Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext: Festschrift für Friedrich Bohl zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428546022, 9783428146024

Friedrich Bohl, der frühere Chef des Bundeskanzleramtes unter der Regierung von Helmut Kohl, hat jahrelang als stiller u

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Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext: Festschrift für Friedrich Bohl zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428546022, 9783428146024

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Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext Festschrift für Friedrich Bohl zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Gilbert H. Gornig in Zusammenarbeit mit Philipp Stompfe

Duncker & Humblot . Berlin

Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext Festschrift für Friedrich Bohl zum 70. Geburtstag

Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext Festschrift für Friedrich Bohl zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Gilbert H. Gornig in Zusammenarbeit mit Philipp Stompfe

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: BGZ Druckzentrum GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14602-4 (Print) ISBN 978-3-428-54602-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84602-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Mit dieser Festschrift wollen Kollegen, Weggefährten und Freunde den Juristen, Politiker und Menschenfreund Friedrich Bohl ehren. Die Mitwirkenden an dieser Festschrift verbinden dies mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag und hoffen, dass dem Jubilar noch viele erfüllte Jahre im Kreise seiner Familie beschieden sein mögen. Unser besonderer Dank gilt den zahlreichen Autoren aus dem In- und Ausland und den Mitarbeitern des Instituts für öffentliches Recht der Philipps-Universität Marburg, insbesondere Frau Heike Speier, und den Mitarbeitern des Verlages Duncker & Humblot, insbesondere Frau Heike Frank, ohne die diese Festschrift nicht zustande gekommen wäre. Für die Möglichkeit diese Festschrift zu publizieren gilt dem Verlag Duncker & Humblot und Herrn Dr. Florian R. Simon (LL.M.) unser Dank. Der Deutschen Vermögensberatung Aktiengesellschaft (DVAG) danken die Herausgeber für die finanzielle Unterstützung. Marburg, Januar 2015

Gilbert H. Gornig Philipp Stompfe

Inhaltsverzeichnis I. Zur Persönlichkeit von Friedrich Bohl Denise Lindsay Friedrich Bohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jean-Claude Juncker Eine europäische Würdigung und Betrachtung des Bonner und Berliner Machers Friedrich Bohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Angela Merkel Beitrag zur Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags von Bundesminister a. D. Friedrich Bohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Hans-Dietrich Genscher An den Schalthebeln der Macht in Bundestag und Bundesregierung – Friedrich Bohl als Parlamentarischer Geschäftsführer und als Chef des Bundeskanzleramtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Bernhard Vogel Das Kanzleramt und sein Chef im Prozess der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . .

37

Norbert Lammert Im Maschinenraum der Macht: Zwischen Fraktionsführung und Kanzleramt . .

45

Peter Tauber Der Generalissimus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Reinfried Pohl y Friedrich Bohl – ein Stratege auch außerhalb der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Jochen A. Werner Friedrich Bohl – mehr als nur ein Weggefährte der Mittelhessischen Universitätsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

II. Deutschland- und Europapolitik, Kommunalpolitik Volker Kauder Vom Wert der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Rudolf Seiters Wege zur Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Theo Waigel Deutschlands Wiedervereinigung und die europäische Integration: „Kompetent und loyal – an Schaltstellen von Parlament und Bundesregierung“ . . . . . . . . . . .

93

Roman Herzog Grenzen im Innern Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Elmar Brok Die Entwicklung Europas – Vom Projekt des Friedens zum Projekt der Freiheit 109 Wolfgang Schüssel Europa weiter denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Edmund Stoiber Europa – unsere Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

III. Sozial-, Telekommunikations- und Wissenschaftspolitik Norbert Blüm Sozialstaat: Quo Vadis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Axel-Günter Benkner Zeitbombe Altersversorgung. Aktuelle Themen für Finanzberatung und Politik 155 Egon Vaupel Das Alkoholverbot in Marburg – kein Alkohol ist auch eine Lösung . . . . . . . . . 173 Christian Schwarz-Schilling Kommunikationserfindungen und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Heinz Riesenhuber Deutschlands Chance: Innovation! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Inhaltsverzeichnis

9

Udo Corts Die Vietnamesisch-Deutsche Universität (VGU) – Zwei Welten werden eine Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Heinrich Menkhaus Blick zurück im Zorn – Japanisches Recht in Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Boris Rhein Perspektiven sichern für die Hochschulmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

IV. Verfassungs-, Völker- und Europarecht Ralph Backhaus Die Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht. Eine rechtshistorische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Volker Bouffier Der bundesstaatliche Finanzausgleich im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Steffen Detterbeck Erosion der Ehe durch gesellschaftlichen Wandel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Jörn Griebel Das Bundesverfassungsgericht und die Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Hans-Detlef Horn Grundgesetzliche Demokratie und europäische Integration. Juridische Grenzanschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Sebastian Müller-Franken Die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft. Zur Unhintergehbarkeit des gesetzgeberischen Willens der Staaten bei Auslegung und Anwendung des Rechts der Europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Burkhard Schöbener Das Ende der DDR 1989/90 – eine demokratische Revolution in Deutschland!

373

Gilbert H. Gornig Drei-Mächte-Rechte in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

V. Wirtschaftsrecht Erich Schanze Wirtschaftsrecht zwischen Intervention, Abstimmung und Selbstregulierung . . . 419

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Inhaltsverzeichnis

Michael Kling Der funktionsfähige Wettbewerb als Schutzgut des Kartellrechts und seine Bedeutung für die europäische und deutsche Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . 433 Philipp Stompfe Die Problematik der Staatenimmunität bei transnationalen Investitionstätigkeiten – Eine internationale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

VI. Zivilrecht Volker Beuthien Wenn Gesetzestitel unwahrhaftig werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Friedhelm Rost Der „Fremdgeschäftsführer“ als Arbeitnehmer oder wie Europa die Diskussion um den nationalen Arbeitnehmerbegriff belebt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Christoph Ullrich Der Vergleich bei Gericht in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

VII. Strafrecht Georg Freund Angemessener Lebensschutz vor voreiligen Sterbehelfern? Überlegungen zur lex lata und de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Mirko Schulte Franz von Liszt im geteilten Deutschland – Eine rechtsvergleichende Vergewisserung über Determinanten von Rechtsstaatlichkeit und Wirksamkeit bei der Straftatenprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585

VIII. Medizin Matthias Rothmund Patientensicherheit und Patientenrechte-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Jürgen R. Schäfer „Dr. House“ in der Medizin – Lernen von und mit Hollywood . . . . . . . . . . . . . . 615 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627

Abkürzungsverzeichnis a. D. a. E. a. F. ABl. abw. M. ADAC AEUV AfD AG AG AGG AHK AIDS AJIL AnwBl. AöR APuZ Arb. Int. ArbGG Art. Aufl. AVmG BAföG BAG Bd. BDI BDV BeckRS Berkeley J. Int’l. Law BetrVG BGB BGBl. BGHSt BGHZ BIP BK BND Boston College Int. Comp. BR-Drucks. BT-Drucks. BUrlG

außer Dienst am Ende alte Fassung Amtsblatt abweichende Meinung Allgemeiner Deutscher Automobil-Club Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Alternative für Deutschland Aktiengesellschaft Amtsgericht Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Alliierte Hohe Kommission Acquired Immune Deficiency Syndrome American Journal of International Law Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte Arbitration International Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Auflage Altersvermögensgesetz Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesarbeitsgericht Band Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. Bundesverband Deutscher Vermögensberater Beck-Rechtsprechung Berkeley Journal of International Law Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bruttoinlandsprodukt Bonner Kommentar Bundesnachrichtendienst Boston College International & Comparative Law Review Bundesrats-Drucksache Bundestags-Drucksache Bundesurlaubsgesetz

12 BVerfG BVerfGE BVerwGE BWG BYIL ca. CCS CDU CERN CFA ChefBK CJEU Colum. J. Transnat’l L. CSU DA DÄBl. DB DDR Diss. dpa DRG DRiZ dt. DUV DVAG DVBl. e. V. ebd. ECT EEG EFSM EG EGMR EIB EMRK EP EPZ ESFS ESM etc. EuGH EuGRZ EUV EVP EWG EWiR EWS EWWU

Abkürzungsverzeichnis Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeswahlgesetz British Yearbook of International Law circa Carbon Capture and Storage Christlich Demokratische Union Conseil Européen pour la Recherche Nucléair Chartered Financial Analyst Chef des Bundeskanzleramtes Court of Justice of the European Union Columbia Journal of Transnational Law Christlich Soziale Union Deutschland Archiv Deutsches Ärzteblatt Der Betrieb (Zeitschrift) Deutsche Demokratische Republik Dissertation Deutsche Presse Agentur Diagnosis Related Groups Deutsche Richterzeitung deutsch Deutscher Unternehmensverband Vermögensberatung (DUV) Deutsche Vermögensberatung AG Deutsches Verwaltungsblatt eingetragener Verein ebenda Energy Charter Treaty Erneuerbare-Energien-Gesetz Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Investment Bank Europäische Menschenrechtskonvention Europäisches Parlament Europäische Politische Zusammenarbeit European Financial Stability Facility European Stability Mechanism et cetera Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Vertrag über die Europäische Union Europäische Volkspartei Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäische Währungssystem Europäische Wirtschafts- und Währungsunion

Abkürzungsverzeichnis EZB f(f). FAG FamFG FAS FAZ FDGB FDJ FDP FK Fn. FSIA GA GASP GDP GG GmbH GmbHG GmbHR GOBT GRCh GSM GUS GVBl. GVG GWB Hrsg. HSOG HStR HStrG i. d. F. v. i. e. i. E. i. V. m. ICC ICLQ ICSID ILR insb. IStGH IT J. Int. Arb. JGG JIR JR JU JuS

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Europäische Zentralbank folgende Finanzausgleichsgesetz Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Frankfurter Kommentar Fußnote Foreign Sovereign Immunities Act Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Gross domestic product Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH-Gesetz GmbH-Rundschau Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Grundrechtecharta Global System for Mobile Communications Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Herausgeber Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung Handbuch des Staatsrechts Hessisches Straßengesetz in der Fassung vom id est im Ergebnis in Verbindung mit International Chamber of Commerce International & Comparative Law Quarterly International Centre for Settlement of Investment Disputes International Law Review insbesondere Internationaler Strafgerichtshof Informationstechnik Journal of International Arbitration Jugendgerichtsgesetz Jahrbuch für Internationales Recht Juristische Rundschau Junge Union Juristische Schulung

14 JuSchG JZ Kap. KR KSchG KSZE LKRZ LPartG LS Ltd. LuftKostV LuftVG LWG m. w. N. MaßstG MdL Mealey’s Intl. Arb. Rep. MedR MfS MiLoG MINT Mio. MOOC Mrd. MschrKrim MüKO MuSchG N. Engl. J. Med. n. F. N. Y. L. J. NATO NJ NJW NJW-RR NPD NRW NSA NVwZ NW NZA NZA-RR NZKart o. g. OECD OLG OMT OVG

Abkürzungsverzeichnis Jugendschutzgesetz Juristenzeitung Kapitel Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften Kündigungsschutzgesetz Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Zeitschrift für Landes- und Kommunalrecht Hessen Lebenspartnerschaftsgesetz Leitsatz Limited Kostenverordnung der Luftfahrtverwaltung Luftverkehrsgesetz Landeswahlgesetz mit weiteren Nachweisen Maßstäbegesetz Mitglied des Landtags Mealey’s International Arbitration Report Medizinrecht Ministerium für Staatssicherheit der DDR Mindestlohngesetz Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik Millionen Massive Open Online Course Milliarden Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Münchner Kommentar Mutterschutzgesetz New England Journal of Medicine neue Folge New York Law Journal North Atlantic Treaty Organization Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nordrhein-Westfalen National Security Agency Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Notenwechsel Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA-Rechtsprechungs-Report Neue Zeitschrift für Kartellrecht oben genannt Organisation for Economic Co-operation and Development Oberlandesgericht Outright Monetary Transactions Oberverwaltungsgericht

Abkürzungsverzeichnis p. a. PC PCA PGF PR QB R&D RCDS RdA Rev. Int’l Arb. RGZ RIW RL Rn. ROW RR Rs. Rspr. RStGH S. s. SBZ SchiedsVZ SdVfS SED SGB Slg. SMP Sp. SPD StGB StIGH StV StVO SZ ThUG TU TVG UdSSR UKGM UNESCO UNTS USA USt ÜV VG

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per annum Personal Computer Permanent Court of Arbitration Parlamentarischer Geschäftsführer Public Relations Queen’s Bench Research and Development Ring Christlich-Demokratischer Studenten Zeitschrift für die Wissenschaft und Praxis des gesamten Arbeitsrechts American Review of International Arbitration Reichsgericht in Zivilsachen (Entscheidungssammlung) Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Recht in Ost und West. Zeitschrift für Ostrecht und Rechtsvergleichung Rechtsprechungsreport Rechtssache Rechtsprechung Reichsstaatsgerichtshof Seite siehe Sowjetische Besatzungszone Zeitschrift für Schiedsverfahren Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialgesetzbuch Sammlung Securities Market Programme Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Ständiger Internationaler Gerichtshof Strafverteidiger Straßenverkehrs-Ordnung Süddeutsche Zeitung Therapieunterbringungsgesetzes Technische Universität Tarifvertragsgesetz Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Universitätsklinikum Gießen und Marburg United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Treaty Series United States of America Umsatzsteuer Überleitungsvertrag Verwaltungsgericht

16 VGH vgl. VGU VIZ VO vol. Vorbem. VR Vs. VVDStRL VwVfG WHO WLR WM WTO WuW WVK YBILC Ybk Comm Arb YCA ZaöRV ZBJV ZESAR ZEuS ZfA Zfbf ZfG ZfZ ZG ZGR Ziff. ZIP zit. ZJS ZParl. ZPO ZRP ZStW ZWeR

Abkürzungsverzeichnis Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vietnamesisch-Deutsche Universität Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht Verordnung volume Vorbemerkung Verwaltungsrundschau versus Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsverfahrensgesetz World Health Organization Weekly Law Reports Wertpapier-Mitteilungen World Trade Organization Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift) Wiener Vertragsrechtskonvention Yearbook of the International Law Commission Yearbook of Commercial Arbitration Yearbook of Commercial Arbitration Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Zeitschrift für Gesetzgebung. Vierteljahresschrift für staatliche und kommunale Rechtsetzung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für das Juristische Studium Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Wettbewerbsrecht

I. Zur Persönlichkeit von Friedrich Bohl

Friedrich Bohl Von Denise Lindsay 1963 Eintritt in CDU und Junge Union (JU), 1964 Abitur, 1964 – 1970 Kreisvorsitzender der JU Marburg-Land, 1964 – 1969 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Marburg, 1969 Erstes Juristisches Staatsexamen, 1969 – 1973 Bezirksvorsitzender der JU Mittelhessen, 1970 – 1980 MdL Hessen, 1972 Zweites Juristisches Staatsexamen, 1972 – 1999 Rechtsanwalt, 1974 – 1990 Vorsitzender der CDU-Fraktion im Kreistag Marburg-Biedenkopf, 1976 – 1999 Notar, 1978 – 1980 stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag, 1978 – 2002 Kreisvorsitzender der CDU Marburg-Biedenkopf, 1980 – 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1984 – 1991 Parlamentarischer bzw. Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1991 – 1998 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, 1998 zusätzlich Leiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1998 – 2009 Vorstandsmitglied bei der Deutschen Vermögensberatung, seit 2009 Vorsitzender des Aufsichtsrats der Deutschen Vermögensberatung. Der frühere Chef des Bundeskanzleramtes in der Regierung Kohl hat jahrelang als stiller und verschwiegener Manager im Hintergrund gewirkt und versucht, die Entscheidungsprozesse in der Koalition möglichst reibungslos ablaufen zu lassen. Jugendzeit und Ausbildung Geboren wurde Friedrich Bohl am 5. März 1945 in Rosdorf (Kreis Göttingen). Sein Vater war Leiter einer Landwirtschaftsschule. Er besuchte die Volksschule in Rauschenberg (Landkreis Marburg) und legte 1964 sein Abitur an der Martin-Luther-Schule in Marburg ab. An der Philipps-Universität Marburg begann er das Studium der Rechtswissenschaften, 1969 legte er das erste und 1972 das zweite juristische Staatsexamen ab. Nach dem Referendariat arbeitete er kurzzeitig als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht der Universität Marburg. Von 1972 bis 1999 war er als Rechtsanwalt zugelassen, 1976 erfolgte die Ernennung zum Notar (bis 1999). Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Erste politische Ämter 1963 trat Bohl der Jungen Union und der CDU bei und übernahm schnell erste Führungsämter. „Die grundsätzlichen Fragen der Politik dieser Jahre, das Schicksal

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Denise Lindsay

der Nation und die Gefährdung der Freiheit fesselten damals Bohls Interesse“, urteilte die FAZ über seine Beweggründe in einem Porträt vom 16. Mai 1989. Erste politische Erfahrungen sammelte er im Marburger Studentenparlament. 1964 bis 1970 war er Kreisvorsitzender der JU Marburg-Land und 1969 bis 1973 Bezirksvorsitzender der JU Mittelhessen. Bei der Wahl zum Vorsitzenden des Landesverbandes Hessen der Jungen Union unterlag er im April 1969 allerdings Reinhold Stanitzek, dem späteren Staatssekretär im hessischen Innenministerium (1987 – 1991). Schon am 1. Dezember 1970 zog der junge Rechtsreferendar als „Benjamin“, wie die „Deutsche Tagespost“ am 25. November 1970 titelte, in den Hessischen Landtag ein. Geprägt wurde er hier vom Stil des Oppositionsführers Alfred Dregger, der ihm ein wichtiger Förderer war. Im Landtag vertrat er den Wahlkreis 12 (Marburg-Stadt und -Land-Ost, später Marburg-Biedenkopf-Ost). In der 7. Wahlperiode (1970 – 1974) gehörte er als Mitglied dem Ausschuss für Beamtenfragen (bis Januar 1973) sowie dem Petitionsausschuss an, in der 8. Wahlperiode (1974 – 1978) dem Innenausschuss, Petitionsausschuss sowie dem Unterausschuss Justizvollzug. Außerdem war er Vorsitzender des Rechtsausschusses. In der 9. Wahlperiode (1978 – 1982) war er nur für kurze Zeit Mitglied im Innen- und im Kulturpolitischen Ausschuss sowie stellvertretender Fraktionsvorsitzender, da er sein Landtagsmandat am 4. November 1980 niederlegte, um in den Bundestag nach Bonn zu wechseln. Bundestagsabgeordneter 1980, 1994 und 1998 zog Bohl über die Landesliste Hessen in den Deutschen Bundestag ein, in der 10., 11. und 12. Wahlperiode wurde er im Wahlkreis 129 (Marburg) direkt gewählt. Eng verbunden ist sein Fortkommen mit den politischen Karrieren von Rudolf Seiters und Wolfgang Schäuble. Alle drei sollten für Bundeskanzler Helmut Kohl im Laufe der Jahre unverzichtbar werden, da sie sowohl das politische Geschäft beherrschten wie auch sich in administrativen Vorgängen gut auskannten und über ein hohes Maß an Managerqualitäten verfügten. Zunächst konzentrierte sich Friedrich Bohl auf die Arbeit in der CDU/CSU-Fraktion, wo er sich sowohl im Flick-Untersuchungsausschuss wie auch im U-Boot-Untersuchungsausschuss einen Namen machte. Im November 1984 avancierte er mit der Unterstützung Dreggers zum Zweiten Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion. Hier zeigt sich ein erstes Muster für künftige Ämterrochaden: Er folgte Rudolf Seiters im Amt nach, der das Amt des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers von Wolfgang Schäuble übernahm. Chef des Bundeskanzleramtes 1989 erfolgte der nächste Karriereschritt. Bohl folgte Seiters, der Chef des Bundeskanzleramtes wurde, im Amt des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers. Die

Friedrich Bohl

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„Stuttgarter Zeitung“ beschrieb ihn in einem Porträt am 29. April 1989 als „geschickten Fraktionsmanager, dem es offenkundig auch nicht unangenehm ist, heftige verbale Attacken gegen politische Gegner zu reiten“. In Oppositionskreisen erhielt er deshalb den Beinamen „Wadenbeißer“. In der Fraktion selbst nahm er die Funktion eines „Brückenbauers“ ein und verstand es geschickt, zwischen dem Kanzler und den Parlamentariern zu vermitteln. 1991 erfolgte ein erneuter Karrieresprung. Bohl rückte für Seiters, der das Amt des Innenministers übernommen hatte, als Chef des Kanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben nach. Die bisher schon erfolgreiche Zusammenarbeit der Amtsinhaber sorgte dafür, dass die Arbeit auch weiterhin reibungslos verlief. Auch hier nahm Bohl die Position einer „grauen Eminenz“ ein, die im Hintergrund erfolgreich die Strippen zog. „Die Welt“ bescheinigte ihm am 14. September 1991 „Unauffälligkeit und Loyalität bis zur Selbstverleugnung“. Er nahm die Stelle eines Koordinators ein, dem es oblag, einen reibungslosen Arbeitsablauf zwischen dem Kanzleramt, den 18 Bundesministerien und den zwei Koalitionsfraktionen zu organisieren. Vom 25. Mai bis zum 26. Oktober 1998 übernahm er noch kurzzeitig die Führung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Rückzug aus der Politik 2002 kündigte Bohl an, nicht mehr für den Deutschen Bundestag zu kandidieren. Zudem legte er den Vorsitz des CDU Kreisverbandes Marburg-Biedenkopf, den er seit 1978 geführt hatte, nieder. Es folgte eine weitere Karrierestation in der Privatwirtschaft. Schon 1998 war Bohl Generalbevollmächtigter und Mitglied des Vorstandes der Deutschen Vermögensberatung (DVAG) geworden. 2003 erfolgte seine Wahl zum Vorsitzenden des Deutschen Unternehmensverbandes Vermögensberatung als Nachfolger von Walter Wallmann. Im April 2009 wurde er zum Aufsichtsratsvorsitzenden der DVAG gewählt. Zudem ist Friedrich Bohl seit Dezember 2011 Präsident der von Behring-Röntgen-Stiftung, deren Ziel die Förderung der Hochschulmedizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Philipps-Universität Marburg ist.

Eine europäische Würdigung und Betrachtung des Bonner und Berliner Machers Friedrich Bohl Von Jean-Claude Juncker Friedrich Bohl ist und bleibt ein Macher. Weil Macht für ihn Machen bedeutet. Oder besser noch: weil Macht für ihn zum Machen für die Menschen verpflichtet! Im Rahmen des Möglichen. Aber eben auch bis in die letzten Winkel des staatlichen Rahmens. So lautet seine Definition von praktischer Politik, der ich mich durchaus verbunden fühle. Friedrich Bohl hat sich dabei immer zwischen den Rahmen der historischen Gemälde der Bonner Republik bewegt, auf denen zumeist nur der Kanzler der deutschen, aber auch der europäischen Einheit, Helmut Kohl, zu sehen war. Doch der gelernte Rechtsanwalt und Notar – auch als Abgeordneter hat Bohl seine geliebten Berufe niemals aufgegeben – hat die Rahmen und zuweilen auch die Büchsen gespannt. Und manchmal hat er sie auch zur rechten Zeit mit ruhiger aber bestimmter Hand entschärft. Ohne den detailversessenen Macher Friedrich Bohl wäre der weitsichtige Visionär Helmut Kohl so nicht möglich gewesen. Denn Bundeskanzler, Premierminister, ja selbst Kommissionspräsidenten sind immer nur die sichtbare Spitze des politischen Eisbergs, der sie trägt. Geschichte wird eben nicht nur auf der Vorder-, sondern auch auf der Hinterseite der Gemälde der großen Staatsmänner gemacht. Von Staatsdienern und Staatsmachern im Schatten, ja im Herzen des Bismarkschen Mantels der Geschichte. Der ehemalige Bundesminister für besondere Aufgaben gehört zweifelsohne – mit Wolfgang Schäuble und anderen – zu den bedeutendsten und auch zu den erfolgreichsten Staatsmachern der Bonner Republik unter Helmut Kohl. Nicht zuletzt, weil er auch ein guter Zuhörer und politischer Beobachter war. Wie kaum ein anderer entdeckte und entschärfte er so die allermeisten potenziellen Probleme, solange diese noch überwindbare Hürden darstellten. Legendär und keineswegs übertrieben ist auch Bohls Kompromiss-Kompetenz, die zum einen auf seiner profunden Kenntnis der jeweiligen Problem- und Aktenlage und zum anderen auf seinem Insidergespür für die politische Großwetterlage beruhte. Langfristig zahlt sich politische Arbeit eben aus. Denn Bohl war – trotz seiner politisch-juristischen Kenntnis der Bonner Verwaltungswege – immer mehr Gestalter und Berater denn Verwalter und Funktionär. Und wenn es notwendig war, scheute er sich auch nicht davor, kalkulierbare Risiken einzugehen. Denn Politik ist gerade in Zeiten des epochalen Wandels immer auch ein optimistisches Wagnis. Auch hier spielen letztlich Bohls Menschenbild und Weltanschauung eine entscheidende Rolle.

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Die Ära Kohl war somit auch – zumindest von 1991 bis 1998 – die Ära Bohl. Helmut Kohl, der Bohl viel zu verdanken hat, hat dies im Übrigen nie vergessen. Andere schon. Von den zahlreichen Neidern des Erfolgs ganz zu schweigen. Doch das ist das Los der guten Kanzleramtschefs: je effizienter und diskreter sie sind, umso geräuschloser und sanfter wirken sie und umso schneller werden sie – zumindest von der breiten Öffentlichkeit – auch wieder vergessen. Dabei ist Deutschland nicht nur eine Kanzler-Republik, sondern eben in logischer Konsequenz auch eine Kanzleramtschef-Republik. Historisch und politikwissenschaftlich bleibt hier noch vieles im politischen System der Bonner Republik zu ergründen. Sicher ist jedoch, dass die Umsetzung der Einheit der Deutschen und der Europäer ohne die geschickte Hintergrundarbeit von Kanzleramtschef Friedrich Bohl – etwa beim „Aufbau Ost“ oder auch bei den Umzugsvorbereitungen von Bonn nach Berlin – so nicht möglich gewesen wäre. Sowohl die deutsche als auch die europäische Wiedervereinigung waren und sind für Bohl dabei untrennbar miteinander verbunden. Ich teile diese Auffassung voll und ganz. Nicht alle in Europa haben dies Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre so gesehen. Doch der Mauerfall des 9. November 1989, den Friedrich Bohl als Cheforganisator der CDU-Fraktion begleiten durfte, war nicht nur eine Sternstunde der Deutschen: es waren bewegende Tage des historischen Glücks aller Europäer, ja aller Menschen. Denn mit dem Fall der Mauer ging das kurze und katastrophale 20. Jahrhundert, das Jahrhundert von Auschwitz, Stalingrad und Verdun zu Ende. Mit der Mauer fiel endlich auch der Eiserne Vorhang. Und endlich waren nicht nur Deutschland, sondern auch Europa, ja Ost und West wieder vereint. Auch wenn so manche Köpfe und Herzen noch nachziehen müssen. Zu früh und auch zu triumphalistisch kamen jedoch die kontraproduktiven Washingtoner Rufe einer Neuen Weltordnung. Denn der Fall der Mauer war zwar wohl der aktierte Untergang des realexistierenden Kommunismus auf europäischem Boden. Und politisch-philosophisch eigentlich weltweit. Doch gleichsam war es keineswegs der Triumph des vermeintlich tugendhaften Kapitalismus. Ganz im Gegenteil! Denn in den 1980er und auch in den 1990er Jahren wurden zugleich die Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft verraten. Und zwar längst nicht nur an der Wall Street. Dem schnellen Geld folgte somit nicht von ungefähr die längste wirtschaftspolitische Krise seit den 1930er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Auch hier bleiben die genauen Zusammenhänge noch zu erforschen. Politisch haben wir heute zwar die Talsohle dieser Krise, die übrigens nie eine Krise der Gemeinschaftswährung Euro war, durchschritten, aber überwunden ist sie deshalb längst noch nicht. Auch weil sie eigentlich eine vielschichtige Tugendkrise ist. Deshalb ist auch die langfristige Überwindung der Krise nur durch eine Rückkehr zu den Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft möglich. Denn nachhaltiges inklusives Wachstum, das auch gute Arbeitsplätze schafft, funktioniert nur in politisch-sozialer Solidarität und in wirtschaftlich-finanzieller Solidität. Anders gesagt: Freiheit und Fairness gehen nur gemeinsam! Der Mensch und seine Ge-

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meinschaften müssen wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. Und die Wirtschaft muss wieder dem Gemeinwohl und ergo dem Menschen dienen. Dies wird die größte politische Herausforderung der kommenden Jahre sein. In Deutschland. In Europa. Und mehr noch in einer Welt, in der immer noch jeden Tag 25.000 Kinder den schlimmsten aller Tode, den Hungertod sterben. Gerade hier muss Europa seine Stimme verstärkt und vereint erheben! Gerade hier brauchen wir dringend eine neue Tugend des Tuns! Gerade hier brauchen wir auf allen Ebenen der Staatlichkeit Macher für die Menschen. Indes: niemand wird als Macher geboren. Auch Friedrich Bohl nicht. Er hat sich gewissermaßen selbst dazu gemacht. Durch Fleiß und Ausdauer in Fraktion und Kanzleramt. Aber auch durch Weitsicht und Bodenständigkeit auf seiner innerparteilichen Ochsentour. In die Christlich Demokratische Union Deutschlands ist er in erster Linie wegen Konrad Adenauer eingetreten. Und also wegen Freiheitsliebe und Westbindung. Später wird Bohl dies für viele überraschend gleich mehrfach als „Bauchentscheidung“ bezeichnen. Ja, der Macher mit dem messerscharfen Verstand war und ist auch ein hochpolitischer Bauchmensch! Mit trockenem Humor. Und auch mit Herz! Dennoch würde ich den Ziehsohn von Alfred Dregger nicht unbedingt dem Arbeitnehmerflügel der Union zurechnen. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Aber Bohl wusste immer – wie Kohl im Übrigen auch – um die Bedeutung des Sozialen in der gleichnamigen Markwirtschaft und auch um die Bedeutung der Arbeitnehmer für die CDU als Volkspartei der breiten Mitte. Gleichwohl war der Mann aus dem Marburger Land stets eher ein konservativer Pragmatiker als ein Vertreter der reinen Soziallehre. Auch das hat er bei Dregger gelernt. Bundespolitisch hat Friedrich Bohl dann Helmut Kohl, dem späteren Ehrenbürger Europas, stets den Rücken freigehalten. Dies darf nicht unterschätzt werden. Denn erfolgreich in Europa kann man letztlich nur sein, wenn man auch erfolgreich zuhause ist. Auch der starke, ja überragende europäische Staatsmann Helmut Kohl wurde so erst möglich. Kohls maßgeblicher politischer Einfluss in Brüssel wäre ohne seine innenpolitischen Bonner Kulissenschieber undenkbar gewesen. Auch dies kann man aus heutiger Sicht nicht hoch genug einschätzen. Denn Europa hat beiden – Kohl und Bohl – viel zu verdanken. Die 1990er Jahre waren gute Jahre für Deutschland und für Europa. Und auch für das größte konkrete und gemeinsame Europaprojekt nach dem Fall der Berliner Mauer: den Euro. Dabei kann man nicht einfach Kohl und Bohl gleichsetzen. Friedrich Bohl pflegte zu sagen, dass der Einfluss als Kanzleramtschef mit zunehmender Diskretion desselben steige. Doch Diskretion ist kein politisches oder europapolitisches Eunuchentum. Ganz im Gegenteil: Bohl war und ist mit Herz und Verstand, Bauch und Seele überzeugter und wertebewusster Europäer! Brüssel und Bonn, Brüssel und Berlin waren und sind für den überzeugten Föderalisten Bohl stets – um das von Kohl so geliebte Adenauerbild zu bemühen – zwei Seiten einer subsidiarischen Medaille. Gleiches gilt für Freiheit und Frieden. Denn der europäische Einigungsprozess

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ist für Bohl als gerade noch im Zweiten Weltkrieg geborenen Vertreter der Nachkriegsgeneration in erster Linie ein ständiger Prozess der kontinentalen Befriedung. Indes: Europa braucht heute eine neue Zukunftserzählung. Eine neue Erzählung von Freiheit und Fairness, Gleichheit und Gemeinschaft, Wachstum und Gemeinwohl. Kurzum: eine Erzählung für die Menschen! Aber das Fundament dieser Erzählung bleibt der Frieden. Denn Frieden ist in der Welt – die jüngsten Konflikte in der Ukraine und im Mittleren Osten haben dies noch einmal eindringlich veranschaulicht – nicht der politische Normalzustand. Frieden ist keine Selbstverständlichkeit, sondern immer das Ergebnis eines politischen Prozesses. Und ohne Frieden ist keine Zukunft möglich. Nicht in Europa. Aber auch nicht in der Welt. Auch deshalb braucht die Welt von morgen eine starke, integrierende, friedensstiftende Softpower Europa. Und eine europäische Softpower kann nur eine Frieden-, Freiheits- und Fairnessmacht sein. Denn auch die Natur der Macht verändert sich rasant. Macht bedeutet heute in erster Linie Überzeugungs- und Anziehungskraft. Und auch wenn Europa sich Gedanken über seine militärische Verteidigung machen muss: gelebte Werte im Sinne einer Tugend des richtigen Tuns sind langfristig die beste Verteidigungslinie. Heute glaube ich im Übrigen eher an ein subsidiäres als an ein föderales Europa. Denn der Föderalismuszug ist längst abgefahren. Wir brauchen heute neue europäische Züge, die die Menschen nicht am Bahnhof Brüssel stehen lassen, sondern sie vielmehr in ihren Kommunen, Regionen und Nationen abholen. Der Begriff des Föderalismus verschreckt die Menschen dabei nur und bringt uns in der Sache der Menschen nicht wirklich voran. Wir brauchen für das Europa des 21. Jahrhunderts, das zugleich einfacher und komplexer als die föderalen Schienennetze des 20. Jahrhunderts ist, vielmehr mehrdimensionale Subsidiaritätsnetze, in denen letztlich jeder Mensch der Mittelpunkt ist. Diese Netze dürfen dabei den Menschen und seine Gemeinschaften, seine Familie, seine Kommune, seine Region, aber auch sein Unternehmen oder seine Gewerkschaft nicht erdrücken, sondern dürfen nur in Erscheinung treten, wenn sie auch wirklich gebraucht werden. Auch die Europäische Union ist ein solches subsidiarisches Netzwerk. Ja, es ist gewissermaßen der Idealtypus eines subsidiarischen Netzwerkes. Und zwar nicht nur ein statisches gesellschaftliches Netzwerk, sondern im Idealfall ein Netzwerk durch das gemeinschaftlicher Strom fließt. Auch hier sind Subsidiarität und Solidarität einmal mehr nur zwei – oder eben unendlich viele – Seiten einer – christlichsozial gesprochen – Personalitätsmedaille. Nichts anderes hat Oswald von NellBreuning im Übrigen gemeint, als er sagte, man könne die ganze Christliche Soziallehre, der ich mich wie auch der Sozialen Marktwirtschaft weiterhin stark verbunden fühle, auf einem Fingernagel zusammenfassen. Und ich weiß, dass auch Friedrich Bohl der Sozialen Marktwirtschaft und ihren Kardinaltugenden stark verbunden ist. Überhaupt ist Friedrich Bohl – man kann es nicht oft genug unterstreichen – ein tugendhafter Mensch und Politiker. Er stand und steht dabei für die Tugend des Tuns!

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Recht schnell hat er zwar seine jugendlichen Illusionen in den Fluren der pragmatischen Macht – im Bonner „Laden“ wie er sagt – verloren, jedoch nie seine politischen und rechtsstaatlichen Ideale. Auch das hat er mit Helmut Kohl gemein. Ebenso sein historisches Denken. Und nicht zu vergessen, seinen politischer Instinkt. Denn als Kanzleramtschef muss man – wie ein guter Schachspieler – immer mehrere Züge im Voraus denken. Und man darf sich als praktisch letzte politische Instanz nie schachmatt setzen lassen. Insofern war Friedrich Bohl ein wahrer Großmeister des Bonner Schachbretts. Auch auf dem Brüsseler Schachbrett brauchen wir heute eine neue Tugend des Tuns! Gerade weil Politik kein Schachspiel, ja überhaupt kein Spiel ist! Denn mit Menschen, mit ihren Sorgen und Ängsten, Träumen und Hoffnungen spielt man nicht! Auch diese Auffassung teile ich voll und ganz mit Friedrich Bohl. Insofern ist es gut, dass Europa – trotz aller Unkenrufe – immer mehr die Sache der Europäer wird. Denn das europäische Spielfeld ist eben nicht nur eine Spielwiese für Nationalstaaten und ihre Diplomaten oder für die Europäische Union und ihre Eurokraten. Europa, das sind in erster Linie die Europäer, die Bürger, die Menschen. Allen voran die jungen Menschen in Europa. Ohne jedoch die älteren Menschen zu vernachlässigen. Doch Europa muss vor allem jungen Menschen wieder Zukunftsperspektiven anbieten und Hoffnung machen. Nicht zuletzt deshalb brauchen wir dringend eine Erneuerung des Europäischen Traumes. Und ich meine damit keinen abstrakten unerreichbaren Traum, sondern ich meine konkrete Zukunft, solide Arbeit, echte Solidarität, gelebte Gemeinschaft. Denn dies sind die wirklich großen Dinge, die die Menschen von Europa erwarten. Insofern müssen die wirklich großen Dinge im Alltag der Menschen auch wieder wirklich groß in Brüssel werden. Um die kleinen Dinge des Alltags hingegen soll Brüssel sich eher nicht kümmern. Denn das kann Brüssel nicht und es schadet nur der Sache Europas. Letztlich ist dies auch eine Frage des von Friedrich Bohl stets praktizierten gesunden Menschenverstands in der Politik. Oder philosophischer: von der Tugend des Tuns im Sinne einer zielführenden Politik der praktischen Vernunft. Helmut Kohl hat dies einmal unnachahmlich so auf den Punkt gebracht: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Aber gute politische Resultate fallen nur höchst selten vom Himmel. Zumeist muss dem Glück etwas nachgeholfen werden. Insofern war das Glück des Friedrich Bohl immer auch das Glück des Tüchtigen. Nicht nur Helmut Kohl, sondern auch Deutschland und Europa haben stets davon profitiert. Tugend des Tuns bedeutet auch, dass die Bohlschen 1990er Jahre keineswegs, wie manche böswillig behaupten oder zumindest behaupteten, eine Zeit des bundesrepublikanischen „Reformstaus“ waren. Das Kanzleramt unter Helmut Kohl war nie ein Staudamm und der Kanzleramtschef nie der Chefbiber. Das Amt war unter Bohl vielmehr ein sanfter Impulsgeber, aus dem durchaus auch tiefgreifende Reformen hervorgingen. Gestaut hat es vermutlich eher im sozialdemokratisch dominierten Bundesrat. Doch dies ist eine andere Geschichte. Unter Kohl und Bohl jedenfalls stimmte

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der Entscheidungsfluss. Allerdings war dieser manchmal so effizient und diskret, dass er kaum wahrgenommen wurde. Und ganz sicher war er nicht auf kurzfristige ordnungs- oder wirtschaftspolitische Strohfeuereffekte in den Medien ausgerichtet. Der politische Bauingenieur Friedrich Bohl hat jedenfalls wesentlich lieber Brücken als Staudämme gebaut. Dies hat er schon Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre in der parlamentarischen Geschäftsführung der Unionsfraktion getan. Hier, in der Fraktion unter Dregger, hat er sein Metier von der parlamentarischen Pieke auf gelernt. Gleiches gilt für sein Engagement in der hessischen Jungen Union und in seinem CDU-Kreisverband Marburg-Biedenkopf. Nein, abgehoben ist Bohl im Gegensatz zu anderen nie. Denn mit Überheblichkeit kommt man nicht weit. Bohls Stärke war immer die Stärke des austarierten Kompromisses und der überzeugenden sachpolitischen Argumente im machtpolitischen Dreieck von Regierung, Fraktion und Partei. Und dies galt als Kanzleramtschef nicht nur für die Beziehungen mit der eigenen, sondern auch, ja besonders für den respektvollen Umgang mit der liberalen Fraktion der FDP. So manche aktiven Politiker können sich von diesem Respekt sowohl vor dem politischen Partner als auch vor dem politischen Gegner eine Scheibe abschneiden. Gleichzeitig hatte der – leidenschaftliche und keineswegs kühle – Stratege Bohl immer auch den entscheidenden Blick für das große Ganze und die ebensolche Linie. In der Bonner Republik. Aber eben auch in Europa und in der Welt. Früher als andere hat der – im besten Sinne des Wortes – Realpolitiker Bohl die neuen systemischen Vernetzungen der globalisierten und beschleunigten Welt erkannt. Doch gerade deshalb ist er bodenständig geblieben und hat nie die Bedeutung der lokalen Verwurzelungen und regionalen Vernetzungen sowohl für die Identität der Menschen als auch für das Wachstum der Wirtschaft vergessen oder gar verleugnet. Seinem Marburger Land etwa ist er bis heute verbunden. In dieser neuen vernetzten Welt gibt es für Friedrich Bohl keine Alternative zu einem starken Europa. Insofern war die sogenannte Europäisierung der deutschen Innenpolitik auch eine Antwort auf die wettbewerbspolitischen Herausforderungen der Globalisierung. Und diese Europäisierung ist mehr denn je notwendig. Denn nur gemeinsam verfügen wir Europäer global über die kritische Masse, um überhaupt noch in Washington und Peking, Moskau und Tokio, New Delhi und Brasilia wahrgenommen zu werden. Europa muss deshalb gemeinsam groß in der Welt sein und darf dabei durchaus klein in seinen Nationen und Regionen sein. Friedrich Bohl, der durchaus auch emotional sein kann, ist sowohl ein heimatliebender Hesse und deutscher Patriot als auch ein überzeugter Europäer. Beides geht zusammen. Beides geht im 21. Jahrhundert nur noch zusammen: Heimat Region, Vaterland Nation, Mutterland Europa. Und Region, Nation und Europa sind in einer transregionalen und transnationalen Welt nicht nur territoriale Größen. Es sind auch, ja zuvorderst Gemeinschaften. Auch das Prinzip der Subsidiarität ist hier anwendbar. Nicht juristisch, sondern vielmehr gesellschaftlich-gemeinschaftlich. Und genau hier, im Herzen der gelebten Gemeinschaft, in der menschlichen Person liegt

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auch die Wurzel der Subsidiaritäts-Idee, die ja christlichen Ursprungs ist. In den EUVerträgen ist hiervon eigentlich nur eine stark verkürzte Variante zurückbehalten worden. Aber immerhin. Aber auch mit verkürzender Gestaltung hat die Tugend des Tuns zu tun. Denn nur in den seltensten Fällen kann man in der Politik den idealtypischen Weg der reinen Lehre gehen. Verantwortungsvolle Politik – und solche hat Friedrich Bohl immer betrieben – bedeutet eben immer auch, mutige Entscheidungen zu treffen. Den akademischen Luxus der Nicht-Entscheidung jedenfalls können sich Politiker, die diesen Namen auch verdienen, nicht leisten. Insofern ist die Kompromisspolitik des jeweils bestmöglichen Weges gar nicht so weit von den wegweisenden Entscheidungen des richtigen Lebens entfernt. Auch das haben sowohl Kohl als auch Bohl immer verstanden und beherzigt. Zumeist mit Erfolg. Aber eben auch im Bewusstsein, dass politische Programme und wirtschaftlichte Theorien immer an menschliche Grenzen stoßen und nie als Heilslehre missverstanden werden dürfen. Denn sonst können sie sehr schnell – an mahnenden Beispielen mangelt es in der europäischen Geschichte nicht – zur Heilsleere werden und den Menschen in den Abgrund stürzen. Friedrich Bohl hat sich nie an diesem Abgrund bewegt. Aber er hat sich aus der Politik zurückgezogen als er ganz oben auf der Karriereleiter stand. Er ist nicht gegangen worden, sondern sein Rückzug aus der bundesspolitischen Sphäre war seine eigene, freie Entscheidung. Dass er dabei in die freie Wirtschaft, präziser in die Vermögensberatung gewechselt ist, passt zum Wesen des gelernten Notars. Doch auch hier ist Bohl nicht einfach nur Verwalter. Auch hier ist er eher verantwortungsvoller Macher und Gestalter. Und darüber hinaus auch noch ein erfüllter Vater und Großvater. Überhaupt scheint Friedrich Bohl ein erfüllter ganzheitlicher Mensch zu sein. Und so habe ich ihn auch in Erinnerung. Denn obgleich Notar und Vermögensberater, so war der diskrete Christ Friedrich Bohl doch nie ein Individualist oder gar ein Materialist. Den Sinn des Lebens hat er weder in der Macht des Bonner oder Berliner Kanzleramtes noch in der Macht des Frankfurter Geldes gesucht. Vielleicht ist er ihm deshalb auch näher gekommen als andere … Aus Luxemburg und Brüssel alles erdenklich Gute und Gottes Segen zum 70. Geburtstag!

Beitrag zur Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags von Bundesminister a. D. Friedrich Bohl Von Angela Merkel Eine Festschrift zu Ehren des Geburtstagsjubilars Friedrich Bohl? Eine schöne Idee, um seine großen Verdienste zu würdigen – das war mein erster Gedanke, als ich von diesem Vorhaben erfuhr. Ich hatte Friedrich Bohl von meinen ersten Schritten in der Bundespolitik an als einen wertvollen Wegbegleiter schätzen gelernt. Wir teilen eine Reihe gemeinsamer Erinnerungen an bewegende, fordernde und schlichtweg spannende Regierungszeiten. 1990 erstmals als Abgeordnete in den Deutschen Bundestag gewählt, übernahm ich wenig später das Amt der Bundesministerin für Frauen und Jugend. Friedrich Bohl war damals noch Erster Parlamentarischer Geschäftsführer unserer Fraktion, bevor er alsbald zum Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts ernannt wurde. In dieses Amt brachte er bereits über zwanzig Jahre Parlamentserfahrung mit ein, die er im Hessischen Landtag und im Deutschen Bundestag gewonnen hatte. Die Presse beschied ihm schon damals, „einer der routiniertesten Polit-Profis Bonns“ zu sein. An seinem Erfahrungsschatz ließ er auch politische Neulinge wie mich teilhaben. Er hatte stets ein offenes Ohr und unterstützte mich mit manch gutem Rat. Dafür war und bleibe ich ihm von Herzen dankbar. Die mit Mut vollendete staatliche Einheit unseres Landes war innen-, wirtschafts-, sozial- und finanzpolitisch zu gestalten, eine Herausforderung ohne Beispiel. Es bedurfte zunächst umfassender Analysen der wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten, um konkrete Ziele festlegen zu können. Anschließend galt es, die notwendigen Maßnahmen einerseits gründlich vorzubereiten, andererseits so rasch wie möglich auf den Weg zu bringen, um rechtliche Unsicherheiten und Grauzonen zu beseitigen. Wie schwierig das war, zeigte sich schon allein am Beispiel offener Eigentumsfragen, die sich als ebenso juristisch schwierig wie emotional belegt erwiesen. Ich erinnere mich noch gut an die schier endlosen Diskussionen mit Friedrich Bohl über das Sachenrechtsbereinigungsgesetz und dergleichen mehr. In meinem Wahlkreis in Vorpommern habe ich hautnah erlebt, dass sich viele plötzlich um jeden einzelnen Quadratmeter ihres Grundstücks sorgten, ja regelrecht Existenzängste hatten, solange keine rechtliche Klarheit bestand.

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Eigentumsfragen zu klären, das war nur ein Aspekt unter vielen. Die tagespolitische Aufgabenpalette in den ersten Jahren der Deutschen Einheit reichte von der Gestaltung des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern über die Modernisierung ihrer Infrastrukturen bis hin zur Schaffung einer angemessenen finanziellen Ausstattung ostdeutscher Länder und Kommunen im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und Solidarpakts. Hinzu kam die Herausforderung der weiteren europäischen Integration. Nach jahrzehntelanger Teilung unseres Kontinents galt es, völlig neue Beziehungen zu unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn zu entwickeln. Hierbei machte sich Friedrich Bohl besonders um die deutschpolnische Zusammenarbeit verdient. Angesichts der Dimension der historischen Aufgaben, die Deutsche Einheit zu gestalten und die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung fortzuschreiben, war in der alltäglichen Regierungsarbeit ressortübergreifendes Zusammenwirken eher die Regel als die Ausnahme. Damit gelang es dem Bundeskanzleramt und vor allem dem Chef des Hauses das Regierungshandeln zu koordinieren. Friedrich Bohl war somit an vielen zentralen Entscheidungen für das noch junge wiedervereinte Deutschland an maßgebender Stelle beteiligt. Vor diesem Hintergrund ist es leicht nachvollziehbar, dass er auf die Frage, über welche natürliche Gabe er gerne verfügen würde, einst antwortete: „Mit vier Stunden Schlaf auszukommen“. Seinen Kabinettskollegen aber schien er ohnehin gleichsam rund um die Uhr im Dienst zu sein. Bereits zu seinem Amtsantritt wurde Friedrich Bohl in den Medien bescheinigt, er habe „die Erfahrung und Statur, um das zu leisten, was er sich vorgenommen hat, nämlich die Entscheidungsprozesse der Koalitionsregierung so reibungslos wie möglich zu handhaben“. Und zum Ende seiner Amtszeit konnte festgehalten werden: Das war ihm gelungen. Friedrich Bohl hat viel für unser Land erreicht – dank seiner unermüdlichen Schaffenskraft und seines Fingerspitzengefühls, in politischen Streitfragen die Fäden nicht nur zusammenzuhalten, sondern immer wieder auch an den richtigen Stellen und im richtigen Moment zu ziehen. Aus guten Gründen also genoss er in all den Jahren das Vertrauen von Bundeskanzler Helmut Kohl. Dabei ging der bekannte Ausspruch „kein Kohl ohne Bohl“ deutlich über die Charakterisierung als wichtiger Kanzlerberater hinaus. Nicht von ungefähr kam Helmut Kohl zum 50. Geburtstag Friedrich Bohls nach Marburg. Friedrich Bohl war länger als fast jeder andere seiner Vorgänger und Nachfolger Chef des Bundeskanzleramts. Er verstand es, eine in der politischen Alltagshektik unverzichtbare Souveränität und Gelassenheit auszustrahlen und gleichermaßen fachliche Kompetenz und menschliche Konzilianz zu verkörpern. So nimmt es kaum wunder, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihn aus dieser Zeit kennen, noch heute respektvoll von ihm als „ihrem“ Chef BK reden. Auch als er sich nach dem Regierungswechsel 1998 neuen Aufgaben zuwandte, blieb er dem Bundeskanzleramt verbunden. Nach sieben Oppositionsjahren war es mir dann 2005 eine besondere Freude, Friedrich Bohl im Bundeskanzleramt als Ehrengast zur Weihnachtsfeier begrüßen zu dürfen. Er ist und bleibt uns in diesem

Anlässlich des 70. Geburtstags von Friedrich Bohl

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Hause stets willkommen – zugegebenermaßen nicht ganz uneigennützig, denn seine Erfahrung und sein Rat sind und bleiben sehr gefragt. Zum 70. Geburtstag gratuliere ich Friedrich „Fritz“ Bohl im Namen „seines“ Bundeskanzleramts und natürlich auch persönlich sehr herzlich. Ich wünsche ihm anhaltende Schaffenskraft, Zufriedenheit, Gesundheit und Gottes Segen.

An den Schalthebeln der Macht in Bundestag und Bundesregierung – Friedrich Bohl als Parlamentarischer Geschäftsführer und als Chef des Bundeskanzleramtes Von Hans-Dietrich Genscher Der Lebensweg von Friedrich Bohl bietet das Beispiel eines geradlinigen erfolgreichen Weges in verschiedenen Funktionen. Er bietet auch ein Beispiel dafür, dass eine solide berufliche Ausbildung eine gute Voraussetzung für einen solchen Weg ist. Friedrich Bohl ist Volljurist, er hat die zwei juristischen Staatsprüfungen abgelegt und damit die Befähigung zum Richteramt und, und, und … erlangt. Das gab ihm die für jeden, der sich der Politik verschreibt, gebotene persönliche Unabhängigkeit. „Ich kann mein Geld auch außerhalb der Politik verdienen“ – das sagen zu können ist eine der Voraussetzungen für einen geradlinigen Lebensweg, wie er ihn bis auf den heutigen Tag beispielhaft geht. Als Mitglied des Deutschen Bundestags war Friedrich Bohl Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion, eine Schlüsselfunktion, die wie kaum eine andere ein hohes Maß an Querschnittswissen vermittelt und die gleichzeitig die Fähigkeit zur Organisation und auch zum Zusammenführen von Menschen stärkt. Dass er als Mitglied der Bundesregierung Chef des Bundeskanzleramtes wurde, ist eine der möglichen und herausragenden Krönungen eines solchen politischen Lebens. Politik als Beruf verlangt Berufung. Friedrich Bohl hatte diese Berufung und er wurde ihr in vollem Maße gerecht. So habe ich ihn kennengelernt und so habe ich ihn schätzen gelernt. Einen, auf dessen Wort man sich verlassen kann, der fundiert argumentiert, der Machtverhältnisse einzuschätzen weiß, aber dabei nie seine Überzeugungstreue aufgibt. Das alles sind Eigenschaften, die keineswegs der Politik vorbehalten sind, die aber in der Politik um ihrer Glaubwürdigkeit willen im Grunde fast konstitutiv sind. Alle diese Eigenschaften haben es Friedrich Bohl ermöglicht, in einem gänzlich anderen Milieu, dem der Finanzwirtschaft, in dem es genauso auf Glaubwürdigkeit und Vertrauensbildung ankommt, seinen Weg des Erfolges fortzusetzen. Vom Vorstandsvorsitzenden bei der Deutschen Vermögensberatung ist er nun ihr Aufsichtsratsvorsitzender und das mit der gleichen Vertrauenswürdigkeit und Überzeugungskraft wie auf seinem ganzen beruflichen Wege. Zur Vollendung des 70. Lebensjahres gelten meine guten Wünsche dem hoch geschätzten Kollegen aus einer anderen Partei.

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Der verständnisvolle Leser dieser Zeilen wird ihnen nicht nur persönliche Wertschätzung und Sympathie entnehmen, es ist mehr, es ist auch menschliche Verbundenheit. Der Kenner der Materie wird aber auch feststellen, dass es zwischen uns, Friedrich Bohl und mir, viele Parallelen gibt. Die solide Ausbildung als Jurist, der Parlamentarische Geschäftsführer, das Mitglied der Bundesregierung, das alles sind Voraussetzungen auch für ein erfolgreiches Leben danach – nämlich nach der Politik. Und das, lieber Friedrich Bohl, wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen und noch recht lange.

Das Kanzleramt und sein Chef im Prozess der Wiedervereinigung Von Bernhard Vogel I. Erstaunlicherweise gehört das Bundeskanzleramt – im Gegensatz zu seiner tatsächlichen Bedeutung – zu den vergleichsweise wenig thematisierten obersten Bundesbehörden unserer Verfassungsordnung. Im Grundgesetz kommt es nicht vor. Dort ist lediglich festgelegt, dass die Bundesregierung aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern besteht (Art. 62 GG), dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt und dass er die Geschäfte der Bundesregierung leitet, nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung (Art. 65 GG). In der Geschäftsordnung der Bundesregierung ist geregelt, dass der Bundeskanzler auch auf die Einheitlichkeit der Geschäftsführung in der Bundesregierung hinzuwirken hat (§ 2), dass er von den einzelnen Ministern über Maßnahmen und Vorhaben zu unterrichten ist, die für die Bestimmung der Richtlinien von Bedeutung sind (§ 3), dass er den Bundespräsidenten laufend über seine Politik zu unterrichten hat (§ 5). § 7 der Geschäftsordnung bestimmt, dass der Staatssekretär des Bundeskanzleramtes zugleich die Geschäfte eines Staatssekretärs der Bundesregierung wahrnimmt. Er setzt die Sitzungen der Bundesregierung nach näherer Anweisung des Bundeskanzlers fest und veranlasst die Einladung unter Beifügung einer Tagesordnung. Ihm sind die Kabinettsvorlagen zuzuleiten (§ 21). Vom Beginn der Amtszeit Konrad Adenauers (15. September 1949) bis zum 15. Juni 1964, also die ersten 15 Jahre der Bundesrepublik, leitete ein beamteter Staatssekretär das Amt (Franz-Josef Wuermeling, Otto Lenz, Hans Globke, Ludger Westrick). Im Juli 1964 ernannte Bundeskanzler Ludwig Erhard seinen beamteten Staatssekretär Ludger Westrick zum Bundesminister für besondere Aufgaben, weil dieser nach Vollendung seines 70. Lebensjahres nicht mehr als Beamter tätig sein durfte. Kurt Georg Kiesinger berief zunächst Werner Knieper und danach Karl Carstens zum beamteten Staatssekretär. Willy Brandt – sieht man vom Sonderfall Westrick ab – bestellte zum ersten Mal einen Bundesminister zum Chef des Bundeskanzleramtes: Horst Ehmke. Auf ihn folgten allerdings für zwölf Jahre unter Brandt, Schmidt und Kohl noch einmal ausnahmslos beamtete Staatssekretäre (Horst Grabert, Manfred Schüler, Manfred Lahnstein, Gerhard Konow, Waldemar Schreckenberger). Erst danach, seit der Berufung von Wolfgang Schäuble im November 1984, wird der Bundesminister für besondere Aufgaben als Chef des Bun-

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deskanzleramtes bis heute zur Regel (Wolfgang Schäuble, Rudolf Seiters, Friedrich Bohl, Bodo Hombach, Thomas de Maizière, Ronald Pofalla, Peter Altmaier), nur unterbrochen durch die Amtszeit des beamteten Staatssekretärs Frank-Walter Steinmeier (Oktober 1999 bis November 2005). Nahezu alle Kanzleramtschefs gehörten der Partei ihres Kanzlers an, nur Ludger Westrick, Werner Knieper und Gerhard Konow waren parteilos. Am kürzesten amtierte Gerhard Konow (fünf Monate und fünf Tage), am längsten Hans Globke (fast zehn Jahre). Kein Kanzler hat den Amtschef seines Vorgängers übernommen. Für zahlreiche Chefs des Bundeskanzleramtes erwies sich die Position nur als eine, allerdings bedeutsame Stufe auf ihrer Karriereleiter. Karl Carstens wurde später Bundespräsident. Franz-Josef Wuermeling, Horst Ehmke, Manfred Lahnstein, Wolfgang Schäuble, Rudolf Seiters, Frank-Walter Steinmeier und Thomas de Maizière wurden unmittelbar anschließend oder auch später Bundesminister mit eigenem Ressort. Peter Altmaier dagegen wechselte – koalitionsbedingt – vom Umwelt-Ressort ins Kanzleramt. II. Der Chef des Bundeskanzleramtes nimmt im Machtgefüge der Bundesrepublik eine besondere, mit wohl keinem anderen Regierungsamt vergleichbare Sonderstellung ein. Er hat eine der anspruchsvollsten und vielseitigsten, zugleich aber auch schwierigsten Aufgaben zu erfüllen. Er ist die rechte Hand des Bundeskanzlers. Seinem Platz im Zentrum der Macht, an den Schaltstellen der Macht, kommt hohe Bedeutung zu. Die Stärke des Kanzleramtschefs hängt von der Stärke und dem Regierungsstil des Bundeskanzlers ab. In Verwaltungsangelegenheiten hat er dem Bundeskanzler den Rücken freizuhalten. Der Apparat des eigenen Amtes muss reibungslos laufen. Er muss dessen Sachverstand nutzen. Als Vorsitzender der Staatssekretärskonferenz ist er für die Koordination im Kabinett verantwortlich. Er soll die Abläufe der Regierung effektiv gestalten, Meinungsverschiedenheiten ausräumen. An der Koalitionsrunde, in der Regel auch an der „Elefantenrunde“ nimmt er teil. Zugleich ist er der Mittler zwischen Bundesregierung und Mehrheitsfraktion, aber auch zwischen den Koalitionsfraktionen. Er muss den Kontakt zur eigenen Partei pflegen. Seine Integrationskraft ist gefordert. Er muss den Kanzler informieren und beraten und häufig seine Entscheidungen vorbereiten. Er agiert im Schatten der Macht. Aber es tut seinem Einfluss keinen Abbruch, dass die Öffentlichkeit nur selten auf ihn aufmerksam wird. Im Gegenteil. „Je verborgener und geräuschloser er sein Regierungsamt leitet, umso besser erfüllt er seine Arbeit“ (Ralf Schönfeld – Bundeskanzleramtschef im vereinten Deutschland – Stuttgart 2011). Als Ministerpräsident zweier deutscher Länder und damit als Regierungschef konnte ich am eigenen Leib erfahren, wie sehr ich auf die Loyalität meiner Staatskanzlei und insbesondere auf deren Chef angewiesen war. Auch wenn Bundeskanzleramt und Staatskanzlei eines Landes nur bedingt miteinander vergleichbar sind,

Das Kanzleramt und sein Chef im Prozess der Wiedervereinigung

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hinsichtlich ihrer Führungsfunktion sind beide durchaus miteinander vergleichbar. Ich habe erfahren, wie sehr ein Ministerpräsident bei der Erfüllung seiner Aufgaben: Richtlinienkompetenz, Leitung des Kabinetts, Beziehung zu Landtag und Partei, bei Koalitionen die Beziehung zum Koalitionspartner, Öffentlichkeitsarbeit, Umsetzung des Regierungsprogramms, auf seinen Chef der Staatskanzlei angewiesen ist. Er muss das volle und uneingeschränkte Vertrauen seines Ministerpräsidenten genießen, muss jederzeit zu ihm Zugang haben. Er muss bereit sein, im „Maschinenraum“ der Regierung zu arbeiten, d. h. er muss sich der dienenden Funktion seiner Tätigkeit bewusst sein. Er muss im Gegensatz zu seinem Ministerpräsidenten und den Ministerinnen und Ministern bereit sein, auf öffentliche Aufmerksamkeit zu verzichten. Je weniger sein Name Gegenstand öffentlicher Diskussionen ist, umso besser. Er muss Streit und Konflikte ausgleichen. Er muss für die Leistungsfähigkeit eines vergleichsweise sehr kleinen Beamtenapparates sorgen. Er muss das Vertrauen der Kabinettsmitglieder und ihrer Staatssekretäre, der Landtagsfraktion und der eigenen Partei genießen. Waldemar Schreckenberger (1976 – 1982), ganz anders als später in Bonn, Eberhard Schleyer (1982 – 1988), der nach der Ermordung seines Vaters in die Politik wechselte, in Mainz und Michael Krapp (1992 – 1999) in Erfurt, wo seine für mich, dem Landesfremden, unschätzbare Kenntnis der Thüringer Verhältnisse und des Thüringer Personals hinzukam, haben ihre Aufgabe vorbildlich erfüllt. Sie haben einen entscheidenden Anteil an unserem Erfolg. III. Als Helmut Kohl im November 1991 einen neuen Amtschef suchte (Rudolf Seiters war im Zuge einer größeren Kabinettsumbildung zum Innenminister berufen worden), setzte er die inzwischen schon zur Tradition gewordene Praxis fort und berief zum dritten Mal den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer seiner, der CDU/ CSU-Fraktion: Friedrich Bohl (als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes). Dessen beide Vorgänger, Wolfgang Schäuble und Rudolf Seiters, hatten gute und erfolgreiche Arbeit geleistet und sich im Amt bewährt. Warum sollte er nicht wieder so verfahren? Friedrich Bohl, 1945 im Landkreis Göttingen geboren, war 1963 – von einem Schulfreund dazu bewogen – in die CDU eingetreten. Er begann sein juristisches Studium in zumindest hochschulpolitisch bewegten Zeiten. Als ich als junger Kultusminister in den 68er-Jahren eine turbulente RCDS-Veranstaltung an der Universität Marburg nur mühsam bestand, war er unter den Teilnehmern. Bohl wird Mitglied des Kreistages von Marburg-Biedenkopf und bald Vorsitzender der CDU-Fraktion. 1970 zieht er für zehn Jahre in den Hessischen Landtag ein. Die durch viele Niederlagen leidgeprüfte hessische CDU schöpft mit der Wahl Alfred Dreggers, der nicht ohne Einfluss auf Bohl bleiben sollte, zum Parteivorsitzenden neue Hoffnung. Noch vor dem Ende der sozialliberalen Koalition wechselt Bohl (1980) in den Bundestag – für 22 Jahre, bis 2002. Er wird zwei Jahre nach der Wahl

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Helmut Kohls zum Bundeskanzler, Alfred Dregger war inzwischen Fraktionsvorsitzender geworden, zunächst vierter und schließlich, 1989, als Nachfolger Rudolf Seiters, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer und damit für die Verbindung der Fraktion zur Regierung zuständig. Und er gehört auch dem Koalitionsausschuss an. Auch durch seine Tätigkeit in verschiedenen Untersuchungsausschüssen war er schon zuvor Helmut Kohl aufgefallen und gehörte bereits damals zu seinem engeren Beraterstab. Im Kanzleramt traf Bohl auf einen politisch gestärkten Kanzler und fand ein durch Schäuble und Seiters gut geführtes Haus vor. Es war als Machtzentrum der Regierung ausgebaut und ganz auf den Bundeskanzler abgestimmt. Er brauchte, um erfolgreich zu sein, nur daran anzuknüpfen. In der Fraktion war er solide verankert, in der Partei durch seine „Basisarbeit“ in seinem angestammten Wahlkreis, Marburg-Biedenkopf, den er häufig direkt gewann, gut geerdet und als Mitglied des Parteipräsidiums in die Parteiführung eingebunden. IV. Als Bohl Chef des Bundeskanzleramtes wurde, lagen der Tag des Mauerfalls und der Tag der Wiedervereinigung zwei bzw. ein Jahr zurück. Die allgemeine Begeisterung begann nachzulassen, der mühsame Weg durch die Ebene aber lag noch vor uns. Ihn in herausgehobener Stellung zu bewältigen, wurde zu Friedrich Bohls zentraler Aufgabe. „Nach Vollendung der staatlichen Einheit stehen wir jetzt vor der historischen Aufgabe, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden, dies ist ein gigantisches Unternehmen“, so Friedrich Bohl auf einer Veranstaltung des Bundes der Mitteldeutschen im Juli 1992. Er wollte seinen Beitrag zur inneren Einheit, „zum Zusammenführen der Menschen in Ost und West leisten“ (Friedrich Bohl in der Welt am Sonntag im Dezember 1991). Die entscheidenden Verträge waren geschlossen, unter anderem der Staatsvertrag zur Schaffung der Währung-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR im Mai 1990, der Einigungsvertrag vom August 1990, der Zweiplus-Vier-Vertrag mit den vier Siegermächten im September 1990 und der deutschpolnische Vertrag über die Bestätigung der bestehenden Grenzen vom November 1990. Die Wahlen zur Volkskammer und zum ersten gesamtdeutschen Bundestag waren für die Union erfolgreich bestanden, aber der „Aufbau Ost“ stand noch an seinem Beginn, die Folgen der deutschen Teilung mussten erst Schritt für Schritt tatsächlich überwunden werden. Eine Herkulesaufgabe, die von allen Beteiligten große Anstrengungen verlangte. Auch hier kam dem Bundeskanzler eine Schlüsselrolle zu. Gerade weil er zum Vater der Einheit geworden war, erwartete man von ihm und seinem Kanzleramt die Lösung nahezu aller, vor allem aber aller scheinbar unlösbaren Probleme. Und zwar sofort! Wir alle standen unter unglaublichem Zeitdruck. Die Menschen in den neuen Ländern waren in bewundernswertem Umfang bereit, selbst Hand anzulegen, auch bei Aufgaben, die sie nicht kannten und für die ihnen

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keine Vorbereitungszeit blieb. Aber man erwartete nicht nur Hilfe vom Westen, man verglich sich auch stets mit dem Westen. Vom Westen, in dem sich sehr viele bald wieder ihren eigenen alltäglichen Aufgaben zuwandten und der – verständlicherweise – vom Osten weniger wusste als der Osten vom Westen. Ihre Bereitschaft, auch finanzielle Opfer zu bringen, hielt sich in Grenzen. Einen Masterplan, wie man die 1952 aufgelösten Länder wieder errichten sollte, wie man statt sozialistischer Planwirtschaft Soziale Marktwirtschaft aufbauen sollte, gab es nicht. Wir warben für mehr Verständnis im Westen für die Bürger in den jungen Ländern und für mehr Geduld im Osten, dass es mit der Verbesserung der Lebensqualität nicht schneller voranging und dass sich nicht alle Probleme auf einmal lösen ließen. Die größten Schwierigkeiten stellten sich vor allem in der Wirtschaft, in der (Verkehrs-)Logistik, im Verwaltungsaufbau, in den Schulen und Hochschulen, im Umweltschutz. Wie katastrophal die wirtschaftliche und finanzielle Lage der DDR tatsächlich war, wussten wir alle nicht. Der Zusammenbruch des Warschauer Paktes und der Sowjetunion schuf zusätzliche Probleme. Der Bundeskanzler gab die entscheidenden Impulse. Umsetzen musste sie das Kanzleramt, musste sie Friedrich Bohl und einige wenige seiner engsten Mitarbeiter. Das Bundeskanzleramt blieb auch in dieser Phase die Schaltstelle für die operative Deutschlandpolitik. Bohl bereitete die großen Konferenzen des Bundeskanzlers vor, das regelmäßige aber besonders nützliche Gespräch mit Repräsentanten der ostdeutschen Wirtschaft im Nato-Saal des Bundeskanzleramtes zum Beispiel, die immer wiederkehrenden Zusammenkünfte mit den ostdeutschen Ministerpräsidenten, die unzähligen Besuche des Kanzlers in den fünf jungen Ländern, und er leitete selbst eine schier unübersehbare Zahl von Konferenzen und Gespräche. Er war ständig vor Ort. 140 Mal soll Bohl während seiner Amtszeit die jungen Länder besucht haben. Immer wenn wir nicht mehr weiter wussten, besuchten wir ihn, riefen wir nach ihm. An seiner Seite erwies sich vor allem Johannes Ludewig (und neben ihm Michael Mertes) als einer der am besten informierten und hilfreichsten Mitarbeiter. Der 1945 in Hamburg geborene Doktor der Wirtschaftswissenschaften kam aus dem Bundeswirtschaftsministerium und wechselte 1983 ins Bundeskanzleramt. Ab 1991 war er Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Finanzpolitik und für die Koordination der neuen Länder zuständig. Weil es nicht gelang, ihn im Bundeskanzleramt zu befördern, wechselte er im Januar 1995 als Staatssekretär in das Bundeswirtschaftsministerium und wurde dort Beauftragter für die Neuen Länder. Wo es brannte, war er zur Stelle, und es brannte oft und an vielen Stellen. Wiederworte hörte Ludewig nicht gerne, sie waren auch häufig unberechtigt. Er hat bei der Sanierung der maroden, angeblich volkseigenen Wirtschaft geholfen wie kein Zweiter. Schon im Februar 1990 war der Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit“ gebildet worden. In sechs Arbeitsgruppen sollten die Details einer Einigung für die bundesdeutsche Seite vorbereitet werden. Ende Januar 1991 wurde der Kabinettsausschuss „Neue Bundesländer“ eingesetzt. Seine Leitung lag beim Chef des Bundeskanzleramtes. Es geht um die Fragen, die uns besondere Sorge bereiteten: Aufbau der Verwaltung,

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Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Landwirtschaft, um die Treuhandanstalt, um Vermögensfragen, Entschädigungen, um die Umweltbelastung, um ein gesamtdeutsches Verkehrskonzept und um die Stasi-Akten. Noch standen allein in Thüringen 80.000 sowjetrussische Soldaten. Die letzten verließen erst im August 1994 den Freistaat. Am Anfang herrschte unter den wiedererstandenen jungen Ländern große Geschlossenheit. Der neu eingerichteten Ministerpräsidentenkonferenz-Ost kam große Bedeutung zu, z. B. bei der Vorbereitung des ersten Solidarpaktes (1993). Man traf sich sehr häufig, diskutierte intensiv und fasste meist einstimmige Beschlüsse. Die Herausforderungen des Tages bestimmten die Tagesordnung. Die im März 1991 zwischen Bund und Ländern vereinbarten „Grundsätze zur Zusammenarbeit von Bund, neuen Ländern und Treuhandanstalt für den Aufbau Ost“ hat Ludewig – was die Seite des Bundes betrifft – in die Praxis umgesetzt. Seit Mai 1991 tagte die „Ludewigrunde“ (Vertreter des Bundeskanzleramtes, die Chefs der Staatskanzleien der jungen Länder und die Treuhand) als Koordinierungsgremium auf Einladung des Kanzlers regelmäßig, um die Umsetzung der Beschlüsse zum „Aufbau Ost“ zu begleiten und wohl auch wechselseitig zu kontrollieren. V. Friedrich Bohl hat für sieben Jahre Helmut Kohl den Rücken frei gehalten. Er war einer seiner engsten, wenn nicht sogar sein engster Berater. Er war für Kohl nahezu unentbehrlich, und das verlieh ihm seine Autorität. Er war vielleicht der einflussreichste Minister im Kabinett Kohl der 90er Jahre. Verbindlich, freundlich, umgänglich, hilfsbereit, überaus effizient und sehr beliebt. Er stimmte ab, moderierte, koordinierte, schlichtete und stabilisierte, beriet und mied die Öffentlichkeit. So habe ich ihn während der auch für mich als Thüringer Ministerpräsident entscheidenden Jahre erlebt und geschätzt. Auch in den schwierigsten Situationen verlor er nie die Kontenance. Andere sollen ihn auch als „Kettenhund“, als „Wadenbeißer“ erlebt haben. Ich nie. Hans-Peter Schwarz sieht Bohl als einen „erprobten Stabsoffizier“ Kohls, eine „Schlüsselfigur der zweiten Halbzeit der Ära Kohl“. Als eine Art „ruhender Pol in der Erscheinung und Flucht“ (Hans Peter Schwarz, Helmut Kohl, Seite 668). „Kein Kohl ohne Bohl“ (Walter Troeltsch). Friedrich Bohls (und Johannes Ludewigs) Beitrag zur Überwindung der deutschen Teilung ist bisher, trotz der Fülle einschlägiger Veröffentlichungen, zu wenig gewürdigt worden. Keiner der nach Hans Globke zehn Chefs des Bundeskanzleramts haben zusätzlich zu ihren anderen Verpflichtungen über einen so langen Zeitraum eine vergleichbare „Sonderleistung“ erbringen müssen. Auch wenn Rudolf Seiters das unbestrittene Verdienst zukommt, von 1989 bis 1991 den Prozess der Wiedervereinigung in den entscheidenden Umbruchsjahren vorbildlich mitgestaltet zu haben, auf dem mühsamen Weg durch die Ebene nach

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1991 war Friedrich Bohl einer der verlässlichsten Helfer. Er hat den radikalen Veränderungsprozess der Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger in den jungen Ländern über sieben Jahre erfolgreich begleitet. Sein Name muss genannt werden, wenn heute danach gefragt wird, wer entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Überwindung der deutschen Teilung alles in allem gelungen ist. Er war ohne Frage einer der Architekten der Deutschen Einheit. Sein Amt als Chef des Bundeskanzleramtes gab ihm dazu die Möglichkeit. Er hat sie genutzt. Am 27. Oktober 1998 endete die Amtszeit von Bohl, die Union und Helmut Kohl hatten die Bundestagswahlen – nicht unerwartet – verloren. Bohl gehörte zu den wenigen Getreuen, die den Kanzler am Wahlabend in die Parteizentrale der CDU begleiteten. (Blüm, Kanther, Teufel, Vogel). Er hinterließ sein Amt wohlgeordnet, und er hatte durch seine Amtszeit, wie zuvor Wolfgang Schäuble und Rudolf Seiters, Maßstäbe gesetzt, die weiter wirken sollten. Vor allem Frank-Walter Steinmeier hat als beamteter Staatssekretär – unter einem neuen Bundeskanzler – daran angeknüpft. Und nach ihm haben Thomas de Maizière, Ronald Pofalla und Peter Altmaier unter Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Arbeit in ähnlichem Geist fortgesetzt. 2002 kandidierte Bohl nicht wieder für den Bundestag. Er nahm völlig problemlos Abschied von der Politik und wandte sich neuen Aufgaben in der Privatwirtschaft zu. Literatur Kempf, Udo/Merz, Hans-Georg (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949 – 1998, 2001. Müller, Kay/Walter, Franz, Die Chefs des Kanzleramtes. Stille Elite in der Schaltzentrale des parlamentarischen Systems, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/2002. Schönfeld, Ralf, Bundeskanzleramtschefs im vereinten Deutschland, 2011. Schwarz, Hans-Peter, Helmut Kohl – Eine politische Biographie, 2012. Walter, Franz, Charismatiker und Effizienzen, Portraits aus 60 Jahren Bundesrepublik, 2009.

