer (Anzahl der Mängel und Festhaltemaßnahmen) Parameter beurteilt (vgl. Art. 10). Für Schiffe der höchsten Risikostufe, hinsichtlich derer im Grundsatz eine Inspektionspflicht unabhängig vom Datum der letzten Inspektion zum Tragen kommt (vgl. Art. 11), gilt ein erweitertes Überprüfungsverfahren (vgl. Art. 14). Als ultima ratio sieht die Richtlinie, die an verschiedenen Stellen auf das Paris Memorandum of Understanding (MoU) on Port State Control24 Bezug nimmt (vgl. nur Art. 5, 8, 10), befristete und letztlich gar unbefristete Einlaufverbote vor (vgl. Art. 16). Darauf ist im Rahmen der Analyse der Völ­ kerrechtmäßigkeit der „Erika III“-Maßnahmen zurückzu­ kommen (siehe u. IV. 3.). Gegenstand der Richtlinie 2009 / 17 / EG25 sind Ergänzun­ gen der Schiffsmelderichtlinie26. Im Vordergrund steht das 23  Richtlinie 2009 / 16 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2009 über die Hafenstaatkontrolle (ABl. EU 2009, Nr.  L 131 / 57). 24  Das Paris MoU v. 26.1.1982 ist eine an sich unverbindliche Vereinbarung zur Harmonisierung der Vorgaben über die Durch­ führung der Hafenstaatkontrolle in Europa sowie in Kanada. 25  Richtlinie 2009  /  17  /  EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2009 zur Änderung der Richtlinie 2002 / 59 / EG über die Einrichtung eines gemeinschaftlichen Überwachungs- und Informationssystems für den Schiffsverkehr (ABl. EU 2009, ­ Nr.  L  131 / 101). 26  Dabei handelt es sich um die seinerzeit in das „Erika II“Paket integrierte Richtlinie 2002 / 59 / EG (Fn.  1).



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Bemühen um Etablierung eines harmonisierten Regimes der Notliegeplätze („places of refuge“). Der ursprünglich vorge­ sehene Ansatz, eine unabhängige europäische Behörde mit der verbindlichen Festlegung eines Notliegeplatzes im Falle der Seenot eines Schiffes zu betrauen, wurde auf mitglied­ staatlichen Druck verworfen. Nach der Richtlinie benennen nunmehr die Mitgliedstaaten selbst jeweils eine oder mehre­ re Behörde(n), die eigenverantwortlich unabhängige Ent­ scheidungen über die Aufnahme von auf Hilfe angewiesenen Schiffe treffen soll(en) (vgl. Art. 20 der geänderten Schiffs­ melderichtlinie). Ebenfalls gescheitert ist das vorgesehene System obligatorischer gegenseitiger Sicherheitsleistungen und Ausgleichszahlungen („maritime Eurobonds“) zuguns­ ten von Staaten, die ihre Häfen für in Seenot geratene Schif­ fe öffnen. Weitere Änderungen betreffen eine Stärkung von „SafeSeaNet“ als Plattform zum Austausch von schiffssi­ cherheitsspezifischen Daten von Schiffen, die sich in euro­ päischen Gewässern befinden (vgl. Art. 22 a der geänderten Schiffsmelderichtlinie), sowie die Ausdehnung des verpflich­ tenden automatischen Identifikationssystems für Fischerei­ fahrzeuge von mehr als 15 m Länge (vgl. Art. 6 a der geän­ derten Schiffsmelderichtlinie). Mit der Richtlinie 2009 / 18 / EG zur Festlegung der Grund­ sätze für die Untersuchung von Unfällen im Seeverkehr27 werden, aufbauend auf dem IMO Code for the Investigation of Marine Casualties and Incidents28, technische Richtlinien für die Untersuchung von Schiffsunfällen im Transportsek­ tor eingeführt. Eine Rechtspflicht zur Durchführung einer Sicherheitsuntersuchung besteht freilich nur bei sehr schwe­ ren Unfällen auf See sowie vorbehaltlich eines begründeten 27  Richtlinie 2009 / 18 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2009 zur Festlegung der Grundsätze für die Untersu­ chung von Unfällen im Seeverkehr und zur Änderung der Richt­ linie 1999 / 35 / EG des Rates und der Richtlinie 2002 / 59 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. EU 2009, Nr. L 131 / 114). 28  IMO Doc. A 20 / Res.849 v. 27.11.1997, Annex.

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Interesses des betreffenden Mitgliedstaats; Letzteres ist u. a. dann gegeben, wenn das Schiff die Flagge dieses Mitglied­ staats führt, oder wenn sich der Unfall in seinem „mariti­ men Aquitorium“29 ereignet (vgl. Art. 5 Abs. 1). Ziel der Verordnung (EG) Nr. 392 / 2009 über die Unfall­ haftung von Beförderern von Reisenden auf See30 ist die ein­ heitliche Implementierung („Vergemeinschaftung“) des Athe­ ner Übereinkommens von 1974 über die Beförderung von Reisenden und ihrem Gepäck auf See und seines Protokolls von 200231, das bislang nicht von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. Sie etabliert ein Haftungs- und Versiche­ rungsregime für die Beförderung von Passagieren und deren Gepäck. Dabei geht die Richtlinie insoweit über das Athener Übereinkommen hinaus, als ihre Regelungen auch für den le­ diglich nationalen Transport auf See gelten (vgl. Art. 2). Nach der Richtlinie 2009 / 20 / EG über die Versicherung von Schiffseigentümern für Seeforderungen32 müssen die Mitgliedstaaten schließlich bezüglich der jeweils unter ihrer Flagge fahrenden Schiffe mit einer Bruttoraumzahl von 300 oder mehr vorschreiben, dass die Schiffseigentümer über ei­ ne Versicherung für ihre Schiffe verfügen (vgl. Art. 4). Diese 29  Dieser von Graf Vitzthum eingeführte Begriff fasst die zum Staatsgebiet zählenden Meereszonen (innere Gewässer, Küsten­ meer, Archipelgewässer) zusammen; er verdeutlicht, dass sich die Souveränität eines Staats über sein Territorium qualitativ von der­ jenigen über sein maritimes Gebiet unterscheiden kann. Vgl. Graf Vitzthum, in: ders. (Hg.), Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, 5. Abschnitt Rn.  38 ff.; ders., Aquitoriale Souveränität. Zum Rechtsstatus von Küstenmeer und Archipelgewässern, in: Dupuy / Fassbender / Shaw /  Sommermann (Hg.), Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S.  1067 ff. 30  Verordnung (EG) Nr. 392 / 2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2009 über die Unfallhaftung von Beförderern von Reisenden auf See (ABl. EU 2009, Nr. 131 / 24). 31  Konsolidierte Fassung: ABl. EU 2009, Nr. L 131 / 29. 32  Richtlinie 2009 / 20 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2009 über die Versicherung von Schiffseigentümern für Seeforderungen (ABl. EU 2009, Nr. L 131 / 128).



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Versicherung muss diejenigen Seeforderungen abdecken, die nach dem internationalen Übereinkommen von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen in seiner revidierten Fassung von 199633 einer Haftungsbeschrän­ kung unterliegen (vgl. Art. 4 Abs. 3). Der Versicherungsbe­ trag je Schiff und Vorfall entspricht dem jeweiligen Haf­ tungshöchstbetrag nach dem Übereinkommen von 1996. Es geht somit um eine Ergänzung und Effektivierung des glo­ balen Schiffsversicherungsrechts. Wie bereits angedeutet, waren die soeben dargestellten Rechtsakte im Gesetzgebungsverfahren Gegenstand zahlrei­ cher Änderungswünsche des Europäischen Parlaments und des Rates, die jedenfalls teilweise im Zusammenhang stan­ den mit der Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit den globalen, im Rahmen der IMO vereinbarten Standards. Auch auf­ grund gewisser Erfahrungen mit den „Erika I“- und „Erika II“-Paketen scheuten die Unionsorgane offenbar den vom Parlament 2004 noch für zweckmäßig erachteten europäi­ schen Alleingang. Bevor vor diesem Hintergrund die Völ­ kerrechtmäßigkeit der „Erika III“-Maßnahmen anhand aus­ gewählter Aspekte analysiert wird, sei ein Blick auf die Er­ fahrungen mit den beiden (bzw. den drei) vorangehenden Maßnahmenpaketen geworfen. III. „Intertanko“ und die Grenzen der Unionsbefugnisse auf dem Gebiet der Schiffssicherheit Im Zusammenhang mit „Erika I“ und „Erika II“ sowie den anschließend (auch) unter dem Eindruck der Havarie des Einhüllen-Öltankers Prestige erlassenen Maßnahmen34 33  Übereinkommen von 1976 über die Beschränkung der Haf­ tung für Seeforderungen v. 19.11.1976 (BGBl. 1986 II, S. 786); Pro­ tokoll v. 2.5.1996 zur Änderung des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen (BGBl. 2000 II, S. 791). 34  Zu diesen Maßnahmen zählen u.  a. die Verordnung (EG) Nr. 1726  /  2003 des Europäischen Parlaments und des Rates v.

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waren vor allem die von der Verordnung 1726 / 2003 vorge­ sehenen verschärften Zeitpläne bezüglich der Einführung eines Verbots von Einhüllen-Öltankschiffen sowie die von der Richtlinie 2005  /  33 etablierten strengeren Grenzwerte für Schwefel in Schiffstreibstoffen Zweifeln hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Übereinkommen zur Verhü­ ­ tung der Meeresverschmutzung durch Schiffe von 1973 (MARPOL)35 ausgesetzt gewesen36. Weitere umstrittene Punkte betrafen u. a. die Reichweite der in der Schiffsmelde­ richtlinie 2002 / 59 normierten Pflichten. 1. Die Intertanko-Entscheidung des EuGH Vor den EuGH gelangte im Jahre 2006 schließlich die ­ rage der Völkerrechtskompatibilität von Vorschriften der F Richt­linie 2005 / 35 / EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Ver­ stöße37. Die Kläger des Ausgangsverfahrens (u. a. die International Association of Independent Tanker Owners – Intertanko) hatten vor dem High Court of Justice of England and Wales geltend gemacht, dass die mit der Richtlinie vorge­ nommene Einführung des Maßstabs der groben Fahrlässig­ keit („serious negligence“) für die Prüfung einer Haftung 22.7.2003 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 417 / 2002 zur beschleunigten Einführung von Doppelhüllen oder gleichwertigen Konstruktionsanforderungen für Einhüllen-Öltankschiffe (ABl. EG 2003, Nr. L 249 / 1), die Richtlinie 2005 / 35 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 7.9.2005 über die Meeresverschmut­ zung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstö­ ße (ABl. EG 2005, Nr. L 255 / 11) und die Richtlinie 2005 / 33 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.7.2005 zur Ände­ rung der Richtlinie 1999 / 32 / EG hinsichtlich des Schwefelgehalts von Schiffskraftstoffen (ABl. EG 2005, Nr. L 191 / 59). 35  Internationales Übereinkommen zur Verhütung der Meeres­ verschmutzung durch Schiffe v. 2.11.1973 (BGBl. 1982, II S. 4); Protokoll v. 17.2.1978 (BGBl. 1984 II, S. 230). 36  Siehe etwa Ringbom, The EU Maritime Safety Policy and International Law, 2008, S. 48 f. 37  Siehe Fn. 34.



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für das Einleiten von Schadstoffen sowie der in ihr enthal­ tene Ausschluss der Anwendung bestimmter Ausnahme­ regelungen für die Haftung nicht mit den Regelungen der MARPOL Anhänge I und II38 sowie mit dem UN-See­ rechtsübereinkommen (SRÜ)39 vereinbar seien40. Der High Court of Justice setzte das Verfahren aus und legte die be­ treffenden Fragen dem EuGH gemäß Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vor. In seinem Urteil vom 3. Juni 2008 lehnte es der Gerichts­ hof ab, die Bestimmungen der Richtlinie an den völkerrecht­ lichen Vorgaben, deren Verletzung gerügt worden war, zu messen. Ob die von den Klägern des Ausgangsverfahrens erhobenen Einwände allgemein zutreffend waren, entschied er nicht. Mit Blick auf MARPOL stützte sich der EuGH auf das formale Argument, dass die EU nicht Vertragspartei des Übereinkommens sei41 und – anders als im Falle des GATT 194742 – auch nicht die Befugnisse der Mitgliedstaa­ ten übernommen habe43. Hinzu trete, dass die relevanten Vorgaben der MARPOL-Anhänge kein bindendes Völker­ gewohnheitsrecht verkörperten44. Was das UN-Seerechts­ übereinkommen anbelangt, argumentierte der EuGH, dass dieses zwar gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV (= Art. 300 Abs. 7 EG) die Unionsorgane binde; es enthalte aber keine Vor­ 38  Die MARPOL-Anlagen I und II sind gemäß Art. 14 MAR­ POL für alle Vertragsparteien automatisch verbindlich. Sie behan­ deln die Verschmutzung des Meeres durch Öl und als Massengut beförderte schädliche flüssige Stoffe. 39  Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen v. 10.12.1982 (BGBl. 1994 II, S. 1799). 40  EuGH, Rs. C-308  /  06, Intertanko u.  a., Slg. 2008, I-4057 Rn.  37 ff. 41  Ebd., Rn. 47. Vgl. bereits EuGH, Rs. C-379  /  92, Peralta, Slg. 1994, I-3453 Rn. 16. 42  EuGH, Verb. Rs. 21–24  /  72, International Fruit Company u. a., Slg. 1972, 1219 Rn. 10 ff. 43  EuGH, Rs. C-308  /  06, Intertanko u.  a., Slg. 2008, I-4057 Rn.  48 f. 44  Ebd., Rn. 51.

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schriften, die dazu bestimmt seien, „direkt und unmittelbar auf Einzelne Anwendung zu finden und diesen Rechte oder Freiheiten zu verleihen, die den Staaten gegenüber unabhän­ gig von der Haltung des Flaggenstaats des Schiffes geltend gemacht werden können.“45 Der Gerichtshof könne jedoch die Gültigkeit einer Regelung nur dann an einem völker­ rechtlichen Vertrag messen, wenn dessen Art und Struktur dem nicht entgegenstünden und seine Bestimmungen inhalt­ lich unbedingt und hinreichend genau erschienen46. 2. Kritische Würdigung der Entscheidung Der „formalistische“ Ansatz des EuGH ist im wissen­ schaftlichen Schrifttum auf Kritik gestoßen47. Bereits im Jahre 2004 hatte der Jubilar in seinem bereits erwähnten Bei­ trag „Europäisches Seerecht“ mit Blick auf MARPOL die gegenteilige These vertreten, wonach die Union innerge­ meinschaftlich, d.  h. gegenüber ihren Mitgliedstaaten, zur Achtung der von diesen geschlossenen Verträgen verpflich­ tet sei48. Aus Art. 351 Abs. 1 AEUV analog (früher: Art. 307 Abs. 1 EG)49 ergebe sich eine Sperrwirkung für die EUZuständigkeit, die Abweichungen vom Völkerrecht unmög­ lich mache50. Sollte die EU dennoch einen europäischen 45  Ebd.,

Rn. 64. Rn. 45. 47  Siehe etwa Mendez, The Legal Effect of Community Agree­ ments: Maximalist Treaty Enforcement and Judicial Avoidance Techniques, EJIL 21 (2010), S. 83 (99 ff.); zustimmend hingegen Denza, A Note on Intertanko, ELR 33 (2008), S. 870 (875 ff.). 48  Graf Vitzthum (Fn. 16), S. 1202 ff. 49  Art. 351 Abs. 1 AEUV lautet: „Die Rechte und Pflichten aus Übereinkünften, die vor dem 1. Januar 1958 oder, im Falle später beigetretener Staaten, vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits geschlossen wurden, werden durch die Verträge nicht berührt.“ 50  Vgl. auch Proelß (Fn. 14), S. 329 ff.; Krück, Völkerrechtliche Verträge im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1977, 46  Ebd.,



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Sonderweg einschlagen, seien die betreffenden Rechtsakte jedenfalls dann, wenn sämtliche Mitgliedstaaten dem betref­ fenden völkerrechtlichen Vertrag beigetreten seien, kompe­ tenzwidrig und damit ungültig. Der EuGH ist dieser – auch für die Frage der Völkerrechtmäßigkeit des „Erika III“-Pa­ kets wichtigen – These, die in Deutschland breit rezipiert wurde51, und welche die Argumentation der Kläger im Ausgangsverfahren der Intertanko-Entscheidung stützt, nicht gefolgt. Darauf ist im Kontext der Überlegungen zu Existenz und Reichweite eines Gebots der völkerrechts­ freundlichen Auslegung des Unionsrechts zurückzukommen [siehe u. b)]. a) Zur unmittelbaren Anwendbarkeit und Vollzugsfähigkeit von „Altverträgen“ Dessen ungeachtet überzeugt der Hinweis des EuGH auf den fehlenden individualrechtlichen Charakter der Normen des UN-Seerechtsübereinkommens jedenfalls im Grundsatz nicht. Voraussetzung für die Überprüfung eines Sekundär­ rechtsakts am Maßstab eines „vergemeinschafteten“ völker­ rechtlichen Vertrags i. S. v. Art. 216 Abs. 2 AEUV – die EU ist dem Seerechtsübereinkommen im Jahre 1998 beigetre­ ten52 und verfügt hinsichtlich einzelner der darin kodifizier­ S. 139 f.; i. E. auch Nollkaemper / Hey, Implementation of the LOS Convention at Regional Level: European Community Competence in Regulating Safety and Environment Aspects of Shipping, IJMCL 10 (1995), S. 281 (298). 51  Siehe etwa Schult, Das völkerrechtliche Schiffssicherheitsre­ gime, 2005, S. 332 ff.; König, The EU Directive on Ship-Source Pollution and on the Introduction of Penalties for Infringements: Development or Breach of International Law? in: Ndiaye / Wolf­ rum (Hg.), Law of the Sea, Environmental Law and Settlement of Disputes, Liber Amicorum Thomas Mensah, 2007, S. 767 (784). 52  Vgl. Beschluss 98  / 392 / EG des Rates v. 23.3.1998 über den Abschluss des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 und des Übereinkommens vom 28.7.1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens durch die Europäische Gemeinschaft (ABl. EG 1998, Nr. L 179 / 1).

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ten Sachbereiche über ausschließliche bzw. geteilte Kompe­ tenzen53 – im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens ist grundsätzlich nicht die unmittelbare Anwendbarkeit (direct applicability) der Normen des völkerrechtlichen Ver­ trags, d. h. die Möglichkeit einer unmittelbaren Berufung Einzelner auf die betreffenden Normen im Sinne der van Gend-Entscheidung54. Erforderlich ist vielmehr lediglich, dass die relevanten Normen self executing, d. h. unmittelbar wirksam sind (direct effect)55. In zahlreichen Entscheidun­ gen hat der EuGH denn auch nicht auf das vermeintliche Erfordernis der Individualwirksamkeit, das er im Intertan53  Vgl. Erklärung zur Zuständigkeit der Europäischen Gemein­ schaft für die durch das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 und das Übereinkommen vom 28.7.1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens ge­ regelten Angelegenheiten (ABl. EG 1998, Nr. L 179 / 129). 54  Vgl. EuGH, Rs. 26 / 62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 3 (24 f.). Umfassend zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwend­ barkeit nunmehr Sagmeister, Ist die Gewährung eines subjektiven Rechts Voraussetzung für die unmittelbare Anwendbarkeit von EU-Recht?, ZEuS 2011, S. 1 (3 ff.) m. w. N. 55  Siehe bereits Proelß (Fn. 14), S. 427 ff.; ders., European Com­ munity Law and WTO Regulations: The Direct Effect-Doctrine Revisited, in: Welfens / Ryan / Chirathivat / Knipping (Hg.), EU – ASEAN. Facing Economic Globalisation, 2009, S. 193 (195  ff.); Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von Europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 8 ff.; van Rossem, In­ teraction between EU Law and International Law in the Light of Intertanko and Kadi: The Dilemma of Norms Binding on Member States but not the Community, NYIL 40 (2009), S. 183 (195); Mendez (Fn. 47), S. 102. – Genau diese Vollzugsfähigkeit ist gemeint, wenn der EuGH in der Intertanko-Entscheidung davon spricht, „Art und Struktur“ des Seerechtsübereinkommens dürften einer Überprüfung von Sekundärrecht an seinem Maßstab nicht entge­ genstehen (EuGH, Rs. C-308 / 06, Intertanko u. a., Slg. 2008, I-4057 Rn. 45). Vgl. aber EuGH, Rs. C-366 / 10, Handel mit Treibhausgas­ emissionszertifikaten, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 71 ff. (für Rechtsstreitigkeiten, die von Einzelnen angestrengt werden); demgegenüber stellte der EuGH in seinem Urteil v. 21.12.2011 nicht auf die Betroffenheit der Rechte Einzelner ab; vgl. Rn. 53 des Urteils.



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ko-Urteil heranzog56, abgestellt, sondern unter dem Begriff der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ – terminologisch miss­ verständlich – die Vollzugsfähigkeit der Normen des jewei­ ligen völkerrechtlichen Vertrags analysiert57. In den Worten von Generalanwältin Kokott: „Ob die fraglichen Bestimmungen unmittelbar anwendbar sind und – damit zusammenhängend – ob sie Rechte Einzelner be­ gründen, ist für die Beantwortung des Vorabentscheidungsersu­ chens nicht ausschlaggebend. Auch die Rechtsgrundlagen der Verträge sind grundsätzlich nicht in dem Sinne unmittelbar an­ wendbar, dass Einzelne aus ihnen Rechte oder Rechtsfolgen zu ihren Gunsten ableiten können. Gleichwohl können Einzelne die Rechtmäßigkeit von Regelungen des abgeleiteten Rechts dadurch in Frage stellen, dass sie ihre Rechtsgrundlage bestreiten.“58

Es liegt nicht im freien Ermessen des Gerichtshofs, zu­ sätzliche, vom AEU-Vertrag nicht vorgesehene Kriterien für die Möglichkeit der Überprüfung eines Sekundärrechtsakts am Maßstab eines von der Union geschlossenen Vertrags zu etablieren59. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik, das ­Urteil im Intertanko-Fall beruhe auf „judicial avoidance techniques“60, dem Grunde nach nachvollziehbar; denn in der Tat ist davon auszugehen, dass zahlreiche Normen des Seerechtsübereinkommens – jedenfalls soweit sie indirekt mit dem Begriff der „generally accepted international rules and standards“ auf MARPOL Bezug nehmen (vgl. etwa Art. 21 Abs. 2, Art. 211 Abs. 2 und 5 SRÜ) – self executing sind61. 56  EuGH,

Rs. C-308 / 06, Intertanko u. a., Slg. 2008, I-4057 Rn. 64. etwa EuGH, Rs. C-104 / 81, Kupferberg, Slg. 1982, 3641 Rn. 22 f.; Rs. 12 / 86, Demirel, Slg. 1987, 3719 Rn. 14; Rs. C-344 / 04, IATA, Slg. 2006, I-403 Rn. 39; Rs. C-366 / 10, Handel mit Treib­ hausgasemissionszertifikaten, Rn. 54 f. 58  EuGH, Rs. C-308  /  06, Intertanko u.  a., Slg. 2008, I-4057, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 66. 59  Siehe aber ebd., Rn. 67. 60  Mendez (Fn. 47), S. 99 ff. 61  EuGH, C-Rs. 308  /  06, Intertanko u.  a., Slg. 2008, I-4057, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 46 ff. 57  Vgl.

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Bei genauerer Betrachtung ist freilich zu berücksichtigen, dass der Intertanko-Entscheidung eine spezielle Situation zugrunde lag62. Denn das Ausgangsverfahren vor dem High Court of Justice war seitens der Kläger mit dem alleinigen Ziel initiiert worden, im Rahmen eines Vorabentscheidungs­ verfahrens unmittelbar eine Überprüfung der Richtlinie 2005 / 35 / EG am Maßstab des Völkerrechts herbeizuführen. Die Richtlinie war in Großbritannien zum Zeitpunkt der Klage noch nicht in nationales Recht umgesetzt worden. In­ sofern bestand die Gefahr, dass auf diesem Weg die im Üb­ rigen vergleichsweise hohen Hürden für Individualklagen vor dem EuGH unterlaufen werden. Bekanntlich können natürliche und juristische Personen nur „gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffen­ den Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungs­ charakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchfüh­ rungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben“ (Art. 263 Abs. 4 AEUV). Von einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit ist dabei nach der sog. „Plaumann-Formel“ auszugehen, wenn der angefochtene Akt den Kläger „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Um­ stände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individua­ lisiert wie den Adressaten“63. Im konkreten Fall gewähr­ leistete das Bestehen des EuGH auf der Individualwirksam­ keit der Normen des Seerechtsübereinkommens somit indi­ rekt die Wahrung der Anforderungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV64. 62  Vgl. auch Boelaert-Suominen, The European Community, the European Court of Justice and the Law of the Sea, IJMCL 23 (2008), S. 643 (702, 708). 63  EuGH, Rs. 25 / 62, Plaumann, Slg. 1963, 213, Ls. 4. – Ob die Neuformulierung des Klagegegenstands in Art. 263 Abs. 4 Alt. 2 AEUV Rückwirkungen auf die Auslegung der individuellen Be­ troffenheit zeitigt und einen Abschied von der „Plaumann-Formel“ nahelegt, wird nicht einheitlich beurteilt; dazu Kottmann, Plau­ manns Ende: Ein Vorschlag zu Art. 263 Abs. 4 AEUV, ZaöRV 70 (2010), S. 547 (556 ff.).