Im Maschinenraum der Macht: Zwischen Fraktionsführung und Kanzleramt Von Norbert Lammert Friedrich Bohl wurde einmal gefragt, über welche natürliche Gabe er verfügen möchte. Seine Antwort – damals war er bereits Chef des Bundeskanzleramts – lautete: „Mit vier Stunden Schlaf auszukommen.“ Dieser Wunsch sagt viel aus über das Amt wie über die Person, über Friedrich Bohl und die Haltung, mit der er seine politischen Aufgaben erfüllte – ob als Oppositionsabgeordneter im Hessischen Landtag und im Deutschen Bundestag oder in herausgehobenen Positionen im Parlament und in der Bundesregierung. Ohne viel Schlaf hat er jedenfalls vor allem als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und als Chef des Bundeskanzleramts in bewegten Zeiten nach der Wiedervereinigung auskommen müssen. Der Ungarnaufstand 1956 – das erste weltpolitische Ereignis, das er bewusst erlebte – und der Bau der Berliner Mauer 1961 waren politische Schlüsselerlebnisse, die Bohl prägten. Seinen Weg in die Politik beschreibt er selbst als puren Zufall. Es war jedenfalls für seine Partei und unser Land ein glücklicher Umstand, dass der an deutschlandpolitischen Themen interessierte Primaner Bohl die Einladung eines Schulfreundes zur Gründungsversammlung des JU-Kreisverbandes Marburg annahm. Vier Tage vor seinem 18. Geburtstag gewann er so seine erste Kampfabstimmung – mit 7:4 – und wurde Vorsitzender der Jungen Union Kirchhain. Als der junge Gerichtsreferendar 1970 mit 25 Jahren völlig überraschend dem SPD-Kandidaten für den Hessischen Landtag das Direktmandat im Wahlkreis Marburg – einer veritablen CDU-Diaspora – abjagte, war das ganz sicher kein Zufall mehr, sondern das Ergebnis harter politischer Arbeit und der Beginn einer 32-jährigen großen parlamentarischen Laufbahn. Die Deutsche Tagespost charakterisierte den Landtags-Benjamin damals so: Bohl sei „alles andere als ein Ehrgeizling, mehr zu Kameradschaft und Teamgeist als zum opportunistischen Marsch nach vorne neigender Politiker“1. So habe auch ich Friedrich Bohl im Bonner und später im Berliner Parlamentsbetrieb erlebt. Wir sind beide 1980 zum ersten Mal in den Bundestag eingezogen, wobei Friedrich Bohl bereits über eine zehnjährige Landtagserfahrung in der Opposition – darunter auch in der dortigen Fraktionsführung und als Vorsitzender des Rechtsausschusses – verfügte, und ich ein wahrer Parlamentsneuling war. Nach dem Regierungswechsel 1982 wurde er bald von den Medien wie vom politischen Gegner mit den Attributen „Kläffer“ oder „Wadenbeißer“ geadelt. Als 1984 der damalige Erste Parlamentari1

Deutsche Tagespost: „Benjamin im Hessischen Landtag“, 25. 11. 1970.

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sche Geschäftsführer der Unionsfraktion, Wolfgang Schäuble, Kanzleramtsminister wurde, übernahm Rudolf Seiters dessen bisherige Position, Friedrich Bohl wiederum die von Rudolf Seiters, womit er einer der Parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion wurde – im Parlamentsdeutsch kurz PGF genannt. Es sollte nicht bei dieser einen Ämter-Rotation unter den drei Profis im „Küchenkabinett“ Helmut Kohls bleiben: 1989 wurde Schäuble Innenminister, Seiters folgte ihm als Kanzleramtsminister und Bohl wurde Erster Parlamentarischer Geschäftsführer. Schließlich wurde Schäuble 1991 Fraktionsvorsitzender, Seiters Innenminister und Bohl folgte ihm als Chef des Bundeskanzleramtes (ChefBK). Bis Herbst 1998 managte er die Regierungsgeschäfte – geräuschlos, effizient und absolut loyal. Das Verhältnis Kohl-Bohl galt bei politischen Beobachtern als ideal. Der Spruch von Walter Troeltsch – „kein Kohl ohne Bohl“ – zeigt in zugespitzter Form, wie gut das Tandem funktionierte. Es ist bemerkenswert, dass Bundeskanzler Helmut Kohl alle seine ChefsBK – von Waldemar Schreckenberger abgesehen – aus den Reihen der Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer rekrutierte. Nach der eher holprigen Anfangsphase im Kanzleramt wusste Kohl, dass er für den anspruchsvollen und mitunter schwierigsten Posten innerhalb der Bundesregierung jeweils einen erfahrenen Politiker braucht, der sich im Machtgeflecht zwischen Kanzleramt, Fraktion, Partei und Bundesrat sicher bewegen kann, dabei ein guter Organisator und zugleich Moderator, Netzwerker und Seismograph für entstehende Probleme und Konflikte ist. Und der eher im Schatten wirkt und der Versuchung widersteht, seinen Einfluss in der Öffentlichkeit medienwirksam zu präsentieren. Wer könnte dies besser als ein im Amt des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers bewährter Fraktionspolitiker? Ein enges Zusammenwirken des Kanzleramts mit dem Bundestag ist für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie in Deutschland von herausragender Bedeutung. Dies gilt vor allem, aber keineswegs nur für die jeweiligen Koalitionsfraktionen. Und an vorderster Stelle agieren dabei die jeweiligen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer und Kanzleramtschefs. In der Tat sind die Funktionen und die Rolle des ChefBK und des 1. PGF einer großen Bundestagsfraktion geradezu spiegelbildlich: Die jeweiligen Amtsinhaber wirken in beiden Fällen vor allem im Hintergrund. Beide gelten als „Oberstrippenzieher“ und Schattengewächse der Macht. Beide sind unentbehrliche Generalisten, bei denen beinahe alle organisatorischen und personellen Fäden zusammenlaufen. Beide müssen über eine gute Menschenkenntnis und politischen Instinkt verfügen. Beide sollten nebenbei Führungsqualitäten eines mittelständischen Unternehmers besitzen – immerhin sind sie jeweils auch für Hunderte Fraktions- oder Kanzleramtsmitarbeiter zuständig. Und nicht zuletzt ist ein enges Vertrauensverhältnis zwischen Kanzleramtschef und Regierungschef wie zwischen Fraktionsvorsitzendem und dem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer unerlässlich. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das in der Öffentlichkeit eher verkannte, für das Funktionieren des Parlaments aber eminent wichtige und zugleich einfluss-

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reiche Amt des Parlamentarischen Geschäftsführers näher zu betrachten. Es hat eine bemerkenswerte Geschichte, in der sich die Entwicklung der Arbeitsstrukturen des Parlaments spiegelt. Denn der Deutsche Bundestag war in seiner Anfangsphase keineswegs als Vollzeitparlament mit „Berufsabgeordneten“ konzipiert. So war auch der organisatorische Rahmen am Anfang des Nachkriegsparlamentarismus eher bescheiden. Die Funktion des PGF gab es zu Beginn der 1. Wahlperiode in nur zwei der damals acht Bundestagsfraktionen – in der SPD und der FDP. Die Unionsfraktion führte das Amt des PGF offiziell erst 1951 ein. Doch schon Ende der 1960er Jahre sprach Will Rasner, einer der erfahrensten PGF dieser Zeit, gar von einer „Herrschaft im Dunkeln“2, die von den Managern des Parlaments ausgeübt würde. Als „Geschäftsführer-Parlament“ bezeichnet heutzutage der Politologe Wolfgang Ismayr den Deutschen Bundestag. Wegzudenken aus dem Parlament sind die PGFs jedenfalls nicht. Was macht aber ihr Amt so bedeutsam? Die Aufgaben der Parlamentarischen Geschäftsführer sind tatsächlich außerordentlich umfangreich, hochkomplex und umfassen de facto alle Bereiche der Parlamentsarbeit innerhalb der Fraktionen; aber auch interfraktionell und fraktionsextern spielen sie eine bedeutende Rolle. Sie sorgen für die Handlungsfähigkeit der Fraktionen und einen möglichst reibungslosen Ablauf der parlamentarischen Arbeit durch Bündelung von Themen, Tagesordnungen, Projekten – ohne sie läuft praktisch gar nichts im Parlament. Im Urteil eines ebenfalls recht prominenten PGF – HansDietrich Genscher, der in den 1960er Jahren dieses Amt in seiner Fraktion innehatte, – sei dies einer der interessantesten Jobs, den die deutsche Politik zu vergeben habe. Interessanterweise erwähnen weder das Abgeordnetengesetz noch die Geschäftsordnung des Bundestages das Amt des PGF; nur in den Geschäftsordnungen der Fraktionen ist ihre Rolle festgehalten. Die Parlamentarischen Geschäftsführer arbeiten sozusagen im Maschinenraum des Bundestages als die engsten Mitarbeiter und in der Regel auch Vertraute der jeweiligen Fraktionsvorsitzenden. Sie nehmen an unzähligen Besprechungen und Beratungsrunden teil, sind Mitglieder der wichtigsten Entscheidungsgremien wie Fraktionsvorstand und Ältestenrat, der als „allzuständiges Gremium für die Vorbereitung und Begleitung aller Aufgaben des Bundestages“3 gilt. Über die Parlamentarischen Geschäftsführer erfolgt im Wesentlichen die Vorbereitung von Arbeitsplänen und Tagesordnungen der Plenarsitzungen. Damit wird die Dramaturgie der Debatten festgelegt, die bestimmt, welches Thema, wann, in welcher Länge und parlamentarischen Form und von welchen Rednern im Plenum debattiert wird. Diese interfraktionelle Vereinbarung wird im Ältestenrat in aller Regel einvernehmlich beschlossen und vom Plenum – nach der routinemäßigen Feststellung des amtierenden Bundestagspräsidenten bzw. der amtierenden Bundestagspräsidentin „ich sehe keinen Widerspruch, dann ist es so be2 Will Rasner, Herrschaft im Dunkeln? Aufgabe und Bedeutung des Ältestenrats, in: Emil Hübner/Heinrich Oberreuter/Heinz Rausch (Hrsg.), Der Bundestag von innen gesehen, 1969, S. 99 – 133. 3 Wolfgang Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 410.

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schlossen“ – befolgt. Auch bei der Besetzung der Ausschüsse und der mit ihnen korrespondierenden Arbeitsgruppen, die innerhalb der Fraktionen als Fachgremien eingesetzt werden, reden die PGFs mit, womit sie sich nicht nur Freunde machen. Außerdem pflegen sie Kontakte zur Bundesregierung, zum Bundesrat, zu Parteien und anderen Organisationen. Sie „verteilen“ die Büroräume und entscheiden über Dienstreisen und Reisezuschüsse der Abgeordneten. Der Öffentlichkeit wenig bekannt sein dürfte ein gewisses „Wir-Gefühl“ der PGFs über Fraktionsgrenzen hinweg: Trotz aller politischen Konkurrenz arbeiten sie in der Regel fair und vertrauensvoll zusammen im gegenseitigen Geben und Nehmen. Schon der bereits erwähnte Will Rasner, der selbst 16 Jahre lang PGF war, bezeichnete seinerzeit die PGFs als eine „Gewerkschaft“ im Parlament. Zu den wichtigsten Aufgaben eines PGF gehört es, während der Debatten im Plenum stets wachsam und auch gewieft zu sein, brenzlige Situationen zu meistern, die der eigenen Fraktion schaden könnten. Dies beherrschte Friedrich Bohl, der alle Kniffe der Geschäftsordnung kannte, virtuos. Beispielhaft lässt sich folgende Situation erzählen, die zwar zu den politisch leichtgewichtigen gehörte, die aber die Geistesgegenwart Bohls als neu gewählter 1. PGF illustriert: Während einer Debatte über eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers im April 1989 fehlten im Plenum die für das Thema zuständigen Minister Wolfgang Schäuble und Klaus Töpfer. Die Opposition empörte sich pflichtschuldig und bemängelte dies. Bohl griff auf die Kunst des Filibusterns zurück und ließ sich lange über Abstimmungsfragen zur Geschäftsordnung und den Hammelsprung aus – bis die fehlenden Minister doch noch im Plenum erschienen. Eine förmliche Abstimmung über die „Herbeirufung eines Mitgliedes der Bundesregierung“ und der Geschäftsordnung hatte sich damit erledigt und eine parlamentarische Blamage wurde den Regierungskoalitionen und der Bundesregierung so erspart. Im öffentlichen Bewusstsein wird die Rolle des PGF meist auf die des Einpeitschers (sein englisches Pendant heißt nicht von ungefähr „whip“) reduziert, der zusammen mit dem Fraktionsvorsitzenden die Mehrheiten sichert und für die Geschlossenheit seiner Fraktion sorgt. Das ist durchaus richtig und notwendig – bei den Regierungsfraktionen wie bei der Opposition gleichermaßen; es wird oft voreilig mit der Vorstellung vom vermeintlichen „Fraktionszwang“ verbunden. Die Voraussetzung der Handlungsfähigkeit der Regierungsmehrheit ist es doch, Handlungsfähigkeit zu beweisen und dafür zu sorgen, dass die Bundesregierung über die erforderliche Mehrheit im Parlament verfügt. Die Opposition ist ihrerseits bestrebt und vom Wähler beauftragt, eine politische Alternative aufzuzeigen. Mangelnde Geschlossenheit wird regelmäßig als Schwäche ausgelegt. Für die PGFs bedeutet dies einen Balanceakt in der Kunst demokratischer Führung. In der öffentlichen Wahrnehmung wird häufig übersehen, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine Doppelrolle erfüllen: Sie sind gewählte Vertreter des gesamten Volkes, nach der Verfassung „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“, andererseits Angehörige einer bestimmten Partei, für die sie im Wahlkampf als Kandidaten aufgetreten sind. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis kommt auch im Grundge-

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setz zum Ausdruck. Denn auf der einen Seite betont Artikel 38 die Weisungs- und Gewissensfreiheit der Abgeordneten, auf der anderen Seite hebt Artikel 21 die besondere Rolle der Parteien bei der politischen Meinungsbildung hervor. Abgeordnete sind keine „Einzelkämpfer“, sondern verdanken ihren Einzug in das Parlament einer Partei, für deren politische Richtung sie stehen. Loyalität kann und muss daher vorausgesetzt werden. Die sarkastische Bemerkung Herbert Wehners, die Abgeordneten, die sich stets auf ihr Gewissen berufen, sollten sich doch bei der nächsten Wahl auch von ihrem Gewissen aufstellen lassen, zeigt pointiert, dass die politische Willensbildung ein komplexer Vorgang ist, der sich in einem Geflecht von häufig widerstrebenden Interessen und Verpflichtungen abspielt. Jedenfalls gibt es einen nachvollziehbaren Anspruch jeder Fraktion, dass mehrheitlich beschlossene Positionen am Ende auch von allen vertreten werden, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Fraktionen dürfen daher von ihren Mitgliedern Fraktionsdisziplin einfordern, nicht aber in verfassungswidriger Weise das freie Mandat beschneiden. Letztlich ist ein Abgeordneter immer in seiner Entscheidung frei. Er kann gegebenenfalls die Fraktion verlassen, ohne dadurch sein Mandat zu verlieren. Demokratische Lösungen sind weder durch autoritäre Kommandos noch im Hauruckverfahren zu haben, schon gar nicht angesichts von komplexen Problemen, um die es im Parlament in der Regel geht. Dabei wird in den Fraktionen häufig um eine Lösung zäh gerungen – nicht von ungefähr bezeichnete einst Bundeskanzler Konrad Adenauer die eigene Bundestagsfraktion als „Fegefeuer“: Demokratie ist gerade kein Verfahren zur Vermeidung von Streit. Sie ist vielmehr die organisierte Bewältigung von Konflikten, um fair und verbindlich mehrheitlich getragene Lösungen herbeizuführen. Und dies zeigt sich im Bundestag wie in einem Brennpunkt. Denn das Parlament mit seinem Geflecht von Fraktionen, die von verschiedenen Parteien mit ihren unterschiedlichen politischen Konzepten getragen werden, und mit den auch innerhalb vor allem der großen Fraktionen existierenden Gruppierungen ist ein Paradebeispiel für die demokratische Willensbildung als organisierte Bewältigung unterschiedlicher Interessen. Und natürlich spielen die PGFs hier eine wichtige Rolle, damit am Ende des Entscheidungsprozesses eine mehrheitsfähige Lösung in der Fraktion steht. Dafür müssen sie stets „am Puls der Fraktion“ und gute Ansprechpartner der Abgeordneten sein. Diese Aufgabe wird sehr erleichtert, wenn der 1. PGF wie im Falle Friedrich Bohls in der Fraktion nicht nur fest verwurzelt und respektiert, sondern auch beliebt ist. Über exzellente Verbindungen zu den Fraktionen, insbesondere freilich zu den Koalitionsfraktionen, sollte auch einer ChefBK verfügen, der ja qua Amt als Schnittstelle zwischen der Bundesregierung und dem Parlament fungiert. Es ist daher äußerst wichtig, dass der Kanzleramtschef die politischen Stimmungen in den Fraktionen kennt. Besonders bei umstrittenen Gesetzesvorhaben muss er rechtzeitig erkennen, wo die „Schmerzgrenze“ bei den Abgeordneten verläuft. Denn mit der Kanzlermehrheit steht und fällt auch die Regierung in der parlamentarischen Demokratie.

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Als ehemaliger Erster Parlamentarischer Geschäftsführer brachte Friedrich Bohl die besten Voraussetzungen dafür mit, die verschiedenen Machtzentren im Regierungslager – Koalitionsfraktionen, Partei und Kanzler – zu verzahnen. Besonders bei knappen Mehrheiten – und das war in Bohls Zeiten der Fall – ist ein engmaschiges Geflecht von Koordinierungs-, Abstimmungs- und Planungsrunden auf höchster Ebene wichtig. Ein probates Instrument, um strittige Fragen innerhalb der Ressorts möglichst im Vorfeld der Kabinettssitzungen zu klären und auszuräumen, sind die regelmäßigen Staatssekretärsrunden, die der ChefBK leitet. Dabei wird unter anderem entschieden, welche Vorlagen kabinettsreif sind. Als Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungs- und Wirtschaftsministerium unter verschiedenen FDP-Ministern nahm ich damals an diesen Runden teil. So mancher Dissens wurde dort ausgetragen und von Bohl geschlichtet, manchmal auch kurz und bündig entschieden. Das Zusammenwirken von Koalitionspartnern aus drei unterschiedlichen Parteien – auch wenn zwei davon „Schwestern“ sind, birgt Konfliktpotenzial, denn trotz eines gemeinsamen Regierungsauftrags haben die Partner natürlich weiterhin teilweise unterschiedliche Interessen und verschiedene Auffassungen, wie der politische Prozess organisiert und der Weg zur Lösung der Probleme gestaltet werden soll. Dies alles muss möglichst geräuschlos über die Bühne gehen, denn die Öffentlichkeit goutiert den Parteienstreit nicht, auch wenn politische Auseinandersetzungen Teil der Politik und der Demokratie sind und der Wähler sich unterscheidbare Parteiprofile wünscht. Die häufig zähen Entscheidungsprozesse stören dennoch viele Menschen; Wähler wie Gewählte müssen sie aber aushalten. Die am Ende gefundenen Lösungen sind in der Regel Kompromisse und stellen deshalb auch meistens nicht alle zufrieden. Und so wird wahlweise über die Profillosigkeit der Parteien oder Politiker oder über ihre Kompromissunfähigkeit geklagt. Die Bereitschaft zum Kompromiss ist aber die erste, jedenfalls unaufgebbare demokratische Tugend. Von ihr hängt die politische Entscheidungsfähigkeit ab, die sich der Bürger wünscht. Demokratie ist eben ein mühsamer Prozess. Max Weber und seine dicken Politikbretter sind in diesem Zusammenhang schon so oft zitiert worden, dass ich mir hier nur den Hinweis erlaube, dass Politik aus viel Handwerk und wenig Glamour besteht: wenig Glanz und manches Elend. Davon kann vermutlich jeder Kanzleramtschef ein Lied singen. Wie wichtig ein gut funktionierendes Kanzleramt ist, konstatierte Wilhelm Hennis schon in den 1970er Jahren: Ohne die Regierungszentrale „wäre der Bundeskanzler ein bedauernswerter Vollinvalide: er könnte nicht sehen, hören, noch schreiben, geschweige denn Richtlinien bestimmen“.4 Tatsächlich gilt der Kanzleramtschef als die letzte Instanz vor dem Regierungschef und als sein Frühwarnsystem: Friedrich Bohl hat die Aufgabe einmal so beschrieben: „Die tatsächliche Arbeit im Kanzleramt besteht darin, Kabinettssitzungen vorzubereiten, unterschiedlichste Meinungen der Ministerien zusammenzuführen, die Verfahrensabläufe zwischen Regierung und Parlament zu koordinieren, Abstimmungen zwischen den Koalitionsparteien herbeizuführen. Da müssen Sie unendlich viele Akten wälzen, telefonieren und persönliche 4 Wilhelm Hennis, in: Rausch: Bundestag und Bundesregierung. Eine Institutionskunde, 1976, S. 197.

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Gespräche führen.“5 Seinen Einfluss übt der ChefBK im Stillen aus – diese Kunst beherrschte Bohl: In der Presse wurde er als „Meister des ungesprochenen Wortes“6 tituliert. „Macht mich nicht dicker als ich bin“, war ein selbstbewusster Spruch von ihm. Nach Medienbeobachtungen gab es kaum einen Vorgang im Bonner Regierungsalltag, der nicht in irgendeiner Form über Bohls Schreibtisch lief. Er galt als „Kanzlers Ordnungsmacht“, war ein ausgezeichneter Koordinator, Moderator und Vermittler. Diese Fähigkeiten kamen in den Beratungen der Parteigremien, Sitzungen der Fraktion und des Bundeskabinetts, aber auch in ressortübergreifenden Arbeitsgruppen, Gesprächen mit der Opposition, den Verbänden und Gewerkschaften zum Tragen. Ein Meisterstück der Vermittler- und Moderationskunst war etwa der Kompromiss in der so genannten Kohlerunde im Kanzleramt im Frühjahr 1997, als sich die Bundesregierung und die IG Bergbau sowie die Revierländer NRW und Saarland auf einen Kompromiss zum Subventionsabbau einigten, ohne Massenentlassungen zu verursachen. Friedrich Bohl ist während seiner gesamten politischen Laufbahn Parlamentarier gewesen – auch als Bundesminister für besondere Aufgaben im Kanzleramt. Und wie jeder Parlamentarier wurde auch er mit den zuweilen unerfüllbaren Erwartungen der Öffentlichkeit konfrontiert: Im gesellschaftlichen Idealbild ist der Abgeordnete 365 Tage im Jahr und täglich 24 Stunden aktiv – was mit dem Wunsch Bohls nach möglichst geringem Schlafbedarf gut korrespondiert. Der ideale Abgeordnete ist sowohl in Berlin – früher in Bonn – als auch in seinem Wahlkreis präsent, hat für jeden jederzeit ein offenes Ohr. Er kennt sich aus in der Arbeitswelt und hat den Bezug zur Praxis nie verloren, geht aber keiner Nebentätigkeit nach. Er hat die Selbstlosigkeit eines Missionars, die Genialität eines Nobelpreisträgers, die Geduld einer Gouvernante und das dicke Fell eines Elefanten. Dieser wirklichkeitsfremden Erwartungshaltung ist Friedrich Bohl ziemlich nahe gekommen. Seine Kraftquelle speiste und speist sich auch aus seiner „Erdung“ im Marburger Land und in der Familie. Gern pflegt Friedrich Boh1 eine Lebensweisheit seiner Großmutter zu zitieren: „Es gibt schöne Bäume und es gibt hutzelige Bäume. Schöne Bäume sind in wunderbarem Boden, und die gedeihen und sind wunderschön anzusehen. Und diese hutzeligen Bäume, die sehen ein bisschen komisch aus. Aber: Die sind auf steinigem Boden, die sind ganz tief in der Erde mit den Wurzeln. Und jetzt frage ich dich: Wenn ein Sturm kommt: Welcher Baum fällt um?“7 Die politischen Wurzeln Friedrich Bohls gehen tief in den steinigen Boden der Oppositionszeit in Hessen der späten 1960er und der 1970er Jahre. Gewiss war diese harte Zeit auch 5

Kölner Stadt-Anzeiger: „ZDF-Serie ,Kanzleramt‘: Es menschelt überall“, 24. 03. 2005. Zitat nach: Hermann Groß/Friedrich Bohl, in: Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949 – 1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierung, 2001. 7 Zitiert nach Martha Schmidt, Tief verwurzelt: Friedrich Bohl. Lebensportrait zum 60. Geburtstag, www.marthaschmidt.de/downloads/Lebensportraet_Bohl.pdf; letzter Zugriff am 19. 05. 2014. 6

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eine gute und solide politische Schule für eine der prägenden Persönlichkeiten des deutschen Parlamentarismus der vergangenen vierzig Jahre.

Der Generalissimus Von Peter Tauber Geburtstage und besondere Jubiläen sind immer ein Grund zurückzublicken. Dies gilt auch anlässlich des 70. Geburtstages von Friedrich Bohl. Dabei stellt sich die Frage: Wie kann man Friedrich Bohl kurz und knapp umschreiben? In meinen Augen ist er ein Generalissimus – im besten Sinne des Wortes. Als Generalist prägte er über Jahrzehnte die Geschicke unseres Landes und die Arbeit der CDU Deutschlands in den Jahren der christlich-liberalen Bundesregierungen in den 80er- und 90erJahren. Gute Politik lebt von zwei Arten von Politikern: von den Fachpolitikern auf der einen Seite, die mit großer Leidenschaft ein Themenfeld beackern und um die besten Lösungen in diesem Bereich ringen. Auf der anderen Seite stehen die Generalisten, die das große Ganze im Blick haben und unterschiedliche Interessenlagen zusammenbringen. Beide Politikertypen brauchen einander und können unabhängig voneinander keine guten Ergebnisse erzielen. Friedrich Bohl – der zweifelsohne den generalistischen Politikertypen repräsentiert – wusste stets um diese gegenseitige Abhängigkeit und wusste diese auch fruchtbar zu machen. Wie viele andere seiner Generation war er in seiner Zeit als Politiker ein glühender Anhänger einer Deutschlandpolitik, der den Traum von der Wiedervereinigung nicht in die Wiedervorlagemappe verbannte – wenngleich ausufernder Pathos seine Sache nicht war und bis heute nicht ist. Er selbst, wenige Wochen vor Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, gehört zu der Generation, die gleichsam gemeinsam mit der Bundesrepublik Deutschland groß und erwachsen wurde. Als erstes politisches Weltereignis, das ihm in Erinnerung sei, nannte Friedrich Bohl einmal den Ungarnaufstand 1956. Die Bilder von Panzern, die auf Menschen zurollen, die nichts weiter als Freiheit wollten, brannten sich seiner Generation in die Erinnerung ein. Genauso wie der Bau der Berliner Mauer fünf Jahre später – mit Stacheldraht und Beton wurde die Teilung des Vaterlandes zementiert. Friedrich Bohl hätte wahrscheinlich nicht zu träumen gewagt, dass er einmal an verantwortungsvoller Stelle die Wiedervereinigung maßgeblich mitgestaltet. Ich erinnere mich gerne an seine Erzählung von einem Besuch in Ost-Berlin im November 1988. Gemeinsam mit seinem Sohn blickte er vom Boulevard Unter den Linden auf das verschlossene Brandenburger Tor. Beide sprachen darüber, wie es wohl wäre, durch dieses Tor hindurchgehen zu können. Friedrich Bohl gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass er dies selbst noch erleben dürfte. Niemand konnte ahnen, dass sich diese Hoffnung bereits ein Jahr später erfüllen sollte.

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Wenn ich heute wie selbstverständlich durch dieses Tor gehe – es liegt nur wenige Meter von meinem Büro im Bundestag entfernt –, dann denke ich oft an diese Geschichte von Friedrich Bohl. Jedes Mal erfüllt mich dies mit tiefer Dankbarkeit für die vielen Frauen und Männer, die an dem Traum eines wiedervereinigten Deutschlands festhielten. Der Jubilar gehört zweifelsohne dazu. Als Obmann der CDU/CSUBundestagsfraktion im Ausschuss Deutsche Einheit und als 1. Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion war er an den Verhandlungen zur Wirtschafts- und Währungsunion und zum Einigungsvertrag maßgeblich beteiligt. Im November 1991 wurde er schließlich Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes. In dieser Funktion war er mit allen Vorgängen innerhalb der Bundesregierung betraut, die das Zusammenwachsen des wiedervereinigten Deutschlands vorantrieben. Chef des Bundeskanzleramtes zu sein heißt die Regierungsgeschäfte zu organisieren, die Arbeit der Ministerien zu koordinieren und eine einheitliche Regierungspolitik zu gestalten. Es gibt in unserem Land wohl kein Amt, das für einen Politikmanager – wie man Friedrich Bohl heute wahrscheinlich bezeichnen würde – herausfordernder wäre. Sieben Jahre ging Friedrich Bohl in dieser Funktion auf. Dabei blieb es nicht aus, dass Etikettierungen wie am Fließband produziert wurden: „Manager der Macht“, „Strippenzieher“ oder „Der Mann im Hintergrund“ sind nur drei Beispiele. Mit Sicherheit zeichnet ihn bis heute eine gewisse Akribie aus; ein Talent, das für ein solches Amt unentbehrlich ist. Manch einer könnte in ihm gar den Prototypen des preußischen Beamten sehen, von dem Bismarck in seinem berühmten Diktum spricht: „Mit schlechten Gesetzen und guten Beamten […] läßt sich immer noch regieren, bei schlechten Beamten aber helfen uns die besten Gesetze nichts.“1 Aber das wäre zu kurz gegriffen, denn Friedrich Bohls Fähigkeiten gehen weit hierüber hinaus. Er versteht es, Menschen zu führen, zu begeistern, unterschiedliche Interessen zusammenzubringen und Mehrheiten zu organisieren. Dabei bleibt sein Blick stets auf sein Gegenüber gerichtet; Akkuratesse verbindet er mit Anteilnahme und Menschenkenntnis. Dieser Wesenszug kam ihm auch in den vielen anderen Ämtern zugute, die er im Laufe seines politischen Lebens bekleidete: Ob als Vorsitzender der Kreistagsfraktion im Landkreis Marburg-Biedenkopf, als Kreisvorsitzender der CDU Marburg oder als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – Friedrich Bohl verstand es, seine Fähigkeiten und Talente in den Dienst seiner Partei und seines Landes zu stellen. Mit Etikettierungen war Friedrich Bohl aber auch schon lange vor seiner Zeit im Bundeskanzleramt konfrontiert. In seiner Funktion als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU galt er beispielsweise als „Wadenbeißer“ oder „Kettenhund“. Wer ihn persönlich kennt, konnte und kann solche Zuschreibungen nicht immer nachvollziehen. Dennoch bringen auch sie etwas Wahres zum Vorschein: Friedrich 1 Otto von Bismarck, Brief an H. Wagener vom 30. Juni 1850, in: Horst Kohl (Hrsg.), Otto von Bismarck. Bismarckbriefe 1836 – 1872, 2013, S. 73 f. (74).

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Bohl konnte hart in der Sache sein, wenn es um wichtige politische Entscheidungen ging. Dazu zählen mitunter auch Angriffe auf den politischen Gegner und zähe Überzeugungsarbeit innerhalb der eigenen Reihen. Dennoch kenne ich keine Stimmen – auch nicht aus den Reihen politischer Mitbewerber –, die Friedrich Bohl einen schlechten Stil oder unfaire Methoden unterstellen. Vielmehr werden ihm von allen Seiten ein sehr kollegiales Auftreten und ein Streben nach einem guten Miteinander attestiert. Anders wäre auch nicht zu erklären, dass er 24 Jahre lang – von 1978 bis 2002 – Kreisvorsitzender der CDU Marburg-Biedenkopf war. Wer den Politikbetrieb der Hauptstadt von innen kennt, merkt an dieser Stelle besonders auf, denn es ist keine Alltäglichkeit, dass jemand neben einem Regierungsamt auf Bundesebene den Vorsitz eines Kreisverbandes innehat. Dass er sich nicht von diesem Parteiamt zurückgezogen hat, zeugt von seiner intensiven Bindung an seine Heimat. Gut in dieses Bild passt auch seine Tätigkeit als Mitglied des Kreistags des Landkreises Marburg-Biedenkopf. 16 Jahre währte seine Amtszeit als Vorsitzender der CDU-Fraktion; 1990 gab er dieses Amt auf. Die Kommunalpolitik war für Friedrich Bohl immer die Grundlage für jedes weitere politische Engagement auf anderen Ebenen. Es ist bis heute eine Bereicherung für die Bundespolitik, wenn sich auf deren Parkett auch eingefleischte Kommunalpolitiker bewegen. Friedrich Bohl ist dabei ein echtes Vorbild, denn als Mitglied eines Kreistages oder eines Stadtrates ist ein Bundespolitiker unmittelbar mit den Folgen seines Handelns konfrontiert. Die Kommunalparlamente sind für Bundespolitiker ein leider allzu häufig unterschätztes Korrektiv und nicht zuletzt auch wichtige Ideengeber für die eigene Arbeit. Besonders aber schenkt kommunalpolitisches Engagement auch Bodenhaftung. Friedrich Bohl war in seiner Heimat nie „der Minister“ , er kannte keine Allüren. Viele, die ihn seit Jahrzehnten kennen, sagen: Der Fritz ist einer von uns und ist sich immer treu geblieben – und das bis heute. Die unaufgeregte Art, das Wissen auch um die Unzulänglichkeiten und Grenzen politischer Entscheidungen und seine tiefe Verwurzelung in seiner hessischen Heimat machten ihn zu einem allseits geschätzten Mitstreiter, Gesprächspartner und Freund. Diese Haltung hat sich Friedrich Bohl während seiner politischen Arbeit im Deutschen Bundestag und in der Bundesregierung stets bewahrt. Bis 2002 war Friedrich Bohl Mitglied des Deutschen Bundestages, jedoch war zuvor schon die Bundestagswahl 1998 ein einschneidender Moment. Für die CDU hieß es, nach 16-jähriger Regierungszeit auf den harten Bänken der Opposition Platz zu nehmen. Den Umzug von Regierung und Parlament vom Rhein an die Spree erlebte Friedrich Bohl als ,einfacher‘ Abgeordneter. Aber dieser Umzug war für ihn und viele seiner Mitstreiter eine große Genugtuung. Acht Jahre zuvor hatte Friedrich Bohl in der legendären Sitzung des Bundestages für den Umzug von Parlament und Teilen der Regierung nach Berlin gestimmt. Sieben Jahre wirkte er als Chef des Bundeskanzleramtes aktiv an dem Zusammenwachsen des wiedervereinig-

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ten Deutschlands mit. Nun konnte er seine neuen Büroräume beziehen – nur einen Steinwurf entfernt von dem Ort, an dem er elf Jahre zuvor mit seinem Sohn vor dem verschlossenen Brandenburger Tor stand. In diese Zeit fiel auch ein Vorgang, der sich zunächst wie ein Schatten über Friedrich Bohls Zeit im Bundeskanzleramt legen sollte – der Begriff „Bundeslöschtage“ machte im hypersensiblen Hauptstadtjournalismus der Berliner Republik die Runde. Im Kern ging es um die Frage, ob im Bundeskanzleramt nach der Bundestagswahl 1998 systematisch und vorsätzlich Daten gelöscht worden waren. Am Ende sollte sich der sensationsheischende Rauch jedoch wieder verziehen – wenngleich typischerweise die Entlastung Friedrich Bohls weniger mediales Thema war als die zum Teil haarsträubenden und ehrabschneidenden Vorwürfe.2 Bezeichnend in meinen Augen ist die Tatsache, wie Friedrich Bohl mit den gegen ihn im Raum stehenden Vorwürfen umgegangen ist. Er machte auf der einen Seite nie einen Hehl daraus, dass er diese Vorwürfe für unhaltbar und in weiten Teilen für politisch motiviert hielt. Auf der anderen Seite aber nahm er seinen Angreifern stets den Wind aus den Segeln, indem er in seiner ihm ganz eigenen Mischung aus Verbindlichkeit und Korrektheit jede nur denkbare Kooperationsbereitschaft unter Beweis stellte. Angefangen von seinem Angebot, seine im Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung aufbewahrten Unterlagen aus seiner Zeit im Bundeskanzleramt zu sichten. Bis hin zu seiner Bereitschaft, einen Großteil dieser eindeutig als privat zu bezeichnenden Unterlagen als dienstlich zu klassifizieren. Es macht die ganze Verzweiflung der selbst ernannten Ermittler deutlich, wenn in diesem Zuge beispielsweise eine Autogrammkarte der Miss Germany von 1992 zu einem dienstlich eingestuften Vorgang innerhalb der Regierungszentrale der Bundesrepublik Deutschland erklärt wurde. Es mag eine späte Genugtuung für Friedrich Bohl gewesen sein, dass keiner der gegen ihn erhobenen Vorwürfe erhärtet werden konnte. Mit der Wahlniederlage von 1998 stellte sich für Friedrich Bohl die Frage nach seiner weiteren Zukunft. Für ihn war schnell klar, dass er außerhalb der Politik nochmals einen Neuanfang machen wollte. Zu diesem Zeitpunkt war er 28 Jahre lang Abgeordneter gewesen, zunächst im Hessischen Landtag, dann im Deutschen Bundestag. Er war neben seinen politischen Ämtern auch als Rechtsanwalt und Notar tätig, dennoch suchte er eine neue berufliche Herausforderung. Diese fand er bei der Deutschen Vermögensberatung. Als Generalbevollmächtigter und als Vorstandsmitglied konnte er seine politischen Erfahrungen bei unternehmerischen Entscheidungen einbringen und damit zum wirtschaftlichen Erfolg beitragen. Später folgte seine Wahl zum Vorsitzenden des Deutschen Unternehmerverbandes Vermögensberatung. 2009 schließlich wurde er Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Vermögensberatung.

2 Vgl. zu diesem Komplex vor allem Günter Buchstab, „Bundeslöschtage“? Wie Kanzleramt und Medien einen Skandal inszenierten, in: Die Politische Meinung 448 (2007), S. 65 – 72.

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Seine neue berufliche Tätigkeit übte Friedrich Bohl zunächst neben seinem Abgeordnetenmandat in Berlin aus, doch schnell stellte er fest, dass die Arbeitsbelastung überhandnahm. Die Entscheidung fiel zugunsten seiner Tätigkeit bei der Deutschen Vermögensberatung. In typisch Bohlschem Duktus kommentierte er diesen Entscheidungsprozess: „Da habe ich entschieden: 32 Jahre in der Politik sind genug, und jetzt machst du noch einmal etwas anderes richtig.“3 Für mich war diese Entscheidung eine glückliche Fügung: Bevor ich als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag einzog, war ich als Pressesprecher bei der Deutschen Vermögensberatung tätig. Unsere Wege hatten sich bereits zuvor in der CDU Hessen gekreuzt. Die berufliche Zusammenarbeit brachte uns jedoch noch einmal näher zueinander. Heute freue ich mich, wenn ich Friedrich Bohl als Delegierten auf einem Bundesparteitag begrüßen kann, sein letztes Amt, das er in seiner CDU noch innehat. Den Wechsel von der Politik gestaltete Friedrich Bohl geräuschlos und konfliktfrei. Vielleicht wäre ein solcher Wechsel in der zunehmend zu Skandalisierung neigenden Berliner Republik heute so nicht mehr möglich. Jedoch sollte das Beispiel Bohl zum Nachdenken anregen, denn es zeigt, dass solche Wechsel nichts Anrüchiges haben, sondern im Gegenteil ein solcher Wechsel viel öfter stattfinden sollte. Vielmehr lebt unsere Demokratie von einem gelebten Austausch zwischen Parlamenten, Unternehmen und Zivilgesellschaft. Wer Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft grundsätzlich und prinzipiell ablehnt, redet einem politischen System das Wort, in dem Mandatsträger wesentlich abhängiger von der Opportunität ihres Handelns sind. Gleichzeitig befremdet schon, dass der umgekehrte Wechsel von der Wirtschaft in die Politik nicht gleichermaßen problematisiert wird; im Gegenteil: Über den Stammtischen der Politikverdrossenheit schwebt stets das Klischee über den wirtschaftlichen Unverstand bei Politikern. Friedrich Bohl widerlegt mit seinem erfolgreichen Wirken dieses Klischee eindrucksvoll. Für Friedrich Bohl bedeutete sein neuer Lebensabschnitt, Abschied zu nehmen von der Politik als Hauptberuf. In Erinnerung vieler seiner Freunde und Weggefährten bleibt der Tag, an dem ihn der CDU-Kreisverband Marburg-Biedenkopf nach 24 Jahren als seinen Vorsitzenden verabschiedete. Niemand Geringeres als Helmut Kohl gab seinem Mitstreiter und der Stadt Marburg aus diesem Anlass die Ehre. Damit kam es zur Umkehrung eines in Bonner Zeiten entstandenen geflügelten Wortes: „Kein Bohl ohne Kohl!“ Der Altkanzler brachte in seiner Ansprache auf den Punkt, was das Herausragende und Charakteristische an Friedrich Bohl ist; zwei Worte reichten hierfür aus: Er sei ein „guter Kamerad“. Bei allem verbindet mich persönlich viel mit Friedrich Bohl, beispielsweise unsere Leidenschaft für die Geschichte. Auf den zahlreichen Dienstreisen, auf denen ich ihn begleitet habe, war – so sich denn ein Zeitfenster im meist straffen Termin3 Martha Schmidt, Tief verwurzelt. Friedrich Bohl. Lebensportrait zum 60. Geburtstag, 2004, S. 10, http://www.marthaschmidt.de/downloads/Lebensportraet_Bohl.pdf, 10. 04. 2014.

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kalender ergab – kein Antiquariat vor ihm sicher. „Wer Bücher schenkt, schenkt Wertpapiere“, hat Erich Kästner einmal gesagt. Ein gutes historisches Buch, am besten eine Biografie, damit kann man Friedrich Bohl begeistern. Übrigens ebenso mit einem guten, köstlichen Schnitzel. Wenn wir uns heute treffen, dann bestellt er das Schnitzel für mich mit fast so großer Leidenschaft wie für sich selbst und freut sich diebisch, wenn ich die große Portion mal nicht schaffe. Mit dem Laufen teilen wir eine dritte Leidenschaft. Während die Bücher und das Essen für den Bildungsbürger und den Genussmenschen Friedrich Bohl stehen, kommt beim Laufen zum Ausdruck, wie diszipliniert Fritz ist. Auch ich laufe gerne, bin aber weit davon entfernt, das täglich zu tun und dann auch noch zu nachtschlafender Zeit. Und danach inklusive Zeitungslektüre und Frühstück um 7.30 Uhr aus Marburg kommend in Frankfurt am Schreibtisch zu sitzen. Vielleicht hat er diese Zeitabläufe aus der Zeit im Kanzleramt hinübergerettet. Helmut Kohl hat ihn als „guten Kameraden“ beschrieben. Er ist natürlich noch viel mehr als das und für jeden von uns etwas anderes. Und ich bin sehr stolz darauf, dass er unter seine Post an mich inzwischen „Dein Fritz“ schreibt. Das bedeutet mir sehr viel. Er hat sich große Verdienste um unser Land und seine Partei erworben. Hierfür möchte ich dem Jubilar anlässlich seines 70. Geburtstages im Namen der CDU Deutschlands und ganz persönlich von Herzen Dank sagen.

Friedrich Bohl – ein Stratege auch außerhalb der Politik Von Reinfried Pohl y Die Fähigkeit, strategisch zu denken und vor allem zu handeln, setzt, wenn sie von Erfolg gekrönt sein soll, weitere Eigenschaften und Begabungen voraus: Charakter, Konsequenz, aber auch Umsicht und ein gutes Verhältnis zu den Menschen, die einem anvertraut sind. Wer in einer verantwortungsreichen Führungsposition kein Menschenfreund ist, der erleidet Schiffbruch. Friedrich Bohl, mein langjähriger Freund und persönlicher Wegbegleiter in unserem Familienunternehmen Deutsche Vermögensberatung, entspricht exakt all diesen Anforderungen. Er hat sie in verschiedenen herausragenden Führungspositionen – in der Politik und in der Wirtschaft – hundertfach unter Beweis gestellt. Friedrich Bohl ist nach dem Abschluss des Jurastudiums an der traditionsreichen Philipps-Universität Marburg geradlinig seinen Weg gegangen. Zunächst in der Politik für die CDU bis hin zu seiner Berufung als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes in den Jahren 1991 bis 1998 und danach als Vorstandsmitglied und ab 2009 als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Deutschen Vermögensberatung. In der Politik war er der engste Ratgeber und Mitstreiter des Kanzlers der Deutschen Einheit, Helmut Kohl. Mir persönlich und meinen beiden Söhnen ist er ein unersetzlicher Freund und Ratgeber und in seinen „dienstlichen“ Funktionen in meinem Familienunternehmen eine Führungspersönlichkeit, die bei unseren über 37.000 Vermögensberatern höchste Wertschätzung genießt. Jeder, der Friedrich Bohl kennt, wird gerne bestätigen, dass er als immer gut gelaunter Frühaufsteher ein großes und komplexes Arbeitsprogramm schnell und lösungsorientiert bewältigt. Das alleine ist ja an sich ein großer Wert. Viele können das nicht und deshalb kommt es – sei es in der Politik, in der Wirtschaft oder in anderen gesellschaftspolitischen Bereichen – häufig zu Pannen. Aber die Fähigkeit, zu strukturieren und zu organisieren und bei strategischen Entscheidungen deren Auswirkungen auf Jahrzehnte hinaus einzuschätzen, ist aus meiner Sicht nur ein entscheidendes Kriterium. Sie geht auch einher mit der Gewissheit des unternehmerischen Gefühls, dass solche Entscheidungen auch breite Akzeptanz finden. Breite Akzeptanz ist eine entscheidende Grundlage des Erfolgs. Einsame Beschlüsse sind es in der Regel nicht. Wenn man sich über Führungskunst äußert, ist es vielleicht hilfreich, zunächst den Blick auf ganz andere Persönlichkeiten zurückzuwerfen, die uns aber noch heute viel bedeuten können. So gibt es zum Beispiel nicht viele Ereignisse, bei denen sich ka-

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tastrophale Niederlagen in einen Triumph verwandelt haben. 1913/1914 gab es in der Londoner „Times“ eine Anzeige mit folgendem sinngemäßen Text: „Männer für eine waghalsige Reise gesucht. Geringe Löhne, extreme Kälte. Monatelange völlige Dunkelheit. Permanente Gefahren. Heimkehr ungewiss. Ehre und Ruhm im Falle des Erfolgs“. Heute würde eine solche Anzeige kaum Resonanz auslösen. Damals haben sich mehr als 5000 Männer und 3 Frauen auf diese Anzeige hin beworben. Sie alle wollten mit dem berühmten Polarforscher Sir Ernest Shackleton die erste vollständige Durchquerung des antarktischen Kontinents wagen. Um es kurz zu machen: Die Expedition scheiterte. Dennoch wurde sie zu einem großen Triumph für den Polarforscher. Denn er hat alle Männer nach fast zweijährigem Überlebenskampf körperlich gesund und emotional stabil nach Hause gebracht. Pädagogen haben seine Führungskunst untersucht und festgestellt: Shackleton führte konsequent demokratisch und auch seine Personalauswahl hatte System. „Können sie singen?“ – war eine seiner unkonventionellen Fragen, wissend, wie wichtig Unterhaltung ist, wenn ein Schiff monatelang im Eis festsitzt. Welche Leistungen er mit seiner Mannschaft vollbracht hat, kann man nur erahnen. Wenn man sich vorstellt, nach dem Untergang seines Schiffes 635 Tage in absoluter Kälte, bei wenig Nahrung und isoliert von der Außenwelt überleben zu müssen? Was war dafür entscheidend? Seine Mannschaft und die Fachwelt hatten dafür nur eine Erklärung: Shackletons Führungskunst. Und in anderer Weise gilt dies auch für den Erfolgsmenschen Roald Amundsen, der als unspektakulärer und sehr zielstrebiger „Projektmanager“ mit verblüffender Leichtigkeit den Wettlauf zum Südpol gewann. Der Norweger plante seine Expeditionen akribisch und verfügte über eine hohe Führungssensibilität. Den Südpol zum Greifen nahe entschied Amundsen, sein Mitstreiter Bjaaland soll nun führen und formal als Erster den Pol erreichen, und zwar als Dank dafür, dass Bjaaland der Crew die lebenswichtige Kunst des richtigen Skifahrens vermittelt hatte, ohne die sie ihr Ziel nicht erreicht hätte. Und Baalands? Er überreichte seinem Chef eine Kiste Zigarren. Der Nichtraucher hatte sie die ganzen 1500 Kilometer im Rucksack getragen. Warum erinnere ich an die beiden Polarforscher, deren Führungskunst auch in wirklich lesenswerten Büchern1 dargestellt wird? Ist heute ein unter undenkbaren Bedingungen gescheitertes Forschungsprojekt noch übertragbar auf das moderne Management? Da wird es sicherlich Einwände geben, aber es ist doch verblüffend, dass Expeditionsbegriffe auch heute im Unternehmensalltag dann Anwendung finden, wenn es schlecht steht oder Gemeinschaftssinn mobilisiert werden soll: „Am Abgrund stehen“, „an einem Strang ziehen“, „im selben Boot sitzen“ oder „uns steht das Wasser bis zum Hals“. Ich finde die Thesen, dass man von beiden so unterschiedlichen Polarforschern auch als Unternehmer und speziell als Führungskraft lernen kann, richtig. Shackleton 1 Marot Morrell/Stephanie Capparell, Shackletons Führungskunst. Was Manager von dem großen Polarforscher lernen können, 2010. Ferner: Markus Gressmann/Stefan Jehn, Das Amundsen-Prinzip. Erfolgreiches Management nicht nur in Extremsituationen, 2003.

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meisterte Probleme, die auch den heutigen Führungskräften vertraut sind. Er musste eine sehr heterogene Gruppe von Wissenschaftlern und Seeleuten dazu bringen, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten, sich mit ewigen Neinsagern und Besserwissern auseinandersetzen, die Pessimisten aufmuntern, die Unzufriedenen davon abhalten, die Atmosphäre zu vergiften und er musste Langeweile und Erschöpfung bekämpfen, er musste zudem Ordnung in einem chaotischen, ja lebensbedrohlichen Umfeld schaffen und mit sehr knappen Ressourcen auskommen. Das sind kritische Faktoren, die nicht nur im Grenzbereich einer Polarexpedition, sondern auch im Unternehmensalltag bestimmend sein können. Und beide, der vermeintliche „Verlierer“ Shackletons und der Sieger Amundsen hatten einen Lehrsatz, der auch für heutige Manager gilt: „Optimismus ist wahrer moralischer Mut“. Natürlich haben sich seit damals, also mit der fortschreitenden Industrialisierung, mit der Entwicklung einer Dienstleistungsgesellschaft, der Vertiefung demokratischer Strukturen und Herausbildung einer Wertegesellschaft das Menschenbild und die Führungskultur entscheidend verändert. Wir leben heute in einer modernen Kommunikationsgesellschaft. Jeder ist Teil davon. Jeder von uns erfährt binnen kürzester Zeit, was im hintersten Winkel der Welt los ist. Milliarden-Transaktionen dauern in der gigantischen Computer-Welt nur noch Sekunden. Jeder, der sich dafür interessiert, erfährt in atemberaubender Geschwindigkeit, was auf unserer Erde und im Weltraum geschieht. Das alles ist ja überwiegend auch gut und hat unseren Fortschritt und Erfolg und nicht zuletzt auch den Wohlstand enorm beflügelt. Aber elementare Grundsätze bleiben dabei häufig auf der Strecke. Oder besser gesagt, die vielfältigen Rahmenbedingungen lassen es oft nicht zu, dass sie noch gelebt werden. Nach meiner Meinung fehlt vielen guten Managern heute schlichtweg die Zeit, eine verlässliche, umsichtige, auf Kontinuität ausgerichtete Unternehmensstrategie zu entwickeln und vor allem zu verfolgen. Dies gilt vor allem für Großkonzerne. Die Hektik des schnellen Erfolges, den die Aktionäre erwarten, nimmt ihnen die Zeit für eine langfristige Strategie. Heute werden Manager für viel Geld in Konzerne geholt und ebenso schnell wieder gefeuert, wenn der kurzfristige Erfolg an der Börse, in der Produktentwicklung oder im Vertrieb ausbleibt. Und bevor es die Spitzenmanager trifft, werden Niederlassungen geschlossen, Betriebsteile verkauft, Fusionen durchgesetzt. Mit katastrophalen Folgen für Arbeitnehmer, die oft Jahrzehnte durch ihr Können, ihren Fleiß und ihre Loyalität nicht unerheblich zu den schwarzen Zahlen in der Bilanz beigetragen haben. Am ehesten, so denke ich auch im Hinblick auf das von mir gegründete Unternehmen, gibt es noch in Familienunternehmen Verlässlichkeit und einen langen Atem in der Unternehmensführung. Aber auch ein besonders verantwortungsvolles Bewusstsein für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Um der Verlässlichkeit und Stabilität meines Unternehmens willen habe ich auch in Zeiten, in denen die Börse jubelte, stets einen Börsengang abgelehnt und dafür auch Nachteile in Kauf genommen. Gemeinsam mit meiner Familie hatte für mich die Stabilität des Unternehmens Deutsche Vermögensberatung oberste Priorität. Und unsere nunmehr 40jährige Unternehmensgeschichte zeigt, dass Stabilität, Verlässlichkeit

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und Vertrauen in die handelnden Persönlichkeiten Bedingung für den wirtschaftlichen Erfolg sind. Warum betone ich all das so entschieden in einer Würdigung für Friedrich Bohl? Erstens: Mein Freund, der jetzt 70 Jahre alt ist, ist geprägt durch ein intensives und sehr erfolgreiches Leben in der Politik. Zweitens: Friedrich Bohl beweist jeden Tag neu seine überragenden Fähigkeiten in dem von mir gegründeten Unternehmen. Er ist ein kluger, immer offener Ratgeber, ein geräuschlos arbeitender Mann, der nicht seine Persönlichkeit, sondern immer die Sache in den Mittelpunkt stellt. Friedrich Bohl ist ein Stratege, denn er trifft keine Entscheidung, ohne die sich daraus ergebenden Konsequenzen abzuwägen. Er tut dies immer mit einem Höchstmaß an Sorgfalt. Und besonders beeindruckt mich zudem, dass er bei all dem die langfristige Perspektive im Geschäftsmodell im Auge hat. Und er mag die Menschen. Jeder, der ihm begegnet, schätzt seinen freundlichen und verbindlichen Umgang, und wenn er als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Vermögensberatung personelle Entscheidungen treffen muss, dann sind auch Abschiedsgespräche immer von Respekt geprägt. Das entspricht seinem offenen, guten Charakter. Ich selbst, der nach dem letzten Weltkrieg aus der ehemaligen Tschechoslowakei zunächst in die sowjetische Besatzungszone nach Halle an der Saale vertrieben wurde und dann aufgrund meines Engagements für demokratische Freiheiten von der SED verhaftet werden sollte, habe durch einen glücklichen Umstand in den Westen flüchten und in Marburg eine neue Heimat finden können. Hier an der traditionsreichen Philipps-Universität habe ich studiert und promoviert, hier habe ich meine Familie gegründet. Hier habe ich den Grundstein für unser Familienunternehmen gelegt. Trotz dieser unternehmerischen Ausrichtung hat mich immer auch die Kommunalpolitik interessiert, weil es hier um ganz konkrete Politik für die Menschen geht. Und deshalb habe ich mich hier auch als Stadtverordneter persönlich engagiert. Der junge Friedrich Bohl, der am 5. März 1945 in Rosdorf im Kreis Göttingen geboren wurde und dann 1964 zum Studium der Rechtswissenschaften nach Marburg kam, der hier seine erste und zweite juristische Staatsprüfung ablegte und dann als Rechtsanwalt und Notar arbeitete, ist früh in mein Blickfeld geraten. Gerade wegen seines Engagements in der Kommunal- und Kreispolitik. 28 Jahre war er Mitglied des Kreistags, 16 Jahre lang, von 1974 bis 1990, führte er als Vorsitzender die CDU-Kreistagsfraktion. Hinzu kam seine Mitgliedschaft im Hessischen Landtag von 1970 bis 1980. Er war einer der Architekten der so genannten Jamaica-Koalition zwischen CDU, FDP und Grünen im Jahr 2002 in Marburg. Das war damals eine Sensation. Und schließlich erfolgte 1980 dann seine Wahl in den Deutschen Bundestag. Die umfassenden Qualitäten von Friedrich Bohl wurden auch im Bundestag schnell erkannt. 1984 wurde er Parlamentarischer Geschäftsführer und 1989 der 1. Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Diese Aufgabe ist nach meinem Verständnis auch deshalb so herausfordernd, weil hier – damals wie heute – der Bundesregierung im Parlament der Rücken freigehalten werden

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muss. Es geht also nicht nur um Redezeiten und die Organisation sowie den Ablauf von Debatten und Abstimmungen. Natürlich ist das wichtig. Es müssen aber immer auch die Meinungen der freigewählten Abgeordneten ernst genommen und Konflikte in der Sache – die es ja zwischen Exekutive und Legislative häufiger gibt – frühzeitig entschärft werden. Ein ständiger Balanceakt, den man nur mit hohem Ansehen bei allen Beteiligten, mit Sachverstand auch im Detail und vor allem einer besonderen Integrationsfähigkeit bewerkstelligen kann, sicherlich auch mit Leidensfähigkeit in enttäuschenden Momenten. Helmut Kohl, Bundeskanzler der deutschen Einheit, hat die besonderen Fähigkeiten von Friedrich Bohl sehr früh erkannt. Er schätzt Menschen, die – wie er häufiger sagte – ihre Pflicht erfüllen. Geräuschlos, effizient, umsichtig, lösungsorientiert. 1991 holte er Friedrich Bohl als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes in sein Kabinett. Jeder, der sich mit der Bundespolitik und ihren Abläufen oft unter großem Zeitdruck befasst, kann sich in etwa vorstellen, wie herausfordernd diese Herkulesarbeit in der Macht- und politischen Schaltzentrale unseres Landes ist. Der Bundesminister aus Cappel hat dem Kanzler aus Oggersheim den Rücken freigehalten. Unter seiner Regie wurde vieles im Vorfeld von Kabinettssitzungen geklärt, bereinigt, auch entschieden. Friedrich Bohl war gleichzeitig die Brücke zum Bundestag und zur Länderkammer, dem Bundesrat. 1998 hat er auch noch für ein paar Monate zusätzlich die Leitung des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung übernommen. Friedrich Bohl hatte auch das Vertrauen der in der Bundespressekonferenz akkreditierten Journalisten aus der ganzen Welt. Er hat den Journalisten bestimmt nicht immer alles gesagt, was er wusste. Aber das, was er den Medien in vertraulichen Gesprächskreisen und Zirkeln oder in offiziellen Pressegesprächen sagte, stimmte. Ein Grundsatz, den er mit großer Sensibilität auch heute noch gegenüber Repräsentanten der Medien und generell in seinem weit verzweigten Netzwerk praktiziert. Helmut Kohl, mit dem mich – wie viele wissen – eine langjährige und enge Freundschaft verbindet, hat seinem Vertrauten Friedrich Bohl immer gedankt. Für seine Loyalität, sein Können, seine Arbeit und seine Beratung in besonderen Situationen. Der Bundeskanzler fühlte sich gut, wenn Friedrich Bohl in seiner Nähe war. Helmut Kohl nannte seinen Weggefährten einmal bei einem Besuch in Marburg einen „guten Kameraden“. Und man kann ja auch aus den Memoiren Helmut Kohls, die er bescheiden mit „Erinnerungen“ überschrieben hat, erkennen, wie sehr er Friedrich Bohl in weitreichende Entscheidungen einbezogen und als Akteur in Krisensituationen eingesetzt hat. Mehr als 30 Jahre lang hat Friedrich Bohl in Marburg, Wiesbaden, Bonn und zuletzt nach der Deutschen Einheit in Berlin mit und für die Politik gelebt und sie ganz wesentlich beeinflusst. Zu seinen überragenden Verdiensten gehören ganz sicher seine Mitwirkung an der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes einschließlich des friedlichen Abzugs der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland und sein Engagement im Europäischen Einigungsprozess.

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Seit Dezember 1998 bestimmt er an meiner Seite über die Geschicke in der Deutschen Vermögensberatung. Zunächst als Generalbevollmächtigter, dann als Vorstand hat er sich nicht nur im Management, sondern auch bei den zu uns gehörenden 37.000 Vermögensberatern höchste Wertschätzung erworben. Er ist ein oft eingeladener Gast bei großen Vertriebstagungen. Friedrich Bohl kümmert sich eben. Und er tut dies Tag für Tag mit einer bewundernswerten Sachkenntnis, mit Kraft, Leichtigkeit und Sorgfalt. Im April 2009 wurde Friedrich Bohl auf meinen Vorschlag hin zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates unseres Familienunternehmens berufen. Das war die beste Entscheidung, die ich gemeinsam mit meinen Söhnen Andreas und Reinfried treffen konnte. Es gibt Situationen im Leben, in denen alles passt. Ich denke, meine Familie und Friedrich Bohl hat eine glückliche Fügung zusammengeführt. Der politisch denkende und handelnde Mann ist längst zu einem Strategen auch außerhalb der Politik geworden. Er hat herausragende, bleibende Verdienste um unser Familienunternehmen und seine großartige Erfolgsgeschichte. Er ist mir – wie ganz wenige – auch jenseits der unternehmerischen Arbeit ein enger, persönlicher Freund geworden, der das uneingeschränkte Vertrauen meiner ganzen Familie hat und dessen geradliniger Charakter sowie menschliche Qualitäten in vielfacher Hinsicht prägend sind. Im Mai des gleichen Jahres wurde er als mein Nachfolger Vorsitzender des von mir 1973 gegründeten Bundesverbandes Deutscher Vermögensberater (BDV) mit seinen rund 11.000 Mitgliedern. Der BDV ist die berufsständische Interessensvertretung der selbständigen Vermögensberater in Deutschland. Parallel zur Gründung meines Unternehmens Deutsche Vermögensberatung ist es mir mit der Schaffung und Durchsetzung der Berufsbezeichnung „Vermögensberater“ gelungen, in Deutschland ein eigenes Berufsbild zu etablieren. Der BDV wird als kompetenter Gesprächspartner bei Anhörungen der Parlamente des Bundes und der Länder und nicht zuletzt auch bei der Europäischen Kommission in Brüssel geschätzt. Er vermittelt glaubwürdig das Selbstverständnis seiner Mitglieder als Mittler zwischen Bürger und Staat, die mit ihrer anspruchsvollen Tätigkeit ihren Kunden zu Vermögensaufbau und Vermögensabsicherung verhelfen und damit für die Vermeidung von Altersarmut breiter Bevölkerungsschichten sorgen. Neben all seinen anderen Aufgaben leistet Friedrich Bohl auch hier eine exzellente Arbeit zum Wohle des ganzen Berufsstandes. Dies gilt in gleichem Maße für seinen langjährigen Vorsitz an der Spitze des Deutschen Unternehmensverbandes Vermögensberatung (DUV), dem neben der Deutschen Vermögensberatung Vorstände und Geschäftsführer von bedeutenden Unternehmen vor allem der Finanzdienstleistungsbranche angehören.

Friedrich Bohl – mehr als nur ein Weggefährte der Mittelhessischen Universitätsmedizin Von Jochen A. Werner Wenn im Jahr 2027 die Marburger Philipps-Universität auf eine 500-jährige Geschichte zurückblickt, dann wird auch der am 1. Juli 2005 begonnene Abschnitt einer neu strukturierten Mittelhessischen Universitätsmedizin zur Bewertung in der Öffentlichkeit anstehen. An diesem Tag wurden die Universitätskliniken von Gießen und Marburg zu einer Anstalt des Öffentlichen Rechts fusioniert, dies unter Erhalt einer Eigenständigkeit der Medizinischen Fachbereiche beider Standorte. Wesentlicher Grund für die vom damaligen Ministerpräsidenten Hessens, Dr. Roland Koch, getroffene Entscheidung zur vorgenannten Maßnahme war die nur mit sehr hohen investiven Kosten mögliche bauliche Sanierung des Gießener Klinikums. Die Landesregierung entschied sich für die Abfolge einer initialen Fusionierung beider Universitätsklinika mit nachfolgendem Verkauf des Gesamtklinikums. Am 27. Januar 2006 stimmten das Bundeskartellamt und der Wissenschaftsrat dem Verkauf an die Rhön-Klinikum AG zu, vier Tage später beschloss der Hessische Landtag die Veräußerung von 95% der Geschäftsanteile an die Rhön-Klinikum AG, also an ein börsennotiertes Unternehmen, das unter mehreren Bietern den Zuschlag erhielt. Geboren war ein in der deutschen Universitätsmedizin einzigartiges Konstrukt, das schwieriger kaum hätte geplant werden können. Die Politik fusionierte den Bereich der Krankenversorgung zweier, positiv ausgedrückt, primär nicht auf Kooperation ausgerichteter Universitäten, beließ jedoch die beiden Medizinischen Fachbereiche und damit Forschung und Lehre als vom jetzt gemeinsamen Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM GmbH) separate Einheit bei den Mutteruniversitäten. Aus den Verkaufserlösen des UKGM wurde am 8. September 2006 die im Marburger Landgrafenschloss ansässige Von Behring-Röntgen-Stiftung vom Land Hessen als rechtsfähige Stiftung des Bürgerlichen Rechts mit einem Stiftungskapital von 100 Millionen Euro eingerichtet. Damit zählt die Von Behring-Röntgen-Stiftung zu einer der größten Medizinstiftungen Deutschlands, also zu einer Institution, der für die am UKGM durchzuführende Forschung eine große Bedeutung zukommen sollte. Eingerichtet wurde diese Stiftung zur Förderung der hochschulmedizinischen Forschung und Lehre an den Universitäten Gießen und Marburg. Am 1. Dezember 2011 löste der ehemalige Bundesminister im Bundeskanzleramt, Friedrich Bohl, den bisherigen Präsidenten der Von Behring-Röntgen-Stiftung, Professor Dr. Joachim-Felix Leonhard, ab. Spätestens seit diesem Zeitpunkt war

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Friedrich Bohl mehr als nur ein Weggefährte der Mittelhessischen Universitätsmedizin, die im Folgejahr, 2012, ihrer bisher schwersten Belastungsprobe ausgesetzt wurde. Erste Zeichen dieser Unruhe gehen zurück auf den Juli 2011, als von der Siemens AG entschieden wurde, das Projekt zum in Marburg baulich bereits errichteten Partikeltherapiezentrum nicht fortführen zu wollen. Die von der börsennotierten RhönKlinikum AG (RKA) am 18. Juli 2011 als Ad-hoc-Mitteilung verkündete Entscheidung zum Stopp des Partikeltherapieprojektes überraschte die Landesregierung aufs Heftigste. Die Ernsthaftigkeit dieser Entscheidung wurde spätestens deutlich, als seitens der Siemens AG die weitere, in Kiel aufgebaute Partikeltherapieanlage demontiert wurde. In Marburg traf die Entscheidung gegen die Partikeltherapie auf erheblichen Widerstand. Zum zweiten Mal fühlte sich der Marburger Standort vom Privatisierungsprozess überrollt. Anders als in Gießen, wo die Privatisierung des Klinikums von vielen als willkommene Rettungsmaßnahme der Universitätsmedizin empfunden wurde, war die Privatisierung am Marburger Standort nicht gewünscht. Als nun die explizit Marburg zugesprochene Partikeltherapie auch nicht kommen sollte, da drohte, umgangssprachlich ausgedrückt, das Fass überzulaufen. Die Geduld so manchen Bürgers und auch Hochschullehrers schien überstrapaziert. So war es nicht verwunderlich, dass der in Marburg lebende Friedrich Bohl die Empörung der Marburger Bürger unmittelbar miterlebte. Durch die Absage an das Partikeltherapieprojekt kam es zum Bruch in der bis dahin gepflegten Kommunikation zwischen den beiden Gesellschaftern, der RhönKlinikum AG (95%) und dem Land Hessen (5%). Das Miteinander verschlechterte sich mit der seitens des privaten Krankenhausbetreibers immer deutlicher werdenden Erkenntnis, dass die für das UKGM gesetzten wirtschaftlichen Ziele nicht erreichbar sein dürften. Das Ausmaß der 2012 kommunizierten Schwierigkeiten wurde vom Konzernvorstand zur Zeit der Übernahme im Jahr 2006 nicht im tatsächlichen Umfang erwartet. Zwar verzichtete die Rhön-Klinikum AG beim Kauf der Kliniken im Jahr 2006 auf Fördermittel des Landes, der Konzern rechnete jedoch fest mit Mitteln aus dem Hochschulbauförderprogramm (HBFG) des Bundes. Als diese Förderung 2007 vom Bund aus unerwartet eingestellt wurde, fehlte ein wichtiger Finanzierungsposten. Diese Umstände und die Konzernstrategie, die mit Inbetriebnahme der Neubauten in Gießen und Marburg anfallenden Zinsaufwendungen und Abschreibungen aus dem Betrieb der Universitätsklinik heraus zu erwirtschaften, ließ die UKGM GmbH im Jahr 2012 zu einem Brennpunkt nicht nur innerhalb des Rhön-Konzerns werden. Als möglicher Lösungsweg zeichnete sich für den Konzern ein Abbau von 500 Stellen ab. Die Kommunikation zwischen der Landesregierung und dem Rhön-Konzern war am Tiefpunkt angelangt. Das öffentliche Interesse an diesen Vorgängen war sehr hoch, galt die bundesweit erste Privatisierung eines Universitätsklinikums als mög-

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licher Ausweg für einen Teil der in erhebliche finanzielle Nöte kommenden anderen Universitätsklinika. Friedrich Bohl, sich die ersten Monate in seine neue Position als Präsident der Von Behring-Röntgen-Stiftung einarbeitend, sah sich immer häufiger – dies bereits qua Amtes – mit den verstärkt an die Öffentlichkeit gelangenden Konflikten zwischen Rhön-Konzern und Land Hessen und damit auch mit den Universitäten und den Klinikdirektoren konfrontiert. So war es nicht verwunderlich, dass sich auch für Friedrich Bohl Aufgaben verschoben und für die Standorte Gießen und Marburg relevante Initiativen aus dem primären Fokus rückten. Letzteres galt beispielhaft für die Arbeitsgruppe „Innovation in Spitzenmedizin und High Care“ der Gesundheitsregion Marburg-Biedenkopf. Der Landkreis hatte diese Arbeitsgruppe im Rahmen seiner Initiative Gesundheitsregion ins Leben gerufen, zu der auch Friedrich Bohl gehört. „Wir haben hier in der Region in den Bereichen Medizin, Gesundheit, Wissenschaft und Forschung einen Vorsprung, den wir nutzen müssen. Dieser Vorsprung ist ein Wettbewerbsfaktor, der in viele andere Bereiche einstrahlt“, so Bohl in einer Pressemitteilung. Zur Umsetzung eines solchen Zieles sollte allerdings eine gewisse Ruhe bei den Beteiligten herrschen. Zu diesem kritischen Zeitpunkt galt es jedoch zunächst für alle Beteiligten, festgefahrene Fronten zwischen dem Rhön-Konzern auf der einen und dem Land Hessen samt der Universitäten und der Klinikdirektoren auf der anderen Seite zu lockern, Gesprächsbereitschaft zu erzeugen und viele Gespräche in vorgenannter Angelegenheit zu führen. Mit anderen Worten ausgedrückt konnte der von Bohl erkannte Wettbewerbsvorteil infolge vordergründiger Aufgabenstellungen zum genannten Zeitpunkt noch nicht im gewünschten Umfang umgesetzt werden. Am 8. März 2012 ernannte die Wissenschaftsministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) Friedrich Bohl und Dr. Wolfgang Gerhardt zu Mediatoren im vorgenannten Konflikt zwischen mittlerweile verschiedensten Gruppen rund um die mittelhessische Universitätsmedizin. Seitens der Gesellschafterversammlung wurde die Ernennung beider Persönlichkeiten zu Mediatoren in einer gemeinsamen Erklärung vom 13. März 2012 von Vertretern des Landes Hessen, der Rhön-Klinikum AG und des UKGM als Willensbekundung zur Vertrauensbildung nachdrücklich begrüßt. Die damit initiierte Mediation unter Leitung des Präsidenten der Von BehringRöntgen-Stiftung und des Vorstandsvorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung stieß keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Gerade von der Opposition wurden erhebliche Bedenken vorgebracht. So stieß die Berufung „zweier strammer Parteipolitiker aus den Regierungsfraktionen“ auf Ablehnung, wie der Landtagsabgeordnete Dr. Thomas Spies sagte. Dies sei eine „außerordentliche Brüskierung der Beschäftigten des UKGM“. Zudem sei „eine Mediation, die nur durch Vertreter einer Seite bestritten wird, ein Witz“, so Spies. In diese Richtung äußerte sich auch die Gesundheitspolitische Sprecherin der Hessischen Grünen, Kordula Schulz-Asche, die sagte: „Normalerweise versucht man ja, Personen zu finden, die von allen Seiten akzeptiert sind. Ob das für die vorgeschlagenen Parteisoldaten ohne Fachkenntnis im

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Gesundheitswesen der Fall ist, werden die Beteiligten entscheiden müssen.“ So war es auch keineswegs selbstverständlich, dass sich alle Gruppierungen ohne Vorbedingungen an dem Mediationsverfahren beteiligten. Mit dem Betriebsrat beispielsweise konnte das Gespräch mit den Mediatoren erst im dritten Anlauf aufgenommen werden. Zurückblickend auf diese Zeit stellte die Vorsitzende des Betriebsrates am Marburger Universitätsklinikum, Bettina Böttcher, im Jahre 2014 fest: „In der Zeit des geplanten Personalabbaus von 500 Stellen und des Zerwürfnisses mit dem Vorstand des Unternehmens der Rhön AG haben die Betriebsräte die Benennung der Mediatoren durch die Landesregierung, Friedrich Bohl und Wolfgang Gerhardt, sehr kritisch gesehen und die Funktion in dieser Zeit in Frage gestellt. Die Betriebsräte in Marburg stellten dann aber fest, dass sich die Zusammenarbeit, schwerpunktmäßig mit Friedrich Bohl, sehr konstruktiv gestaltet hat. In der Person von Friedrich Bohl haben wir nicht nur den Politiker, sondern auch einen Menschen mit hoher sozialer Kompetenz kennenlernen dürfen. In dem heutigen politischen Tagesgeschäft ist das wohl nicht immer so selbstverständlich. Er hat sich durch seine herausragende Persönlichkeit das Vertrauen der Betriebsräte erarbeitet. Wir gehen nach wie vor bei anstehenden Fragen und Problemen gerne auf ihn zu.“ Die Kritik an den eingetretenen Ereignissen beschränkte sich keineswegs auf die Gremienvertretungen oder die Oppositionsparteien. Auch der Marburger CDU-Vorsitzende Philipp Stompfe widersprach im April 2012 der eigenen Landtagsfraktion und erklärte: „Die Privatisierung der Universitätskliniken Gießen und Marburg ist keine Erfolgsgeschichte.“ Während die Mediatoren Bohl und Gerhardt unverzüglich in ihre neue Aufgabe einstiegen, verschärfte sich die Lage am UKGM weiter. Am 17. März 2012 demonstrierten in Marburg 2500 Personen gegen einen Stellenabbau am Klinikum. Zwei Tage später verabschiedete der Senat der Marburger Universität eine Resolution gegen einen Stellenabbau. Am 27. März 2012 forderte der Magistrat der Stadt Marburg die Landesregierung auf, die Privatisierung rückgängig zu machen. Auch von der Konferenz der Klinikdirektoren in Gießen und Marburg wurde die Landesregierung gebeten, die Privatisierung zu prüfen, die seitens der Klinikdirektorenkonferenz in einem weiteren Schreiben vom 7. April 2012 als endgültig gescheitert bewertet wurde. Professor Dr. Hinnerk Wulf, Sprecher der Klinikdirektoren, Direktor der Marburger Univ.-Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, bewertete zwei Jahre später diese Phase zusammenfassend: „Als Sprecher der Klinikdirektoren habe ich Herrn Bundesminister a. D. Friedrich Bohl sehr zu schätzen gelernt. Herr Bohl war von der Hessischen Landesregierung als Mediator eingesetzt, als es um die Bewältigung der Krise um das privatisierte Universitätsklinikum Gießen und Marburg im Jahr 2012 ging (angedrohte Streichung von 500 Stellen durch den Rhön-Konzern). Schon die Tatsache allein, dass jemand für eine solche Mediatorenrolle ausgewählt wird, spricht ja per se schon für das Bild, das man von seiner Person und seiner Kompetenz in der Politik (Landesregierung), der Wirtschaft (Rhön AG), den Medien und

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der Öffentlichkeit (inklusive den Professoren und Direktoren des Universitätsklinikums) hatte. Ich war dann in der Tat auch sehr beeindruckt, in welcher Ausgewogenheit Friedrich Bohl die jeweiligen Standpunkte analysiert hat, mit welcher Geduld er zu vermitteln wusste und mit welchem Einfühlungsvermögen er mir gegenübertrat, indem er uns stets den Eindruck seiner Sympathie für unsere Seite und für seine Empathie in der Sache vermittelt hat, sicherlich ohne dabei seine Aufgabe als neutrale ausgleichende Instanz aus den Augen zu verlieren. Dies war einfach ein Lehrstück für die hohe Schule der Politik und Diplomatie. Es entsprach ja durchaus auch dem Bild, das man von seiner vormaligen Tätigkeit in der Politik schon gewonnen hatte und das ich nun im persönlichen Kontakt mehr als bestätigt sah. Es ist sicher nicht einfach, im politischen Geschäft ein Gentleman der alten Schule zu bleiben. Herrn Bohl ist dies eindrucksvoll gelungen.“ Nicht nur die Klinikdirektoren distanzierten sich von der Privatisierung. Der Dekan des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität Marburg, Professor Dr. Matthias Rothmund, schrieb am 11. April 2012 in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Das Großexperiment, Fusion und Privatisierung zweier Universitätskliniken, ist misslungen.“ Die Mediatoren waren also mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. Die Ansicht, dass die Privatisierung der Universitätsklinika ein Fehler war, zog sich wie ein roter Faden durch nahezu alle geführten Konfliktgespräche, vor allem in Marburg. Von vielen Seiten wurde der dringende Wunsch um eine Rückführung des UKGM zum Land vorgebracht, da man sich die Verwirklichung des gemeinsamen Zieles von Krankenversorgung, Forschung und Lehre nicht mehr unter der Leitung eines privaten Krankenhausbetreibers vorstellen konnte. Genau in diese Phase hinein gab der Gesundheitskonzern Fresenius Pläne bekannt, im Einvernehmen mit dem größten Anteilseigner, Eugen Münch, die Rhön-Klinikum AG für über 3 Milliarden Euro zu übernehmen und mit der Fresenius-Tochter Helios zusammenzuführen. Fresenius bot 22,50 Euro je Aktie, sofern bis Ende Juni 2012 90% plus 1 Aktien angedient wurden. Die Arbeit der Mediatoren wurde durch diese Nachricht weiter erschwert. Die vermittelnde Rolle von Friedrich Bohl wurde noch bedeutsamer. „Als Moderator in der schwierigen Zeit des möglichen Inhaberwechsels des UKGM vertrat er nicht einfach die Interessen des Ministeriums, sondern versuchte, kontroverse Meinungen zu verstehen, respektierte sie und hat so selbstlos zur Konfliktlösung beigetragen“, so der ehemalige Medizindekan Matthias Rothmund. Am 11. Mai 2012 sprach der Verband der Universitätskliniken Deutschlands e.V. (VUD) in einer Presseerklärung von „dem misslungenen Privatisierungsversuch zweier deutscher Universitätsklinika“ und forderte das Land auf, die Frage nach dem Rückkauf zu stellen, da ein bloßer Eigentümerwechsel keine Antwort auf die zutage getretenen Probleme sei. Auch die zweite höchstrangige Instanz in der deutschen Universitätsmedizin, der Medizinische Fakultätentag e.V. (MFT), empfahl dem Land Hessen auf seiner Mitgliederversammlung am 8. Juni 2012 in einer Resolution die Rücknahme des UKGM.

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Die Entscheidung zum Übernahmeversuch durch Fresenius rückte näher. Am 29. Juni 2012 scheiterte dieser Plan jedoch im ersten Anlauf. Statt der angestrebten 90% plus 1 Aktien wurden nach zwischenzeitlich erfolgtem Kauf von 5,01% durch Asklepios, einem Mitbewerber unter den Krankenhausbetreibern, zum Stichtag lediglich 84,3% der Aktien angedient. Mit Übernahme der Präsidentschaft der Von Behring-Röntgen-Stiftung trat Friedrich Bohl an einen besonders wichtigen Platz des mehr als komplexen Konstruktes der Mittelhessischen Universitätsmedizin und dies zum Zeitpunkt der größten Krise der 2005 in der Krankenversorgung fusionierten und ein Jahr später privatisierten Universitätsklinika. Professor Dr. Matthias Rothmund, ehemaliger Dekan des FB Medizin der Philipps-Universität Marburg, charakterisierte die Tätigkeit Bohls wie folgt: „Friedrich Bohl fiel mir als Präsident der Von Behring-Röntgen-Stiftung durch seine souveräne Art der Amtsführung auf. Es kam ihm immer darauf an, den Stiftungszweck in optimaler Weise zu erfüllen und seine Person dabei zurückzunehmen. Er stellte sich einfach in den Dienst der Sache.“ Zur Schlichtung schwerster Auseinandersetzungen wurden Friedrich Bohl und Wolfgang Gerhardt als Mediatoren eingesetzt. In ihrer Arbeit wurde einmal mehr deutlich, dass primär nicht der detaillierte Sachverstand im Konfliktthema entscheidend ist, sondern die Art der Kommunikation und hierbei ganz besonders Verlässlichkeit, Vertrauen und Verschwiegenheit in Richtung aller Konfliktparteien. Hierfür stand und steht Friedrich Bohl, der frühere Chef des Bundeskanzleramtes in der Regierung Kohl, der jahrelang als stiller und verschwiegener Manager im Hintergrund wirkte und stets versuchte, die Entscheidungsprozesse in der Koalition möglichst reibungslos ablaufen zu lassen. Die hohe Wertschätzung an der Arbeit Bohls findet sich auch in dessen Charakterisierung durch den Vorsitzenden der Geschäftsführung der UKGM GmbH und zudem Vorstandsmitglied der Rhön-Klinikum AG, Martin Menger, wieder, der feststellte: „Es bedarf auf dem Feld der Entwicklung unserer mittelhessischen Hochschulmedizin schon eines ganz besonderes Talentes, auch der Fähigkeit, über den Tag hinaus zu denken, und natürlich der Kraft und Geduld, für die Umsetzung von Ideen, für die man steht, einzutreten, ja manchmal auch zu streiten. All das bringt er mit und wirft es jeden Tag in die Waagschale. Wir sind erfreut und dankbar, in Herrn Bohl so einen tatkräftigten und sympathischen Mitstreiter für unsere Sache gefunden zu haben: Gute Medizin und Pflege auf exzellentem Niveau für jedermann.“ Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages ist Friedrich Bohl unverändert ein besonders wichtiger und engagierter Partner innerhalb der Mittelhessischen Universitätsmedizin, die gerade einmal durchzuatmen scheint. Alle hieran Beteiligten dürfen sicher sein, dass sie mit Friedrich Bohl einen besonders wertvollen Menschen zur Seite haben und dies eben auch in sehr schweren Zeiten. Hierfür sei Friedrich Bohl zutiefst gedankt.

II. Deutschland- und Europapolitik, Kommunalpolitik

Vom Wert der Freiheit Von Volker Kauder Der junge Parlamentarier und Jurist Friedrich Bohl betrat die Bonner Bühne im Jahr 1980, mit 35 Jahren. Zuvor hatte er bereits zehn Jahre Parlamentserfahrung im hessischen Landtag sammeln können. Als Teil der seinerzeit legendären Gruppe, die der politische Mitbewerber nach ihrem Namensgeber despektierlich und doch auf gewisse Weise respektvoll die „Dregger-Mafia“ nannte, war er die harte politische Auseinandersetzung gewohnt. Bohl steckte nicht zurück und war meinem späteren guten Freund Peter Struck seit seiner Zeit im U-Boot-Untersuchungsausschuss als „Wadenbeißer schlimmster Sorte“ bekannt – für jemandem aus dem hessischen „Kampfverband“ ein ehrendes Attribut, das der Berliner Tagesspiegel als gegeben hinnahm, als er den Kanzleramtsminister 1996 portraitierte. Ohne Zweifel haben die Erfahrungen in seinem bis vor kurzem von besonders ausgeprägten politischen Antagonismen gekennzeichneten Heimatland die politische Ausprägung Friedrich Bohls besonders beeinflusst. Seine Abneigung gegen den Sozialismus stammt aus der Zeit des kalten Krieges, dessen Ende und die damit einhergehenden politischen Folgen in Deutschland er an verantwortungsvoller Stelle mitgestalten durfte. Gerade sein hessischer Landesverband blühte in den Tagen der Wiedervereinigung auf – und sah sich, wie er selbst, auf eindeutige Weise in seiner aufrechten Haltung bestätigt. Der Kanzleramtsminister, der auch zum Koordinator für den Aufbau Ost wurde, fand die Gelegenheit, auch in den 1990er Jahren weiter und ganz persönlich zur Überwindung der deutschen Teilung und der Folgen des Sozialismus beizutragen. Zahlreiche Presseberichte aus dieser Zeit bezeugen seinen Einsatz dabei, den Einigungsprozess im Dialog mit den Menschen in den neuen Ländern voranzubringen. Friedrich Bohl nutze die Möglichkeiten, die ihm sein Amt als gleichsam „geschäftsführender Bundeskanzler“1 gab, um den Überblick zu behalten. Er sah mit Sorge auf die steigende Staatsquote, er erkannte die Überregulierung im Land und setzte sich für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ein, bevor dies ein Allgemeinplatz wurde. So beschrieb er anlässlich des Kongresses „Schlanker Staat“ 1997 in Düsseldorf klar und weitsichtig die aus der sich abzeichnenden Globalisierung entstehenden Herausforderungen für das erfolgsgewohnte Deutschland: den demografischen Wandel, die Digitalisierung und die wachsende Bedeutung 1 Zit. nach Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949 – 1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, 2001, S. 157.

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der asiatischen Volkswirtschaften für die Weltwirtschaft.2 Ein zentrales Motiv dieser Rede des erfahrenen Verwaltungsmannes war übrigens, auch und vor allem unter den Mitarbeitern der Behörden um ein Verständnis für diese Herausforderungen zu werben. Unter Bezugnahme auf das berühmte Wort von Antoine de Saint-Exupéry, der dem Schiffbauer vor allem die Sehnsucht auf das weite Meer einpflanzen wollte, folgerte Bohl: „Es geht darum, an unserem Schiff Deutschland mitzubauen. Es soll auf dem weiten Meer des globalen Wettbewerbs an der Spitze mitsegeln.“3 Das Fazit gilt heute wie damals – in Zeiten, als viele sich in die Zeit der Überschaubarkeit und der nationalen Lösungen zurücksehnten und dies politisch betrieben, hatte er die Weite vor Augen. Friedrich Bohl war es seit seiner Zeit im hessischen Landtag gewohnt, kämpferisch und selbstbewusst zu seinen Überzeugungen zu stehen, was zuweilen noch aufblitzte, selbst als ihn später das Amt als Kanzleramtsminister zu stärkerer Zurückhaltung zwang. In den frühen Jahren im Bundestag hingegen war er für seine klare Kante bekannt. Die Kampfmittel wählte Friedrich Bohl mit Bedacht, Kampfmittel aber waren sie schon – sie reichten von der Geschäftsordnung, über das verbale „Florett“ bis hin zum „Holzhammer“, wie Heinz Schweden seinerzeit, im Mai 1989, in der Rheinischen Post konstatierte. Viele seiner Gegner haben den disziplinierten Langstreckenläufer vielleicht auch aufgrund seiner schlanken Erscheinung unterschätzt – ein Fehler. Denn, wie das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt ebenfalls im Mai 1989 urteilte, „wehe, Friedrich Bohl ergreift das Wort“. In den Presseberichten dieser Zeit begegnet er uns als ein mit allen Wassern gewaschener Streiter für seine Überzeugung – die Freiheit. Geschickt verstand er es aber auch, die Interessen von Partei und Fraktion zu verteidigen. Beinahe legendär ist die Geschäftsordnungsdebatte im Plenum des Deutschen Bundestages anlässlich der Regierungserklärung im April 1989, die Bohl so lange aufrecht erhielt, bis die beiden Bundesminister Schäuble und Töpfer das Plenum erreichten – ohne dazu von der Opposition herbeizitiert worden zu sein. Der engagierte und disziplinierte Bohl musste Bundeskanzler Helmut Kohl auffallen. In ihm fand er einen dauerhaften Unterstützer und Förderer, den er, wenn wir den Berichterstattern glauben können, allerdings bis zum Ende seiner Amtszeit 1998 siezte. Leitungserfahrung auf der Bundesebene sammelte Bohl dann, in seiner zweiten Wahlperiode als Abgeordneter des Deutschen Bundestages ab 1984, als Parlamentarischer Geschäftsführer, schließlich ab dem 25. April 1989 als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion. Schon zu diesem Zeitpunkt galt er, gemeinsam mit den meistens ebenfalls genannten Rudolf Seiters und Wolfgang Schäuble, als ein Vertreter einer neuen Politikergeneration. Ihre Qualifikationen als Juristen ergänzten alle drei durch umfassen2

„Schlanker Staat“ – Standortbedingungen im internationalen Wettbewerb. Rede auf dem Kongress des Sachverständigenrates „Schlanker Staat“ am 19. 2. 1997 in Düsseldorf, in: Die Personalvertretung (40) 1997, S. 213 – 220. 3 Schlanker Staat (Anm. 2), S. 220.

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de Kenntnisse parlamentarischer Abläufe, die sie in der parlamentarischen Geschäftsführung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag gewannen und innerhalb der Fraktion intensiv nutzten. Die Leitung des Bundeskanzleramts gelang auf dieser Grundlage, die eine Vertrautheit mit den Details der Verwaltung und dem Verständnis der Fraktion verband, „bemerkenswert erfolgreich“4. So wie Schäuble und Seiters verfügte Friedrich Bohl über „die Verbindungen, die Netzwerke und die Strukturen, um die verschiedenen Machtzentren im Regierungslager zu versäulen, um die Interessen von Fraktionen, Partei, Kabinett und Kanzler stärker zu synchronisieren, die Spannungen jedenfalls nach innen zu entschärfen, nach außen zu verwischen5.“ Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter beschreibt die drei Kanzleramtsminister gleichsam als Vertreter der „Gegen-68er“, denen dieses Krisenjahr der Bundesrepublik ganz eigene Motive für ein Engagement in der Politik vermittelt hatte. Sie traten wie ihre Altersgenossen auf der politischen Linken an, um bewusst und auf die eigene Art Politik und ihr Land, ihre Heimat zu gestalten. Walter sieht sie als Repräsentanten der „alten bürgerlichen und religiösen Werte innerhalb ihrer Jahrgangsgruppe“.6 Dem Urteil Walters, der in diesem heute nicht als solchem wahrgenommenen Gegenbild der 68er-Generation vor allem Kühle7 erkennen will, muss man nicht in allem zustimmen. Nach allem, was wir bereits über Friedrich Bohl festgehalten haben, ist „Kühle“ wohl auch kaum eine zutreffende Beschreibung seiner Motivation und seines Stils. Und doch unterstreicht er zu Recht die sich in diesen Drei manifestierende selbstbewusste Professionalität, die sie, das möchte ich doch anmerken, deutlich vom Stil ihrer Antipoden in der sogenannten Sponti-Szene unterschied. So oder so kann man das Fazit des Forschers teilen: Dass „die Ära Kohl sich so ungewöhnlich lange hinzog“,8 ist ein Erfolg und ein Nachweis dieser Professionalität und der nüchternen Effizienz, zu der Friedrich Bohl wie seine Vorgänger fähig war. Die Zeitgenossen zeigten sich durchaus verblüfft von einem in dieser Eindeutigkeit durchgehaltenen Management der Politik, also einer professionellen politischen Arbeit. Seiters, Schäuble und Friedrich Bohl sollten als Kanzleramtschefs einen erheblichen Anteil zum Erfolg der christlich-liberalen Koalition seit 1982/84 beitragen. Sie vollzogen dies durch die zielgerichtete und geräuschlose Abstimmung, Vorbereitung und Umsetzung politischer Entscheidungsprozesse. Im FAZ-Magazin, dessen legendären Fragebogen Bohl 1992 beantwortete, bezog man das Entstehen eines offenkundig neuen Stils der Politik auf das Vordringen von Verwaltungsjuristen in politische Führungsfunktionen. Man unterstellte den Anspruch, „die Politik in der 4 Franz Walter/Kay Müller, Die Chefs des Kanzleramts. Stille Elite in der Schaltzentrale des parlamentarischen Systems, in: Zeitung für Parlamentsfragen 3/2002. S. 474 – 501, S. 493 f. 5 Walter/Müller (Anm. 4), S. 493. 6 Franz Walter, Charismatiker und Effizienzen. Portraits aus 60 Jahren Bundesrepublik, 2009, S. 177. 7 Walter (Anm. 6), Charismatiker, S. 180. 8 Walter (Anm. 6), Charismatiker, S. 180.

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Öffentlichkeit so [darzubieten], wie es im Zeitalter der Omnipräsenz der elektronischen Massenmedien offenkundig notwendig ist, um Erfolg zu haben, nämlich als fertiger Beschluss“.9 Diese durchaus hellsichtige und zutreffende Beschreibung eines Desiderats konnte dabei den sich uns im 21. Jahrhundert darbietenden Prozess einer Zerfaserung der öffentlichen Diskussion, die sich immer weniger an Tatsachen orientiert und sich statt dessen an Meinungen oder gar Gerüchte hält, nicht erahnen. Das Diktum über die Bedeutung der Friedrich Bohl zugeschriebenen Qualität eines geordneten Managements politischer Entscheidungsprozesse gilt aber umso mehr in Zeiten eines wachsenden irrationalen Elements in der Öffentlichkeit. Das Biografische Lexikon der deutschen Bundesregierungen beschreibt die sich etablierende Praxis eines effektiven Managements dieser Entscheidungsprozesse und die Rolle des Kanzleramtsministers dabei wie folgt: „Neben dem Mitwirken in Parteigremien und Auftritten in der CDU/CSU-Fraktion dienten insbesondere zwei regelmäßige informelle Runden der Parlamentarischen Staatssekretäre aller Bundesministerien (als Frühstück am Donnerstagmorgen) und der beamteten Staatssekretäre (am Montag) unter seinem Vorsitz dazu, Konflikte und Rivalitäten zwischen den Fachressorts auszugleichen, Vorlagen ,kabinettsreif‘ zu machen und damit die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers im Regierungsalltag wirksam werden zu lassen.“10 Friedrich Bohl war als Kanzleramtsminister in die informellen Gremien eingebunden, die in der christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl eine zunehmend wichtige Rolle in der Abstimmung politischer Entscheidungen einnahmen – etwa der Koalitionsrunden oder den „Elefantentreffen“ der Parteivorsitzenden.11 Sein „juristisches Fachwissen und [seine auf] parlamentarische Erfahrung aufbauende Art, politische Probleme zu lösen“,12 führten zu zahlreichen wirkungsmächtigen Moderationserfolgen in schwierigen politischen Fragen, wie etwa der sog. Kohle-Kompromiss im Frühjahr 1997, die Entscheidung für Berlin als Regierungssitz oder die Neugestaltung des Asylrechts. Zu betonen ist, dass diese Moderationserfolge eine intensive Zusammenarbeit mit den Ländern, aber auch und vor allem mit der Opposition erforderten, die Bohl weitestgehend geräuschlos und erfolgreich leistete. Erst die bewusst destruktive und aus parteitaktischen Gründen organisierte Blockade des Regierungshandelns durch den Bundesrat, die Oskar Lafontaine im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 organisierte, begrenzte den Erfolg der nüchternen und an der Sache orientierten Arbeit Friedrich Bohls. Dass dies seinen Verdienst um unser Land und die Regierung Helmut Kohl nicht schmälert, findet sich im Urteil Hermann Groß‘ aus dem Jahr 2001: „Insgesamt war Friedrich Bohl wohl der erfolgreichste Kanzleramtsminister in der Geschichte 9

FAZ-Magazin vom 10. 1. 1992. Kempf/Merz (Anm. 1), S. 156. 11 Kempf/Merz (Anm. 1), S. 156. 12 Kempf/Merz (Anm. 1), S. 157.

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Deutschlands, da er mit seiner Selbstbeschränkung und seinem Verzicht auf eine eigenständige, kreative Politik eine Effektivierung der Regierungsarbeit erreichen konnte.“13 Anzumerken ist, dass die durch Oskar Lafontaine betriebene Unterwerfung des Bundesrates unter die SPD-Strategie zur Verhinderung der großen Steuerreform unser Land weit über den kurzfristigen Erfolg der Blockade hinaus gehemmt hat. Bis heute gelang es im Angesicht des hartnäckigen Widerstandes der SPD nicht, das deutsche Steuerrecht zu reformieren. Das polemische Wort des „Professors aus Heidelberg“ steht für einen weiteren, leider erfolgreichen Versuch eines sachfremden Angriffs auf jeglichen durchgreifenden Reformansatz im Steuerrecht. In dem erwähnten Fragebogen antwortet Friedrich Bohl auf die Frage nach seinem Helden in der Literatur mit „z. B. Robert Jordan“. Dieses literarische alter ego Ernest Hemingways ist der zentrale Charakter einer Erzählung, die sich vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs abspielt. Die Themen des gleich nach seinem Erscheinen 1940 bis heute ungemein populären Buches „Wem die Stunde schlägt“ sind kühler Heldenmut gegen eine Übermacht, Prinzipienfestigkeit und der Kampf für die Freiheit und die gute Sache. Jordan kämpft als Amerikaner freiwillig für die Republik und gegen den Faschismus. Ein Aspekt der Tragik, die sich in der Erzählung zuspitzt, ist, dass der Kampf gegen den übermächtigen Feind der Freiheit auch um die Freiheit auf der Seite der Republik stattfindet. Der Protagonist, dessen Handeln Bohl als vorbildlich, als heldenhaft beschreibt, muss sich gegen den Zynismus und die Kälte, gegen den Kampf der verschiedenen sozialistischen Gruppen untereinander verwahren und behaupten. Freiheit, so stellt sich schnell heraus, ist ein sehr relativer Begriff. Es braucht ein eigenes Fundament, einen Wertekompass, um in der komplexen Welt nicht in die Irre zu gehen. Für uns Nachgeborene, die den Spanischen Bürgerkrieg und die 1930er Jahre nicht selbst erlebt haben, erscheint der in der Erzählung Hemingways zutage tretende eiskalte Zynismus der Kommunistischen Bewegung, die im Angesicht des Existenzkampfes der Spanischen Republik „Säuberungen“ zur Bewahrung der reinen Lehre durchführte, die Verhaftungen und Todesurteile hinter der Front nach sich zogen, oft wie eine kranke schizophrene Phantasie. Allerdings war sie allzu echt, real, handfest – von den Moskauer Schauprozessen, die Arthur Koestler so eindringlich beschrieben hat, bis hin in die unglaubliche Allianz der totalitären Regime Nazideutschlands und der Sowjetunion, die sich im sog. Hitler-Stalin-Pakt 1939 vollzog. Selbst Michael Gorbatschow fiel es mehr als 50 Jahre später schwer, die ungeheuerliche Tatsache dieses Paktes einzuräumen. Ohne Frage kann man die Haltung, die politisch Verantwortliche der Nachkriegszeit im Westen einnahmen und vertraten, nicht einordnen ohne dieses Verständnis – dass nämlich der real existierende Sozialismus keineswegs ein menschliches Antlitz hatte, dass er Begriffe und Vorstellungen wie Volksherrschaft oder Freiheit und Frie13

Kempf/Merz (Anm. 1), S. 158.

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den korrumpierte. Die vermeintlich wissenschaftliche Weltanschauung wollte den ganzen Menschen, die ganze Welt, und sie war sehr eifersüchtig. Das ist die Welt des Kalten Krieges, dies sind die Faktoren, die das Handeln und die Zeit Friedrich Bohls geprägt haben. Hier schließt sich der Kreis. Der Titel, unter dem der Einsatz und das Ende des Robert Jordan beschrieben wird, zitiert ein Gedicht des englischen Dramatikers und Lyrikers John Donne (1572 – 1631). „Wem die Stunde schlägt“/„For whom the bell tolls“ entstammt der Meditation XVII: „No Man is an Island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main; […] and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.“ Kein Mensch, so möchte ich diesen klassischen Satz übersetzen, steht allein – niemand kann sich der Geschichte, der Gemeinschaft entziehen. Wir tragen Verantwortung füreinander und sind durch unsere Menschlichkeit verbunden. Ein Leben für sich, außerhalb dieses Zusammenhangs, ist eine Illusion. Donne, und mit ihm Hemmingway, erinnern uns, dass es kein privates Glück geben kann in einer Welt des Unrechts. So wie in den Zeiten des Kalten Krieges, der Konfrontation der Systeme, ist es in der heute viel beschworenen und auch schon von Bohl als heraufziehend erkannten Globalisierung eben keine Option, keine Wahlmöglichkeit, sich in das Private, Vorpolitische, das komfortable Nichtwählen zurückzuziehen. Freiheit hat ihren Preis, denn Freiheit hat einen Wert. Ich habe mich 2012 in einem kleinen Band, der in der Reihe „Schätze der Bibel“ des Verlags SCM R. Brockhaus erschienen ist, mit diesem Wert der Freiheit aus christlicher Perspektive auseinandergesetzt. Die Freiheit in und zur Verantwortung gehört schließlich, wie es der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem berühmten Diktum gefasst hat, zu den wesentlichen Voraussetzungen des freiheitlichen, säkularen Staates – „die er selbst nicht garantieren kann“. Mehr noch, Böckenförde betont: „Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“14 Dem Begriff und der Idee der Freiheit wohnt also eine politisch-gesellschaftliche Dimension inne, nicht nur eine individuelle. Entscheidend ist, dass sich beide Dimensionen ergänzen. Der Freiheitsdrang des Einzelnen, aus dem Erleben und Leben der Freiheit durch den Einzelnen kann nur dann eine gesellschaftlich prägende Kraft der Freiheit werden, wenn sie sich in Bezug zum anderen, zum Gegenüber setzt. Nur so, in der Beziehung zu Anderen, oder, wie Jesus Christus sagt, zum Nächsten, lassen 14

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60.

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sich herrschende Verhältnisse umgestalten, wird eine Gesellschaft lebenswert, zu einem Gemeinwesen. Es ist eine Kernüberzeugung von Christdemokraten, die sie in ihrem christlichen Menschenbild prägt: Zur Freiheit befreit zu sein bedeutet auch immer, die Freiheit in Verantwortung für andere zu leben und Verantwortung in Familie, Gesellschaft und Beruf zu übernehmen. No man is an island! Oder um mit Roman Herzog zu sprechen: „Freiheit ohne Ziele ist Orientierungslosigkeit und Individualismus ohne Solidarität kann kein Gemeinwesen begründen.“15 Diese Freiheit in Verantwortung hat der Apostel Paulus seinerzeit in seinem Brief an die Galater auf den Punkt genau beschrieben. Ich verwende die durch Martin Luther angefertigte Übersetzung: „Ihr aber, liebe Brüder, seid zu Freiheit berufen! Allein seht zu, dass ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gebt; sondern durch die Liebe diene einer dem Anderen. Denn das ganze Gesetz wird mit einem Wort erfüllt, in dem: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“16 Der Mensch ist zur Freiheit befreit und zur Nächstenliebe berufen, dies ist für mich die Kernaussage unseres christlichen Menschenbildes. Es ist eine beruhigende, erlösende Botschaft. Denn diese Freiheit bedeutet anders als der Begriff heute oft missverstanden wird, nichts Beliebiges, keinen Freibrief. Papst Johannes Paul II. hat es am 23. Juni 1996 am Brandenburger Tor so formuliert: „Wer aus der Freiheit einen Freibrief macht, hat der Freiheit bereits den Todesstoß versetzt. Der freie Mensch ist vielmehr der Wahrheit verpflichtet. Sonst hat seine Freiheit keinen festeren Bestand als ein schöner Traum, der beim Erwachen zerbricht. Der Mensch verdankt sich nicht sich selbst, sondern ist ein Geschöpf Gottes, er ist nicht selbst Herr über sein Leben und das der anderen; er ist – will er in Wahrheit Mensch sein – ein Hörender und ein Horchender.“17 Der 2014 heiliggesprochene Papst ist für mich eine Autorität in Sachen Freiheit. Sein stiller und doch konsequenter Beitrag zur Überwindung des Kalten Kriegs und der Teilung der Welt lässt sich nur mit dem weniger anderer Menschen vergleichen. Es hat keines militärischen Drohpotenzials oder der großen Diplomatie bedurft, die Macht des Geistes und des Glaubens hat den Berg der Spaltung der Welt versetzt. Johannes Paul II. hat sich und seine Leistung nicht gefeiert, sondern kannte als Grundlage dieser Freiheit in Demut Christus selbst, der uns für die Freiheit frei gemacht hat. Welche Freiheit aber ist es, worauf beruht sie? Der Apostel Paulus, der Autor des zitierten Briefes, hatte die Gemeinde in der römischen Provinz Galatien in Kleinasien auf einer seiner zahlreichen Reisen selbst gegründet. Bei den Christen hier handelte es sich um Heidenchristen, das heißt, sie waren vor ihrer Bekehrung keine Juden gewesen und beispielsweise nicht be15 Roman Herzog, Freiheit ist anstrengend: Fördern und Fordern. Grundsatzrede des Bundespräsidenten zur Bildungsreform am 5. November 1997 im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin, in: FAZ Nr. 258 vom 6. 11. 1997, S. 9. 16 Galater 5, 13 – 14, Lutherbibel. 17 Papst Johannes Paul II., Ansprache bei der Abschiedszeremonie am Brandenburger Tor in Berlin am 23. Juni 1996, in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 55 vom 27. 6. 1996, S. 588.

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schnitten. Der frühen Kirche war diese Frage, ob auch Nichtjuden Christen werden könnten, ein zentraler Streitpunkt. Konnten Menschen, die mit der jüdischen Überlieferung nicht vertraut waren, die die besondere Geschichte und Beziehung von Gott zu seinem Volk und die sich daraus ergebenden Pflichten nicht kannten, von Jesus, dem Messias, erlöst werden? Aus dieser Perspektive kommt dem Bekenntnis zur Freiheit eine eigene Bedeutung zu. Der jüdischen religiösen Praxis, die als Voraussetzung eines gottgefälligen Lebens die strikte Beachtung des Buchstaben des Gesetzes begreift, stellt Paulus sein Verständnis des Kerns des Christentums entgegen, das von Freiheit gekennzeichnet ist. Schließlich hat Christus die Regelstrenge im Liebesgebot aufgelöst. Er traut den Menschen zu, von ihrer Freiheit den rechten Gebrauch zu machen. Sein zentraler Aufruf zur Nachfolge ist das „Fürchtet Euch nicht.“ Er spricht den Menschen Mut zu, sich in ihm zu verlieren, sich selbst zu erkennen und den eigenen Verstand zu gebrauchen. Jesus ruft die Menschen dazu auf, sich selbst zu erkennen, sich zu suchen und so zu begreifen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Darin liegt die Befreiung, liegt die Freiheit. Er selbst hat als menschgewordener Gott in Freiheit die Sünden der Welt auf sich genommen und sich selbst zum Opfer gemacht. So konnte er den schlimmsten Feind des Menschen besiegen, den Tod. Die entscheidende Erkenntnis ist also, dass wir frei von Angst sein können. Frei von Zwang, Gesetze und Vorschriften geradezu zwanghaft einzuhalten, um vor dem Urteil Gottes oder der Menschen Bestand haben zu können. Martin Luther hat diese bahnbrechende und erschreckende Perspektive so formuliert, dass wir durch die Gnade Gottes befreit sind, nicht durch eigene Kraft: „Die guten Werke helfen nichts, es hilft allein der Glaube.“ Der vom Tode befreite Mensch wird also handeln, weil er seiner Verantwortung gerecht werden will – denn wer vor Gott frei ist, ist es erst recht vor den Menschen. Einen dermaßen befreiten Menschen kann keine Staatsmacht knechten, ein freier Christ ist der Albtraum jeder Phantasie der totalen Kontrolle. So wie früher in Nazideutschland oder in der Sowjetunion fürchten heute die Diktatoren in Nordkorea und anderswo seit jeher das Christentum, weil es ihre absolute Autorität und ihren Machtanspruch über das Menschsein aus sich selbst heraus nicht nur in Frage stellt, sondern bricht. Dies hat auf perfide, jedoch treffende Weise der Präsident des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, zusammengefasst, als er den Anspruch auf den ganzen Menschen für den Nationalsozialismus erhob, dem das Christentum im Wege stehe. Da es den Menschen ebenfalls für sich beanspruche, müsse es verschwinden. Dem NaziIdeologen Alfred Rosenberg waren Bibel und Heilslehre des Christentums „artfremde“ Elemente, die wie die Kreuze in den Klassenzimmern aus Deutschland zu verschwinden hatten – da sie den all-umfassenden Zugriff des Nationalsozialismus auf den Menschen in Frage stellten. Für den totalen Staat egal welcher Prägung darf es keine Instanzen jenseits seiner selbst geben. Die Barbarei des 20. Jahrhunderts ist so entstanden, in der Maßlosigkeit des Anspruches und Zugriffs auf den Einzelnen, in der bewussten Zurückweisung des Christentums.

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Die Freiheit eines Christenmenschen hat also einen Wert an sich, sie ist ein Regulativ gegen die Vergötzung des Weltlichen. Und doch ist sie eine auf die Welt bezogene Tugend. Martin Luther hat dies in einem zunächst verblüffenden Diktum zusammengefasst: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr und niemandem Untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“18 Die beiden Sätze widersprechen sich nur scheinbar. Sie unterstreichen in der Nachfolge des Apostels Paulus die „sozialen Dimensionen der Freiheit“19 (S. Vollenweider), die dieser in seinen Briefen herausgearbeitet und sich dabei an Christus, der am Kreuz für den Bruder gestorben ist, orientiert hatte (Römer 14, 15; 1. Korinther 8, 11). Nach Luther ist nur derjenige frei, der auch dienstbar sein kann, der also Verantwortung übernimmt. Freiheit und Verantwortung sind eng verknüpft und ohne einander nicht denkbar. So auch bei Martin Luther in der „Freiheit eines Christenmenschen“: „Aus allem folget der Beschluss, dass ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christo und seinem Nächsten, in Christo durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. […] Siehe, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft, wie der Himmel die Erde.“20 Durch die Hinwendung zum Nächsten erst also erfüllt sich das Wesen der Freiheit, sie wird so ihrem wahren Zweck zugeführt. Dies ist der Wert der Freiheit – frei sein zu können für die Entscheidung für den Nächsten, und für Gott. Sie ist aber auch kein frei verfügbares Gemeingut, sie muss bewahrt und behauptet werden, damit sie nicht im Namen sogenannter, angeblich übergeordneter Interessen, für eine scheinbar große Idee geopfert wird. Der Mensch ist frei, ein Subjekt, das aus sich selbst heraus in Hinwendung auf Gott frei entscheidet – und kein Objekt für den „großen Wurf“, das gesellschaftliche Experiment, für die Umformung in den „neuen Menschen“ jedweder Farbe oder Bestimmung. Hieraus ergibt sich: Freiheit ist keine absolute Größe, kein Wert an sich. Freiheit ist immer bedingt, sie bemisst sich in der Bezogenheit der Menschen aufeinander. Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit meines Mitmenschen beginnt. So ist auch der Kirchenvater Augustinus zu verstehen, der sein berühmtes „Liebe und tue was Du willst“ in diese Bezogenheit, die zugewandte Liebe des Nächsten formuliert. Die Umstände und Bedingungen, die hinter seinem Satz stehen, lassen sich nur unvollständig so knapp aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen. Es braucht in einer unvollkommenen Welt mehr als nur die Liebe zur Bändigung und sinnvollen Begrenzung der eigenen Freiheit. Mehr noch: Die Bezogenheit auf den Nächsten endet nicht an der realen Person, so wenig wie der Mensch nur ein Körper ist. Er steht in Traditionen und in einem Bezug zu seiner Vergangenheit, der eigenen und

18 Urtext von 1520 frei verfügbar etwa unter: http://web.archive.org/web/20080122123348/ http://www.ubf-net.de/doc/freiheit.htm. 19 Detailliert etwa bei Samuel Vollenweider, Was ist wahre Freiheit? (Sapere 22), 2012. 20 S. o.

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einer kollektiven. Auch seine Würde ergibt sich aus dieser Vielschichtigkeit. Dazu später mehr. Die großen Revolutionen haben daher stets dann versagt, wenn sie über den Sieg über eine unerträglich gewordene Herrschaft hinaus vergessen machen wollten, dass Gesellschaften nicht zufällig und willkürlich entstehen. Wie der sich zur Zeit der Französischen Revolution sich formierende Konservativismus zu Recht sehr spitz formulierte, trägt das von Jean-Jacques Rousseau geprägte Bild eines Gesellschaftsvertrages kaum weiter als eine Theorie. Mit ihr lässt sich zwar das Wesen, der Zweck einer Gesellschaft zuspitzend beschreiben. Und doch können Menschen nicht außerhalb ihres Geflechts von eigener Gebundenheit in Geschichte und Gesellschaft gedacht werden. Die so oft mit vollem Ernst betriebene Idee, einen „neuen Menschen“ zu erschaffen, kennt daher vor allem das Scheitern. Sie baut auf einem großen Missverständnis des Menschen und der Menschenwürde auf, wenn sie es unternimmt, das Recht oder gar einen Zweck der menschlichen Existenz auf ein irdisches Ziel hin zu bestimmen. So sehr solche Ziele auch verheißen, ein großes Ganzes, die ganze Menschheit beglücken zu können, scheitert ihre Umsetzung immer daran, dass es eben gerade nicht der Mensch selbst, der Einzelne ist, der befreit wird, dessen Freiheit gleichsam gestaltet werden kann. Im Gegenteil – der Einzelne, das konkrete Menschsein, ist immer der oder das Erste, dessen Veränderung sich nicht erreichen lässt. So sehr erzogen, befohlen, verbogen oder getötet existiert der neue Mensch immer nur in der Abstraktion – wie der Gesellschaftsvertrag auch. Versuche, den Menschen von Grund auf neu zu bestimmen, haben der Menschheit seit der Französischen Revolution einen schrecklichen Blutzoll auferlegt. In der bewussten Ablehnung eines christlichen Freiheitsbegriffes wurde der Staat oder eine Idee selbst zum Endpunkt der Moral. Die Loyalität zur Partei, zur Ideologie stand höher als die Bindungen in der Familie – Kinder wurden gegen ihre Eltern ausgespielt. Menschen wurden umgesiedelt, aus ihrer Heimat herausgerissen, Kirchen geschlossen, Gottesdienste verboten, das kulturelle Gedächtnis bis hin zu Sprache und Bräuchen „gereinigt.“ Unser Grundgesetz ist aus der noch sehr lebendigen Erinnerung an den nationalsozialistischen Ungeist entstanden und sichert die Würde des Menschen in der Wahrung der Grundrechte, der Ehe und der Familie. Für mich selbst ist die Garantie einer ungestörten Religionsausübung, die Religionsfreiheit, eines der wichtigsten Freiheitsrechte. Es schützt einen wichtigen Teil des Menschen, nahe am Persönlichkeitskern und kann als ein verlässlicher Indikator anzeigen, wie ein Staat es mit den allgemeinen Menschenrechten hält. Dort, wo Religion in den privaten Bereich abgedrängt wird, wo Andersgläubige bedrängt und verfolgt werden, ist es mit der allgemeinen Freiheit nicht weit her. Staaten, die es sich herausnehmen, in das religiöse Leben ihrer Bürger über die allgemeinen Normen hinaus einzugreifen, die Minderheiten nicht schützen oder gar drangsalieren und vertreiben, stehen an der Spitze der Unrechtsstaaten.

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Freiheit verbindet sich mit einer Selbstbeschränkung der Macht und ist für einen Christdemokraten mit dem Prinzip der Subsidiarität eng verbunden. Ausgehend von der Familie soll und darf die jeweils höher stehende gesellschaftliche oder staatliche Ebene nur das regeln, was auf der jeweils unteren nicht sinnvoll gelöst werden kann. Wir stehen in Bezugnahme auf den christlichen Freiheitsbegriff und das christliche Menschenbild für eine Rücksichtnahme und den Respekt vor der Familie, vor Heimat und Kultur – und vor religiösen Überzeugungen. Dieser Bezug lässt uns vor einem allzu großen Vertrauen in den Staat zurückschrecken und diesseitsbezogene Utopien zurückweisen. Der Mensch kann nicht „gemacht“ werden, er ist kein leeres Blatt Papier, das beliebig beplant werden kann. Individuelle Freiheit bedeutet Demut und Eingrenzung, sie darf im privaten und öffentlichen nicht zügellos sein, gerade weil der andere Mensch eine Würde besitzt, die unantastbar ist. Diese Würde ergibt sich aus der Tatsache, dass wir mehr sind als nur bloßer Körper. Unsere geistige Existenz, unsere Seele, hebt uns über die rein materielle Welt hinaus. Menschen können moralisch handeln, nach Prinzipen, die jenseits der Triebe stehen – sie können auf der Grundlage von Werten entscheiden und gut und böse voneinander trennen. Diese Entscheidungsbefähigung – und die daraus entstehende Notwendigkeit zur Entscheidung – wird weit an den Anfang der biblischen Überlieferung gesetzt. Die Vertreibung aus dem Paradies, der Eintritt in die Welt, der Sündenfall, verbindet sich mit einer Entscheidung – die im Schöpfungsplan ganz offenbar bewusst zugelassen, ja: vorgesehen ist. Gott hat, wie es Papst Benedikt XVI. in seiner Predigt während der Heiligen Messe auf dem Flugplatz in Freiburg im September 2011 betont hat, „seiner Macht selbst eine Grenze gesetzt, indem er die Freiheit seiner Geschöpfe anerkennt“.21 Die Welt der Vertriebenen aus dem Paradies, die im Alten Testament dargelegt wird, ist geprägt von einer Vielzahl von Geboten, Regeln und Vorschriften. Voller Sorge, den göttlichen Zorn nicht herauszufordern, kommt deren Befolgung große Bedeutung zu. Mit Jesus Christus erreicht die Menschen eine menschgewordene Chance auf die Erneuerung der Freiheit. Christus hat für die äußerlichen Gebote wenig Verständnis gezeigt, weil sie vielfach eben nur äußerlich waren. Er hat sie mit neuem Sinn gefüllt (Matthäus 5, 17). Das wahre christliche Leben erschöpft und erfüllt sich nicht darin, äußere Gebote zu befolgen, sondern im Wollen des Guten (Römer 12, 2). Den Nächsten lieben, wie sich selbst – dieser Aufforderung wohnt auch ein Grundsatz inne, ein moralisches Kriterium, aus dem heraus wir selbst ableiten können, was richtig und falsch ist. Im Christentum kann der Mensch ein eigenes moralisches Organ entwickeln – ein Gewissen, eine eigene und sehr persönliche Instanz. Wir Menschen leben in einer ständigen Spannung, denn Entscheidungen sind selten einfach. Oft müssen wir sie in einer Lage treffen, in der uns nicht alle Faktoren, die ihren Wert bedingen, bekannt sind. Selten sind alle Folgen gleich abzusehen. Ohne Frage ent21 Papst Benedikt XVI.: In Gott ist unsere Zukunft. Ansprachen & Predigten während seines Besuchs in Deutschland, 2011, S. 131.

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scheiden wir uns auch zuweilen falsch, nicht immer sind wir in der Lage, unseren Trieben zu widerstehen, sind Getriebene. Die Freiheit ist eine Bürde und kann zur Last werden. Mich tröstet ein Wort von Dietrich Bonhoeffer, der uns daran erinnert hat, dass wir hier auf Erden immer nur die vorletzten Dinge regeln. Wir können nichts Endgültiges erreichen. Daher ist die Vergebung ein zentrales Motiv im Christentum, Christus selbst hat uns diese Tugend vorgelebt. Das Neue Testament nennt viele Beispiele für seine Bereitschaft, den Menschen in seiner Befangenheit anzunehmen und seine Fehlbarkeit einzuordnen. Im Vaterunser erinnert er uns gleichzeitig, dass das Vergeben auch uns abverlangt ist: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Die Verheißung der Vergebung ist die große Gnade, die dem Menschen geschenkt ist. Ohne sie müsste sein Gewissen ihn erdrücken, ihn lähmen aus Angst, unwillentlich oder aus Unwissenheit falsch zu handeln. Die Bereitschaft zur Vergebung der Sünden, die Liebe Gottes für den Sünder, sind gleichzeitig ein Hoffnungszeichen, dass wir Menschen Verständnis finden. Wir können die Freiheit wagen, weil wir die moralische Urteilsfähigkeit haben, die uns anzeigt, wie wir mit der Freiheit richtig umgehen müssen – und dürfen doch darauf vertrauen, dass uns die Vergebung Christi auffängt. Christus hat uns zur Freiheit befreit. Damit ist ein großes Vertrauen in uns gelegt, aber auch eine Herausforderung, unsere Maßstäbe und Entscheidungen stets neu zu befragen. Es versteht sich von selbst, dass der Staat das Leben des Menschen daher nicht durchgestalten und vollständig reglementieren darf. Der zur Freiheit befreite Mensch muss diese Freiheit auch leben können. Diese Freiheit bezieht sich auf die Regelung der ureigensten Angelegenheiten und lädt ein, die Umgebung in wachsenden Kreisen mitzugestalten. Die Wahlfreiheit, die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, machen den Kern der Menschenwürde aus und dürfen nicht mit der Indoktrination eines gewissen Lebensstiles oder eines gewünschten Verhaltens gebrochen werden. Zwar ist der Staat aufgerufen, mit Regeln und Gesetzen den Umgang der Menschen miteinander zu ordnen und mit Hinblick auf Wertentscheidungen etwa für das Kindeswohl Vorkehrungen zu treffen. Und doch ist die jeweilige Entscheidung des Einzelnen, sofern sie in seiner eigenen Freiheit getroffen wird, zu respektieren. Es ist unstrittig, dass der Staat Rahmenbedingungen schaffen muss, die ein freiheitliches Leben erst ermöglichen. Dazu gehört auch, dass diejenigen, die aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt nicht erwirtschaften können, die Hilfe der Gemeinschaft erhalten müssen. Ohne gesicherte Existenzgrundlage wird in unserer modernen Gesellschaft die Freiheit erheblich eingeschränkt, und es steht einem Gemeinwesen gut an, diese Existenz auch verlässlich zu sichern – als Ausdruck der allgemeinen Solidarität. Zugleich verlangen aber auch die Würde des Menschen und die Gewährleistung eines größtmöglichen Maßes an Freiheit, alles daran zu setzen, um den Einzelnen auch wieder frei von Abhängigkeiten zu machen. Eine Sozialpolitik, die auf dauerhafte ausschließliche Alimentierung hin ausgerichtet ist, wird diesem Freiheitsverständnis nicht gerecht. Es muss daher Ziel sein, durch staatliche Sozialleistungen den

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Einzelnen wieder zu einem eigenständigen, selbstständigen, also befreiten Leben zu führen. Dies gilt insbesondere für junge Menschen. Weit mehr als eine noch so abgesicherte Existenz ist für die Persönlichkeitsbildung eines jungen Menschen die Selbstständigkeit und die Entscheidungsbefähigung, und auch -verpflichtung von Bedeutung. Hier ist noch viel zu erreichen. Friedrich Bohl stand und steht mit seinem politischen Wirken und seinem Leben für dieses Verständnis von Freiheit, für eine Freiheit aus christlichem Verständnis ein. Er hat für die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, für das Prinzip der Subsidiarität, für ein neues Verständnis des Staates, eine Erneuerung unseres Landes und gegen eine überbordende Regelwut gekämpft – mit Geschäftsordnung, Florett und Holzhammer. In Dankbarkeit dafür, dass wir diesen Einsatz und den Kampf für die Freiheit eine Zeit lang gemeinsam führen konnten, erinnere ich mich an Friedrich Bohl. Und wünsche ihm noch zahlreiche Jahre für eine Fortsetzung dieses Weges.