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Der Gleichlauf der Voraussetzungen des europäischen In­ dividualrechtsschutzes widerspricht freilich den Anforde­ rungen des Rechtsstaatsprinzips unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes (vgl. Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union)65. Der EuGH selbst hat frühzeitig das Bedürfnis erkannt, einen Ausgleich zwischen dem Recht auf effektiven Rechtsschutz einerseits und dem von ihm für gegeben erachteten Gebot, die Zulässigkeitsanforderungen an Individualklagen restriktiv zu interpretieren, herbeizu­ führen. Dies ergebe sich aus der Natur der Union als Rechtsgemeinschaft, in der sich weder die Mitgliedstaaten noch die Unionsorgane der Kontrolle entziehen dürften, ob ihre Handlungen im Einklang mit den Gründungsverträgen stünden66. Zwecks Gewährleistung eines „umfassenden Rechtsschutzsystems“ könnten die Betroffenen in Situatio­ nen, in denen ihnen die Direktklage verwehrt sei, daher die „Ungültigkeit von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung vor den nationalen Gerichten geltend machen und diese veran­ lassen, sich mit Vorabentscheidungsfragen an den Gerichts­ hof zu wenden“67. Dieser Ausgleich scheitert indes, wenn – wie im Falle der Intertanko-Entscheidung – die Anforde­ rungen der Individualklage gleichsam durch die Hintertür im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren zur Anwen­ dung gebracht werden. Es fehlt dann gerade an der laut ­EuGH angezeigten individualrechtsschutzfreundlichen Aus­ gestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens. Dies erscheint zumal vor dem Hintergrund des mit dem Vertrag von Lis­ sabon neu in den EU-Vertrag eingefügten Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 problematisch, wonach „[d]ie Mitgliedstaaten […] die erforderlichen Rechtsbehelfe [schaffen], damit ein wirk­ 64

64  Vgl. auch Denza (Fn. 47), S. 875 sowie EuGH, Rs. C-366 / 10, Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 66. 65  Konsolidierte Fassung: ABl. EU 2010, Nr. C 83 / 13. 66  EuGH, Rs. 294 / 83, Les Verts, Slg. 1986, 1339 Rn. 23. 67  Ebd.; vgl. auch Schröder, Die Vorlagepflicht zum EuGH aus europarechtlicher und nationaler Perspektive, EuR 2011, S. 808 (810).

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samer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Be­ reichen gewährleistet ist.“ Es bleibt daher bei dem Vorwurf, dass sich der EuGH in Intertanko letztlich ungerechtfertigt einer Entscheidung in der Sache entzogen hat68. b) Zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Unionsrechts Ähnlich liegen Dinge im Hinblick auf MARPOL. Diesbe­ züglich beruht das Urteil auf einem überzogenen und einsei­ tigen Verständnis der Autonomie der Unionsrechtsordnung. Es trifft zwar zu, dass die EU nicht Vertragspartei des Übereinkommens ist; sie ist auch nicht in die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten eingetreten (Substitution). Der Gerichtshof hat jedoch die Wertung der Kollisionsklausel des Art. 351 Abs. 1 AEUV ignoriert69. Nach ihrem Sinn und Zweck soll das Unionsrecht Rechte und Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen gemäß der Maxime „pacta sunt servanda“ grundsätzlich nicht berühren70. Diese Norm, die ihrem Wortlaut zufolge nur auf sog. Altverträge, d. h. auf Verträge, die vor dem 1. Januar 1958 abgeschlossen wurden, anwendbar ist, gilt analog für nach dem 1. Januar 1958 ge­ schlossene Verträge, wenn und soweit diese mit jüngerem, d. h. nach ihrem Abschluss zustande gekommenen, Primäroder Sekundärrecht kollidieren71. Gemäß Abs. 2 der Norm 68  Eine andere Frage ist, zu welchem Ergebnis in der Sache der EuGH hätte gelangen müssen. Sie kann hier nicht beantwortet werden. Siehe etwa Ringbom (Fn. 36), S. 401 ff. 69  Zu weitgehend auch EuGH, Rs. C-308  / 06, Intertanko u. a., Slg. 2008, I-4057, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 77; vgl. demgegenüber die grundsätzliche Kritik bei Klabbers, Treaty Conflict and the European Union, 2009, S. 219 ff. 70  Allgemein Schmalenbach, in: Calliess  /  Ruffert (Hg.), EUV  /  AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 351 Rn. 1. 71  Nahezu allg. Ansicht; vgl. Lorenzmeier, in: Grabitz / Hilf / Net­ tesheim (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. III, Stand: Lfg. 46. (2011), Art. 351 Rn. 24; Schmalenbach (Fn. 70), Rn. 8; Schult (Fn. 51), S. 335 f.; Nollkaemper / Hey (Fn. 50), S. 298; Graf Vitzthum (Fn. 16), S. 1205; Proelß (Fn. 14), S. 334. Siehe auch



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müssen zwar wiederum die Mitgliedstaaten alle geeigneten Mittel anwenden, um Unvereinbarkeiten zwischen den von ihnen abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen und dem Unionsrecht zu beheben. Dies kann eine im Verhandlungs­ wege erreichbare Anpassung der Verträge72, letztlich aber auch deren Suspendierung oder Kündigung73 erforderlich machen. Eine solche Pflicht besteht aber eben nur insoweit, als die Übereinkünfte mit dem Unionsrecht nicht vereinbar sind74. Ob dies der Fall ist oder nicht, muss im jeweiligen Einzelfall geprüft werden. Dieser Prüfung hat sich der EuGH verweigert, obwohl er selbst in seiner früheren ­ Rechtsprechung festgestellt hatte, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV seinen Zweck verfehlen würde, wenn mit ihm „nicht still­ schweigend eine Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane be­ gründet würde, die Erfüllung der Pflichten, die sich für die Mitgliedstaaten aus früheren Übereinkünften ergeben, nicht zu behindern.“75 EuGH, Rs.  C-188 / 07, Commune de Mesquer, Slg. 2008, I-4501, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 95: „[Eine analoge Anwendung von Art. 307 Abs. 1 EG] ist vorstellbar, wenn eine in­ ternationale Verpflichtung eines Mitgliedstaats mit einer nachfol­ gend verabschiedeten Maßnahme des Sekundärrechts in Konflikt gerät.“ Anders hingegen van Rossem (Fn. 55), S. 199. – Schließen die Mitgliedstaaten demgegenüber einen Vertrag, der gegen bereits bestehendes Sekundärrecht verstößt, liegt hierin ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unionstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV; zutref­ fend Lorenzmeier, a. a. O. 72  Vgl. nur EuGH, Gutachten 1 / 76, Slg. 1977, 741 Rn. 7. 73  Etwa EuGH, Rs. C-13 / 93, Minne, Slg. 1994, I-371 Rn. 15. 74  Zu Verstößen gegen Art.  351 Abs. 2 AEUV etwa EuGH, Rs. C-205 / 06, Kommission / Österreich, Slg. 2009, I-1301 Rn. 38 ff. und Rs. C-249  /  06, Kommission  /  Schweden, Slg. 2009, I-1335 Rn.  39 ff. 75  EuGH, Rs. 812 / 79, Burgoa, Slg. 1980, 2789 Rn. 9; vgl. auch EuGH, Rs. C-84  /  98, Kommission  /  Portugal, Slg. 2000, I-5215 Rn. 53; Rs. C-466-98, Kommission / Vereinigtes Königreich, Slg. 2002, I-9427 Rn. 23 f.; Rs. C-216  /  01, Budéjovický Budvar, Slg. 2003, I-13617 Rn. 145. In der Rs. C-158 / 91 prüfte der EuGH, ob eine Gemeinschaftsbestimmung gegenüber einer früheren internationa­ len Übereinkunft „zurückzutreten hat“ (Slg. 1993, I-4300 Rn. 13).

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Man muss aus diesem Behinderungsverbot keine Kompe­ tenzbeschränkung zu Lasten der Union ableiten, wie dies der Jubilar und der Verfasser vorliegender Überlegungen seinerzeit getan haben76. In der Tat dürfte es zu weit gehen, aus einem Verstoß gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV auf die Kompetenzwidrigkeit und damit Nichtigkeit des betreffen­ den Rechtsakts zu schließen77, bezüglich dessen dann ledig­ lich noch der Rechtsschein beseitigt werden müsste78. Zwar besteht in Situationen, in denen die Mitgliedstaaten auf völ­ kerrechtlicher Ebene an Maximalstandards gebunden sind79, die Gefahr, dass sie infolge autonomer Rechtsetzungsaktivi­ täten der Union in eine „unlösbare Pflichtenschere“80 ge­ langen. Dies allein rechtfertigt es jedoch nicht, von der Nichtigkeit (und nicht bloß von der Rechtswidrigkeit wegen Verstoßes gegen die aus Art. 351 Abs. 1 AEUV folgende Verpflichtung, die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung der sich aus „Altverträgen“ ergebenden Pflichten nicht zu behin­ dern) solcher Unionsmaßnahmen auszugehen. Auch die Rechtsnatur des Art. 351 AEUV, der die Möglichkeit von Kollisionen denklogisch voraussetzt, spricht letztlich gegen eine kompetenzbeschränkende Wirkung81. Ohnehin kann von einer Kollision i. e. S. immer nur dann gesprochen wer­ den, wenn und soweit der „Altvertrag“ nicht lediglich Mini­ malstandards etabliert, die unilateral oder auf supranationa­ ler Ebene überschritten werden dürfen. Dies lässt sich im 76  Graf Vitzthum (Fn. 16), S. 1204 ff.; Proelß (Fn. 14), S. 330 ff.; siehe auch Stadler, in: Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 80 EGV Rn. 6; Krück (Fn. 50), S. 139 f. 77  So noch Proelß (Fn. 14), S. 332. 78  Dazu Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy  /  Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 389 (404 f.). 79  Maximalstandards sind Standards, die von den Vertragspar­ teien nicht überschritten werden dürfen. 80  Meißner, Das Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Verhältnis zur Rheinschifffahrtsakte von Mannheim, 1973, S. 111. 81  Lorenzmeier (Fn. 71), Rn. 18. Meine frühere abweichende Ansicht (vgl. Proelß [Fn. 14], S. 332) gebe ich auf.



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konkreten Fall von MARPOL jedenfalls nicht allgemein bejahen82. Unabhängig davon sprechen der Sinn und Zweck des Art. 351 Abs. 1 AEUV sowie der darin und in Art. 3 Abs. 5 EUV83 zum Ausdruck kommende Gedanke der Völker­ rechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung84 in Verbin­ dung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und gegenseitigen Rücksichtnahme (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV) da­ für, dass das Unionsrecht im Einklang mit den völkerrecht­ lichen Rechten und Pflichten der Mitgliedstaaten aus „Alt­ verträgen“ ausgelegt werden muss. Dies gilt vor dem Hin­ tergrund des Grundsatzes der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie des Wortlauts von Art.  351 Abs.  1 ­AEUV auch dann, wenn nur einzelne Mitgliedstaaten ver­ traglich gebunden sind85. In Anknüpfung an eine Rechtspre­ chung des Bundesverfassungsgerichts zur völkerrechts­ freundlichen Auslegung des nationalen Rechts86 implemen­ tiert dieses Gebot die in der Kollisionsnorm des Art. 351 Abs. 1 AEUV zum Ausdruck kommende Maxime „pacta sunt servanda“ vor allem in Situationen, in denen die Rege­ lungen eines „Altvertrags“ zunächst nicht mit dem Unions­ 82  Siehe Schult (Fn. 51), S. 336  ff.; zu undifferenziert Vatankhah, The Contribution of the EC to Maritime Safety in View of the „Third Maritime Safety Package“ of the European Commis­ sion, in: Ehlers / Lagoni (Hg.), Maritime Policy of the European Union and Law of the Sea, 2008, S. 41 (57); König (Fn. 51), S. 784 ff. Vgl. auch EuGH, Rs. C-308 / 06, Intertanko u. a., Slg. 2008, I-4057, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 80 ff. 83  Nach Art. 3 Abs. 5 EUV leistet die Union u. a. „einen Bei­ trag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, So­ lidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völker­ rechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“ 84  Vgl. Krück, in: Schwarze (Fn. 76), Art. 307 Rn. 2. 85  Proelß (Fn. 14), S. 333; tendenziell a. A. Schult (Fn. 51), S. 334. 86  Vgl. nur BVerfGE 58, 1 (34); 59, 63 (89); 64, 1 (20).

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recht vereinbar scheinen. Rechtsmethodisch handelt es sich um eine Konfliktvermeidungsregel, die nur dann zur An­ wendung gelangt, wenn eine Norm des sekundären Unions­ rechts mehrere Deutungen zulässt87. Die Pflicht zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Unionsrechts kommt dann zum Tragen, wenn die Mitglied­ staaten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses jedenfalls über eine geteilte Außenzuständigkeit hinsichtlich der im „Alt­ vertrag“ geregelten Materie verfügen88. Voraussetzung ist ferner, dass die Mitgliedstaaten keine völkervertraglichen Bindungen mit dem Ziel einer Umgehung des Unionsrechts eingehen. Letzteres ergibt sich wiederum aus dem Grund­ satz der loyalen Zusammenarbeit sowie aus der Wertung des Art. 351 Abs. 2 AEUV. Diese Normen führen denn auch dazu, dass der aus Art. 351 Abs. 1 AEUV in Fällen, in denen eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des Unionsrechts am eindeutigen Wortlaut der einschlägigen Normen schei­ tert, resultierende Anwendungsvorrang von „Altverträgen“ gegenüber dem zu ihnen in Widerspruch stehenden Unions­ recht nur für eine – schwierig zu konkretisierende – Über­ gangsphase bestehen kann. Indem dergleichen Situationen nach Möglichkeit vermieden werden, schafft das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Unionsrechts, das vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 5 EUV auch im Hin­ blick auf das Völkergewohnheitsrecht Anwendung finden 87  Siehe Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 9. Aufl. 2004, Rn. 100; Tomuschat, Die staatsrechtliche Entschei­ dung für die internationale Offenheit, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, Rn. 27. 88  Vgl. Proelß (Fn. 14), S. 335 f. – Schließt ein Mitgliedstaat ei­ nen völkerrechtlichen Vertrag, hinsichtlich dessen die Union über eine (ggf. nachträgliche, vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 AEUV) aus­ schließliche Zuständigkeit verfügt, ändert die Kompetenzwidrigkeit des mitgliedstaatlichen Handelns zwar nichts am völkerrechtlichen Bestand des Vertrags. Unionsintern ist Art. 351 Abs. 1 AEUV auf dergleichen Situationen aber nicht anwendbar. Vgl. Lorenzmeier (Fn. 71), Rn. 19.



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muss89, einen Ausgleich zwischen dem Beeinträchtigungs­ verbot des Art. 351 Abs. 1 AEUV und der Anpassungs­ pflicht des Art. 351 Abs. 2 AEUV, und trägt so zur Rechts­ sicherheit bei. Überdies gewährleistet es, dass die Mitglied­ staaten nicht für Völkerrechtsverletzungen zur Verantwor­ tung gezogen werden, die aufgrund unionsrechtskonformen Handelns aufgetreten sind90. Interessanterweise äußerte sich der EuGH in der Intertanko-Entscheidung in ähnlicher Weise, indem er feststellte, dass sich die Bindung der Mit­ gliedstaaten an MARPOL auf die Auslegung des UN-See­ rechtsübereinkommens und der in den Anwendungsbereich von MARPOL fallenden Bestimmungen des europäischen Sekundärrechts auswirken könne: „Denn in Anbetracht des gewohnheitsrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben, der Bestandteil des allgemeinen Völker­ rechts ist, und des Art. 10 EG [Art. 4 Abs. 3 EUV] muss der Gerichtshof das Marpol-Übereinkommen 73 / 78 bei der Ausle­ gung dieser Bestimmungen berücksichtigen.“91

89  Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung von einer Pflicht der Unionsorgane aus, bei der Ausübung ihrer Befugnisse das Völ­ kergewohnheitsrecht zu beachten; vgl. EuGH, Rs. C-286 / 90, Poul­ sen und Diva Navigation, Slg. 1992, I-6019 Rn. 9; Rs. C-158 / 91, Levy, Slg. 1993, I-4300 Rn. 13; Rs. C-405 / 92, Mondiet, Slg. 1993, I-6133 Rn. 13; Rs. C-364 und 365 / 95, T. Port, Slg. 1998, I-1023, Rn. 60 f.; Rs. C-162 / 96, Racke, Slg. 1998, I-3655 Rn. 45; Rs. C-366 / 10, Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten, Rn. 123. 90  Vgl. BVerfGE 74, 358 (370). 91  EuGH, Rs. C-308  /  06, Intertanko u.  a., Slg. 2008, I-4057 Rn. 52. In seinem Urteil zum Handel mit Treibhausgasemissions­ zertifikaten hat der EuGH eine zum Chicagoer Abkommen freundliche Auslegung hingegen nicht erwogen (vgl. Rs. C-366 / 10, Rn. 72). Vgl. aber die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 66: „Der Umstand, dass alle Mitgliedstaaten der Union Ver­ tragsparteien des Chicagoer Abkommens sind, kann sich allerdings bei der Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts auswirken; dies folgt aus dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben, der auch im Völkerrecht gilt und darüber hinaus im Unionsrecht in Art. 4 Abs. 3 EUV eine besondere Ausprägung erfahren hat“ (Fußnoten weggelassen).

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Die gebotene völkerrechtsfreundliche Auslegung des ­ nionsrechts nahm er vor dem Hintergrund des auf die Fra­ U ge der Gültigkeit der streitgegenständlichen Richtlinie be­ schränkten Vorlagegegenstands jedoch nicht mehr vor. Diese Zurückhaltung spiegelt den allzu formalistischen Grund­ tenor des gesamten Urteils wider und führt in der Sache zu einem wenig befriedigenden Ergebnis. Dem vorlegenden Gericht ging es in Intertanko allein um die Frage der Ver­ einbarkeit der Richtlinie 2005 / 35 / EG mit dem MARPOLÜbereinkommen. Wenn der EuGH diesbezüglich explizit davon ausgeht, dass bei der Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2005 / 35 / EG die MARPOL-Anforderungen zu berücksichtigen sind, gerade weil sämtliche Mitgliedstaa­ ten (wenn auch nicht die Union selbst) an das Übereinkom­ men gebunden sind, hätte er im Hinblick auf die konkrete Vorlagefrage klären müssen, ob eine solche völkerrechts­ freundliche Auslegung der Richtlinie überhaupt möglich ist, und verneinendenfalls, welche Konsequenzen sich hieraus ergeben. Es sprechen gute Gründe dafür, die hier von Primärrechts wegen für geboten erachtete völkerrechtsfreundliche Ausle­ gung des Unionsrechts auf andere Problemkreise im Bereich der Außenbeziehungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten zur Anwendung zu bringen. Auf diese Weise ließen sich et­ wa die im Kontext sich überlagernder (schieds-)gerichtlicher Zuständigkeiten auftretenden Schwierigkeiten lösen. Maß­ gebliches Beispiel ist der MOX Plant-Fall, in dessen Rah­ men Irland sowohl vor einem Schiedsgericht gemäß Anlage VII SRÜ als auch vor einem Schiedsgericht auf der Grund­ lage von Art. 32 des Übereinkommens zum Schutz der Mee­ resumwelt des Nordostatlantiks (OSPAR-Überein­kommen)92 Verstöße Großbritanniens gegen die betreffenden Abkom­ men geltend gemacht hatte93. Darüber hinaus stellte Irland 92  Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt des Nord­ ostatlantiks v. 22.9.1992 (BGBl. 1994 II, S. 1360). 93  Vgl. Dispute Concerning Access to Information under Artic­ le 9 of the OSPAR Convention (Ireland v. United Kingdom), Final



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einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ge­ mäß Art. 290 Abs. 5 SRÜ vor dem Internationalen Seege­ richtshof (ISGH)94. Die Kommission initiierte gegen Irland schließlich ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH, da die gemäß Art. 292 EG (= Art. 344 AEUV) bestehende Pflicht der Mitgliedstaaten, „Streitigkeiten über die Ausle­ gung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln“, auch die von der EU und den Mit­ gliedstaaten als gemischte Abkommen geschlossenen Verträ­ ge als integrale Bestandteile der Unionsrechtsordnung erfas­ se95. In seinem Urteil folgte der Gerichtshof im Wesent­ lichen der Argumentation der Kommission und führte wie folgt aus: „[B]ei den Bestimmungen des Seerechtsübereinkommens, die Ir­ land im Rahmen der dem Schiedsgericht unterbreiteten Streitig­ keit über die MOX-Anlage angeführt hat, [handelt es sich] um Vorschriften […], die Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind. Daher ist der Gerichtshof dafür zuständig, Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung der genannten Bestimmungen zu entscheiden und zu beurteilen, ob ein Mitgliedstaat diese beach­ tet hat […]. Jedoch ist zu prüfen, ob diese Zuständigkeit des Gerichtshofes ausschließlich ist, so dass es ihr zuwiderlaufen würde, wenn eine Streitigkeit wie die über die MOX Anlage von einem Mitgliedstaat einem nach Anlage VII des Seerechtsüber­ einkommens gebildeten Schiedsgericht unterbreitet wird. […] Der Gerichtshof hat bereits daran erinnert, dass internationale Übereinkünfte nicht die in den Verträgen festgelegte Zuständig­ Award v. 2.7.2003, ILM 42 (2003), S. 1118 ff. Demgegenüber hatte das Schiedsgericht gemäß Anlage VII SRÜ das Verfahren ausge­ setzt, nachdem die Kommission ihre Überlegungen öffentlich ge­ macht hatte, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Irland vor dem EuGH einzuleiten; vgl. The MOX Plant Case (Ireland v. Unit­ ed Kingdom), Beschluss v. 24.6.2003, ILM 42 (2003), S. 1187 ff. Im Anschluss an das Urteil des EuGH v. 30.5.2006 nahm Irland unter dem 15.2.2007 dann seine Klage vor dem SRÜ-Schiedsgericht zu­ rück. 94  Vgl. The MOX Plant Case (Ireland v. United Kingdom), Be­ schluss v. 3.12.2001, ITLOS Reports 2001, 95 ff. 95  Vgl. EuGH, Rs. C-459  /  03, Kommission  /  Irland, Slg. 2006, I-4635 Rn. 61 ff.

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keitsordnung und damit nicht die Autonomie des Rechtssystems der Gemeinschaft beeinträchtigen können, deren Wahrung nach Artikel 220 EG der Gerichtshof sichert. Diese ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofes wird durch Artikel 292 EG be­ stätigt, wonach sich die Mitgliedstaaten verpflichten, Streitigkei­ ten über die Auslegung oder Anwendung des EG-Vertrags nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln […].“96

Die Annahme einer ausschließlichen Zuständigkeit für Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten der Mitglied­ staaten aus völkerrechtlichen Verträgen, an welchen auch die Union beteiligt ist, durch den EuGH beruht erneut auf ei­ ner Überzeichnung der Autonomie der Unionsrechtsord­ nung. Zwar trifft es ohne weiteres zu, dass sich Art. 216 Abs. 2 AEUV (und damit grundsätzlich auch die Zuständig­ keit des EuGH) jedenfalls auf diejenigen Bestimmungen ei­ nes gemischten Abkommens erstreckt, die in die Zuständig­ keitssphäre der Union fallen97. Dies zwingt allerdings nicht dazu, in der Anrufung des in dem betreffenden Abkommen vorgesehenen (Schieds-)Gerichts gleichsam automatisch ei­ nen Verstoß gegen Art. 344 AEUV zu erblicken, selbst wenn und soweit die Union auf dem betreffenden Gebiet bereits Regelungen erlassen hat. Das Postulat der ausschließlichen Zuständigkeit des EuGH verkennt, dass der Abschluss eines gemischten Abkommens gerade keine Auswirkungen auf die innerunionsrechtliche Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten zeitigt, dass es also infolge der Wahrnehmung einer geteilten Außenkompetenz durch die Unionsorgane nicht zu einer nachträglich ausschließlichen Unionskompetenz i. S. v. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 AEUV kommt. 96  Ebd.,

Rn. 121 ff. Ansicht zufolge gilt dies vor dem Hintergrund von Art. 4 Abs. 3 EUV und im Lichte des Gebots der einheitlichen An­ wendung des Unionsrechts auch für diejenigen Bestimmungen, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen; vgl. Proelß (Fn. 14), S. 423 ff.; ders., The Intra-Community Effects of Mixed Agreements, in: Welfens / Knipping / Chirathivat / Ryan (Hg.), Integration in Asia and Europe, 2006, S. 255 ff. m. N. zur Recht­ sprechung des EuGH. Grundlegend Pescatore, Les relations extéri­ eures des communautés européennes, RdC 103 (1961-II), S. 1 (133). 97  Richtiger



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Steht also die Auslegung von Normen eines gemischten Ab­ kommens in Rede, die einem Bereich zuzuordnen sind, der nicht in die ausschließliche Kompetenz der EU fällt, ist nichts dafür ersichtlich, warum Art. 344 AEUV generell zu einer ausschließlichen Zuständigkeit des EuGH führen soll­ te98. Die bloße Akzeptanz der Gerichtsbarkeit eines völker­ rechtlichen (Schieds-)Gerichts bezüglich eines gemischten Abkommens führt für sich betrachtet noch nicht zu einer Gefährdung der in den europäischen Verträgen festgelegten Zuständigkeitsordnung. Erst dann, wenn die Interpretation der einschlägigen Normen des gemischten Abkommens durch das (Schieds-)Gericht nicht mit dem übrigen Unions­ recht vereinbar ist, muss dies zur Unanwendbarkeit der be­ treffenden Entscheidung in der Unionsrechtsordnung füh­ ren. Dies entspricht auch dem Rechtsgedanken des Art. 351 Abs. 2 AEUV (der auf die vorliegend relevante Konstella­ tion angesichts des Status der EU als Vertragspartei nicht un­ mittelbar anwendbar ist). Der EuGH hat denn auch an der Unterwerfung der Union selbst unter ein völkerrechtliches System der friedlichen Streitbeilegung nichts auszusetzen gehabt, solange dieses die Grundlagen der Unionsrechtsord­ nung nicht beeinträchtigt99. Im Übrigen hat die vom EuGH in Ansatz gebrachte Au­ tonomie der Unionsrechtsordnung letztlich die Missachtung der auf den konkreten völkerrechtlichen Vertrag bezogenen fachlichen Expertise des mit ihm eingerichteten (Schieds-) Gerichts zur Folge. So ist das spezifisch für die Beilegung von Streitigkeiten unter einem völkerrechtlichen Vertrag ge­ schaffene Gericht i. d. R. am besten in der Lage, die Bedeu­ 98  Unkritisch hingegen Boelaert-Suominen (Fn. 62), S. 678 f. – Anerkennt man mit der hier vertretenen Ansicht die Anwendbar­ keit des Gebots der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des ­Unionsrechts auf (Schieds-)Gerichte, deren Zuständigkeit sich aus einem als gemischtes Abkommen geschlossenen Vertrag ergibt, ist eine Änderung von Art. 344 AEUV nicht erforderlich; vgl. aber Lavranos, The MOX Plant and Rijn Disputes: Which Court is the Supreme Arbiter?, LJIL 19 (2006), S. 223 (246). 99  EuGH, Gutachten 1 / 91, Slg. 1991, I-6079 Rn. 35.