Wege zur Einheit Von Rudolf Seiters I. Von den vielen beruflichen und politischen Stationen im Leben von Friedrich Bohl waren sicherlich die Jahre 1989/90 mit dem Fall der Mauer und der Deutschen Einheit und die folgenden Jahre mit dem gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und ökologischen Aufbau der Neuen Länder die wichtigsten und prägendsten. 1989 wurde Fritz Bohl Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – in der Nachfolge von Philipp Jenninger, Wolfgang Schäuble und mir. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Regierungsfraktion hat eine Schlüsselrolle in Regierung, Koalition und Fraktion. Er hat den Überblick über alle Gesetzgebungsvorhaben, über alle anstehenden politischen Entscheidungen, aber auch über die Arbeit der politischen Gegner. Er kennt die Strömungen in der eigenen Fraktion, er kennt die Schwesterpartei CSU, aber auch die unterschiedlichen Flügel beim Koalitionspartner. Es ist seine Aufgabe, für ein möglichst geräuschloses Zusammenwirken der Koalitionspartner zu sorgen, darauf zu achten, wo Gefahrenpunkte auftauchen können bei der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung, wo möglicherweise bei der konkreten Ausformulierung von Gesetzen eigene Mehrheiten gefährdet sein könnten. Es müssen oftmals Kompromisse geschlossen werden, jeder Partner muss zu seinem Recht kommen. Die politische Wissenschaft nennt Politiker mit diesen Aufgaben „Machtmakler“. 1989/90, in den Jahren des politischen Umbruchs in Deutschland, waren die Aufgaben des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers von besonderer Bedeutung. Die Entwicklungen in der DDR, die Massenflucht von vielen Tausend DDR-Einwohnern nach Ungarn und vor allem in die deutschen Botschaften in Prag, Warschau und Budapest und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, der erkennbare wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR, der Fall der Mauer, die Vorbereitung der freien Wahlen am 18. März 1990, die Einigungsverträge und vieles andere mehr stellten die Bundesregierung, aber auch den Deutschen Bundestag und die Fraktionen vor bisher nicht gekannte Herausforderungen. II. Bei der Kabinettsumbildung im Jahre 1991 wechselte Fritz Bohl ins Kanzleramt mit vergleichbaren Managementaufgaben. Der Chef des Kanzleramtes bereitet die

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Kabinettsitzungen vor, er setzt die Tagesordnung fest, er organisiert die Beschlussfassung und Durchführung der Regierungsarbeit, er ist für die Gesamtkoordinierung der Aufgabenerledigungen zuständig und eine Art Frühwarnsystem für den Bundeskanzler. Je stärker er in der Partei und in der Fraktion verankert ist, desto eher kann er den Regierungschef informieren, ob Themen politisch brisant werden und Entscheidungsbedarf besteht. Der Chef des Bundeskanzleramtes war gleichzeitig Verhandlungs- und Gesprächspartner der DDR, wie im Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vereinbart. Das Kanzleramt hatte weiterhin die Zuständigkeit für die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin. Außerdem war der Bevollmächtigte der Bundesregierung in Berlin im Kanzleramt angesiedelt. Der Politikwissenschaftler Korte beschreibt das Informationsmanagement als Teil der Politikberatung von innen in einem dreistufigen Strategieprozess: - Informations- und Ideengewinnung (Problemdefinition, Risikoeinschätzung, Lageanalyse) - Informations- und Ideenauswertung bzw. -verarbeitung (wie kommuniziere ich wann das Problem?) - Informationsinterpretation (Zuweisung der Information durch die Suche nach Sach- und Machtkonstellationen). Sachfragen sind aber mit Machtfragen immer verbunden. Das bedeutet: täglich müssen Mehrheiten geschmiedet und muss die Wiederwahl gesichert werden. Korte weiter: „Entscheidend bleibt zu klären, wo die Informationen wann zusammenlaufen. Idealtypisch laufen sie beim Spitzenakteur zusammen, faktisch erfolgt dies in der Regel und zum überwiegenden Teil vermittelt über Personen mit Maklermacht im unmittelbaren Umfeld des Spitzenakteurs, maßgeblich über den Chef des Kanzleramtes. Personen mit Maklermacht besitzen somit eine vom Spitzenakteur abgeleitete Autorität. Bei einem personenkonzentrierten Regierungsstil werden vor allem die Nähe und der direkte Zugang zum Spitzenakteur ihre wichtigste Machtressource. III. Die Regierungsarbeit von Bundeskanzler Helmut Kohl, seine Machtinstrumente, sein Informations- und Entscheidungsmanagement, ist oftmals mit dem Begriff „System Kohl“ gekennzeichnet worden – vielfach auch abfällig, weil Kohl sich mit Vertrauten umgab, weil für ihn Loyalität eine große Rolle spielte, weil er sich über hierarchische Strukturen hinaus einen besonderen Zugang verschaffte zu einer Vielfalt von Informationen über Strömungen in der eigenen Partei, in der Koalition, in der Regierung, über Gefahrenpotenziale und anderes. Dieses habe ich ganz überwiegend als äußerst effektiv erlebt. Dies galt besonders für die Jahre des Umbruchs in Europa, wo vom Sommer 1989 an eine Fülle von fast täglichen Entscheidungen getroffen werden musste, um den Prozess der deutschen Wiedervereinigung mit Augenmaß zu steuern, Irritationen zu vermeiden und Vertrauen im nationalen

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wie internationalen Bereich aufzubauen. Und alle, die am System Kohl beteiligt waren, hatten einen Kompass und hatten ein Koordinatensystem, an dem sich aktuelle und tägliche Entscheidungen ausrichteten. Helmut Kohl hat in seinen Erinnerungen über seine Zeit in Mainz einmal geschrieben: „Gleichgesinnte um sich zu versammeln, Freunde in Ämter wählen, Vertraute fördern: Das ist von vielen Publizisten immer wieder als kritikwürdig angeprangert worden. Für mich war es stets eine notwendige Selbstverständlichkeit. Politische Macht ausüben kann nur, wer für seine Ideen Verbündete findet und mit ihrem Zuspruch zu Mehrheiten gelangt. Das ist absolut legitim und im demokratischen System so angelegt. Was böswillig als System Kohl diffamiert wird, ist nicht nur immer wieder von Wahlen abhängig gewesen und durch Wahlen legitimiert worden, sondern war immer außerordentlich erfolgreich. Zu diesem einzigartigen Erfolgsmodell bekenne ich mich gerne.“ IV. Ich denke, dass Fritz Bohl – zurückblickend auf seine Amtszeit und speziell auf die historischen Jahre 1989 und folgende – zu einer ähnlichen Beurteilung und Würdigung kommt, wie ich selber auch. So will ich darauf hinweisen, dass Bundeskanzler Helmut Kohl kaum in seinem Amt war als Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland, als er gegen viele Widerstände in Politik und Öffentlichkeit den NATO-Doppelbeschluss durchsetzte, dessen Bedeutung für die Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt nicht zu überschätzen ist. Dass die westliche Allianz damals die Kraft gefunden hat, diese Gegenmaßnahmen gegen den sowjetischen Rüstungsschub der SS20 durchzusetzen, hat, wie wir von Gorbatschow selbst und anderen wissen, wesentlich zur Neuorientierung der sowjetischen Westpolitik beigetragen. Zugleich hat die Verwirklichung dieses Beschlusses die Vertrauensbasis im Westen wieder gefestigt, die durch Teile der deutschen politischen Öffentlichkeit ins Wanken geraten war. Sieben Jahre später war sie eine der Grundlagen der Wiedervereinigungspolitik. Das heißt: Natürlich hätte es wohl keine Wiedervereinigung gegeben ohne die Solidarnosc-Bewegung in Polen, ohne die Liberalisierung Ungarns, ohne Gorbatschow und seine Politik von Perestroika und Glasnost, ohne die feste Haltung der Vereinigten Staaten, ohne die Massenfluchten und Massendemonstrationen in der DDR. Die damalige Entwicklung hätte aber auch einen anderen Verlauf genommen, wenn nicht die Bundesregierung den „Mantel der Geschichte“ im richtigen Zeitpunkt ergriffen und die damals gegebene historische Chance konsequent genutzt hätte. Es gab damals auch ganz andere Stimmen und Vorstellungen in Deutschland. Viele hatten die Wiedervereinigung längst aufgegeben und sich mit zwei deutschen Staaten abgefunden. Viele drängten damals in Deutschland darauf, auf die Reformkräfte der SED zu setzen, um wenigstens das aus ihrer Sicht maximal Erreichbare, eine Demokratisierung der DDR, nicht zu gefährden.

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Die Bundesregierung hatte dagegen kein Problem mit dem Übergang zu einer operativen Politik der Wiedervereinigung. Er lag auf der Linie und in der Konsequenz ihrer deutschlandpolitischen Konzeption und diese Konzeption entsprach dem Willen der Menschen in der DDR. So geriet die SED in den Zangengriff zwischen den Forderungen der Demonstranten und den gleichlautenden Forderungen der Bundesregierung. V. Ging damals alles zu schnell? Hätten wir warten sollen, können? Hätten wir statt einer Politik der schnellen Wiedervereinigung auf der Grundlage des Artikels 23 Grundgesetz (Beitritt der DDR) – auf einen anderen Weg setzen sollen, auf den langwierigen Weg über den Artikel 146 Grundgesetz (Ausarbeitung einer ganz neuen gesamtdeutschen Verfassung), was uns viele Monate, vielleicht sogar Jahre gekostet hätte, auf dem Weg zur Einheit? Die Wahrheit ist: Das Zeitfenster der Wiedervereinigung war sehr eng. Wer sagt, dass sei alles viel zu schnell gegangen, vergisst, dass die Menschen der DDR die Einheit schnell wollten, vergisst, dass der Übersiedlerstrom, der die DDR auszubluten drohte, mit der Ausreisefreiheit für die Botschafterflüchtlinge nicht aufhörte, auch nicht mit dem Fall der Mauer und nicht mit der Öffnung des Brandenburger Tores, sondern erst als mit dem Angebot der DM und der Wirtschafts- und Währungsunion die Menschen die konkrete und schnelle Perspektive der deutschen Einheit erkannten. Vor allem aber: Er vergisst das spätere Auseinanderbrechen der Sowjetunion, den Rücktritt von Außenminister Schewardnadse im November 1990 (eines unserer damals verlässlichsten Freunde), den Putsch gegen Gorbatschow 1991 und den Golf-Krieg im gleichen Jahr mit seinen neuen erheblichen Spannungen zwischen Moskau und Washington. Guido Knopp hat es in seinem Buch „Kanzler – die Mächtigen der Republik“ wie folgt formuliert: „Der viel zitierte Mantel der Geschichte wehte nur ein Weilchen. Und so konnte der bewusste Königsweg zur Einheit wohl nur so aussehen, mit angelegten Ohren erst einmal alles unter Dach und Fach zu bringen – wie der Bauer, der bei Blitz und Donner seine Pferde mit der Peitsche antreibt, um die Fuhre fünf vor zwölf noch in die Scheuer zu retten. Wie man dann die Ernte lagert, welche Mühlen weiter mahlen, mahlen dürfen – das ist eine andere Geschichte.“ Es gab zur Politik der schnellen Wiedervereinigung keine vernünftige Alternative. VI. Viele Fragen, für die es kein Vorbild gab in der modernen Geschichte, mussten gleichzeitig gelöst werden – beim Staatsvertrag, beim Einigungsvertrag, bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen.

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Es ging ja beim Staatsvertrag nicht nur um den Umtauschkurs von Ost-Mark in D-Mark, es ging um Forderungen der DDR mit Einschränkungen für den freien Handel mit Grund und Boden. Es ging um die Frage, ob enteignete Immobilien zurückgegeben oder Entschädigungen zu zahlen seien. Es ging um die haushaltspolitischen Spielräume der DDR und den daraus abzuleitenden Finanzbeitrag der Bundesrepublik für den Aufbau im östlichen Teil Deutschlands. Es musste der Fonds Deutsche Einheit eingerichtet werden. Alles dies vor dem Hintergrund massiver gewerkschaftlicher Forderungen in der DDR, begleitet von Warnstreiks und Protestversammlungen um höhere Einkommen und den Schutz des Binnenmarktes zu erreichen. Es ging um die Frage, wie der nach westdeutschem Recht strafbare, in der DDR legal praktizierte Schwangerschaftsabbruch und der Umgang mit den Stasi-Akten im vereinten Deutschland gehandhabt werden sollte. Moskau wollte Ersatz für Stationierungskosten, Erstattung der Transportkosten für die Rückführung der russischen Soldaten, Milliarden für den Bau von Wohnungen und der notwendigen Infrastruktur und auch einen erheblichen Preis für sowjetische Liegenschaften in der DDR. Vor diesem Hintergrund können wir von Glück sprechen, dass sich die Entscheidungen, die Deutschland damals im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses getroffen hat, von den Grundlinien her als richtig erwiesen haben, auch wenn wir später feststellen mussten, dass die vom SED-Staat hinterlassene ökonomische und ökologische Erblast viel schwerer und katastrophaler war als zunächst angenommen, und dass Probleme, wie der rapide und plötzliche Wegfall der alten Ostmärkte – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Bildung der GUS-Staaten – hinzu kamen. Ich will im Rückblick auf 1989 auch erinnern an das Zehn-Punkte-Programm von Bundeskanzler Helmut Kohl vom 28. November 1989, in dem er die Deutsche Einheit in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der europäischen Einigung gebracht hat – auch, um die Ängste der europäischen Nachbarn vor einem wiedervereinigten Deutschland zu nehmen, das unter Umständen sein politisches Koordinatensystem verändern und wieder eine Schaukelpolitik in Europa vornehmen könnte. Helmut Kohl hat damals gesagt: „Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen bleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozess, das heißt immer auch in die OstWest-Beziehungen. Die künftige Architektur Deutschlands hat sich einzufügen in die künftige Architektur Gesamteuropas.“ Diese Politik – das Werben um Vertrauen, dass Deutschland seine europäisch ausgerichtete Politik nicht verändern werde, das Werben um Zustimmung unserer Nachbarn und der Großmächte in den Zwei-PlusVier-Verhandlungen des Jahres 1990 – hat sich als richtig und erfolgreich erwiesen. Und – Deutschland hat Wort gehalten: Das wiedervereinigte Deutschland hat sich in den Folgejahren zum Anwalt seiner östlichen Nachbarn gemacht und ihnen geholfen bei ihrem schwierigen Weg nach Europa und auch bei den teilweise schmerzhaften Umstrukturierungsprozessen in ihrer Wirtschaft.

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VII. Die Grundentscheidungen, die die Regierung Kohl in den Jahren des politischen Umbruchs getroffen hat, waren richtig, aber: Wir hatten auch Glück, dass die Entwicklung insgesamt so friedlich verlaufen ist und nicht blutig, nicht militärisch. So ist es richtig, sich dem Thema Wiedervereinigung auch immer wieder mit einem Stück Demut und Bescheidenheit zu nähern. Niemand beschreibt das besser und plastischer als Helmut Kohl in seinen Memoiren: „Als wir uns im Herbst 1989 auf den Weg zur Einheit machten, war es wie vor der Durchquerung eines Hochmoores: Wir standen knietief im Wasser, Nebel behinderte die Sicht, und wir wussten nur, dass es irgendwo einen festen Pfad geben müsste. Wo er genau verlief, wussten wir nicht. Schritt für Schritt tasteten wir uns vor und kamen schließlich wohlbehalten auf der anderen Seite an. Ohne Gottes Hilfe hätten wir es wohl nicht geschafft.“ Lieber Fritz Bohl, herzlichen Glückwunsch zu Deinem 70. Geburtstag!

Deutschlands Wiedervereinigung und die europäische Integration: „Kompetent und loyal – an Schaltstellen von Parlament und Bundesregierung“ Von Theo Waigel Jahre des Umbruchs Die 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts markieren einen historischen Umbruch. Seine Folgen dauern bis heute an. Technologisch stand der Umbruch im Zeichen einer bis heute anhaltenden Digitalisierung immer weiterer Lebensbereiche. Der PC, das Internet und die Netzwerktechnik sind längst über das Büro und die Fertigungshallen hinaus geschritten. Auch Bankgeschäfte und private Einkäufe werden zunehmend über das Netz abgewickelt. Neue Wirtschaftszweige haben sich etabliert. Die weitere Entwicklung ist bislang unabsehbar. Ökonomisch stand der Umbruch im Zeichen einer Globalisierung der Güter- und Finanzmärkte. Über kurz oder lang wird sich die weltwirtschaftliche Verflechtung auch auf den Arbeitsmärkten bemerkbar machen. Aus regionalen Märkten sind mittlerweile Weltmärkte geworden. Der Standortwettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze ist schärfer geworden. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen entscheidet über Wohlstand und soziale Sicherheit der einzelnen Staaten. Die Europäer haben auf die Globalisierung reagiert, in dem sie ihre Zusammenarbeit ausbauten. Die noch zu Beginn der 80er Jahre beklagte Euro-Sklerose wurde überwunden. Das Binnenmarktprogramm schuf Aussicht auf mehr Wachstum und Beschäftigung. Das Vertragswerk von Maastricht war dann ein europapolitischer Quantensprung. Der Weg zu einer politischen Union mit einem grenzenlosen Wirtschaftsraum und einer einheitlichen Währung als dessen monetärem Dach war damit vorgezeichnet. Überlagert wurden diese Entwicklungen durch einen weltpolitischen Umbruch. In den 70er und 80er Jahren verschlechterte sich die Wirtschaftslage in den Staaten des realen Sozialismus zusehends. Den kommunistischen Machthabern wurde klar, dass sie den Wettlauf der Systeme mit friedlichen Mitteln nicht gewinnen konnten. China reagierte darauf mit einer Öffnung gegenüber den westlichen Industriestaaten. Der von der Sowjetunion geführte Ostblock beschritt den Weg von Glasnost und Perestroika, also mit dem Versuch, das System durch innere Reformen zu moderni-

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sieren. Die Bemühungen um systemimmanente Reformen kamen jedoch nicht voran, da politische Unruhen, vor allem in Polen, hinzu kamen. Am Ende standen der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Zerfall des Warschauer Paktes und die friedlichen Revolutionen in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Deutschlands Wiedervereinigung Über das politische Scheitern des Experiments der DDR liegen mittlerweile unzählige Bände vor. Dem Sozialismus ist es im östlichen Teil Deutschlands während seiner 40jährigen Herrschaft niemals gelungen, eine nationale Identität herauszubilden. Die große Mehrheit der Menschen vermochte sich nicht mit dem repressiven System zu identifizieren. Die ökonomische Schlussbilanz der DDR war schlichtweg katastrophal. Die Umweltbelastung war unvorstellbar hoch. Die Infrastrukturausstattung bewegte sich auf dem Niveau der 50er Jahre. Die wirtschaftliche Produktivität erreichte maximal 30 Prozent des westdeutschen Niveaus. Die Demonstrationen in Leipzig, Ost-Berlin und anderswo waren schließlich das Signal für eine friedliche Revolution, an deren Ende Deutschlands Wiedervereinigung in uneingeschränkter Freiheit stand. Viele Linksintellektuelle im Westen sahen in der Teilung Deutschlands den Preis, den die Deutschen vermeintlich für den verlorenen Weltkrieg und für die schändlichen Untaten des Nazi-Regimes zu zahlen hätten. Die Unionsparteien haben sich dem damaligen Zeitgeist konsequent entgegen gestellt. Die weitere Entwicklung hat ihnen Recht gegeben. Die Teilung Deutschlands war nicht das letzte Wort der Geschichte. Auch die deutsche Nation konnte ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung geltend machen, was bis weit in die 80er Jahre hinein in der Bundesrepublik als wirklichkeitsfremd, als reaktionär, ja als friedensgefährdend denunziert wurde. Vielen galt das Festhalten am Ziel der nationalen Einheit als Lebenslüge. Einer der wenigen Intellektuellen, der sich dem entgegenstellte, war Martin Walser, der in den Münchener Kammerspielen 1982 festhielt: „Aus meinem historischen Bewusstsein ist Deutschland nicht zu tilgen. Sie können neue Landkarte drucken, aber sie können mein Bewusstsein nicht neu herstellen. Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen“. Aus deutscher Sicht war es ohne Zweifel eine einmalige historische Leistung Helmut Kohls, die sich nach der Öffnung der Mauer ergebende Chance der Wiedervereinigung mutig ergriffen und ihre Durchsetzung auch gegen innere und äußere Wiederstände betrieben zu haben. Mit entscheidend war wohl sein hervorragendes persönliches Verhältnis zu George Bush einerseits und zu Michail Gorbatschow andererseits, während sich die Unterstützung durch Margret Thatcher und François Mitterrand in engen Grenzen hielt.1 1 Siehe Heinrich A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 2. Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, 2010, S. 575 ff.

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Die innenpolitische Lage in der Bundesrepublik war durch ein völliges Versagen der Opposition gekennzeichnet. Der damalige Chef der SPD, Oskar Lafontaine, stand einer Wiedervereinigung offen ablehnend gegenüber. Der Ausreisewelle wollte er durch neue bürokratische Schikanen entgegentreten und das System der DDR durch westliche Finanzmittel stabilisieren. Am Ende sah sich aber auch die SPD gezwungen, den vertraglichen Abmachungen zur Wiedereinigung ihre Zustimmung zu geben. Auf die Koalition der Mitte konnte sich Kohl verlassen. Hans-Dietrich Genscher aus den Reihen der FDP und ich als Vorsitzender der CSU waren aktiv an den Verhandlungen mit Ost-Berlin und mit der Sowjetunion beteiligt. Entscheidend war jedoch die Unterstützung durch die Fraktion, die damals von Fritz Bohl in hervorragender Weise gemanagt wurde. Der Vollzug der Wiedervereinigung Die Monate vom Fall der Mauer bis zum sog. Einigungsvertrag waren spannend.2 Sie waren gleichzeitig ein hartes Stück Arbeit, da keine historischen Vorbilder zur Verfügung standen, auf die man hätte zurückgreifen können. Der auf die Öffnung der Mauer folgenden Ausreisewelle begegnete Helmut Kohl mit dem berühmten 10-Punkte-Programm. Es war ein Signal zum Zusammenrücken von Ost und West, ließ jedoch gleichzeitig alle Optionen offen. Innerhalb der DDR überschlugen sich die Ereignisse, die von Egon Krenz zum Runden Tisch und von der Alleinherrschaft der SED zur Allianz für Deutschland führte. Eine Wende trat ein mit dem unter meiner politischen Verantwortung konzipierten Angebot für eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Dies war unsere Antwort auf die explosive Lage im Osten, die sich im Slogan „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“ kundtat. Die deutsche Währungsunion mit der Einführung der D-Mark im Osten war der wohl unumkehrbare Schritt zur staatlichen Einheit. Diese fand ihren Abschluss mit dem Staatsvertrag und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Art. 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990. Die außen- und sicherheitspolitischen Belange und die Verankerung des geeinten Deutschland in der NATO wurden nach schwierigen Verhandlungen im sog. Zwei-Plus-Vier-Vertrag geregelt. Der letzte Punkt betraf den sog. Überleitungsvertrag, bei dem es uns gelang, mit der Bereitstellung von 15 Milliarden D-Mark die Grundlagen dafür zu schaffen, dass 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die letzten Sowjetsoldaten deutschen Boden verließen. Die Kritik an der Wiedervereinigung ist heute weitgehend verstummt, sieht man von einigen unverbesserlichen „Nostalgikern“ ab.

2 Siehe hierzu Helmut Kohl, Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung: Meine Erinnerungen, 2009.

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Die ökonomischen Bedenken haben sich als unbegründet erwiesen. Eine ökonomische Stabilisierung der DDR durch westliche Finanzhilfen erscheint aus heutiger Sicht angesichts der damaligen politischen Umwälzungen in ganz Osteuropa geradezu als absurd. Zur raschen Transformation der östlichen Planwirtschaft in die westliche Marktwirtschaft gab es keine erfolgversprechende Alternative. Die Treuhand, lange Jahre zum Sündenbock für Fehlentwicklungen gestempelt, war keine Erfindung der Bundesregierung. War es finanziell vertretbar, wurde saniert. Nur bei völliger Aussichtslosigkeit wurde stillgelegt.3 Die Umtauschkurse waren sozial gestaffelt. Zu der von vielen befürchteten inflatorischen Aufblähung der Geldmenge ist es nicht gekommen. Die tatsächlichen Probleme im Osten in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung resultierten vielmehr aus dem unerwarteten Wegbrechen der früheren Ostmärkte und vor allem aus einer Lohnpolitik, die von der Produktivitätsentwicklung nicht gedeckt war. Die Menschen im Osten haben die große Last der ökonomischen und vor allem mentalen Umwälzung getragen. Die Menschen im Westen wiederum haben ihre Solidarität unter Beweis gestellt. Die Angleichung der Einkommens- und Lebensverhältnisse ist weitgehend vorangeschritten. Es gibt im Osten die viel zitierten blühenden Landschaften. Regionen mit ökonomischen Problemen gibt es, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, wie die Klagen einer Vielzahl von Bürgermeistern aus Nordrhein-Westfalen zeigt. Die Finanzierung der finanziellen Folgen der Wiedervereinigung durch ein Paket von Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen und einer begrenzten Anhebung der Neuverschuldung wird heute auch von der Wissenschaft als richtig eingestuft. Die anfänglich von vielen Zeitgenossen geäußerte Befürchtung, Deutschland würde sich durch die Wiedervereinigung finanziell übernehmen, wurde widerlegt. Durch eine konsequente Haushaltskonsolidierung ist es gelungen, die Wiedervereinigung haushaltspolitisch zu verkraften. So kam die Deutsche Bundesbank4 in einer Untersuchung der Finanzpolitik der 90er Jahre zu folgendem Schluss: „Die Entwicklung des konjunkturbereinigten Saldos… lässt erkennen, dass die Finanzpolitik im letzten Jahrzehnts trotz der überwiegend schwachen Wirtschaftsentwicklung auf Konsolidierungskurs war. Über den gesamten Zeitraum hinweg wurde das konjunkturbereinigte Defizit stark reduziert und zwar von 4 Prozent des BIP in 1991 auf 1/2 Prozent im Jahr 1999“. Hin und wieder wird die These aufgestellt, Deutschlands Zustimmung zum Vertragswerk von Maastricht sei die Voraussetzung für die Zustimmung unserer westlichen Partner zur Wiedervereinigung gewesen. Es wird mithin suggeriert, der politische Preis für die Wiedervereinigung habe in der Preisgabe der D-Mark zugunsten einer europäischen Gemeinschaftswährung bestanden. 3 Eine positive Würdigung der Arbeit der Treuhand stammt aus der Feder von Richard Schröder, Ruin – lieber mit als ohne Einheit, in: FAZ vom 4. 2. 2013, S. 7. 4 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht April 2004.

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Maastricht und Wiedervereinigung Ein solcher Vorwurf ist absurd und wird von den Fakten widerlegt.5 Die Weichen für die europäische Gemeinschaftswährung wurden schon in den 80er Jahren gestellt. Das frühere europäische Währungssystem (EWS) hatte längst die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit überschritten. Mehr als 20 Mal musste das Paritätengitter verändert werden, was stets mit großen politischen Auseinandersetzungen verbunden war. Eine neue währungspolitische Weichenstellung mit dem Ziel einer Gemeinschaftswährung auf stabilitätspolitischer Grundlage war unumgänglich geworden. Auf dem EG-Gipfel 1988 in Hannover, als die Öffnung der Mauer und die Beseitigung des Stacheldrahts noch in weiter Ferne lagen, präsentierte die sog. Delors-Gruppe einen Bericht der zur Geschäftsgrundlage der Verhandlungen über das Vertragswerk von Maastricht führte. Maastricht stellt das währungspolitische Fundament der Wirtschaftsunion dar. Die positiven Effekte eines einheitlichen Wirtschaftsraums lassen sich nicht bestreiten. Die Umtausch- und Währungsabsicherungskosten entfallen. Währungsturbulenzen, wie sie im früheren EWS regelmäßig wiederkamen, konnten fortan vermieden werden. Für den Außenhandel und die grenzüberschreitenden Direktinvestitionen besteht Planungssicherheit. Die Finanzmärkte wachsen zusammen. Die Europäische Währungsunion ist im Gefolge der Finanzmarkt- und der Staatsschuldenkrise ins Gerede gekommen. In der Berichterstattung durch die Medien ist von einer Euro-Krise die Rede. Dies ist unbegründet. Trotz der amerikanischen Hypothekenbank-Krise, trotz des darauf folgenden Wirtschaftseinbruchs und trotz der gefährdeten Kapitalmarktfähigkeit einiger Randstaaten der Euro-Zone ist der Euro unverändert eine starke und stabile Währung. Die Inflationsrate im Euro-Raum liegt seit dem Start des Euro unter der langjährigen Inflationsrate der D-Mark. Und auch der Außenwert des Euro im Verhältnis zum US-Dollar ist ebenfalls höher als der Anfangskurs. Trotz des Krisengeredes ist der Euro nach wie vor die zweitwichtigste Reserve- und Anlagewährung der Welt. Wir haben es aktuell mit keiner Währungskrise, sondern mit einer Staatsschuldenkrise zu tun. Länder wie Griechenland und Zypern, Spanien und Portugal haben schlichtweg über ihre Verhältnisse gelebt. Obwohl von Anfang an klar war, dass ein gemeinsamer Währungsraum die Wettbewerbsschwächen jedes Mitglieds schonungslos offenlegt, wurde es in vielen Staaten versäumt, strukturelle Reformen auf den Weg zu bringen. Nachdem anfänglich alle Staaten – sieht man von der Bilanzfälschung in Griechenland ab – die Vorgaben des europäischen Stabilitätspakts eingehalten hatten, setzten Deutschland und Frankreich infolge offenkundiger Verstöße gegen die Vorgaben des Pakts nach der Jahrtausendwende eine Verwässerung des 5

So schreibt Dieter Grosser: „Die verbreitete Ansicht, Kohls Zustimmung zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sei der Preis gewesen, den Mitterrand einforderte, ehe er der deutschen Einheit zustimmte, ist kaum vertretbar“. So Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion: politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, 1998, S. 403.

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Pakts durch, um drohende Defizitverfahren durch die EU-Kommission zu verhindern. Diese Lockerungen des Pakts waren verständlicherweise für die kleineren Staaten ein mehr oder weniger willkommenes Signal, um ungestraft in die frühere haushaltspolitische Disziplinlosigkeit zurückzukehren. Es war richtig, dass vor allem Deutschland dafür gesorgt hat, dass mittlerweile die haushalts- und reformpolitischen Vorgaben wieder verschärft werden. Die verloren gegangene Glaubwürdigkeit können die Europäer nur zurückgewinnen, wenn sie sich auf einen überzeugenden haushaltspolitischen Konsolidierungskurs einigen. Eine solide Finanzpolitik ist die entscheidende Grundlage für eine dauerhafte Währungsunion. Der Euro leidet bis heute nicht an vermeintlichen Geburtsfehlern, sondern in erster Linie an Erziehungsdefiziten. Maastricht war jedoch keineswegs ein ausschließlich ökonomisches Projekt. Es war vielmehr von Anfang an als ein politisches Projekt konzipiert. Die EG wurde zu einer echten politischen Union selbständiger Nationalstaaten mit einem gemeinsamen Währungsraum und einer gemeinsamen Währung fortentwickelt. Gerade in Zeiten europapolitischer Krisen gilt es, die politischen Aspekte der europäischen Integration im Auge zu behalten. In der heutigen multipolaren Gesellschaft muss Europa mit einer Stimme sprechen, will es auf der Bühne der Weltpolitik als ernst zu nehmender Partner Gehör finden. Das Vertragswerk von Maastricht wurde in den Folgejahren fortentwickelt – mit dem Amsterdamer Vertrag, mit der Erweiterung der Gemeinschaft, mit der Vertiefung der Zusammenarbeit durch den Vertrag von Nizza und nicht zuletzt durch die Grundrechte-Charta und den Grundlagenvertrag von Lissabon. Die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Einigung sind – Helmut Kohl hat es oft hervorgehoben – zwei Seiten der gleichen Medaille. Durch die Beseitigung des Eisernen Vorhangs hat Europa eine neue Friedensarchitektur erhalten. Die früheren Staaten des Warschauer Pakts sind im Rahmen friedlicher Reformprozesse in die westliche Gemeinschaft zurückgekehrt. Jahrzehntelange Spannungen zwischen Ost und West ergaben sich durch die Teilung des Kontinents. Jetzt, im Zuge der politischen Neuordnung des Kontinents, sind die Spannungen beseitigt. Deutschland befindet sich in der Mitte des Kontinents. Hieran hat sich durch die Wiedervereinigung nichts geändert. Seit 1990 sind wir bevölkerungsmäßig der größte Staat in Mitteleuropa. Innerhalb Europas verfügen wir über das stärkste Wirtschaftspotenzial. Und schließlich zählt Deutschland zu den größten Exportländern der Welt. Nicht alle unsere Freunde und Nachbarn brachen bei der Wiedervereinigung in Beifallsstürme aus. Ihre historisch bedingten Sorgen müssen wir ernst nehmen. Schon allein aus diesem Grunde lag und liegt die Verankerung des wiedervereinigten Deutschlands in einer europäischen Union im ureigensten Interesse Deutschlands. Fundamentalkritiker der europäischen Integration und insbesondere der Währungs-

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union scheinen dies immer wieder zu vergessen. Hin und wieder ist es angebracht, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen: ein in einer Europäischen Union verankertes Deutschland wird nicht mehr von Bismarcks „Einkreisungs-Ängsten“ heimgesucht und ebenso nimmt die europäische Verankerung Deutschlands unseren Nachbarn die Ängste vor einem Wiederaufflammen deutscher Sonderwege. Jahre der Entscheidung Die 80er und 90er Jahre waren Jahre der Entscheidung, die Deutschland und Europa nachhaltig verändert haben. Zu Beginn eines neuen Jahrtausends kann sich Deutschland als Gewinner der Geschichte betrachten. Die Deutschen sind wiedervereinigt in Frieden und Freiheit. Sie sind fest verankert in der westlichen Wertegemeinschaft und im westlichen Verteidigungsbündnis. Wie niemals zuvor in seiner Geschichte wird Deutschland heute von seinen Nachbarn und Partnern geschätzt. In diesen Jahren der Entscheidung haben die führenden deutschen Politiker Verantwortungsbewusstsein, Mut und Augenmaß bewiesen. Bei allen Verdiensten, die sich Helmut Kohl dabei erworben hat, waren die Erfolge dieser Politik das Ergebnis einer Teamarbeit. Wichtig waren nicht nur jene Persönlichkeiten, die im öffentlichen Rampenlicht standen, sondern ebenso jene, die im Hintergrund wirkten und für die Koordination und Durchsetzung zuständig waren. Zu Ihnen gehört Fritz Bohl. In den Jahren der Wiedervereinigung liefen bei ihm als dem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion alle Fäden zusammen. Von 1991 bis 1998 saß er als Bundesminister für besondere Aufgaben und als Chef des Bundeskanzleramtes an einer der wichtigsten Schaltstellen der deutschen Politik. Er hat in diesen Jahren alles bewiesen, was einen erfolgreichen Politiker ausmacht. Als einer seiner Mitstreiter will ich in besonderem Maße seine unbestreitbare Kompetenz und Loyalität hervorheben. Heute, über 20 Jahre nach den Entscheidungen zur Wiedervereinigung und zu Maastricht bin ich immer noch stolz, dass ich an jenen Entscheidungen mitarbeiten durfte – Entscheidungen, mit denen das endgültige Ende der Nachkriegsgeschichte besiegelt wurde. Mit großer Dankbarkeit denke ich dabei an Fritz Bohl zurück, dem ich alles Gute für seine weitere Zukunft wünsche.

Grenzen im Innern Europas Von Roman Herzog Die Überschrift, die ich für meinen Beitrag gewählt habe, mag etwas überraschen. Dass es innerhalb Europas, ja selbst innerhalb der Europäischen Union Grenzen gibt, kann heute jedes Kind wissen, dem man einmal eine Landkarte erklärt hat. Vielleicht ist es deshalb nützlich, zu Beginn einen Begriff davon zu geben, welche Grenzen in meinen folgenden Ausführungen nicht gemeint sind, obwohl es sie in Europa natürlich auch gibt. Machen wir es kurz und ohne das Verlangen nach Vollständigkeit: Ich habe nicht die herkömmlichen Staatsgrenzen im Auge und nicht die Grenzen von Wirtschaftsräumen. Ebenso wenig meine ich die schon schwerer zu zeichnenden Stammes- bzw. Sprachgrenzen, nicht die Konfessionsgrenzen, um die frühere Generationen veritable Kriege geführt haben, und schon gar nicht die Mentalitätsgrenze, die vor allem in Süddeutschland gern zitiert wird und die auf die zweitausend Jahre alte römische Limesgrenze zurückgeführt wird. Die Grenzen, um die es mir heute geht, sind relativ neuen Datums und beziehen sich auf mehr oder weniger deutliche Unterschiede im immer größer werdenden Territorium der Europäischen Union, und wenn man die Geschichte dieser Union etwas genauer betrachtet, dann kann man auch nicht sehr davon überrascht sein, dass es die Frage der inneren Grenzen nicht von Anfang an, also seit dem Lustrum zwischen 1952 und 1957 gegeben hat, in dem die Montanunion, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Euratom-Gemeinschaft gegründet wurden. Die einzige politisch relevante Grenze, die diese drei Ur-Gemeinschaften durchzog, beruhte damals auf dem tiefgreifenden Gegensatz zwischen dem besiegten Deutschland und den fünf anderen Gründerstaaten. Es hat seinerzeit natürlich noch andere Argumente für die Integration der Sechs gegeben als die mit Deutschland zusammenhängenden, zum Beispiel die Neutralisierung der generationenalten Konflikte um Kohle und Stahl, die Erkenntnis, dass in dem sich abzeichnenden Konflikt zwischen Ost und West die hergebrachten Klein- und Mittelstaaten Europas nicht mehr sehr viel würden ausrichten können usw. Auf Deutschland bezogen sich aber die folgenden Erwägungen: Die Bundesrepublik selbst konnte durch den Beitritt zu den drei Gemeinschaften Befürchtungen eines erneuten Machtmissbrauchs reduzieren, die fünf anderen dagegen konnten sich beträchtliche Mitspracheund Kontrollrechte in Sachen der wieder erstarkenden deutschen Wirtschaft ausrechnen. Zumindest in diesem Punkt standen sich die Motive also diametral gegenüber; da sie aber beide auf die Integration der Sechs hinausliefen, war zumindest diese gesichert.

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Das Ergebnis war, wie Sie alle wissen, das, was man heute so schön und vollmundig eine Erfolgsgeschichte nennt, zumindest im Bereich der Wirtschaft, d. h. in den Bereichen der Montanunion und der Wirtschaftsgemeinschaft und mit zunehmender Gewichtsverlagerung von jener auf diese – in dem Maße, in dem Kohle und Stahl sich aus hochbedeutsamen Wertprodukten in Probleme verwandelten. Die europäische Wirtschaftsgemeinschaft entwickelte sich jedenfalls weiter und weiter bis zu ihrem heutigen Stand. Sie ist – Euro hin, Euro her – die eigentliche Erfolgsgeschichte geworden; denn jetzt zahlte es sich aus, dass ihr anfänglich nur Staaten von weitgehender geistiger, politischer und vor allem auch ökonomisch-technischer Ähnlichkeit angehört hatten – Gesellschaften mit jüdisch-antik-christlichem Hintergrund, mit ernsthaften demokratischen Verfassungsformen und, nicht zuletzt, weit entwickelte Industriegesellschaften. Die drei Ur-Gemeinschaften lebten also, um es anders zu sagen, von einer beachtlichen inneren Homogenität, die das Zusammenwirken mehrerer Staaten, das sonst erheblichen Friktionen ausgesetzt zu sein pflegt, doch sehr erleichterte. Wer Europa kennt und vor allem seine Entwicklung in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, der kann nicht von dem Wandel überrascht sein, der sich hier inzwischen eingestellt hat und, aufs Ganze gesehen, auf zwei fundamentalen Veränderungen beruht: 1. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor jetzt einem Vierteljahrhundert und dem damit verbundenen Globalisierungsschub ist der Mitgliederbestand der Europäischen Union von ursprünglich sechs, später fünfzehn, auf 28 Staaten angestiegen, überwiegend im Osten Mitteleuropas und in Osteuropa. Das hat weder der inneren Homogenität der Union noch den damit verbundenen Bindungskräften gut getan. 2. Gleichzeitig hat sich die Umwelt Europas grundlegend gewandelt. Was etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgebeutete Kolonie oder einer solchen doch ähnlich gewesen war, steht uns heute überwiegend als gleich berechtigter, gleich starker und vor allem gleich agiler Konkurrent gegenüber. Die Gründungsväter der Integration haben es geahnt, als sie sagten, die Zeit der Klein- und Mittelstaaten gehe zu Ende. Wir jedoch erleben es Tag für Tag, einerseits auf den Märkten der Welt, andererseits in den politischen und ideologischen Umbrüchen des Weltgeschehens. So gerecht das alles ist und so gerecht wir es auch selbst finden, so sehr müssen wir uns doch um die Stärke des kleinen Erdteils kümmern, in dem wir leben – wenn wir denn in Freiheit und nach unseren eigenen Maßstäben leben wollen. Der veränderte Mitgliederkreis der EU und erst recht die neue politische, ideologische und ökonomische Umgebung Europas in der Welt haben zwangsläufig auch den Aufgabenkatalog des integrierten Europa verändert. Geblieben ist die Funktion der Friedenssicherung, die zunächst, was oft verkannt wird, nur auf das Innenleben der Gemeinschaften verwies; Versuche, außerhalb des Mitgliederbestandes für Frieden zu sorgen, wie etwa in Ex-Jugoslawien, sind weithin gescheitert. Andere Verän-

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derungen im Aufgabenkatalog sind hinzugekommen; ich erinnere nur an die grundlegend andere Bewertung der Kernkraft im Vergleich zu 1957 und an den fast dramatischen Bedeutungsverlust von Kohle und Stahl. Außerdem sind mit der ständigen Erweiterung des Mitgliederkreises seit etwa 1995 Staaten aufgenommen worden, die in ihrer wirtschaftlichen Struktur und auch in ihren politisch-ideologischen Überzeugungen viel weiter von den Gründerstaaten entfernt waren als in den fünfziger Jahren etwa Frankreich und Deutschland, und dies trotz des Unterschiedes von parlamentarischer und präsidialer Demokratie, die seit der Geburt der Fünften französischen Republik Ende der fünfziger Jahre besteht. Und selbst wenn man von Fragen der Staatsstruktur einmal absieht, bleibt immer noch der manifeste Wandel der Aufgaben, deren Erfüllung übrigens auch der „kleine Mann auf der Straße“ von der Europäischen Union des Jahres 2014 wie selbstverständlich erwartet: Sicherung des mittlerweile erreichten Wohlstandes trotz zunehmender internationaler Konkurrenz, Sicherung des Friedens möglichst im ganzen, für europäische Verhältnisse gewaltigen Gemeinschaftsgebiet und schließlich kraftvolle Vertretung europäischer Überzeugungen in der globalisierten Welt. Und das alles soll eine Institution leisten, deren innere Homogenität nachlässt! Wir haben also jeden Grund zu fragen, woher dieser Homogenitätsverlust der Europäischen Union kommt. Dazu sind hier zwar schon einige Bemerkungen gefallen, aber jetzt müssen wir etwas genauer werden, und das heißt ja wohl auch, wir müssen konkreter werden. Am Anfang steht da wohl eine allgemeingültige Erfahrung: Zumindest in einer so kleinteiligen Weltregion, wie es Europa ist, ist Homogenität umso wahrscheinlicher, je weniger Mitglieder sich zusammen finden, und je mehr sich zusammen finden, desto wahrscheinlicher wird Inhomogenität. Die schlagartige Verdoppelung der EU-Mitglieder in den zwei Jahrzehnten seit 1990 kann also nicht ohne Folgen geblieben sein, die uns hier interessieren müssen. Die politische Empirie deckt sich hier fast lückenlos mit der theoretisch gewonnenen Erwartung. Dazu ist mir eine Vorbemerkung wichtig: Die positiven Folgen der Osterweiterung sind unbestreitbar und werden auch von mir nicht in Frage gestellt. Damit meine ich die Rückkehr dieser Staaten ins alte Europa, das ja schon seit vielen Jahrhunderten nicht an der Elbe geendet hatte, vor allem aber den Ausgleich jener gigantischen Ungerechtigkeit, die 1945 einen Teil der europäischen Völker in ein Reich der Freiheit und des Wohlstandes, den anderen aber in ein Reich der Unfreiheit und der Verarmung verwiesen hatte. Nur ist eben auch festzustellen, dass die neu beigetretenen EU-Mitglieder auf Grund ihrer geschichtlichen Erfahrungen gegenüber weiteren Integrationsschritten eine besondere Skepsis an den Tag legen. Den EUMitgliedern des westlichen, nördlichen und südlichen Europa haben solche Schritte, die sich ja meist in zusätzlichen Kompetenzübertragungen äußerten, seither eingeleuchtet, zumindest nahmen sie sie leichter hin, als ihnen der Verzicht auf die handgreiflichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft gefallen wäre. Bei den östlichen Staaten Europas ist das aber anders. Sie haben ihre Souveränität – oder das, was sie dafür

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halten – ein halbes Jahrhundert lang bitter entbehrt und sollen jetzt, wo sie sie endlich wieder erhalten haben, immer größere Teile davon in Brüssel abgeben. Man muss Verständnis dafür haben, dass ihnen das nicht leicht fällt. Viele ihrer führenden Politiker versuchen deshalb, Souveränitätsverzichte, die durch eine weitere Vertiefung der Integration auf sie zukommen könnten, von vornherein so weit wie möglich auszubremsen. Zwar ist der häufig erhobene Vorwurf, dass manchen von ihnen eine bloße Freihandelszone, freilich versüßt durch kräftige Subventionsansprüche, am liebsten wäre, in den meisten Fällen eine böswillige Übertreibung; ganz abwegig ist er aber gewiss auch nicht. Man mag es bewerten, wie man will, und ich für meinen Teil will hier nur noch einmal bekräftigen, dass ich für diese Position jedes Verständnis habe. Das hindert aber nicht die folgende Feststellung: Durch Europa zieht sich eine gänzlich neue, erst allmählich erkennbare Grenze, die weiteren Integrationsschritten, vor allem auch im Bereich der Außenpolitik, noch lange entgegen stehen dürfte. Und trotz allen ehrlichen Verständnisses für die beschriebene Position wird auch die Frage nicht unerlaubt sein, ob es denn auch legitim sei, dass die jüngeren EU-Mitglieder die älteren, die ja auch über ganz andere Erfahrungen verfügen als sie, an weiteren Integrationsschritten hindern können. Diese Entwicklung ist – von beiden Seiten her! – alles andere als ungefährlich. Sie kann nämlich auch über das Thema „Kompetenzübertragungen“ hinaus zu festen Fraktionsbildungen in den Führungsorganen der EU führen, etwa nach dem Motto: „Stimmst du heute für mich, stimme ich, auch wenn ich gar nicht interessiert bin, morgen mit dir“ oder: „Ich stimme, ohne konkret interessiert zu sein, schon deshalb mit den anderen Mitgliedern in der gleichen Region“. Daraus können Erpressungsversuche entstehen. Man sollte solche Befürchtungen nicht für übertrieben oder gar für utopisch halten: Immerhin haben wir erst kürzlich aus der Hauptstadt eines ganz jungen EU-Mitglieds hören dürfen, dieses werde, wenn eine bestimmte Forderung nicht erfüllt würde, keiner Ratsentscheidung mehr zustimmen, gerade auch, wenn dafür Einstimmigkeit gefordert sei. Sollten sich derlei Dinge vermehren und verfestigen, so wäre es übrigens auch um die innere Gleichbehandlung der Unionsbürger und ihrer Heimatstaaten geschehen. Man kann – wie ich – durchaus der Ansicht sein, dass die gegenwärtige Politik Brüssels auf diesem Gebiet heillos übertreibt, ja dass sie ganz einfach Gleichheit und Gerechtigkeit miteinander verwechselt. Die Entstehung neuer Teilregionen innerhalb der Weltregion Europa wäre aber nichts anderes als die Rückkehr zum Pakte-System der Vor- und Zwischenkriegszeit, und wohin das führen kann, haben wir 1914 und 1939 ja gesehen. Einen dritten Versuch in diese Richtung brauchen wir ganz bestimmt nicht, selbst wenn man zugibt, dass etwa die Zusammenarbeit der Ostseeanlieger bisher keinerlei derartigen Probleme hervorgerufen hat. Bei den immer wieder zu hörenden Ideen um eine Mittelmeerpolitik, die ebenfalls von den Anliegerstaaten betrieben werden soll, allerdings zugleich innerhalb und damit wohl auch auf Kosten der Gesamt-EU, möchte das schon deutlich anders sein.

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Die – gewissermaßen gepunktete – Grenzlinie zwischen dem Mitgliederbestand von 1995 und den seither beigetretenen Ländern beruht trotz alldem immer noch auf klar benennbaren historischen Tatsachen. In letzter Zeit, speziell seit dem Beginn der Finanz- und Schuldenkrise, zeigt sich aber, dass sich eine weitere Integrationsgrenze durch das Unionsterritorium zieht, die einerseits ungleich schwerer zu definieren ist, andererseits aber sogar eine der fundamentalsten Hoffnungen der Gründerväter zerstören kann. Schon von dem Augenblick an, in dem die Ur-Gemeinschaften der Sechs erweitert wurden, mussten die Verantwortlichen in Brüssel der Tatsache ins Auge sehen, dass nicht alle Beitrittsländer technisch, wirtschaftlich und nicht zuletzt politisch auf dem gleichen Entwicklungsstand waren wie die Sechs selbst. Staaten wie Irland, Spanien, Portugal und Griechenland standen in manchen Beziehungen den Ostblockstaaten näher als den Gründungsmitgliedern, wurden aus gesamteuropäischem Verantwortungsgefühl aber gleichwohl aufgenommen – freilich auch in der Hoffnung, sie könnten durch dauernde Kooperation, vor allem aber durch großzügige Hilfsprogramme in absehbarer Zeit auf den gleichen Stand gebracht werden wie die Gründungsmitglieder. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben, zumindest in einzelnen Fällen, an der Richtigkeit dieser Erwartung erste Zweifel aufkommen lassen. Haben wirklich alle betroffenen Völker das Potenzial, mögliche und nötige Reformen durchzuführen? Ist es überhaupt möglich, sie von deren Notwendigkeit zu überzeugen? Und sind sie bereit, die dafür unerlässlichen Mühen auf sich zu nehmen? Immerhin haben wir seit 2008 EU-Mitglieder erlebt, die lieber Finanzzahlen manipulierten als Reform- und Sparpläne zu vollziehen, und Regierungen, die ihr Land einem Brüsseler Oktroi unterstellten, weil sie solche Pläne bei ihren Wählern und Parlamenten nicht selbst „durchbrachten“! Wenn diese Zweifel richtig sind, wenn bei bestimmten EU-Mitgliedern also gar keine Aussicht auf ein Ende ihrer Hilfsbedürftigkeit besteht, steht nicht nur die Richtigkeit der zentralen Ziele und Aufgaben der EU auf dem Spiel, sondern es zeigt sich, weil es sich hier dann um Dauerzustände handelt, noch eine neue Grenze innerhalb des heutigen Gemeinschaftsgebietes. Denkt man das alles zu Ende, so drängt sich die Frage auf, ob die bisherigen Erweiterungen der EU alle den Regeln einer realistischen Integrationspolitik entsprochen haben. Natürlich sind zu allen Zeiten wirtschaftsstärkere und wirtschaftsschwächere Länder in die EU aufgenommen worden – das war ja gerade eine Grundidee der Integration. Bei den Schwächeren war das aber immer mit einer realistischen Hoffnung verbunden: Sie würden durch die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft, nicht zuletzt auch durch Zuschüsse aus den verschiedenen Fonds und Programmen, binnen einer überschaubaren Frist auf eigenen Beinen stehen können. Das hat sich mittlerweile geändert. Heute wird schon offen darüber diskutiert, ob es nicht Mitgliedstaaten gibt, bei denen diese Hoffnung gar nicht in Erfüllung gehen kann! Offenbar ist hier in der Aufnahmepolitik der EU weder sauber genug gedacht, geschweige denn sauber genug gehandelt worden. Vor allem hat es Fälle gegeben, in

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denen wirtschaftliche Contra-Argumente mit „politischen“ Pro-Argumenten vom Tisch gewischt wurden. Politische und ökonomische Argumente können in diesem Zusammenhang einander aber nicht ersetzen, sondern sie müssen nebeneinander bejaht werden können, damit die Aufnahme eines Beitrittswilligen in Betracht kommt. Zuerst ist zu prüfen, ob ein Beitrittskandidat nach menschlichem Ermessen imstande ist, binnen angemessener Frist auf eigenen Beinen zu stehen, und dann muss noch dazu kommen, dass er auch zu den politischen und weltanschaulichen Grundüberzeugungen Europas steht. Dazu nur zwei schlichte Beispiele: Bei der Türkei ist möglicherweise das Letztere zu hinterfragen – Stichworte: Menschenrechte, aber auch Trennung von Staat und Religion. Bei Griechenland fehlte es dagegen am Ersteren, und daran hätte es auch nichts ändern dürfen, dass es, wie damals aus Brüssel zu hören war, die Wiege der Demokratie sein soll. Die Aufnahmepolitik der EU bedarf also, zumindest was die Praxis betrifft, einer gründlichen Überprüfung. Schon allgemein gilt, dass Europa nicht überlebt, wenn es möglichst groß wird, sondern nur, wenn es möglichst stark wird. Und Grenzen, die nur durch die Kategorien „reich“ und „arm“ gezogen werden, tragen stets auch den Keim für andauernde innere Konflikte in sich. Das möchte ich zum Ende meiner Ausführungen noch etwas genauer erklären und ich möchte es anhand des Finanzausgleichs zwischen der deutschen Bundesrepublik und ihren Ländern tun, erstens weil ich mich damit besser auskenne als etwa mit den Schweizer Verhältnissen, zweitens aber, weil in Diskussionen über die Finanzverfassung der EU gerade dieser deutsche Finanzausgleich oft als besonders sinnvolles Modell genannt wird. Ich kann davor nur warnen. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit 1990 insgesamt sechzehn Länder. Fragt man einen Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz, wie viele von diesen Ländern im Finanzausgleich „gebend“ und wie viele „nehmend“ sind, so wird er wahrscheinlich auf ein Verhältnis von acht zu acht, vielleicht wegen der Ungleichheit zwischen einzelnen Ländern auf neun zu sieben oder umgekehrt auf sieben zu neun tippen. Das tatsächliche Verhältnis von drei gebenden und dreizehn nehmenden Ländern jedoch leuchtet niemand ein, der auch nur die vier Grundrechnungsarten beherrscht. Nicht einmal der Umstand, dass die Länder, die bereits 1990 „nehmend“ waren, diese Eigenschaft behalten durften, obwohl die „neuen“ Bundesländer alle samt und sonders ärmer waren als sie, kann daran etwas ändern. Denn im Prinzip waren die Dinge schon lange vor der Wiedervereinigung verfahren. Man muss sich die Sache auf der Zunge zergehen lassen: Vor 1990 wurde der Finanzausgleich in Verhandlungen zwischen dem Bundesfinanzminister und einer aus vier Ministerpräsidenten zusammengesetzten Länderkommission ausgehandelt. Zunächst wurden Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer nach Prozentsätzen verteilt, am Ende des Ausgleichsgesetzes gab es dann aber noch Sonderzuweisungen an einzelne, besonders belastete Länder. Und jetzt kommt der Clou: Diese besonders bedachten Länder führten im Bundesrat 21 Stimmen – was bis 1990 genau die knappste Mehrheit war. Anders ausgedrückt: Der Finanzausgleich kam dadurch zu-

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stande, dass der Bundesfinanzminister, gleich welcher Partei er angehörte, die Bundesratsmehrheit zusammenkaufte. Man kann sich vorstellen, wie dieses Verfahren in der EU aussähe, bei vielleicht fünf gebenden und dreiundzwanzig nehmenden Mitgliedern. Die eigentliche Schwierigkeit eines Finanzausgleichs nach deutschem Muster besteht darin, dass die Unterscheidung zwischen „reichen“ und „armen“ Ländern logisch einen Durchschnittswert der Finanzkraft voraussetzt und dass dieser mehr oder weniger willkürlich festgesetzt werden kann. Man braucht nur die gedachte Normalausstattung eines Landes besonders menschenfreundlich, d. h. hoch anzusetzen, schon hat man eine relativ große Anzahl von „armen“ und daher „nehmenden“ Ländern, und je größer diese Zahl ist, desto leichter ist es für den Bund, im Bundesrat eine Mehrheit zu finden. Hier ist also der kritische Punkt: Gelingt es, ein objektives Verfahren zur Feststellung des Durchschnittswertes, d. h. ein Verfahren ohne die sattsam bekannten „politischen Gesichtspunkte“ und ohne Sonderzuweisungen zu finden, dann besteht auch die Hoffnung auf einen beiderseits erträglichen Finanzausgleich der EU; gelingt eine solche Quadratur des Kreises dagegen nicht, so wird man im Prinzip beim gegenwärtigen System bleiben müssen – zu bedenken wäre dann allerdings, dass die Entscheidungen auf die Dauer in einem Gremium getroffen werden sollten, in dem die „gebenden“ und die „nehmenden“ Länder jeweils über die gleiche Stimmenzahl verfügen. Den schon erwähnten Erpressungsversuchen einzelner Regierungen lässt sich am besten durch den Zwang zum Kompromiss begegnen. Wenigstens diese dritte innereuropäische Grenze sollte den Bürgern der Union erspart bleiben.

Die Entwicklung Europas – Vom Projekt des Friedens zum Projekt der Freiheit Von Elmar Brok I. Einleitung Das Jahr 2014 ist ein Jahr der Erinnerungen. Wir gedenken des hundertsten Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, erinnern an den 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges und feiern ein Vierteljahrhundert seit dem Fall der Berliner Mauer. Wir gedenken Millionen von Opfern, Schützengräben, zerstörten Städten und Landschaften. Zwei Mal im vergangenen Jahrhundert schlug für Europa die Stunde null. Kaum jemand hätte angesichts der Zerstörungswut der beiden Weltkriege damals zu glauben vermocht, was nur wenige Jahre später zur Realität wird. Anlässlich des hundertsten Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges haben sich die Staatsmänner und -frauen im belgischen Ypern auf den ersten Schlachtfeldern dieses furchtbaren Krieges versammelt, um die Toten des Krieges zu ehren. Dies ist ein Beleg dafür, wie weit sich Europa seither entwickelt hat. Die einstigen erbitterten Feinde haben sich die Hände gereicht, einen gemeinsamen Raum des Friedens und der Zusammenarbeit geschaffen. Gemeinsam haben wir supranationale Institutionen aufgebaut und ein System erarbeitet, das gegen den Krieg immun ist. Der italienische Schriftsteller Paolo Rumiz schrieb einmal: „Europa ist der Ort, an dem sich Identitäten verdichten und es keine Alternative zwischen Krieg und Zusammenleben, zwischen Selbstzerstörung und einem einheitlichen Raum des Geistes und der Zivilisation gibt.“ In Anbetracht dieser Erinnerungen werden uns der historische Wert und die Daseinsberechtigung der europäischen Integration ins Bewusstsein gerufen. Wir wissen: Zur Europäischen Union gibt es keine Alternative, wenn Frieden, Freiheit sowie Europas globale Rolle und Identität bewahrt werden sollen. Diese Errungenschaft und diesen Zusammenhang gilt es, an unsere nachfolgenden Generationen weiter zu geben. Diese Gedenktage erinnern uns gleichzeitig aber auch an die Zerbrechlichkeit und Größe des Europäischen Projekts. Dank des Mutes der europäischen Gründerväter wie Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Jean Monnet wurde der europäische Integrationsprozess in Gang gesetzt und später durch andere große Europäer wie Jacques Delors, Valéry Giscard D’Estaing, François Mitterand, Helmut Kohl und Vaclav Havel fortgesetzt. All jene waren überzeugte Europäer, die sich dadurch auszeichneten, dass sie klare Ziele besaßen und den Mut hatten, Entscheidungen zu treffen. Sie setzten jeweils zeitliche Fristen und waren vor allem

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Überzeugungstäter im europäischen Integrationsprozess. Dieser Prozess brachte den Bürgern Europas über die letzten sechs Jahrzehnte in einzelnen, großen und kleinen Etappen einen Nutzen von unschätzbarem Wert: Grenzenloses Reisen und Arbeiten, ein gemeinsamer Markt, eine gemeinsame Währung, eine starke Stimme auf der außenpolitischen Weltbühne. Die deutsche Europapolitik hat die Vertiefung der Integration, ihre Erweiterung nach Norden, Süden und Osten wie ihren institutionellen Aufbau von Adenauer über Kohl und Merkel vorbehaltlos unterstützt und spielte immer die tragende Rolle eines entscheidenden Initiators der Stärkung und der Vertiefung europäischer Strukturen. Für Helmut Kohl waren die deutsche und die europäische Einigung stets zwei Seiten einer Medaille. In seinen Augen gewann die Idee Europas mit dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Dimension. Die Arbeit war noch nicht getan, sie fing gerade erst an. Es ging darum, eine Kulturgemeinschaft zu fördern, deren prägende Kraft für ihn Voraussetzung aller politischen Aktivitäten ist, um die Teilung Europas und deren Folgen endgültig zu überwinden. Es ist die Idee, die drei Jahre zuvor schon François Mitterrand in Aachen beschworen hatte und die beide Staatsmänner einte: „Gerade darin liegt das Geheimnis der ungebrochenen Kraft Europas: im fruchtbaren Spannungsverhältnis zwischen Einheit und lebendiger Vielfalt unseres kulturellen Erbes. ,Einheit in Vielfalt’ ist nicht zuletzt Voraussetzung für die Kreativität und Schaffenskraft der Menschen in Wirtschaft und Politik, in Wissenschaft und Kultur.“ Auf Grundlage dieser Idee hat die europäische Integrationsentwicklung insbesondere mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Fall des Eisernen Vorhangs einen neuen Schwung erfahren. Mitgeprägt hat diese für Europa sehr besondere und entscheidende Zeit an der Seite von Helmut Kohl dessen späterer Kanzleramtschef a. D. Friedrich Bohl, „Kohls mobile Eingreifreserve“, wie der Spiegel 1995 titelte. „Kein Kohl ohne Bohl“, hat Walter Troeltsch, enger politischer Freund und Weggefährte von Friedrich Bohl, einmal über den Mann gesagt, der als einer der engsten Vertrauten des früheren Bundeskanzlers galt, von 1984 bis 1991 als parlamentarischer Geschäftsführer, später als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Bundestagsfraktion die Machtbasis von Helmut Kohl in nicht immer leichten Zeiten zusammenhielt und anschließend von 1991 bis 1998 als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts ganz entscheidend die Regierungsarbeit mitprägte. In der Regierungszeit Helmut Kohls hat Friedrich Bohl wichtige politische Entscheidungen mit vorbereitet. Insbesondere die Monate vor und nach dem Fall der Berliner Mauer hat der CDU-Politiker als „ungemein spannende und bewegende Zeit“ in Erinnerung. Es war auch eine ungemein wichtige Zeit für die Weiterentwicklung der Europäischen Union, denn, wie Jacques Santer, Präsident der Europäischen Kommission, Helmut Kohl am 3. Oktober 1998 richtigerweise attestierte, war „die deutsche Vereinigung von entscheidender Bedeutung für den europäischen Einigungsprozess“. Zur Einheit Deutschlands, wie er sie damals mitgestaltete, sieht Bohl auch heute noch keine Alternative.

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II. Europas Gründerväter: Eine Vision für Europa Der Grundstein für das Europa, nach dem Helmut Kohl gemeinsam mit Friedrich Bohl strebte, wurde bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert von einigen europäischen Vordenkern mit ihrer Vision von einem geeinten Europa gelegt. Konrad Adenauer, Paul Henri Spaak, Altiero Spinelli, Jean Monnet und Robert Schuman: Ohne die Energie und Entschlossenheit dieser Visionäre hätten wir nicht den Frieden und die Stabilität in Europa, die wir heute für selbstverständlich halten. Die Gründerväter der Union waren Menschen mit völlig unterschiedlichem Hintergrund – vom Widerstandskämpfer bis hin zum Anwalt. Aber ihre Ideale waren dieselben: Frieden und Wohlstand in einem geeinten Europa. Sie alle erkannten, dass sich nur in einem geeinten Europa dauerhafter Friede gewährleisten lässt. Ihre Erfahrungen im „Dritten Reich“, mit Faschismus und Krieg – so wurde Adenauer von den Nazis seines Amtes als Oberbürgermeister der Stadt Köln enthoben, während Spinelli von Mussolini für 16 Jahre ins Gefängnis geschickt wurde – bestätigten sie in dieser Meinung. Sie alle waren sich eines sicher: Nur die Einheit in Europa wird eine Wiederholung ähnlicher Gräuel verhindern können. In seiner Rede am 9. Mai 1950, die von Jean Monnet angeregt und größtenteils auch abgefasst worden war, schlug Schuman bereits fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor, die deutsch-französische Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen. Der Beitritt zu dieser Organisation sollte auch anderen europäischen Ländern offenstehen. Schuman und sein Wegbegleiter Monnet sahen die Ursache der Kriege in der Teilung und Schwäche Europas. Die Einigung war für sie die Grundvoraussetzung in der Welt. Bereits der erste Satz der Erklärung war ambitioniert: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“ Es ist die Geburtsstunde des geeinten Europas und des heutigen Selbstverständnisses des Friedens. Da Ziel des Schuman-Plans: die Sicherung des europäischen Friedens durch eine „Vergemeinschaftung“, die den Mitgliedern gleichzeitig rationalen Nutzen versprach. „Den Feinden von gestern reichen wir die Hand, um uns zu versöhnen und um Europa aufzubauen!“, rief Schuman damals den Menschen zu. Es war nicht nur vernünftig, es war auch in ihrem nationalen Interesse. Westdeutschland erreichte mit dieser Integration seine erste Rehabilitierung in der internationalen Staatengemeinschaft. Frankreich und die anderen Partnerstaaten befriedigten durch Kontrolle auch deutscher Kohle- und Stahlproduktion ihr Sicherheitsbedürfnis. Der Gedanke war lange schwer umzusetzen, aber von großer politischer Hellsichtigkeit: Wenn die Wirtschaft verschmilzt, verschmilzt irgendwann auch die Politik. Übrigens sagte Walther Rathenau das schon 1913, vor dem Ersten Weltkrieg. Wo einst Staaten um Ressourcen und um die Hegemonie stritten, wächst Frieden durch gegenseitige Verflechtung.

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Diese Zusammenarbeit sollte gemeinsame Interessen der europäischen Länder schaffen, was nach und nach zur politischen Integration führen würde, einer Voraussetzung für friedlichere Beziehungen zwischen ihnen: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird“, heißt es im Schuman-Plan. Sein Plan stieß nicht auf taube Ohren – sowohl vom deutschen Bundeskanzler Adenauer als auch von den Regierungen der Niederlande, Belgiens, Italiens und Luxemburgs kam rasch eine positive Antwort. Innerhalb eines Jahres, am 18. April 1951, unterzeichneten die sechs Gründungsmitglieder den Pariser Vertrag, der am 23. Juli 1952 in Kraft trat und 50 Jahre lang gültig blieb, nämlich bis zum 22. Juli 2002, später jedoch in den EU-Vertrag überführt wurde. Durch diesen Vertrag wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet, Europas erste supranationale Gemeinschaft. Diese richtungsweisende Organisation ebnete den Weg für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und schließlich für die Europäische Union, deren Geschicke noch immer von innovativen europäischen Institutionen gelenkt werden, wie sie 1950 erdacht wurden. Frankreich und Deutschland wurden damals zu den großen Impulsgebern der europäischen Entwicklung – und aus ehemaligen Kriegsgegnern wurden Partner. Diese Partnerschaft hatte Winston Churchill den Europäern bereits vier Jahre vor dem Schuman-Plan in seiner großartigen Rede in Zürich ans Herz gelegt. 1946 hat Churchill, damals Oppositionsführer, zu seinen alten französischen Verbündeten gesagt: „Ihr müsst euch mit den Deutschen versöhnen und gemeinsam die Vereinigten Staaten von Europa zustande bringen.“ Das war der Keim unserer heutigen Freundschaft. Als wir im Januar den 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags gefeiert hatten, war uns noch einmal besonders deutlich bewusst, wie kostbar diese Freundschaft für Europa geworden ist und wie groß das Glück ist, diese Freundschaft mit einer neuen Generation weiter leben zu können, weitergestalten zu können. Diese sollte 1952 erstmals vertraglich fixiert werden. Die Rolle von General de Gaulle und seine Freundschaft mit Adenauer war entscheidend, durch die das französische Volk Deutschland als Freund annahm. Unmittelbares Ziel dieses Vertrags war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl, den damals strategisch wichtigen Gütern. Ferner sollte er die Grundlagen für eine wirtschaftliche und in zunehmendem Maße politische Gemeinschaft schaffen. Mit der Einsetzung einer Hohen Behörde, einer Gemeinsamen Versammlung, eines Besonderen Ministerrates und eines Gerichtshofs legte dieser Vertrag den Grundstein für das institutionelle Gefüge der heutigen Europäischen Union. Für eine umfassende nationenübergreifende Politik war es 1950 natürlich noch zu früh. Nur Schritt für Schritt sollte aus wirtschaftlicher Integration eine politische werden, aus immer größeren Feldern von Vergemeinschaftung schließlich ein gemein-

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sames Europa entstehen. Mit dem Abschluss der Römischen Verträge zum Aufbau einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begann 1957 die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration. Im Mittelpunkt stand die Entwicklung der Wirtschaften Westeuropas durch eine Vertiefung der Zusammenarbeit und die Förderung des Handels unter den Gründern. Ohne die Bedeutung des politischen Zusammenwachsens Europas unterschätzen zu wollen, dürften die wirtschaftliche Dynamik der Integration und die Attraktivität des großen Marktes als das stärkste Motiv für den Beitrittswunsch anderer europäischer Staaten anzusehen sein.