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tung der Rechte und Pflichten des betreffenden Vertrags im Lichte des mit ihm verfolgten Ziels und unter Berücksichti­ gung seiner Entstehungsgeschichte angemessen zu entfal­ ten100. Die Berücksichtigung der Auslegung eines gemisch­ ten Abkommens durch ein völkerrechtliches Spezialorgan verkörpert geradezu eine ideale Umsetzung der Zielvorgabe des Art. 3 Abs. 5 EUV. Dies gilt erst recht für funktionale Einrichtungen (z. B. implementation committees), die die ordnungsgemäße Erfüllung der ihre Grundlage bildenden völkerrechtlichen Verträge gewährleisten und die Entste­ hung von Streitigkeiten damit verhindern helfen sollen. Da­ bei erscheint schon fraglich, ob Art. 344 AEUV hinsichtlich solcher nicht-gerichtlicher Einrichtungen überhaupt an­ wendbar ist. Andererseits steht die Anwendung des Gebots der völker­ rechtsfreundlichen Auslegung des Unionsrechts im institu­ tionellen Kontext nicht der alternativen Anrufung des EuGH durch die Mitgliedstaaten entgegen; an dessen prinzipiell umfassender Zuständigkeit für das Unionsrecht (einschließ­ lich der zu seinen integralen Bestandteilen gewordenen völ­ kerrechtlichen Verträge) vermag jenes Gebot nichts zu än­ dern. Letzteres äußert sich aber eben in dem Sinne, dass Art. 344 AEUV keine Sperrwirkung gegenüber der Ge­ richtsbarkeit völkerrechtlicher (Schieds-)Gerichte entnom­ men werden kann.

100  Vgl. auch The MOX Plant Case (Ireland v. United King­ dom), Beschluss v. 3.12.2001, ITLOS Reports 2001, 95 (Rn. 51). Für den Bereich des Umweltschutzes kritisch gegenüber der Zu­ ständigkeit der europäischen Gerichtsbarkeit Marsden, MOX Plant and the Espoo Convention: Can Member State Disputes Concer­ ning Mixed Environmental Agreements be Resolved Outside EC Law?, RECIEL 18 (2009), S. 312 (326): „[…] may not produce the best outcome […]“.



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IV. Völkerrechtmäßigkeit der „Erika III“-Maßnahmen Vor diesem Hintergrund ist nunmehr die Frage der Völ­ kerrechtmäßigkeit des „Erika III“-Pakets anhand ausge­ wählter Problemkonstellationen zu beantworten. 1. Versicherung von Schiffseigentümern für Seeforderungen Kontrovers diskutiert wurde zunächst die Vereinbarkeit der Richtlinie 2009  /  20  /  EG mit dem internationalen See­ recht. Der Entwurf dieser Richtlinie sah ursprünglich vor, dass fremde Schiffe über eine Versicherung verfügen und diese nachweisen müssen, sobald sie in die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) eines EU-Mitgliedstaats einlaufen. Da die AWZ nicht zum Staatsgebiet zählt101, hätte hierin u.  U. eine nicht vom UN-Seerechtsübereinkommen (vgl. Art. 58 Abs. 1 SRÜ) und dem Übereinkommen von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen102 gedeckte Ausübung extraterritorialer Jurisdiktion gelegen103. Zwar können gemäß Art. 211 Abs. 5 SRÜ die Küstenstaaten hinsichtlich ihrer AWZ Gesetze und Regelungen zur Verhü­ tung, Verringerung und Kontrolle der Meeresverschmutzung durch Schiffe erlassen; die betreffenden Regelungen müssen indes den „general accepted international rules and stan­ dards“ (GAIRAS), die im Rahmen der IMO angenommen wurden, entsprechen104. Dergleichen Standards lagen im konkreten Fall der Haftung für Seeforderungen nicht vor. 101  Zum Rechtsstatus der AWZ siehe Proelß, Ausschließliche Wirtschaftszone, in: Graf Vitzthum (Hg.), Handbuch des Seerechts, 2006, S. 222 (228 f.). 102  Siehe Fn. 33. 103  Vatankhah (Fn. 82), S. 62 f.; Jenisch (Fn. 18 [Prävention]), S. 397; ders. (Fn. 18 [Safety at Sea]), S. 56. 104  Nach Molenaar, Coastal State Jurisdiction over Vessel-Sour­ ce Pollution, 1998, S. 175 ff., ist die gewohnheitsrechtliche Geltung der betreffenden Regeln und Normen nicht erforderlich, damit sie als „allgemein anerkannt“ gelten können; Voraussetzung sei ledig­

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Freilich trägt die endgültige Fassung der Richtlinie diesen Bedenken Rechnung. Ihr Art. 4 Abs. 2 beschränkt den An­ wendungsbereich auf Schiffe, die in einen Hafen der EUMitgliedstaaten einlaufen. Als Teil der inneren Gewässer des Küstenstaats unterliegen die Häfen seiner vollen territorialen Souveränität105. Soweit die Mitgliedstaaten darüber hinaus die Einhaltung dieser Verpflichtung für Schiffe vorschreiben dürfen, die in ihren Hoheitsgewässern fahren – diese For­ mulierung bezieht sich auf das unter die „aquitoriale Souve­ ränität“ (Wolfgang Graf Vitzthum) des Küstenstaats fallende Küstenmeer, in dem fremde Schiffe über das Recht der friedlichen Durchfahrt verfügen (vgl. Art. 18  ff. SRÜ) –, wurde dies ausdrücklich unter den Vorbehalt der Vereinbar­ keit mit dem Völkerrecht gestellt. Da sich die Richtlinie auch im Hinblick auf die Haftungshöchstbeträge vollum­ fänglich an den Vorgaben des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen ­orientiert (vgl. Art. 4 Abs. 3), steht sie ohne weiteres im ­Einklang mit den Vorgaben des Völkerrechts. 2. Meldepflicht gemäß Richtlinie über die Hafenstaatkontrolle Etwas anderes könnte jedoch im Hinblick auf die Richt­ linie 2009 / 16 über die Hafenstaatkontrolle gelten. Auf den ersten Blick problematisch erscheint zunächst die gemäß Art. 9 i. V. m. Anlage III der Richtlinie bestehende Pflicht, der Hafenbehörde mindestens drei Tage vor der erwarteten Ankunft eines Schiffes im Hafen Angaben u. a. zur Schiffs­ identifikation, zur Liegezeitdauer etc. zu übermitteln. Denn es kann regelmäßig nicht ausgeschlossen werden, dass sich das Schiff zu diesem Zeitpunkt noch außerhalb des mariti­ lich, dass die einschlägigen IMO-Regeln in Kraft getreten seien. Differenzierend Schult (Fn. 51), S.  72  ff.; vgl. auch Ringbom (Fn. 36), S. 433. 105  Vgl. nur Churchill / Lowe, Law of the Sea, 3. Aufl. 1999, S. 64 f.; Ringbom (Fn. 36), S. 204 ff. m. w. N.



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men Aquitoriums des betreffenden Küstenstaats befindet. Vor dem Hintergrund der jenseits des Küstenmeers zur An­ wendung gelangenden Schifffahrtsfreiheit (vgl. Art. 58 Abs. 1 i. V. m. Art. 87 Abs. 1 lit. a SRÜ) sprechen aber gute Gründe dafür, dass ein Drittlandschiff nicht zur Anlaufmeldung ver­ pflichtet werden kann, wenn es sich noch in der AWZ oder auf Hoher See befindet106. Soweit demgegenüber der EuGH in der Einbeziehung au­ ßereuropäischer Luftfahrzeugbetreiber in den europäischen Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten keine unzu­ lässige Ausübung extraterritorialer Jurisdiktion erblickt hat107, obwohl die abzugebenden Emissionszertifikate unter Berücksichtigung des ganzen internationalen Flugs (und nicht nur der Teilstrecken über den Territorien der EU-Mit­ gliedstaaten) berechnet werden, führt dies nicht zu einem anderen Ergebnis. Der schematische Verweis darauf, dass mit den betreffenden Luftfahrzeugen ein Flug durchgeführt werde, der von einem auf EU-Territorium befindlichen Flughafen abgehe bzw. auf diesem ende108, ändert nichts da­ ran, dass das Territorialitätsprinzip keinen hinreichenden Anknüpfungspunkt für die Einbeziehung der Flugstrecke über Nicht-EU-Gebiet in die Abgabepflicht bieten dürfte. Aus dem Umstand, dass ein Staat Jurisdiktion über einen bestimmten Sachverhalt besitzt (hier: Start und Landung auf eigenem Territorium), folgt nicht automatisch die Rege­ lungsbefugnis für alle mit diesem Sachverhalt verbundenen Gesichtspunkte109. Das gilt im Hinblick auf die Einbezie­ 106  So Lagoni, Vorsorge gegen Schiffsunfälle im Küstenvorfeld: Gemeinschaftliches Schiffsmeldesystem und Hafenzugang im Not­ fall, TranspR 2001, S. 284 (286); Graf Vitzthum (Fn. 5), S. 176 f.; anders Ringbom (Fn. 36), S. 253 ff. – Das Anlaufen der Häfen selbst kann hingegen von der Erfüllung der Meldepflicht abhängig gemacht werden; vgl. Art. 25 Abs. 2 und Art. 211 Abs. 3 SRÜ. 107  EuGH, Rs. C-366 / 10, Handel mit Treibhausgasemissionszer­ tifikaten, Rn. 125 ff. 108  Ebd., Rn. 125. 109  So zu Recht Volz, Extraterritoriale Terrorismusbekämpfung, 2007, S. 223.

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hung außereuropäischer Luftfahrzeugbetreiber in den Han­ del mit Treibhausgasemissionszertifikaten umso mehr, als durchaus die Möglichkeit besteht, die Abgabepflicht auf die über EU-Territorium zurückgelegte Flugstrecke zu begren­ zen110. Jedenfalls aber fehlt es an der Vergleichbarkeit der dem EuGH-Urteil zugrunde liegenden Situation mit der La­ ge auf See. Denn aus Art. 26 Abs. 1 SRÜ ergibt sich, dass angesichts des Rechts der friedlichen Durchfahrt schon im Küstenmeer keine Abgaben für die bloße Durchfahrt (bzw. die „Nutzung“ der Umwelt des Küstenstaats) erhoben wer­ den dürfen. Für die jenseits des Küstenmeers gelegenen Meereszonen gilt dies erst recht. Letztlich kommt es auf die Frage nach dem Bestand eines hinreichenden Anknüpfungspunktes für die Verpflichtung zur Anlaufmeldung in der AWZ oder auf Hoher See indes nicht an. Wie im Falle der Schiffsmelderichtlinie 2002 / 59 / EG muss die Meldung nämlich nicht zwingend vom Kapitän des Schiffes erfolgen, sondern kann alternativ vom Agenten oder Betreiber des Schiffes vorgenommen werden (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2009 / 16 / EU). Jedenfalls der Schiffs­ agent wird sich regelmäßig auf dem Staatsgebiet des Küsten­ staats aufhalten. Aus diesem Blickwinkel bedeutet die Mel­ depflicht keine Ausübung extraterritorialer Jurisdiktion111. 3. Einlaufverbote gemäß Richtlinie über die Hafenstaatkontrolle Daher stellt sich abschließend die Frage, ob die gemäß Hafenstaatkontrollrichtlinie bestehende Möglichkeit, befris­ tete oder gar unbefristete Einlaufverbote gegenüber Dritt­ landschiffen zu verhängen, mit dem internationalen Seerecht vereinbar ist. Die Befugnis, überhaupt Hafenstaatkontrollen durchzuführen, ergibt sich aus dem Umstand, dass die Hä­ fen der territorialen Souveränität des Küstenstaats unterlie­ 110  Insofern 111  So

ist der Sachverhalt teilbar; vgl. ebd., S. 223 m. w. N. zur Schiffsmelderichtlinie Proelß (Fn. 14), S. 402.



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gen. In diesem Sinne setzt Art. 211 Abs. 3 SRÜ voraus, dass die Hafenstaaten über die Kompetenz verfügen, fremden Schiffen besondere Bedingungen zur Verhütung, Verringe­ rung und Überwachung der Verschmutzung der Meeresum­ welt für das Einlaufen in ihre Häfen oder inneren Gewässer oder für das Anlegen an ihren vor der Küste liegenden Um­ schlagplätzen aufzuerlegen112. Auch Art. 219 SRÜ („von sich aus“) bestätigt die Existenz eines Rechts des Hafen­ staats, Schiffskontrollen durchzuführen. Nahezu alle IMOKonventionen enthalten denn auch Bestimmungen, die die Vertragsparteien dazu ermächtigen, ihre Häfen anlaufende fremde Schiffe zu inspizieren, um die Einhaltung der in den Konventionen kodifizierten Standards zu überprüfen. Die hafenstaatliche Kontrollbefugnis besteht indes nicht unbegrenzt. Meeresverschmutzungen durch Schiffe, zu de­ nen es auf Hoher See gekommen ist, dürfen im Hafen nach Art. 218 SRÜ grundsätzlich nur verfolgt werden, wenn und soweit Verstöße gegen die im Hinblick auf ein „Einleiten“ von Stoffen oder Energie anwendbaren internationalen Re­ geln und Normen in Rede stehen. Mit Regulation 11 / 6 der Anlage VI MARPOL113 wurde diese extraterritoriale Durch­ setzungsbefugnis auf die Verschmutzung der Luft durch Schiffsemissionen ausgedehnt. Dies gilt freilich nur zwischen den Staaten, die sowohl Anlage VI MARPOL ratifiziert ha­ ben als auch Parteien des Seerechtsübereinkommens sind. Sieht man zunächst von der Frage der Zulässigkeit von Einlaufverboten ab, geht die Richtlinie 2009  /  16 über die Grenzen der im Seerechtsübereinkommen und in den IMO112  Vgl. auch IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, ICJ Reports 1986, 13 (para. 213). 113  Regulation 11  /  6 lautet: „The international law concerning the prevention, reduction and control of pollution of the marine environment from ships, including that law relating to the enforce­ ment and safeguards, in force at the time of application or inter­ pretation of the Annex, applies, mutatis mutandis, to the rules and standards set forth in this Annex“ (Hervorhebung im Original).

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Konventionen normierten Standards hiernach nicht hinaus. Sie statuiert keine eigenständigen materiell-rechtlichen An­ forderungen, sondern normiert ausschließlich verfahrens­ rechtliche Vorgaben zur unionsweiten Vereinheitlichung der Kontrollstandards. Im Hinblick auf die Kriterien für das Festhalten eines Drittlandschiffs nimmt Anlage X der Richt­ linie ausdrücklich auf die in den einschlägigen IMO-Kon­ ventionen (darunter MARPOL) enthaltenen Regelungen ­Bezug und bindet so die Kontrollbefugnisse an das global geltende Schiffssicherheitsregime. Darüber hinaus verlangt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie allgemein, dass die Hafenstaat­ kontrollen „in Einklang mit internationalem Recht“ durch­ geführt werden. Auf der Grundlage der insoweit gebotenen völkerrechtskonformen Auslegung der Normen der Richt­ linie erscheint auch die in Art. 3 Abs. 1 vorausgesetzte, mit Blick auf das Recht der friedlichen Durchfahrt aber nicht unproblematische Befugnis eines Mitgliedstaats, ein Schiff in seinen Hoheitsgewässern außerhalb eines Hafens zu über­ prüfen, als mit dem Völkerrecht noch vereinbar114. Bedeutet dies aber auch, dass ein Drittlandschiff im Falle wiederholter Verstöße gegen die materiell-rechtlichen Si­ cherheitsstandards, wie sie in den IMO-Konventionen vor­ geschrieben sind, dauerhaft aus europäischen Häfen ausge­ schlossen werden darf? Einerseits sehen weder das UN-See­ rechtsübereinkommen noch die IMO-Konvention ausdrück­ lich die Verhängung eines dauerhaften Einlaufverbots vor115; andererseits verkörpert auch Letztere eine von der territori­ alen Souveränität des Hafenstaats grundsätzlich umfasste Maßnahme, deren Zulässigkeit nur dann nicht gegeben ist, wenn sie an ein extraterritoriales Verhalten des Schiffs bzw. seiner Besatzung geknüpft ist. Allerdings muss das Einlauf­ verbot mit der in Art. 227 SRÜ normierten Pflicht, Schiffe eines fremden Staates nicht zu diskriminieren, sowie mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip als allgemeinem Rechts­ Jenisch (Fn. 18 [Prävention]), S. 394. Ringbom (Fn. 36), S. 295.

114  Anders 115  Siehe



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grundsatz vereinbar sein116. Als völkerrechtlich unzulässig stellte sich in diesem Sinne eine Kontrollpraxis dar, nach welcher nur den unter einer ganz bestimmten Flagge fahren­ den Schiffen von vornherein, d. h. unabhängig von konkre­ ten Verdachtsmomenten, das Einlaufen in die europäischen Häfen verwehrt werden würde. Die Richtlinie 2009  /  16 beugt einer Verletzung dieser Grundsätze freilich vor, indem (1) die Verhängung eines endgültigen Einlaufverbots erst im Anschluss an die dritte temporäre Zugangsverweigerung ­zulässig ist (vgl. Art. 16 Abs. 4), und (2) ein rechtliches Vor­ gehen gegen die Verhängung von – vorübergehenden oder endgültigen – Zugangsverweigerungen ermöglicht wird (vgl. Art. 20). Für eine Verletzung des Diskriminierungsverbots ist schon deshalb nichts ersichtlich, weil die Richt­linie glei­ chermaßen für alle Staaten gilt, deren Schiffe europäische Häfen anlaufen. Dass im Einzelfall die Schiffe eines oder mehrerer Staaten von einem Einlaufverbot betroffen sein können, wird vom Anwendungsbereich des Art. 227 SRÜ nicht erfasst; die Verhängung von Kontrollmaßnahmen ist vielmehr Folge der Anwendung der gleichermaßen gegen­ über allen Staaten geltenden Standards. Im Ergebnis sind die Maßnahmen des „Erika III“-Pakets damit mit dem internationalen Seerecht vereinbar. Ein Kon­ flikt zwischen der EU einerseits und der IMO andererseits liegt nicht vor. V. Fazit Die im konkreten Fall gegebene Vereinbarkeit des euro­ päischen Sekundärrechts mit den Vorgaben des Völkerrechts darf nicht zu dem Schluss verleiten, die Diskussionen um die Reichweite der Befugnisse der Union im Bereich der in­ ternationalen Beziehungen, wie sie etwa auch im Hinblick auf die Ausweitung des europäischen Emissionshandels auf außereuropäische Fluggesellschaften geführt wurden, ver­ 116  Dazu

ebd., S. 296 f.

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körperten viel Lärm um nichts. Dass es dereinst zu einem Konflikt zwischen einer global zuständigen internationalen Organisation, an der die Union nicht unmittelbar beteiligt ist, und der supranationalen EU kommen könnte, zeigen zum einen die Erfahrungen der Vergangenheit im Bereich der Schiffssicherheit. So ist daran zu erinnern, dass die EU bereits mit ihrer „Erika I“-Initiative zum Erlass einer Ver­ ordnung zur beschleunigten Einführung von Doppelhül­ len117 erreichen konnte, dass sich die IMO überhaupt wieder mit dem Thema beschäftigte und schließlich einen verschärf­ ten Zeitplan für die Außerdienststellung von Einhüllen-Öl­ tankschiffen beschloss. Zwar stimmte die Union den ur­ sprünglichen Kommissionsentwurf dann ihrerseits mit den neuen MARPOL-Vorgaben ab, um die Vereinbarkeit von Unionsrecht und Völkerrecht zu gewährleisten118. Die Be­ reitschaft der Unionsorgane, unter dem Eindruck der Ölpest an der bretonischen Küste notfalls einen europäischen Son­ derweg zu beschreiten, war indes unverkennbar119. Einen ähnlichen „bottom up approach“ zur Durchsetzung strenge­ rer Umweltstandards verfolgt die EU offensichtlich auf dem Gebiet der Schiffsemissionen120. In einer Mitteilung vom 28. Januar 2009 forderte die Kommission, dass die EU un­ geachtet der generellen Verantwortung der IMO für die Ausarbeitung und Verabschiedung globaler Maßnahmen „ihre eigenen Maßnahmen ergreifen“ sollte, „wenn keine 117  Vgl. KOM(2000) 142 endg. v. 21.3.2000, Mitteilung der Kom­ mission an das Europäische Parlament und den Rat über die Sicher­ heit des Erdöltransports zur See. 118  Vgl. Verordnung (EG) Nr. 417 / 2002 (Fn. 1). 119  Siehe bereits KOM(2001) 370 endg. v. 12.9.2001, Die Euro­ päische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zu­ kunft, S. 114: „Der gemeinschaftliche Besitzstand ist in den letzten zehn Jahren erheblich angewachsen, vor allem in den Bereichen Luft- und Seeverkehr. […] Die Gemeinschaft hat spezielle Rege­ lungen erlassen, die sich nicht immer mit den Empfehlungen oder Übereinkünften der internationalen Organisationen decken.“ 120  Überblick bei Proelß / O’Brien, Völker- und europarechtliche Anforderungen an Abgasemissionen von Seeschiffen, NordÖR 2011, S.  97 ff.



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wirksame internationale Einigung erzielt werden kann, wie die Treibhausgasemissionen aus der Schifffahrt begrenzt werden können“121. In einer weiteren Mitteilung führte sie aus, es sei darauf hinzuwirken, „[…] dass alle Ziele der EU-Politik im Bereich der Sicherheit des Seeverkehrs durch im Rahmen der IMO vereinbarte internatio­ nale Instrumente erreicht werden. Die EU sollte im Falle eines Scheiterns der IMO-Verhandlungen bei der Durchführung von Maßnahmen in Bereichen, die für die EU von besonderer Bedeu­ tung sind, als ersten Schritt bis zum Erreichen eines breiteren internationalen Konsens eine Führungsrolle übernehmen und da­ bei dem internationalen Wettbewerbsumfeld Rechnung tragen.“122

Am Willen zur Umsetzung des in Aussicht gestellten uni­ lateralen Vorgehens dürfte es umso weniger fehlen, als die Aufnahme des Luftverkehrs in den unionsweiten Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – nach Klärung der sich in diesem Zusammenhang stellenden Rechtsfragen durch den EuGH am 21. Dezember 2011123 – zum 1. Januar 2012 vollzogen wurde124. Gewiss ist es nicht wahrscheinlich, dass die Union bereit ist, sich dauerhaft außerhalb des global geltenden völker­ rechtlichen Rahmens zu bewegen. Im Vordergrund des eu­ ropäischen Ansatzes steht vielmehr das – vom nach wie vor erheblichen wirtschaftlichen Gewicht Europas verstärkte125 – 121  KOM(2009) 39 endg. v. 28.1.2009, Ein umfassendes Klima­ schutzübereinkommen als Ziel für Kopenhagen, S. 7 f. 122  KOM(2009) 8 endg. v. 21.1.2009, Strategische Ziele und Empfehlungen für die Seeverkehrspolitik der EU bis 2018, S. 12. 123  Vgl. EuGH, C-366  / 10, Handel mit Treibhausgasemissions­ zertifikaten. 124  Richtlinie 2008  /  101  /  EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.11.2008 zur Änderung der Richtlinie 2003 / 87 / EG zwecks Einbeziehung des Luftverkehrs in das System für den Han­ del mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft (ABl. EU 2009, Nr. L 8 / 3). 125  Siehe Nengye / Maes, The European Union and the Interna­ tional Maritime Organization: EU’s External Influence on the Pre­ vention of Vessel-Source Pollution, JMLC 41 (2010), S. 581 (590).

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Bemühen, politischen Druck auf die Mitgliedstaaten der IMO auszuüben, um schneller zu einer Reform des interna­ tionalen Seeschifffahrts- und Klimaschutzrechts zu gelangen. Dieses realpolitisch nachvollziehbare Anliegen darf freilich nicht über die in vorliegender Analyse thematisierte recht­ liche Dimension hinwegtäuschen. Dass jener Ansatz in der Vergangenheit tatsächlich eine Verschärfung des internatio­ nalen Schiffssicherheitsregimes nach sich gezogen hat, macht ihn für sich betrachtet noch nicht legitim. Eine rein folgen­ orientierte Betrachtungsweise würde verkennen, dass wie­ derholtes unilaterales Vorgehen der EU letztlich die Autori­ tät und Zuständigkeit der IMO unterminieren könnte – im Lichte des globalen Charakters der Seeschifffahrt und ihrer Bedeutung für die Weltwirtschaft wäre dies ein teuer erkauf­ ter Erfolg regional strengerer Regelungen126. Letztlich könn­ te dies gar der weiteren Fragmentierung des Völkerrechts Vorschub leisten; Rechtsunsicherheit und eine Beeinträchti­ gung des normativen Geltungsanspruchs des Völkerrechts insgesamt wären die Folgen. Auch aus der Perspektive der EU selbst begegneten künfti­ ge „europäische Sonderwege“ Bedenken. Zum einen könnte ein solcher Ansatz das politische Gewicht der EU in den in­ ternationalen Beziehungen (weiter) mindern; in den Worten von Gráinne de Búrca verkörperte er „a significant departure from the conventional presentation and widespread under­ standing of the EU as an actor maintaining a distinctive com­ mitment to international law and institutions.“127 Die Recht­ sprechung des EuGH, die nach hier vertretener Auffassung die Autonomie der Unionsrechtsordnung in signifikantem Ausmaß – und entgegen den Anforderungen des europäi­ schen Primärrechts – überzeichnet, fände so ihre Entspre­ 126  Vgl. auch Lagoni, Umwelt und Schiffssicherheit im Völker­ recht und im Recht der Europäischen Gemeinschaften, AVR 32 (1994), S. 382 (395 f.); Proelß (Fn. 14), S. 326; unkritisch hingegen Nengye / Maes (Fn. 125), S. 588 f., 594. 127  de Búrca, The European Court of Justice and the Interna­ tional Legal Order after Kadi, HIJL 51 (2010), S. 1 (2).



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chung in dem Vorgehen der anderen Unionsorgane128. Im Hinblick auf das konkrete Beispiel der Seeschifffahrt bestün­ de schließlich die Gefahr, dass ein Ausflaggungsprozess zu­ gunsten außereuropäischer Schiffsregister einsetzte. Die Union ist daher gut beraten, sich ihrer Rolle als po­ tentieller „Durchsetzungsdegen der IMO“ (Wolfgang Graf Vitzthum) zu erinnern. Dies hat sie mit dem „Erika III“Paket getan. In diesem Bereich der internationalen Bezie­ hungen, bei der effektiven Implementierung und Durchset­ zung der globalen Standards, hat sich die supranationale Struktur der Union, nicht zuletzt eingedenk der Existenz einer obligatorischen Gerichtsbarkeit, besonders bewährt. Zugleich liegt bei der für die Effektivität eines jeden Sicher­ heitssystems zentralen Kontrolle der relevanten Akteure auch auf dem Gebiet der Seeschifffahrt nach wie vor man­ ches im Argen. Insofern verdienen vor allem die erfolgten Verschärfungen der Hafenstaatkontrolle uneingeschränkte Zustimmung. Es bleibt zu hoffen, dass die Unionsorgane künftig diesem wahrhaft völkerrechtsfreundlichen Weg fol­ gen werden, anstatt auf einem überzogenen Verständnis der Autonomie der Unionsrechtsordnung zu beharren.

128  Siehe

auch die Kritik bei Mendez (Fn. 47), S. 103.

An den Grenzen der Legitimität. Euro-Krisenbewältigungspolitik und EU-Entwicklungsperspektiven Von Martin Nettesheim, Tübingen* Die Europäische Union ist in eine Schieflage gerutscht. Die Position, in der sie sich befindet, erweist sich als hoch­ gradig instabil; und ihre Strukturen haben nicht die Quali­ tät, sie wieder ins Lot zu bringen. Die Konstruktionsmängel der Wirtschafts- und Währungsunion sind bislang nicht be­ seitigt. Mit der Krisenbewältigungspolitik der letzten zwei Jahre haben sich die EU und ihre Mitgliedstaaten Zeit ge­ kauft und wichtige Reformmaßnahmen ergriffen – Maßnah­ men allerdings, deren Reichweite und Wirksamkeit begrenzt ist. Inzwischen ist ein Entwicklungspfad erkennbar, von dem angenommen wird, dass er zu einer neuen – und stabi­ leren – Lage führen könnte – die Supranationalisierung der Wirtschafts-, Fiskal- und Haushaltspolitik, begleitet von ei­ ner weitergehenden Vergemeinschaftung finanzieller Lasten und Risiken1. Die inzwischen ausgehandelten Rettungsmaß­ nahmen wurden im klassischen intergouvernementalen „set­ ting“ entworfen – und teilweise auch realisiert. Es handelt *  Prof. Dr. Martin Nettesheim ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Tübingen. 1  Zur Entwicklung: Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1; Calliess / Schorkopf, VVD­ StRL 71 (2012); Oppermann, Euro-Stabilisierung durch EU-Not­ recht, in: Bechtold  /  Jickeli  /  Rohe (Hg.), Festschrift für Wernhard Möschel, 2011, S. 909; Schorkopf, Europas politische Verfasstheit im Lichte des Fiskalvertrages, ZSE, 2012, Heft 1, S. 1 (i. E.).

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sich um Verhandlungslösungen, die in einem intransparenten Umfeld unter dem Druck der Märkte ausgearbeitet wurden. Parlamentarische Gremien konnten die Entwicklung nur am Rande verfolgen; vielfach waren sie mit der Billigung der andernorts gefundenen Lösungen befasst. Es ist keinesfalls gesichert, dass nicht auch die weitergehenden Schritte in die­ ser Weise ausgehandelt und durchgesetzt werden. Auf die­ sem Hintergrund verwundert es nicht, dass jüngst die Legi­ timationsfrage an Gewicht gewinnt. Die Bevölkerung wen­ det sich in vielen Mitgliedstaaten offen gegen die gefundenen Kompromisse. Der Übergang in eine „politische Union“ ist nur in wenigen Mitgliedstaaten mehrheitsfähig. Der permis­ sive Konsensus, von dem die Integrationspolitik vielerorts getragen wurde, wandelt sich in offene Ablehnung. Die EU ist dabei, in ihre bislang tiefste Legitimationskrise zu ge­ raten. I. Krisenerscheinungen In der Krisenatmosphäre spiegeln sich inhaltliche und funktionale Defizite. Die jedenfalls in Deutschland vielfach ungeliebte Währungsunion verkoppelte die sich auseinander entwickelnden Volkswirtschaften im Euro-Raum und schuf aufgrund unterschiedlicher Wachstumsdynamiken und einer Auseinanderentwicklung der Wettbewerbsfähigkeit Span­ nungen, die sich nur vorübergehend überspielen ließen. Mit dem Ausbruch der Krise wurden die Erwartungen beider Seiten enttäuscht – jener, die mit der Währungsunion stabi­ les Geld, zugleich aber die Erhaltung des vertraglich verein­ barten wirtschaftlichen Selbststands verbanden, und jener, die sich an dem Fluss billigen Gelds und einen nicht nach­ haltigen Lebenshaltungsstandard gewöhnt hatten. Die deut­ sche Politik fand nicht die Kraft, offen einzugestehen und dafür zu werben, dass die Beseitigung der entstandenen Schieflage mehr als nur die Gewährung verzinslicher Garan­ tien und die Durchsetzung von Austeritätsvorgaben verlan­ gen wird – der Zeithorizont einer wirtschaftlichen Wieder­



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erstarkung ist viel zu lang, als dass so die in einem ganz anderen Rhythmus arbeitenden Finanzmärkte2 befriedigt werden könnten. Andernorts bereitete es Schwierigkeiten, zu akzeptieren, wie groß der strukturelle Reformbedarf ist, und hieraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Bis heute ist man über diese Frontstellung – jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung – nur unvollständig hinausge­ kommen. Krisenverstärkend war das Gefühl, dass die Zeit ab dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 nicht wirklich genutzt wur­ de. Schon 2008 wurde die Einschätzung geäußert, dass es in der Folge der Bankenkrise auch zu einer Staatsschuldenkrise kommen könnte. Erst mit dem Beinahezusammenbruch Griechenlands 2010 kam es aber zu erkennbaren Reaktio­ nen. So wichtig die dann ergriffenen „Rettungsmaßnahmen“ auch waren, so offensichtlich war doch, dass sie nur Zeit kauften. Es gelang nicht, sich auf eine zugleich wirksame und gemeinsam getragene Problembewältigungsstrategie zu verständigen. Das Solvabilitätsproblem Griechenlands ließ sich offensichtlich nicht durch Kreditgewährung lösen; das Bankenproblem Spaniens kann nicht sinnvoll mit einem für Staaten gedachten Rettungsschirm bewältigt werden. Schon heute ist es nicht unwahrscheinlich, dass Italien angesichts der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung (trotz des vorhandenen privaten Reichtums) bei der Bewäl­ tigung der Staatsschulden in Schwierigkeiten geraten wird. Notwendige Schritte, wie die Stabilisierung des Bankensys­ tems, wurden von der Europäischen Kommission zwar in Angriff genommen, dann aber mehrere Jahre im Konflikt mit den selbstbewusst auf ihrer Zuständigkeit beharrenden Mitgliedstaaten aufgehalten. Dabei geht es hier um einen 2  Zu deren Druck anschaulich Stürner, Markt und Wettbewerb über alles?, 2007; Krönig, Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven, 2007; Reich, Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt, 2008; Lepsius, in: Adolf-Arndt-Kreis (Hg.), Staat in der Krise – Krise des Staates? Die Wiederentdeckung des Staates, 2010, S. 25.

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Kernbereich des Binnenmarkts; für strategische und politi­ sche Interessen der Mitgliedstaaten ist hier kein Raum. Für interessierte Beobachter war insofern nicht zu erkennen, wie die unterschwelligen Ursachen der Krise angegangen wur­ den; und auch weniger informierte Bürger mussten ange­ sichts der immer neuen „Rettungsaktionen“ auf den sich in immer kürzerer Abfolge aneinander reihenden Gipfeltreffen Unwohlsein verspüren. Orientierungs- und vertrauensstif­ tend konnte eine Position nicht wirken, wonach zwar grundsätzlich jeder für sich selbst haftet, wenn es ein Pro­ blem gibt, wonach aber zugleich ein wenig gegenseitiger Einstand doch gewährt wird – vorausgesetzt, dass bestimm­ te Reformanstrengungen unternommen werden. Dies gilt umso mehr, als man sich nicht des Eindrucks verschließen kann, dass die angeblich strikte Konditionalität der Hilfszu­ sagen immer wieder aufgeweicht und korrigiert werden könnte, wenn es p ­ olitisch opportun erscheint. Nimmt man zur Kenntnis, welcher Einsatz von den Beteiligten verlangt wird – es geht um wesentliche Teile des volkswirtschaftlich Erarbeiteten –, dann erscheint die Entstehung eines Gefühls der Be- und Entfremdung nicht verwunderlich. Zweifel bestehen aber auch an der Angemessenheit der jeweiligen Zielformulierungen. Es bedarf hier keiner Be­ gründung, dass die Vorstellung, mit einer unbeschränkten Haftungsübernahme die Probleme aus der Welt zu räumen, aus normativer Sicht zu verwerfen ist. Eher empirische Zweifel weckt die in Deutschland gepflegte Vorstellung, dass es nur neuer Instrumente und einer Erhöhung des Drucks bedürfte, um endlich die Spielregeln des Maastricht-Vertrags und des zwischenzeitlich verstaubenden Stabilitäts- und Wachstumspakts durchzusetzen. Diese Sichtweise wird von vielen der in der Euro-Zone vereinten Staaten nur halbher­ zig und aus strategischen Interessen geteilt. Den Wunsch, zu einer Situation der Eigenverantwortung der Staaten zurück zu kehren und auf „solidarische Haftungs- und Transfersys­ teme“ zu verzichten, ist nur in ganz wenigen Staaten vor­ handen. Ob es wirklich gelingen kann, diejenigen Mitglied­



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staaten der Euro-Zone, die seit Jahrzehnten oder sogar län­ ger eine finanzpolitische Tradition geringer Solidität pfleg­ ten, nunmehr mit einem neuen Instrumentarium zu einem Umdenken zu veranlassen, ist alles andere als sicher. An der Effektivität der Durchsetzungsmittel bestehen berechtigte Zweifel; dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Rolle des Europäischen Gerichtshofs. Der Frage, wie es sich auf die Textur der EU und ihres Zusammenhalts auswirken muss, wenn permanenter ökonomischer Druck ausgeübt werden muss, um die Staaten zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen zu veranlassen, wird bislang wenig Aufmerksamkeit ge­ schenkt. Auch wenn die bislang ergriffenen Schritte unver­ meidlich waren, um eine vollständige Auflösung von Verant­ wortungsstrukturen zu vermeiden, greifen sie so langsam, dass sie zu einer Lösung der Krise unmittelbar nur begrenzt beitragen konnten. Die Legitimationskrise hat ihre Ursache aber auch darin, dass die EU funktional schon seit längerem hinter den Er­ wartungen und Standards zurückbleibt, denen sie – auch nach ihrem eigenen, im EU-Vertrag niedergelegten normati­ ven Erwartungen – entsprechen müsste. Der übliche Verweis auf die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, die Einführung der Unionsbürgerschaft, die wortreiche Auf­ listung von Werten und Zielen der EU im EUV und ande­ rem darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich im politi­ schen Herzen der EU eine demokratietheoretisch bedenk­ liche Leere herausgebildet hat. Die EU ist zu dem geworden, was sie ist, indem sie ein liberales Programm realisiert hat, begleitet von einer mehr oder weniger sinnvollen Subven­ tionspolitik. Sie war insofern ein „Servicebetrieb für die Her­ stellung erwünschter Lagen“ (Uwe Volkmann); ihre Institu­ tionen waren und sind Verwalter einer politischen Routine. Es ist dies eine Routine, die nicht in einer gewachsenen Kul­ tur verankert ist, und es herrscht ein Grundverständnis, das naturgemäß keinen Respekt vor dem Gewachsenen und Be­ stehenden zeigen kann. Politik in der EU ist ein umwälzen­ der und mitreißender Fluss ohne Zäsur, Wechsel und Rich­

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tungsänderung. Mit dem Anspruch der Administration eines „europäi­schen Gemeinwohls“3 stößt ein Prozess in immer weitere Lebensbereiche vor, dem der Bürger Europas nur mit Ohnmachtsgefühlen begegnen kann. Der Wettbewerb um das Amt, die pointierte Formulierung konkurrierender Gemeinwohlkonzepte, die Begrenztheit und Zeitlichkeit des Mandats, die Sanktioniertheit der Politik: das sind alles Ker­ nelemente einer funktionierenden Demokratie, die in der EU nur unzureichend realisiert sind. Dass der Platz von Sinnstiftung leer blieb, dass die wesentlichen Fragen nach dem Weg („Wofür steht Europa?“) offen blieben, mag man als Qualität ansehen, die erst das Gelingen des Integrations­ projekts ermöglichte. Soll es um die Errichtung eines Super­ staats gehen, um die geostrategischen Herausforderungen zu bewältigen und auf die neue wirtschaftliche Lage zu reagie­ ren? Oder soll sich die Funktion auch künftig auf die Markt­ öffnung von kooperierenden Nationalstaaten beschränken? Jürgen Habermas spricht von einer „normativ entkernten Politik“, deren Leere von den sensibilisierten und sich re­ genden Bürgern gespürt wird. In einer Zeit, in der es um die Harmonisierung der Steck­ dosen ging, war diese Lage nicht schädlich. In einer Zeit aber, in der zwischen den europäischen Staaten grundlegen­ de Verteilungskonflikte in Billionenhöhe ausgetragen wer­ den, erweist sich diese Leerstelle als fatal. Auch nach einem halben Jahrhundert wird die EU als das Fremde, von Außen kommende, das Korrigierende wahrgenommen, nicht aber von den Menschen „angenommen“. Eine Abbildung des „Proprium“ der Gemeinschaft ist ihr bislang nicht gelungen. Der unhinterfragte Bestand an normativen Grundüberzeu­ 3  Zur Idee der Gemeinwohlverpflichtung: Isensee, in: ders.  /  Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 70 Rn. 89 ff.; Stolleis, Staats­ lehre zwischen etatistischer Tradition und pluralistischer Öffnung, in: Appel / Hermes / Schönberger (Hg.), Festschrift für Rainer Wahl, 2011, S. 239; Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 2006; zum Kontext: Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003; Badura, Staatsrecht, 5. Aufl. 2012.



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gungen und politisch-kultureller Substanz, die bei der Lö­ sung der anstehenden Verteilungskonflikte anleitend sein könnten, ist weiterhin gering. Zugleich sind auch die demo­ kratischen Kontrollmöglichkeiten unterentwickelt: Wie groß ist die Responsitivität der Amtswalter, die diese Politik be­ treiben, welche effektive Möglichkeit besteht, sie für Ent­ scheidungen auch tatsächlich zur Verantwortung zu ziehen? Man kommt nicht umhin, mit Blick auf Vorschläge, die (Ge­ staltungs- und Umverteilungs-)Macht der EU-Institutionen deutlich zu stärken, Skepsis zu empfinden. Die beschriebene Fehlentwicklung ist im Grundsatz schon länger bekannt. Es gibt keine klaren Antworten, aber im­ merhin Einsicht in die Existenz eines Handlungsbedarfs. Die Finanzkrise „überholt“ den mühsamen – und wohl auch nicht immer ernst und gewissenhaft betriebenen – Prozess der Politisierung und demokratischen Effektivierung des EU-Entscheidungsprozesses. Es erscheint zwar ausgeschlos­ sen, dass das System demokratisch implodieren wird. Man sollte es aber als Warnzeichen ansehen, wie der Verfassungs­ vertrag 2005 gescheitert ist, dass der Lissabon-Vertrag entge­ gen der ersten Ankündigungen von immerhin zehn Mit­ gliedstaaten letztlich dann nur in einem einzigen Staat dem Volk zur Zustimmung unterbreitet wurde (Irland) und dort eine zweite Abstimmung erforderlich wurde. Gleichwohl operiert man vor allem in Brüssel weiterhin im alten Modus: mehr Kompetenzen, mehr Rechte für das Europäische Par­ lament, unbedingte Anwendung der Gemeinschaftsmethode; mehr Geld für die EU, mehr Umverteilung und Finanz­ transfers. Inzwischen wird die Krise auch als Chance begrif­ fen, um unter dem Druck der faktischen Verhältnisse den großen Sprung in die – wie auch immer zu definierende – „politische Union“ zu vollziehen und eine radikale Struk­ turreform vorzunehmen. Diese Choreographie ließe eine offene und selbstbestimmte Diskussion und Beratung nicht zu. Die in der Krise schon seit langem zu beobachtende De­ termination von Politik durch faktische Zwänge gewönne unmittelbar konstitutionelle Qualität.

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Es sind nicht nur inhaltliche Überlegungen, die dagegen sprechen, die Dimensionen der Krisenbewältigung und der grundsätzlichen EU-Reform in einen unmittelbaren Zusam­ menhang zu stellen. Eine derartige Reform wäre nur im We­ ge der Vertragsänderung möglich und wiese damit insgesamt einen Zeithorizont von einem Jahrzehnt auf. Ihre Realisie­ rungschancen wären zudem unsicher. Wohl deshalb scheint man nun – erstmalig vor Eintritt in konkrete Verhandlun­ gen – auf das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit oder eines Europas der zwei Geschwindigkeiten zu setzen. Damit besteht die Sorge, dass ein unter diesen Gegeben­ heiten eingeleiteter Reformprozess sich aus dem Schatten der Krise und der zu ihrer Bewältigung erforderlichen – ver­ handlungsbasiert-reziproken, vor allem vertrauensstiften­ den – Lösungswege nicht lösen könnte. Genuin selbstbe­ stimmte Freiheit hat Europa in der Krisensituation über den weiteren Weg seiner Entwicklung nicht. II. Legitimationskonstruktionen In der Frage, welche Maßstäbe bei der Krisenbewältigung anzulegen sind, besteht keine Einigkeit. Nicht selten sind Vorschläge und Forderungen zu vernehmen, die – häufig in wohlklingende Worte gehüllt – letztlich darauf hinauslaufen, eigene Lasten auf andere zu übertragen. Derartige Forderun­ gen erklingen aus dem Kreis verschuldeter Staaten, häufiger und weniger transparent aus dem Kreis von Investoren, die ihre fehlgeschlagenen Anlagen retten wollen. Hier ist es das pure Eigeninteresse, das bei der Maßstabsbildung anleitet – es kann nicht leitend sein. Aus wirtschaftswissenschaftlichen Kreisen sind Überlegungen dazu zu vernehmen, ob es nicht letztlich kostengünstiger gewesen wäre, wenn die Mitglied­ staaten der Euro-Zone zum Zeitpunkt des Krisenausbruchs eine umfassende und flächendeckende Garantie für die aufge­ laufenen Schulden übernommen hätten. Juristen streiten be­ kanntlich darüber, inwieweit die inzwischen ergriffenen Maßnahmen mit den Regelungen des AEUV und der Satzung der EZB vereinbar sind. Diese Diskussion soll hier nicht



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nochmal aufgeworfen werden. Ich will stattdessen den Ver­ such unternehmen, auf einer eher theoretischen Ebene ein für mich zentrales, in der allgemeinen Diskussion m. E. aber zu wenig beachtetes demokratietheoretisches Kriterium legiti­ mer Krisenbewältigung zu entwickeln und in der Analyse der gegenwärtigen Krisensituation fruchtbar zu machen. Das in rechtswissenschaftlichen Kreisen nicht ungewöhn­ liche Denken über demokratische Legitimation ist merk­ würdig zerrissen. Einerseits ist davon die Rede, dass der Volkswille realisiert werden soll4. Es ist ein Denken, das von voluntativen Grundannahmen ausgeht und einen „bottom up“-Ansatz verfolgt5. Demokratische Legitimität soll dann gegeben sein, wenn der Volkswille in den Entscheidungen repräsentativer Amtsträger abgebildet worden ist. Man geht auch davon aus, dass es einen Punkt gibt, an dem das reprä­ sentative System zu einem Ende kommt und eine Volksab­ stimmung erforderlich wird. Über den Punkt, an dem dies erforderlich ist, ist viel nachgedacht worden. Hier ist ent­ scheidend, dass auch dann ein voluntativer Akt der Billigung entscheidend sein soll. Andererseits genügt es der Rechts­ 4  Weichenstellend: Böckenförde, in: Isensee  /  Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 22; Überblick bei Voßkuhle / Kaiser, Demokratische Legiti­ mation, JuS 2009, S. 803; Morlok / Hientzsch, Das Parlament als Zentralorgan der Demokratie, JuS 2011, S. 1; Pieroth, Das Demo­ kratieprinzip des Grundgesetzes, JuS 2010, S. 473. 5  Durchscheinend etwa in BVerfGE 123, 267. Hierzu etwa Je­ staedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah? Verfassungshandwerkliche Anfragen an das Lissabon-Urteil des BVerfG, Der Staat 48 (2009), S. 497 (507 ff.); Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustes­ bett? Zum Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, JZ 2009, S.  881 (884 f.); Calliess, Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesver­ fassungsgerichts. Parlamentarische Integrationsverantwortung auf europäischer und nationaler Ebene, ZG 2010, S. 1; Halberstam /  Möllers, The German Constitutional Court says „Ja zu Deutsch­ land!“, GLJ 10 (2009), S. 1241 (1249 ff.); Schönberger, Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones At Sea, GLJ 10 (2009), S. 1201 (1205 ff.); Dingemann, in: Calliess / Paqué (Hg.), Deutschland in der Europäischen Union im kommenden Jahrzehnt, 2010, S. 73.