III. Die Wiedervereinigung – der zweite Gründungsakt Europas Allerdings wurde damals Europa recht bald zu einem Konzept nur für Westeuropa. Im Kalten Krieg zerfiel der Kontinent in zwei politische Lager. Nachdem der Mauerbau in Berlin im Sommer und Herbst 1961 zu einer gefährlichen Eskalation des Ost-West-Konflikts und zu einer ernsthaften Belastung für den Frieden in der Welt führte, dauerte es noch beinahe 30 weitere Jahre, bevor auf beiden Seiten die Erkenntnis siegte, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann. Mitte der 1980er Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der DDR und des gesamten Sowjetsystems. „Glasnost“ und „Perestroika“ des sowjetischen Staatsund Parteichefs Michail Gorbatschow raubten der SED ihren ideologischen Rückhalt, sie geriet zunehmend unter Druck. Im Frühjahr 1989 löste sich die reformkommunistische ungarische Regierung durch die Anerkennung der Genfer Flüchtlingskonvention von der gemeinsamen politischen Linie der Ostblockstaaten, gegenseitig Flüchtlinge auszuliefern. Mit der Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich für DDR-Flüchtlinge flohen diese in die bundesdeutschen Botschaften nach Warschau und Prag. Schließlich erfolgte die Ausreise in den Westen. Der Eiserne Vorhang begann in dieser Stunde zu fallen. Gleichzeitig näherten sich Kohl und Gorbatschow an: Im Juni 1989 veröffentlichten sie bei einem Treffen in Bonn eine „Gemeinsame Erklärung“ zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das ist der erste wichtige Schritt in Richtung einer gemeinsamen Zukunft zwischen Ost und West. Der Ostblock begann endgültig zu bröckeln. Die Politik Helmut Kohls und seines Kabinetts kam damals genau zur richtigen Zeit. Sie schuf national und international das Vertrauen, um die Zustimmung der Nachbarn zur Wiedervereinigung Deutschlands und damit zum Fall des Eisernen Vorhangs zu gewinnen. Friedrich Bohl war damals erster parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/ CSU Bundestagsfraktion, der in seiner Funktion weitreichenden Einfluss auf allen Ebenen des parlamentarischen Geschehens ausüben konnte: innerfraktionell, innerparlamentarisch, aber auch fraktionsextern. Als engem Vertrauten von Altkanzler Helmut Kohl kam ihm die Rolle des Beraters und Vordenkers zu. Kohl adelte seinen langjährigen Weggefährten als „guten Kameraden“ und als „Zeit- und Tatzeugen für den Euro“. Publizistische Beschreibungen wie „Meister des unausgesprochenen

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Wortes“ oder „Kanzler der Ordnungsmacht“ drücken die Arbeitsteilung und das Verhältnis zwischen Bohl und Kohl am geeignetsten aus. In dieser großen Stunde der Wiedervereinigung arbeiteten Kohl und Bohl eng zusammen. Bohl sprach im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Kohl und Gorbatschow später von einem „Glücksfall für die deutsche Geschichte“1. Ihr gegenseitiges Vertrauen war eine ganz entscheidende Voraussetzung für den friedlichen Verlauf der Annäherung zwischen Ost und West. Michail Gorbatschow trägt einen großen Anteil daran, dass es dann in dieser Phase der Annäherung nicht zu einer Eskalation kam. Vielmehr hatte er die Rahmenbedingungen dafür gestellt und gesetzt, dass diese Entwicklung möglich war. Und der berühmte Spruch von ihm, „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ beim 40. Jahrestag der DDR ist eigentlich im Grunde genommen das Programm, das den Weg hin zur Einheit geebnet hat. Besonders in Leipzig brachen die friedlichen Montagsdemonstrationen den Widerstandswillen der Staatsmacht. Nach einem restriktiven Entwurf eines neuen Reisegesetzes zwang der öffentliche Druck die SED in der Nacht des 9. November 1989 dazu, die Mauer zu öffnen. In den folgenden Stunden und Tagen besuchten Hunderttausende DDR-Bürger den Westteil Berlins und die übrige Bundesrepublik. Die DDR konnte das Streben nach Einheit nun nicht mehr eindämmen. „Nachdem die Meldungen aus Ostberlin einliefen“, beschreibt Bohl den Moment, als die Mauer fiel, „standen alle Bundestagsabgeordneten auf und sangen die dritte Strophe der Nationalhymne. Das vergisst man nicht. Das war eine emotional bewegende Zeit“.2 Die sich überstürzenden Ereignisse in der DDR erhielten eine klare Zielrichtung: die Wiedervereinigung der Bundesrepublik. Am 15. November 1989 sprach der sowjetische Staatspräsident und KPdSU-Chef Michail Gorbatschow vor Studenten in Moskau von der Möglichkeit einer „Wiedervereinigung“ Deutschlands. Damit öffnete sich ein historisches Zeitfenster. Bundeskanzler Kohl begriff dies als einen Appell zum Handeln und ergriff mir Unterstützung von Friedrich Bohl kurz darauf die Initiative zur Überwindung der Teilung Deutschlands. In seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. November 1989 legte er ein „Zehn-PunkteProgramm zur Deutschlandpolitik“ vor. Die Erklärung zählt zweifelsohne zu den bedeutendsten und folgenreichsten Parlamentsreden der deutschen Geschichte. Darin bezeichnete er die „Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands“ als grundlegendes Ziel seiner Regierungspolitik. Das Programm sah Sofortmaßnahmen zugunsten der DDR im humanitären Bereich vor, stellte umfangreiche Wirtschaftshilfe in Aussicht, verlangte aber zugleich von der DDR einen grundlegenden Systemwandel. Von einer Vertragsgemeinschaft 1

Deutschlandfunk Interview mit Friedrich Bohl vom 31. 03. 2014: „Die Menschen wollten zur D-Mark“. 2 Deutschlandfunk Interview mit Friedrich Bohl vom 31. 03. 2014: „Die Menschen wollten zur D-Mark“.

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mit der DDR sollte über eine Konföderation und Föderation schließlich die Einheit Deutschlands erreicht werden. Die zeitliche Perspektive blieb dabei bewusst offen. Die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen waren dafür günstig. In zwei Treffen mit Gorbatschow wurde der Durchbruch erzielt. Die Sowjetunion erkannte das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung und Wiedervereinigung an. In der DDR rief die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nach der deutschen Einheit. Die Parolen bei den Montagsdemonstrationen in der DDR wandelten sich von „Wir sind das Volk!“ zu „Wir sind ein Volk!“. Mit seinem Zehn-Punkte-Plan machte Kohl die deutsche Einheit von einem bloßen Diskussionsthema zu einem Ziel praktischer Politik. Es war ein Katalysator für die Einheit. Bohl erinnerte sich später, sich der Wichtigkeit dieser Erklärung sofort bewusst gewesen zu sein: „Dieser Zehn-Punkte-Plan bedeutete, dass Kohl, dass Deutschland, die Bundesrepublik, sozusagen die Initiative an sich riss und damit natürlich die Agenda und den Fahrplan entscheidend bestimmte und das Ziel deutlich machte, eines Tages wieder in Einheit zu leben. Das war der zweite große Schritt für Europa nach der Gründung.“ Bei mir selbst kamen ganz besonders mit dem 25. Jahrestag die persönlichen Erinnerungen zurück. In der Nacht des 10. November stand ich mit dem heutigen CDUGeneralsekretär Gröhe auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor, ungläubig, glücklich und hilflos. Noch am 11. November 1988 erhielt ich aber von dem EVP-Fraktionsvorsitzenden Klepsch den Auftrag, für die nächste Plenarsitzung des Europäischen Parlaments eine Entschließung zu formulieren und mit den anderen Fraktionen zu verhandeln. Wenige Tage später hatten wir eine große Mehrheit, die den Weg für die deutsche Einheit im EP öffnete. Genau so gelang es später, dass dem Vorschlag des Sonderausschusses „Deutsche Einheit“, in dem ich Sprecher meiner Fraktion war, gefolgt wurde und das Europäische Parlament dem Einigungsvertrag mit einer größeren Mehrheit als der Bundestag zustimmte. Ich erinnere mich noch, dass uns dabei Jacques Delors und der britische Kommissar und gebürtige litauische Jude Leon Brittan, Leo Tindemans und die Auschwitz überlebende Simone Veil intensiv unterstützten, gegen den Widerstand von einigen deutschen Sozialdemokraten, die Lafontaine folgten. Schon damals musste bei ca. 40 Prozent des Einigungsvertrages Europarecht beachtet werden. Deshalb war auch der niederländische Kommissarsbeamte Carlo Trojan, Mitglied der Verhandlungsdelegation von Wolfang Schäuble. Wie der „Kanzler der Einheit“ erlebten die meisten Deutschen die feierliche Öffnung des Brandenburger Tores am 22. Dezember 1989 als eine der „glücklichsten Stunden“ ihres Lebens, die eine Reihe von Ereignissen nach sich zog, die das Gesicht Europas entscheidend veränderten. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der DDR (1. Juli 1990), der Einigungsvertrag (31. August 1990) und der

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„Zwei-plus-Vier-Vertrag“ (12. September 1990) waren die ersten entscheidenden Etappen. Die Begeisterung der Menschen, das Aufziehen von Schwarz-Rot-Gold und das Lied der Deutschen ließen bei uns alle Dämme in der Nacht zum 3. Oktober 1990, knapp 11 Monate nach dem Fall der Mauer, brechen. Ich sah, wie ein weinender Willy Brandt Helmut Kohl die Hand gab und etwas sagte. Später hörte ich, was es war: „Danke, Herr Bundeskanzler!“ Dieser Dank wird in der deutschen Geschichte Bestand haben. IV. Europäische Integration im Zeichen der Wiedervereinigung Die Ära Kohl überzeugte in dieser Zeit mit einem Ja zum freien, demokratischen und wohlhabenden Europa. Mochten auch die Staaten Ost- und Mittelosteuropas über 40 Jahre abgeschnitten sein, so lebten ihre Bewohner doch im Geiste in Europa. Sie hatten es eigentlich nie verlassen. Und so war die Wiedervereinigung Deutschlands so etwas wie der zweite Gründungsakt Europas, ein nachgeholter Beitritt für jenen Teil des Kontinents, der einfach nicht von Anfang an dabei sein konnte. Es war zugleich eine qualitative Erweiterung für Europa. So wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem ein Friedensprojekt gewesen war, so war es nach 1989 vor allem ein Freiheitsprojekt. Als 1990 über die deutsche Einheit verhandelt wurde, trug die europapolitische Zuverlässigkeit der Regierung Kohl viel dazu bei, die bei manchen Nachbarn bestehenden Vorbehalte gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands zu überwinden. Er überzeugte, dass sie es nun mit einem Deutschland zu tun haben würden, welches fest eingebunden in die Familie der europäischen Nachbarn ist. Mit dem Schlagwort der „zwei Seiten derselben Medaille“ wurde von Anfang an die gegenseitige Bedingung von deutscher Einheit und europäischer Einigung gestellt. Aber auch das Europäische Parlament reagierte auf diese Vorbehalte, indem es in oben angesprochener Entschließung vom 23. November erklärte, dass „alle Völker Europas im Geiste der Helsinki-Schlussakte, auch das polnische Volk, das Recht haben, auch zukünftig gesichert in ihren gegenwärtigen Grenzen zu leben“. Wie auch schon seine Vorgänger wurde auch Bohl 1991 zum Bundesminister für besondere Aufgaben ernannt. Dem Kanzler direkt unterstellt bildete er eine personelle Brücke zwischen Bundesregierung und Bundestag und steuerte in dieser Funktion effektiv wie unauffällig aus dem Hintergrund den Regierungsapparat. Kaum eine politische Fragestellung lief nicht über seinen Schreibtisch. In seiner neuen Funktion baute Friedrich Bohl auf juristischem Fachwissen und auf seinen parlamentarischen Erfahrungen auf, die er in der politisch entscheidenden Phase der Wiedervereinigung gemacht hatte. Diese sollte ihm zugutekommen, denn nur einige Jahre danach stand

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neben der Ausgestaltung der Einheit auch die Einbettung dieses Prozesses in europäische Zusammenhänge im Vordergrund.3 Insgesamt war Friedrich Bohl wohl einer der erfolgreichsten Kanzleramtsminister in der Geschichte Deutschlands, da er durch seine Fähigkeiten und Erfahrungen die Effektivierung der Regierungsarbeit erreichen konnte. In der gesamten Zeit vor und nach der Wiedervereinigung wirkte Bohl an der Seite von Kohl direkt am politischen Geschehen mit, war einflussreich als Vermittler, Koordinator und Moderator.4 Für Helmut Kohl und Friedrich Bohl war die europäische Integration gleichermaßen Fundament und Orientierungsgröße. Es ging ihnen nicht nur um die Weiterentwicklung Europas in Richtung Politische Union, sondern auch um die Friedenssicherung im engen Zusammenhang mit der Westbindung und der Deutschlandpolitik. Die friedliche Weiterentwicklung des vereinten Deutschlands im Rahmen einer freiheitlichen europäischen Zukunftsordnung war für Bohl stets das fundamentale Ziel: „Die EU ist die beste Gewähr dafür, dass uns Frieden und Freiheit in Deutschland auch im 21. Jahrhundert erhalten bleiben. Deswegen muss es unser gemeinsames Ziel sein, das europäische Werk unumkehrbar zu machen! Wir sind auf einem guten Weg dorthin!“5 Robert Schuman sagte einst, sich der schwierigen Situation bewusst, in der die Europäische Gemeinschaft entstand: „l’Europe ne se fera pas d’un seul coup“. Er glaubte daran, dass Europa Ziele braucht, um sich stetig zu entwickeln. Er sollte Recht behalten, denn das hat sich nach der Wende und bis heute nicht geändert. Die Europäische Integration vollzieht sich in kleinen und großen Schritten und passt sich den globalen und geschichtlichen Entwicklungen an. Die Regierung des geeinten Deutschlands setzte sich dabei nicht nur für die Fortsetzung des seit Konrad Adenauer betriebenen Einigungsprozesses Westeuropas ein, sondern unterstützte auch die Erweiterung der Integration nach Osten. In Einheit widmete sich Deutschland von nun an den im Grundgesetz verankerten – aber sich im Ost-West-Konflikt ausschließenden – Grundsätzen: nämlich der Vollendung der deutschen Einheit und der europäischen Einigung. In der Präambel des Grundgesetzes wurde als Verfassungsauftrag formuliert, „die nationale und staatliche Einheit zu bewahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen“. Art. 24 GG sieht die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen vor, wobei der Bund in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen kann, „die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern“. Die „zwei Sei-

3 Hermann Groß/Friedrich Bohl, in: Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949 – 1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen. 2001, S. 154 ff. 4 Groß (Anm. 3), in: Kempf/Merz, S. 157. 5 „Der Föderalismus als Ordnungsprinzip der Freiheit“. Ansprache von Bundesminister Bohl zum Wechsel im Amt des Präsidenten des Bundesrates, 13. 11. 1995.

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ten einer Medaille“ wurden damit in die deutsche Verfassung gegossen – der Weg der europäischen Integration war nun für die wiedervereinte Bundesrepublik frei. Der Fall der Mauer öffnet für den europäischen Kontinent Chancen neuer Kooperationen und Blickrichtungen. Mit dem Umbruch in Mittel- und Osteuropa erhält die Politik der europäischen Integration eine neue Dimension. Die „Charta von Paris“ der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) verkündet das Programm für ein „neues Europa“ (1990). Eine der wichtigsten Aufgabe war es nun, die Reformstaaten an die Europäische Gemeinschaft heranzuführen. Dabei zielte die Kohl’sche Politik darauf ab, das wirtschaftliche West-Ost-Gefälle in Europa zu überwinden. Der Aussöhnung Deutschlands mit Polen kam dabei besondere Bedeutung zu. Aussöhnungs- und Freundschaftsverträge mit Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, auch mit der Sowjetunion, wurden geschlossen. Von nun an gehörte die Bundesregierung in den folgenden Jahren zu den maßgeblichen Förderern einer Osterweiterung der EU, um den Transformationsprozess in den mittel- und osteuropäischen Staaten zu unterstützen, die ökonomische Angleichung zu beschleunigen und Grundlagen für eine neue gesamteuropäische Architektur zu schaffen, die im Jahre 2004 zur großen Erweiterung der EU führte. Endlich saßen Abgeordnete aus Deutschland, Frankreich und Holland mit Abgeordneten aus Polen, Tschechien und Ungarn an einem Tisch im EU-Parlament. Das hätte vor den Veränderungen im Jahre 1989/1990 niemand für möglich gehalten. Gerade die Versöhnung mit Polen, das so viel auch unter Deutschland gelitten hatte und durch Solidarnosc, Lech Walesa und Johannes Paul II. doch erst die deutsche Einheit möglich gemacht hatte, war Kern der Politik der Bundesregierung. Ihre ganze europapolitische Aktivität ordnete die Bundesregierung nach der Wiedervereinigung dem Ziel einer Vertiefung der Integration in die geplante Richtung einer Wirtschafts- und Währungsunion unter und übernahm damit die Rolle eines „Integrationsgenerators“. Die offenen Grenzen boten bereits eine wichtige Voraussetzung für ein einheitliches Europa. Einen wesentlichen Schritt zur Neuordnung der EU stellte aber der Vertrag von Maastricht dar, der am 7. Februar 1992 unterzeichnet wurde und am 1. November 1993 in Kraft trat. Mit ihm wurde nicht nur stufenweise die seit langem angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion verwirklicht, zu der ein zuvor verwirklichter gemeinsamer europäischer Binnenmarkt, der Euro als gemeinsame Währung und die nach dem Modell der Deutschen Bundesbank konzipierte Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main gehörten. Der Bundesregierung lag damals insbesondere die Einführung des Euros zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Einheit der EU am Herzen. „Die wirtschaftliche Konkurrenz ist im 21. Jahrhundert weltweit. Eine Vielzahl von Währungen und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen können wir uns als Europäer in dieser Konkurrenz nicht mehr leisten“,6 sagte Fried6 Rede von Bundesminister Bohl in Düsseldorf beim Kongress des Sachverständigenrates „Schlanker Staat“ am 19. 2. 1997.

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rich Bohl einmal im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion. Kohl hatte schon 1988 auf dem EU-Gipfel in Hannover mit der Einsetzung eine Kommission von Zentralbankchefs unter der Leitung von Delors den Weg zur EWWU geebnet. Deshalb ist die Behauptung, der Euro sei der Preis für die Einheit gewesen, eine historische Lüge. Die Gemeinschaft erhielt mehr Zuständigkeiten in den Bereichen Umwelt, Forschung, Industrie und Kohäsionspolitik. Was die Gesetzgebung betrifft, so wurde dem Europäischen Parlament mit der Einführung des Verfahrens der Mitentscheidung die Befugnis übertragen, Rechtsakte gemeinsam mit dem Rat zu erlassen. Die Verfahren der Zustimmung und der Zusammenarbeit wurden – ebenso wie die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat – auf weitere Bereiche ausgedehnt. Für das Europäische Parlament, die direkt gewählte Vertretung der EU-Bürger, war dies ein großer Schritt wie auch schon die „Einheitliche Akte“ im Jahre 1986 als Rechtsgrundlage für den Binnenmarkt. Auch außenpolitisch zeigt Europa nach der Wiedervereinigung ein völlig neues Gesicht. Die Auflösung des Warschauer Paktes zwingt die EU, sich nicht nur Gedanken über eine Abrüstung in Europa zu machen, sondern auch den EU-Bürgern durch eine gemeinsame Sicherheitspolitik Frieden zu gewährleisten. Mit dem Ausbruch der Balkan-Kriege wird der EU endgültig der Spiegel ihrer außenpolitischen Uneinigkeit vorgehalten. Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Außenpolitik ist jetzt nicht einfach nur da, sondern akut. Mit dem Vertrag von Maastricht wird als eine der drei Säulen daher die GASP eingeführt. Sie umfasst die Mechanismen und den Besitzstand der EPZ und entwickelt sie weiter zur gemeinsamen Politik auf dem Gebiet der Sicherheit und Verteidigung. In seiner Rede auf dem Parteitag der CDU im Jahre 1992 betonte Kohl im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, dass „der Vertrag von Maastricht nicht nur eine die Antwort auf den Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur in Mittel-, Ost-, und Südeuropa ist. Wir übernehmen damit auch mehr Verantwortung für den ganzen europäischen Kontinent“.7 Gleichzeitig war es ein deutlich Signal an unsere Nachbarn und Partner in der Welt: Die EU entwickelte sich zu einem Global Player. Im Vertrag von Maastricht wurden in einem großen politischen Wurf die wichtigsten Pfeiler verbindlich fixiert, die die EU heute noch im Kern ausmachen. Die Politische Union, zu der sich Deutschland 1990 politisch verpflichtet hatte, dagegen blieb jedoch weitgehend Vision. In der Folgezeit wurde deutlich, dass sie in Etappen, Teilschritten und auf anderen Grundlagen zu entwickeln sein würde. Deutschland setzte sich deshalb in den Verhandlungen zu den Verträgen von Amsterdam und Nizza sowie im Verfassungskonvent für eine schrittweise Anpassung und Weiterentwicklung des institutionellen Gefüges, eine Klärung der Zuständigkeiten und entspre7 Martin Jerˇábek, Deutschland und die Osterweiterung der Europäischen Union, 2011, S. 108 – 109.

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chende Erweiterungen der demokratischen Qualität von EU-Entscheidungen ein. Unter anderem mit der Durchsetzung des gleichberechtigten Mitentscheidungsverfahrens für das Europäische Parlament im Vertrag von Amsterdam sowie seiner Ausweitung in den Verträgen von Nizza und Lissabon wurde die Demokratielücke der EU fast vollständig geschlossen. Die große Erweiterung in den Jahren 2004 und 2007 brachte eine weitere Veränderung. Die EU war nun zu einer großen, starken Familie gewachsen. Doch während die Menschen sich freuten, unter dem Dach des Hauses der EU wieder vereint zu sein, waren die Strukturen der EU-Institutionen nicht auf die große Erweiterung vorbereitet. Jean Monnet brachte es damals im Zusammenhang mit der Errichtung der EWG richtig zum Ausdruck, als er sagte: „Nichts ist unmöglich ohne die Menschen, nichts dauerhaft ohne die Institutionen.“ Die EU stand damals vor der Herausforderung, die Beschluss- und Handlungsfähigkeit der EU mit so vielen Mitgliedstaaten zu gewährleisten und damit Herausforderungen wie Globalisierung, Klimawandel, Energiesicherheit, äußere Sicherheit und Migration adäquat zu begegnen. Nach dem 2005 gescheiterten Verfassungsvertrag wagte die EU mit dem Vertrag von Lissabon einen neuen Schritt in Richtung weiterer Integration in Europa, dessen intensivste Vorbereitungen unter die deutsche Ratspräsidentschaft fielen. Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags im Dezember 2009 schließt sich der Kreis intensiver Verhandlungen. Die deutsche Europapolitik hat in allen Stationen dieses Prozesses eine tragende Rolle gespielt: Es war die von Deutschland mitinitiierte Konzeption einer Europäischen Union, die neben der Wirtschafts- und Währungsunion auch auf eine vertiefte und handlungsfähige Politische Union zielte. Was zu Beginn aussah wie eine „Notlösung“, wurde zu einem zukunftsfähigen substanziellen Vertrag, der neben einer Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen und Regelungen zur Außen- und Sicherheitspolitik auch die Einführung der einheitlichen Rechtspersönlichkeit und die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte beinhaltete. Die EU wurde durch den Hohen Vertreter und den ihm zur Seite stehenden diplomatischen Dienst handlungsfähiger. Der Hohe Vertreter wurde zum Gesicht der EU in der Welt und vertritt seither die Interessen der EU in Drittstaaten. Das Europäische Parlament wurde durch den Nizza- und den Lissabon-Vertrag zum gleichberechtigten Gesetzgeber mit dem Rat und demokratischer. Heute wählt das Europäische Parlament den Kommissionspräsidenten und die Kommission. Die nationalen Parlamente wurden gestärkt, indem sie ein besseres Kontrollrecht bei Subsidiaritätsverstößen erhielten. Das Vertragswerk ebnete den Weg für ein demokratisches Europa, das die Instrumente zur Verfügung hat, um der Vielzahl der inner- und außenpolitischen Herausforderungen erfolgreich meistern zu können – und das mit heute 28 Mitgliedstaaten! Die deutsche Ratspräsidentschaft unter Angela Merkel hatte es sich mit dem Reformvertrag von Lissabon nicht nur zum Ziel gemacht, die EU institutionell zu stärken, sondern die europäische Integration wieder in den ihr zustehenden primären Politik-Rang zu heben und das Projekt Europa in die Herzen der europäischen Bürge-

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rinnen und Bürger zurückzubringen. Die EU ist nicht nur politisch-technischer Natur, sondern eine Gemeinschaft von Werten mit gemeinsamer Identität. Um Mitgliedsländer und EU-Bürger erneut für die Europaperspektive zu begeistern, war es ein Vorteil, dass die EU 2007 das 50-jährige Jubiläum ihrer Geburtsstunde, der Unterzeichnung der Römischen Verträge, feierte und die Staats- und Regierungschefs der EU aus diesem Anlass die Berliner Erklärung Unterzeichneten. Diese ist im Zuge der Vorbereitungen zum Vertrag von Lissabon zu einer ambitionierten Deklaration unserer gemeinsamen Identität, der europäischen Erfolgsgeschichte und des Willens einer gemeinsamen Zukunft geworden. Als Verhandlung des Europäischen Parlaments in allen Regierungskonferenzen seit Maastricht habe ich als EVP-Fraktionsvorsitzender im Verfassungskonvent die grundsätzliche Kontinuität des CDU-Bundeskanzlers rühmen gelernt. Meine Zusammenarbeit mit Bohl beim Vertrag von Amsterdam steht dabei ganz oben in der Erinnerung. V. Schlussbetrachtungen Wir müssten uns nur einmal vorstellen, was Robert Schuman sagen würde, wenn er die EU von heute sehen könnte. Er würde sich umschauen und sich nach über sechzig Jahren die Frage stellen, ob das Projekt EU nach wie vor seine Gültigkeit besitzt und ob die ursprünglichen Gründe hierfür nach wie vor bestehen. Er würde zu dem Entschluss kommen, dass die Vision der Gründerväter der EU heute der Realität sehr nahe kommt. Wir leben in einem Raum des Friedens, der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit, Schulter an Schulter mit unseren Nachbarn, mit denen wir uns zuvor über Jahrhunderte lang bekriegt haben. Wir sind unseren Nachbarn näher als je zuvor. Wir können grenzenlos reisen und arbeiten, die junge Generation kann grenzenlos in Europa studieren. Wir haben einen Binnenmarkt geschaffen und eine einheitliche Währung. Robert Schuman wäre stolz. Er würde gleichzeitig anmerken, dass die Notwendigkeit, die Begründung für das europäische Projekt zu erbringen, aufgrund der aktuellen Herausforderungen heute wie damals Bestand hat. Der Frieden und die Stabilität bleiben dabei immer primäre Anliegen. Es ist wichtig, dass nie vergessen wird, was Francois Mitterrand ausgerufen hat: „Nationalismus – das ist Krieg, und wir wollen Frieden.“ Das vereinte Europa, das ist Frieden in gegenseitiger Achtung und Freundschaft. Was lange Zeit als ein Satz aus Sonntagsreden verhöhnt wurde, hat heute wieder mehr an Aktualität gewonnen als in den vergangenen 60 Jahren. Mit der Krise in der Ukraine erleben wir gerade Krieg in unserer direkten Nachbarschaft. Weitere Krisenherde befinden sich im Nahen Osten und berühren die EU nicht zuletzt aufgrund der Flüchtlingsströme, die in den Ländern der EU Zuflucht suchen. Mit Schmerzen hat die EU die Finanzkrise abgewehrt, sich tiefer integriert und sich nicht zerreißen lassen.

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Die globalisierte Welt wird die EU in Zukunft zunehmender fordern und angesichts der weltweiten Krisen und Kriege wird die Kompromissfähigkeit der EU-Staaten gefragt sein. An einem gemeinsamen Tisch mit großen Akteuren wie China, USA und Indien werden wir nur gehört, wenn wir mit einer gemeinsamen Stimme sprechen. Anders kann man fragen: Werden einzelne Mitgliedstaaten zu dieser Tischrunde überhaupt eingeladen? Wenn wir zu den Konstrukteuren unserer eigenen Zukunft gehören wollen, müssen wir uns zusammenschließen und das fortsetzen, was neben Schuman und Kohl viele andere in Gang gesetzt und bewegt haben: wir müssen das europäische Projekt vertiefen, fortsetzen, konsolidieren und verbessern. Das bedeutet mehr Demokratie im Innern, effizientere Verfahren, die Nutzung der Gemeinschaftsmethode. Nur so können wir den Kern des Projektes Europa wieder ins Bewusstsein unserer Bürger rücken, die freie Grenzen, Frieden und Wohlfahrt heute als selbstverständlich wahrnehmen. Friedrich Bohl sagte einmal ganz treffend: „Europa wird ja weltweit als eine Insel des Glücks wahrgenommen. Nur wir selbst auf dieser Insel reden schlecht von dieser Insel. Was ja nicht heißt, dass es keine Schattenseiten gibt, aber man muss ja nicht von einem Extrem ins andere verfallen.“ Wir müssen aufhören, uns in Detailregelungen zu verkeilen und uns stattdessen wieder den großen Themen widmen. Die Instrumente des Vertrags von Lissabon müssen wir besser nutzen, denn diese machen uns mit dem Hohen Vertreter, dem Europäischen diplomatischen Dienst und einer größeren Befähigung zu Mehrheitsentscheidungen zu Handlungsträgern und nicht bloß Zuschauern. Dabei ist entscheidend, dass nach wie vor das Gebot der Subsidiarität gilt und damit Entscheidungen möglichst nah an den Bürgern getroffen werden. Dies gewährt auch, dass die Vielfalt und Unterschiedlichkeit gewahrt wird. Wie de Gaulle einst sagte: „Europa soll die Völker nicht zu einem Kastanienmus zerkleinern“. Vergemeinschaften bedeutet schließlich nicht fusionieren. Europa ist nicht der Ort der kleinen Dinge. Jedes große Thema der Gesellschaften auf dem Kontinent enthält zugleich eine Anfrage an den Gestaltungsbeitrag der EU. Die EU ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Diese Erkenntnis führt uns zurück auf die Worte Robert Schumans im Jahre 1952: „Der Weltfrieden kann nicht erhalten bleiben ohne Neuschöpfungen, die den Gefahren der Zeit begegnen. Der Beitrag eines vereinigten und lebendigen Europas wird einen unentbehrlichen Bestandteil einer geordneten Weltgemeinschaft darstellen.“ Und dabei dürfen wir nicht vergessen, dass – bei aller Kritik im Kleinen – das Bündnis mit den USA für Freiheit und kollektive Sicherheit Europas Bedingung für die gute Entwicklung war und ist.

Europa weiter denken Von Wolfgang Schüssel Es ist mir eine Freude, anlässlich seines 70. Geburtstages für Friedrich Bohl einen Beitrag über Europa in dieser Festschrift zu gestalten. Friedrich Bohl – ein herausragender Parlamentarier (10 Jahre im hessischen Landtag und 22 Jahre im deutschen Bundestag), Minister und Europäer an der Seite Helmut Kohls, ein wertebewusster moderner Konservativer, dem die Zukunft der Union und unserer Gesellschaftsordnung seit jeher besonders am Herzen liegt. Wir leben ja in einer spannenden und entscheidenden Zeitenwende. Die Entwicklungen, ja auch die Krisen der vergangenen Jahre stellten die Europäische Union zweifelsohne vor neue und große Herausforderungen. Die notwendigen Maßnahmen verlangten allen Mitgliedsstaaten und ihren Bürgern viel ab. Jene Länder, die unter den Rettungsschirm flüchteten, mussten strenge Auflagen hinnehmen und sehr harte Reformschritte setzen. Griechenland erreichte dadurch eine Konsolidierung seines Staatshaushaltes um 16 % des Bruttoinlandprodukts (BIP); Portugal schaffte 8 %, Irland 6 %. Solche Sanierungsanstrengungen waren bisher kaum bekannt. Die folgende tiefe Rezession kostete bis zu 20 % der Wirtschaftskraft. Die Hilfe leistenden Länder hatten andererseits Garantien und Unterstützungen in gewaltigen dreistelligen Milliardensummen (über 700 Mrd. E) im eigenen Land zu verteidigen, was angesichts ihrer eigener Konsolidierungsanstrengungen nicht ganz einfach war. 17 Regierungen wurden dafür bei nationalen Wahlen abgewählt. Auch die Wahl zum Europäischen Parlament Mai 2014 war ein Erdbeben. Dennoch gilt: der Weg der Konsolidierung und zum langfristigen Abbau der Staatsschulden ist richtig und unabdingbar. Angesichts der schwierigen Verhandlungen rund um die notwendigen Hilfspakete fordern immer wieder manche Stimmen hartnäckig und lautstark ein Kerneuropa oder zumindest mehrere Eurozonen; andere schlugen den Austritt oder gar den Hinauswurf einzelner Länder aus der Eurozone vor. Während in Sonntagsreden „mehr Europa“ beschworen wurde, traten die Risse und Trennlinien im europäischen Einigungswerk immer deutlicher zutage. Das drohende „In/Out“-Referendum Großbritanniens über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Welche Ideen, Strategien, Argumente könnten aber Europa wieder auf einen erfolgreichen und gemeinsamen Weg führen?

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Erweiterung Trotz der Unkenrufe und Warnungen kann unser Heil nie in einem Rückzug liegen. Die Zukunft gehört vielmehr jenen Ländern, die sich öffnen. Österreich erwirtschaftet 60 % seiner Wirtschaftsleistung heute im Ausland, Schweiz und Deutschland rund 50 %. Ein starkes Europa bleibt natürlich weiterhin als funktionierender Heimmarkt für 505 Millionen Menschen von überragender Bedeutung für uns. Wer sich hier auskennt, Chancen ergreift und Partner findet, profitiert. Alle, auch die großen Mitglieder der Union sind im Weltmaßstab ja nur KMS – kleine/mittlere Staaten – und jeder würde auf sich allein gestellt nur eine sehr überschaubare Rolle auf der globalen Bühne einnehmen können. Das hängt mit der Bevölkerungszahl, aber auch mit der Alterungsstruktur unserer Gesellschaft zusammen. Selbst die Union als Ganzes wird in zwei Dekaden gerade noch 5 % der Weltbevölkerung stellen; die geballte Wirtschaftskraft ganz Europas wird unter 20 % des globalen GDP sinken. Also bleibt als einzig sinnvolle Strategie nur das Zusammenrücken der Mitgliedsländer. Der Beitritt zur Europäischen Union 1995 hat Österreich – genauso wie allen anderen Mitgliedsstaaten – übrigens sehr gut getan und viele Türen der Wirtschaft weit geöffnet. Seither haben wir einen Wachstumsschub von ca. 1,5 – 2 % pro Jahr bekommen. Aber auch die folgenden Beitritte 2004, 2007 und 2013 sind positive Kapitel in der Geschichte Europas. Und besonders kleine oder mittlere Staaten wie Österreich müssen sich unter dem Motto „think big“ in diesem größeren Ganzen aktiv und selbstbewusst positionieren. Eine europäische Weiterentwicklung ist notwendig. Natürlich ist Europa kein Fahrrad (das umfällt, wenn man stehenbleibt). Immerhin gibt es ja einen Fahrer, der darauf achten sollte. Aber es ist wichtig, kommende Entwicklungen vorauszuahnen und sich darauf einzustellen. Wer immer nur in den Rückspiegel geschichtlicher Vorurteile blickt, wird leicht die Zukunft verpassen. Vor 50 Jahren warnte der französische Präsident Charles de Gaulle eindringlich davor, Großbritannien den Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu ermöglichen. Dahinter stand seine Sorge, dass ein Beitritt Großbritanniens den Machtstatus Frankreichs schmälern und das Gleichgewicht in der EWG verändern würde. De Gaulle wollte zuerst die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik für die sechs EWG-Staaten entwickeln, scheiterte jedoch mit dieser Idee. In der Nachbetrachtung geradezu humorig lesen sich die Argumente dieses großen Franzosen. In einer Presserklärung im Jänner 1963 erklärte De Gaulle unter anderem, Großbritannien sei „insular, maritim, durch Handel und Märkte den verschiedenartigsten und häufig weit auseinanderliegenden Ländern verbunden“. Zudem habe Großbritannien „in all seinem Tun sehr eigenwillige Gewohnheiten und Traditionen“. Der Beitritt Großbritanniens zur EWG wurde so für ein ganzes Jahrzehnt blockiert. Und auch die Verhandlungen mit Norwegen, Dänemark und Irland wurden ein paar Wochen nach de Gaulles Erklärung ergebnislos abgebrochen. Seine Argumente sind aber in der EU heute manchmal präsenter denn je – denken wir nur an manche Politiker-Aussage vor der letzten Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2014.

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Was 1957 mit Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Deutschland begann, war sicher leichter zu koordinieren als die gegenwärtige Union mit 28 Mitgliedsstaaten. Natürlich ist es einfacher, mit sechs Partnern zu verhandeln; die Tagesordnungen sind knapper und die Sitzungen kürzer. Aber der Traum eines „United Europe“ – friedlich verbunden und nicht militärisch von oben erzwungen, sondern durch freie Entscheidung der Völker ermöglicht; nicht zentralistisch aufgebaut, sondern nach dem Subsidiaritätsprinzip organisiert – dieser Traum lebt weiter. Er ist es wert, bei aller heutigen Unvollkommenheit umgesetzt zu werden. Das gilt selbstverständlich auch für die noch offenen Beitritte etwa der Balkanländer. Ein klares Signal in Richtung Kontinuität der europäischen Einigung bleibt wichtig. Kandidatenländer, welche die Beitrittskriterien erfüllen, müssen auch weiterhin eine klare Beitrittschance haben!

Das Ansehen Europas Ein weiterer Faktor ist das Ansehen Europas in der Bevölkerung. Warum fällt es uns derzeit so schwer, die Evolution zu einem geeinten Europa als das zu erklären, was sie ist, nämlich als beispiellose Erfolgsgeschichte? Besorgniserregend ist das schwindende Ansehen und Vertrauen der Union und ihrer Institutionen bei den europäischen Bürgern – vor allem wenn man den längerfristigen Trend ins Auge fasst. Vor allem seit Beginn der Finanzkrise hat sich das EUImage dramatisch verschlechtert. Das Vertrauen in die Union lag im Herbst 2004 noch bei 50 %; Ende 2013 nur mehr bei 31 % (Eurobarometer 2013). Der Philosoph Peter Sloterdijk verglich die EU anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises 2013 sogar mit einem Campingplatz am Rande der österreichischen Alpen, auf dem es seit Wochen in Strömen regnet: „Wir haben unseren ganzen Urlaub in eine einzige Tiefdruckzone investiert. Längst hat man den Punkt erreicht, von dem an man schlechtes Wetter persönlich nimmt. Und genau da sieht man ihn in seiner wahren Natur, den Europäer von 2013, den verbitterten Urlauber, der unterm triefenden Vordach sitzt und sich den Schilling zurück wünscht oder die Peseta oder die D-Mark, jeder für sich in seinem durchnässten Anhänger isoliert.“ Sloterdijks Metapher trifft eines der europäischen Probleme zielsicher im Kern: Das Imagedefizit der EU, der Mangel an europäischer Öffentlichkeit. Nationale Medien berichten über Maßnahmen, Verhandlungen und Ergebnisse auf EU Ebene immer aus nationaler Sicht. Auch die meisten Bürger bewerten jedes Ergebnis, jede Norm und jede Idee aus nationalstaatlicher Sicht. Die Frage „was ist für uns drinnen?“ dominiert. Die Idee Europas ist längst von Kopf und Herz ins Portemonnaie gerutscht. Auch die Menschen in den Beitrittsländern haben oft die Vorteile vergessen, die ihnen das „Ja zu Europa“ brachte. Vom Norden Finnlands kann man bis in den Süden Griechenlands, von der Atlantikküste Portugals bis an die Schwarzmeerküste Rumäniens reisen, ohne einmal nach dem Reisepass zu greifen zu müssen. Im größten Teil Europas wird mit unserer einheitlichen Währung bezahlt. Auf das Paket

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eines Modeherstellers aus Spanien wird in ganz Europa kein Zoll mehr eingehoben. Wer im Inland keine passende Studienrichtung findet, darf sich an den Universitäten von 27 weiteren Staaten umsehen; das Sommerpraktikum im Ausland wird ohne großen Papierkrieg abgewickelt. Drei Millionen Studenten konnten bisher am ErasmusAustausch teilnehmen. Was ist zu tun, damit auf unserem Campingplatz am Rande der Alpen wieder die Sonne aufgeht? Genügen ein verstärkter Dialog mit den Bürgern, bessere PR, mehr Erklärungen europäischer Entscheidungen? Reicht der Hinweis auf die leidvolle Geschichte des Kontinents, der Besuch der Friedhöfe, auf denen ein Viertel bis ein Drittel der jugendlichen Jahrgänge beider Weltkriege ruhen? 2014 jährte sich zum hundertsten Mal der tragische Ausbruch eines Gemetzels mit 20 Millionen Toten, gefolgt von einem noch schrecklicheren Weltbrand, der 70 Millionen Opfer forderte. Nichts ist selbstverständlich, nichts bleibt ewig gesichert, wenn es nicht immer und immer wieder aufs Neue begründet und ins gemeinsame Gedächtnis gerufen wird. Aber genauso, nein – noch wichtiger ist der Verweis auf das Kommende, Neue, Unvorhergesehene unseres Jahrhunderts. Es wird uns eine weitere Beschleunigung der technischen, kommunikativen, sozialen Entwicklungen bringen, die alles in den Schatten stellt, was wir bisher erlebten. Wenn Europa hier nicht deutlich zurückfallen will, muss es die – immer noch starken – Kräfte bündeln und vereinen. „Pooling and Sharing“ heißt dies im üblichen Newspeak und erfordert eine ziemliche Anstrengung der EU-Institutionen, aber auch und vor allem der nationalen Politik. Denn da gilt es sensible Balancen zu wahren. Was muss wirklich auf EU-Ebene geregelt und koordiniert werden und was bleibt subsidiär den Regionen oder Mitgliedstaaten überlassen? Es wird echte Führungskraft erfordern, um privilegierte Besitzstände zu hinterfragen, lokale/branchenbezogene Lobbies zu überwinden und vor allem eine europäische Öffentlichkeit und Willensbildung zu ermöglichen. Das lässt sich nicht einfach nach oben an eine abstrakte EU-Ebene delegieren – vor allem die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, aber auch nationale Volksvertreter und Regierungen sind gefragt. Und selbstverständlich dürfen sich die Medien nicht einfach davonmachen. Wer einen europäischen „Demos“, eine europäische Öffentlichkeit will, muss auch dazu positiv beitragen. Eine breitere Berichterstattung über alles, was in der Europäischen Union angedacht, diskutiert und beschlossen wird – z. B. mit kurzer Sendezeit vor den nationalen Abendnachrichten könnte Abhilfe schaffen, in vielen Staaten sollten auch die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten ihre Europa-Defizite beheben. Die im Brüsseler Pressekorps akkreditierten 1200 Journalisten sind eigentlich Botschafter Europas nach innen. Einen entscheidenden Anstoß gab der Vertrag von Maastricht 1993. Allein von 1995 bis 1997 stieg die Zahl der Artikel mit EU-Inhalten um 60 %. Den personellen Höchststand erreichte das Korps aber schon Mitte der 2000er-Jahre. Danach schrumpfte es mitunter auf eine dreistellige Zahl. Nur die Hälfte der 16 österreichischen Tageszeitungen verfügt über solche Redakteure. In an-

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deren Mitgliedsstaaten ist die Lage kaum besser. Vor allem jene Gazetten, die am meisten Stimmung gegen die Europäische Union machen, verzichten auf authentische Informationen. Der Austro-Boulevard von „Krone“ und bis „heute“ befindet sich dabei in bester Revolverblatt-Gesellschaft. Kaum ein Titel der „Yellow Press“ leistet sich Exklusivinformanten aus Brüssel. Die deutsche „Bild“ ist eine Ausnahme. Vorbildlich wirkt die Schweiz; dieser Nicht-EU-Staat hat mehr Korrespondenten in Brüssel als Österreich. Führung statt Vakuum Wie viel „leadership“ braucht Europa? Und wer soll führen? „Why everybody loves to hate Angela Merkel“ titelte die „Times“ im Sommer 2012. Am Tag nach der erfolgreichen Bundestagswahl 2013 leitete Roger Cohen seinen Kommentar „Merkel the Great“ in den New York Times mit der Passage ein: „Henry Kissinger famously asked what Europe’s phone number is. Well, now he knows: Dial Angela Merkel“. Ist es aber wirklich so, dass eine einzige Person, ein einziges Land die EU dominiert und den Kurs diktiert? Klar, Deutschland ist mit 16 % der Bevölkerung, mit 13 % der Abgeordneten und mit 21 % des BIP das größte Land in der Europäischen Union. Aber selbst die Bundesrepublik ist nur „Minderheitsaktionär“, weit weg selbst von einer Sperrminorität bei europäischen Entscheidungen. Deutschland kann nichts alleine in der Union bestimmen, selbst dann nicht, wenn es sich vorher mit anderen großen Mitgliedsstaaten wie Großbritannien oder Frankreich abspricht. Wieso wird die deutsche Kanzlerin dennoch als Anführerin in Europa wahrgenommen? Der Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung an der LudwigMaximilians-Universität München, Prof. Werner Weidenfeld formulierte in einem Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung so: „Die Führungsfrage ist bis jetzt ungeklärt. Beobachtern bleibt die Spannung zwischen dem Präsidenten des Europäischen Rates, dem Präsidenten des Ministerrats, dem Präsidenten der EU-Kommission, dem Vorsitzenden des Euro-Rates, den Sprechern des Europäischen Parlaments, den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und je nach Aufgabe zusätzlich dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank und der Hohen Repräsentantin für Außenpolitik nicht verborgen. Aber wer hat für welche Aufgabe die Führungsverantwortung? Diese Frage kann niemand beantworten.“ Dies zeigt vor allem: Ein Herumreichen des schwarzen Peters ist jedenfalls keine Strategie, die aus der Vertrauenskrise herausführt, eine klarere Kompetenzzuordnung könnte jedoch viel zum besseren Verständnis für europäische Entscheidungen beitragen. Zur Verbesserung der demokratischen Legitimität vertreten manche die Auffassung, eine Direktwahl von Spitzen der Europäischen Institutionen (in Verbindung mit der Wahl zum Europäischen Parlament) würde die Klammer mit der Öffentlichkeit deutlich stärken. Dabei übersehen manche die problematischen Konsequenzen einer solchen Idee. Die Suche nach der besten Person an der Spitze der Kommission, even-

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tuell auch des Europäischen Rats, wird so auf Partei-Kandidaten der EVP, der Sozialdemokraten, der Liberalen oder Grünen reduziert. Eine Politisierung im parteiischen Sinn ist die Folge. Hervorragend geeignete Kandidaten ohne parteipolitische Zuordnung hätten keine Chance – Jaques Delors wäre so nicht möglich gewesen. Überdies hätten Personen aus großen Ländern entscheidende Vorteile, da viele Kandidaten voraussichtlich eher nach ihrer Nationalität als nach ihren politischen Vorstellungen beurteilt werden würden. Die sorgfältig austarierte Balance zwischen den Institutionen (Kommission, Rat, Parlament) geriete durcheinander. Vor allem aber würde die Kommission viel stärker ins parteipolitische Fahrwasser geraten, statt so wie seit der Gründung vorgesehen, ein unabhängiger, unparteiischer Hüter der Europäischen Verträge zu sein. Zweifellos hätte ein solches Verfahren auch Vorteile in der öffentlichen Aufmerksamkeit, die dadurch aufgeworfenen Probleme überwiegen jedoch. Binnenmarkt vollenden In den letzten 20 Jahren war die Entwicklung des Binnenmarktes in Europa der entscheidende Entwicklungsmotor. Das „Goldene Jahrzehnt“ bis zum Ausbruch der Finanzkrise zeugt davon. Aber dieser gemeinsame Wirtschaftsraum ist keineswegs vollendet, vieles blieb bruchstückhaft. Um die gegenwärtige Wachstumsschwäche zu überwinden, ist die Stärkung des Binnenmarktes ein wirksames Rezept. Mario Monti, einer der besten EU Kommissare, erstellte vor einiger Zeit im Auftrag der Kommission ein Programm mit einem zusätzlichen Wachstumsgewinn von 1,5 bis 2 % für ganz Europa – dringend benötigt in unserer Zeit. Nicht einmal der gemeinsame Arbeitsmarkt ist in der EU schon praktizierte Wirklichkeit. Gerade einmal 2,3 % der Europäer leben und arbeiten in einem andern als ihrem Heimatstaat. Der große Dienstleistungssektor ist kaum geöffnet, Europas Digitalmarkt nach wie vor fragmentiert, Eisenbahnen, Luftraum – viele nationale Eigenheiten, Barrieren, Hemmschwellen behindern den vollen Erfolg eines großen EU-Heimmarktes. Besonders deutlich wird dies heute am Beispiel der national parzellierten Energiewirtschaft. Während Öl, Kohle und Gas sich an globalen Preisen orientieren, werden die Verwerfungen bei den erneuerbaren Energiequellen schmerzhaft spürbar. Besonders Deutschland preschte hier mit dem EEG und seinen weit über den Marktpreisen liegenden 20 Jahr-Garantien samt Einspeisevorrang für Photovoltaik und Wind vor. Das Ergebnis belastet die Verbraucher 2014 mit 24 Mrd. E Förderung für die Erneuerbaren, womit ein Marktwert von gerade einmal einem Zehntel dieser Subvention erzielt wird. Die Kommission reagierte mit einer Prüfung, ob dadurch nicht der Tatbestand einer marktverzerrenden Beihilfe gegeben sei und angesichts der mittlerweile ausgereiften Technik und Kostendegression solche Subventionen überhaupt in Frage zu stellen wären.

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Motor Innovation Die wichtigsten Erfolgsbausteine für Europa sind Bildung, Forschung und Innovation. Sie sind die Schlüssel zu mehr Wachstum. Und es gibt wahrlich viel zu tun. 14 % der Jugendlichen in Europa sind Schulabbrecher; in Irland 10 %, Italien 18,8 %, Spanien 28,4 % und Portugal 28,7 %. Die Arbeitslosenziffern von Jugendlichen (unter 25 Jahre) spiegeln dies wider: Spanien und Griechenland weit über 50 %. Italien und Portugal über ein Drittel, Frankreich 21 %. Schulstandards zu verbessern, Eltern zu unterstützen, individuelle Talente zu fördern könnte Wunder bewirken. Die Forschungsparameter zeigen übrigens ähnliche Muster. Italien gibt mit 1,3 % halb so viel für R&D wie Deutschland aus, Spanien die Hälfte von Österreich (jeweils in % des BIP). Mit der „Innovation Union“ und dem Innovationsförderungsprogramm „Horizon 2020“, das für die kommenden sieben Jahre rund 80 Milliarden Euro vorsieht, hat die Kommission eine sinnvolle „Flagship“-Initiative auf den Weg gebracht. Dies ist richtig so, denn 80 % der Forscher, 75 % der Forschungsausgaben und 70 % der weltweit vergebenen Patente kommen heute nicht mehr aus Europa. Nach einer Studie des „Euromonitor“ laufen wir Gefahr, bis 2050 in zehn der bedeutendsten Schlüsseltechnologien der Zukunft die Weltführerschaft zu verlieren. Das muss nicht sein – denn die EU hat in diesem Bereich keineswegs einen Mangel an Potenzial zu beklagen. Immer noch sind unsere Schulen, Fachhochschulen und Universitäten hervorragend, die Lehrlingsausbildung (in Deutschland, Österreich und der Schweiz) vorbildlich. Doch im Bereich Innovation gilt mehr als sonst: wer nur den Status Quo erhalten will, fällt zurück. Die Kernfrage ist: Schaffen unsere Unternehmen es von der Produkt-Idee über Forschung und Entwicklung bis zur erfolgreichen Produkteinführung? Wer das nicht kann, verliert. Zurzeit ist der Patentschutz in Europa noch immer rund fünfzehnmal teurer als jener in den USA. Der Kommissionsvorschlag für einen „Single Innovation Market“ ist hier sehr zu begrüßen. Das europäische Patent (bis zu 70 % Kostensenkung) nimmt endlich Gestalt an. Europa erwirtschaftet ja mit 66.000 Patenten eine insgesamt positive Innovationsbilanz. Außerdem blieb Europa insgesamt gerechter: In den USA besaßen die 1 % Reichsten vor 30 Jahren 8 % des Wohlstandes, heute bereits ein Viertel der Wirtschaft. Europa hingegen blieb bei 8 bis 9 %. Industrie beachten Ein weiterer Knackpunkt ist die Qualität unseres Industriestandorts. Mitgliedsstaaten mit wirtschaftlichen Problemen sind fast immer auch jene, die in den Industrie-Rankings ziemlich weit unten rangieren. Wenig überraschend liegt hier Griechenland nur bei 8 bis 9 % Industriequote, aber auch die französische Industriequote beträgt kaum mehr als 10 %. Großbritannien – im 19. Jahrhundert immerhin das Industrieland – ist von 30 auf 14 % geradezu abgestürzt. Es gibt aber auch Positivbeispiele: Deutschland hat 25 % Industriequote, die tschechische Republik, Niederlan-

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de oder Österreich fast 20 %. Die EU-Kommission will die Industriequote zwar von 15 auf 20 % bis 2020 anheben. Gut gemeint, aber sehr ambitioniert – seit dieses Ziel formuliert wurde, ging es bergab. Der Gap zwischen Traum (20 %) und Wirklichkeit (15 %) beträgt mittlerweile über 700 Mrd. E – ein ziemlich ambitioniertes Ziel also. Selbstverständlich kann in der wirtschaftspolitischen Realität die Industriequote nicht „top down“ vorgegeben werden. Wo und wieviel geforscht werden soll, müssen schon die Betriebe selbst entwickeln. Aber die Politik kann bessere Rahmenbedingungen schaffen – bei Energiekosten, Lohnnebenkosten oder im Bereich der Fachkräfteausbildung. Schlanker Staat Eine Selbstverständlichkeit wurde – endlich – durch die sehr interessante Studie „Small Is Best – Lessons From Advanced Economies“ des Center for Policy Studies statistisch belegt. Die Forscher Ryan Bourne und Thomas Ochsle unterschieden zwischen „small government countries“ – bei denen sowohl die Regierungsausgaben als auch die Staatseinnahmen unter 40 % des Bruttoinlandsproduktes liegen. „Big government countries“ hingegen sind solche mit über 40 % Einnahmen/Ausgaben. Die Auswertung dieser Ökonomen ergab, dass die Länder mit niedrigem Staatsanteil in den letzten zehn Jahre durchgehend signifikant höhere Wachstumsraten aufweisen konnten als jene mit hohem Staatsanteil. Wer Wachstum haben will, muss also den Staat zähmen. Das ist übrigens kein Plädoyer für einen schwachen Nachtwächter, sondern nur für einen schlanken, effizienten Dienstleistungsstaat. Tocqueville wusste schon vor rund 200 Jahren: „ich behaupte, dass die Verwaltung in Europa nicht nur stärker zentralisiert ist als früher, sondern sich auch inquisitorisch um die Einzelheiten des staatlichen Lebens kümmert. Allenthalben dringt sie weiter als früher in das Privatleben vor und breitet sich mit jedem Tag mehr neben dem Einzelnen aus, um ihm beizustehen, ihn zu beraten und ihn zu vergewaltigen.“ Wohlgemerkt, der Mann wusste noch nichts von den Segnungen unseres Alltags mit Mobiltelefonen, Internet, Facebook; er hatte keine Ahnung von NSA, Wikileaks oder Snowden, von tausenden Überwachungskameras auf unseren Straßen, Plätzen und U-Bahnen. Aber er wusste: Räumen die Bürger dem Staat zu viel Vorrang ein, dann fallen die Hemmungen. Kauf von Steuer-CDs zur Verfolgung der Steuersünder, Datenabsaugen gegen Terrorgefahr, Überwachung öffentlicher Plätze gegen Dealer und Kriminelle – alles wird legitim. Precrime-Prediction – die Vorhersage möglicher Verbrechen setzt sich etwa in der modernen Polizeiarbeit immer mehr durch. In Zukunft können schon kommunale Zahlungsrückstände oder Steuerschulden, die Häufung von Anrainerbeschwerden oder ein Anstieg der Kriminalitätsrate die lokalen Behörden aktivieren. Europa sollte hier wachsam sein. Natürlich will der Überwachungsgeist nicht ohne weiteres zurück in die Flasche, aber Europa kann und soll der Welt ein Beispiel einer verantwortungsvollen Abwägung geben. Datenschutz muss auf unserem Kontinent neu und besser

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buchstabiert werden. Big Data, Big Brother darf in der Union nicht Wirklichkeit werden. Matteo Renzi, heute italienischer Ministerpräsident, klagte einst noch als junger Bürgermeister von Florenz: „Wenn ich einen Parkplatz genehmigen möchte, dauert dies 424 Tage und benötigt die Unterschriften von 25 verschiedenen Magistratsbehörden“. Das kann durchaus eine Erklärung sein, warum Italien bei vielen Rankings – bei Wirtschaftswachstum, Doing Business, Dauer der Behördenverfahren – ziemlich schlecht abschneidet. Ein moderner öffentlicher Sektor mit einer gut funktionierenden Verwaltung ist eben auch ein wirtschaftlicher Erfolgsfaktor. Hier kann egovernment, der Einsatz elektronischer Mittel viel zur Bürgernähe, Beschleunigung, aber auch zur Kosteneffizienz beitragen. Einige EU-Staaten haben dies in den Jahren seit 2003 hervorragend bewältigt – der elektronische Akt, die e-card und die Speicherung von Patientendaten im Gesundheitswesen, online-Dienste für hunderte Lebenssituationen und Wirtschaftsbereiche beweisen dies. Dadurch wurden nicht nur Millionen unproduktiver Stunden zum Ausfüllen von Papierkram vermieden, sondern auch Milliarden in der Verwaltung eingespart. Aber entscheidend bleibt hier ein europäische Rahmen, um teure Insellösungen zu vermeiden. In seinem Buch „Die Kunst des klugen Handelns“ schreibt der Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli: „Der Papst fragte Michelangelo: ,Verraten Sie mir das Geheimnis Ihres Genies. Wie haben Sie die Statue von David erschaffen – dieses Meisterwerk aller Meisterwerke?‘“ Michelangelos Antwort: „Ganz einfach. Ich entfernte alles, was nicht David ist.“ Das könnte auch die Maxime für einen Reformprozess der EU sein. Die teils überbordende Bürokratie und das schier unbändige Verlangen, alles und jedes zu harmonisieren, zu regulieren oder zu standardisieren, greifen über das erträgliche Maß hinaus in die privaten Lebensbereiche der Bürger und die Wirtschaft ein. So kann Europa heute ganz gut ohne die Gurkenkrümmungsregeln leben; der Konsument kann selbst entscheiden, ob er sein Weißbrot im Restaurant in offenes Olivenöl taucht. Die Kommission zieht also bereits positive Lehren aus der wachsenden Skepsis des Bürgers. Sie speckt ab – überschießende Lobby-Wünsche wie die Friseur-Richtlinie, ein geplantes Verbot der Slim-Zigaretten sind gefallen; manches Regelwerk im Umwelt- und Naturschutz kommt auf den Prüfstand.

Parlamente Neben der gefühlten Allmacht Deutschlands überkommt die Bürger zunehmend das Gefühl, Europa wäre undemokratisch, ja das Europäische Parlament wäre überhaupt nur zum Zuschauen und Abnicken da. Und dies, obwohl der eben erst in Kraft getretene Vertrag von Lissabon dem Europäischen Parlament wesentlich mehr Mitsprache – und damit verbunden auch Macht und Verantwortung – brachte. Die Gesetzgebungskompetenz des Europäischen Parlaments wurde massiv erweitert; es entscheidet nunmehr gleichberechtigt bei allen EU-Gesetzen mit. Dies betrifft unter anderem auch den mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union. Beim

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Budget 2014 – 2020 mit rund 1000 Milliarden E demonstrierten die Abgeordneten wieder ihren Einfluss und setzten wichtige Änderungen durch. Das Europäische Parlament zwang die Kommission, mit den USA einen besseren Vertrag um die Weitergabe von Flugdaten zu verhandeln; die Abgeordneten drängten die Europäische Zentralbank zu mehr öffentlicher Transparenz bei Beschlüssen. Aber es gibt auch kritische Beispiele: bei den Take-over-Regeln wollte der Rat auf Vorschlag der Kommission eine eher liberale Regelung. Übernahmen sollten auch für ausländische Firmen leichter möglich sein. Das Parlament stimmte mit knapper Mehrheit dagegen; Regierungen dürfen also weiterhin protektionistisch blockieren – siehe Frankreich bei General Electric/Alstom oder die britische Regierung bei Pfizer/AstraZeneca. Ob dies klug ist, ist eine andere Frage – zeigt aber, dass es manchmal wirklich auf die Stimme jedes einzelnen Mandatars ankommt. Allerdings ist es für den Bürger schwer nachvollziehbar, dass das Europäische Parlament zwar als Gesetzgeber agiert, aber kein Initiativrecht hat. Aber auch sogenannte „historisch gewachsene“ Gewohnheiten müssten einer Überprüfung auf Effizienz und Verhältnismäßigkeit unterzogen werden. So stammt beispielswiese das traditionelle Pendeln der EU-Abgeordneten zwischen Brüssel und Straßburg aus einer Zeit mit sechs Mitgliedsstaaten, die gemeinsam 78 nationale Abgeordnete stellten. Diese mittlerweile zwanghaft anmutende Wanderbewegung ist heute für 751 Abgeordnete aus 28 Nationen weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll. Voneinander lernen Wenn die europäischen Länder beginnen, voneinander zu lernen, erfolgreiche Modelle zu übernehmen und eigene Schwächen zu kompensieren, wäre viel gewonnen. So macht beispielsweise unsere ausgezeichnete Berufsausbildung in Deutschland, Österreich und die daraus resultierende geringe Jugendarbeitslosigkeit in Europa die Runde. Sehr interessant ist auch das finnische Modell der Einkommensteuer – die Finanzverwaltung schlägt hier dem Bürger eine bestimmte Steuerleistung vor. Akzeptiert der Steuerpflichtige, fallen keine weiteren Untersuchungen an – 95 % der Finnen nehmen diese Vorschläge an, was zu einer drastischen Vereinfachung der Finanzbürokratie führte. In den kommenden sieben Jahren steht dem Regionalkommissar die gewaltige Summe von 350 Mrd. Euro für rund 2 Millionen Projekte für schwächere EU-Regionen zur Verfügung. Richtig eingesetzt kann daraus ein sehr wirksames wirtschaftliches Hilfsprogramm werden (der US-Marshallplan zum Wiederaufbau Europas nach dem Krieg betrug ungefähr ein Drittel dieser Summe). Gerade schwache Länder waren jedoch oft nicht in der Lage, diese Förderungen zur Gänze abzuholen, obwohl der Bedarf dort am größten wäre. Vielfach fehlten die qualifizierten Projekte, die eingereichten Pläne waren unzureichend, die Kofinanzierung nicht aufzutreiben oder

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die Umsetzung mangelhaft. Erstmals wird in der neuen Finanzperiode die Kommission von Anfang an mithelfen und eine bessere Nutzung der zugesagten Projektmittel unterstützen. Auch die Europäische Investitionsbank kann und wird einen wichtigen Beitrag zur Wachstumsstärkung leisten. Mit einer jährlichen Projektfinanzierung von 65 – 70 Mrd. E ist sie doppelt so groß wie die Weltbank. Neue Initiativen wie Mittelstandsfinanzierung und ein signifikanter Beitrag zur Jugendbeschäftigungsinitiative der Union – die EIB könnte das Kommissionsprogramm von 6 Mrd. E auf das zehnfache hebeln – sind bereits im Laufen. Wirtschaftsunion verwirklichen Ein weiterer Erfolgsfaktor für Europa muss die Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion werden. „It’s the economy, stupid!“ Bill Clintons Wahlkampfslogan aus dem Jahr 1992 war angesichts der Finanz- und Staatsschuldenkrise in Europa sehr aktuell. Während die gemeinsame Währungspolitik durch die Verlagerung der geldpolitischen Verantwortung auf die europäische Ebene der EZB längst Realität ist, verlangte der Vertrag von Lissabon lediglich die Koordinierung der nationalen Politiken. Das muss nicht falsch sein – aber es verlangt eben eine wirkliche Abstimmung, um den gemeinsamen Erfolg nicht zu gefährden. Die Union ist ein „Schulmeister ohne Rohrstock“ – titelte die „Zeit“ und traf damit den Kern. Solange die Mitgliedsstaaten nationale wirtschaftspolitische Entscheidungen ohne Rücksicht auf die europäische Konsequenzen treffen, ja oftmals sogar gemeinsam beschlossene Ziele konterkarieren – denken wir nur an die bewusste Verletzung der Maastricht-Regeln durch Deutschland und Frankreich vor zehn Jahren – solange die Kommission zwar scharf formulierte Empfehlungen abgeben, deren Umsetzung aber weder kontrollieren noch erzwingen kann, solange ist die wirtschaftliche Performance des gemeinsamen Euro-Raums gefährdet. Die Vorlage der Budgets der Mitgliedstaaten vor der nationalen Beschlussfassung, bindende Empfehlungen in kritischen Situationen, ein Währungskommissar mit echten Kompetenzen (wie von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vorgeschlagen) wäre ein Weg, künftig schneller und wirksamer auf Verstöße einzelner Mitgliedsstaaten zu reagieren, bevor sich diese zu echten Krisen ausweiten. Volle Unterstützung verdient die Initiative der neuen deutschen Bundesregierung, durch bindende „contractual arrangements“ zwischen EU-Kommission und Mitgliedsstaaten die Budget- und Reformziele verbindlich zu machen. Ein EU-Extrabudget für spezifische Reformprojekte ist als Anreiz zusätzlich wünschenswert. Nur durch eine echte gemeinsame Wirtschaftspolitik, in deren Mittelpunkt Wachstum und Wettbewerb stehen, kann die Währungsunion langfristig abgesichert werden.

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In Vielfalt vereint Dennoch – Europa ist wesentlich mehr als reine Wirtschaftsbeziehung. Vor allem jenes Europa, das unseren christdemokratischen Vordenkern vorschwebte: Ein sicheres Europa, das seinen Bürgern nach innen und außen Schutz bietet, aber zugleich für einen freien und fairen Handel eintritt, das integrierte Arbeitsmärkte und soziale Absicherung schafft, nachhaltig Umweltverantwortung einmahnt und vorlebt. Ein Friedensprojekt, das den unruhigen Kontinent Europa einte und seit fast 70 Jahren demokratisch stabilisiert. Dabei gäbe es doch gerade heute viel Positives zu melden. Die Krisenländer können sich – nach massiver Hilfe – wieder auf den Märkten finanzieren, die Konjunktur springt langsam an, das Vertrauen kehrt zurück. Die neue Bankenunion verstärkt das Eigenkapital, Kontrolle und Aufsicht werden verbessert, staatliche Haftungen zum Schaden der Steuerzahler verboten. Zehn Jahre nach der großen Erweiterungsrunde müssen selbst ursprüngliche Skeptiker diesen beachtlichen Erfolg feststellen. Polen, Slowaken und Balten haben ihre Wirtschaftsleistung verdoppelt und ihre Exporte verdreifacht. Tschechen (plus 70 %), Slowenen und Ungarn haben ebenfalls deutlich profitiert. Auch für die „alten“ Mitglieder war dies von Vorteil, ihre Lieferungen an die Neuen stiegen doppelt so stark wie die übrigen Exporte. Und die Bürger schätzen dies. War in Österreich zu Beginn der Verhandlungen viel Skepsis zu spüren, so bejahen heute 68 % den Beitritt der Nachbarn – nur mehr 18 % sind dagegen. 340 Millionen Menschen nützen die handfesten Vorteile einer gemeinsamen starken Währung: Mittelständler nützen den großen Binnenmarkt. Unser Kontinent ist ein sicheres Reiseziel für 500 Millionen Ausländer. Selbstverständlich gibt es noch viel zu tun. Eine gemeinsame Energiepolitik ist geboten – aus Solidarität gegen einseitige Abhängigkeit, aber auch um der drohenden Entindustrialisierung entgegenzuwirken. Die digitale Agenda harrt der Verwirklichung im Binnenmarkt. Und es hätte nicht einer Schweizer Volksabstimmung bedurft, um die Migrationspolitik auf die kommende EU-Arbeitsliste zu setzen. Auf dem Balkan scheinen Versöhnung und Integration langsam voranzukommen; die Nachbarschaftspolitik der EU (immerhin für 16 höchst unterschiedliche Länder von Israel bis Belarus, von Ägypten zu Moldau, oder Georgien zu Marokko, Ukraine bis Jordanien) sollte jedoch neu und individuell konzipiert werden. Ein besonderes Augenmerk muss dabei dem Blick nach Osten gelten. Die Entwicklung in der Ukraine – ein Rückfall vor die KSZE-Charta 1975, die ja die Unverletzlichkeit der Grenzen und Nichteinmischung vertraglich absicherte – kann ein „game changer“ für die internationale Entwicklung werden. Viel Arbeit also, aber ein „semidepressives Großprojekt“ (Peter Sloterdijk) ist dieses Europa noch lange nicht. Auch Bezeichnungen wie „Regelungskrake“, „mitleidloser Sparefroh“ oder „neoliberaler Zeigefinger“ treffen nicht wirklich zu. Nein, diese Union ist und bleibt ein Jahrhunderttraum; sie ist seit 60 Jahren „work in pro-

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gress“ und ein Leuchtturm für viele Menschen. Ein Dutzend Länder wollen neu hinzu, noch nie trat eines aus. Mancherorts geäußerte Trennungswünsche richten sich eher gegen London, Madrid oder Rom. Vor allem aber sollten wir unsere weit verbreitete Nabelschau und den Tunnelblick ablegen. Die Welt wartet nicht auf uns und kleinliche Befindlichkeiten. Europa hat gerade einmal 2 % der Erdlandmasse und 7 % der Weltbevölkerung, und wir hängen zu fast zwei Dritteln von der Außenwirtschaft ab. Daher keine Angst vor einer Invasion der Chlorhühner, vor sinnvollen gemeinsamen Regeln, einer Öffnung für Talente! „United in diversity“ – in Vielfalt vereint – lautet das Motto Europas. Hier sollte wieder mehr das große Ganze sichtbar, das Verbindende über das Trennende gestellt und ein gemeinsames Handeln als Ausweg für die europäische Krise gesucht werden. Otto von Habsburg riet uns einst: „Wir müssen Europa bestimmen, nicht erleiden“. Die bulgarische Psychoanalytikerin Julia Kristeva formuliert das hinreißend: „Wir brauchen uns unserer Kultur des Infragestellens nicht schämen, ganz im Gegenteil. Europa stellt in unserer globalisierten Welt eine Mittelmacht dar, die der Menschheit dennoch eine starke Botschaft zu vermitteln hat. Wanderschaft, Erkenntnis, Respekt vor dem Singulären, Zweifel, Befragung – niemand sonst vermag diese Werte zu vermitteln, die das Fundament der europäischen Kultur bilden.“ Es ist längst an der Zeit, ein kraftvolleres und stolzeres Europäisches Bewusstsein zu entwickeln. Europa ist nicht das Problem, sondern eine vernünftige Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit. Der globale Wettbewerb um Wachstum und Wohlstand wird härter. Die Welt im 21. Jahrhundert ist kein Streichelzoo. Wer in der Politik richtig Maß an der Zukunft nimmt, der misst im europäischen Maß.