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praxis und wird vom BVerfG gebilligt, dass andernorts im Wege von Verhandlungen getroffene Entscheidungen vom Parlament unter enormem Zeitdruck und inhaltlichen Zwän­ gen gebilligt werden6. Genuine Selbstbestimmung im Modus parlamentarischer Deliberation erfolgt hier nicht; und es ist offenkundig, dass es nicht um die Verwirklichung des Volks­ willens geht. Es ist dies ein statisches Denken über Demokratie, in dem diese Regierungsform auf eine unendliche Reihe von Zu­ stimmungen und Ablehnungen reduziert wird. Die Frage, wie diese zustande kommen und welchen Legitimationswert sie ihrerseits haben, wird nicht gestellt – das Volk und das Parlament können nicht irren. Man wird mit dieser Konzep­ tion zwar punktuell ermitteln können, ob ein bestimmter Akt billigungsfähig ist oder nicht, nicht aber die Gesamtdy­ namik eines politischen Entwicklungsverlaufs in demokra­ tisch legitime Bahnen lenken und strukturieren können. Dem ist entgegenzusetzen: Demokratie ist zunächst politi­ scher Prozess. Abirrungen dieses Prozesses werden, wie der Blick in die Geschichte zeigt, nicht dadurch legitim, dass sie parlamentarisch oder plebiszitär getragen werden. Es ist in­ sofern eine der wichtigsten Aufgaben der Verfassung, den demokratischen Prozess offen und fair zu halten. Demokra­ tie ist diesem Verständnis zufolge prozesshaft zu konzipie­ ren, deliberativ auszugestalten und zur Einforderung von Verantwortung mit Sanktionen zu bewehren, vor allem aber offen und revisibel zu halten. Die Funktion ist in einer Situation, in der selbst Experten die Folgen ihres Handelns nicht überblicken können, von 6  Zur Idee der „Integrationsverantwortung“ und deren Gren­ zen: Hahn, Die Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten nach dem neuen Integrationsverantwor­ tungsgesetz, EuZW 2009, S. 758; Nettesheim, Die Integrations­ verantwortung – Vorgaben des BVerfG und gesetzgeberische Um­ setzung, NJW 2010, S. 177; Daiber, Die Umsetzung des LissabonUrteils des Bundesverfassungsgerichts durch Bundestag und Bundesrat, DÖV 2010, S. 293; Nettesheim, in: Pechstein (Hg.), Integrationsverantwortung, 2012 (i. E.).



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besonderer Bedeutung. Es geht gegenwärtig mit besonderer Dringlichkeit darum, die „Anmaßung von Wissen“ zu ver­ hindern, die sich bei Eingriffen in das Marktgeschehen im­ mer beobachten lässt. Dies bedeutet nicht, dass man die Märkte frei walten lassen sollte. Es bedeutet aber, dass die Zukunftsoffenheit des Entwicklungsprozesses gesichert wer­ den sollte. Meines Erachtens lässt sich dieser Gedanke so­ wohl mit Blick auf die kurzfristig erforderlichen Hilfsmaß­ nahmen als auch im Hinblick auf den weiteren Ausbau der EU fruchtbar machen. III. Lösungsansätze Wenn politische Selbstbestimmung Offenheit und Gestal­ tungsfreiheit voraussetzt, dann bedeutet dies in Krisenzei­ ten, nach Lösungen zu suchen, die auch revidiert werden können. Angesichts der Defizite, die gegenwärtig in der de­ mokratischen Legitimiertheit der EU-Ebene herrschen, eines Entscheidungsdrucks, der Selbstbestimmungsfreiheit bis an die Grenzen des Erträglichen einschnürt, und der bestehen­ den Konflikte über die Richtigkeit des zu beschreitenden Wegs ist Offenheit besonders gefordert. Nicht nur aus poli­ tischen, sondern auch aus demokratisch-legitimatorischen Gründen ist eine Richtungswahl erforderlich, die nicht in Schritte mündet, die die langfristige Entwicklung präjudi­ ziert. Gewiss wäre es diesbezüglich die „first-best-solution“, wenn jeder Staat durch schnelle und zügige Durchführung eines Reformkurses zu finanzpolitischem Selbststand zu­ rückkehren könnte und dabei die aufgetürmte Schuld abtra­ gen würde. Damit würde nicht nur das Versprechen des Maastricht-Vertrags eingelöst. Es würde auch der Idee der Kongruenz von Handlung und Haftung und der Verhinde­ rung von moral hazard entsprechen. In einer Währungsuni­ on, in der der finanzpolitische Selbststand und die fiskali­ sche Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten zu den Grund­ prinzipien zählen, wäre dies auch unter Gerechtigkeits- und Fairnessgesichtspunkten geboten. Die Einforderung von

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„Solidarität“ ist in dem vereinbarten Rahmen unehrlich. Al­ lein, ich halte diesen Lösungsansatz nach drei Jahren der Rettungspolitik für wenig erfolgversprechend. Die wirt­ schaftlich gesünderen Staaten werden nicht umhin kommen, sich an der Beseitigung der Folgen eines Fehlverhaltens mit mehr als verzinslichen Garantien zu beteiligen. Man wird sich „second-best-solutions“ zuwenden müssen. In dem Zusammenhang erscheint es heute nicht fernlie­ gend, dass eine bloße „Euro-Rettung“ über „Rettungsfonds“7 nicht ausreichend sein wird und deren beständige Erhöhung keine wirkliche Eindämmung der Krise bewirken wird. Das Vertrauen darauf, dass die EZB über den Ankauf von Staats­ anleihen8 und eine Refinanzierung der Banken auffangend wirken kann, ist sicherlich ein Stück weit gerechtfertigt; es handelt sich aber im Hinblick auf die rechtlichen Rah­ menbedingungen, denen die EZB unterliegt9: die geringen 7  Vgl. EFSF-Rahmenvertrag v. 7.6.2010, abrufbar unter http:// www.efsf.europa.eu; Verordnung (EU) Nr. 407 / 2010 des Rates v. 11.5.2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungs­ mechanismus; ESM-Vertrag v. 2.2.2012, abrufbar unter http://www. bundesfinanzministerium.de. 8  Darstellung des Funktionswandels der EZB durch: Berg u. a., Funktionswandel der EZB?, Wirtschaftsdienst: Zeitschrift für Wirt­ schaftspolitik, 92 (2012), S. 79; Sinn, Die europäische Zahlungsbi­ lanzkrise, Ifo-Schnelldienst 64 (2011), Sonderausg. Juni, S. 1; ­Meyer, Unabhängigkeit und Legitimität der EZB im Rahmen der Staats­ schuldenkrise, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen 64 (2011), S. 127. 9  Zu den vertraglichen Grenzen: Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, S. 399; ders., Die europäische Währungsunion in der internationalen Finanzkri­ se – An den Grenzen europäischer Solidarität?, EuR 2010, S. 854; Frenz / Ehlenz, Der Euro ist gefährdet: Hilfsmöglichkeiten bei dro­ hendem Staatsbankrott?, EWS 2010, S. 65; Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Ret­ tung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413; Nettesheim, Der Umbau der europäischen Währungsunion: Politische Aktion und rechtliche Grenzen, in: Kadelbach (Hg.), Nach der Finanzkrise: Politische und rechtliche Rahmenbedingungen einer neuen Ordnung, 2012,



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Druck­möglichkeiten der EZB (Problem der Durchsetzbar­ keit von Konditionalität), die unkontrollierte Verschiebung von Verantwortung10 und die damit verbundenen Gefahren um eine nur begrenzt tragfähige „second-best-solution“. Die Einführung von „Euro-Bonds“11 ließe sich praktisch kaum mehr umkehren und würde daher dem Kriterium der Siche­ rung von Zukunftsoffenheit nicht entsprechen. Ein Modell, das unter Zugrundelegung der hierfür maßgeblich erachteten legitimatorischen Kriterien als „second-best“ anzusehen sein könnte, hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit der Institution eines Schuldentilgungsfonds vorgelegt12. Dieses Modell zielt – an­ ders als die faktisch nicht mehr rückgängig zu machende Einführung von Eurobonds – darauf ab, die Schuldentrag­ fähigkeit der Mitgliedstaaten der Eurozone wieder herzu­ stellen, ohne dass die zukünftige Entwicklung dauerhaft präjudiziert wird. Das Modell sieht vor, dass die Schulden der Teilnehmer­ staaten oberhalb der Schwelle von 60 Prozent des BIP schrittweise – im Umfang der Neuverschuldungs- oder Re­ S. 32; Hafke, Rechtsbruch oder kreative Interpretation? Fragen zur „Nothilfe“ für strauchelnde Euro-Staaten, Zeitschrift für das ge­ samte Kreditwesen 63 (2010), S. 393 (394); Louis, Guest Editorial: The no-bailout clause and rescue packages, CMLRev. 47 (2010), S. 971; Müller-Graff, Euroraum-Budgethilfenpolitik im rechtlichen Neuland, integration 34 (2011), S. 289. 10  Zur Rolle der Idee der „Solidarität“ etwa Calliess, Das euro­ päische Solidaritätsprinzip und die Krise des Euro- Von der Rechtsgemeinschaft zur Solidaritätsgemeinschaft?, FCE 01 / 11, 58 („Solidarität ist … keine Einbahnstraße“); ähnlich ders., Perspekti­ ven des Euro zwischen Solidarität und Recht. Eine rechtliche Ana­ lyse der Griechenlandhilfe und des Rettungsschirms, Zeitschrift für europarechtliche Studien 2011, S. 213. 11  Vgl. Müller-Franken, Eurobonds und Grundgesetz, JZ 2012, S. 219. 12  Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaft­ lichen Entwicklung, Verantwortung für Europa wahrnehmen, Jah­ resgutachten 2011 / 12, Drittes Kapitel, VI. Ein Schuldentilgungs­ pakt für Europa, S. 109–118.

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finanzierungsmöglichkeit – in den Fonds eingebracht wer­ den (sog. „roll-in“). Der Umfang der auslagerbaren Schul­ den wird damit zu Beginn für jeden Teilnehmerstaat festge­ legt. Der Fonds käme bei voller Nutzung auf der Grundlage der Zahlen von Ende 2011 auf eine Gesamtsumme von 2,3 Billionen Euro. Davon entfielen auf Italien ca. eine Billion Euro; Deutschland könnte etwa 600 Milliarden Euro ein­ bringen. Der Einbringungszeitraum würde sich über mehre­ re Jahre erstrecken. Der Fonds würde Anleihen ausgeben, für die die Teilnehmerstaaten gemeinsam haften. Mit dem aufgenommenen Geld würden sich die Staaten refinanzieren. Die Krisenländer würden einen Zinsvorteil erhalten; für Deutschland würde der Fonds eine gewisse Verteuerung sei­ ner Refinanzierung bedeuten. Die Mitgliedstaaten des Fonds verpflichten sich, auf die eingebrachten Beträge Zinsen zu bezahlen und diese über eine Frist von 20 bis 25 Jahren zu­ rückzuzahlen. Der Sachverständigenrat schlägt vor, eine Til­ gung von 1 % im Jahr vorzusehen. Auf diesem Weg ließe sich eine Abwicklung des Fonds in 25 Jahren vornehmen. Das Modell des Fonds steht und fällt mit den Sicherun­ gen, mit denen die Rückzahlungspflicht durchgesetzt wird. Die Gefahr ist groß, dass nach der Vollendung des „roll-ins“ die Bereitschaft der Staaten, ihre Rückzahlungspflichten zu erfüllen, deutlich abnehmen wird. Immerhin haben sie wei­ terhin die nicht ausgelagerten Schulden von zunächst 60 % des BIPs zu bedienen. Ein wirksames Funktionieren des Fonds setzt einerseits voraus, dass es hier nicht erneut zu einem starken Anstieg (und einer Überforderung der Staaten durch die Gesamtlast) kommt; fiskalpolitische Disziplinie­ rungsmittel sind unvermeidlich. Andererseits muss sicher­ gestellt werden, dass die Verpflichtungen gegenüber dem Fonds vorrangig bedient werden. Denkbar ist dabei die Ver­ pfändung von werthaltiger Substanz; damit wird allerdings nur eine begrenzte Sicherung bewirkt werden können. Es erscheint nicht ausgeschlossen, auf künftige Ansprüche eines Staats aus dem EU-Haushalt zurückzugreifen. Der Sachver­ ständigenrat schlägt weiter vor, dass bestimmte Steuererträge



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explizit der Erfüllung der Rückzahlungspflicht zugeordnet werden. Erforderlich erscheint mir letztlich aber, dass es im Fall der Nichterfüllung der Rückzahlungsverpflichtung zur Fälligstellung des Gesamtbetrags der ausgelagerten Schulden kommt und eine geordnete Insolvenz eingeleitet wird. Europarechtlich herrscht Streit, ob ein solches Modell mit der No-Bail-Out-Klausel des AEUV13 und den übrigen Ver­ tragsregelungen vereinbar wäre. Mir erscheint es möglich, einen derartigen Fonds so auszugestalten, dass den Anforde­ rungen des AEUV entsprochen wird. Kompetenziell läge die Schaffung eines solchen Instruments sicherlich in der Befugnis der Mitgliedstaaten14. Aus verfassungsrechtlicher Sicht bedarf die Beteiligung der Bundesrepublik an einem derartigen Fonds der gesetzlichen Ermächtigung; um eine Übertragung von Hoheitsgewalt im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG würde es sich nicht handeln. Streit dürfte in der Frage bestehen, ob nicht die so übernommene Haftung die Budgetfreiheit des deutschen Haushaltsgesetzgebers über­ mäßig einschränkt. Man wird dies bei einer wirksamen Aus­ gestaltung der Anreizmechanismen, mit denen ein Zahlungs­ ausfall verhindert werden soll, verneinen müssen. Eine bud­ getäre Fremdbestimmung erfolgt jedenfalls nicht. Aus ver­ fassungsrechtlicher Sicht wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, Hürden gegen eine nachträgliche Verände­ rung der vertraglichen Regelungen über die höchste einzu­ 13  Zur Diskussion um deren Reichweite: Bandilla, in: Grabitz  /  Hilf  /  Nettesheim (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 125 AEUV, Rn. 2, 11  ff.; Herrmann (Fn. 9), S. 413 (415  f.); ­Calliess, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, eu­ ropäischen und nationalen Rechtsetzung, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 72, 16.11.2011, S. 36 ff.; Mayer, Verfassungsund europarechtliche Aspekte der Einführung von Eurobonds, NJW 2012, S. 422 (424 f.); Everling, Wirtschaftspolitik und Finanz­ hilfe in der Währungsunion der Europäischen Union, in: MüllerGraff / Schmahl / Skouris (Hg.), Festschrift für Dieter H. Scheuing, 2011, S. 526 (540 ff.); Nettesheim (Fn. 9), S. 31 (56 ff.). 14  Zur Kompetenzlage: Herrmann (Fn. 9), S. 413 (414  f.); Nettesheim (Fn. 9), S. 31 (55).

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bringende Summe oder die Rückzahlungskonditionen vor­ zusehen. Der Sachverständigenrat verweist hier auf Art. 146 GG; diese Bestimmung passt allerdings nicht. Möglich wäre etwa eine Änderung des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 2 GG mit dem Inhalt, dass über die vertraglichen Grundlagen des Fonds nur im Rahmen einer Volksabstimmung verfügt werden darf. Mit der Institution dieses Fonds würde sich ein Entwick­ lungshorizont abzeichnen, in dem die staatliche Eigenver­ antwortung wieder hergestellt wäre und eine Situation dau­ erhafter Transferleistungen vermieden würde. Es wäre ein Horizont, in dem keine Supranationalisierung von Entschei­ dungsgewalt in einem Bereich erfolgte, in dem die Bevölke­ rung zu einer Europäisierung bislang nicht bereit ist. Es wäre illusionär zu glauben, dass durch eine Verlagerung der Entscheidungsgewalt „nach oben“ die Legitimität der Ent­ scheidung über die Einführung und Ausgestaltung von Transfersystemen gesteigert würde, zumal in einer Situation, in der die dann entscheidungsbefugten Institutionen ihrer­ seits ein Legitimationsproblem haben. Die Institution eines Schuldentilgungsfonds ließe sich so ausgestalten, dass der „roll in“ und die Abtragung der Schulden ohne weitere dis­ kretionäre Politik erfolgen würde. Die Unsicherheiten, die sich für die „Märkte“ gegenwärtig mit der Euro-Rettungs­ politik verbinden, ließen sich so in einem erheblichen Maße ausklammern. Es erscheint im Übrigen nicht ausgeschlossen, dass sich die Bereitschaft der Bevölkerung, zukünftig supra­ nationale Haftungs- oder Transferregime einzuführen, da­ durch steigern lässt, dass ein gesondertes Regime für die „Altschulden“ eingerichtet wird. Wenn die hieran beteiligten Mitgliedstaaten ihre Tilgungspflichten ernsthaft erfüllen, be­ legt dies nicht nur ihre Verlässlichkeit bei der Einhaltung von Absprachen und wird vertrauensstiftend wirken. Ver­ mieden wird auch eine Situation, in der nach einer „Versi­ cherung“ für Belastungen in einem Moment gerufen wird, in dem diese schon eingetreten sind. Man würde vielmehr mit „clean hands“ für die Zukunft entscheiden. Dies würde eine



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Entscheidungsperspektive eröffnen, die dem Ideal freier Selbstbestimmung sehr viel eher entspricht als die gegenwär­ tige Zwangslage. Es wäre bei der Errichtung des Schuldentilgungsfonds si­ cherzustellen, dass der den teilnehmenden Staaten einge­ räumte Auslagerungsrahmen so groß ist, dass ihnen eine stabilisierende Refinanzierung ihres Bankensektors möglich ist. Eine schönfärberische Darstellung der Situation der Ban­ ken oder die Rücksichtnahme auf politische Befindlichkeiten müsste dabei ausgeschlossen werden. Die missglückten, ­politisierten und irreführenden „Bankenstresstests“ der Ban­ kenaufsicht EBA 2010 und 2011 müssen als Warnsignale dienen. Nur wenn in der Bewertung der Situation der Ban­ ken schonungslose Offenheit und Ehrlichkeit gepflegt wird, lässt sich verhindern, dass ein Mitgliedstaat die bezeichnete Schuldenschwelle in absehbarer Zeit wieder überschritte. Ließen sich die Kosten der Sanierung des jeweiligen Ban­ kensystems in den Schuldentilgungsfonds einbringen, so wä­ re die zu errichtende Bankenunion nicht mit der Übertra­ gung von Haftungsrisiken für vergangene Fehlentwicklun­ gen befasst. Es wäre dann möglich, Aufsichtsstrukturen für einen Bankenbinnenmarkt zu errichten, der zukunftsgerich­ tet die notwendigen Instrumente enthält, um eine unsolide Geschäftspolitik zu unterbinden, die Haftung der Eigentü­ mer einer Bank durchzusetzen und über paneuropäische Si­ cherungsinstrumente eine Risikoauffangstruktur zu schaffen. Kontrolle und Haftung müssen hier in einen Wechselbezug gebracht werden. Eine solche Bankenunion würde die Haf­ tung für vergangene Lasten und Fehler nicht einschließen. Die Idee der Offenheit sollte auch bei der Restrukturie­ rung der EU – Stichwort: „politische Union“ – realisiert werden. Es muss zunächst und vor allem darum gehen, den Entscheidungsfindungsprozess aus seiner hermetischen Ab­ kapselung herauszulösen und seine Responsitivität zu erhö­ hen. Im Vordergrund sollte nicht das Anliegen stehen, die Begeisterung der Europäer für die EU zu erhöhen. Auch wenn diese Vorstellung immer wieder geäußert wird, geht es

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nicht darum, aus den Bürgern Europas bessere Europäer zu machen. Es geht vielmehr darum, Institutionen zu schaffen, mit denen sichergestellt wird, dass den Bürgern eine Beein­ flussung des Ablaufs, der Richtung und der Ergebnisse des politischen Prozesses in der EU möglich ist. Man muss hier natürlich vor überzogenen Erwartungen warnen: In einem Verband mit 500 Mio. Mitgliedern ist der individuelle Ein­ flussfaktor naturgemäß gering. Aber eine Verbesserung ge­ genüber der gegenwärtigen Lage ist ohne weiteres möglich. In die richtige Richtung geht dabei der Vorschlag, den Kommissionspräsidenten direkt zu wählen und so eine – si­ cherlich mit einem politisierenden Wahlkampf verbundene – Wahl des Chefs der Gubernative zu ermöglichen. Wichtig erscheint mir darüber hinaus, die große Koalition der Euro­ paparlamentarier, deren erstes Streben immer der Ausbau europäischer Zuständigkeiten ist, aufzulösen und auch dort einen Offenheit sichernden Wettbewerb herzustellen. Die Direktwahl der Abgeordneten würde den Wettbewerb stei­ gern und die Responsitivität erhöhen. Im übrigen wäre es selbst bei Beibehaltung des Verhältniswahlrechts denkbar, durch eine Modifikation des Wahlrechts die Anreize für den Wettbewerb zu erhöhen, etwa dadurch, dass die gewinnende Seite ein zusätzliches Kontingent von Abgeordneten be­ kommt – nicht alles in Griechenland ist, wie das dortige Wahlrecht belegt, reformbedürftig. Dieses System einer politisierten, grundsätzlich mit Mehr­ heit operierenden supranationalen „governance“ sollte in ­Bereichen zum Tragen kommen, in denen sich in den Mit­ gliedstaaten die Bereitschaft zur Unterwerfung unter die Mehrheitsauffassung herausgebildet hat. Dies ist etwa in Bin­ nenmarktfragen oder im Bereich der europäischen Außen­ wirtschaftspolitik der Fall. In Bereichen, in denen eine derar­ tige Majorisierung auch aufgeklärten Bürgerinnen und Bür­ gern noch nicht hinnehmbar erscheint, bedarf es einer ver­ stärkten Einbindung der nationalen Ebene. Dies gilt etwa für die Einführung und Verwaltung von Transfermechanismen, die deutlich über das bisher geringe Maß hinausgehen. In die­



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sen Bereichen lässt sich eine legitimationssichernde Konst­ ruktion ohne die Beteiligung der nationalen Parlamente kaum entwickeln. Die in Art. 12 EUV angesprochenen Beteili­ gungsrechte reichen hierfür aber nicht aus. Die Vorstellung, alle Bereiche europäischer Tätigkeit gleich zu behandeln, führt in der Praxis dazu, dass nirgendwo eine wirklich effek­ tive Einwirkungsmöglichkeit besteht. Meines Erachtens soll­ ten Bereiche identifiziert werden, in denen den nationalen Parlamenten echte Vetorechte eingeräumt werden (zu denken wäre an den Kulturbereich im engeren Sinn oder grundsätz­ liche und weiterreichende Verteilungsfragen). Die jetzige Si­ tuation erscheint mir jedenfalls gänzlich unbefriedigend. Der Übergang zu einem System klarer, aber begrenzter Mitent­ scheidungsrechte der nationalen ­Parlamente hätte zudem den Vorteil, dass auf die unwirksamen Versuche einer Steuerung der EU-Politik über das Prinzip der Subsidiarität verzichtet werden könnte. Das „governance“-System sollte in dem Sinn atmend sein, dass die getroffenen Strukturentscheidungen re­ gelmäßig überprüft werden – und zwar nicht nur mit dem Ziel oder der Option einer weitergehenden Zentralisierung, sondern auch mit der gegenläufigen Möglichkeit. Es ist zu bedauern, dass diese Selbstverständlichkeit selbst bei einem Entwicklungsstand, wie ihn der Lissabon-Vertrag inzwischen etabliert hat, noch nicht politisch akzeptiert ist. In diesem System einer politisierten politischen „gover­ nance“ können intergouvernementale, völkerrechtlich ver­ einbarte Verpflichtungen zeitweilig einen Platz haben, stel­ len aber ideell einen Fremdkörper dar. Die Existenz des Fiskalvertrags greift nicht nur tief in die Verfassungsauto­ nomie der Mitgliedstaaten ein, sondern stellt die Qualität des EU-Primärrechts als Grund- oder Verfassungsordnung in Frage. Wie sollen die Verträge einen grundlegenden und umfassenden Ordnungsanspruch erheben, wenn wesentliche Fragen an ihnen vorbei geregelt werden? Gewiss hat der Abschluss des Fiskalvertrags als Vereinbarung der Mitglied­ staaten untereinander (und nicht als supranational verord­ nete Pflicht) seinen Reiz und eine wichtige symbolische

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Funktion. Man sollte die Regelungstechnik nicht nur als aus der Not geborene zweitrangige Lösung begreifen. Wer sich den Regeln des Fiskalvertrags unterwirft, tut dies aus eigenem Antrieb. Die Inkrafttretensregelung stellt sicher, dass auch faktisch kein Zwang ausgeübt wird, sich der ver­ traglich festgelegten Disziplin zu unterwerfen. Man sollte die Symbolik, die in der Wahl eines Instruments der Selbst­ verpflichtung (an der Stelle der Begründung äußerer Bin­ dungen) liegt, nicht unterschätzen. Wer meint, sich der Marktdisziplin unterwerfen zu können, ohne die von einem derartigen Vertrag ausgehende Botschaft zu benötigen, soll­ te die Freiheit besitzen auszuscheiden. Es ist aus dieser Perspektive bedauerlich, dass die Vertragsparteien kein Kündigungsrecht vorgesehen haben; jedenfalls besteht ein solches nach allgemeinem Völkerrecht unter Beachtung ei­ ner angemessenen Kündigungsfrist. Allerdings muss klar sein, dass es in diesem Fall nicht zu einem bail-out kom­ men kann. Ohne die Einrichtung eines glaubhaften und ef­ fizienten Verfahrens der Staateninsolvenz wird sich diese Einsicht nicht durchsetzen lassen. Noch nicht für realisierungsreif halte ich zum gegenwär­ tigen Zeitpunkt die Vorstellung, ein durchkomponiertes par­ lamentarisches Regierungssystem auf EU-Ebene einzufüh­ ren, in dem das Europäische Parlament sich nach dem strik­ ten Grundsatz der Bürgergleichheit zusammensetzt und an die Stelle des Rats ein Senat tritt, in dem die Staaten gleich­ berechtigt nebeneinander wirken. Selbst wenn man Vetoposi­ tionen einführte, mit denen sichergestellt wird, dass weder die Kleinen die Großen noch die Großen die Kleinen struk­ turell majorisieren, entspräche ein solches Modell den Gege­ benheiten in einem weiterhin heterogenen und – wie die Erfahrungen der letzten Monate zeigen – entlang nationaler Trennlinien konstituierten Europa noch nicht. Man muss „der Zeit genügend Zeit lassen“, um ein romanisches Sprich­ wort aufzunehmen. Dies gilt umso mehr, als es Wege aus der Schuldenkrise gibt, die einen derartigen supranationalen Governance-Modus gerade nicht benötigen.



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Ein letzter Punkt erscheint mir von Bedeutung: Gegen­ wärtig ist viel davon die Rede, dass sich die Herausforde­ rungen der Finanzkrise nur im Wege eines Europas der zwei Geschwindigkeiten realisieren lassen. Damit sind nicht die Möglichkeiten des flexiblen Vorgehens gemeint, die der EU-Vertrag gegenwärtig schon vorsieht: Sie würden den Aufbau einer effektiven Wirtschaftsregierung unter einem ausgewählten Kreis von Mitgliedstaaten nicht tragen. Es be­ dürfte vielmehr einer Vertragsänderung, an der sich alle Mitgliedstaaten beteiligen, gegebenenfalls mit Opt-outKlauseln. Unter engen Voraussetzungen und mit erheb­ lichen rechtlichen Risiken wäre es auch denkbar, dass eine Gruppe von EU-Mitgliedern im Wege eines völkerrecht­ lichen Vertrags eine „politische Union“ gründete, die sich über das EU-Recht hinweglegte und eine weitergehende Integration vorsähe. Diese Gruppe könnte sich aus den Mitgliedern der Euro-Zone zusammensetzen. Diese Vorstel­ lung weckt inzwischen teilweise Optimismus und Auf­ bruchsstimmung. Man spricht von der Nähe großer Ent­ scheidungen und malt eine Union aus, deren Bürger den Weg der Integration „mit vollem Herzen“ weiter beschrei­ ten wollen. In einer Zeit, in der die EU gemeinhin als Ur­ sache – und nicht als Lösung – des Problems angesehen wird, sehe ich hier nur wenig Spielraum. Vor allem aber sollte man die Spannungen, die sich in diesem Fall in der EU ergäben, nicht unterschätzen. Es wäre naiv zu glauben, dass sich über die EU der 27 Staaten eine politische Union einer kleineren Gruppe stülpen ließe, ohne dass der Funk­ tionsmodus des Integrationsverbands Schaden erlitte. Dies gilt vor allem, wenn mit dem Vereinigten Königreich ein tragender – und mit seinem liberalen Ansatz auch unge­ mein wertvoller – Partner an den Rand gedrängt würde. Der geduldige Versuch, Lösungen zu erzielen, die von allen Mitgliedstaaten getragen werden können, wird sich auszah­ len. Was ist das Versprechen wert, das sich die Mitglied­ staaten durch den Abschluss des Lissabon-Vertrags gegeben haben (es soll sich um einen Schritt auf dem Weg zu einer „immer engeren Union der Völker Europas“ handeln),

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wenn man es aufgrund der sicherlich manchmal lästigen politischen Anschauungen eines Staats einfach aufkündigt? IV. Fazit Es geht, so darf ich zusammenfassend sagen, in der gegen­ wärtigen Krisensituation darum, Lösungsstrategien zu ent­ wickeln, mit denen sich das Vertrauen in die Tragfähigkeit und Entwicklungsfähigkeit der Euro-Staaten wieder herstel­ len lässt, die aber die Entscheidung über den weiteren Weg nicht grundsätzlich präjudizieren. Angst und Druck sind keine guten Entscheidungsratgeber. Erst recht sollte die im­ mer neu erhobene Forderung vieler Marktteilnehmer, die fahrlässig eingegangenen Risiken auf den Steuerzahler sol­ venter Staaten zu übertragen, zu Zurückhaltung und Vor­ sicht Anlass geben; das so wiederzugewinnende „Vertrauen“ erscheint nicht unbedingt erstrebenswert. Es gibt mit dem Modell des Schuldentilgungsfonds einen Lösungsansatz, der bei konsequenter Ausgestaltung eine Entlastung der betrof­ fenen Euro-Staaten bewirken könnte, ­ohne zu einer grund­ sätzlichen Verschiebung des moral hazard zu führen oder eine Supranationalisierung von Entscheidungsgewalt mit sich zu bringen. Dem Modell ist eine Offenheit eingeschrie­ ben, die unter Legitimationsgesichtspunkten wesentlich wer­ tiger ist als ein Eurobondsmodell oder die Vergemeinschaf­ tung der unteren 60 % der Staatsschulden (Modell der blau­ en und roten Schulden). Es bleibt ein „second-best“-Modell; das Beharren auf einer optimalen Lösung erscheint mir aber nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre wenig sinnvoll. Zugleich ermöglicht es dieses Modell, die Bewältigung der Krise und den längerfristigen Umbau der EU voneinander abzuschichten. Die Gefahr einer weiteren Delegitimierung der EU erscheint mir bei der Wahl dieses Modells ver­ gleichsweise gering. Demgegenüber könnte sich der Versuch, die Finanz- und Haushaltspolitik materiell zu supranationa­ lisieren und dabei auf die vage Hoffnung zu setzen, dass dies schon irgendwie akzeptiert würde, als hasardeurhaft



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und als dem demokratischen Anspruch unangemessen er­ weisen. Schon die apolitische Verwaltung einer Währungs­ union ist missglückt. Wer wollte die Hoffnung haben, dass eine sehr viel politischere Gestaltung der Wirtschafts-, Fis­ kal- und Haushaltspolitik in den Mitgliedstaaten in einer Weise glücken könnte, die nicht zu Ohnmachtsgefühlen der Bürger führt? Wenn der Begriff „politische Union“ wirklich ernst gemeint ist, dann geht es nicht nur um die apolitischmechanische Kontrolle von Stabilitätsvorgaben (wenn so et­ was überhaupt möglich ist), sondern um politische Gestal­ tung auf den Feldern der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeits­ marktpolitik. Ich sehe gegenwärtig nicht, wie die EU kurz­ fristig die Legitimität gewinnen könnte, die hier notwendigen Richtungs- und Verteilungsentscheidungen (notwendig: Ma­ jorität) zu treffen. Inzwischen hört man häufig, dass sich die Europäische Union an das historische Beispiel der damals noch nicht ver­ einigten Staaten Nordamerikas nach dem Bürgerkrieg anleh­ nen sollte und die Schuldenkrise zu einem großen „deal“ nutzen sollte – ein „deal“, der darauf hinausläuft, die Schul­ den zu vergemeinschaften und dafür die Zuständigkeit für die Wirtschafts-, Fiskal- und Haushaltspolitik auf überstaat­ liche Ebene zu überführen. Die damaligen Gegebenheiten unterschieden sich allerdings so wesentlich von der heutigen Lage, dass man an der Adäquanz dieses Vergleichs zweifeln muss. Die damaligen Schulden waren im – gemeinsamen – Kampf um die Unabhängigkeit aufgehäuft worden. Zudem waren die Kolonien keine entwickelten und in ihrer jeweili­ gen Eigenart gereiften Nationalstaaten, sondern rudimentäre Gebilde, denen die Übertragung der in Rede stehenden Ho­ heitsrechte wenig Schwierigkeiten bereitete. Schließlich ging es auch nicht um Transferleistungen in einem Umfang, wie es angesichts der derzeitigen Staatsquote in entwickelten So­ zialstaaten heute erforderlich sein wird. Die historische Analogie trägt daher nicht. Man sollte keinen Entwicklungs­ pfad beschreiten, der die demokratischen Defizite, die eh schon bestehen, noch verschärfen wird.

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Gewiss ist ein Kampf gegen die Legitimationsschwäche der EU notwendig. Er sollte aber in mit einem anderen Zeithorizont und ohne Verknüpfung mit der gegenwärtigen Krise geführt werden. Eine Politisierung der EU ist erfor­ derlich, sollte aber angesichts der bestehenden Heterogenität und Interessenunterschiede nicht vorrangig auf dem Feld der Fiskal- und Haushaltspolitik oder der Finanztransfers erfolgen. Man wird eine „governance“-Krise nicht dadurch lösen, dass man die Macht einer in weiten Bevölkerungskrei­ sen misstrauisch beäugten Institution in Bereichen stärkt, in denen dies Misstrauen weckt. Als politische Union sollte sich die EU erst einmal auf Feldern beweisen, auf denen die grundsätzliche Bereitschaft der mitgliedstaatlichen Bevölke­ rungen besteht, sich majorisieren zu lassen15. Bewegt sich ihre Politik in diesem Korridor, dann wird auch von Seiten des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts kein Widerstand erfolgen. Der Drohung mit einer Volksabstimmung, strate­ gisch eingesetzt, um eine bestimmten Entwicklung zu unter­ binden16, bedürfte es dann nicht17.

15  Zur Chance, in der Krise zu wachsen: Wieland, Die Zukunft Europas. Krise als Chance, JZ 2012, S. 213. 16  Kahl / Glaser, Nicht ohne uns, FAZ v. 8.3.2012. Anders Kube, Rechtsfragen der völkervertraglichen Euro-Rettung, WM 66 (2012), S. 245. 17  Zur Diskussion um die Notwendigkeit einer Volksabstim­ mung Voßkuhle, Noch mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu, FAS v. 25.09.2011, S. 36 f.; Huber, Keine europäische Wirt­ schaftsregierung ohne Änderung des Grundgesetzes, SZ v. 19.09. 2011, S. 6; Dreier, Ein neues Deutschland, Die Zeit v. 20.10.2011, S. 15; Pöttering, Wie geht es weiter mit Europa?, FAZ v. 17.2.2012, S. 8; Nettesheim, Wo endet das Grundgesetz?, Der Staat, 2012, Heft 3 (im Erscheinen).

George über Grenzen Von Wolfgang Graf Vitzthum „Die gesetze des geistigen und des politischen“ In politicis war der Dichter Stefan George (1868–1933) uneindeutig: keine klare Zielbestimmung, kein anschlussfä­ higes Engagement, vielmehr wuchtige Unbestimmtheit, Dis­ tanznahme. In der Stunde der Wahrheit, am 10. Mai 1933, grenzt George, trotz sonstiger Mehrdeutigkeit1, „das geisti­ ge“ dann scharf vom „politischen“ ab: „Die gesetze des geis­ tigen“ auf der einen Seite und die „des politischen“ auf der anderen seien „gewiss sehr verschieden“, lässt er durch sei­ nen jüdischen Freund Ernst Morwitz, den die Nationalsozi­ alisten zwei Jahre später aus dem Richteramt vertrieben, dem NS-Kultusminister übermitteln; „wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut“, das sei „ein 1  In Georges Antwort heißt es im Übrigen: „Dass diese aka­ demie jezt unter nationalem zeichen steht ist nur zu begrüssen und kann vielleicht später zu günstigen ergebnissen führen – ich habe seit fast einem halben jahrhundert deutsche dichtung und deut­ schen geist verwaltet ohne akademie, ja hätte es eine gegeben wahr­ scheinlich gegen sie (…). die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige mitwirkung nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte habe ich getan, die jugend die sich heut um mich schart ist mit mir gleicher meinung“. Vollständiges Zitat in Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, 2007, S. 621 ff. Zu Par­ allelen und Unvereinbarkeiten zwischen dem Nationalsozialismus und George von Kahler, Stefan George. Größe und Tragik, 1964, S. 24 ff. Stärker differenzierend Groppe, Widerstand oder Anpas­ sung? Der George-Kreis und das Entscheidungsjahr 1933, in: Rüther (Hg.), Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalso­ zialismus und DDR-Sozialismus, 1997, S. 59 ff.

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äusserst verwickelter vorgang.“ Unmittelbar nach Kriegsen­ de hatte George bereits den stürmischen Ex-Hauptmann Walter Elze vor dem Eintritt in eine politische Vita activa gewarnt: „Nur Dummköpfe, Hochstapler und Betrüger ge­ hen jetzt in die Politik“2. „Herabsteigen“ des „geistes“ in die Niederungen des „allge­ meingutes“ – das von diesem Meister der Sprache gewählte Bild signalisiert zugleich Verwunderung darüber, dass das Na­ zi-Regime in ihm einen Geistesverwandten glaubte sehen zu können. Minister Rust hatte George, das war der Hintergrund jenes „Staatsbriefes“ des Dichters, die Ehrenpräsidentschaft der bereits „gleichgeschalteten“ Preußischen Dichterakademie sowie einen namhaften Ehrensold angetragen. Im Horizont einer poetischen Zwei-Reiche-Lehre – hier Kunst, Dichtung, hoher „Geist“, dort niedrige „Politik“, „Allgemeingut“, jedes Reich mit je eigenen „Gesetzen“ – weist George das braune Danaergeschenk zurück: keine Koopera­tion zwischen Litera­ tur und Leviathan, keine Korrumpierung. Stattdessen mar­ kiert er, jedes aktive Bekenntnis zum Regime verweigernd, eine Grenze: zwischen „Geist“ und „Politik“. Neben dieser ersten Grenzziehung beschäftigen uns nach­ folgend drei weitere, eine davon ein großes Missverständnis. Den Abschluss bildet die Lektüre eines Gedichtes über das Auflösen einer für George manifesten Grenze: der zwischen 2  So Elze im Gespräch mit dem Verfasser Mitte der 1960er Jah­ re in Freiburg i. Br. Zu Elze Graf Vitzthum, Preusse im GeorgeKreis: Walter Elze, in: Caspari (Hg.), Festschrift für Bertram Sche­ fold, 2008, S. 331 ff. Vgl. auch Friedrich Wolters’ Brief an George vom 9.11.1920 (in: Philipp [Hg.], Stefan George und Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930, 1998, S. 157 ff): „Elze geht heute für dauernd nach München. Ich folge seiner bahn mit vieler sorge, weniger um seine person besorgt als um den bezirk seines tuns. Dass einer es wagt vom dichterischen zentrum aus handelnd ins Staatliche draussen zu fassen erscheint mir als ein unbekanntes noch von niemandem der freunde erprobtes wagnis. Und doch er­ scheint es für ihn und in ihm das gegebene – eine notwendigkeit in der ich wohl wünschte dass er sich so bewähren könnte, um vor den Göttern zu bestehen.“



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den erlesenen Wenigen und den „frevelhaft“ Vielen. Ähn­ lichkeiten zwischen künstlerisch-geistigen und politisch-ge­ sellschaftlichen Vorstellungen scheinen auf. George ist in seiner poetischen Kraft3 und seinen spezifischen Grenzmar­ kierungen anzuerkennen, ebenso in seinen Grenzen. Wo er innovativ ist, und wo er Grenzen zieht oder aufhebt, da ist er weiterhin wesentlich. „Jede Staatsform ist so viel oder so wenig wert wie die Menschen die sie tragen“ Am 4. Dezember des annus horribilis stirbt George, au­ ßerhalb der Grenzen Nazi-Deutschlands, im Kreise der an sein Krankenlager geeilten Freunde. Sie, seine Vertrauten, jeder Einzelne, dieser Zirkel ausgewählter, geistiger Men­ schen, der Ritus gemeinsamer Dichterlesungen – das ist dem Dichter bis zuletzt wichtiger als alles „politische“. Der gro­ ße Streit über Republik und Monarchie etwa, hatte sich George im Weltkrieg gegenüber der Philosophin Edith Landmann, einer eigenständigen Denkerin, geäußert, träfe „die Sache nicht. Es geht irgendwo nebenher. Der König von Italien regiert sein Land genau so wie der Präsident von Frankreich das seine“4: „Jede Staatsform ist so viel oder so 3  Den Gedicht-Zitaten Georges, jeweils Band und Seitenzahl, liegt die Gesamtausgabe der Werke, Endgültige Fassung, 18 in 15 Bänden, Berlin 1917–1934 zugrunde. Die kommentierte Neuausga­ be „Sämtliche Werke in 18 Bänden“ (jeweils mit Editionsberichten) durch die Stefan George Stiftung (Stuttgart 1982 ff.) wird 2013 ab­ geschlossen sein. – Das aktuelle Interesse an Georges Biographie und seinem Kreis hat nicht zur Folge, dass seine Gedichte wieder gelesen werden. Sie sind weiterhin kaum präsent. Dichtung ist überhaupt ferngerückt, selbst Hölderlin. 4  Landmann, Gespräche mit Stefan George, 1963, S. 34. Nach­ folgend werden aus der Fülle der Memoiren- und Sekundärliteratur vor allem diese „Gespräche“, also die jeweiligen Äußerungen Georges – als wörtliches Zitat im Indikativ, sonst im Konjunktiv –, ausgewertet. Die Jahreszahlen bezeichnen den Zeitpunkt des jewei­ ligen Gesprächs. Die „Gespräche“ enthalten Zugespitztes, Wider­ sprüchliches: „Nur die Menschen nicht aufklären“, meint George

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wenig wert wie die Menschen die sie tragen“5. Der Dichter differenziert nicht zwischen den Staats- und Regierungsfor­ men, geschweige denn den jeweiligen Gegenständen und Normen. Er zieht vielmehr eine zweite Grenze: zwischen den konkreten Menschen auf der einen Seite und den staat­ lich-gesellschaftlichen Systemen auf der anderen. George baut auf Personen, nicht auf Institutionen. Hinsichtlich ei­ nes traditionellen Schlüsselproblems der Politik, der Verhin­ derung von Willkür und Machtmissbrauch – auch George bedarf der Freiheit der Kunst –, vertraut er nicht auf Ver­ fahren und Verfassungen, sondern auf „gute“ Herrscher und „weise“ Räte. Notfalls hätte er sich wohl auch mit der per­ sönlichen Autorität von Experten oder berufsständischen Repräsentanten begnügt. In der Antike wurden die beiden Ansätze, der institutio­ nalistische und der personalistische, gleichgewichtig vertre­ ten, im Mittelalter überwog der Personalismus mit seinem optimistischen Menschenbild, in der Neuzeit der Institutio­ im September 1916, „lieber Verwirrung stiften“ (ebd., S. 53). Im Spätwinter 1929 dann: „Alle Wahrheit muss zweideutig sein. Wenn sie nur auf eine Weise verstanden werden kann, ist’s bald mit ihr fertig. Wenn sie verschiedene Deutungen zulässt, wirkt sie länger“ (ebd., S. 198). „Dunkelheiten, das Infinitive, ist schöpferisch, das völlig klare ist tot“ (ebd., S. 76). George verfasst eben Gedichte, nicht Leitartikel. 5  Politik werde bestimmt „durch die Menschen, die sie ma­ chen“, nicht durch die Geographie (ebd., S. 110). Von weiteren Grenzen ist die Rede. Das 19. Jahrhundert habe „die Kraft im An­ sturm gegen Grenzen vergeude(t), statt innerhalb der Grenzen zu wirken“ (ebd., S. 69). Wolfskehl „wusste immer die Grenze (…). Erst muss man wissen, was nicht geht, und dann erst noch, was geht“ (ebd., S. 136). Vgl. auch Schlayer, in: Bozza / Oelmann (Hg.), Minusio. Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges, 2010. Von Politik ist in dieser Chronik selten die Rede. Um das Schicksal seines Landes, als es diesem so ungeheuer schlecht ging, hat sich George wenig gekümmert. Aber hat er damit in der gro­ ßen Menschenprobe des vergangenen Jahrhunderts wirklich ver­ sagt? Offenbar hat auch er, anders als seine Vertrauten Karl Wolfs­ kehl und Robert Boehringer, die Gefährlichkeit der Lage, insbe­ sondere für die Juden, verkannt.



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nalismus, das Vertrauen auf die Qualität der politischen In­ stitutionen6. Der Umschlag zum institutionellen Ansatz bahnte letztlich den Weg zum freiheitlichen Verfassungs­ staat. Er erfolgte in der italienischen Renaissance. Sie „nähr­ te sich, da die Kirche als geistiges Zentrum nicht mehr aus­ reichte, aus Natur, Antike und dem grossen Kanon Dante“7. Ein stolzes Selbstwertgefühl des Menschen erwachte. Alle Phänomene der Realität galt es zu erfassen. Kunst und Po­ litik erfuhren neue Entwicklungen. Mit der geistigen Grund­ lage dieses Wandels – einem diesseitsaktiven, milden Huma­ nismus –, mit den antiken Kunstformen und ihrer Wieder­ geburt, vor allem mit den Dichtern und den autoritären Herrschergestalten der Epoche ist George vertraut. Der virtù della forma, Leitbegriff der Florentiner Renaissance, kor­ respondiert sein Wille zur Form, zum Formen, zum Gestal­ ten. „Alles geistig Gute in Deutschland ist seit der Renais­ sance an der Antike geschult“8. Wie die Denker des Mittelalters setzt George auf „richti­ ge“ Könige, „legitime“ Fürsten und „glanzvolle Gestalten wie die Staufer“9, auf den weitsichtigen principe, den uomo virtuoso. Funktionellen Ordnungen, missbrauchsverhindern­ den Einrichtungen, checks and balances traut er weniger zu als jenen innerweltlichen Rettern und geistig-politischen Eli­ 6  Riklin, Politische Ethik, 1987, S. 12  ff., 36 f. (die beiden An­ sätze kämen ohne einander nicht aus). 7  Landmann (Fn. 4), S. 102. – Aus Humanismus, Renaissance und Aufklärung entstand auch eine forcierte Form des Individua­ lismus, mit der Europa im 19. Jahrhundert die Welt bekehren woll­ te. Heute trifft uns dafür der Widerstand vor allem aus dem Osten, der schon dreitausend Jahre vor uns das Ich zu überwinden lehrte. Insgesamt handelt es sich um komplexe Fragen. Forsthoff (Der to­ tale Staat, 1933) etwa postulierte den Vorrang der (Volks-)Gemein­ schaft vor den Einzel- und Gruppeninteressen, die völlige Abkehr also vom bisherigen Individualismus und Liberalismus zu Gunsten von Kollektivismus und Führertum. 8  Landmann (Fn. 4), S. 60. 9  Ebd., S. 130. Georges geistiges „Reich“ glich eher dem mit­ telalterlichen Reich deutscher Nation als dem zeitgenössischen von Westminster.

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ten. Georges an Antike und Ästhetik orientierte Schlussfol­ gerung im Sommer 1916 grenzt die republikanisch-demo­ kratische Alternative und letztlich auch den institutionellen Ansatz insgesamt aus: „die Monarchie (ist) die richtige Staatsform“10: Es sei „Sicherheitskrämerei, die Idee der ­Monarchie abzulehnen aus Furcht, man werde den richtigen Monarchen nicht finden.“ „Wie viel logischer und natür­ licher“ sei es doch, spinnt George den willkürgefährdeten personalistischen, aus der Zeit gefallenen Fürsten-Faden am Beispiel eines „Neu-Burgund“ weiter, „wenn ein Staat ge­ gründet wird, weil ein Herzog da ist, der ein Volk erwählt, als wenn ein Volk da ist, das einen Herzog wählt“11. „alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend“ Georges Akademie-Absage im Mai 1933 entsprach seiner frühen Abgrenzung der künstlerischen von der staatlichgesellschaftlichen Sphäre. 1892 eröffnet er, 24-jährig, die „Blätter für die Kunst“ mit einer Exklusion: „alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend“, fernab von „weltverbes­ serungen und allbeglückungsträumen“ – „Sozialismus“ sei ohnehin „irregeleitete Dichtung“12. Provozierend positio­ niert der Dichter sein Organ der europäischen literarischen Moderne in größter Distanz zu den Diskursen über Droits de l’homme und pursuit of happiness. „Die Menschheit ist nicht für Rosen und Watte gemacht“, bemerkt er im Som­ mer 191913, „aber die moderne Welt will nur das Glück aller 10  Ebd., S. 44. Vgl. aber ebd., S. 65: „Ein Volk, das zu politi­ scher Reife kommen will, muss erst einmal seinen König köpfen.“ Für George gab es eben „keine Wahrheit für immer und überall“ (ebd., S. 150). 11  Ebd., S. 58. Georges Staatsbild trug damit Züge des Mittelal­ ters, nicht der Moderne. Er polemisierte gegen die Demokratie, auf verlorenem Posten; was an ihre Stelle treten sollte, blieb „schöpfe­ risch“ dunkel (Fn. 4). 12  Ebd., S. 36. Die Philosophen seien „verkappte Dichter. Die erste Philosophie war noch Dichtung“ (ebd., S. 43). 13  Ebd., S. 84.