Europa – unsere Zukunft? Von Edmund Stoiber Bayern ist meine Heimat. Deutschland ist mein Vaterland. Europa ist unsere Zukunft. Das war das Lebensmotto von Franz Josef Strauß, das ich so oft von ihm gehört und für meine politische Arbeit übernommen habe. 2014 – 1914, 100 Jahre Beginn des Ersten Weltkriegs. Welches schreckliche Erwachen bedeutete dieses Datum für Deutschland und Europa! War zu Beginn des Krieges vor 100 Jahren noch Kriegsbegeisterung zu spüren, so kehrte sehr schnell bittere Ernüchterung ein. Am Ende lagen 10 Millionen Tote auf den Schlachtfeldern Europas. Trotzdem – oder gerade deswegen – wurde nur 25 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Zweite Weltkrieg begonnen: 50 Millionen Tote. Für Franz Josef Strauß und Helmut Kohl war die Sache klar: Strauß war Jahrgang 1915, Kohl Jahrgang 1930. Strauß hat die Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs, die furchtbare Nazi-Herrschaft und den schrecklichen Zweiten Weltkrieg als Soldat erlebt, Kohl kehrte 1945 aus der Kinderlandverschickung zu Fuß von Berchtesgaden nach Ludwigshafen zurück. Ich selbst bin Jahrgang 1941, noch in den Krieg hineingeboren, aber letztlich ein Kind der Nachkriegszeit. Für uns war es selbstverständlich: Europa ist eine Frage von Krieg und Frieden. Ohne Versöhnung und enge Zusammenarbeit in einer Europäischen Union können aggressive Nationalismen nicht überwunden werden. Und es ist ja auch tatsächlich etwas gelungen, was ein Deutscher im Jahr 1945 kaum für möglich halten konnte: Die Rückkehr in die Staatengemeinschaft. Und vor allem die längste Friedensperiode unserer Geschichte. Heute können wir feststellen: Die Menschen in Europa haben schon etwas gelernt. Krieg und Zerstörung sind keine Mittel der Politik mehr. Der Satz von Clausewitz – Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – ist Geschichte und findet heute in Europa keinen Anhänger mehr. Das ist eine große Leistung der Generationen seit 1945! Und bei aller Kritik, die man immer wieder an der Politik generell und an den Politikern üben kann: Das Friedenswerk Europa basiert auf einer großen Vision, auf großem Mut und auf großer Staatskunst. Schon kurz nach Ende des schrecklichen Zweiten Weltkrieges die Versöhnung der Erbfeinde Frankreich und Deutschland zu beginnen – allen voran Robert Schuman und Konrad Adenauer – war ein außergewöhnlicher Schritt großer Staatsmänner. Hätte man damals die geschundenen Völker gefragt, was wäre die Antwort gewesen? Die Friedensfunktion der EU ist heute anerkannt. Ich bin sehr dankbar, in einer Epoche zu leben, in der Krieg überwunden scheint. Ich bin sehr dankbar, in einer friedlichen und konsensorientierten europäischen Zeit zu leben. Immerhin sagen

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53 Prozent der EU-Bürger im sogenannten Eurobarometer, der Friede zwischen den Mitgliedstaaten gehöre zu den positivsten Errungenschaften der Europäischen Union. Nur der freie Verkehr von Personen, Gütern und Dienstleistungen in der EU erreicht mit 56 Prozent einen noch etwas höheren Wert. Ähnlich sieht es mit einer weiteren Frage aus: Fühlen Sie sich als Bürger der Europäischen Union? Sechs von zehn Europäern fühlen sich als EU-Bürger – 60 Prozent. Eigentlich gar nicht so wenig – eine klare Mehrheit. Übrigens liegen die Deutschen hier mit 73 Prozent sehr weit vorne, die Niederländer mit 58 Prozent im Mittelfeld und im United Kingdom fühlen sich gerade einmal 42 Prozent der Bürger als Europäer. Allerdings: Wenn sich 60 Prozent der Europäer als EU-Bürger fühlen, dann hat das auch eine gewaltige Kehrseite. Dann fühlen sich 4 von 10, 40 Prozent, nämlich nicht als EU-Bürger. In dieser Zahl steckt auch das Potenzial einer Entwicklung, die ich in der Tat für gefährlich halte – unter dem Strich für viel gefährlicher als die EuroKrise oder schwache Wirtschaftsdaten. Europa hat ein stabiles Fundament. Aber zugleich werden die Gegner Europas innerhalb der EU mehr und aggressiver. In vielen Ländern sehen wir starke und radikale antieuropäische Kräfte. In vielen Ländern haben antieuropäische Parteien, zum Teil auch fremdenfeindliche oder sogar rassistische Parteien leider bei der Europawahl 2014 zu viele Stimmen bekommen. Ein erheblicher Teil der Abgeordneten lehnt die Institution ab, für die sie arbeiten sollen. Ein erheblicher Teil von Abgeordneten will das Parlament, dem es angehört, am liebsten auflösen. Ich habe auf 1914 hingewiesen und auf 1939. Ich weiß, dass man mit historischen Vergleichen sehr vorsichtig sein sollte. Aber es war ein Wesensmerkmal und ein Grund für das Scheitern der Weimarer Republik in Deutschland, dass die Feinde dieser Demokratie im Parlament saßen. Was ist zu tun? Ich bin davon überzeugt, dass in und für Europa Zweierlei notwendig ist. Erstens: Europa muss es besser machen. Und zweitens: Europa braucht eine neue Gründungserzählung, es muss eine neue faszinierende und überzeugende Geschichte schreiben, die die Menschen im 21. Jahrhundert überzeugt. Was muss Europa besser machen? Die europäische Integration ist ein großes, ein historisches Werk. Aber in dieser guten Absicht ist man in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch immer wieder über das Ziel hinausgeschossen. So ist vieles auf europäischer Ebene getan worden in dem festen Glauben, jedes „mehr“ an Europa sei automatisch und per se gut für Europa. Hier ist nach meiner Überzeugung für die Zukunft mehr kritischer Realismus gefragt, auch mehr Rückbindung an die Bevölkerung. Das gravierende Beispiel für die europäische Methode des „immer weiter“ ist die Einführung des Euro gewesen. Die politische Debatte im Vorfeld der EuroEinführung war von zwei gegensätzlichen Theorien geprägt, der Krönungs- und der Motortheorie. Die Krönungstheorie ging davon aus, dass eine tiefere politische Integration Europas vor einer Währungsunion stattfinden sollte. Der Euro sollte die politische Union krönen. Ohne gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik wäre eine gemeinsame Währung zum Scheitern verurteilt. Das war meine Position – und lange Zeit auch die Position von Helmut Kohl. Die Motortheorie dagegen postulierte, dass die Gemeinschaftswährung möglichst früh im Integrationsprozess eingeführt

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werden sollte. Sie würde die politische Integration stärken und weitere Harmonisierungen in anderen Bereichen nach sich ziehen. Die Politik von Helmut Kohl folgte schließlich der Motortheorie: Der Euro sollte die Integration im Euroraum beflügeln. Welche Tragik, dass ausgerechnet der Euro, von dem man sich eine solche Integrationswirkung versprochen hat, nach gut zehn Jahren geradezu zu einem Sprengsatz wurde. Denn wir erleben in der Eurodebatte Tendenzen einer Renationalisierung, die mancher schon nicht mehr für möglich gehalten hätte. Der eine oder andere wird sich vielleicht noch daran erinnern, dass ich einer der schärfsten Kritiker einer Euro-Einführung mit Spanien, Italien und Portugal, dem sogenannten ClubMed, war. Nicht weil ich etwas gegen diese Länder hätte – ganz im Gegenteil. Aber diese Länder waren von ihrer Mentalität, von ihrer Struktur und von ihrem Reformstau her einfach nicht bereit für eine gemeinsame Währung mit den Nord- und Westeuropäern. Ich könnte jetzt wunderbar darlegen, wie Recht ich mit meinen Bedenken und Warnungen doch hatte. Ehrlich gesagt: Natürlich ist es schön in der Politik, wenn man Recht behält. Aber in diesem Fall hätte ich nur zu gerne darauf verzichtet. Denn so fehlerhaft die Einführung des Euro auch gewesen sein mag, so katastrophal wäre sein Scheitern. Große politische Weichenstellungen gibt es nicht auf Probe oder auf Zeit, auch wenn wir dieser Illusion gerne anhängen. Es gibt für weitreichende Entscheidungen in der Politik keine Reset-Taste. Wer so etwas vorgaukelt, wie etwa eine problemlose Rückkehr zur DM, ist ein politischer Scharlatan und will den Menschen Sand in die Augen streuen. Vorgegaukelt wird ja gerne, das würde das Geld der Bürger schützen. In Wahrheit würde es unseren Wohlstand vernichten! Denn was wäre denn die Folge, wenn Deutschland tatsächlich wieder zu einer nationalen Währung zurückkehren würde? Der Kurs dieser nationalen Währung würde auf 1,70 bis 2,00 US-Dollar steigen. 30 bis 40 Prozent der Exporteure in Deutschland würden in Konkursgefahr geraten. Die Arbeitslosigkeit würde rapide steigen: auf sechs bis neun Millionen Arbeitslose. Die Steuereinnahmen würden dramatisch einbrechen, die Sozialbeiträge ebenfalls. Gleichzeitig müssten aber die Sozialhaushalte steigen. Das BIP würde um mindestens 10 Prozent fallen Deutschland würde bei einer auch nur teilweisen Auflösung des Euro wegen der internationalen Vernetzung unserer Wirtschaft in eine Wirtschaftskrise stürzen, die wirtschaftlich an die Situation in der Weimarer Republik herankäme. Und wir würden insgesamt die Welt in eine Weltwirtschaftskrise stürzen. China hat 28 Prozent der Währungsreserven in Euro, Russland 40 Prozent! Das heißt: Deutschland und die Welt würden für eine Rückkehr zu nationalen Währungen ökonomisch teuer, sehr teuer bezahlen! Was aber würde eine solche Situation politisch bedeuten? Darüber wird ja nicht geredet. Die Jüngeren, Gesünderen, Gebildeteren und Mobileren würden ihre Heimatländer verlassen und ihr Glück woanders suchen. Viele Zurückgebliebene würden in einer solch existenziellen Wirtschaftskrise erst recht anfällig für radikale Botschaften – uns Deutschen ist das aus unserer Geschichte nicht ganz fremd. Politische Verbrecher, die mit der Not der Menschen ihr übles Spiel spie-

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len wollen, gab es immer und wird es immer geben. Das mühsam erreichte Miteinander in Europa könnte wieder vom schroffen Gegeneinander verdrängt werden. Verhärtungen und massive Schuldzuweisungen vom ärmeren Süden an den stärkeren Norden und umgekehrt wären die Folge. Renationalisierung wäre das Stichwort im „alten Europa“ – ein absoluter Anachronismus in Zeiten der Globalisierung. Das heißt: Die scheinbare Alternative, zu nationalen Währungen zurückzukehren, besteht in Wahrheit nach meiner festen Überzeugung nicht. Wir müssen den schweren Weg weiter gehen, die Eurokrise gemeinsam zu überwinden. Ich will in diesem Rahmen nicht in die Details der Überwindung der Schuldenkrise einsteigen. Europa braucht dazu in erster Linie einen Mentalitätswandel und ich bin noch nicht sicher, ob das schon alle eingesehen haben. Immerhin: In Portugal und Spanien wie in Irland sind Erfolge zu sehen. Das Prinzip, mit Schulden die Wünsche in der Gegenwart zu finanzieren und diese Schulden auf die kommenden Generationen zu übertragen, ist unmoralisch und nach 40 Jahren gescheitert. Wenn sich diese Mentalität nicht ändert, werden alle Rettungspläne nichts retten. Europa hat nur eine Zukunft, wenn die Schuldenmentalität dauerhaft erfolgreich zurückgedrängt wird. Die Länder dürfen künftig nicht mehr so abhängig von den globalen Finanzmärkten sein, wie es die Währungskrise so drastisch allen vor Augen geführt hat und wie es überhaupt nur durch ESM und ESFS zu überbrücken war. Übrigens: Die Regeln waren ja da. Alle wussten, dass eine gemeinsame Währung nur dann gelingen kann, wenn die Schulden nicht aus dem Ruder laufen. Deshalb wurden ja die Verträge von Maastricht, der Stabilitätspakt, der Fiskalpakt und alle weiteren Abmachungen von allen Euro-Ländern unterschrieben. Aber der Stabilitätspakt wurde an die hundertmal von den Euro-Ländern gebrochen und Deutschland hat sich dabei auch noch besonders hervorgetan. Das gehört auch zur Wahrheit. Die gesamte Krisenpolitik seit der Finanzkrise ist darauf ausgerichtet, jetzt nach so vielen Jahren das Einhalten der Kriterien nachzuholen. Pacta sunt servanda: Wäre der Stabilitätspakt von den EuroLändern eingehalten worden, stünden wir heute nicht vor den Schulden- und Problembergen. Zunächst einmal sind die betroffenen Länder selbst am Zug. Es gibt dort nach wie vor großes privates Vermögen. Ich bin kein Anhänger von Zwangsabgaben. Doch bevor ein Land seine Nachbarn um Hilfe bittet, sollten im eigenen Haus die möglichen Anstrengungen unternommen werden. Die besonders Betuchten in den Problemländern können sich nicht entziehen und die Solidarität den Gesellschaften anderer Euro-Länder überlassen. Hier unterstütze ich ausdrücklich den Präsidenten der Deutschen Bundesbank, der dies deutlich angesprochen hat. Die parlamentarische Demokratie, so wie wir sie heute verstehen, kennen wir in Deutschland und anderen Teilen Kontinentaleuropas erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Spanien, Portugal, Griechenland – diese Länder haben noch eine sehr junge demokratische Tradition. Bisher war die Demokratie vor allem auch ein Symbol für besseres Wirtschaften und wachsenden Wohlstand. Jetzt stehen die Demokratien vor einer riesigen Herausforderung: Wenn sie nicht endlich lernen, mit dem auszukommen, was sie einnehmen, dann werden sie nach einem weltgeschichtlichen Wimpernschlag von ein paar Jahrzehnten grandios scheitern.

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Die Begrenzung der Staatsschulden ist die eine Seite der Euro-Rettung. Es gibt noch eine andere. Ich will einige wenige, sehr prägnante Zahlen nennen, an denen eine tiefere Ursache für die Krise deutlich wird, die wir derzeit in Europa bekämpfen: Das Europäische Patentamt erteilte im Jahr 2012 Anmeldern aus Deutschland 13.321 Patente. Das ist eine ausgezeichnete Zahl – die USA verzeichneten im gleichen Zeitraum 14.699 Patente. Aus der Schweiz kamen 2600 Patente und aus Schweden 1579. Wie viele Patente kamen aus den Krisen-Ländern Südeuropas? Aus Griechenland wurden 31 Patente angemeldet, aus Portugal 30. Und aus Spanien – 47 Millionen Einwohner und seit 1986 in der Europäischen Union – kamen 405 Patente. Diese Zahlen zeigen, wo im Moment die Stärken der Deutschen liegen und wo die Schwächen der anderen sind. Für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gibt es keinen Ersatz – auch nicht mit noch so viel Geld. Man muss den Krisenländern sehr deutlich sagen: Lasst Euch durch das billige Geld der EZB nicht noch einmal verführen. Das war ja schon der große Fehler bei der Einführung des Euro. Ihr müsst wettbewerbsfähig werden. Das ist ein schwerer Weg – aber der einzige, der Erfolg verspricht. Und es tut sich ja auch etwas: Bei den Lohnstückkosten etwa ist die Differenz zwischen Nord- und Südeuropa deutlich geringer geworden. Die Krisenländer konnten ihre Exporte zuletzt steigern. Es ist bestimmt noch nicht genügend getan, aber es geht voran und in die richtige Richtung. Im Jahr 2000 haben die europäischen Staats- und Regierungschefs auf einem Sondergipfel in der portugiesischen Hauptstadt die sogenannte Lissabon-Strategie verabschiedet. Ziel dieses Programms war es, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Wo die EU 2010 stand, muss ich nicht im Einzelnen erläutern. Man hat sich „beholfen“ und im Jahr 2010 eine neue Strategie beschlossen: „Europa 2020“. Die Ziele will ich nicht im Einzelnen aufzählen, sie ähneln der Lissabon-Strategie. Wenn Europa nicht erneut daran scheitern will, ist nicht mehr viel Zeit. Ausgeglichene Haushalte, Wettbewerbsfähigkeit und Innovation – Europa muss es besser machen! Ein weiterer Bereich, in dem es Europa dringend besser machen muss, ist der über die Jahrzehnte immer weiter gewachsene Zentralismus in der Europäischen Union. Wie gesagt: Da ja jedes „Mehr“ an Europa gut für Europa sein sollte – wurden insbesondere seit denn 80er Jahren immer mehr Kompetenzen auf die Europäische Union übertragen – in der Regel ohne große politische Diskussion und mit hoher Zustimmung aus der Wirtschaft nach dem Motto: Lieber eine Regel aus Brüssel statt 28 aus den Mitgliedsländern. Heute hat Brüssel zwar zu wenige Kompetenzen in der Kontrolle der Währungsstabilität, aber zu viele Kompetenzen in der Gestaltung regionaler oder sogar lokaler Gegebenheiten. Wenn ein Land den Stabilitätspakt bricht, kann die Kommission das letztlich nicht verhindern. Aber welchen Duschkopf Sie zuhause verwenden, das kann die Kommission vorschreiben. Auch weil die Deutschen das so wollten: Ökodesign-Richtlinie. Das ist eine wesentliche Ursache für das Unbehagen vieler Bürger, wenn es um Europa geht. Angesichts der notwendigen historischen Weichenstellungen für mehr Kontrollkompetenzen der EU vermisse ich Vorschläge aus allen Parlamenten, welche Zuständigkeiten in anderen Bereichen

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wieder auf die nationale Ebene zurückübertragen werden sollten. Nicht jedes Problem in Europa ist auch ein Problem für Europa. Die Straße nach Brüssel darf – im Interesse Europas – keine Einbahnstraße sein. Immerhin: Es tut sich etwas: David Cameron macht wuchtige Vorschläge zur Rückübertragung von Kompetenzen auf die nationale Ebene – und das von ihm angekündigte Referendum ist ein gewaltiger Hebel, den die anderen Europäer noch zu spüren bekommen werden. Aber auch andere Länder wie etwa die Niederlande gehen in diese Richtung. Der dritte Punkt, den Europa dringend besser machen muss, ist die „Liebe zum Detail“. Sage und schreibe 74 Prozent der Europäer halten die Europäische Union für zu bürokratisch. Das ist manchmal vielleicht auch ein Klischee, aber es kommt auch nicht von ungefähr. Das bedeutet: Hier ist die Akzeptanz in Gefahr. Und das ist auch der Grund, warum ich mich dazu bereit erklärt habe, ehrenamtlich einen Beitrag für weniger Bürokratie in Europa zu leisten. Das ist ein Bohren dicker Bretter, aber wir sind durchaus erfolgreich. Allerdings stoße ich in dieser Arbeit auf eine gewisse Schizophrenie: Alle wollen weniger Bürokratie. Aber gleichzeitig wollen die Bürger ein Höchstmaß an Sicherheit durch den Staat. Und tausende Abgeordnete und Beamte in allen 28 Mitgliedstaaten und in der EU arbeiten unentwegt daran, dass Leben der Menschen mit immer neuen Regeln zu „verbessern“. Regeln – das ist schließlich das Handwerkzeug der Politik. Wir erleben in unserer Gesellschaft ja auch einen absoluten Trend zu Regulierung und zu mehr Staat: Die Finanzmärkte werden reguliert. Die Energieversorgung wird reguliert. Die Mindestlöhne werden reguliert. Deutschland ist hier das beste Beispiel: Maximale Verteilungsgerechtigkeit hat bei uns die höchste Priorität. Die Bereitschaft, Ergebnisse des Marktes zu akzeptieren, wird immer geringer. So heißt es in einer Umfrage, unter anderem von Allensbach: „Die Freiheit ist gegenüber anderen Werten wie Sicherheit und Gleichheit in Deutschland stärker ins Hintertreffen geraten. Die Ausweitung der Staatsaufgaben bleibt nach wie vor ausdrücklich erwünscht; klarer Favorit ist der ,betreuende‘ und ,kümmernde‘ Staat, der im Unterschied zum ,liberalen‘ Staat als gerechter, wohlhabender, menschlicher und lebenswürdiger angesehen wird.“ Die eigentliche Frage, die über der Bürokratie steht, lautet deshalb: Willst Du überhaupt mehr Freiheit, mehr Selbstverantwortung? Oder willst Du eigentlich in erster Linie Sicherheit? Meine sogenannte High Level Group hat über 300 Vorschläge zum Bürokratieabbau gemacht. Kommission, Rat und Parlament haben bis heute bereits Maßnahmen umgesetzt, die die 23 Millionen Betriebe in Europa um insgesamt 32,3 Milliarden Euro entlasten. Damit haben wir das ehrgeizige Abbauziel von 25 Prozent bereits deutlich überschritten. Weitere Entlastungen im Umfang von 5,1 Milliarden Euro sind bereits von der Kommission beschlossen und liegen derzeit entweder im Parlament oder im Rat. Mit diesen Ergebnissen bin ich sehr zufrieden. Allerdings ist mein wichtigstes Ziel ein neues Denken: Nicht alles, was geregelt werden kann, muss auch geregelt werden. Wir brauchen nicht immer eine Dreifachsicherung, nach dem Motto gestrickt: Damit die Hose nicht rutscht, legt man einen Gürtel um. Das reicht in aller Regel. Jetzt gibt es aber Leute, die ganz sicher gehen wollen. Und die greifen

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dann noch sicherheitshalber zu Hosenträgern. Und für den Fall, dass auch die versagen, kommt in den Hosenbund noch eine Sicherheitsnadel. So sind zu viele Gesetze konzipiert! Nach sechs Jahren Überzeugungsarbeit hat Kommissionspräsident Barroso Anfang Oktober das sogenannte REFIT-Programm vorgestellt und damit tatsächlich einen Mentalitätswechsel vollzogen: Erstmals hat die EU-Kommission den gesamten Rechtsbestand der EU untersucht und gibt für jeden Politikbereich genau an, welche Vorschriften sie vereinfachen will. Erstmals erwägt die EU-Kommission den Verzicht auf Legislativvorschläge – ich nenne nur die umstrittene Bodenschutzrichtlinie, um die seit 2006 heftig gerungen wurde. Rechtsetzungsinitiativen aus den Mitgliedsländern oder aus der Wirtschaft werden abgelehnt – Stichwort Friseure und die Rutschfestigkeit des Bodens. Endlich will die EU-Kommission auch prüfen, wie die Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten eigentlich umgesetzt werden. Und geradezu revolutionär für einen Kommissionspräsidenten ist die Aussage: Die EU soll sich in großen Fragen stark engagieren und in kleineren Fragen zurückhalten. Zum ersten Mal wird das Empfinden der Bevölkerung, dass die EU zu viel Bürokratie verursacht, zum Maßstab der Politik gemacht. Das ist ein Quantensprung und lässt mich hoffen. Kein Kommissionspräsident und keine Kommission wird mehr hinter diese Positionen zurückgehen können. Europa wird es besser machen! Weniger Bürokratie – das ist nicht nur Frage der Akzeptanz, sondern hier schlummert auch riesiges ökonomisches Potenzial. Beim jüngsten großen Gipfel der WTO in Bali erklärte die Welthandelsorganisation den Bürokratieabbau zum wichtigsten Thema. Die Weltwirtschaft könnte um eine Billion Dollar profitieren und die Kosten des internationalen Handels könnten um 10 bis 15 Prozent sinken, wenn alle an einem Strang ziehen. Die Europäische Union muss es besser machen. Und sie braucht für das 21. Jahrhundert eine neue Gründungserzählung, die auch die Jugend fasziniert. Wenn es die EU nicht schon gäbe, müsste sie jetzt, von uns, erfunden werden. Denn wir Europäer stehen heute wiederum vor einer unglaublichen Aufgabe. Das 21. Jahrhundert wird von wenigen Global Playern geprägt werden: Als US-Präsident Obama im letzten Sommer in Kalifornien den chinesischen Staatspräsidenten Xi empfing, war das kommende Duopol der Welt zu sehen. Hier wurde Weltpolitik gemacht. Finanzen, Klimaschutz, Energiepolitik – diese großen Fragen werden auf der Weltbühne entschieden. Die einzige Chance, in dieser Liga überhaupt beachtet zu werden, sind regionale Zusammenschlüsse wie die EU. Denn wie sagte es mir der ehemalige Staatspräsident Brasiliens Lula da Silva einmal in diesem Zusammenhang: „Wie wollen die Europäer auf Dauer ihren Standard halten, wenn sie mit neun oder zehn Mann gegen elf spielen müssen?“ Mit seinem Hinweis auf die demografische Entwicklung in der Welt hatte er leider Recht: Die Welt wächst, Europa schrumpft. Im Jahr 2050 wird es 9,6 Milliarden Menschen auf der Erde geben: Afrika wächst von 1,1 Milliarden auf 2,4 Milliarden, Asien wächst von 4,25 Milliarden auf 5,28 Milliarden, Nordamerika wächst von 352 Millionen auf 448 Millionen. Nur der Kontinent Europa schrumpft von 742 Millionen auf 726 Millionen – und von den 16 Millionen

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Minus gehen allein 10 Millionen auf das Konto der Deutschen. Angesichts dieser demografischen Umwälzung der Welt können wir nur gemeinsam als Europäer unsere Wertvorstellungen einbringen und durchsetzen. Und wir haben eigene, europäische Wertvorstellungen: Die soziale Marktwirtschaft als Gegenmodell zum Staatssozialismus auf der einen Seite und zum reinen Kapitalismus auf der anderen Seite. Die Verantwortung für die Ökologie, als Vorreiter beim Umweltschutz und einer verantwortlichen Klimapolitik. Die unmissverständliche Position zur Einhaltung der Menschenrechte, auch wenn das unbequem ist gegenüber starken weltpolitischen Playern wie China. Menschenwürde, Individualität, jeder Mensch ist einzigartig, Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Pressefreiheit und Demonstrationsfreiheit – aus dieser europäischen Grundwerteordnung folgen für uns auch soziale Standards. Das ist aber in der Welt eine Minderheitenposition! So lebt nicht einmal eine Milliarde, nicht einmal ein Siebtel der Menschheit! Diese Standards und Maßstäbe für eine menschliche Welt zu vertreten und zu verteidigen – das ist auch die Rolle und Aufgabe Europas in der Globalisierung. Wir waren fasziniert von den Bildern aus der Ukraine. Dort schlugen sich die Bürgerinnen und Bürger Nächte um die Ohren. Sie riskierten, dass sie verhaftet und geschlagen werden. Und trotzdem standen die Leute da und demonstrierten. Was war der Auslöser der Proteste? Diese Menschen wollen eine Annäherung an Europa. Sie wollen in die EU, nicht in erster Linie, weil sie Wohlstand erwarten, sondern weil sie sich zur Freiheit, zum Willkürverbot, zur Rechtsstaatlichkeit bekennen und sich danach sehnen. Für uns sind diese Werte eine Selbstverständlichkeit. Aber die Proteste in der Ukraine machen deutlich, dass die EU nicht nur ein Binnenmarkt ist, sondern eine Wertegemeinschaft. Mit der Europäischen Union ist es manchmal schon irgendwie seltsam: Die, die drin sind, nörgeln an ihr herum. Und die, die draußen sind, wollen unbedingt rein. Darüber sollten wir auch einmal nachdenken! Die EU steht vor einer außerordentlichen Aufgabe und vor einer neuen Orientierung. Die Europäische Union hat sich bisher in erster Linie als Binnenmarkt begriffen und die Entwicklung des gemeinsamen Binnenmarktes vorangetrieben. Außenpolitik spielte eine sehr untergeordnete Rolle. Sie bestand eigentlich im Wesentlichen darin, die Grenzen der Europäischen Union immer weiter zu ziehen, neue Beitritte zu organisieren und Demokratie weiterzutragen, insbesondere nach Osteuropa. In der Krise um die Ukraine wird deutlich. Die EU muss eine gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik entwickeln. Die EU kann nicht nur eine reine Wirtschaftsgemeinschaft sein, sie muss sich auch als eine Sicherheitsunion begreifen. Die EU muss erkennen, dass sie auch Außengrenzen zu Nachbarn hat, die nicht unser Verständnis von Demokratie haben und diese auch nicht anstreben. Den Schutz vor solchen Nachbarn kann man nicht mehr wie in der Vergangenheit allein den Amerikanern überlassen und nur bedingt der NATO. Die Amerikaner sind nicht Nachbarn der Ukraine und sie leben nicht Tür an Tür mit Russland. Hier muss die Europäische Union ihr Schicksal schon selbst in die Hand nehmen! Die Europäische Union ist in der Ukraine-Krise erstmals konfrontiert mit den Sicherheitsinteressen eines anderen großen Landes, das nie zur Europäischen Union kommen will und auch nicht kommen kann. Die Sicher-

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heitsfragen aus der Nachbarschaft zu Russland können nicht durch Erweiterung gelöst werden. Wie gehen wir damit um? Die Annexion der Krim ist ein Bruch des Völkerrechts. Mögen die Russen auch erklären, dass die Krim seit 300 Jahren russisch war. Und genauso klar ist: Weitere Übergriffe auf die Ukraine hätten schwerwiegende Folgen. Aber: Wir müssen alles tun, damit das nicht eintritt. Ja, wir haben eine beginnende Konfrontation mit Russland. Aber die darf nicht zu einem neuen eisigen Verhältnis oder einem neuen Kalten Krieg führen. Die Ukraine hat unbestritten tiefe russische Wurzeln. Die Beziehung der Ukraine zu Europa darf dies nicht außer Acht lassen. Und: Europa kann einen Aufbau der Ukraine politisch und ökonomisch ohne Russland überhaupt nicht schultern. Das ist die Realität. Es gibt für den Dialog keinen Ersatz. Man darf auch in einer solchen Situation die Gesprächsfäden nach Moskau nicht abreißen lassen. Man muss einen Kompromiss finden. Dazu muss man die Haltung Russlands bestimmt nicht akzeptieren, aber man muss versuchen, sie zu verstehen. Russland denkt in nationalen Einfluss-Sphären – uns ist dieses Denken in den letzten Jahrzehnten völlig fremd geworden. Man kann diese nationalstaatliche Sicht der Russen nur mit gegenseitigem Vertrauen überwinden. Unsere gemeinsame Geschichte ist voll von Konfrontationen. Was wir brauchen, ist Kooperation. Was wir brauchen, ist ein Modus Vivendi. Jetzt geht es darum, eine Politik zu gestalten, die nicht zu einem neuen „Kalten Krieg“ führt. Dabei müssen wir uns darauf einlassen, dass das Problem Ukraine nur mit Russland zu lösen ist – ob uns das gefällt oder nicht. Ein starkes Europa in der Globalisierung braucht vor allem politische und wirtschaftliche Geschlossenheit. Eine Position beim G 20 Gipfel hat ein ganz anderes Gewicht als drei verschiedene Positionen. Oder nehmen wir den sogenannten NSA-Skandal: Was hat der deutsche BND bisher gegenüber der NSA erreicht? Offenbar so gut wie nichts. Derzeit haben wir als Europäer nicht einmal gemeinsame Standards für den Datenschutz. Mit europäischen Standards könnten wir gegenüber den großen Internet-Konzernen und gegenüber der US-Regierung natürlich viel mehr erreichen, als mit 28 Einzelpositionen. Hier ist ein Ansatz für eine logische innere Begründung der Europäischen Union im 21. Jahrhundert. Wir haben ein anderes Verständnis vom Schutz der Privatsphäre als die Amerikaner. Das muss europäisch formuliert und fixiert werden. Jedes Unternehmen, dass in der EU tätig sein will, muss sich daran halten und nicht allein an das Recht des Heimatlandes – wenn überhaupt. Und: Wir brauchen auch aus Gründen der Psychologie große europäische Projekte, die eine gewisse Faszination ausstrahlen. Das Thema der Digitalisierung könnte ein solches Projekt werden. Wir beklagen natürlich zu Recht, dass die USA Zugriff auf E-Mails nehmen können. Aber wir schicken diese Mails auch über Amerika: Die Daten bei Yahoo, Google oder Microsoft laufen über Server in den USA! Wir können da nicht mithalten, in Europa stehen nicht die entsprechenden Server. Und wir bauen auch nicht die Hardware – die Router, die Mikroprozessoren – die man in der Digitalisierung braucht. Da dürfen wir uns nicht wundern, dass diese nicht unseren Datenschutzbestimmungen entsprechen! In der FAZ habe ich dazu einen beeindruckenden Vergleich gelesen: Die US-amerikanischen Dienste können sich einer Technik

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bedienen, die nicht nur Großteils im eigen Land entwickelt wurde, sondern auch von dort aus in die ganze Welt vertrieben wird. Um es mit einem Bild aus der alten, vordigitalen Zeit zu sagen: Das ist, als hätte es früher nur eine US-amerikanische Post gegeben und jeder Brief wäre über die Vereinigten Staaten zugestellt worden. Ich bin überzeugt: Die digitale Revolution wird die Welt in den nächsten Jahren mehr verändern, als es die industrielle Revolution getan hat. Derzeit sind zehn Milliarden Computer, Smartphones oder Drucker mit dem Internet verbunden. Experten gehen davon aus, dass es sehr bald eine Billion Geräte sein werden. Google hat jüngst das Unternehmen Deep Mind gekauft, die sich damit beschäftigt, wie sich Computer ohne menschliche Hilfe miteinander vernetzen können. Das führerlose Auto wurde gerade vorgestellt. Es wäre ein eigenes Thema, was solche Entwicklungen für Konsequenzen haben werden. „Das Ende aller Geheimnisse“, „Mein Freund, die Suchmaschine“, „Mein Diener Google“ – das sind Schlagzeilen aus der Wirtschaftspresse. Ich sehe hier zwei Versäumnisse der aktuellen Politik: Wo gibt es eine europäische Antwort auf Facebook oder Twitter? Die Gründung von SAP war vor 40 Jahren! Wer beschäftigt sich eigentlich politisch mit den Wirkungen dieser Entwicklungen auf unsere Gesellschaft? Und wer beschäftigt sich politisch damit, wie wir Europäer unseren riesigen Rückstand gegenüber den USA und Asien zumindest wieder ein Stück weit wettmachen können? Natürlich ist die Konkurrenzfähigkeit in erster Linie eine Aufgabe der Wirtschaft und nicht der Politik. Aber Politik kann schon strategische Entscheidungen treffen, wenn ich zum Beispiel an den erfolgreichen Aufbau einer europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie denke. Das galt als Hirngespinst, als Franz Josef Strauß in den 60er Jahren immer und immer wieder darauf gedrängt hat. Heute ist daraus eine Erfolgstory geworden! Mir hat jedenfalls sehr zu denken gegeben, was der frühere US-Botschafter John Kornblum in der größten deutschen Talkshow in der Diskussion über Edward Snowden sinngemäß sagte: „Sie können sich aufregen, wie Sie wollen. Aber das Zentrum für diese Technologien wird auch künftig in den Vereinigten Staaten sein. Damit müssen Sie leben.“ Was ich sagen will: Europa ist ein Zukunftsmodell – davon bin ich überzeugt – aber wir müssen auch etwas dafür tun! Die Zukunft Europas stellt gerade uns Deutsche vor besondere Herausforderungen. Die Generationen von Konrad Adenauer und Helmut Kohl bis zu meiner Generation haben immer dafür gekämpft, den richtigen Platz Deutschlands in Europa und in der Welt zu haben, von der Europäischen Union bis zur NATO. Aber: Es hat sich etwas geändert. Helmut Kohl hat noch gesagt: Natürlich sind wir in Europa die wirtschaftliche Führungsmacht Nummer Eins. Doch lieber grüße ich die französische Tricolore zweimal, bevor Deutschland wieder in die politische Führungsrolle kommt. Das würde auch Helmut Kohl heute so nicht mehr formulieren. Deutschland ist heute aufgrund seiner Wirtschaftskraft und Effizienz lead nation – ob wir das wollen oder nicht. Hegemon wider Willen, accidental empire – an Deutschland hängt heute auch das Schicksal der Europäischen Union. Und die Zukunft des Euro wird nicht in

Europa – unsere Zukunft?

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Rom entschieden und nicht einmal in Paris. Sie wird vor allem in Berlin entschieden. Die Deutschen lehnen das innerlich ab – sie wollen am liebsten in einer Art Großschweiz leben. Aber wir haben heute über unser Vaterland hinaus politische Verantwortung. Deshalb muss auch die deutsche Politik viel stärker über europäische, internationale und globale Fragen diskutieren und sich damit ernsthaft beschäftigen. Nicht aus Nationalismus, sondern aus Verantwortung – für ein starkes Europa in der Globalisierung. Europa ist immer noch ein sehr glücklicher Kontinent – aber wir können uns darauf nicht ausruhen. Ich sehe – nach wie vor – dass die Kreativität und die Innovationskraft in den freien Ländern Europas und Nordamerikas ganz besonders ausgeprägt sind. Das sollte uns Mut machen, die Herausforderungen tatkräftig anzupacken. Europa ist unsere Zukunft!

III. Sozial-, Telekommunikations- und Wissenschaftspolitik

Sozialstaat: Quo Vadis? Von Norbert Blüm Der Sozialstaat ist eine der großen Erfindungen der Neuzeit. Die Pluralisierung der Lebensvorstellung und -verhältnisse ist das Signum der Moderne. Die Ausdifferenzierung relativ autonomer Lebensbereiche ist Fundus des Pluralismus, welcher Freiheit durch Wechsel zwischen unterschiedlichen Hoheiten ermöglicht. Der mittelalterliche Dualismus wurde durch zwei Schwerter symbolisiert. Das eine gehörte dem Kaiser, das andere dem Papst. Zwei Herrschaften mussten sich teilen und die Macht begrenzen. So entstand eine wechselseitige Zuflucht für die jeweils Unterworfene. Im weiteren Prozess der Verselbstständigung machte sich auch die Wirtschaft frei von Staat und Kirche. Das Bürgertum wollte sein Eigentum nicht als Lehen nutzen, sondern selbstständig den Besitz sein Eigen nennen. Privatautonomie und Wettbewerb sind Errungenschaften dieser Befreiung. Dies ist die positive Seite der Entwicklung zur bürgerlichen Emanzipation. Auf der dunklen Rückseite dieses Fortschritts im Zuge der Industrialisierung entstand allerdings ein entrechtetes, schutzloses Proletariat. Die entlaufenen Handwerksburschen, die befreiten Bauern bildeten die verelendete Reservearmee des Kapitalismus. Selbst die Rechtsgleichheit konnte Elend der Armen nicht wenden. Dass unter den Brücken von Paris Bettler und Könige schlafen dürfen, ist eine Errungenschaft der Gleichheit vor dem Gesetz. „Doch die einen müssen es, dem König bleibt dies erspart“, bemerkte schon zynisch Anatole France. Ohne Sozialstaat kein Rechtsstaat Die Gleichheit vor dem Gesetz wir erst real, wenn sich mit dem Recht auch soziale Chancen verbinden, die Gesetze zu nutzen. So ist der Sozialstaat der Kombattant des Rechtsstaates, ohne den er nicht siegen kann. Ohne Sozialstaat keine Markwirtschaft Auch die Marktwirtschaft ist um ihrer Funktionsfähigkeit willen auf die sozialstaatliche Fundierung angewiesen. Ohne Sozialstaat keine Marktwirtschaft.

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Norbert Blüm

Unternehmerische Wirtschaft wurde erst möglich, nachdem die sozialen Risiken wie beispielsweise Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit aus dem Zuständigkeitsbereich der Betriebe externalisiert und sozialstaatlichen Institutionen überantwortet worden waren. Solange Unternehmen familienartig die Fürsorgepflichten für alle ihre Beschäftigten übernehmen mussten, war eine am Gewinn orientierte und im Wettbewerb sich bewährende Ratio nicht steuerungsfähig. Ohne Bismarck kein Erhard. Es gehörte noch zum Dilemma der DDR-Staatswirtschaft, dass die Betriebe sozialstaatliche Aufgaben, wie beispielsweise Beschäftigungssicherung übernehmen mussten. Die Funktion der Arbeitslosenversicherung erfüllte sich in den unternehmerischen Beschäftigungsgarantien, die freilich ohne Produktivitätsrücksichten gewährt werden mussten. Die Arbeitslosenversicherung war in den volkseigenen Betrieben integriert. Die „Arbeitslosen“ blieben im Unternehmen. Der Sozialstaat ist also sowohl für die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates wie für die der Marktwirtschaft die Überlebensbedingung. Das Menschbild des Sozialstaates Der Sozialstaat basiert wie der Rechtstaat auf Fundamenten, die er nicht selber setzt. Das Menschenbild formiert die Prinzipien, denen Rechts- wie Sozialstaat folgen. So entspricht dem individualistischen Menschenbild ein anderer Sozial- und Rechtsstaat als dem Menschenbild des Kollektivismus. Unser Grundgesetz folgt weder individualistischen noch kollektivistischen Leitbildern. Unser Grundgesetz geht von einer Idee des Menschen aus, der sowohl selbst- wie mitverantwortlich ist. Der Weg, den das Grundgesetz beschreibt, hält deshalb gleich weiten Abstand von der individualistischen Atomisierung der Gesellschaft wie von kollektivistischer, staatlicher Nivellierung. Das Grundgesetz ist eine Verfassung der Mitte und die soziale Marktwirtschaft eine gemischte Ordnung, die Freiheit und Sicherheit, Wettbewerb und soziale Ausgleichsleistung und Solidarität ausbalanciert. Sozialverantwortliche Personalität Das Prinzip sozialverantwortlicher Personalität drückt sich sozialstaatlich in der besonderen Stellung der subsidiären Solidarität aus. Subsidiarität entspricht einer besonderen Symbiose von Individualität und Sozialität. Die Subsidiarität gliedert die Solidarität nach der Vorfahrtsregel für die jeweils kleinere Gemeinschaft. Was diese zu regeln in der Lage ist, darf die größere nicht für sich beanspruchen. Subsidiarität ist ein Element vertikaler Gewaltenteilung durch gestufte Kompetenzverteilung und der horizontalen Partizipation durch Ermöglichung von Selbstverwaltung. Es entspricht den demokratischen und marktwirtschaftlichen Leitideen der Machtverteilung und Bürgerbeteiligung. Das Prinzip Subsidiarität kann in drei sozialen Bereichen exemplifiziert werden:

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1. Familie vor Staat (Elternrecht vor staatlichem Erziehungsrecht), 2. Tarifautonomie vor staatlicher Gesetzgebung (Lohnfestsetzung durch Tarifparteien), 3. Sozialversicherung vor Fürsorge (Versicherung vor Fürsorge, Beitrag vor Steuerfinanzierung). Die Verschulung der Kindheit ist eine Form von Verstaatlichung der Familie. Tarifautonomie entlastet den Staat von Verteilungskonflikten und gewährt mehr Differenzierungsmöglichkeiten, als sie dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen. Der gesetzliche Mindestlohn ist die Kompensation für den Verfall der Tarifautonomie, die das Problem besser durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge gelöst hätte. Sozialversicherung: Solidarische Selbsthilfe Der Sozialversicherung ist eine geglückte Institutionalisierung der Subsidiarität durch solidarische Selbsthilfe. Ihre Grundidee unterscheidet sich von der privaten Selbstvorsorge ebenso wie von der steuerfinanzierten Fürsorge. Leistungsbezogene Rente Die Rentenversicherung war das Kernstück der Bismarckschen Sozialgesetzgebung. Diese Rentenversicherung hat zum Unterschied von ihren konkurrierenden Alternativen alle Katastrophen der letzten hundert Jahre überlebt. Die Rentenversicherung beruht auf Beitragsfinanzierung und -bindung. Die Rentenleistung ist Gegenleistung für Beitragsleistung. Rente ist von der Höhe und Dauer der Beitragsleistung abhängig. Das ist die individuelle Dimension unserer Alterssicherung. Im Rahmen des Umlageverfahrens werden die Beiträge der Aktiven für die Renten der Vorgängergeneration eingesetzt. So entsteht ein generationsübergreifender Zusammenhang. Das ist die soziale Dimension des Generationenvertrages. Im Maße der Sorge für die Alten erwerben die Beitragszahler Ansprüche an die nachfolgende Generation. Auf geniale Weise verknüpft sich so Selbst- mit Mitverantwortung. Die Umverteilung ist ein Transfer im Zeitverlauf. Es wird niemand „über den Tisch gezogen“, denn die Alten waren einmal jung und die Jungen werden einmal alt. Solidarische Rente Die Beiträge der Sozialversicherung werden proportional zum Lohn gezahlt und nicht wie in der Privatversicherung nach der Höhe des Risikos des Versicherten. So ist in der Sozialversicherung bereits in der Beitragsgestaltung ein Sozialausgleich

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eingebaut, den die Privatversicherung gar nicht leisten kann und die Staatsfürsorge nur mit großangelegten steuerlichen Umverteilungen zustande bringt. Die beitragsbezogene Rente erspart dem Staat Umverteilungsaktionen. Der interpersonale Umverteilungseffekt tritt in einem beitragsfinanzierten Umlagesystem hinter seinem intertemporalen zurück. Das Desaster der Konkurrenz Die privaten Vorsorgesysteme haben weltweit in den Turbulenzen des Finanzsystems, deren Teil sie sind, ihre Labilität offenbart. Mit der Kapitaldeckung sind die Privatversicherungen Teil des spekulativen Gewerbes, in dem im Glücksfall Rendite erwirtschaftet werden können, Sicherheit jedoch nicht. „Quod erat demonstrandum“. Aber auch auf der anderen Seite werden die steuerlichen Staatsversorgungssysteme im Staatsschuldendilemma versunken. Beide Systeme zeigen eine überraschende Koinzidenz: Die Quintessenz ist: Die als Privatisierer auszogen, kehren deshalb als Verstaatlicher und zerrissenen Hosenbeinen zurück. Überall werden die Privatsysteme staatlich gerettet. Solidarische Selbsthilfe Der Weg weiterer Reformen ist der Weg eines ausbalancierten Sozialstaates, der sein Gleichgewicht zwischen individueller Verantwortung und sozialer Verpflichtung neu einpendeln muss. Wir müssen dabei nicht erst das Haus einreißen, um eine neues zu bauen. Es geht um Weiterentwicklung, nicht um Neubau! Die relative Autonomie der Sozialversicherung kann ausgebaut werden. Noch hängt die Sozialversicherung zu sehr am Gängelband des Gesetzgebers. Mehr Selbstverwaltung anstelle von staatlichen Regelungen wäre ein modernes Reformprinzip, welches sowohl Privatisierung wie Verstaatlichung vermeidet. Hütet Euch vor privatisierenden und verstaatlichten Amokläufern.

Zeitbombe Altersversorgung. Aktuelle Themen für Finanzberatung und Politik Von Axel-Günter Benkner I. Demografische Entwicklung – Hintergrund für die Private Altersversorgung Demografieforschern wie den Professoren Meinhard Miegel und Bernd Raffelhüschen haben mit ihren Publikationen wesentlich dazu beigetragen, dass mittlerweile breiten Bevölkerungsschichten klar geworden ist, was die steigende Lebenserwartung bei gleichzeitig sinkenden Geburtenraten in Deutschland für die Altersvorsorgesysteme bedeuten wird. Unser Rentensystem basiert auf dem sogenannten Generationenvertrag1, das heißt, die heutige arbeitende Bevölkerung zahlt ihre monatlichen Rentenbeiträge für die heutigen Rentner und wird ihre Rente einmal von der zukünftigen erwerbstätigen Bevölkerung erhalten. Nun schrumpft die Arbeitsbevölkerung und die Zahl der Rentner wird immer größer. Dieser Trend wird sich in den nächsten 20 Jahren fortsetzen, sofern wir nicht einen enormen Zustrom von Einwanderern zulassen wollen, der dann wieder andere Probleme mit sich brächte. Kommen im Jahr 2014 auf einen Rentner noch etwa drei erwerbstätige Personen, wird sich dieses Verhältnis bereits im Jahr 2035 auf rund 1:1 verändern. Die Folgen für die staatlichen Altersvorsorgesysteme werden entsprechend dramatisch ausfallen. Entweder werden die Rentenzahlungen dann drastisch gekürzt oder die Beiträge von der arbeitenden Bevölkerung müssen um das Dreifache steigen, also auf knapp 60 % des Arbeitseinkommens. In den Grafiken 1 und 2 wird diese Entwicklung dargestellt. Die sogenannten Mid Ager (im Jahr 2010 20 – 49 Jahre alt) werden die Hauptlast tragen müssen. Erst wenn die geburtenstarken Jahrgänge verstorben sind und die geburtenschwachen sich dann im Pensionsalter befinden, werden sich die Relationen wieder entspannen. Diese Hochrechnungen 1 Definition aus der Großen Bertelsmann Lexikothek (1990): In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Idee vom „Solidarvertrag zwischen den Generationen“ durch W. Schreiber entwickelt. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass das Arbeitseinkommen, das durch Erwerbstätigkeit erzielt wird, als Lebenseinkommen zu verstehen ist. Es wird begründet durch die Lebensphasen: Kindheit und Jugend (eine Phase, in der die Fähigkeiten zur Erwerbstätigkeit erworben werden) und Arbeitsalter (während dessen man Einkommen erwirbt). Aber es muss auch für die Phase des Lebensabends ausreichen. Sieht man die Gesellschaft als Solidargemeinschaft, kann sie (und muss sie zur Sicherung des sozialen Friedens zwischen den Generationen) Lösungen zur Verteilung des von der mittleren Generation erarbeiteten Einkommens finden, die sowohl deren Unterhalt als auch den der Kinder und der alten Menschen sichert. Diese Aufgabe fällt dem jeweiligen System der sozialen Sicherung zu.

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sind nicht neu, sie waren auf Grund der Datenlage (Geburtenzahlen und Entwicklung der Lebenserwartung) bereits spätestens seit 1996 bekannt. Neu ist aber, dass die mit dieser Entwicklung verbundene Problematik zunehmend von den Bürgern ernst genommen wird und nicht so wie vieles, was schwer verständlich ist, ignoriert wird in der Hoffnung, schlaue Leute werden schon irgendwann eine Lösung finden. Damit erhält das Thema eine politische Dimension. Der Zeitpunkt der Überlastung der Rentensysteme rückt näher und die Phänomene werden immer mehr sichtbar mit der steigenden Zahl der rüstigen und reisefreudigen älteren Menschen. Die politischen Dimensionen zeigen sich nun auf mehreren Feldern. Die jüngeren Generationen merken, dass sie vom Generationenvertrag benachteiligt werden. Hinzu kommt, dass sie die enorme Staatsschuldenlast zu tragen haben, sobald die Zinsen wieder steigen oder Deutschland für die südeuropäischen Staaten eintreten muss, die ihre Defizite nicht in den Griff bekommen können oder wollen. In der Vergangenheit hat die Staatsverschuldung und die Zukunftsbelastung der Sozialsysteme beim Wahlverhalten der Bürger keine nennenswerte Rolle gespielt. Das ändert sich nun und neue Parteien, die die Solidität der Staatsfinanzen in den Vordergrund stellen, bekommen Wählerstimmen im signifikanten Bereich. Der andere Bereich, der Auswirkungen auf die breite Masse hat, ist die Private Altersvorsorge. Da eine große Zahl der Bürger nur noch begrenztes Vertrauen in die staatlich organisierte Rente hat, sind nun auch die jüngeren Generationen am Aufbau zusätzlicher Alterseinkommen interessiert.

Grafik 1

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Grafik 2

II. Politische Themen in Verbindung mit dem Demografiewandel Mit der Perspektive, dass die Lebenserwartung weiter steigt, sind Erwartungen und Befürchtungen unterschiedlichster Art verbunden. Auf der einen Seite besteht die sogenannte Altersvorfreude bei denjenigen Menschen, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen werden.2 Sie sind gesund, haben ein ausreichendes Vermögen und können dank ihrer noch ausreichenden Alterseinkünfte nun all das planen, wozu sie während ihres Arbeitslebens keine Zeit gehabt haben. Darauf bezieht sich auch die Bezeichnung Best Agers.3 Ganz andere Themen ergeben sich für die sogenannte „Sandwich-Generation“ 4 und diejenigen, die demnächst in diese Altersgruppe hineinkommen. Die Situation, die sich für diese Menschen bei Eintritt in den Ruhestand erwarten lässt, ist weniger 2 Einen interessanten Überblick über die Thematik findet man in dem Standardwerk „Das Methusalem Komplott“ von Frank Schirrmacher, 2004. 3 Unter Best Ager (auch Generation Gold, Generation 50plus, Silver Ager, Golden Ager, Third Ager, Mid-Ager, Master Consumer, Mature Consumer, Senior Citizens, „over 50 s“) versteht man eine Zielgruppe von Personen mit einem Lebensalter von über 50 Jahren. Unklar ist bei vielen der genannten Begriffe, ob die Zeit der „besten Jahre“ erst mit dem Tod oder bereits weit vorher (z. B. mit der Pensionierung und mit dem damit meistens verbundenen Einkommensverlust) endet. 4 Als Sandwich-Generation wird die Generation der heute 40 bis 60-Jährigen bezeichnet, die wie ein Sandwich „eingeklemmt“ ist zwischen den Verpflichtungen für sich, die Rentnergeneration (über Rentenbeiträge oder Pflegeleistungen) und die Kosten ihrer eigenen Kinder bis weit ins Studentenalter hinein zu sorgen.

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komfortabel. Durch die sinkende Zahl der arbeitenden Bevölkerung und die Langlebigkeit der Rentner und Pensionäre ist klar abzusehen, dass die gesetzliche Rente einen mit den heutigen Verhältnissen für Rentner vergleichbaren Lebensstandard spätestens ab 2035 nicht mehr finanzieren kann. So besteht einerseits in der breiten Bevölkerung ein ausgeprägtes Interesse daran, ein zusätzliches Einkommen zu erlangen, um nicht in die Altersarmut zu geraten. Andererseits werden kritische Stimmen immer lauter, die von der Regierung fordern, rechtzeitig auf eine Verbesserung der Leistungskraft der Sozialsysteme in den kritischen Jahren hinzuarbeiten. Eine solche Initiative hat es mit der Agenda 2010 einmal gegeben, als die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, die Riester-Rente und später eine neue Formel für die Berechnung der Rentenerhöhungen (Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors5, eingeführt wurden. Die gegenwärtige Bundesregierung ist zwar erfolgreich bei der Rückführung der Budgetdefizite und Verschuldungsquoten, schiebt aber schon fast systematisch in zunehmenden Maße Kosten verursachende sozialpolitische oder umweltpolitische „Wohltaten“ in andere Haushalte oder überlässt sie der künftigen Generation. So ist die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren eine schwere Hypothek für die Rentenkasse in der Zukunft. Ähnliches gilt für die „Mütterrente“. Die Energiewende wurde durch Subventionen durch die Stromverbraucher finanziert und wird die Strompreise für die privaten Haushalte noch in 15 Jahren und darüber hinaus belasten. Die Themenkreise der Zukunftsbelastung werden auch die politischen Parteien adressieren müssen, sonst wird die Boulevardpresse den Weg dahin weisen. In der Zwischenzeit sollten der Staat und seine künftigen Regierungen froh sein über jeden Bürger, der sich rechtzeitig auf die bereits heute absehbare Entwicklung einstellt und sich um ein zusätzliches Alterseinkommen kümmert. Nur so lassen sich die Belastungen der Sozialhaushalte in der Zukunft noch abmildern. An der Diskussion um das Renteneintrittsalter hat man gesehen, dass kaum eine Regierung und schon gar nicht eine Koalition von zwei starken Partnern in der Lage ist, in ferner Zukunft liegende Probleme zu lösen, wenn sie mit Opfern für die heutige Bevölkerung verbunden sind.

5 Der mit dem Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz eingeführte Nachhaltigkeitsfaktor fand erstmals zum 1. 7. 2005 Anwendung bei der Rentenanpassung. Durch den Nachhaltigkeitsfaktor wird die Entwicklung des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentnerinnen und Rentnern zu Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern bei der Anpassung der Renten berücksichtigt. Sinkt die Anzahl der Beitragszahlenden, fällt die Rentenanpassung tendenziell geringer aus. Ein Anstieg an Beitragszahlenden wirkt sich hingegen regelmäßig positiv auf die Rentenanpassung aus. Durch den Nachhaltigkeitsfaktor werden sowohl die Auswirkungen der verlängerten Lebenserwartung als auch die Entwicklung der Geburten und der Erwerbstätigkeit auf die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einem Teil auf die Rentnerinnen und Rentner übertragen. Auf diese Weise tragen die Rentnerinnen und Rentner dazu bei, die Funktionsfähigkeit unseres Rentensystems zu erhalten. Quelle: Rentenlexikon (Bundesministerium für Arbeit und Soziales).

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Mit dem einzigen realisierbaren Ausweg der Privaten Altersversorgung stellt sich auch das Thema, wie man die Bürger dazu bringen kann, sie in noch größerer Breite zu betreiben. Das soll der Gegenstand der folgenden Abschnitte sein. Konkret geht es darum, dass nicht nur die absolute Höhe der staatlichen Förderung dabei eine Rolle spielt, sondern auch die Modalitäten, also wie die dazu geeigneten Finanzprodukte reguliert und vertrieben werden, wie die Bedingungen der Beratung gestaltet werden müssten. Daher sollte zunächst auf den Beratungsprozess eingegangen werden.

III. Der Weg des Anlegers zur Privaten Altersvorsorge Nachdem der Altersvorsorgesparer den Entschluss gefasst hat, über einen sehr langen Zeitraum (sinnvollerweise über mindestens 25 Jahre) monatlich einen Teil seines Einkommens für den Aufbau eines Kapitalstocks einzusetzen, aus dem dann bei Eintritt in den Ruhestand eine Zusatzrente finanziert wird, gilt es zu entscheiden, welche Anlageform gewählt werden soll. Der zweite Schritt ist dann die Auswahl des Produktanbieters und des konkreten Anlageinstruments (eine Versicherung, ein Fondssparplan, eine Immobilie). Das Ziel sollte sein, eine möglichst gute Wertsteigerung bei möglichst geringem Risiko zu erreichen. Das klingt zunächst sehr simpel, ist aber bei näherer Betrachtung der Termini Risiko und Ertrag facettenreich, vor allem, weil es bei dieser Kalkulation über einen sehr langen Zeitraum geht. Daher ist nicht nur die Wertentwicklung des Vermögens in Euro zu kalkulieren, sondern auch die zukünftige Wertstabilität der Basiswährung (hier Euro) selbst als Rechengrundlage. Anders ausgedrückt: Es nutzt beispielsweise ein Wertzuwachs des angesparten Vermögens von 200.000 Euro auf 300.000 Euro nichts, wenn im gleichen Zeitraum die Preise für Konsumgüter um 100 % steigen. Wertentwicklung und Risiken dürfen also nicht in nominalen Größen ausgedrückt werden, sondern sollten in realen Werten definiert werden, also mit Einbeziehung künftiger drohender Inflationsraten. Nun kann niemand die Entwicklung von relativen Preisen und des gesamten Preisniveaus über einen so langen Zeitraum hinweg vorhersehen, die damit verbundenen Risiken kann man aber schon in Szenarien beschreiben. Angesichts der hohen und weiter rasant wachsenden Verschuldung vieler zur Eurozone zählender Staaten, der schwankenden Einsicht, die Budgetdefizite abzubauen, und der momentan expansiven Geldpolitik der wichtigsten Zentralbanken der Welt ist das Risiko deutlich steigender Inflationsraten jedenfalls signifikant gestiegen, wenn man wie gesagt einen langen Zeitraum in der Zukunft betrachtet. Daher wäre das portfoliotheoretisch effiziente Vorgehen, bei dem die Risiken diversifiziert werden sollten, mögliche Kaufkrafteinbußen in Inflationsszenarien mit einzubeziehen. Kommt man nun zur Beurteilung der Chancen und Risiken der wichtigen Anlageklassen vor dem Hintergrund der demografischen und fiskalischen Entwicklungen, wird man feststellen, dass es kaum möglich ist, diese Chancen und Risiken zu quan-

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tifizieren, auch wenn das mit Hilfe von Modellrechnungen in der Praxis oft versucht wird und dabei oft suggeriert wird, man könnte diese Größen ausrechnen. Diese Betrachtung muss von Land zu Land unterschiedlich sein, denn in jedem Staat sind die Bedingungen hinsichtlich der steuerlichen, politischen, demografischen und wirtschaftlichen Bedingungen uneinheitlich. Die folgende Übersicht nimmt die Bedingungen für den Altersvorsorgesparer in Deutschland im Jahr 2014 als Beispiel für die Beurteilung der realen Chancen und Risiken seiner Vermögensanlagen. 1. Euro-Anleihen Eine lang laufende Bundesanleihe bringt etwa 1 % p. a. Verzinsung (Stand August 2014). Ein nominelles Kursrisiko besteht praktisch nicht, allerdings wäre die Anlage in voller Höhe den Inflationsrisiken ausgesetzt. 2. Anleihen in fremder Währung Anlagen in fremder Währung sind dann sinnvoll, wenn diese mehr Stabilität erwarten lässt als die heimische. Aus der Sicht eines Euro-Anlegers ist es zur Zeit allerdings schwer, eine passende Währung zu finden, da die Staaten, die hinter den wichtigsten Währungen stehen, die gleichen Budgetprobleme haben wie die europäischen Länder. 3. Termingelder, Sparguthaben Hier ist die Verzinsung momentan noch niedriger bei gleichen realen Wertverlusten im Falle steigender Konsumgüterpreise. 4. Aktien Aktien können kurzfristig auch nominelle Wertverluste erfahren, wenn die Inflationsraten steigen, weil in dieser Phase zunächst die Kapitalmarktzinsen steigen und damit die Konkurrenz für die Aktien auf den Anlagemärkten. Mittel- und langfristig sind aber mit steigenden Preisen auch steigende Unternehmensgewinne zu erwarten. Das gilt vor allem für die sogenannten Substanzwerte mit guter Ertragskraft. Daneben steigt deren Unternehmenswert, wenn sich das Vermögen der Aktiengesellschaft durch die Inflation erhöht. Somit geben Substanzwertaktien einen gewissen Schutz vor der Beeinträchtigung des angesparten Vermögens durch die Inflation. Allerdings hat jede Aktie auch ein unternehmensspezifisches Risiko. Neue Konkurrenten für die wesentlichen Produkte können mit niedrigeren Preisen am Markt auftauchen, neue Vorschriften können teuere Produktionsmethoden erfordern (Beispiel: Ausstieg aus der Kernenergie beeinträchtigt die Ertragskraft von Stromproduzenten, Verbot von bestimmten Medikamenten etc.). Daher kommen Aktien für die private Altersvorsorge eigentlich auch nur in diversifizierter Form (z. B. mittels Fonds oder fondsgebundener Lebensversicherung) in Frage.

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5. Immobilien Eine große Anzahl von Menschen, die für eine zusätzliche Altersversorgung sparen, vertrauen grundsätzlich Finanzprodukten nicht und sind eher geneigt, Geld in Werten anzulegen, die sie verstehen und hinter denen sie einen ewig bestehenden Wert sehen. Daher wurde bei der Einführung der staatlichen Förderung auch eine Möglichkeit geschaffen, direkt in Immobilien anzulegen („Wohnriester“). Die Idee dabei ist, in jungen Jahren ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen und mit den gesparten Monatsraten zuzüglich des staatlichen Zuschusses den Kredit über den größten Teil des Arbeitslebens hinweg zu tilgen mit der Folge, dann eine Immobilie zu besitzen, in der man mietfrei wohnen kann. Dieses Konzept hat einige schwerwiegende Nachteile: Nach der normalen Laufzeit von ca. 30 Jahren ist die Immobilie in der Regel renovierungsbedürftig und entspricht zumindest nicht mehr den dann gültigen Energieeffizienz- oder Sicherheitsanforderungen für den Fall, dass ein Teil oder das gesamte Objekt dann vermietet werden soll. Außerdem ist der Sparer dann das gesamte Leben an einen Wohnort gebunden. Das bedeutet, er müsste in diesen Fällen die Immobilie bei Eintritt in den Ruhestand verkaufen und den Erlös verrenten. Das jedoch ist mit hohen Transaktionskosten verbunden, außerdem dürfte der Wert von Wohnimmobilien angesichts der schrumpfenden Bevölkerung in Deutschland relativ zu anderen Realwerten sinken. Allenfalls in Ballungsgebieten mit starker wirtschaftlicher Struktur und in den Orten, die die zukünftige Bevölkerung (Best Agers) dann bevorzugen wird, könnte das Immobilieninvestment erfolgreich sein. Nun kann man eine staatliche Förderung nicht so regeln, dass der Wohnungserwerb nur in wirtschaftlich perspektivreichen Gegenden gefördert wird, sie muss für jeden Bürger gelten, egal wo er seinen Wohnsitz hat. Eine weitere Schwachstelle ist mit den laufenden Unterhaltskosten verbunden. Energiekosten, Grundsteuern und Renovierungskosten sind kaum vorhersehbar, so dass eine Immobilie schnell zu einer Belastung werden kann, die größer ist als die Mietersparnis. Die gleichen Argumente sprechen auch gegen den Vermögensaufbau für die Private Altersversorgung mit einer Immobilie, die vermietet wird. Mit ihr steht der Altersvorsorgesparer bei Eintritt in den Ruhestand ohne liquides Vermögen und damit ohne finanziellen Spielraum vor der Belastung durch die Immobilie und muss darauf setzen, dass er sie noch zu einem guten Preis verkaufen kann, wenn sie sich nicht von allein durch die Nettomieten trägt, was gerade bei älteren Objekten selten der Fall ist. Ein Hybrid-Investment, das zwischen der Immobilienanlage und einem Finanzpapier steht, ist der Immobilienfonds, mit dem in der Anlageklasse Immobilien mit besserer Liquidität und einer gewissen Diversifikation angelegt werden können.

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6. Realwerte, die keine Erträge bringen Bei der Anlage von Ersparnissen handeln viele Menschen emotional. Ein großer Teil hat gar kein Vertrauen in die von Banken, Versicherungen und Finanzvertrieben empfohlenen Wertpapiere und Anlagestrategien, wollen sich auch nicht auf langfristig unbewegliche Immobilienanlagen einlassen und horten Edelmetalle, Briefmarken, Münzen, Kunstgegenstände, Schmuck und ähnliches. Das ist die am wenigsten effizienteste Vorgehensweise, um für die Private Altersvorsorge anzusparen, da diese Anlagen zweifach (beim Kauf und beim Verkauf) mit hohen Transaktionskosten belastet sind, während der Sparperiode keine Erträge bringen und je nach Gegenstand hohe Verwahrkosten verursachen. Daher ist es sachgerecht, diese Anlagen nicht in den Katalog der zu fördernden Altersvorsorge aufzunehmen.