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und sieht nicht, dass die Realitäten mit dieser Miniaturidee nicht vereinbar sind.“ Bekräftigend zitiert er Mallarmé: l’humanité ne peut se passer d’un Eden. 1933 (keine Koop­ tation durch die Nazis) und 1892 (Exklusion aller Nicht­ kunst) – Ende wie Anfang dieses Dichterlebens stehen für eine untypisch14 scharfe Grenzziehung zwischen dem „geis­ tig-künstlerischen“ und dem „politisch-gesellschaftlichen“ Bezirk. Beim Auffinden weiterer Grenzgänge Georges helfen die Quellen. Sie bestehen neben seinen Gedichten und Gesten aus seinen brieflichen und mündlichen Äußerungen sowie aus den Aufzeichnungen und Taten seiner Freunde. Das Werk Georges, die authentischste Quelle, die freilich nicht überanstrengt werden darf, birgt Relevantes. Herrschaft, Macht, Staat, Stadt, Bund und Reich, Führen, Freiheit, Gleichheit, Volk und Menge sind auch Georges Begriffe15. 14  Klassik, Frühromantik und Vormärz in Deutschland, von der französischen und englischen Romantik, von Byron und Victor Hugo (nicht zu vergessen: Benn, Brecht, Broch, Thomas Mann, Böll, Grass) ganz zu schweigen, trennten die Sphären weniger scharf. Georges Geist-Politik-Grenze wurde immer durchlässiger, vgl. Vallentin, Gespräche mit Stefan George 1902–1931, 1961, S. 47 f.: „4. Januar 1920, Berlin. Der Meister nachmittags bei uns mit Wolters; über den Plan des neuen Jahrbuches (es ist nie er­ schienen) gesprochen. Der Meister will eine neue Einleitung, das Politische angehend, haben und äusserte sich dahin: ein Jahrbuch habe nur dann einen Sinn, wenn es von einer bestimmten geistigen Stellung ausgehe. Dies sei diesmal eine das Politische berührende. Um die Politik komme man diesmal nicht herum (…). (Früher habe die Politik das Geistige) unangetastet gelassen, jetzt drücke sie uns so auf dem Leben, dass wir uns einer Stellungnahme dazu nicht entziehen könnten. Im übrigen wäre früher auch die politi­ sche Macht der Regierenden so gross gewesen, dass man nichts gegen sie hätte ausrichten können. Heute sei dies nicht der Fall. Es könnte sein, dass unsere Kräfte ausreichten, um irgendwie aktiv zu werden, und dass in einem neu gegebenen Augenblick dies nötig und sehr aussichtsreich werde.“ 15  Hilfreich Bock, Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges, 1964. – Zur Bedeutung der Sprache Landmann (Fn. 4, S. 87): „Die Seele eines Volkes, das ist seine Sprache.“ Dichtung sei „nicht Erlebnisausdruck, sondern Spracherlebnis“ (daher der Ak­

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Herrscher und Beherrschte, „verbriefte ordnung“, Gesetz, Tat, Kult, Wunder, Verwandlung und Schönheit sind Ele­ mente seines dichterischen Kosmos. Ein bekanntes Beispiel ist der spätrömische Kind- und Dekadenzkaiser Helioga­ balus (Elagabalus), die unterweltliche Zentralgestalt „jenseits von Gut und Böse“16 des 1891 entstandenen „Algabal“Zyklus. „Leo XIII“, veröffentlicht 1907, ist ein anderes Bei­ spiel. Die Erscheinung des Papstes verzaubert die gesichts­ lose „menge“; kurzzeitig „verschmelzen“ die Wenigen („wir“) mit den „schön“ gewordenen Vielen. „Das geistige Reich“ Seit dem Band „Der Siebente Ring“ (1907), aus dem das Papst-Gedicht stammt, zielen Georges Intentionen aus­ drücklich über den „rein ästhetischen“ Bereich hinaus17. Die beiden vorstehend referierten Grenzen – die zwischen „Geist“ und „Politik“ sowie die zwischen Menschen und zent auf dem Werk, auf der Sprache, nicht auf der Entstehungsge­ schichte, gar der Biographie). 16  Landmann (Fn. 4, S. 100). „Caligula und Heliogabal sind mir hundertmal lieber als Wilhelm der Zweite und der Kronprinz“ (ebd., S.  115 f.). 17  Vgl. Braungart / Oelmann / Böschenstein (Hg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem „Siebenten Ring“, 2001, S. IX. – Im Frühjahr 1920 antwortet George auf die Frage, was jetzt zu tun sei: „auf alle Fälle national wirken und sachlich“, Landmann (Fn. 4, S. 109). „Die paar deutschen Ideen, davon lebt die Welt, sogar So­ zialismus und aller Schund“ (ebd., S. 172). Dass „einer sein Land liebt“, meint er ebenfalls 1927, sei „Ausdruck der natürlichsten Empfindung“ (ebd., S.  176). Die Idee von einem „Geheimen Deutschland“ (IX – 59) evoziert demgegenüber Fragwürdiges (wie die einer „erwählten Nation“). Sie verbindet mit Deutschland irre­ ale Hoffnungen. Vgl. aber Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, 2006; Pieger / Schefold (Hg.), Stefan George. Dichtung Ethos Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland, Berlin 2010; Kraus, Das Geheime Deutschland. Zur Geschichte und Bedeutung einer Idee, in: Histo­ rische Zeitschrift 291 (2010), S. 385 ff.; Fricker, Stefan George: Ge­ dichte für Dich, 2011, S. 300 ff.



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Institutionen – werden überschritten. Ästhetisch-politische Zusammenhänge gewinnen an Deutlichkeit. Georges nun expliziter Zeit- und Kulturkritik dienen auch die program­ matischen, kämpferischen „Jahrbücher für die geistige Be­ wegung“ (1910–1912), herausgegeben von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters. Für Wolters, wie auch für George, ist „Dichten ein Herrschen“18. Hinwendung zur Heimat, zu Deutschland (ohne politische Machtphantasien), und Ver­ herrlichung „seiner“ Jugend bestimmen den „Stern des Bun­ des“ (1914). Der Macht des Geistes und der Schönheit ist sich der Dichter nun sicher, ebenso der Höhe seines Amtes und des Ziels seines „staates“: „Aus einem staubkorn stell­ test du den staat / Gingst wie geführt und wusstest dich erkoren / … / Bestimmtest währung sprache und ge­ setz / Nach dem verrichte (…) zogst gelassen fort in weitre welten“ (VIII – 23). Anders als der kongeniale Hofmannsthal, der, sprachskep­ tisch, Dichtern eine „gesetzgeberische“ Rolle absprach, stellt George den „Zuständen“ der Zeit sein „reich des Geistes“ (VIII – 83) entgegen. Zentral ist die Distanz19 zu „klippen dreisten dünkels / Wie seichtem sumpf erlogner brüderei“ (IX – 39). „Goethes lezte Nacht in Italien“, „Hyperion“, „An die Kinder des Meeres“, „Der Krieg“, „Der Dichter in Zeiten der Wirren“, „Einem jungen Führer im Ersten Welt­ krieg“, „Burg Falkenstein“, „Geheimes Deutschland“ – die­ se ersten Gedichte aus Georges letztem Werk (IX) interes­ sieren die Wissenschaft momentan am meisten. Der Akzent liegt dabei auf der Wirkung, weniger auf dem Werk20. 18  Landmann (Fn.  4), S. 45 (das sei der Hauptgedanke von Wolters „Herrschaft und Dienst“, 1909). „Essays sind Waffen. So haben auch die Jahrbücher gewirkt“ (ebd., S. 182). 19  Sokrates und Platon, so George, „wollten den Grund legen für neues Leben“, für „die geistige Schönheit“ (ebd., S. 101). 20  Osterkamp, Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, 2010, leistet demgegenüber eine werkzentrierte Neulektüre: Die biographischen Auflösungen führten „an der poetischen Qua­ lität und damit auch am Sinn der Gedichte Georges vorbei“ (S. 291). Werknah auch Fricker (Fn. 17). Einen kultur- und wir­

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Das „Neue Reich“ (1928) spiegelt auch Georges überpo­ litisches geistiges Reich wider. Ein politischer Europa-Be­ griff fehlt ebenso wie die Rolle des Staates als Hüter des Rechts. Egalitäre Volksherrschaft ist nicht die Grundform dieses Staates. Ihm fehlen ohnehin, staats- und völkerrecht­ lich betrachtet, die unerlässlichen Staatselemente. Nicht all­ gemeine, gleiche Wahlen legitimieren Georges „staat“ im Staate, nicht Wahlrechtsgleichheit als Sicherung der von der Demokratie vorausgesetzten Rechtsgleichheit der Bürger, sondern, Max Weber21 bringt es auf den Begriff, das Charis­ ma des Dichters. Während Weber 1917 für das Eingliedern der „Masse der Staatsbürger als Mitherren des Staates“ wirbt, bleibt für George die Masse „ein Ausschlag, den man sich angekratzt hat“: „die Majorität ist überhaupt der Wil­ lensbildung nicht fähig“22. George ist nicht demokratisch gesonnen, sein geistiger „staat“ nicht demokratisch gefügt. Die vaterländisch begeisterten Brüder Stauffenberg sto­ ßen im Frühjahr 1923, dem Weimarer Schicksalsjahr, zu George. Der spätere Hitler-Attentäter ist fünfzehn Jahre alt, also gerade in der Phase der jugendlichen Identitätsbil­ dung. Die erzieherische Autorität des Dichters, ausgehend von seinem Geist und seiner lebendigen Ausstrahlung, ist auf dem Höhepunkt. Sie verblasst auch die nächsten Jahre nicht. Die NS-Revolution spaltet den Kreis um den Dich­ ter: von den überwiegend jüdischen Gegnern und Opfern des Regimes grenzen sich die Freunde ab, die dem Natio­ nalsozialismus zunächst abwartend begegnen. Die lebens­ lange Verbundenheit von Claus und Berthold von Stauffen­ berg mit dem Dichter – auch mit seinem emphatischen Tatkungsgeschichtlich reichen Ansatz wählt Raulff, Kreis ohne Meis­ ter. Stefan Georges Nachleben, 2009. 21  Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden So­ ziologie, 5., rev. Aufl. 1985, S. 124, 140 ff. Vgl. auch Karlauf (Fn. 1), S.  410 ff. 22  Landmann (Fn. 4), S. 44. Auf seinem (Paläo-)Personalismus beharrend fährt er fort: „Dass die empirische Persönlichkeit eines Herrschers meist dem Ideal und den Forderungen, die an sie ge­ stellt sind, nicht entspricht, sagt nichts gegen das Prinzip.“



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und Täter-Begriff – beeinflusst die seit Sommer 1942 ge­ plante Erhebung. Georges „reich des Geistes“23 ist ein Movens hinter dem späten Versuch, die Grenze zum tota­ litären „Reich des Ungeistes“ unumkehrbar zu markieren und eine rechtsstaatliche Republik zu errichten24. Diese vom Dichter am 30. Mai 1933, obwohl bereits durch Krankheit geschwächt, kartierte – dritte – Grenze wird von den tathaften Brüdern Stauffenberg am 20. Juli 1944 mit letzter, tödlicher Konsequenz verteidigt. Die beiden Reiche, das des Dichters und das der Nazis, waren, trotz manch verkürzter Perzeption25, inkompatibel. Dies verdeutlicht auch die barbarische Bücherverbrennung in den meisten deutschen Universitätsstädten. Sie fand, eine symbolträchtige Koinzidenz, exakt an jenem 10. Mai 1933 statt, am Abend. Da hatte sich George seiner knappen, selbst­ gewissen Absage an das Regime bereits entäußert. Von einer entschiedenen frühen Gegnerschaft gegen den Nationalsozia­ lismus kann bei dem Dichter freilich nicht die Rede sein. Sei­ ne Autorität im Politischen ist geringer als im Poetischen. Hier, in seinem ureigenen Bezirk, machte George große 23  Freilich sagt George im Spätwinter 1928: „Man muss nicht zu viel wollen. Das geistige Reich ist etwas Schönes schon für sich“ (ebd., S. 186). 24  Vgl. Graf Vitzthum, „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?“ Die Brüder Stauffenberg und der Dichter Stefan George, Berlin (Gedenkstätte Deutscher Widerstand) 2010. Im Sommer 1919 meint George, es „bedürfe der Tat, aber für die Tat gehört eine glückliche Blindheit. Sie ist eine eigene Wesenheit. Vielleicht müsse der Dichter da einen Mittelsmann haben. Sie ist nicht Sache des Dichters“, Landmann (Fn. 4), S. 88. Claus von Stauffenbergs Witwe sagte, ein heldenhaftes Leben zu führen sei ihrem Mann ein tiefes Bedürfnis gewesen. George, der nie Soldat war, dachte an an­ tike Vorbilder. Hierin war er Hölderlin nahe, der in „An Eduard“ selber von einem Heldentod träumte. 25  „Über das Politisch-Aktuelle sagte er mir in Berlin“ im Jahr 1932, so Landmann (Fn. 4, S. 209), „es sei doch immerhin das ers­ te Mal, dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von aussen wiederklängen. Und als ich auf die Brutalität der Form hinwies: Im Politischen gingen halt die Dinge anders.“

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Dichtung sichtbar – Baudelaire, Mallarmé, Jean Paul, Goethe, Shakespeare, Dante – und gab notwendige Maßstäbe. „schon eure zahl ist frevel“ Der einzelne geschichtsmächtige Akteur – der opferberei­ te Held, der Heros – und die geisterfüllte „kleine schar“ sind Georges antihistoristische Gegenbilder zu seinem Be­ fund: „Erkrankte welten fiebern sich zu ende / In dem ge­ tob“ (IX – 30). Der Dichter sieht staatlich-gesellschaftliche Institutionen implodieren. Zur Menge hält er Abstand: „Schon eure zahl ist frevel“ (VI / VII – 31). Die Mächte des Rationalismus, der Technik, des „Amerikanismus“ und des „blossen Geldinteresses“ sieht er im Vordringen. Er betont Ehrfurcht vor den Großen, Führung der Vorragenden, Herr­ schaft und Dienst26. Vom Gleichheitspostulat, der Grundla­ ge der Demokratie, ist das weit entfernt, ebenso von Legiti­ mation durch Input und Responsitivität. Zudem benötigt auch die Demokratie Führung, Hierarchie, Entscheidung, also gemeinwohldienliches Regieren, Legitimation durch Leistung27. Anders als der nach dem Ersten Weltkrieg zur „Deut­ schen Republik“ bekehrte und später dann, im Goethe-Jahr 1949, über „Goethe und die Demokratie“ referierende Tho­ mas Mann (der nachlässig verhüllte Tenor seines Vortrags 26  „Dienen ist ein Weltgesetz“, sagt George im Spätwinter 1928 (ebd., S. 184). „Wer Herr ist, kann auch dienen. Die weder dienen noch herrschen können, sind Bürger.“ 27  Zu den input- und output-orientierten Legitimationspers­ pektiven der Demokratie Scharf, Demokratietheorie zwischen Uto­ pie und Anpassung, 1970; ders., Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch?, 1999; Oppermann, Classen, Nettesheim, Europa­ recht. Ein Studienbuch, 5. Aufl. 2011, S. 243 ff., 249 ff. (Nettes­ heim). – Neben förderlichen Institutionen, Normen und Repräsen­ tanten, neben Legitimation durch Partizipation und Leistung setzt die Demokratie politische Vernunft bei den Wählern voraus. Wo diese, wie gegen Ende der Weimarer Republik, fehlt, kann die De­ mokratie nicht helfen.



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lautete: Goethe war kein Demokrat) – anders also als „der Zauberer“ hätte sich George für frühzeitige Bürgerbeteili­ gung gewiss nicht interessiert. Im Frühjahr 1920 spricht er davon, dass seine Freunde „gegen die Demokratie seien und für ein Führertum“28. Dabei sind Demokratie und Führung – ein unausrottbares Vorurteil – keineswegs Gegensätze. Ge­ meinwohlorientierung und Handlungsfähigkeit sind durch­ aus kompatibel. Einen Beleg dafür haben die Georgeaner vor Augen: die Eidgenossenschaft (von der erfolgreichen amerikanischen Präsidialdemokratie wissen sie demgegen­ über wenig). In der Schweiz, in der sich die Demokratie seit ihrer Gründung 1848 recht gut bewährt hat, führt George die meisten seiner Gespräche mit Edith Landmann. In dieses Land reist er gerne, auch am 1. Oktober 1931, in das Bau­ erndorf Minusio bei Locarno. Er verlässt es nur noch für wenige Monate, bevor er dort Ende 1933 stirbt. Der leib- und lebensbejahende Mensch, die geistige Ge­ stalt, die individuelle Anmut sind Georges Maß, nicht die Staats- und Regierungsformen, nicht die allgemeine Beglü­ ckung, nicht die Lehren von Freiheit, Gleichheit, Brüder­ lichkeit (er verwendet den bösen Begriff der „brüderei“): „Was dient, sei es auch mehr als frommer wahn, / Gleich­ heit von allen und ihr breitstes glück! / Wenn uns die anmut stirbt“ (IX – 108). Überdeutlich markiert George Anfang 1930 seine dritte Grenze: zur Weimarer Republik. Die „politischen Zustände“ seien so „unmöglich“, dass „es nur noch lächerlich sei, wenn man (wie Boehringer) zu dieser Demokratie halte“29. Schon die Begriffe „Republik“ und „Demokratie“ waren vergiftet. Viele, politisch Rechte wie Linke, verwendeten sie allein im pejorativen Sinne. „Jakobinismus“ wurde bei „Volksherr­ schaft“ reflexhaft mitgedacht: Blutvergießen, terreur. Das auf Gleichheit vor dem Gesetz fußende parteiendemokrati­ sche System von Weimar mit seinem fortschrittlichen Wahl­ 28  Landmann 29  Ebd.,

(Fn. 4), S. 113. S. 207.

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recht – jede Stimme das gleiche Gewicht – taumelte von Krise zu Krise, schon aus ökonomisch-finanziellen Grün­ den. Das schwächte den unentbehrlichen Grundkonsens und stärkte Forderungen nach einer „ganz anderen Republik“, nach einer aktiven, effizienten, dezisionistischen Ordnung. Wem steht in der aktuellen Schuldenkrise Euro-Europas nicht jene globale Wirtschafts- und Finanzkrise von 1929 vor Augen, wem nicht die Weimarer Staatskrise mit ihren kurzlebigen Präsidialkabinetten30! Damals, in Weimar, war die Massendemokratie mit Mas­ senkultur, Massenmedien (Film!), Massenmeinung, Massen­ geschmack, Massenkonsum, Massenpolitik und anschwellen­ dem „Massenwahn“31 die neue Wirklichkeit. George grenzt sein „reich des Geistes“ gegen die „entzauberte“ Massenge­ sellschaft ab (nicht jedoch gegen die literarische Moderne). Im erwähnten Papst-Gedicht verwandelt „ein wunder“ – der Einbruch des Numinosen in die Wirklichkeit – die Menge. Noch die Staatsrechtslehre der frühen Bundesrepublik Deutschland mied den treffenden Terminus „Massendemo­ kratie“ wie der Teufel das Weihwasser. Weder ließen sich Georges bildungsbesitzende „Staatsstützen“ auf die Wirk­ lichkeit des entideologisierten „Staates der Industriegesell­ schaft“32 ein, noch fielen sie der NS-„Volksbewegung“ und 30  Wird der Mittelstand, fragen wir Krisenbürger, ein zweites Mal ruiniert? Verliert die parlamentarische Demokratie erneut, nun im Zeitalter des Internationalismus, den Status eines leistungsfähi­ gen Regierungssystems? Wird sich Eurolands Weg in einen wis­ sensbasierten Transferbundesstaat jemals (input-)demokratisch legi­ timieren lassen? Bedarf es nicht auch einer funktionsfähigen öffent­ lichen Meinung auf europäischer Ebene? Vgl. Voßkuhle, Über die Demokratie in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), S.  3 ff. 31  Vgl. Broch, in: Lützeler (Hg.), Die Massenwahntheorie, 1979. Broch arbeitete seit 1939 an dieser Studie, verstärkt ab 1942 im Exil. 32  Vgl. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Staat der Bundesrepublik Deutschland, 1971; ders., Die Verwal­ tung als Leistungsträger, 1938. Dazu Meinel, Der Jurist in der in­ dustriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, 2011,



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der Selbstpreisgabe der Republik in den Arm. Kein GeorgeVertrauter hat auf die erste deutsche demokratische Repub­ lik gespuckt, gewiss, aber man wollte auch nichts aus ihr machen. Kurt Tucholsky, Karl Kraus, Alfred Kerr – waren die Linksintellektuellen „besser“? Machten sie nicht intole­ rant alles lächerlich, was die hart ringende Republik als ehr­ bar, als achtenswert hätte ausweisen können? Dabei schütz­ te doch erst die ungeliebte Reichsverfassung von 1919 die Freiheit der Kunst, die nicht zu den klassischen Grundrech­ ten gehört. Erst die von George und seinem Kreis weitest­ gehend abgelehnte Republik33 ordnete das Verhältnis von Staat, Kunst und Kultur zuverlässig. Mochte das Sein dem Sollen auch nachhinken (wo ist das nicht der Fall!) – erst die Demokratie von Weimar garantierte dem „geistigen“ die ge­ botene Autonomie. „Das Dichterische steht dem Religiösen entgegen“ Auch wegen ihrer „demokratisierenden“ Tendenz wendet sich George gegen Weimar. Hatte Max Weber unter „Demo­ kratisierung“ noch die Nivellierung der ständischen Gliede­ rung durch den Beamtenstaat verstanden, befürchtet der Dichter, das gleichheitsfördernde Telos der Demokratie wer­ de die Grenze zum egalitätswidrigen geistig-künstlerischen Bereich auflösen und nur noch „sekundäre Leistungen“ zu­ lassen. Das ist aus künstlerischen Sicht naheliegend und knüpft an frühere Grenzziehungen Georges an: „Von mir aus mag es Demokratie auf allen Gebieten geben, nur im geisti­ S.  154 ff.; Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004, S.  112 ff., 264 ff. 33  George empfand „tief die Schmach und Schande, die durch den Versailler Frieden, durch die Tribute und durch die Art von niederstem Spiesserregiment, das sich als Republik ausgab, über Deutschland gekommen war“, Landmann (Fn. 4, S. 193 – Spätwin­ ter 1929). Aber die Weimarer Staatsmänner waren doch nicht durchweg verachtenswert! Ebert, Erzberger oder Stresemann etwa verdienten Achtung.

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gen Bereich hat sie nichts zu suchen“34. Auf Kunst und Dich­ tung passen demokratische Willensbildung, Entscheidung und Kontrolle in der Tat so wenig wie auf die Bereiche der Religion und der Weltanschauung. Im Sommer 1927 unter­ streicht George dies deutlich: „Das Dichterische steht dem Religiösen entgegen; die Religion ist demokratisch, sie findet für jeden ein Unterkommen, weist jedem seinen Platz, und dies gibt die Befriedigung, aber eine künstlerische Natur würde da ihr Genüge nicht finden“35. George betont die Selbstgesetzlichkeit der künstlerischen Ausdrucks- und Le­ bensform. Sie ist in der Tat ein aliud gegenüber allem „religi­ ösen“, „bürgerlichen“36, „demokratischen“. Das „Unterkom­ men“ des Künstlers ist so ungewiss wie seine „Befriedigung“. Niemand „weist“ ihm „seinen Platz“. So ist auch sein Werk ortlos: u-topisch, zur Ortsbestimmung herausfordernd. Neutralität gegenüber dem Sachgebiet Kunst, „NichtIdentifikation“37, gehört zum freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen. Dessen Stärkung, hatten wir gesehen, steht nicht auf Georges Agenda. Die Aufhebung der Autonomie­ bereiche, der umfassend mobilisierende Zugriff und externe Eingriff – frühzeitig im „plebiszitär legitimierten“ italieni­ schen Faschismus unternommen –, kennzeichnet demgegen­ über den revolutionären stato totalitario. An ihm ist dem freiheitsbedürftigen George nicht gelegen38. 34  Landmann (Fn. 4), S. 40 zitiert George: „Der Sinn aber un­ seres Staates ist dieser: dass für vielleicht nur kurze Zeit ein Gebil­ de da sei, das, aus einer bestimmten Gesinnung hervorgegangen, eine gewisse Höhe des Menschtums gewährleistet. Auch dies ist dann ein ewiger Augenblick wie das griechische Jahrhundert. Dies erfahren zu haben, ist vielleicht entscheidend.“ 35  Ebd., S. 178. 36  Ebd., S. 140: „Das Religiöse im heutigen Sinn ist eine aus­ schliesslich bürgerliche Angelegenheit.“ „Religion ist für diejenei­ gen, an denen die ästhetische Bildung verloren ist“ (ebd., S. 166). „Die kunst kommt nicht aus Religion“ (ebd., S. 175). 37  Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 178 ff. 38  Auch in unseren durchdigitalisierten Zeiten bleibt jene Sorge aktuell. Erstens tendieren Demokratien über den Bereich des government hinaus zur Erfassung und Angleichung aller Lebensbe­



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Vom „Schwindel der Demokratie“39 – Demokratien seien „Wahnsinn, aber für Fürstentümer seien die Völker noch nicht reif“40 – spricht George gegen Ende des Krieges. Wal­ ter Rathenau wolle, diagnostiziert er im Sommer 1919, „an Stelle der heroischen die demokratische Gesinnung setzen“41. George beklagt, dass der politisch-literarisch engagierte Großindustrielle nach der „spotthaften“ Monarchie und dem Krieg mit seinen „vielen(n) untergänge(n) ohne würde“ (IX – 30) nun auf das (parlamentarisch-)demokratische Prin­ zip setzt: auf das kontinuierliche Aushandeln, transparente Vermitteln und öffentliche Verantworten von Kompromis­ sen also, auf friedliche Akkomodation der Interessen, auf nichtheroisch-engagierte Beteiligung aller Bürger an der Le­ gitimation einer von der Mehrheit getragenen Herrschaft auf Zeit42. Die „tragische, die heroische Haltung“, „der Einsatz dingungen. Alexis de Tocqueville (Über die Demokratie in Ameri­ ka, Stuttgart 1986) beschrieb im Jahr 1835 ihren nivellierenden „Konformismus“ am nordamerikanischen Beispiel. Zweitens be­ schleunigt die digitale Revolution mit ihren technischen Ermächti­ gungen und trivialisierten Verheißungen die „Demokratisierung“ von Wissen. In Echtzeit eintreffende Informationen können künst­ lerische Entwicklungen kurzatmiger, eventartiger machen. Vieler­ orts findet sich dann nahezu das Gleiche. 39  Landmann (Fn. 4), S. 64. 40  Ebd., S. 66 (Sommer 1918). 41  Ebd., S. 75. „Wie unhistorisch das sei“, habe George ange­ fügt. „Das Dichterische und das Heldische sind eines: das Heldi­ sche, das heisst die Verehrung grosser Menschen, und ohne das ist Dichtung nicht möglich“ (ebd., S. 81). Das Heroische als Lebens­ form gegen das Bürgerliche ist unserer Zeit, die den Krieg nicht mehr als etwas Selbstverständliches, Notwendiges ansieht, fremd geworden. Auch deshalb tönen manche Verse Georges als Zeugnis­ se einer ferngerückten Sphäre. 42  Später sezierte dann Carl Schmitt (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1923) das demokra­ tisch-parlamentarische Procedere, trotz dessen spezifischer Ratio­ nalität und Transparenz, bei lebendigem Leibe. Der antiliberale Parteienfeind postulierte eine elementare Freund-Feind-Unter­ scheidung als Wesen der Politik. Dezision und Diktatur deklarierte er zu legitimen Äußerungsformen des demokratischen Gedankens. Vgl. Günther, Ordnen, gestalten, bewahren. Radikales Ordnungs­

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für das Edelste auch gegen den Stärkeren“ (Ernst Gundolf) sind zentrale Motive im Kreis um George, die Verbindung also von Geist und Haltung, Entscheidung und Opfer. Je­ dem seiner Freunde müsse klar sein, was ihm schicksalhaft auferlegt sei, was er deshalb nicht umgehen könne, was kein anderer für ihn tun könne: „Wer adel hat erfüllt sich nur im bild / Ja zahlt dafür mit seinem untergang“ (VIII – 40). Demgegenüber sagt George von der Menge, sie sei zwar „wert, doch ziellos, schafft kein sinnbild, /Hat kein gedächt­ nis“ (IX – 31). Die Antike besaß für George und seinen Kreis hohe Be­ deutung. „Die Deutschen werden einmal Griechen. (Sie) nur haben das Profunde des Griechischen“43. Die Griechen ha­ ben, so Goethe, „den Traum des Lebens am schönsten ge­ träumt“. Dass „Dichterisches überhaupt da ist, ist selten. Dass es herrschend wurde, war nur einmal in Griechenland“44. Wenn dies Exzeptionelle auch von der hellenischen PolisOrdnung, dem Urbild der Demokratie, galt – durfte George dann diese Regierungsform, gar alles „politische“ ausgren­ zen? Die hellenische Demokratie war, cum grano salis, eine gewaltenmonistische Herrschaft des Volkes. Es herrschte die Menge. Platon und Aristoteles lehnten diese Herrschafts­ form ab. Sie befürworteten eine gemischte Verfassung. Die aristokratiebestimmte Römische Republik war kein stato misto, erst recht keine Demokratie. Dies alles dürfte George bestärkt haben in seiner Skepsis gegenüber der „menge“ und der Demokratie. denken von deutschen Rechtsintellektuellen der Rechtswissenschaft 1920 bis 1960, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2011, S.  353 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutsch­ land, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, 1999, S. 171 ff, 324 ff. 43  Landmann (Fn. 4), S. 61. 44  Ebd., S. 199 (Spätwinter 1929). Zur „attischen Demokratie“, ihrer Organisationsform, Funktionsweise, Krise (am Ende des 5. Jahr­ hunderts vor Chr.) und Stabilisierung Böckenförde, Ge­ schichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2. Aufl. 2006, S. 24 ff., 71 ff. (Platon), 100 ff. (Aristoteles).



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„Ein wissen gleich für alle heisst betrug“ Die Demokratie definiert sich, die Formprinzipien der Führung, der Hierarchie und der Letztverantwortung vor­ aussetzend, durch Gleichheit. „Demokratisch“, sagt Geor­ ge, ist auch „die Religion“. Die Welt des Dichters konsti­ tuiert sich demgegenüber durch Ungleichheit, durch Diffe­ renzen in Natur und Rang. George unterscheidet Adel und Menge, Arten und Klassen. Er zieht eine Grenze zwischen Vornehmen und Geringen, Dichtern und Tätern, Männern und Frauen – unakzeptabel für ihn eine gleichheitsorien­ tierte Ordnung: „Keiner ist an Rang dem anderen gleich, jeder hat den seinen“45. Egalitäre politische Systeme werden insofern abgelehnt. Den Differenzierungsmöglichkeiten und -geboten innerhalb der geltenden Ordnung geht niemand nach. Auf Demokratie als vermeintlich rangvergessene und „religiöse“ Regierungsform lassen sich die Georgeaner nicht ein. George zieht, wie gesagt, drei Grenzen: zwischen „dem geistigen“ und „dem politischen“, zwischen konkreten Men­ schen und abstrakten Institutionen, sowie zwischen dem „reich des Geistes“ und der Weimarer Republik. Des Weite­ ren distanziert er sich – diese vierte Grenzmarkierung be­ ruht auf einem Irrtum – von jedem Gefüge, das, ausgehend von der Rechtsgleichheit der Menschen, Gleichachtung, -be­ handlung und -stellung gebietet. Wie das Christentum (Gleichheit der Menschen als Kinder und Ebenbilder Got­ tes) und zuvor schon die Stoa bewertet auch die Demokratie alle Menschen, trotz der zwischen ihnen in wesentlichen Beziehungen bestehenden realen Unterschiede, als frei von Vorrechten, als gleich. Gegen den sich daraus, angeblich, er­ gebenden Zwang zu einer pauschalen, undifferenzierenden „égalité“ grenzt sich George vehement ab46 – zu Unrecht. 45  Landmann

(Fn. 4), S. 82. fluchwürdigste Verbrechen ist das Nicht-Sehen der Grenzen“ (ebd., S. 59). Wer in der Demokratie eine schematische, differenzierungsunfähige Ordnung sieht, wie es viele Georgeaner 46  „Das

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Das Gleichheitsgebot gestattet keineswegs kollektivisti­ sche, geistfeindliche „Gleichmacherei“. Sachgerechte Diffe­ renzierung, nicht nur im Steuer- und Abgaberecht, ist gebo­ ten, unbegründete Sonderbehandlung verboten. Das Gleich­ heitsprinzip ist ein Willkürverbot, kein Nivellierungsgebot! Haben die klugen Juristen im George-Kreis das nicht kom­ muniziert? Hätte sich damit also – welche Perspektive! – die Kluft zur Weimarer Republik verringern lassen? Die „Jünger“ haben jenes Missverständnis ihres „Meis­ ters“ nicht verhindert. In den Bereichen Kunst und Hoch­ schule, allen Dichter-Freunden vertraut, ist die naturgegebe­ ne Ungleichheit der Menschen besonders zu respektieren, etwa bei Stipendien. Die Studienstiftung des deutschen Vol­ kes, die gezielte Förderung einer permanent geforderten jungen Leistungselite, war eine Errungenschaft der pointiert egalitären Demokratie von Weimar. Unter dem nicht weni­ ger gleichheitsorientierten Grundgesetz wurde dieses Sche­ ma einer Stärkung wirklicher Individualität übernommen, ja ausgebaut, zu Recht. Bereits das Flötengleichnis des Aristo­ teles lehrt: Die Gleichheit der Menschen hindert keineswegs, dem besten Flötenspieler die beste Flöte zu geben. Letztlich verlangte auch George nichts anderes. Zwar klagt er Anfang 1928: „Heute ist alles Wissen für alle. Das ist ein schlechter demokratischer Gedanke“. Schon 1914, im Kaiserreich noch, hatte er gedichtet: „Ein wissen gleich für alle heisst betrug“ (VIII – 95). Aber George hofft doch vor allem, seine Freunde würden sich eines Tages völlig verwirk­ lichen, jeder auf seinem Gebiet, jeder gemäß seiner Aufgabe und Ausbildung, jeder nach seinem Wesen, nach seiner Fä­ higkeit. Das ist auch ein platonischer Gedanke: jeder soll für seine Person „das Seinige“ tun. Er erinnert an das suum cuique-Prinzip, an den Zusammenhang auch von Gerechtig­ taten, irrt. Fixiert auf den (auch) egalitären Zug der Demokratie, sahen die Kritiker nicht, dass unbegrenzte Gleichmacherei und freiheitlicher Pluralismus unvereinbar sind, dass gerade die Demo­ kratie das schonende Zuordnen von Freiheit und Gleichheit er­ möglicht, ja gebietet.



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keit, Gleichheit, Gemeinwohl. In günstigeren Zeiten hätte dies dem Dichter den demokratischen Gedanken, womög­ lich expertokratisch verbrämt, näher bringen können. Manch antidemokratischer Affekt hätte an Kraft verloren. So aber bedarf es einer abschließenden Beobachtung. Sie handelt, wie angekündigt, nicht vom Markieren, sondern vom Ver­ schwinden einer Grenze. „Verschmolzen mit der tausendköpfigen menge“ Dieser Schlussgedanke ist dem bereits erwähnten Gedicht „Leo XIII“ (VI / VII – 20) zu entnehmen. Es handelt von einer kleinen Schar („wir“) und einer großen „Menge“ im Horizont einer orientierungslosen, von zentrifugalen Kräf­ ten gefährdeten Welt aus falschen Majestäten und echten Schranzen. Allem steht der „Dreigekrönte“ gegenüber, ein vorbildlicher Gelehrter, wie George selbst ein bedeutender Nachdichter. In der „wahren majestät“ dieser Jahrhundertfi­ gur, im verkörperten Gemeinsamen der pluralistisch zusam­ mengewürfelten Masse wird „das wunder“ in seiner umbil­ denden und integrierenden Wirkung erlebbar. So ereignet sich eine doppelte Verwandlung: Die Menge erhebt sich über sich, sie erkennt ihr besseres Selbst, sie wird „schön“; die wenigen anderen, „wir als gläubige“, werden mit den vielen Versammelten „verschmolzen“. Die erste und die letzte Strophe (von insgesamt vier) lauten: „Heut da sich schranzen auf den thronen brüsten / Mit wechs­ lermienen und unedlem klirren: / Dreht unser geist begierig nach verehrung / Und schauernd vor der wahren majestät / Zum ernsten väterlichen angesicht / Des Dreigekrönten wirklichen Gesalbten / Der hundertjährig von der ewigen burg / Hinab­ sieht: schatten schön erfüllten daseins.  //  Wenn angetan mit allen würdezeichen / Getragen mit dem baldachin – ein vorbild / Er­ habnen prunks und göttlicher verwaltung – / ER eingehüllt von weihrauch und von lichtern / Dem ganzen erdball seinen segen spendet: / So sinken wir als gläubige zu boden / Verschmolzen mit der tausendköpfigen menge / Die schön wird wenn das wunder sie ergreift.“

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Dieses temporäre Einswerden47 ist gewiss nicht unbenom­ men als eine Aussage über „politisches“, gar „demokrati­ sches“ zu verstehen. Das Papsttum verkörpert eine pointiert rangbewusste, undemokratische Ordnung; Leo XIII. selbst war altadliger Herkunft; die Menge ist ein Kollektiv ohne Individualität, eine geschichtslose Masse, die zum gesichts­ losen Ornament wird; für George ist jede nicht „militärisch oder festlich gebändigte Massenansammlung“ eine „Scheuss­ lichkeit“48; die politische Ordnung ist kein ästhetisches Pro­ blem; mit ästhetisch-religiösen Kategorien lässt sich kein Staat machen; der Staat ist kein Kunstwerk. Andererseits: dieser privilegierte, kunstsinnige Papst hat die Lehre des Thomas von Aquin zu einer Art amtlicher Doktrin erhoben. Mit den Problemen des Industriezeitalters vertraut, entdeck­ te Leo XIII. die soziale Frage im kirchlichen Bereich. Das ist auch für die staatlich-gesellschaftliche Verfasstheit rele­ vant. Und so enthält das Gedicht, versucht man es neu zu lesen, auch den Vorschein von „politischem“: vom göttlich indu­ zierten Schönen und Ganzen, vom Verschwinden von „schranzen“ und Grenzen. Die vergeistigte päpstliche Er­ scheinung verwandelt die für das Wunder empfängliche Menge und den verehrungsbegierigen, integrationsbedürfti­ gen „wir“-Kreis in eine lebendige Gemeinde ohne Trennen­ des – ein poetisches, ein auch politisches Bild. Keiner wird 47  Im Frühjahr 1925 spricht George von einem anderen, einem historisch-politischen Integrationsvorgang: Die Römer waren „zu­ sammengewürfelt aus vielen Stämmen, daher konnte nichts von innen her wachsen, aber daher ergab sich die Konzentration auf das Einswerden in Recht und Staat“ (ebd., S. 135). Zu Leo XIII. Maier, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, 3. Aufl. 1973, S. 259 ff. Frühsozialisten etwa forderten, der Ertrag der Arbeit müsse Eigentum der Arbeiter sein. 48  Landmann (Fn. 4), S. 92. George fährt fort (Sommer 1919): „Einige wenige Menschen sind ganz gut. An die muss man sich halten und um derentwillen dürfen dann alle anderen auch da sein. Sieht man das Gewimmel an, so verliert man die Lust.“ „Verpöbe­ lung der Welt: keiner hat den Mut, sich zu unterscheiden“ (ebd., S. 168). Er hatte diesen Mut.



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ausgestoßen, keiner bleibt dauerhaft ausgeschlossen, alle sind dabei. In einem geistlich-geistigen Kairos entsteht, vor­ übergehend und in Freiheit und Schönheit, ein Gebilde be­ glückender Gleichheit und Gemeinsamkeit. So hat noch ­Stefan George selbst, ein Dichter über Grenzen, einen Blick getan in ein Land ohne Grenzen.

Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum 2008 – 2012* 1

I. Selbständig erschienene Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 II. Aufsätze, Beiträge in Sammelwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Veröffentlichungen als Allein- oder Mitherausgeber . . . . . 228

I. Selbständig erschienene Schriften 1. Völkerrecht (Herausgeber, Mitautor), 5. Aufl. Berlin / New York 2010, 769 S. 2. – Völkerrecht (Herausgeber, Mitautor), 4. Aufl. 2007, auf rus­ sisch übersetzt: Moskau / Berlin 2011, 961 S. 3. –  Völkerrecht (Herausgeber, Mitautor), 5. Aufl. 2010, auf chine­ sisch übersetzt (in Bearbeitung): Peking / Berlin 2012 4. „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?“ Die Brüder Stauf­ fenberg und Stefan George, Berlin (Gedenkstätte Deutscher Wider­stand) 2010, 29 S. 5. –  Wiederabdruck: „Aus Gedanken die Tat?“ Stefan George und die Brüder Stauffenberg, in: Bernhard Greiner u.  a. (Hrsg.), Recht und Literatur. Interdisziplinäre Bezüge, Heidelberg 2010, S. 99–122

*  Stand: 1.4.2012. – Die älteren Publikationen von Wolfgang Graf Vitzthum sowie die älteren unter seiner Betreuung abgeschlossenen Dissertationen und Habilitationen finden sich in: März (Hg.), An den Grenzen des Rechts. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum, 2003, S. 213–239 sowie in: Kämmerer (Hg.), An den Grenzen des Staates. Kolloquium zum 65. Geburts­ tag von Wolfgang Graf Vitzthum, 2008, S. 257–266.

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Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum 2008 – 2012

II. Aufsätze, Beiträge in Sammelwerken   1. Vaterland Rechtsstaat. Zum Widerstandsmotiv „Wiederherstel­ lung der vollkommenen Majestät des Rechts“, in: Stephen Schröder u. a. (Hrsg.), Der 20. Juli 1944 – Profile, Motive, De­ siderate, Münster 2008, S. 155–176  2. Extraterritoriale Grundrechtsgeltung. Zu Bedingungen nach­ richtendienstlicher Auslandsaufklärung, in: Andreas FischerLescano u. a. (Hrsg.), Frieden in Freiheit. Peace in liberty. Paix en liberté. Festschrift für Michael Bothe, Baden-Baden 2008, S. 1213–1228  3. Bürgschaft für das Geheime Deutschland. Zu Widerstandstat und Staatsverständnis der Brüder Stauffenberg, in: Hans-Gün­ ther Richardi u. a. (Hrsg.), Für Freiheit und Recht in Europa. Der 20. Juli 1944 und der Widerstand gegen das NS-Regime in Deutschland, Österreich und Südtirol, Innsbruck / Wien / Bozen 2009, S. 130–151   4. –  Nachdruck in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Juristische Zeit­ geschichte. Jahrbuch 2008 / 09, Berlin 2009, S. 107–122 dort weitere Nachdrucke von:   5. –  Kein Stauffenberg ohne Stefan George. Zu Widerstandswir­ kungen des Dichters (2007), S. 123–141  6. – Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Stefan Georges? Über Johann Anton, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg und Karl Josef Partsch (2006), S. 142–170   7. Quelle est l’identité de l’Europe?, in: Isabell Buffard u. a. (Hrsg.), International Law between Universalism and Fragmentation. Festschrift in Honour of Gerhard Hafner, Leiden / Boston 2008, S. 1069–1075  8. Preusse im George-Kreis: Walter Elze, in: Volker Caspari (Hrsg.), Theorie und Geschichte der Wirtschaft. Festschrift für Bertram Schefold, Marburg 2009, S. 333–357   9. –  erweiterter Nachdruck: „Als das Sein das Wesentliche war“. Der Historiker Walter Elze im Gespräch, in: Bruno Pieger u. a. (Hrsg.), Stefan George. Dichtung Ethos Staat. Denkbilder für ein geheimes europäische Deutschland, Berlin 2010, S. 264–286 10. Les noces d’or d’un jumelage exemplaire, in: Peter Fischer u. a. (Hrsg.), Die Welt im Spannungsfeld zwischen Regionalisierung



Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum 2008 – 2012 227 und Globalisierung. Festschrift für Heribert Franz Köck, Wien 2009, S. 639–652

11. Berthold Schenk Graf von Stauffenberg. Von Stefan George eingesetzter Ersatz- und Nacherbe, in: Christoph Perels (Hrsg.), Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung. 1959–2009, Ber­ lin / New York 2009, S. 21–34 12. Weimarer Republik und Völkerbund aus der Sicht von Ber­ thold Graf Stauffenberg, in: Roman Köster u. a. (Hrsg.), Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im Geor­ ge-Kreis, Berlin 2009, S. 211–234 13. Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Verfassungstheorie, Tübingen 2010, S. 373–389 14. Begriff, Geschichte und Rechtsquellen des Völkerrechts, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. Ber­ lin / New York 2010, S. 1–71 15. Stauffenberg. Zur Rechtfertigung von Eidbruch und Tyrannen­ mord, in: Jakobus Kaffanke u. a. (Hrsg.), Es lebe das „Gehei­ me Deutschland“!. Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Per­ son – Motivation – Rezeption, Münster 2011, S. 107–122 16. – Nachdruck in: Holger P. Hestermeyer u. a. (Hrsg.), Coexis­ tence, Cooperation and Solidarity. Liber Amicorum Rüdiger Wolfrum, Leiden / Boston 2012, S. 2146–2163 17. Free Ports, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclo­ pedia of Public International Law, Oxford 2012, Bd. IV, S. 234–236 18. International Seabed Area, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Oxford 2012, Bd. VI, S. 137–146 19. Jüngere Freunde Stefan Georges im Nationalsozialismus. Um­ risse eines Gruppenportraits, in: Frank-Lothar Kroll u.  a. (Hrsg.), Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der Inneren Emigration, Göttingen 2012, S. 245–265 20. Walter Elze; Karl Josef Partsch; Helmut Strebel; Berthold Schenk Graf von Stauffenberg (= Personenartikel), zusammen 19 S., in: Achim Aurnhammer u. a. (Hrsg.), Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 3, Berlin / New York 2012 (i. E.) 21. Staatswissenschaften (Nationalökonomie, Staats- und Völker­ recht), in: Achim Aurnhammer u. a. (Hrsg.), Stefan George

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Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum 2008 – 2012

und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 2, Berlin / New York 2012, S. 1147–1158 (i. E.) (gemeinsam mit Bertram Schefold) 22. Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde. Europas Identitäten, in: Hermann-Josef Blanke u. a. (Hrsg.), Der grund­ rechtsgeprägte Verfassungsstaat. Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, Berlin 2012, S. 16 S. (i. E.)

III. Veröffentlichungen als Allein- oder Mitherausgeber 1. Völkerrecht (Herausgeber, Mitautor), 5. Aufl. Berlin / New York 2010, 769 S. 2. – Völkerrecht (Herausgeber, Mitautor), 4. Aufl. Berlin  /  New York 20007, auf russisch übersetzt: Moskau / Berlin 2011, 961 S. 3. – Völkerrecht (Herausgeber, Mitautor), 5. Aufl. Berlin  /  New York, auf chinesisch übersetzt (in Bearbeitung), Peking / Berlin 2012 4. (Schriftenreihe) Tübinger Schriften zum internationalen und ­europäischen Recht (TSR), Berlin, seit 1983 (96 Bde.) 5. (Schriftenreihe) Tübinger Schriften zum Staats- und Verwal­ tungsrecht (TSSV – Alleinherausgeber), Berlin, seit 1989 (89 Bde.) 6. (Schriftenreihe) Integration Europas und Ordnung der Welt­ wirtschaft, Baden-Baden, seit 1994 (38 Bde.) 7. Jahrbuch des Föderalismus, Baden-Baden (12 Bde.) 8. (Schriftenreihe) Studien zur Geschichte des Völkerrechts, BadenBaden, seit 2002 (27 Bde.) 9. Recht und Literatur. Interdisziplinäre Bezüge (Mitherausgeber, Mitautor), Heidelberg 2010, 344 S.

Verzeichnis der von Wolfgang Graf Vitzthum betreuten Dissertationen und Habilitationen 2008 – 2012 I. Dissertationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 II. Habilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

I. Dissertationen 1. Beck, Lukas: Die Abweichungsgesetzgebung der Länder: aus staatsrechtlicher, rechtsvergleichender und dogmatischer Sicht, Baden-Baden (Nomos-Universitätsschriften Recht, Bd. 606) 2009 2. Brett, Angela: Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdever­ fahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Ge­ richtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, Berlin (Tübinger Schriften zum internationalen und europäi­ schen Recht, Bd. 93) 2009 3. Denfeld, Claudia: Hans Wehberg (1885–1962): die Organisation der Staatengemeinschaft, Baden-Baden (Studien zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. 17) 2008 4. Hofmann, Florian: Helmut Strebel (1911–1992): Georgeaner und Völkerrechtler, Baden-Baden (Studien zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. 23) 2009 5. Molsberger, Philipp: Das Subsidiaritätsprinzip im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung, Berlin (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht, Bd. 91) 2009 6. Munoz Hernández, Fernando: Legitimität und Legalität im Völ­ kerrecht: die völkerrechtstheoretische Debatte um die Legitimi­ tät von Governance-Strukturen, Tübingen 2011 7. Scherrer, Philipp: Das Parlament und sein Heer: das Parlaments­ beteiligungsgesetz, Berlin (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, Bd. 84) 2010

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Dissertationen und Habilitationen 2008–2012

 8. Stock, Susanne: Der Beitritt der Europäischen Union zur Eu­ ropäischen Menschenrechtskonvention als Gemischtes Ab­ kommen?, Hamburg (Studien zum Völker- und Europarecht, Bd. 74) 2010  9. Tresselt, Matthias: Friedrich Schiller und die Demokratie, Ber­ lin (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, Bd. 81) 2009 10. Wax, Andreas: Internationales Sportrecht: unter besonderer Berücksichtigung des Sportvölkerrechts, Berlin (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht, Bd. 90) 2009 11. Wenzel, Matthias: Schutzverantwortung im Völkerrecht: zu Möglichkeiten und Grenzen der „Responsibility to Protect“Konzeption, Hamburg (Studien zum Völker- und Europa­ recht, Bd. 80) 2010

II. Habilitation Proelß, Alexander: Bundesverfassungsgericht und internationale Gerichtsbarkeit – Mechanismen zur Verhinderung und Lösung von Jurisdiktionskonflikten, 2010 (Jus Publicum, i. E.)