IV. Überforderung der Altersvorsorgesparer bei der Entscheidung Bei Entscheidung und Vertragsabschluss hat es der Altersvorsorgesparer mit einer hochkomplexen Materie zu tun. Eine qualifizierte Beratung ist, wie im Folgenden erläutert, unverzichtbar. Allein der Abschluss einer Riester-Rente bedarf bis zu acht Unterschriften auf verschiedenen Formularen und Entscheidungen, die weit über die Auswahl des Produktanbieters hinausgehen. Diese Entscheidungen sind aber ungeheuer wichtig, da sie zu monatlichen Zahlungen für den gesamten verbleibenden Rest der Erwerbstätigkeit führen. Zwar kann man das Ansparen von Altersvorsorgeverträgen auch abbrechen, verliert dabei aber die Förderbeträge und hat erhebliche Kosten zu tragen. Ohne die aktive Ansprache durch Finanzvertriebe und Bankberater würden nur wenige junge Leute die enormen bürokratischen Hürden bewältigen können, um einen staatlich geförderten Ansparplan für eine Private Altersvorsorge abzuschließen. Die Leistung der Berater liegt dabei nicht allein im Vermitteln von Lebensversicherungen oder Fondssparplänen, sondern auch bei der Erklärung des gesamten schwierigen Sachverhalts, der Kalkulation der für den einzelnen Sparer sinnvollen Monatsrate und dem Ausfüllen der diversen Formulare. Das wird von der Kritik, die von vielen Seiten am gegenwärtigen System des Finanzvertriebs (überwiegend Provisionsberatung) geleistet wird, nicht angesprochen. Regionale Banken und Sparkassen haben mittlerweile Riester-Spezialisten ausgebildet, die vom Kundenbetreuer beim Beratungsgespräch mit hinzu gezogen werden, weil vielfach schon der normale Kundenbetreuer die Komplexität der Riester-Rente in der Praxis nicht beherrscht. Somit ist der Abschluss eines Altersvorsorgevertrages eine der zeit- und kostenintensivsten Beratungstätigkeiten von Kunden- und Vermögensberatern. Darauf soll im Folgenden noch näher eingegangen werden. Nachdem der Altersvorsorgesparer entschieden hat, in welche Anlageklassen er seine Sparraten künftig investieren sollte, muss er sich für die Anlageinstrumente und den oder die Produktanbieter entscheiden. Ist die große Mehrzahl der Altersvorsorgesparer mit der ersten Entscheidung (über die Anlageklassen) schon überfordert,

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trifft das dann für die nächste Entscheidung in noch stärkerem Ausmaß zu. Die Überforderung der Altersvorsorgesparer mit diesen Entscheidungen und später auch mit der selbständigen Unterzeichnung der notwendigen Verträge, um die Zuschüsse zu den eigenen Sparraten zu bekommen, hat mehrere Gründe. Sinnvollerweise beginnt der Altersvorsorgesparer bereits in den ersten Jahren nach Beginn seines Arbeitslebens mit dem systematischen Sparen. Er ist also noch jung und hat wenig Erfahrung mit finanziellen Angelegenheiten. Da in den meisten deutschen Schulen kein praxisorientierter Unterricht in Wirtschaftskunde erfolgt, sind Geldanlagethemen, die über die Kontoführung und das Sparbuch hinausgehen, für ihn völlig neu. Hinzu kommt, dass die Konstruktion der staatlichen Förderung äußerst kompliziert gestaltet wird. Das kommt daher, weil der Gesetzgeber mit dem 2002 eingeführten Altersvermögensgesetz (AVmG) mehrere Ziele verfolgen wollte, als nur auf einfachem Wege für alle Bürger gleich durch Zuschüsse die private Ersparnis zu fördern, die zu einem Vermögensaufbau führt, der für die breite Masse ausreicht, um nicht in den Bereich der Altersarmut zu kommen, der spätestens ab 2025 droht, wenn sich die demografischen Veränderungen in Deutschland zuspitzen6. Gegenüber einem einfachen Fördermodell, bei dem jeder Bürger, der systematisch mit dafür geeigneten Anlageplänen (Lebensversicherung, Banksparplan oder Fondssparplan) für die Altersvorsorge spart, einen Grundförderbetrag x (z. B. 200 Euro p.a.) erhält, wenn er mindestens die Summe y (z. B. 100 Euro im Monat) anspart, wollte der Gesetzgeber weitere Lenkungsmotive und Sozialkomponenten mit in das Fördersystem einbauen, die die gesamte Handhabung verkomplizieren. Das sind im Einzelnen folgende Motive: – Der Bundeshaushalt sollte in den ersten Jahren nach Einführung durch die im Folgenden Riester-Rente genannte Förderung noch nicht voll belastet werden. Daher waren die maximalen Förderbeträge in den Jahren bis 2008 unterschiedlich hoch, was dazu führte, dass jedes Jahr die Ansparleistungen angepasst werden mussten. Das war auch ein wesentlicher Grund dafür, dass die Riester-Rente in den ersten Jahren kaum genutzt wurde. – Es sollten Familien mit Kindern besser gestellt werden. Daher kommt bei der staatlichen Zulage noch eine Kinderzulage hinzu. Dafür müssen die entsprechenden Nachweise erbracht werden. Mit der Idee Altersvorsorge hat die Kinderzulage nichts zu tun, denn wenn der Eintritt in den Ruhestand erfolgt, werden die Kinder bereits ein 6

Nachdem der Gesetzgeber nach den ersten Jahren nach Einführung der Fördergesetze feststellen musste, dass das bürokratisch überladene Regelungssystem nicht von der Bevölkerung angenommen wurde, löste er das Altersvermögensgesetz 2005 durch das Alterseinkünftegesetz ab, bei dem der Prüfungsaufwand und die Belegnachweispflichten erheblich geringer waren. Bis dahin hatten erst vier Millionen Bürger die staatliche Förderung in Anspruch genommen. Auch wenn die Handhabung der Antragstellung dadurch besser geworden ist, blieben die Konstruktionsfehler, von denen einige in diesem Abschnitt aufgeführt worden sind.

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eigenes Einkommen haben, in vielen Fällen sogar zur Versorgung der Eltern beitragen können. – Es soll auch Bürgern ermöglicht werden, die Riester-Rente zu nutzen, die nicht in der Lage sind oder einfach nicht den maximal geförderten Sparbetrag (seit 2008 Euro 2100 p. a.) leisten wollen. Daher muss in diesen Fällen der Lohn- bzw. Einkommensteuerbescheid des Vorjahres mit bei der Beantragung der Förderung durch das Finanzinstitut oder die Versicherung besorgt und beigelegt werden, auf Grund dessen dann die Mindestsparraten berechnet und belegt werden. – Für Anleger mit höherem Einkommen gibt es die Möglichkeit, die Sparbeträge bei der Einkommensteuer anrechnen zu lassen. Ab einem bestimmten Grenzsteuersatz wäre diese Anrechnung vorteilhaft für den Sparer. Eine so genannte GünstigerPrüfung macht zwar das Finanzamt; die Kalkulation der Förderbeträge, die der Sparer erwarten kann, werden dadurch aber noch aufwändiger. – Ein grober Konstruktionsfehler der Riester-Rente ist die Beitragsgarantie. Es dürfen nur Anlagen getätigt werden, bei dem der Vertragspartner eine Auszahlung garantiert, die mindestens den eingezahlten Beträgen plus den Zulagen über den gesamten Zeitraum hinweg entspricht. Auf dem ersten Blick liegt das im Interesse der Altersvorsorgesparer. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass er nur Produkte angeboten bekommen kann, deren Wertentwicklung sehr eng mit den Anlagerenditen für EuroStaatsanleihen verbunden ist. Das gilt insbesondere für Fondssparpläne und die fondsgebundene Lebensversicherung, wird in Zukunft aber auch für klassische Lebensversicherungen relevant, wenn die Zinsen langfristig tief bleiben. Wäre in dem Fondsportefeuille eine für langfristige Ansparsysteme natürliche Aktienquote von mindestens 30 % enthalten, mit der der Sparer an der Entwicklung der Realmärkte teilhaben kann, müsste der Produktanbieter für die damit verbundenen nominalen Risiken haften. Bei den niedrigen Margen und hohen Verwaltungskosten in diesem Geschäftsfeld können und dürfen diese Risiken nicht getragen werden. Daher führt die Garantie der Beiträge und Zulagen zwangsläufig zu einer Allokation der Anlagen, die in unvertretbar hohem Maße Inflationsrisiken ausgesetzt ist. V. Aspekte des Anlegerschutzes Es ist verständlich und sinnvoll, dass sich der Gesetzgeber um die Sicherheit der von ihm geförderten Anlagen kümmert und durch Gesetze und staatliche Behörden reguliert. Gleichzeitig ist er gezwungen, europäische Richtlinien in nationales Recht umzusetzen. Um Anleger vor schlechten Finanzprodukten, überhöhten Kosten und unqualifizierter Beratung zu schützen, reguliert der Gesetzgeber auf mehreren Ebenen. Auf der Produktseite unterliegen Finanzprodukte und Versicherungen, die für die staatlich geförderte Altersversorgung zum Einsatz kommen, bereits systematischen Vorschriften, die die Anbieter kontrolliert durch Aufsichtsämter erfüllen müssen. Im

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Wesentlichen sind das in Deutschland das Versicherungsvertragsgesetz und für Fonds das Investmentgesetz, die die Anlagemöglichkeiten und die Risikokontrollsysteme festlegen. Damit wird verhindert, dass hochspekulative Anlageinstrumente im Rahmen der Altersvorsorge durch die Berater überhaupt eingesetzt werden. Hinzu erfordern die Fördergesetze eine Garantie der eingezahlten Beiträge und des staatlichen Zuschusses durch die Produzenten (Versicherungen und Investmentgesellschaften). Auf der Vertriebs- und Beratungsebene schreibt das Versicherungsvermittlungsgesetz und für Investmentfonds seit 2014 die Gewerbeordnung eine Qualifikationsprüfung der Finanzberater und Versicherungsvermittler vor. Damit soll sichergestellt werden, dass die Beratung von Altersvorsorgeprodukten und Systemen nur durch qualifiziertes Personal erfolgt. Um die Anleger vor überhöhten Kosten zu schützen, gibt es zwei Ansätze: Man kann eine Obergrenze der Vertriebsprovisionen vorschreiben oder die Kostenstruktur für den Anleger transparent machen. Ersteres (Kostenlimit) ist ordnungspolitisch ungewöhnlich, da der Markt für Finanzprodukte und Versicherungen hochkompetitiv mit einer sehr großen Anzahl von Anbietern ist, und gleichzeitig ist ein Kostenlimit diskriminierend für exzellente Produkte, wenn die Kostenobergrenze zu eng gezogen wurde. Daher erfolgt seit einigen Jahren in ganz Europa der Anlegerschutz auf dieser Ebene durch Transparenzanforderungen. Die dahinter liegende Grundidee ist auf den ersten Blick ein ausgewogenes Konzept. Man lässt eine breite Palette von Finanzprodukten und Vertriebswegen zu, sorgt aber durch die vorgeschriebenen Anlegerinformationen dafür, dass die Anleger oder deren persönliche Berater eine gute Grundlage für ihre Entscheidung haben. Die aktuelle Praxis zeigt allerdings, dass übertriebene Anforderungen genau das Gegenteil bewirken, die Anleger verwirren und tatsächlich bestehende Risiken im Überfluss der Informationen untergehen. Das gilt es also bei der Regulierung zu beachten. Zu viele Informationen sind kontraproduktiv. Im Folgenden wird darauf näher Bezug genommen. Zunächst soll auf die Interessen eingegangen werden, für die die Regulierung der Produkte für die private Altersvorsorge und deren Vertrieb bedeutsam ist. 1. Verbraucherschutzverbände Finanzprodukte sind für die Verbraucher (Anleger) schwer verständlich und hinsichtlich der Erträge, Kosten und Risiken kaum einzuschätzen. Gleichzeitig besteht ein gewisses Misstrauen gegenüber den Instituten, die Bank- und Versicherungsprodukte generieren, und den Beratern, die diese verkaufen. Dazu tragen einzelne Vertriebsunternehmen und Banken durch unlautere Handlungen und Fehlspekulationen einzelner Mitarbeiter und für breite Bevölkerungsschichten unverständliche Gehälter immer wieder bei. Dabei ist es bei diesem Imagethema unwichtig, ob die hohen Gehälter notwendig, gerecht und angemessen sind oder nicht, sie bewirken eine aus Neidinstinkten kommende Antipathie gegen die gesamte Finanzbranche. Damit er-

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öffnet sich für Verbraucherschützer aller Art ein attraktives Betätigungsfeld. Im Wesentlichen geht es um die Durchsetzung immer wieder neuer und umfangreicherer Transparenzvorschriften. 2. Versicherungen und Fondsgesellschaften Die Anbieter von Produkten für die private Altersversorgung haben in erster Linie geschäftliche Interessen, wollen auf diesem Gebiet neue Kunden gewinnen, die Anlagevolumina steigern, langfristig Gewinne erzielen und den Unternehmenswert erhöhen. Dabei agieren sie auf einem sehr schwierigen Terrain, denn die Margen sind niedrig, der Verwaltungsaufwand hoch und die durch die vorgeschriebenen Garantien eingegangenen Risiken beträchtlich. Daher haben sich bereits mehrere Versicherungen und Fondsgesellschaften aus dem Geschäftsfeld „Riester-Rente“ wieder zurückgezogen. Gewinne sind in diesem Geschäftsfeld ohnehin nur erzielbar, wenn die Versicherung oder die Fondsgesellschaft sehr langfristig kalkuliert. Das liegt daran, dass ein substanzieller Kostenblock bei Abschluss- und Verbuchung der Riester-Verträge anfällt. Gleiches gilt für Rürup-Renten-Verträge. In den folgenden Jahren werden die Beiträge nach und nach eingezahlt. Das angesparte Volumen bleibt dann in den ersten Jahren nach Vertragsabschluss niedrig und steigert sich dann erst im Laufe der Jahre. Die Erträge für die Versicherungen und Fondsgesellschaften sind die Gebühren, die das angesparte Vermögen als Prozentsatz, in der Regel zwischen ein und zwei Prozent pro Jahr, belasten. Das bedeutet, dass die Produzenten der Altersvorsorgeprodukte häufig erst nach mehr als zehn Jahren nach Vertragsabschluss in die Gewinnzone kommen, da erst dann das angesparte Vermögen groß genug ist, um die bis dahin angelaufenen Verwaltungs- und Vertriebskosten zu decken. Versicherungen und Fondsgesellschaften sind daher gezwungen, in diesem niedrig-margigen Massengeschäft die eigenen Verwaltungskosten möglichst niedrig zu haben. Jede Form einer bürokratischen Belastung durch vorgeschriebene Kontrollen, die über die eigenen und als sinnvoll betrachteten hinausgehen, oder laufende Anlegerinformationen, die an jeden einzelnen Kunden per Post versendet werden müssen, sind Kostenfaktoren. Das Interesse der Produktanbieter beim Thema Anlegerschutz ist also in erster Linie, Kosten zu vermeiden. Daneben sollten die Informationen, die der Kunde erhält, für ihn verständlich sein, um ihn nicht beim Abschluss eines Vertrages zu verunsichern. Dahingegen haben die Produzenten nichts gegen vorgeschriebene Risikohinweise, da diese sie bei ungünstiger Marktentwicklung vor Ersatzansprüchen schützen. 3. Finanzvertriebe, Versicherungsagenturen und Retailbanken Wie zu Beginn des Kapitels erläutert, schieben die meisten Menschen wichtige Entscheidungen für ihre in ferner Zukunft liegende finanzielle Lage so lange wie möglich vor sich her. Da der Aufbau eines Kapitalstocks für die private Altersversor-

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gung nur ab einer bestimmten Größenordnung effektiv ist, um den geplanten Lebensstandard nach Eintritt in den Ruhestand zu finanzieren, kommen die Betroffenen in der Regel erst dann zu einer Vertriebsstelle für Altersvorsorgeprodukte, wenn die verbleibende Zeit bis zum Eintritt in den Ruhestand nicht mehr ausreicht, um das benötigte Kapital anzusparen. Das bedeutet in der Praxis: Ohne aktiven Vertrieb kommt es in der Breite nicht zur privaten Altersvorsorge. Daher bekommen die Vertriebsstellen für Altersvorsorgeprodukte eine wichtige Rolle im gesamten System Private Altersvorsorge. Die Aufgabe der Vermögensberater, Versicherungsagenten und Kundenberater bei den Banken und Sparkassen ist es, Menschen bereits in den ersten Jahren ihrer beruflichen Laufbahn anzusprechen und für den Abschluss einer privaten Altersversorgung zu gewinnen. Die dazu nötigen Aktivitäten werden allerdings nur vorgenommen, wenn mit dem zeitlich hohen Beratungsaufwand ein angemessenes Honorar verbunden ist. Der Beratungsaufwand hängt dabei von den bürokratischen Anforderungen ab, die dem Schutz des Kunden dienen sollen. Letztendlich muss der Kunde durch die Höhe des Honorars dafür zahlen. Für die regulierenden Stellen kommt es also darauf an, herauszufinden, welche von den Verbraucherschützern geforderten Auflagen sinnvoll sind und bei den verbleibenden zu beurteilen, ob der Aufwand für die Vertriebsorganisationen und ihre Kundenberater in angemessenem Verhältnis zur Schutzfunktion gerechtfertigt ist. Übertriebene oder unsinnige Transparenzanforderungen schaden also den Anlegern und können im Extremfall sogar dazu führen, dass sich die Produzenten oder die Vertriebsorganisationen ganz aus dem Geschäftsfeld private Altersvorsorge zurückziehen. 4. Die Kunden Die große Mehrheit der Altersvorsorgesparer ist froh, wenn sie endlich den Vertrag abgeschlossen hat, und sie sich wieder den alltäglichen Themen widmen kann. Der Vertragsabschluss soll möglichst schnell gehen, zu viele Informationen und Unterschriften ermüden sie und führen dazu, dass spätestens nach 30 Minuten komplizierter Erklärungen die Aufmerksamkeit nachlässt und die Bereitschaft wächst, einfach alles zu unterschreiben, damit das lästige Gespräch beendet wird. In dem Moment laufen alle gut gemeinten Transparenzanforderungen ins Leere, da der Kunde sich nicht mehr mit der Materie befassen will und unterschreibt, was ihm der Berater vorlegt, ohne sich mit dem Inhalt kritisch auseinanderzusetzen. Mit dem Abschluss des Vertrages erhofft sich der Altersvorsorgesparer, danach von der Bürokratie verschont zu bleiben. Daher sind ihm anschließend steuerliche Wahlrechte oder Produktwechselmöglichkeiten eher lästig als vorteilhaft. Das bestätigen auch die Statistiken der Anbieter von Fondsgebundenen Lebensversicherungen, bei denen der Kunde im Laufe der Ansparphase die Möglichkeit hat, die Zusammensetzung des Fondsvermögens zu verändern. Mehr als 90 % machen von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch.

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Für den Kunden ist es wichtig, Vertrauen zu dem Berater zu haben. Ist dies der Fall, ist er nach Vertragsabschluss zufrieden und möchte sich dann am liebsten erst wieder kurz vor Eintritt in den Ruhestand mit der Materie befassen. 5. Die Medien Die zu diesem Thema relevanten Medien sind die Massenmedien Zeitungen und Fernsehen so wie die Fachpresse. Letztere sorgt mit Analysen über die Altersvorsorgeangebote und Vergleichsrechnungen für die wirksamste Transparenz. Mittlerweile werden Ranglisten für die Qualität der Produkte, deren Wertentwicklung und auch die Qualität der Vertriebsinstitute zusammengestellt und immer wieder aktualisiert veröffentlicht. Diese Veröffentlichungen dienen dann den Finanzberatern und auch einer relativ kleinen Gruppe von interessierten Anlegern als wichtige Entscheidungshilfe im Beratungsprozess; die Mehrheit der Altersvorsorgesparer erreichen sie allerdings nicht, da sich diese mit Finanzthemen nicht befassen will. Die Massenmedien beschäftigen sich einerseits nicht systematisch mit dem Thema Private Altersvorsorge. Sie reagieren auf Nachrichten, die sich für eine interessante Story eignen. Dazu zählen Skandalgeschichten in Verbindung mit einem bekannten Institut oder einer prominenten Person. Diese Geschichten beziehen sich normalerweise auf Ausnahmefälle, suggerieren aber oft, dass alle Produkte schlecht oder alle Vertriebsunternehmen unseriös seien und tragen damit häufig zur Verunsicherung der Altersvorsorgesparer bei. Andererseits sind die Massenmedien aber unverzichtbar für die Verankerung der Versorgungslücken in den Köpfen der breiten Masse. Die Erkenntnis, dass die demographischen Veränderungen die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente beeinträchtigen werden, kann der normale Bürger nicht durch eigene Überlegungen erreichen. Er muss dazu durch die Massenmedien hingeführt werden. Die Erkenntnis der drohenden Versorgungslücke ist aber eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass sich der Bürger überhaupt mit seiner Altersvorsorgesituation befasst und dann auch für eine Beratung offen ist. VI. Präferenzen der Altersvorsorgesparer Wie bereits erläutert, haben die meisten Menschen kein Vergnügen, sich mit Finanzthemen auseinanderzusetzen. Männer feiern den Kauf eines neuen Autos, den meisten Damen bereitet ein Gang durch Kaufhäuser und Modegeschäfte großes Vergnügen. Auf den Termin zur Altersvorsorgeberatung freut man sich ähnlich wie auf den zum medizinischen Pendent. So wie man bei letzterem zum Arzt gehen soll, bevor man Beschwerden verspürt, so ist es bei der Altersvorsorgeberatung auch. Die zeitliche Differenz zwischen Abschluss des Vertrages und Lieferung der Ware (in diesem Fall die Zahlungen der Zusatzrente auf das eigene Konto) beträgt im Regelfall 25 bis 35 Jahre. Das gibt vielen Menschen ein Argument, diese Lebensentscheidung noch lange vor sich her zu schieben. Dazu kommen Argumente wie von Rauchern, die es nicht schaffen, sich das Rauchen abzugewöhnen (nächstes

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Jahr fange ich an; wer weiß, ob ich in 30 Jahren noch lebe; es ist ja bisher immer gut gegangen; es wird mir schon noch etwas einfallen; vielleicht erbe ich ja genug usw.). Nun daraus den Schluss zu ziehen, für die Menschen wäre es das Beste, es gäbe gar keine Private Altersvorsorge, ist allerdings auch falsch. Neben dem volkswirtschaftlichen Interesse, in 30 Jahren nicht die Hälfte der Bevölkerung in der Altersarmut und damit auch in der Sozialhilfe zu haben, sind auch die meisten Bürger über die Folgen der demografischen Entwicklung und der hohen Staatsverschuldung in Europa besorgt. Man glaubt nicht daran, dass die gesetzliche Rente allein ausreichen wird, um die eigenen Ansprüche im Alter zu finanzieren. So wechseln im Zeitablauf Phasen der Besorgnis und Phasen der Verdrängung miteinander ab. Hier gibt dann die persönliche Ansprache durch den Kundenberater den Ausschlag, um das Thema persönliche Altersvorsorge zu erledigen. Aus dem vorher Gesagten ergibt sich die erste Kundenpräferenz, nämlich die Sache auf Dauer abgeschlossen zu haben. Viele Produktanbieter werben mit einer gewissen Flexibilität für den Anleger. So gibt es beispielsweise fondsgebundene Lebensversicherungen mit der Möglichkeit für den Anleger zwischen Fonds mehrerer Fondsgesellschaften auswählen zu können oder während der Laufzeit des Vertrages von einem Fonds kostengünstig in einen anderen umzusteigen. Statistiken der großen Versicherungen und Fondsgesellschaften zeigen, dass bei über 90 % dieser Verträge der Anleger von diesen Rechten gar keinen Gebrauch macht. Die zweite Präferenz des Kunden ist, dass er das richtige Produkt erwirbt. Diese Frage hat zwei Komponenten. Die erste ist die Auswahl der Anlageklasse (Banksparplan, klassische Versicherungsportefeuilles, Fondssparplan mit Aktienkomponente, Immobilie). Die zweite Komponente ist die Auswahl des Produktanbieters (Lebensversicherung, Fondsgesellschaft, Bank). Bei der ersten Komponente sachgerecht beraten zu können, setzt schon gute Kenntnisse der Chancen und Risiken der wichtigsten Anlagemärkte voraus. Bei der zweiten Komponente, der Auswahl des besten Produktanbieters gibt es keine Formel, nach der man vorgehen könnte. Hier kann der Berater seine eigenen Erfahrungen hinsichtlich des Services und der Wertentwicklung der einzelnen Fonds- oder Versicherungsportefeuilles einbringen. Der Kunde wird hier dem Berater vertrauen, da er eigene Untersuchungen nicht anstellen kann, um sich eine Meinung zu bilden. Bei Investmentfonds werden zwar regelmäßig Performancevergleiche veröffentlicht und Ratings für einzelne Fonds oder ganze Fondsgesellschaften vergeben; vergleichende Analysen über die Qualität von Produktanbietern der Riester-Rente sind allerdings selten. Die Stiftung Warentest veröffentlicht regelmäßig Zahlen zur Wertentwicklung verschiedener Riester-Verträge, allerdings ohne Aussagekraft, da sich die Berechnungen nicht auf tatsächlichen Werten gründen, sondern auf Hochrechnungen der Garantiewerte beziehen. Dabei sind die höchsten Garantiewerte natürlich mit der niedrigsten Aktienquote bei der Anlage möglich und daher mit den geringsten Chancen und auch hohen Inflationsrisiken verbunden.

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So weit kann es aber im Kundengespräch nicht kommen, da der Anleger die Komplexität der Materie erkennt und spürt, dass es für ihn wichtig ist, dass sich der Berater mit dem Produktanbieter wohlfühlt. Schließlich muss der Berater die Formulare ausfüllen und bei der Risikobelehrung die Risiken überhaupt erkennen. Nun wird der Berater in der Regel den Anbieter empfehlen, der für ihn den besten Service bietet und das sind eine schnelle Vertragsabwicklung, Produktschulungen und ein gutes Informationssystem (online oder per Hotline), damit er später kommenden Fragen der Kunden nachgehen kann. Spätestens hier wird ersichtlich, dass eine unabhängige Beratung bei einem solch komplizierten Produkt wie die Riester-Rente keinen wesentlichen Zusatznutzen bringt. Jedenfalls stünde dieser in keinem Zusammenhang mit dem gravierenden Nachteil der Anonymität des Produktanbieters für den Berater. Die dritte Kundenpräferenz bezieht sich auf die Ertragschancen und Risiken der Anlage. Auch den wenig finanzwirtschaftlich ausgebildeten Menschen ist klar, dass die Verzinsung auf Spar- und Termingeldkonten derzeit nahe null ist und man mit Aktienanlagen Risiken eingeht, aber insbesondere langfristig gute Anlagerenditen erzielen kann. Daher wollen die meisten Altersvorsorgesparer einen Mittelweg gehen, der dann zu einem Anlageportefeuille führt, in dem Aktien und Anleihen enthalten sind. Die vierte Kundenpräferenz betrifft die Kosten. Selbst in dieser Frage verlässt sich der Kunde auf den Berater, von dem er erhofft, dass er für ihn ein kostengünstiges Produkt empfiehlt. Das ist erstaunlich, weil der Kunde natürlich weiß, dass die Provision, die der Berater erhält, ein wesentlicher Teil der gesamten Kosten ist. Der Kunde erkennt aber besonders bei dem langen Gespräch über die verschiedenen schwierig zu verstehenden Aspekte der Riester-Rente den Aufwand des Beraters und ist eher daran interessiert, alle anderen Kosten zu minimieren. Ein wichtiger Aspekt des Vertriebskostenthemas, nämlich die Art der Honorierung des Beraters, ist derzeit in der politischen Diskussion auf europäischer und auf deutscher Ebene. Es geht um die insbesondere von den englischen Behörden geforderte Pflicht zur Honorarberatung. Eine darauf ausgerichtete EG-Richtlinie steht derzeit zur Umsetzung in deutsches Recht an. Die Grundidee dieser Initiative lässt sich folgendermaßen beschreiben: Bislang ist es in Deutschland und den meisten europäischen Ländern üblich, dass der Berater für seine Beratung ein Honorar von der Versicherung (Abschlussprovision) oder von der Fondsgesellschaft (Ausgabeaufgeld) erhält. Diese Honorare haben unterschiedliche Höhen und werden letztendlich vom Kunden bezahlt. Das bedeutet, dass ein Finanzprodukt mit hoher Vertriebsvergütung attraktiv für den Berater und schlecht für den Kunden sein kann. Damit besteht ein Interessenkonflikt bei dem Berater, den man auf europäischer Ebene dadurch begegnen will, dass man die Honorierung des Beraters oder Vermittlers durch den Produktanbieter untersagt. Stattdessen sollte der Berater dann ein Beratungshonorar direkt vom Kunden erhalten. Erst dann könne eine unabhängige und nur dem Kundeninteresse dienende Beratung erfolgen.

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Dieses Konzept hat allerdings gerade bei einer so aufwändigen Beratung wie der für die Private Altersvorsorge zwei ganz wesentliche Schwachstellen. Die eine ist die absolute Höhe des Honorars. Bislang fällt eine Provisionszahlung für den Berater nur an, wenn der Kunde tatsächlich den Vertrag abschließt. Bei einer Honorarberatung müsste er auch zahlen, wenn er sich am Ende des Gesprächs entschließt, nichts zu kaufen. Eine Riester-Renten-Beratung erfordert mindestens zwei Stunden plus Wegekosten. Bei Vertragsabschluss kommen noch einmal Bearbeitungs- und Verbuchungskosten hinzu. Dem steht gegenüber, dass Umfragen zu diesem Thema zufolge, die meisten Bürger bereit wären, ein Beratungshonorar von bis zu 30 Euro pro Beratung zu zahlen. Das bedeutet, dass durch die Struktur der Honorarberatung das Riester-Sparen in Deutschland zum Erliegen kommen würde, denn für 30 Euro kann eine qualifizierte Beratung nicht durchgeführt werden. Daneben fiele ein angemessenes Honorar für viele Bürger, die sich über Möglichkeiten der Privaten Altersvorsorge informieren wollen mit dem Ziel, einen Vertrag abzuschließen, in einer Summe an. Dieses Problem wurde bislang mit sogenannten gezillmerten Verträgen gelöst. In diesen Verträgen sind die Vertriebskosten und damit die Abschlussprovisionen für den Vermittler in den Vertrag mit eingearbeitet, werden auf der Bilanz der Versicherung bilanziert und in einer Summe an den Vermittler ausbezahlt. Das ist der technisch einfachste Weg der Provisionierung. Ansonsten müsste bei jeder Beitragszahlung ein bestimmter Prozentsatz an den Vermittler ausgezahlt werden. Für den Kunden hat die Zillmerung die gleiche Wirkung wie eine Honorarzahlung, die über mehrere Jahre hinweg mit den monatlichen Sparraten gezahlt wird. So geht der Ansatz der Verpflichtung zur Honorarberatung eindeutig an dem von den Kunden präferierten Vergütungssystemen vorbei. Die fünfte Kundenpräferenz ist, beim Beratungsgespräch herauszufinden, was wirklich wichtig für ihn ist. Dabei lenken ihn viele gut gemeinte standardisierte Belehrungsbögen, die er dann noch unterschreiben muss, obwohl er die Materie nicht in vollem Umfang verstanden hat, eher von den wirklich wichtigen Fakten ab als dass sie ihm eine Entscheidungshilfe sein könnten. VII. Kritische Würdigung der Regulierung der Privaten Altersvorsorge in Deutschland Mit der Änderung der umständlichen Belegführung durch die Altersvorsorgesparer (es war jedes Jahr ein Jahressteuerbescheid einzureichen, um die Förderung zu erhalten) im Jahr 2005 wurde die Riester-Rente plötzlich stärker nachgefragt. Innerhalb von zwei Jahren verdoppelte sich die Zahl der Altersvorsorgesparer von vier Millionen auf acht Millionen und erreichte 2012 bereits 15,68 Millionen Bürger, die für die Private Altersversorgung sparen. Allerdings sind die Neuabschlüsse in den letzten beiden Jahren rückläufig. Die Verbreitungsquote lag 2011 knapp bei

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40 %7. Das heißt, eine Mehrheit der Berechtigten hat noch keinen Riester-Rentenvertrag abgeschlossen. Das Abflauen der Neuabschlüsse hat mehrere Gründe. Die negative Kursentwicklung an den Aktienmärkten nach 2008 hat viel Fondssparer verunsichert, obwohl die Kurse mittlerweile wieder gestiegen sind und die Kurse wieder neue Höchststände erreicht haben. Ein weiterer Grund hat mit den niedrigen Anlagezinsen zu tun, die ein erfolgreiches Management der Deckungsstöcke bei den Lebensversicherungen erschweren. Deren Kapitalverzinsung ist allerdings immer noch vergleichsweise hoch. Trotzdem gibt es in den Medien immer wieder Berichte mit der Aussage, die Riester-Rente würde sich nicht lohnen. Auch wenn die Argumente und Berechnungen in den meisten Fällen tendenziös sind, bleibt bei den Bürgern ein negatives Gefühl und ein Argument, um das unbequeme Thema Altersvorsorge weiter vor sich her zu schieben. Ein wichtiger Grund ist aber auch die weitere Bürokratisierung des Beratungsprozesses. Schaut man sich einmal an, welche Produkte für die Riester-Rente am stärksten nachgefragt werden, so sind das mit etwa 70 % Lebensversicherungen und 20 % Fondssparverträge. Der Immobilien-Riester wird kaum genutzt8. Gerade bei den beiden dominierenden Produkten wurden in den letzten Jahren die Vertriebswege mit ungeheuren und größtenteils unsinnigen bürokratischen Auflagen belegt. Insbesondere den Finanzvertrieben (Vermögensberater und Versicherungsvermittler) wurden unter dem Rubrum des Anlegerschutzes immer wieder neue Anforderungen auferlegt. Dabei ging es über eine vielleicht noch akzeptable Qualifikationsprüfung für alle Mitarbeiter und Vertragspartner in der Kundenberatung hinaus, um zu dokumentierende Detailinformationen, die der Altersvorsorgesparer sowieso nicht versteht, bis hin zu unverhältnismäßig detaillierten Offenlegungspflichten. Wird es dazu kommen, dass die Berater nur noch Beratungshonorare und keine Abschlussprovisionen einnehmen dürfen, wird die Private Altersversorgung ganz zum Erliegen kommen. Es geht daher gerade jetzt darum, durch verstärkte Aufklärung in den dazu geeigneten Medien den Gesetzgeber und die regulierenden Behörden auf die enormen Risiken hinzuweisen, die weitere bürokratische Belastungen des Vertriebs von Altersvorsorgeprodukten mit sich bringen.

7 Michela Copalla/Martin Gasche, Die Riester-Förderung – das unbekannte Wesen, 2011: http://mea.mpisoc.mpg.de/uploads/user_mea_discussionpapers/1210_244 – 11.pdf. 8 Copalla/Gasche (Anm. 7).

Das Alkoholverbot in Marburg – kein Alkohol ist auch eine Lösung Von Egon Vaupel I. Ausganssituation: Jugendliche und Alkohol in Marburg Mit über 25.000 Studierenden von rund 78.000 Bürgerinnen und Bürgern ist mehr als ein Viertel der Stadtbevölkerung an der Universität eingeschrieben und absolviert dort ein Hochschulstudium oder eine wissenschaftliche Laufbahn. 15.000 Schülerinnen und Schüler aus Marburg und dem Landkreis besuchen die 37 Marburger Schulen. Marburg ist eine junge Stadt, was der hier geehrte hochverehrte Jubilar aus eigener Lebens- und Studienerfahrung selbst am besten einzuschätzen vermag. Im Hinblick auf diesen jugendlichen Personenkreis beobachtete die Universitätsstadt Marburg im Jahr 2007 einen erhöhten Alkoholkonsum im öffentlichen Raum. Der Konsum nahm Ausmaße an, die zu der Bewertung führten, dass ein konsequentes Einschreiten inklusive einem befristeten Alkoholverbot im Bereich des Marburger Marktdreiecks in der Innenstadt erforderlich sei. Bei der Bewertung durfte natürlich nicht vergessen werden, dass bei Jugendlichen der Alkoholkonsum – durchaus auch übermäßig – oft zur jungen Adoleszenzphase dazu gehört. Die Beweggründe, „einen über den Durst zu trinken“, sind damals wie heute vielfältig. Mit Alkohol testen Jugendliche Grenzen aus, das hat sich bewiesen. Oft ist es auch nur ein Mitmachen in der Gruppe, ein Spaßhaben. Genauso gehören aber auch Stress und Perspektivlosigkeit zu den Gründen. Es gibt Wohlstands- und Elendsalkoholismus. Daneben tummeln sich die Gruppen der Entspannungs- und der Problemtrinker.1 Erwachsene sind nicht selten ein fragwürdiges Vorbild: Der Alkoholkonsum ist in Deutschland insgesamt im globalen Vergleich seit Jahren anhaltend hoch. Dies lässt sich dem weltweiten Statusreports zu Alkohol und Gesundheit des Jahres 2014 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entnehmen. Männer trinken dabei mehr als doppelt so viel wie Frauen. Die gesundheitlichen Folgen sind gravierend.2

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Jürgen Wohlfarth, Über Feuchtgebiete zwischen Schluck und Suff – der Kampf der Gemeinden gegen Alkoholmissbrauch, in: LKRZ 2009, S. 47 (47). 2 Sybille Möckl/Lara Schwenner, Focus Online 2014, http://www.focus.de/gesundheit/ratge ber/psychologie/krankheitenstoerungen/alkoholismus/who-bericht-zu-alkoholkonsum-diese-la ender-trinken-deutschland-unter-den-tisch_id_3843684.html, letzter Zugriff: 16. 07. 2014; ähnlich auch bereits im Jahr 2009 Wohlfarth (Anm. 1), LKRZ 2009, S. 47 (48).

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Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) auf der Grundlage von Daten aus dem Jahr 2012 betrinken sich etwa 17 % der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren mindestens einmal im Monat.3 Im Jahr 2012 wurden über 26.000 Mal Jugendliche mit Alkoholvergiftung im Krankenhaus behandelt – so viele wie noch nie seit Beginn der statistischen Erfassung im Jahr 2000.4 Damit ist und bleibt exzessiver Alkoholkonsum bei Jugendlichen ein Problem, ganz unabhängig davon, dass es schon immer Jugendliche gab, die sich betrunken haben. Geschieht dies im öffentlichen Raum, wird das Problem auf besondere Weise sichtbar. In der Stadt Marburg haben sich schon immer Jugendliche in Gruppen versammelt und getrunken. Die Teenager trafen sich dabei an den unterschiedlichsten, aber immer strategisch günstigen Stellen. Beliebt waren zum Beispiel zeitweise die Lahnwiesen. Alkohol konnten die Jugendlichen bei der nahe gelegenen Tankstelle kaufen. Im Jahr 2007 nahmen diese Treffen dann eine besorgniserregende Dimension an. Auf dem Elisabeth-Blochmann-Platz (Marktdreieck) traf sich zu dieser Zeit eine besondere Szene. Jugendliche verabredeten sich über Facebook und andere digitale Medien gezielt zum Feiern. Gruppen von über 100 Personen mit auffällig vielen Jugendlichen trafen sich auf dem Platz und konsumierten Alkohol. Im Zuge des Trinkens kam es zu Vandalismus, Ruhestörungen, Belästigung von Passantinnen und Passanten und exzessivem Alkoholmissbrauch. Auf dem nahegelegenen Gelände der Mensa der Universität wurden einbetonierte Tische und Stühle herausgerissen. Jugendliche warfen mit Flaschen und pöbelten Leute an. Die Teenager trafen sich zum „Vorglühen“, einem übermäßigen Trinken, bevor sie das nahegelegene Kino oder die angrenzenden Gaststätten besuchten. Das Marktdreieck in der Marburger Innenstadt wurde zur „Partymeile“. Mit positiver „Party“ hatte die Szenerie vielfach aber nichts mehr zu tun, die Jugendlichen schadeten in erster Linie sich selbst und anderen. Als minderjährige Jugendliche mit Alkoholintoxikation in die Klinik eingeliefert werden mussten und sich Anwohnerinnen und Anwohner zunehmend beschwerten, musste gehandelt werden. II. Alkoholprävention – ganzheitlich und nachhaltig „Gesellschaftlicher Konsens besteht in dem Willen zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauches und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor rauscherzeugenden Getränken.“5 Das Alkoholverbot war nur eine, wenn auch die für die Medien spektakulärste Maßnahme der Stadt Marburg bei der Bekämpfung des Alkoholmissbrau3 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Der Alkoholkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland 2012. Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativbefragung und Trends, 2014, S. 23. 4 Spiegel Online, 2013, http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/jugendliche-extremer-alko hol-konsum-steigt-an-a-939313.html, letzter Zugriff: 16. 7. 2014. 5 Wohlfarth (Anm. 1), LKRZ 2009, S. 47 (47).

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ches. Schon bevor die geschilderten Probleme am Marktdreieck auftraten, waren sowohl Jugend- und Ordnungsamt als auch die Polizei aktiv. Es gab regelmäßig gemeinsame Jugendschutzkontrollen in Geschäften, Gaststätten, Diskotheken und bei Veranstaltungen. Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz in den Verkaufsstellen oder Gaststätten konnten in den meisten Fällen jedoch nicht festgestellt werden (kein Verkauf an nicht berechtigte Altersgruppen). Dennoch hatte der Alkoholverkauf in den Verkaufsstellen zu den Abendstunden Hochkonjunktur, sodass davon ausgegangen werden musste, dass eine Weitergabe an nicht zum Kauf berechtigte Altersgruppen stattfand. Das Ordnungsamt verfolgte Ordnungswidrigkeiten konsequent. Wurden die Personalien von auffälligen Jugendlichen erfasst, wurden die Eltern der meist aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Kinder angeschrieben, meistens ohne nennenswerten Erfolg. Am Elisabeth-Blochmann-Platz zeigte sich zudem eine besondere Problematik: Durch die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten im Jahr 2007 waren die nahegelegenen Lebensmitteleinzelhandelsgeschäfte nun bis 24.00 Uhr geöffnet. Jugendliche konnten sich ungehindert mit alkoholischen Getränken versorgen. Obwohl für die Situation sensibilisiert, konnten die Kassiererinnen und Kassierer einen Kauf durch Ältere und eine anschließende Weitergabe an die Jugendlichen nicht verhindern. Von einer Änderung der entsprechenden Öffnungszeiten wurde abgesehen. In der Marburger Öffentlichkeit und lokalen Presse entbrannte eine breite Diskussion, vor allem um die Sicherheit und Ordnung, aber auch um exzessiven Alkoholkonsum von jungen Menschen und deren Beweggründe generell. Allerdings konnten die oben beschriebenen Maßnahmen die Problematik nur teilweise eindämmen. Jugendliche betranken sich weiterhin und randalierten, die Situation eskalierte. Das Marktdreieck war ein Angstraum geworden, Handlungsbedarf war weiterhin dringend gegeben. Die Universitätsstadt Marburg überlegte in der Folge, ein Alkoholverbot auszusprechen. Handlungsträger erkannten, dass Maßnahmen, die allein auf eine Verhaltensänderung von Jugendlichen setzen, zu kurz greifen, wenn nicht auch die Lebensumstände der jungen Menschen berücksichtigt werden, deren Verhalten beeinflusst werden soll. Aus der Zusammenarbeit von Jugend- und Ordnungsamt sowie der Polizei entwickelte sich ein langfristiges gemeinsames Kooperationsprojekt („SuPPOrdju“) mit dem Ziel, Alkoholprävention im öffentlichen Raum zu betreiben und dabei besonderen Wert auf die Kooperation unterschiedlicher städtischer Stellen zu legen. Hauptbestandteil der Konzeption war ein Ineinandergreifen verschiedener Maßnahmen, insbesondere gemeinsame Präsenz, aufsuchende Jugendarbeit inklusive Kontaktaufnahme zu Eltern, Angebote alternativer Aktivitäten und gemeinsame Jugendschutzkontrollen. Mit den Lebensmittelverkaufsstellen konnte eine Selbstverpflichtung verabredet werden, sodass diese ab 20.00 Uhr keine hochprozentigen Alkoholgetränke mehr verkauften. Mit angrenzenden Einrichtungen wie dem Studentenwerk, dem Kino und der Volksbank wurde eine Sicherheitskooperation geschlossen. Daneben

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traten auch repressive Maßnahmen wie Bußgelder, Aufenthaltsverbote und schließlich das Alkoholverbot am Marktdreieck. Vor allem aber wurde durch das Ineinandergreifen verschiedenster Maßnahmen die öffentliche Diskussion angetrieben. Die Problematik um den Alkoholkonsum vieler Jugendlicher im Innenstadtbereich gelangte ins Bewusstsein der Marburger Bevölkerung und führte zu regen Auseinandersetzungen. III. Das Alkoholverbot am Marburger Marktdreieck (2007/2008) 1. Rechtliche Voraussetzungen und Umsetzung Die Universitätsstadt Marburg fand eine gesetzlich ungeklärte Situation vor. Grundsätzlich ist der Verzehr von Alkohol auf öffentlichen Straßen und Plätzen im Rahmen des Gemeinbrauchs nicht verboten und in einem bestimmten Umfang und zu gewissen Anlässen weit verbreitet und allgemein akzeptiert. Auch die Rechtsprechung stand Alkoholverboten im öffentlichen Raum bereits kritisch gegenüber.6 Die Universitätsstadt Marburg erließ auf Grundlage der Generalklausel § 11 HSOG und § 9 JuSchG eine zeitlich befriste Allgemeinverfügung: - Der Konsum von alkoholhaltigen Getränken wird auf öffentlichen Flächen/Straßen in dem Gebiet um den Elisabeth-Blochmann-Platz, den Straßen Erlenring, Am Erlengraben, Kurt-Schumacher-Brücke bis zu der Auffahrt zur B 3a Richtung Süden vom Tag nach der Veröffentlichung in der Zeit von 18:00 Uhr bis 07:00 Uhr verboten. - Ausgenommen hiervon sind die Flächen, die mit Sondernutzungs- und/oder Gaststättenerlaubnis den angrenzenden Gaststätten zur Verfügung gestellt worden sind. Die Allgemeinverfügung erging im Dezember des Jahres 2007 und wurde befristet bis einschließlich April des Jahres 2008 (Dauer von ca. vier Monaten). Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Begründung war, dass sich das Marktdreieck als Treffpunkt von Jugendlichen zur Abendzeit etabliert hatte und dort regelmäßig – vornehmlich in großen Gruppen – Alkoholkonsum stattfand.7 Hauptbeweggrund war die gravierende Gefährdung der Jugendlichen durch den exzessiven Alkoholkonsum. Ausdrücklich nicht Motivation für das Alkoholverbot waren Obdachlose oder Punker, die gelegentlich in der Stadt ein Bier tranken; für diese Menschen muss in der Stadt Platz sein.

6 Vgl. VGH Mannheim, 6. 10. 1998, 1 S 2272/97, der eine Gefahrenabwehrverordnung der Stadt Ravensburg für nichtig erklärte, da es an einer Gefahr mangelte. 7 Zur Ausgangssituation siehe ausführlich I. und II.

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Die Befristung wurde damit begründet, dass die Tendenz, sich in diesem öffentlichen Bereich für den Alkoholkonsum zu treffen, gestoppt werden und sich ein Bewusstsein bei den betroffenen Personen für die Gefährdung einstellen sollte. Auch wenn nicht davon ausgegangen wurde, dass man der allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz des vermehrten Alkoholkonsums durch Jugendliche damit entgegenwirken könnte, so sollte die Anordnung doch zumindest dazu dienen, an einem bekannten Treffpunkt, der die Alkoholversorgung besonders begünstigt, diese Gefährdung zu reduzieren. Neben einer Allgemeinverfügung auf der Grundlage von § 11 HSOG wäre grundsätzlich noch der Erlass einer Gefahrenabwehrverordnung nach §§ 71, 74 HSOG in Betracht gekommen.8 Eine Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 VwVfG ist eine konkret-generelle Regelung, also ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet. Eine Gefahrenabwehrverordnung ist demgegenüber eine abstrakt-generelle Regelung zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung.9 § 11 HSOG verlangt als Voraussetzung für den Erlass einer Allgemeinverfügung das Vorliegen einer konkreten Gefahr, also einer im Einzelfall bestehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Es muss eine Sachlage vorzufinden sein, die bei ungehindertem Geschehensablauf nach Prognose der Polizei in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die polizeilichen Schutzgüter führen wird.10 Ein bloßer Gefahrenverdacht genügt insoweit nicht.11 Eine Gefahrenabwehrverordnung setzt eine abstrakte Gefahr, also den Gegenbegriff zur konkreten Gefahr, voraus.12 Eine solche liegt vor, wenn ein bestimmtes Verhalten nach der Lebenserfahrung – bei abstrakt-genereller Betrachtung – regelmäßig, typischerweise zu konkreten Gefahren für polizeiliche Schutzgüter führen wird.13 Maßstab der Gefahrenprognose ist also in beiden Fällen, bei konkreter wie abstrakter

8 Auf Möglichkeiten und Grenzen straßenverkehrsrechtlicher Regelungen nach § 45 StVO sowie satzungsrechtlicher Bestimmungen nach § 37 HStrG wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen. 9 Ausführlich zu dieser Rechtsnorm Valentin Köppert, Alkoholverbotsverordnungen in der Rechtspraxis. Eine Untersuchung über die rechtliche Zulässigkeit gefahrenabwehrrechtlicher Verordnungen zur Einschränkung oder zum Verbot des Alkoholkonsums in der Öffentlichkeit unter besonderer Berücksichtigung des polizeilichen Gefahrenbegriffs, 1. Aufl. 2011. 10 Gerhard Hornmann, Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2. Aufl. 2008, § 11 Rn. 23; Lothar Mühl/Rainer Leggereit/Winfried Hausmann, Polizei- und Ordnungsrecht Hessen, 4. Aufl. 2013, Rn. 75 f. 11 BVerwGE 116, 347 (351). 12 Urs Kramer, Hessisches Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 93; Florian Albrecht, Kommunale Alkoholverbote, in: Die Polizei 2011, S. 117 ff. 13 Albrecht (Anm. 12), Die Polizei 2011, S. 117 ff.; Hornmann (Anm. 10), § 71 Rn. 6.

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Gefahr, derselbe: die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.14 Unterschiedlich ist der Bezugspunkt, entweder ein Einzelfall oder eine Vielzahl von Fällen bzw. der typische Fall.15 Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ist insbesondere anzunehmen, wenn die Unversehrtheit der Rechtsordnung in Rede steht, also eine Rechtsnorm verletzt zu werden droht.16 Im Falle des Alkoholverbotes lag die Annahme zugrunde, dass durch den exzessiven Alkoholkonsum im konkreten Einzelfall am Marburger Marktdreieck die Verletzung verschiedenster Rechtsnormen bevorstand (Ordnungswidrigkeiten, Straftaten, insbesondere Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz). Wie hoch der verlangte Wahrscheinlichkeitsgrad für diesen Schadenseintritt in jedem Einzelfall ist, hängt auch von der Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts ab.17 Geht es wie im Fall des Marburger Alkoholverbotes unter anderem um den hohen Wert des Schutzgutes der körperlichen Unversehrtheit, das z. B. durch Körperverletzungsdelikte gefährdet wird, spricht einiges dafür, weniger hohe Anforderungen an den Nachweis des Kausalzusammenhangs zu stellen.18 Da im vorliegenden Fall diejenigen Personen, die alkoholische Getränke konsumierten sowie Jugendliche mit entsprechenden Getränken versorgten bzw. den Verzehr gestatteten, also ein bestimmter Personenkreis betroffen war, wurde eine Allgemeinverfügung erlassen. 2. Ergebnisse und heutige Situation Von einem Tag auf den nächsten Tag war Ruhe. Vollstreckungsmaßnahmen zur Durchsetzung der Allgemeinverfügung in Form von Platzverweisen waren in keinem einzigen Fall erforderlich. Die Szene beruhigte sich merklich, was in diesem positiven Ausmaß kaum erhofft werden konnte. Ein nennenswerter Verdrängungseffekt der Problematik in die nähere Umgebung konnte nicht festgestellt werden. Die Straftaten im Marktdreieck wurden zwischen dem Jahr 2008 (Alkoholverbot) und dem 14

BVerwGE 116, 347 (351); Mühl/Leggereit/Hausmann (Anm. 10), Rn. 76; Andreas Voßkuhle, Der Gefahrbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht, in: JuS 2007, S. 908 (908). 15 BVerwGE 116, 347 (351 f.); Timo Hebeler/Björn Schäfer, Die rechtliche Zulässigkeit von Alkoholverboten im öffentlichen Raum, in: DVBl. 2009, S. 1424 (1425); Voßkuhle (Anm. 14), JuS 2007, S. 908 (909). 16 Erhard Denninger, in: Erhard Denninger/Frederik Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. D Rn. 16 f.; Kurt Meixner/Dirk Friedrich, Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 11. Aufl. 2010, § 11 Rn. 5. 17 BVerwGE 116, 347 (356); Denninger (Anm. 16), in: Denninger/Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. D Rn. 52; Voßkuhle (Anm. 14), JuS 2007, S. 908 (908). 18 Vgl. Michael Riegner, Das Alkoholverbot am Marktplatz, in: Jura 2012, S. 646 (651), der sich zwar im Ergebnis gegen das Vorliegen einer Gefahr ausspricht, aber auch darlegt, dass eine Reihe von Indizien auf einen Zusammenhang von Alkoholkonsum und unerwünschtem Folgeverhalten hindeutet.

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Jahr 2013 um 90 % gesenkt. Im Jahr 2013 konnten nur noch 14 Straftaten im öffentlichen Raum registriert werden. Auch bundesweit gab es positives Feedback für den in Marburg eingeschlagenen Weg. Beim 6. Bundeswettbewerb „Kommunale Suchtprävention“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Drogenbeauftragten der Bundesregierung (Thema: „Alkoholprävention im öffentlichen Raum“) wurde das Projekt SuPPOrdju im Jahr 2013 prämiert. Gewürdigt wurde insbesondere „die gelungene Verknüpfung von Verhaltensprävention (Information/Aufklärung, aufsuchende Jugendarbeit) und Verhältnisprävention (Jugendschutzkontrollen, befristetes Alkoholverbot, Veranstaltungskonzept, alkoholfreie Veranstaltungsangebote) sowie das Ineinandergreifen von präventiven und repressiven Maßnahmen. Beispielhaft ist die gute Kooperation von Polizei, Ordnungsamt und Jugendamt. Es ist gelungen, die jeweiligen Zuständigkeiten, das fachliche Wissen sowie die unterschiedlichen Kompetenzen und Arbeitsweisen zu bündeln und für das gemeinsame Ziel, den Alkoholmissbrauch von Jugendlichen in der Öffentlichkeit zu vermeiden, einzusetzen.“ Das unter dem Titel SuPPOrdju langfristig angelegte Projekt, welches verschiedenste Aktivitäten umfasste, entpuppte sich somit als beeindruckender Erfolg. Die Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung wurde indes nie überprüft, es gab keinen Widerspruch, kein Gericht wurde damit befasst. Grund dafür dürfte die von vornherein angelegte Befristung und das Vertrauen darauf gewesen sein, dass eine positive Entwicklung eintreten werde. An der juristischen Fakultät der Universität Marburg war das Alkoholverbot im Jahr 2008 Gegenstand einer Examensvorbereitungsklausur. Fast zwei Drittel der Studierenden hielten die Allgemeinverfügung für rechtmäßig. IV. Rechtliche Würdigung des Marburger Alkoholverbotes aus heutiger Perspektive Zur konkreten Gefahrensituation, die Ausgangspunkt des Marburger Alkoholverbotes war, ist alles gesagt. Die Rechtsprechung steht in der Regel Alkoholverboten im öffentlichen Raum insgesamt sehr restriktiv gegenüber.19 Eine ähnliche Gefährdungslage für Jugendliche durch exzessiven Alkoholkonsum – konzentriert auf einen bestimmten Ort wie in Marburg – findet sich in den meisten Vergleichsfällen, die Grundlage der restriktiven Rechtsprechung waren, allerdings nicht. Es kann aber je-

19 Vgl. exemplarisch OVG Thüringen, 21. 06. 2012, 3 N 653/09; OVG Sachsen-Anhalt, 17. 03. 2010, 3 K 319/09; VGH Mannheim, 28. 07. 2009, 1 S 2340/08; VGH Mannheim, 28. 07. 2009, 1 S 2200/08; VG Karlsruhe, 25. 08. 2011, 6 K 2261/11 sowie aus der juristischen Fachliteratur Hebeler/Schäfer (Anm. 15), DVBl. 2009, S. 1424 ff.; Wolfgang Hecker, Zur neuen Debatte über Alkoholkonsumverbote im öffentlichen Raum, in: NVwZ 2009, S. 1016 ff.; ders., Neue Rechtsprechung des VGH Mannheim zum Alkoholkonsumverbot im öffentlichen Raum, in: NVwZ 2010, S. 359 ff.; Florian Albrecht, Alkoholverbote in der kommunalen Praxis, in: VR 2012, S. 41 ff.; Albrecht (Anm. 12), in: Die Polizei 2011, S. 117 ff.; Urs Kramer, Kampf dem öffentlichen Alkoholkonsum!, in: LKRZ 2008, S. 317 ff.

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denfalls bilanziert werden: Die rechtlichen Hürden für präventive Alkoholverbote sind zumindest hoch.20 Die grundsätzliche Skepsis der Gerichte ist berechtigt und wurde auch in Marburg in den Jahren 2007 und 2008 berücksichtigt. Aus diesem Grund wurde den in der öffentlichen und parteipolitischen Diskussion geäußerten Anregungen, das Alkoholverbot möglichst flächendeckend auf weitere Teile der Innenstadt sowie auch zeitlich auszuweiten, nicht stattgegeben. Zwischen den unterschiedlichen Parteien in der Stadtverordnetenversammlung bestand diesbezüglich weitestgehend Einigkeit: Das Alkoholverbot sollte eine gezielte Ausnahme sein. Eine Kultur ausufernder Verbotspolitik war damit nicht beabsichtigt. Die Präventionsarbeit sollte weiterhin im Vordergrund stehen. Alkoholverbote stoßen in der Rechtsprechung aber nicht per se auf Ablehnung. Mit Augenmaß eingesetzt und wie in Marburg als ultima ratio auf Fälle beschränkt, in denen zumindest kurzfristig nicht auf andere Weise Einhalt geboten werden kann, wurden Alkoholverbote auch bereits ausdrücklich bestätigt. Das OVG Lüneburg hatte im November 2012 den Erlass einer Gefahrenabwehrverordnung in Göttingen zum Verbot des Alkoholkonsums in einem zur „Partymeile“ gewordenen Teilgebiet der Innenstadt als rechtmäßig eingestuft.21 Das Gericht hatte dabei einen kausalen Zusammenhang zwischen dem nächtlichen Alkoholkonsum auf einer Straße und der Störung der Gesundheit, insbesondere der Nachtruhe der Anwohnerinnen und Anwohner, hergestellt. Trotz hoher rechtlicher Hürden sind Alkoholverbote auch im Lichte der restriktiven Rechtsprechung in Ausnahmefällen also durchaus möglich.22 V. Ausblick: Kommunen heute Die Universitätsstadt Marburg hat die Problematik des übermäßigen Alkoholkonsums im öffentlichen Raum gut in den Griff bekommen. Die Problematik war vielschichtig, sodass an unterschiedlichen Stellen angesetzt werden musste, um ihr Herr zu werden. Die konsequent gute Zusammenarbeit der unterschiedlichen beteiligten städtischen Stellen war dabei Schlüssel zum Erfolg. Jenseits aller juristischen Fragen wurde frühzeitig auf die Problematik des Alkoholkonsums auf dem Elisabeth-Blochmann-Platz reagiert und damit sicherlich auch eine Vorreiterrolle innerhalb der Bundesrepublik Deutschland eingenommen. Die Handlungsbefähigten haben nicht nur das richtige Empfinden für das Gefahrenmoment bewiesen, sondern unter anderem auch die Anfrage der Jugendlichen beantwortet, dass sie eben nicht „machen dürfen, was sie wollen“ und eben nicht „alles egal“ ist, sie nicht den Erwachsenen egal sind. 20

Wohlfarth (Anm. 1), LKRZ 2009, S. 47 (51). OVG Lüneburg, 30. 11. 2012, 11 KN 187/12. 22 So auch Kurt Faßbender, Alkoholverbote durch Polizeiverordnungen: per se rechtswidrig?, in: NVwZ 2009, S. 563 (564 f.); Michael Winkelmüller/Saskia Misera, Alkoholverbote in Fußgängerzonen: Anmerkungen zum Urteil des VGH Mannheim vom 28. 7. 2009, in: LKV 2010, S. 259 (261 f.). 21

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Anders kann die durchschlagende Wirkung des von Anfang an befristeten Alkoholverbots nicht erklärt werden. Diesen Eindruck habe ich nicht zuletzt durch persönliche Gespräche mit Schülerinnen und Schülern der Marburger Schulen über das Alkoholverbot selbst gewonnen. Marburgs Bürgerinnen und Bürger fühlen sich auf dem öffentlichen Platz jetzt wieder sicher und wohl, die jugendlichen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten haben deutlich abgenommen, vor allem auch ihre Selbstgefährdung. Für die Marburger Erfolgsstrategie haben sich auch andere Kommunen interessiert. Insgesamt haben beim Ordnungsamt über 300 Kommunen um nähere Informationen zur Marburger Alkoholpräventionsstrategie angefragt. Die Marburger Strategie zeichnet aber natürlich eine gewisse – den konkreten, speziellen Umständen angepasste – Einzigartigkeit aus. Jede Kommune muss zu jedem Zeitpunkt für sich selbst entscheiden und vor allem kontrovers diskutieren, wie eine ganzheitliche Strategie aussehen kann und welche Elemente sie umfasst. In der Universitätsstadt Marburg, der Stadt, der auch der Jubilar immer besonders verbunden sein wird, hat sich ein eng begrenztes ausnahmsweises Alkoholverbot als Möglichkeit dargestellt, einen Beitrag zu einem besseren Zusammenleben zu leisten. Eine Ausnahme wird es dennoch bleiben.

Kommunikationserfindungen und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen Von Christian Schwarz-Schilling I. Einleitung – Persönliches zu „Fritz“ Bohl Der Aufforderung der Universität Marburg, einen Beitrag zur Festschrift zur Ehrung von Fritz Bohl zu leisten, bin ich sehr gerne nachgekommen. Mit Fritz Bohl verbindet mich eine lange, freundschaftliche Kameradschaft – seit den Zeiten der Aufbauarbeit der hessischen CDU in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Nun wird Fritz Bohl 70 Jahre alt – ein Geburtstag, der früher einmal als biblisches Alter angesehen wurde. Wenn ich zu diesem Tag mit vielen gemeinsamen Erinnerungen und einem Berg voll guter und bekräftigender Wünsche für sein Dasein als private Person und als Politiker an ihn denke, dann sehe ich unwillkürlich die verschiedenen Stationen unseres Lebens vor meinen Augen. Vieles haben wir gemeinsam erlebt, auch wenn ich ihm rechnerisch fünfzehn Jahre voraus bin. Wir stimmten in grundsätzlichen Fragen weitgehend überein, doch wir bestellten auch sehr unterschiedliche Felder, sodass bilaterale Gespräche immer ein Gewinn waren und meistens zu gemeinsamen Erkenntnissen führten. Diese Erfahrung dürften auch viele der Mitautoren gemacht haben, die diese Festschrift durch ihre Beiträge mitgestalten und unter denen sich viele auch mir bekannte Persönlichkeiten befinden. Wir haben im Kabinett Helmut Kohl eine wichtige gemeinsame Zeit in der Bundesregierung erlebt. Doch in welchem seiner vielen Ämter auch immer, Pflichterfüllung und die Suche nach Problemlösungen waren Friedrich Bohl stets wichtiger als persönliche Profilierung im politischen Geschäft. Gemeinsame Handlungsverabredungen, die das Fazit vieler Gespräche waren, sind bei ihm immer in besten und absolut zuverlässigen Händen gewesen. Als Chef des Kanzleramtes hatte er die nicht leichte Aufgabe, meine Briefe und politischen Interventionen bezüglich des Krieges und Völkermordes in Bosnien-Herzegowina, die ich nach meinem Ausscheiden aus dem Bundeskabinett (Dezember 1992) als Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und als Vorsitzender des Unterausschusses „Menschenrechte und humanitäre Hilfe“ an Bundeskanzler Kohl geschrieben habe, den dramatischen Umständen entsprechend zeitnah und soweit wie möglich sachgerecht zu beantworten. Ich möchte mich hierfür an dieser Stelle für die aufrichtige und effiziente Zusammenarbeit besonders bedanken.

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II. Zwischenmenschliche Kommunikation – Sprache und Schrift sind einzigartige Besonderheiten der Spezies „Mensch“ Im Spiegel der Schöpfung – oder der Entwicklung der Menschheitsgeschichte – ist der „Mensch“ eine ganz besondere Spezies, dessen erdgeschichtliche Entwicklung einzigartig ist. Was ihn am meisten von den Tieren oder allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist neben seinem aufrechten Gang die Entwicklung der Sprache. Der ungeheure Reichtum der Worte und die Vielzahl der Sprachen machen ihn zu einem einzigartigen, geistbestimmten Wesen, dessen Ausdrucksfähigkeit alle Nuancen der auch im Tierreich bekannten Körpersprache übertrifft. Diese an Qualität und Quantität reiche Gabe befähigt ihn, intensiven Kontakt mit seinesgleichen aufzunehmen. Und dabei geht es nicht nur um sinnliches Verstehen der Botschaften des anderen, sondern um den Aufbau eines dialogischen Kommunikationssystems. Ansätze dazu mögen auch im Tierreich festzustellen sein – aber an Tiefe und Breite der Kommunikation sind diese Ansätze mit der menschlichen Kommunikation nicht vergleichbar. Ist es da verwunderlich, dass der Mensch, bei der Nutzung dieses Instrumentes von früh an das Bestreben hatte, die Wirkungsweise und Reichweite der Sprache zu vertiefen, zu ergänzen, zu erweitern und zu vergrößern? Zweifellos war die Erfindung der Schrift ein gewaltiger Meilenstein der Entdeckungsreise der Menschheit und führte durch die Vervielfachung zwischenmenschlicher Kommunikation zu der spezifischen Denkweise des homo sapiens, der durch die neu gewonnene Vielfalt seiner Sprachen und Schriften einen entscheidenden Schritt für die kulturelle Entwicklung der Menschheit gemacht hatte. Wie im Einzelnen die verschiedenen Völker zu ihren verschiedenen Sprachen gelangt sind, scheint noch bis heute in der Wissenschaft ein geheimnisvolles Rätsel zu sein. Denn wenn man einmal die Bücher Homers mit seiner ungeheuren Vielfalt der Worte und Ausdrucksweisen studiert, so kann man weiß Gott nicht sagen, dass die Sprache von primitiven Lebensformen erst im Laufe der Zeit zu einer so überwältigenden Perfektion gekommen ist. Eher das Gegenteil ist der Fall: Wenn wir davon ausgehen, dass die Sprachen vor einigen tausend Jahren ihre Entstehung und naturgewaltige Entfaltung begonnen haben, so sind die Schriften Zeugnisse eines Aufbruchs geistiger Tätigkeit des Menschen, die zu keinem anderen Lebewesen in irgendeinem Vergleich steht. Gerade der Reichtum und die verästelte Unterschiedlichkeit der Sprachen der verschiedenen Völker zeigt eine Innovationsbegabung und Innovationsdichte des menschlichen Geistes, die in Kombination mit der Erfindung der zahlreichen Schriftzeichen eher einem produktiven Urknall vergleichbar ist, welcher in relativ kurzer Zeit zum Entstehen und der Entwicklung von Hochkulturen in der menschlichen Geschichte geführt hat.1 1 „Chance und Herausforderung der Telekommunikation in den 90er-Jahren“, Heft 4 aus der Schriftenreihe der „Konzepte und Neue Dienste der Telekommunikation“ des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen,“ 1986, S. 5 ff.: „Kommunikation im Spiegel der Geschichte“.

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Die Hochkulturen des Altertums wären ohne die vorausgegangene Erfindung der Schrift, die als erstes entscheidendes technisches Kommunikationsmittel einen bis dahin beispiellosen kulturellen Schub bewirkte, undenkbar. Dieses gilt für die klassischen Hochkulturen im Vorderen Orient, in Ägypten und in Griechenland genauso wie für die Kulturkreise Indiens und Chinas. Schon früh war die Beherrschung von Sprache und Schrift der Ausgangspunkt für die Entstehung von Machteliten in der Gesellschaft. Wir können feststellen, dass die Herrschaftseliten in früherer Zeit ihre Macht und ihren Einfluss, entsprechend den Glaubensmustern der damaligen Zeit, aus religiösen Funktionen bezogen. Dabei war die Beherrschung und Nutzanwendung der Schriftkunde ein probates Mittel, um neue Gesellschaftsstrukturen zu schaffen. So waren sehr bald die Priester, die Kult- und Zeremonienmeister der frühen Hochkulturen die Schriftgelehrten des Landes. Sie waren in der Lage, die Verwaltung auch der weltlichen Macht zu organisieren und eröffneten durch die Möglichkeit schriftlicher Dokumentationen und der entsprechenden Kommunikation dieser Verwaltung einen völlig neuen Grad der Leistungsfähigkeit. Die starke Stellung der christlichen Kirche im Mittelalter beruhte unter anderem auf der Tradition, dass die Schriftkultur insbesondere von Priestern und Klöstern überliefert wurde und auf diese Weise Kirche und Klöster eine spezifische Fähigkeit geistiger Machtausübung besaßen. Es war deswegen auch verständlich, dass die mittelalterlichen deutschen Kaiser sich ausdauernd bemühten, dieses geistliche Privileg für die Verwaltung des Staates mit einzubeziehen und zu nutzen. Man denke nur an die Intensität und lange Dauer des Investiturstreits bei der Einsetzung der Bischöfe zwischen Papst und Kaisertum im Mittelalter. Selbstverständlich fiel im Laufe der Zeit immer stärker dem Staat die Rolle zu, die Kommunikation in den verschiedenen Imperien und mit den anderen Staaten zu organisieren. Sehr deutlich zeigte sich dies beim Aufbau des Postwesens, zum Beispiel im chinesischen Kulturkreis oder im mongolischen Weltreich oder später in Europa. Der aufstrebende Bürger in Europa mit seinen vielfältigen Tätigkeiten des Gewerbes, der Wissenschaft und des Handels brauchte zu allererst eine gesetzliche Ordnung und sichere Kommunikation. Deswegen entstanden in Europa auch sehr frühzeitig regional gültige Rechtsordnungen sowie soziologisch und sektoral begrenzte Kommunikationssysteme; diese bildeten die Voraussetzung für den Aufstieg und die Entwicklung von Kultur und Zivilisation. Die Entstehung dieser Kombination von Sprache und Schrift hat die menschliche Entwicklung in eine dreifache Dimension ihrer Existenz geschleudert: Die erste Dimension ist die Überwindung des Raumes durch die Möglichkeit, schriftliche Botschaften an Menschen zu richten, denen wir nicht unmittelbar gegenüberstehen. Letztlich führte die Vervollkommnung dieser Raumüberwindung durch zunehmende Schnelligkeit zu einer Entwicklung des Postwesens in den verschiedensten Kulturen, die – je nach ihrer Entwicklungsstufe – bereits den Anstoß zu entsprechend schnellen Organisationsformen des Verkehrs durch alle Art Beförderungs-

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möglichkeiten für Briefe und Pakete geführt hatte. Wir fanden sehr früh Aufzeichnungen über den Bau der entsprechenden Straßen im klassischen Altertum vor, insbesondere bis ins Detail in einer anderen Hochkultur, nämlich im Großreich der Chinesen.2 Vor etwa mehr als 2600 Jahren wurde in China nachweislich das Postwesen eingerichtet. Die Übermittlung von Nachrichten lässt sich im alten China dem Herrscherhaus der Dschou, die zwischen 1122 und 255 v. Chr. regierten, zuordnen. Die Nachrichten übermittelten Boten zu Fuß oder mit Pferden. Dieses Nachrichtenübermittlungssystem wurde damals mit dem chinesischen Schriftzeichen „J Tschan“ gekennzeichnet. Diesen Vorläufer des Postwesens erwähnte Konfuzius, der zwischen 551 bis 479 v. Chr. lebte, in dem Ausspruch: „Der Einfluss der Gerechtigkeit schreitet schneller, als es die königlichen Befehle mit Hilfe von Tagesmärschen und Boten vermögen.“ 3

Die Poststationen haben sich etwa 15 km voneinander entfernt befunden. In dieser Zeit waren etwa 1800 Haltestellen errichtet – zu Land und zu Wasser. Sie galten gleichzeitig Transporten auf dem Landweg und auf dem Flussweg, und der berühmte Dichter Tsen Chen der Tang-Dynastie hat die zeitgenössischen Poststationen mit folgenden Worten beschrieben: „Von einer Station zur anderen, Wandert das Pferd wie eine Sternschnuppe, Welches im Morgengrauen in Xianyang aufbricht, Um in den Abendstunden die Spitze von Longchan zu erreichen“. (Longchan befindet sich im äußersten Süden der Lieoupanchan-Berge, über 200 km von Xianyang entfernt).

Wie wir durch die chinesischen Geschichtschroniken erfahren, hatten unter der Tang-Dynastie die Organisation und die Schnelligkeit der Postverbindungen bereits einen sehr hohen Stand erreicht. In dieser Zeit waren auch entsprechende Differenzierungen bereits entwickelt, sodass es Postzeichen aus Gold, Silber, Kupfer und Eisen gab, die jeweils die Wichtigkeit und die verschiedenen Prioritäten der Sendungen kennzeichneten. Die Mongolen hatten den absoluten Ehrgeiz, die schnellsten Reiter aller Zeiten zu sein. Damals gab es rund 10.000 Posthaltestellen und 200.000 Postpferde, um in einer hoch entwickelten Stafetten-Organisation die Post mit äußerster Geschwindigkeit zu befördern.4

2

Vgl. Herbert Franke, Geld und Wirtschaft in China unter der Mongolen-Herrschaft, 1949. 3 Siehe Claus Seelemann, Das Post- und Fernmeldewesen in China. Post über 10.000 Meilen – Lebensadern eng verknüpft, 1992, S. 26 ff. 4 Vgl. Seelemann (Anm. 3), S. 26 ff.

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Durch die Schnelligkeit der Transporte versuchte man sozusagen die erste Dimension in der Überwindung des Raumes durch schnelle Transporte zu erreichen. Wenn man bedenkt, dass die Mongolen durch die Schnelligkeit und erstklassige Organisation der Reiterstafetten die Entfernung von Osteuropa bis in das Zentrum der Mongolei in etwa zwei bis drei Wochen überbrückten, so wird uns bewusst, wie weit durch Training und Übung größte Entfernungen überwunden werden konnten. Galt diese erste Dimension der Überwindung des Raumes in horizontaler Richtung, so war die zweite Dimension die Möglichkeit, durch schriftliche Zeugnisse den nächsten Generationen das Gedankengut der Menschen zu hinterlassen. Nur durch diese schriftlichen Zeugnisse konnte man sich genaueren Einblick in die Denkweise früherer Generationen verschaffen. Insofern war dies die Möglichkeit, die Denkweise früherer Generationen in die Gegenwart zu holen und damit in vertikaler Richtung historisch präsent zu machen. Das war die Geburt der bewussten Geschichtsbetrachtung der Menschen. Die Vergangenheitsforschung und das Entstehen der Geschichtswissenschaft wären ohne diese Erfindung nicht möglich gewesen. Aber auch die Dimension in die Zukunft – die Überwindung der historischen Begrenztheit menschlichen Tuns – wäre ohne die Entwicklung der Schrift technisch nicht möglich gewesen. Durch das schriftliche Festhalten von Entscheidungen, Begründungen, Beschreibungen, Regeln etc. konnte eine neue dritte Dimension des Hineinwirkens in die Zukunft erschlossen werden – eine weitere Überwindung der Begrenztheit menschlichen Tuns. Damit eröffnete sich der gegenwärtigen Generation durch langfristige Prozesse der Beeinflussung nächster Generationen eine sehr viel nachhaltigere Möglichkeit, die künftigen Lebensbedingungen der Menschen zu beeinflussen und mitzugestalten. Mit der bis dahin üblichen Methode der mündlichen Überlieferung konnte dies nur sehr sporadisch und unvollkommen erreicht werden. So können wir feststellen, dass die schriftliche Kommunikation nicht nur eine tatkräftige Raumüberwindung durch die systematische Botschaftsübermittlung von entstehenden Postnetzen in Gang setzte, sondern auch gleichzeitig der Anfang der Überwindung der Zeit möglich wurde. Die begrenzte Zeit des einzelnen Menschen auf seine Existenz wurde durch das Erleben von Vergangenheit und Hineinwirken in die Zukunft zu einem neuen Bewusstsein für die Existenz des menschlichen Lebens hinaufbefördert. Und so gewann die Schrift den dreifachen Effekt: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu einer Synthese zu führen und die geistigen Orientierungen verschiedener Zeiten in einen Kontext zu vereinen. Damit entstand auch die Möglichkeit, Völker und Regionen in eine kulturelle Kontinuität zu bringen und damit den gewaltigen Schritt zur Entwicklung der Hochkulturen der Menschheit zu vollziehen.

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III. Die Erfindung des Buchdrucks – Meilenstein für die Entwicklung zur Neuzeit Die nächste große Erfindung im kommunikativen Austausch der Menschen war die Erfindung des Buchdrucks. Hier vollzogen einzelne Kulturkreise den großen Schritt von der bis dahin nur einer kleinen Elite zugänglichen Geheimwissenschaft des Schreibens und Lesens zu einer völlig neuen quantitativen Dimension. Hier geschah die Initialzündung der Durchdringung der verschiedensten Gesellschaftsschichten der einzelnen Völker, welche sich relativ schnell der Kunst des Lesens und Schreibens bemächtigten und damit zu völlig neuen geistigen und politischen Verhältnissen voranschreiten konnten. Zunächst einmal fällt diese Entwicklung im chinesischen Reich auf, welches in der späten Han-Dynastie (25 – 220 n. Chr.) durch die Schaffung von festen Druckvorlagen aus Holz und Metallen mit entsprechenden Gravierungen der chinesischen Schriftzeichen in Kombination mit der Entdeckung der Papierherstellung eine gewaltige Veränderung des Lebens der Menschen in Gang setzte. Durch diese technischen Errungenschaften wurden nicht nur die kulturellen Erzeugnisse des ersten Jahrtausends n. Chr., sondern auch durch gewaltige Kompilationen die geistigen Werke des ersten vorchristlichen Jahrtausends zu einem festen Bestandteil der chinesischen Kultur. So entstanden schon sehr früh riesige Bibliotheken, Chroniken, Aufzeichnungen über Naturwissenschaften, Astronomie, die gewaltigen Chronologien der historischen Dynastien, eine reiche und lebendige Literatur und immer wieder neue Ausgaben großer historischer Werke. Noch im 19. Jahrhundert übertrafen die chinesischen Literaturerzeugnisse die Bibliotheken aller anderen Kulturen auf der ganzen Welt. Allein die Naturwissenschaften entwickelten einen literarischen Umfang, der seinesgleichen sucht.5 Niemals wären heute unsere Kenntnisse über die frühe chinesische Kultur so vollkommen, wenn es nicht diese riesige Anzahl historischer Quellen gäbe. Die historischen Chroniken überlieferten uns Dinge, die auch für unsere Kultur von äußerster Wichtigkeit sind. Manche astronomischen Ereignisse in den letzten 2000 Jahren wurden durch Beobachtungen chinesischer Gelehrter bekannt und durch eine präzise Aufschreibungstradition auch für uns von größter Wichtigkeit, da auf diese Weise manches überliefert wurde, was zur allgemeinen Aufklärung der entsprechenden Ereignisse unersetzlich wurde. Man kann ohne weiteres sagen, dass die chinesische Kultur im ersten Jahrtausend nach Christus unmittelbar mit diesen technischen Erfindungen von in Holz und Metall eingravierten Schriftzeichen und der Erfindung des Papiers zu einer Blüte gebracht wurde, die es zu dieser Zeit nirgends auf der 5 Von den ungeheuren Materialbergen der schriftlichen Unterlagen, die man dem naturwissenschaftlichen Bereich zuordnen muss, gibt das große Werk von Joseph Needham, Cambridge University Press, von dem bereits 24 Bände erschienen sind, eine Vorstellung. Vgl. Joseph Needham, Science & Civilisation in China, Vol. I: Introductory Orientations, Cambridge University Press, 1954, wobei der letzte Band (Volume VII) von Kenneth Girdwood Robinson im Jahre 2004 herausgegeben wurde (Joseph Needham verstarb im Jahr 1995).

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Welt gab. So war es auch kein Zufall, dass das chinesische Reich in den Zeiten der Tang- und Sung-Dynastie bis in die Zeiten der Mongolenherrschaft uns viele technische und zivilisatorische Fakten hinterließ, die es im Abendland um diese Zeit noch keineswegs gab. China wurde damals zu einer Buchkultur, die bei weitem alles übertraf, was Menschen in dieser Beziehung bisher schufen. Als Marco Polo, der im 13. Jahrhundert seine Reise nach China unternahm, nachher seine Berichte in Europa über das verbreitete, was er dort gesehen hatte, wurde er belächelt und als eine Art Märchenerzähler verspottet, weil es doch nicht stimmen konnte, was er dort alles beobachtet haben wollte. Aber, wie wir heute wissen, war es durchaus der Wahrheit entsprechend – allein die Größe der Städte und die technische Entwicklung der Zivilisation waren im damaligen China eine Tatsache, die in keiner anderen Kultur zu jener Zeit ihresgleichen hatte. Als Johann Gutenberg im 15. Jahrhundert in Europa den Buchdruck erfand, löste diese Erfindung ebenfalls eine Initialzündung sondergleichen aus, die die Entwicklung der Aufklärung und der modernen Zeit in allen Bereichen beförderte. Die gesamte Reichhaltigkeit der religiösen Diskussionen und des Übergangs der Theologie zur Philosophie unter Einbeziehung der klassischen Denker wäre ohne diese Erfindung kaum möglich gewesen. Die Erfindung des Buchdrucks hatte nicht nur zur Ablösung des Monopols der Klöster und der Kirche geführt, welche die Schriftkultur ja auch als eine Art Geheimwissenschaft von einer Generation zur nächsten überlieferten, sondern hatte auch einen gewaltigen politischen Effekt auf die Gesellschaft. Jetzt gab es auf einmal Zeitungen, Pamphlete und Schriften aller Art, welche Anstöße geben konnten und politische Ideen dank Schaffung von Öffentlichkeit in eine ganz andere Realitätsstufe der Umsetzung brachten. Die Gedanken der Demokratie waren zwar schon zu Zeiten der griechischen Philosophie bekannt und wurden mehr oder weniger in einzelnen Städten ausprobiert – aber die Einführung dieser Gedankenwelt für das breitere Publikum und in die politische Praxis konnte erst geschehen, als die Kommunikationsmittel für die verschiedensten Gesellschaftsschichten zur Verfügung standen. Damit wurde die Epoche der Neuzeit nicht nur ein theoretisches Phänomen der Denker, sondern die praktische Umsetzung in die politische und soziologische Wirklichkeit rückte mehr und mehr in den Bereich der Realität. Während die Anwendung der Schrift bis zur Erfindung des Buchdrucks relativ begrenzt war und als Herrschaftsmittel der jeweils führenden Schicht in Politik, Kirche (Klöster), Verwaltung und Wissenschaft benutzt wurde, setzte mit Gutenbergs genialer Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern ein gewaltiger Qualitätsund Quantitätssprung ein. Das erste Serien- und Massenprodukt der Geschichte der von Menschen geschaffenen Kultur hatte das Licht der Welt erblickt! Gleichwohl urteilte seinerzeit eine Kommission von Mainzer Fachleuten in einem Gutachten über die „schwarze Kunst“: sie sei völlig unnütz und überflüssig und sogar höchst gefährlich. Ob sie bereits ahnten, dass mit dieser „schwarzen Kunst“ eines der wichtigsten Monopole der gesellschaftlichen Eliten – nämlich die Schrift als Kommunikationsprivileg – dem Ende zuging? Die Begründung jener bemerkenswert kurzsichtigen Experten klingt heute geradezu lächerlich: Die Zahl der Lesekundigen sei ein-

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fach zu klein, um dem neuen Produkt eine Chance zu geben! Nein, umgekehrt wird ein Schuh daraus: Erst die Erfindung des Buchdruckes führte schrittweise in Europa zur praktisch vollkommenen Beseitigung des Analphabetismus. Nach einiger Zeit konnten sich sogar die um das Seelenheil der Menschen besorgten Kirchen beruhigen: denn das meistgekaufte Buch wurde die Bibel.6 Mit der weiteren Ausformung serienmäßiger Vermittlung von Kommunikation durch Buch und Zeitung entstand so etwas wie politisch-gesellschaftliche Öffentlichkeit. Der Frankfurter Soziologe Habermas versuchte, den Strukturwandel der Öffentlichkeit auch am historischen Beispiel darzustellen. Er weist nach, dass die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit sich zunächst in England, dann in Frankreich und später auch in Deutschland als wesentliches Element für eine weitere Differenzierung des Kommunikationssystems und dessen Akzeptanz erwiesen hat. Das nämlich bis dahin auf kleine gesellschaftliche Gruppen beschränkte Kommunikationsnetz wurde praktisch entgrenzt. Diese im 17. Jahrhundert begonnene und im 18. Jahrhundert fortgesetzte Entgrenzung (Aufklärung) hat sich bis heute in gewaltigen Sprüngen fortgesetzt. Es bleibt festzuhalten, dass Erfindungen auf dem Sektor der Kommunikation die Entwicklung der menschlichen Zivilisation und Kultur in der Vergangenheit wie kaum ein anderer Bereich beflügelt und vorangetrieben haben. Die Hochkulturen des Altertums, des Mittelalters und der modernen Zivilisation in der Neuzeit wären ohne diese Erfindungen nicht möglich gewesen. Für die Zukunft wird es allerdings eine immer drängendere Fragestellung, ob die zunehmende Kommunikationsdichte mit ihren Streu (und Zerstreuungs)-Effekten weiter eindeutig in die gleiche fortschrittliche Richtung weist. Die durch moderne Technik mögliche Verbilligung der Kommunikationsvorgänge bietet eine breite, praktisch jedermann zugängliche Kommunikationsdichte auch auf solchen Feldern an, die wir nicht mehr unmittelbar als einen Qualitätssprung oder einen kulturellen Fortschritt definieren können. Könnte es sein, dass die kreative Kommunikationsentwicklung der Menschen bei der Wende zum dritten Jahrtausend in ein Zeitalter der Kommunikationsdiffusion, eines negativen Quantensprungs mit kulturellen Erosionserscheinungen einmündet? IV. Neue technische Erfindungen werden zu bestimmenden Faktoren der Neuzeit Nicht nur durch Beobachtung und wissenschaftliche Schlussfolgerungen rückten Raum und Zeit in den Vordergrund der Menschen. Erstaunte Nachdenklichkeit über dieses Phänomen gab es schon im Altertum. Der Spruch vom griechischen Philosophen Heraklit „Panta rhei“ (Alles fließt), das heißt „alles verändert sich ununterbrochen“, hat sich bis heute erhalten. 6 Vgl. Christian Schwarz-Schilling, Grenzenlose Kommunikation – Bilanz und Perspektiven der Medienpolitik, 1993.

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Und Johann Wolfgang von Goethe regte dieses ununterbrochene „Fließen“ ebenfalls zu einem Vierzeiler mit Tiefgang an: „Gleich mit jedem Regenguss ändert sich dein holdes Tal, ach, und in demselben Flusse schwimmst du nicht zum zweiten Mal.“

In dieser Zeitspanne vom Altertum bis in die Neuzeit regte dieses Phänomen von Raum und Zeit immer wieder die Menschen in ihrer Phantasie an, durch theologischphilosophische Betrachtungen, durch Architektur, Malerei und Dichtkunst diesem Phänomen von Raum und Zeit einen entsprechenden Raum zu geben. Doch erst die technischen Ideen zur Überwindung von Raum und Zeit brachten entscheidende Veränderungen in die Zivilisation der Menschen. Von der präzise angewendeten Reitertechnik zum Aufbau der großen Postnetze war bereits die Rede. Doch jetzt, im aufziehenden Industriezeitalter, entstanden ganz neue Möglichkeiten. In Europa begann mit dem Zusammentreffen der Idee des wirtschaftlichen Wettbewerbs und eines neuen Zeitalters der explosionsartigen Fülle neuer technischer Ideen und Erfindungen die Neuzeit. Der neu geschaffene preußisch-deutsche Wirtschaftsraum krankte allerdings an den altmodischen, langsamen und unzuverlässigen Verkehrsmitteln; mit Flusskähnen und Pferdefuhrwerken blieb der Güteraustausch schwerfällig und ineffektiv, mochten Chausseen und Kanäle auch stark verbessert worden sein. Anderswo hatte man das Problem längst gelöst; der liberale Wirtschaftstheoretiker Friedrich List, aus dem dumpfen politischen Klima Deutschlands nach Amerika entflohen, hatte dort erlebt, wie weit auseinanderliegende Häfen, Kohle- und Eisenerzgruben sowie Verarbeitungs- und Absatzgebiete durch ein wachsendes Netz von Eisenbahnen zu prosperierenden Wirtschaftsregionen zusammenwuchsen. Zurück in Deutschland machte List sich unter unerhörten Opfern an Geld und Gesundheit daran, den Eisenbahnbau zu propagieren, darin unterstützt von rheinischen und süddeutschen Unternehmern. Doch zunächst mit wenig Erfolg; Friedrich Wilhelm III. knarrte: „Kann mir keine große Glückseligkeit vorstellen, ob man einige Stunden früher in Potsdam ankommt oder nicht“, und der preußische Verkehrsminister Generalpostmeister v. Nagler gab List den guten Rat: „Wenn Sie Ihr Geld absolut loswerden wollen, so werfen Sie es doch lieber gleich zum Fenster hinaus, ehe Sie es zu solchem unsinnigen Unternehmen hergeben!“ Erst am 7. Dezember 1835 konnte die erste deutsche Eisenbahnlinie eröffnet werden: ganze sechs Kilometer von Nürnberg nach Fürth – in Belgien gab es bereits zwanzig, in Frankreich 141, in Großbritannien 544 Kilometer Eisenbahn. Es war eine unermessliche Menschenmenge vorhanden, und sie „jauchzte und jubelte zum Teil den Vorüberfahrenden zu“, berichtete das „Stuttgarter Morgenblatt“ von der Jungfernfahrt. Aber es jubelten nicht alle Zuschauer; „Pferde auf der nahen Chaussee sind beim Herannahen des Ungetüms scheu geworden, Kinder haben zu weinen angefangen und manche Menschen haben ein leises Beben nicht unterdrü-

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cken können“. Kein Wunder, denn ein bayerisches Ärztegutachten hatte ausdrücklich vor dem Abenteuer gewarnt: „Ortsveränderungen mittels irgendeiner Art von Dampfmaschinen sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen – man erreichte immerhin Höchstgeschwindigkeiten von 30 Kilometer pro Stunde – können nicht verfehlen, bei den Passagieren geistige Unruhe – delirium furiosum genannt – hervorzurufen. Zwar könne niemandem verwehrt werden, auf diese Weise Selbstmord zu begehen, doch müsse man wenigstens auf beiden Seiten der Strecke eine zwei Meter hohe Wand errichten, damit unschuldige Zuschauer nicht von dem schrecklichen Anblick geschädigt würden“. Aber der Fortschrittsoptimismus der Zeit war selbst durch solche eindringlichen Warnungen nicht zu bremsen; ein erhebendes Gefühl bei Tausenden, die diese erste Bahnfahrt gesehen haben, diagnostiziert der Zeitungsreporter, „und kein Skeptiker wird imstande sein, ihnen den neuen Glauben an den menschlichen Geist und seine Macht zu erschüttern, um so weniger, da er ein freudiger, ein erhebender ist.“ Es ging weiter Schlag auf Schlag: 1838 wurde die Linie Berlin-Potsdam fertig, 1839 die Strecke Leipzig-Dresden, 1841 Berlin-Anhalt, 1842 Berlin-Stettin. Die Schienenstränge strahlten von den Hauptstädten und Industriegebieten aus, vernetzten sich, überschritten die Grenzen – 1840 waren es bereits 469 Kilometer, acht Jahre später knapp fünftausend Kilometer innerhalb des Zollvereins, mehr als doppelt so viel wie in Frankreich, über viermal so viel wie in Österreich. Und was hing nicht alles daran: Man brauchte Schienen, Lokomotiven, Waggons, die Maschinen- und Lokomotive-Fabriken blühten auf, eine weit aufgefächerte Zulieferindustrie schoss allenthalben aus dem Boden, die Kohle- und Eisengruben kamen mit der Lieferung des Rohmaterials kaum nach. Und die fertiggestellten Eisenbahnlinien sorgten dafür, dass die Rohstoffe zu niedrigen Kosten mit hoher Geschwindigkeit an weit entfernte Verarbeitungsorte gebracht, dass landwirtschaftliche Produkte, ohne zu verderben, Hunderte von Kilometer weit zu den städtischen Ballungsgebieten geschafft und dass Menschenmassen, Truppen oder Arbeitssuchende quer durch die gesamte Geographie befördert werden konnten. Raum und Zeit veränderten sich im allgemeinen Bewusstsein, und die Telegraphie tat ein Übriges, um die Entfernungen auf ein Nichts schrumpfen zu lassen. Politik, Wirtschaft, Kultur und Krieg hatten sich bisher in den eng begrenzten Regionen abgespielt, ausgemessen durch die Geschwindigkeit von Pferde-Stafetten und Postkutschen; nunmehr, innerhalb weniger Jahre, fand alles das massenhaft, einheitlich und beherrschbar über die ganze Weite des Kontinents statt.7 Es ist interessant, wie sozusagen mit der Erfindung auch gleichzeitig die Skepsis der Menschen geboren wurde, ob diese Erfindungen nicht außerordentlich schädlich sind und unterbunden werden müssten. Dieses Phänomen hatten wir ja schon bei der Erfindung der Buchdruckerkunst kennen gelernt. Aber auch damals bei der entsprechenden Anwendung der Dampfmaschine für Lokomotiven und dem damit mögli7 Siehe Hartmut Boockmann/Heinz Schilling/Hagen Schulze, Mitten in Europa, Deutsche Geschichte, 1993.

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chen Betrieb von Eisenbahnen war diese Skepsis, ja man kann sagen diese Lust des Menschen an der Nichtanwendung oder sogar Zerstörung technischer Möglichkeiten bereits in Deutschland recht lebendig. Heute käme sicher keiner auf die Idee, dass schnelle Züge ein Risiko für unsere Gesundheit wären, obwohl wir ja heute dieselben Menschen aus Fleisch und Blut sind, wie im 19. Jahrhundert. Dennoch gab es außerordentlich betrübliche Fakten darüber, wie schlimm die missbräuchliche Anwendung naturwissenschaftlicher Kenntnisse erfolgte. Diese Erkenntnis führt nun heute zu einer entsprechenden politischen Kategorie, nach der man Möglichkeiten und Grenzen einer neuer Techniken abschätzen muss, um solche schädlichen Auswirkungen zu vermeiden. „Lässt sich die Zukunft durch das eigene Verhalten steuern, gewinnt der Mensch neue Freiheiten, muss sich dann aber auch der Verantwortung stellen, die mit der Möglichkeit der Vermeidung von negativen Ereignissen einhergeht. Ob er sich mit dieser Verantwortung für die Vermeidung von künftigem Übel nicht prinzipiell übernimmt, wie der Philosoph Robert Spaemann mutmaßt, soll hier dahingestellt bleiben. Der Blick in die Zukunft ist von der erlebten Ambivalenz menschlicher Eingriffe in den Lauf der Geschichte geprägt. Mit ihr gehen Faszination und Schauder, Zuversicht und Angst, Machbarkeit und Duldung einher.“8 Bevor wir das Kapitel der Neuzeit abschließen, müssen wir zunächst auf zwei besondere Erfindungen eingehen, welche das industrielle Zeitalter ein Stück weit in das Feld der menschlichen Fantasie, ins Märchenhafte vorangetrieben haben: Ich spreche vom Otto-Motor, der das schnelle Reisen im Automobil ermöglicht, und vom Flugzeug, welches den alten Traum der Menschheit, durch die Lüfte fliegen zu können, in die Wirklichkeit umsetzt. Zunächst zum Automobil: Wie der Name schon sagt, ist es im Unterschied zum Postkutschendienst oder auch zur Eisenbahn ein Verkehrsmittel, dessen Weg, dessen Ziel und dessen Zeitverbrauch, der einzelne Mensch, das Individuum ganz allein selbst bestimmt. Hier trifft eine Erfindung den tiefsten Kern der menschlichen Begierde und rollt über alle Barrieren hinweg, ob im Kapitalismus, ob im Kommunismus oder im Sozialismus. Es ist eine unbesiegbare Erfolgsstory. Auch die zunächst unvorstellbare Finanzierung des Straßennetzes von der Dorfstraße, der Landstraße, der Autobahn bis zur Zufahrt zum letzten Bauernhof wird Schritt um Schritt verwirklicht – eine Addition der Kosten hätte bei jeder Technikfolgeabschätzung die finanzielle Unmöglichkeit dieses Projektes „bewiesen“. Doch es kam ganz anders: Die Automobilinflation ließ die Herzen der Menschen höher schlagen, die totale Entscheidungsfreiheit, wann und wo und mit welchem Auto ich fahre und wie schnell es gehen wird und wohin ich fahre und welche Reiseroute ich nehme, ist ein Freiheitserlebnis, welches so noch nicht erfahrbar gewesen war. Und wieder waren wir Menschen dabei, ein besonderes Stück unserer individuellen Raum/Zeit-Begrenzung zu sprengen. 8 Ortwin Renn, Mit Sicherheit ins Ungewisse – Möglichkeiten und Grenzen der Technikfolgenabschätzung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 64. Jahrgang, 6 – 7/2014, 3. 2. 2014, S. 3 ff.

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Mit dem Fliegen kommt neben der Verwirklichung eines uralten Menschheitstraumes ein Riesensprung der Bewältigung von Raum und Zeit auf uns zu, dessen Ausmaß vor 120 Jahren als völlig undenkbar gegolten hätte. Räume von mehreren 1000 Kilometern, wofür wir früher Wochen und Monate gebraucht hatten, wurden jetzt plötzlich mit dem Flugzeug in wenigen Stunden überwunden. Eine Umdrehung des Erdballs in 24 Stunden wird zum Maßstab unserer Zeit- und Raummessung, wobei die Satelliten im Weltraum unsere Messungen präzisieren bzw. korrigieren. Durch neu gebaute ergänzende Fernrohre, auf den Satelliten im Weltraum platziert, können wir den Weltraum und seine Milliarden Sterne in unsere optische Nähe rücken, sodass die astronomische Wissenschaft eine ungeahnte Fülle neuer Forschungsobjekte vor unsere Augen und unsere Computer führt. Raum und Zeit erweitern sich um die Kategorie der Lichtjahre. Die Realität des Kosmos und der Welt erweitern sich um unzählige Dimensionen und die Atomphysik belehrt uns, dass sich dieser Maßstab in umgekehrter Richtung im Mikrokosmos um entsprechende Dimensionen fortsetzt. Als wären diese technischen Erfindungen in „Hardware“ nicht schon Wunder genug, begannen wir in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch noch die Wirkkräfte der unsichtbaren Welt zu erschließen: Elektrizität, Telegrafie, Telefon, Radiofrequenzen. Die Geschwindigkeiten dieser Kräfte erreichen Werte der Lichtgeschwindigkeit, sodass Ereignisse, Botschaften, Bilder, Informationen, Videos in Ist-Zeit von dem Ereignis um den Globus rasen. Globale Entfernungen schrumpfen gegen Null und gleichzeitig werden die Weiten des Weltalls zu relevanten, aber für unser Hirn kaum begreifbaren Entfernungsmesszahlen in Lichtjahren aufwachsen. So bereitet uns die Neuzeit im 19. und 20. Jahrhundert ein Feuerwerk der Wissensanhäufung, der Erfindungen, neuer Technologien mit riesigen Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen in Stadt und Land, in Nord und Süd, in Industrie- und Entwicklungsländern. Die neuen technologischen Möglichkeiten mit ihren Ressourcen wurden allerdings rücksichtslos genutzt. Die zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert waren ein schreckliches erstes Ergebnis. Sie haben zwar die Ideen der Freiheit, der Demokratie, des Rechtsstaates überleben lassen – aber um den Preis von Millionen von Toten und der Zerstörung unwiederbringlicher kultureller Errungenschaften der Menschheit. V. Die Regierungszeit Helmut Kohls in den 80er Jahren – Deutschland bekommt Anschluss an die Weltentwicklung In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Zeit der nuklearen Bedrohung hatten wir Westdeutsche das unwahrscheinliche Glück, im Bündnis mit den USA an der Seite der Freiheit und Demokratie zu stehen und emsig am Aufbau der europäischen Idee mitzuwirken. Hier wurde durch die historische Weichenstellung Konrad

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Adenauers das Fundament für die weitere Entwicklung Deutschlands und Europas gelegt. Die Unfähigkeit der Nachfolger Konrad Adenauers in den 60er Jahren, sich der durch Kriegsschuld und den Naziterror aufgeladenen Verantwortung auch gegenüber Osteuropa, gegenüber Südosteuropa sowie gegenüber Polen und der Sowjetunion bewusst zu werden, verschob die politischen Gewichte in Deutschland. Es bedurfte der Holocaustfilme aus Amerika und der neuen Generation in Deutschland (die „68er“), um in der Öffentlichkeit die aufwühlenden Fragen zu stellen: Wie konnte eine solche Diktatur wie die Nazizeit über uns hereinbrechen und wer trägt die Schuld daran? 25 Jahre nach diesen furchtbaren Ereignissen der deutschen Geschichte war es in der Tat höchste Zeit, dass sich die deutsche Politik dieser Frage stellte. Offensichtlich war das politische Thema erst jetzt reif, sich dieser schmerzlichen Selbsterkenntnis zu widmen. Erst jetzt begannen die ersten Auschwitz-Prozesse in Deutschland unter deutscher Gerichtsbarkeit. Hier hatte die Union leider den Anschluss verloren und auf beiden Feldern, sowohl der durch die Ost-Politik eingeleiteten Versöhnung mit dem Osten als auch der Aufarbeitung der dunklen Kapitel der deutschen Geschichte, fehlten die notwendige Entschlossenheit und der Mut9. Zu diesem Zeitpunkt war die SPD offensichtlich geeigneter und Willy Brandt war die glaubhaftere politische Symbolfigur, um diese Neuausrichtung der deutschen Politik zu leisten. So sehr die SPD für diese historische Tat zu loben ist, so sehr müssen die übertriebenen Lobpreisungen der 68er-Studentenbewegung wieder in den normalen historischen Rahmen zurückgeführt werden. Die 68er-Bewegung verpasste in Wirklichkeit ihre historische Chance, da sie aus der Mottenkiste die altmarxistischen Ideologien wieder auspackte und den entsprechenden Missionaren an den Universitäten hingebungsvoll lauschte. Im Zuge dieser Re-Ideologisierung an den Universitäten richteten diese über Jahre großes Chaos an und verhinderten vernünftige Reformen. Sie glitten hoffnungslos nach links ab und gefielen sich in fundamentalistisch-anarchischen Zirkeln. Bei der harten, konkreten Reformarbeit an den Universitäten und Schulen waren sie nicht zu sehen oder obstruierten jede konstruktive Arbeit. Ich war damals der kulturpolitische Sprecher der Hessischen CDU-Landtagsfraktion und erlebte hautnah die Kämpfe in Hessen, Berlin bzw. Bremen, wo wir viel Zeit und Kraft in diesem Kampf gegen die Protagonisten europäischer „Kulturrevolutionen“ vergeudeten, anstatt uns der konstruktiveren Reformarbeit zu widmen. Die Parolen des Herrn Herbert Marcuse an der Universität Berkeley bzw. die marxistischen Lehrerbildungsparolen des Herrn Wolfgang Abendroth in Marburg wie auch die von dem Hessischen Kultusminister von Friedeburg erlassenen „Hessischen Rahmenrichtlinien“ konnten nicht das Zukunftsbild der europäischen oder amerikanischen Gesellschaft sein.

9 Der dem liberalen Flügel der hessischen CDU angehörende Bundestagsabgeordnete Walter Leisler Kiep war ein einsamer Rufer für einen entsprechenden Kurswechsel in der Ostpolitik innerhalb der CDU.

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Das mussten wir der Bevölkerung klarmachen und so war die Entscheidung der Hessischen CDU, dieses explosive Thema der Kulturpolitik zu einem großen Wahlkampfthema zu machen, richtig und hatte uns dann bei der Landtagswahl 1970 einen riesigen Erfolg in Hessen beschert. Aber in der Bundespolitik waren wir noch in der großen Gefahr, dass wir aufgrund der mehr und mehr konservativen Haltung, die uns auf alte, überholte Positionen festlegte, an Boden verlieren. Sehr schnell Anfang der 70er Jahre kam die übertriebene Interpretation in den Medien auf, die CDU sei eine katholische Landpartei geworden und aus diesem Grunde nicht mehr mehrheits- bzw. zukunftsfähig. Und das Wahlergebnis, das wir am 19. November 1972 im Bund erhalten hatten, schien diese Interpretation zu stützen. Unmittelbar nach diesem Wahlergebnis handelte der neue Bundesvorsitzende der CDU, Dr. Helmut Kohl. Er erkannte überaus schnell die Gefahr für die gesamte CDU und erteilte im Bundesvorstand Dr. Langguth und mir den Auftrag, ein gemeinsames Papier zu schreiben, welches die Wahlniederlage vom 19. November 1972 analysieren und im Anschluss entsprechende Empfehlungen für die künftige Politik der Union beinhalten sollte. Nach der Diskussion im Bundesvorstand folgte wohl die wichtigste Entscheidung von Dr. Helmut Kohl, dass wir in Abweichung der übrigen kurzfristigen Wahlprogramme ein über die Wahlperioden hinausgehendes strategisches Grundsatzprogramm erstellen müssen, in welchem wir die langfristigen Ziele, unsere Grundwerte und unser Menschenbild im Hinblick auf unser politisches Handeln präzise erläutern müssen. Dazu gehörte natürlich auch eine entsprechende Diskussion auf den verschiedenen Ebenen unserer Partei. So erweckte Helmut Kohl die CDU aus ihrer Starre und transformierte sie wieder zu einer lebendigen Diskussions-Partei, in der wir Sinn und Profil unserer zukünftigen Parteiarbeit beraten konnten. Alle wichtigen Leute waren an diesem Grundsatzprogramm beteiligt. Der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker erhielt den Vorsitz und alle Koryphäen der CDU von Biedenkopf über Blüm und Fink etc. waren mit dieser Aufgabe betraut worden. Nach harten Diskussionen, an denen ich mich als einer der Verantwortlichen für die Soziale Marktwirtschaft beteiligte, verabschiedete der 26. Parteitag von 23. bis 25. Oktober 1978 in Ludwigshafen das erste Grundsatzprogramm der CDU. Die Diskussion war in der Tat lebendig und die entsprechenden Beiträge, insbesondere auch die Darbietung des Generalsekretärs Heiner Geißler, waren eine vorzügliche Grundlage für unsere künftige Politik. Fast alle, die sich an diesen Arbeiten beteiligten, waren nachher in den 80er Jahren in verantwortlichen Positionen in der Regierung oder in der Fraktion. Eine bessere Vorbereitung der 80er Jahre, in denen die CDU mit Helmut Kohl ab 1982 wieder die Verantwortung übernahm, hätte es nicht geben können! Diese Arbeit in den 70er Jahren, in denen wir zu Beginn auf Bundesebene eine außerordentlich missliche Lage feststellen mussten, war in der Tat die Wiederaufnahme der „geistigen Führung“, die durch die entsprechenden Entscheidungen Helmut Kohls in die Wege geleitet wurde. Mit der lebendigen Schaffung des Grundsatzprogramms fand sie tatsächlich statt und strafte alle misslichen und iro-

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nischen Kommentare Lügen. Niemals hätte die Regierungszeit von Helmut Kohl in den 80er Jahren so erfolgreich sein können, ohne diese in den 70er Jahren unternommene geistige Anstrengung. Ich selbst erlebte es aufgrund der Vorbereitungen zur Reform der Medien bzw. der Reform der Bundespost sehr deutlich, sodass dies eines der größten Reformwerke der Regierungszeit Helmut Kohls in den 80er Jahren wurde. Es begann bereits im Jahr 1975 mit meiner Bestellung als medienpolitischer Sprecher der CDU Deutschlands sowie der entsprechenden Erarbeitung und Vorbereitung der notwendigen Reformkonzepte in dem von mir geschaffenen „Koordinierungsausschuss der CDU-CSU für Medienpolitik“. Im Grundsatzprogramm wurde in der Ziffer 123 die neue Position der CDU mit der notwendigen Vielfalt der Medien, auch der elektronischen, festgeschrieben und das Monopol der öffentlich-rechtlichen Anstalten beendet. Auch die Übernahme des Vorsitzes der „Enquete-Kommission für Informations- und Kommunikationstechnik“ zu Beginn des Jahres 1981 stellte sich nachher als beste Vorbereitung für die entsprechenden Regierungshandlungen heraus. Einen besseren Crashkurs hätte es für mich und alle Beteiligten nicht geben können. Wir wussten am Ende genau, welche Maßnahmen sofort bei einer Regierungsübernahme ergriffen werden müssten. So kann ich nur feststellen, dass auf dem von mir bearbeiteten Gebiet der Kommunikationstechnologie sowie auch einer Veränderung der Poststrukturen und der Medienlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland ein entsprechend langer Vorlauf vor der praktischen Regierungstätigkeit unumgänglich war. Nachdem bereits in den 60er und 70er Jahren drei Postreformanstrengungen gescheitert waren, mussten die Vorbereitungen für unsere jetzige Reform sehr sorgfältig vorgenommen werden, denn ein weiteres Scheitern dieser Reform konnten wir uns bei Gott nicht leisten. Während der Regierungstätigkeit wurde zunächst die technische Aufholjagd für unsere zurückgebliebenen Technologien erarbeitet, wie zum Beispiel Einsatz der Glasfaser, weiterer Einsatz der Kupfertechnik für die Haushaltsverkabelungen in Bezug auf Hörfunk und Fernsehen, die Ergänzung der direkt strahlenden Satelliten durch Fernmeldesatelliten, die uns eine große Zahl von Transpondern ermöglichte, die ein entsprechendes Wettbewerbssystem auf dem Gebiet des Hörfunk- und Fernsehwesens ermöglichte, die Schaffung eines Standards für Faxgeräte, damit die entsprechenden Faxgeräte weltweit miteinander in Verbindung stehen können und dann vor allen Dingen der Aufbau eines digitalen Netzes für Mobilfunk neben den analogen Netzen und dem gerade im Aufbau befindlichen C-Netz der Deutschen Bundespost. Die sehr enge Zusammenarbeit mit dem französischen Ministerium auf diesem Gebiet war die Grundlage des GSM-Systems, welches zunächst in Deutschland und Frankreich sowie dann in Europa und schließlich weltweit einen neuen digitalen Standard setzte. Die Bezeichnung GSM, die heute mit „Global System Mobile“ übersetzt wird, war in Wirklichkeit zu Beginn die Abkürzung „Groupe Spécial Mobile“, welches der Name der deutsch-französischen Arbeitsgruppe der beiden Ministerien war und die auf diese Weise einen „bleibenden“ Namen erhielt. Die Zusammenarbeit mit den Franzosen war trotz aller Komplikationen am Ende doch sehr erfolgreich und

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die Minister taten das Übrige, um entsprechende Fehlleistungen immer wieder zu korrigieren. Eine der wichtigsten Entscheidungen war die Digitalisierung auch der gesamten Vermittlungstechnik und damit der Sprung in die neue digitale Welt der Mikroelektronik mit entsprechenden Vorteilen für den technischen Fortschritt. Die Preise fielen dramatisch, die Verkleinerung der räumlichen Abmessungen war fantastisch und die Leistungsfähigkeit der Digitaltechnik war auf der ganzen Linie ein riesiger Sprung nach vorne. Hier ist nicht der Platz, um alle vielfältigen Maßnahmen genauer aufzuschreiben. Sie sind bereits in verschiedenen sehr guten Abhandlungen ausführlich behandelt worden, sodass ich hier nur einen Hinweis auf die entsprechenden Fundstellen und die Literatur geben möchte.10 Das Monopol der öffentlich-rechtlichen Anstalten im Hörfunk- und Fernsehwesen konnte natürlich aufgelöst werden, wenn es eine entsprechende technische Grundlage für den Wettbewerb gab. Diese wurde dann durch Satellitentechnik wie auch durch die Verkabelung der Haushalte erreicht. Der Versuch der alten Regierung, durch Kabelstopp und durch die direkt strahlenden Satelliten nur eine ganz geringe Anzahl von Transpondern zu beschaffen, sodass Wettbewerb praktisch nicht organisiert werden konnte, wurde durch entsprechende technische Maßnahmen mit Fernmeldesatelliten sofort nach der Regierungsübernahme in die Wege geleitet. Die positive Folge, dass das Bundesverfassungsgericht durch neue Urteile betreffend die öffentlich-rechtlichen Anstalten nunmehr auch die Organisierung von Wettbewerb anerkannte und damit zur Abschaffung des Monopols dieser Anstalten durch seine Urteile beitrug, war dann die logische Folge unserer Maßnahmen. Wir schufen praktisch in dieser ersten Legislaturperiode von 1983 bis 1987 die Voraussetzungen dafür, wobei wir parallel durch eine Regierungskommission die Diskussion um die Reform der Bundespost in die Hände einer Regierungskommission legten, die mit

10 Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands 1978, beschlossen vom 26. Bundesparteitag Ludwigshafen 23.–25. Oktober 1978, herausgegeben von der CDU Bundesgeschäftsstelle, Nr. 3912. Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament: B/7/79, 17. 2. 1979. CDU Deutsches Monatsblatt, Christlich Demokratische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, November 1978, Nr. 11: Das Grundsatzprogramm der CDU – Dokument geistiger Erneuerung. Wolfgang Lotz, Die deutsche Post von der Postreform I bis zum Börsengang 1989 – 2000, 2007. Lutz Michael Büchner, Post und Telekommunikation – Eine Bilanz nach zehn Jahren Reform, 1999. Postreform II – Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, Gesetz zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation, 1994. Reform des Post- und Fernmeldewesens in der Bundesrepublik Deutschland, Konzeption der Bundesregierung zur Neuordnung des Telekommunikationsmarktes, 1987. Susanne Päch, Die D2-Story, Mobilkommunikation Aufbruch in den Wettbewerb, 1994. Christian Schwarz-Schilling, Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten – Eine Bilanz aus den Historisch-Politischen Meinungen, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik, 2002. Reinhard Appel, Sternstunden des Fernsehens: 50 Jahre TV in Deutschland. Profis und Prominente blicken zurück, 2002.

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hochrangigen Vertretern aller gesellschaftlichen Gruppen unter der Leitung von Professor Dr. Eberhard Witte besetzt wurde. Diese Kommission lieferte zu Beginn der zweiten Legislaturperiode, d. h. Ende 1987, ihren Bericht ab, sodass wir dann mit großer Geschwindigkeit die Postreform in die Wege leiten konnten. Aber bis dahin waren auch alle wichtigen Fragen geklärt und durch das entsprechende Know-how konnten wir auch die politischen Schwierigkeiten beheben, die unseren Reformvorstellungen noch im Wege standen. Die so genannte Postreform I konnte dann bis Mitte 1989 alle gesetzgeberischen Hürden überwinden und gerade noch vor der Wiedervereinigung, d. h. ab 1. Januar 1990, in Kraft gesetzt werden. Die Vorbereitungszeit und die Gesetzgebung dauerten also 15 Jahre! Da hatten wir noch außerordentlich Glück, denn der Aufbau der Infrastruktur im Osten wäre ohne die Schaffung unabhängiger öffentlicher Unternehmungen nach meinen Erfahrungen praktisch nicht möglich gewesen. Insofern kam zudem eine gehörige Portion Glück dazu, dass wir schon früher als die anderen Ministerien eine gemeinsame „Post-Union“ mit der DDR in den Jahren 1989 und 1990 in Gang gesetzt hatten und dass wir vor allen Dingen ab dem 3. Oktober 1990 die drei Unternehmungen Telekom, Postdienste und Postbank als Kooperationspartner für die ehemaligen DDR-Institutionen bereitstellen konnten. Und das war eine fantastische Bewährungsprobe für die gerade neu geschaffenen öffentlich-rechtlichen Unternehmungen der Deutschen Bundespost. Und wenn ich daran denke, dass mir damals von vielen Fachleuten und natürlich politischen Gegnern prophezeit wurde, dass ich durch die Aufteilung in drei Unternehmen vor allen Dingen die Post in die Katastrophe schicken werde, da sie ohne die Subventionen seitens des Telefons nicht überleben könnte, so kann ich nur feststellen, dass die heutigen Fakten genau das Gegenteil beweisen. Also können wir mit Recht sagen, dass es eine große gelungene Reform war, die dann in den 90er Jahren die Fortsetzung in der Postreform II erfuhr, als die SPD sah, dass den Unternehmen durch die Beschränkungen des Grundgesetzes geschadet wird. So konnte nun durch eine gemeinsame Änderung des Grundgesetzes eine Neuausrichtung eingeschlagen werden. Die gelbe Post hat sich zu einem der besten Unternehmen weltweit gemausert und ist heute das größte Logistikunternehmen im internationalen Verkehr. Natürlich gab es auch Rückschläge, aber welches Unternehmen macht nicht auch negative Erfahrungen, insbesondere wenn ein Management zunächst einmal seine Fähigkeiten ausprobieren muss. Das Abenteuer der Telekom in den USAwäre mit Sicherheit vermeidbar gewesen, wenn man der Sache mit größerer Erfahrung hätte begegnen können. Aber das war nicht mehr Aufgabe der Politik, denn die Verantwortung lag nunmehr ausschließlich bei den Unternehmen und ihren Vorständen.

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Wenn wir uns die Bilanzzahlen ansehen, dann können wir nur sagen, dass wir es tatsächlich geschafft haben, die finanziellen Barrieren zu überspringen und die technologischen Rückstände aufzuholen und heute drei wirklich moderne Unternehmen, die wettbewerbsfähig sind, aus der über 100 Jahre alten Bundespost entwickelt zu haben. Noch heute kommen Fachleute aus Großbritannien, aus den USA oder aus Japan, die sich bei diesen Unternehmen oder bei mir erkundigen, wie sie in ihren Ländern eine entsprechende Postreform in die Wege leiten können. Wenn auch heute vieles anders gemacht werden müsste, so zeigt diese internationale Anerkennung, dass wir in unserer Zeit, in den wir die Verantwortung trugen, offensichtlich eine gelungene Reform auf den Weg brachten. Allen die mir dabei geholfen haben, spreche ich meinen tief empfundenen Dank aus. Zu der „geistigen Führung“ Helmut Kohls gehört übrigens auch, dass er bei den Angriffen von der Opposition und den Medien sich vor seine Kabinettsmitglieder stellte, sodass das Vertrauen eher gestärkt als geschwächt wurde. Wie sich ein Bundeskanzler in solchen Auseinandersetzungen verhält, ist am Ende von ganz entscheidender Bedeutung. Nur ein geringes Anzeichen von Zweifel oder Unentschlossenheit seitens des Bundeskanzlers kann eine jahrelange Reformarbeit zunichtemachen. Bei Helmut Kohl konnte man sich darauf verlassen, dass auch politische Stürme seine Entschlossenheit nicht beeinträchtigen würden. VI. Das 21. Jahrhundert – die Welt erlebt neue Beben und eine Software-Revolution In den 90er Jahren stellten wir plötzlich recht überrascht fest, dass das Internet zu einem immer stärkeren Faktor wurde und alle unsere Rechnungen über den Haufen warf. In den 80er Jahren kämpften wir noch um Kunden für das BTX und die Franzosen propagierten ihren eigenen nationalen Minitel-Standard. Diese noch immer auf analoger Basis entwickelten Dienste hatten gegen die mit Macht anstürmende Digitaltechnik keine Chance mehr. Das Verbinden der Computer mit immer breitbandigeren Netzen und das Umformen der digitalen Mobilfunkgeräte zu immer leistungsfähigeren Klein-Computern schuf eine globale Infrastruktur für das Internet, welche praktisch jedem Einzelnen auf der ganzen Welt den Zugang zum Netz ermöglicht. So etwas hatte es bisher noch nicht gegeben! Dieser Freiheitsschock betraf praktisch alle auf der ganzen Welt, die verschiedenen Staaten, die Politik, die Zivilgesellschaften, die regionalen Verbände, berufliche Gruppierungen, Interessensgruppen, die Familien und auch jeden einzelnen Menschen, der gerade, wenn er „Single“ war, plötzlich über ein Medium verfügte, das ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Unzahl von Gesprächspartnern auf der ganzen Welt verschaffte. Die Zuwachsraten der Teilnehmer wuchsen in logarhythmischen Sprüngen und jeder, der sich in den unübersehbaren Verkehrsfluss der Daten hineinbegab, müsste sich unwillkürlich fragen, nach welchen Regeln funktioniere eigentlich dieser Ver-

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kehr? Man begibt sich auf ziemlich leere oder auch überfüllte Straßen und stellt dabei fest, dass es nur ganz wenige Verkehrsschilder gibt – jeder fährt nach eigenem Gusto und auf eigenes Risiko, wobei er gar nicht weiß, wer alles Zugriff zu seinen eigenen Daten hat. Wer hier Aufklärung will bzw. Regeln erwartet, muss sich sofort fragen: Wie soll es eigentlich Verkehrsregeln geben, wenn es keine globale Verkehrsbehörde gibt? Dabei ist der Kampf um Einfluss zwischen den Verkehrsteilnehmern mit voller Wucht entbrannt. Man stellt fest, dass gerade sehr mächtige Verkehrsteilnehmer mit den unterschiedlichsten Begründungen Sonderrechte beanspruchen, die sie ziemlich rücksichtslos gegenüber allen anderen Anbietern bzw. Teilnehmern durchsetzen. Gerade diese mächtigen Verkehrsteilnehmer halten von allgemeinen Verkehrsregelungen, die von allen Teilnehmern in gleicher Weise beachtet werden sollen, sehr wenig und versuchen daher, entsprechende Überlegungen möglichst im Keime zu ersticken. Dann stellt man wiederum fest, dass große Verkehrsteilnehmer eigene Verkehrsschilder errichten und jeden Einzelnen einladen, sich freundlich anzuschließen. Aber um welchen Preis? Wer hat Zugriff zu welchen Daten und wie darf er diese nutzen? Und wenn Sie bei der Nutzung dieses Angebots ihre Daten mit bekanntgegeben haben, wie erhalten Sie entsprechende Auskunft darüber, was mit Ihren Daten eigentlich neben der konkret anstehenden Aufgabe ansonsten alles passiert? Wer hier Zugriff zu welchen Daten hat, wie er sie nutzen darf und wie es um den Datenschutz bestellt ist, das sind Fragen, die gar nicht oder sehr unterschiedlich beantwortet werden. Der Bundestag hat zu Recht wiederum eine Enquete-Kommission geschaffen („Internet und Digitale Gesellschaft“), die sich recht ausführlich mit den auftretenden Fragen beschäftigt und in mehreren Zwischenberichten einzelne Themenkomplexe behandelt. Als ein Beispiel sei hier das außerordentlich wichtige Thema „Netzneutralität“ aufgeführt, wie im vierten Zwischenbericht erörtert11: „Klassische Telekommunikationsanbieter, Kabelanbieter und Mobilfunkunternehmen stehen untereinander als Internet-Service-Provider im Wettbewerb um Endkunden. Dabei konkurrieren sie nicht ausschließlich über den Zugang zum Internet, sondern ebenfalls über weitere Dienstleistungen wie Sprachtelefonie und Bündelangeboten zur Medienbereitstellung um Endkunden. Dies wird im Allgemeinen unter horizontalem Wettbewerb verstanden. Zusätzlich konkurrieren die Netzwerkbetreiber durch ihre Mehrwertdienste auch mit vor- und nachgelagerten Anbietern in der Wertschöpfungskette. Dabei kann es sich sowohl um Konkurrenz zur klassischen Sprachtelefonie, zum Beispiel VoIP-Angebote, oder entsprechende Medieninhalte (IPTV, iTunes, etc.) handeln. Die Anbieter von Netzwerkinfrastruktur sind dadurch einem entsprechenden Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Es hat sich insbesondere im Mobilfunk gezeigt, dass der Netzwerkbetreiber als Anbieter von Mehrwertdiensten hinter den Hardwareherstellern und weiteren Anbietern von mobilen Betriebssystemen zurück11

Drucksache 17/85/36 vom 2. 2. 2012.

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bleibt. Insbesondere Dienste, die in der Konkurrenz zum Kerngeschäft von Netzwerkbetreibern stehen oder hohe Kosten für den Netzwerkausbau hervorrufen, sind häufig von gezielten Eingriffen in den Datentransport betroffen (VoIP im Mobilfunk, Peer-to-Peer-Protokolle). Eine Regelung zu diskriminierungsfreiem Zugang zu Netzen sollte daher gewährleisten, dass vor – oder nachgelagerte Dienste-Anbieter durch einen Netzwerkbetreiber nicht selektiv benachteiligt werden. Dies gilt insbesondere, wenn der angebotene Dienst in Konkurrenz zu einer Dienstleistung des Netzwerkbetreibers steht.“

Wer wollte bestreiten, dass dies konstruktive Überlegungen sind? Die Frage ist nur, wer hat die Macht, solche Regelungen in angemessener Zeit durchzusetzen? Schon in unserem eigenen Land gibt es meist größeren Streit zwischen den verschiedenen Interessengruppen. Wenn die Regulierungsbehörde sich dann zu einer Regelung entschließt, die einem großen etablierten Anbieter im Wettbewerb etwas wehtun könnte, werden in der Politik zahlreiche Lobbyisten tätig, deren Beiträge dann regelmäßig in der öffentlichen Debatte gipfeln, ob wir denn überhaupt noch eine Regulierungsbehörde bräuchten? Denn diese so liberal klingende Forderung nach Abschaffung der Regulierung ist in Wirklichkeit das genaue Gegenteil: Die Abschaffung der Reduzierung der Regulierung verhindert nämlich eine Stärkung von Wettbewerb im Markt der Telekommunikation. Wir haben in Deutschland jahrelang gebraucht, um nach ausführlichen Beratungen das Telekommunikationsgesetz (TKG) zu erlassen und sind damit im Großen und Ganzen nicht schlecht gefahren. Maßnahmen, welche diesen Ordnungsrahmen verändern, müssen daher mit großer Vorsicht angegangen werden. Für die europäische Ebene gilt dies in erhöhtem Maße. Anfang der 80er Jahre war die Europäische Kommission eine echte Hilfe, Wettbewerb in Europa einzuführen und nationale Egoismen zu beseitigen. Nur so kann Europa – und insbesondere Deutschland – die Vorteile eines großen Marktes zur Geltung bringen und gegen die USA und China im Wettbewerb bestehen. Bei China kommt noch ein weiterer unberechenbarer Punkt hinzu: dass es sich um einen autoritären Staat handelt, der keine Hemmungen hat, die privaten Inhalte zu kontrollieren und in den Internetverkehr jederzeit zu intervenieren, um angebliche Gefahren aufzuspüren und um das politische System zu stärken.12 Nach aller geschichtlichen Erfahrung ist der Versuch, die Freiheit der Meinung durch technische Hilfsmittel zu unterdrücken – auf Dauer gesehen – zum Scheitern verurteilt. Jedoch sollte man nicht unterschätzen, was mit den Möglichkeiten der digitalen Technik in den Händen von über 50.000 Staatsbediensteten durch Verbreitung von Unsicherheit, durch unbegründete Willkürmaßnahmen, durch die Zusammenarbeit mit Polizei und Geheimdiensten alles angerichtet werden kann. Täglich werden Tausende von Seiten entfernt und Drohungen ausgesprochen, um angebliche Korrup12 Christian Schwarz-Schilling/Eva-Maria Durstewitz-Marschall, Harmonische Gesellschaft durch das Internet in China?, in: Die Politische Meinung, Heft 9/2012, S. 61 ff.

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tion, Steuerhinterziehung und weitere Vergehen gegen staatliche Gesetze aufzudecken. Wer erst einmal ins Visier staatlicher Beobachtung geraten ist, muss ein ermüdendes „Katze und Maus-Spiel“ über sich ergehen lassen, welches sehr bösartig enden kann. Das Schlimmste ist die Unsicherheit und die aufziehende Atmosphäre des Misstrauens gegenüber jedermann. Das trifft insbesondere jene Chinesen, die mit ausländischen Partnern vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das macht viele Menschen mürbe und genau das sollte mit dieser Methode wohl auch erreicht werden. Auf der anderen Seite ist der Erfindungsgeist der Nutzer ebenfalls enorm, sodass keiner weiß, wer hier auf Dauer gewinnt. Auf der politischen Seite gibt es zudem den Ehrgeiz, Fortschritte im Rechtsstaatsdialog zu erzielen; und wenn es sein muss, punktuell auch bei den Menschenrechten. Je nach politischer Konstellation können hier auch neue Entwicklungen und ein neuer Schub entstehen, der diese Lage zum Positiveren wendet. Als ich zu meiner Zeit als Bundesminister die Gespräche in Peking aufnahm, hatte ich das enorme Glück, auf wissbegierige und freundschaftlich gesonnene Kollegen zu stoßen. Meine sinologischen Kenntnisse taten ein Übriges. Dass jemand der klassischen chinesischen Schriftzeichen mächtig war, ohne Anhaltspunkte zu liefern, ein verdächtiger Spion zu sein, erregte unter den chinesischen Politikern immer wieder Erstaunen und erhöhte den Respekt und die Glaubwürdigkeit meiner Freundschaft mit Yang Tai-feng, dem chinesischen Minister für Post und Telekommunikation. So gelang es, nach mehrmaligen gegenseitigen Besuchen, die Verhandlungen Ende der 80er Jahre außerordentlich erfolgreich abzuschließen: China beendete die analogen Investitionen aus dem Ausland – vorwiegend analoge Mobilfunkgeräte und Systemtechnik von Motorola, USA – und stellte alles auf Digitaltechnik um. Das war in der Tat eine epochale Weichenstellung und veränderte den Weltmarkt der Telekommunikation bis heute. Mitte der 90er Jahre wurde China auf diesem Sektor sowohl gegenüber den USA wie auch gegenüber Europa ein Wettbewerber auf gleicher Augenhöhe. Wer hätte eine solche Entwicklung Mitte der 80er Jahre – nur sieben Jahre nach dem Ende der grauenhaften „Kulturrevolution“, die dabei war die eigene Kultur zu zerstören und allen zivilisatorischen Fortschritt zu blockieren – auch nur annähernd richtig voraussagen können? Die Freundschaft zwischen Yang Tai-feng und mir hielt bis zu seinem Tode im Jahr 2012 an. Noch unübersichtlicher und komplexer wird die Lage, wenn wir die Vereinigten Staaten von Amerika in unsere Betrachtung einbeziehen. Da stehen die Europäer ebenfalls vor überraschenden Ereignissen. An sich sind grundlegende Veränderungen im globalen Geschehen zwischen mächtigen Staaten, ihren Imperien und ihren Volkswirtschaften nichts Außergewöhnliches. Es gibt immer wieder neue Machtzentren, die auf Grund ihrer besseren Antworten auf die Herausforderungen der Zeit auf dem aufsteigenden Ast sind, währenddessen andere auf dem Wege des Abstiegs sind. Niemand hat das besser beschrieben als der bedeutende Historiker des 20. Jahrhunderts Arnold Toynbee in seinem „Gang der Weltgeschichte“.

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Doch was war mit den USA am Ende des 20. Jahrhunderts und weiter um die Jahrhundertwende geschehen? Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Sieg der Freiheit in Osteuropa bis nach Zentralasien wollte den USA politisch und militärisch eigentlich nichts mehr richtig gelingen. Woran lag das? Gerade für unsere Generation – der aufstrebenden Nachkriegsgeneration nach dem Zweiten Weltkrieg – waren die USA nicht nur „Sieger“, sondern gutes Beispiel, Helfer und Vorbild, welche als Führungsmacht des Westens der Retter aus dem größten Unglück unserer Geschichte war. Uns durchzog ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber unseren Befreiern.13 Wir wussten, allein hätten wir es nicht mehr geschafft, uns aus der tödlichen Umarmung der Nazidiktatur zu befreien. Hier war es nicht vor allem die militärische Stärke der Supermacht, die uns beeindruckte, sondern der feste Glaube an die Ideale von Freiheit und Demokratie, an Gewaltenteilung, an Rechtsstaatlichkeit und die Schaffung neuer weltweiter Institutionen, welche eine auf dem Völkerrecht basierende Weltordnung garantieren sollte. Was hatte denn schon die zweite Supermacht, die Sowjetunion, dem entgegenzusetzen? Sie gründete sich auf eine menschenverachtende Ideologie, auf eine gewaltige Aufrüstung und auf ständige Versuche, den Westen zu überholen und das Recht des Stärkeren ins Spiel zu bringen. Im Zeitalter des atomaren Patts war das eine gefährliche Option. Auch hier waren es letztlich glückliche Umstände, welche die Katastrophe eines Atomkrieges verhinderten. Die Politik der Stärke des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, die durch Bundeskanzler Helmut Kohl möglich gewordene Verwirklichung des NATO-Doppelbeschlusses und die Einsicht des sowjetischen Generalsekretärs Gorbatschow in die harte wirtschaftliche Realität der Sowjetunion, bewirkten dann am Ende der 80er Jahre das Wunder der „Friedlichen Revolution“, welche den „Kalten Krieg“ und den „Warschauer Pakt“ beendete, die Freiheit für Osteuropa brachte und den Deutschen die weitgehend verloren geglaubte Einheit Deutschlands bescherte. Doch dann passierten Nachlässigkeiten und Fehleinschätzungen des Westens, an dessen Folgen wir heute noch schwer zu tragen haben. Die USA meinten, die Hauptverantwortung für den Frieden auf dieser Welt losgeworden zu sein; es gehe in Zukunft nicht mehr um „Weltgeschichte“, sondern überall um die „Ausbreitung der Demokratie“.14 Für Fehlentwicklungen in Europa, so sagten die „Realpolitiker“ in den USA, seien künftig die Europäer selbst zuständig. Beides war eine krasse Fehlbeurteilung und war für Entwicklungen am Rande Europas oder gar außerhalb Europas verhängnisvoll. Der Aggregatszustand des europäischen Projekts ist leider noch nicht entwickelt genug, um diese Aufgabe erfüllen zu können.

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Vgl. Fritz Stern, Wir erleben eine tiefe Vertrauenskrise – ein Gespräch mit dem Historiker Fritz Stern über Amerika, Deutschland und die Wertegemeinschaft des Westens, in: Süddeutsche Zeitung, 31. 7. 2014, S. 11. 14 Siehe Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1992.

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Dies zeigte sich schon sehr bald durch die Geschehnisse auf dem Balkan, die fast unbemerkt zu einer europäischen Katastrophe führten. Die Unfähigkeit Europas, darauf rechtzeitig und angemessen zu reagieren, und der Irrglaube der USA, dass die Europäer jetzt genügend eigene Führungskraft haben müssten, um mit dieser Krise in Europa fertig zu werden, führten zu Völkermord und schlimmsten Menschenrechtsverletzungen, die es in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht gegeben hatte. Die Ursachen dieser doppelten Fehlentwicklung werden bis heute nur teilweise begriffen und verdrängt. Europa ist für uns das wichtigste Projekt nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts; aber dieses Projekt befindet sich bislang immer noch in einem Aggregatszustand und bedarf außenpolitisch nach wie vor der Führung der USA. Europa kann nur dann handlungsfähig werden, wenn es seine komplizierten Entscheidungsmechanismen abbaut. Die heute notwendigen Konsensschaffungen zwischen 28 Staaten machen Europa für die nächste Zeit noch nicht geeignet, eine schnelle und entschlossene Führungsrolle zu übernehmen. Die an sich geniale Idee, bei den wichtigen Fragen die Prinzipien des doppelten Mehrheitsvotums anzuwenden – Mehrheit der Staaten und Mehrheit der Bevölkerungszahl Europas – harren noch immer der politischen Umsetzung. Beide Seiten – Europa und die USA – haben unschlagbare Potenziale, wenn sie ihre eigenen Schularbeiten machen und im Übrigen mehr aufeinander hören würden. Die USA zeigten immer wieder, dass dort das größte technische Innovationspotenzial beheimatet ist, welches gerade in der Gegenwart außerordentlich lebendig sprudelt. Die großen weltweiten Anbieter von heute waren in früheren Jahren meist kleinere Betriebe, die es innerhalb kurzer Zeit auf ihrem Sektor fertigbrachten, den gesamten Weltmarkt wirtschaftlich zu beherrschen. Hier sind es gerade nicht das Militär und auch nicht die Politik, sondern gute, teilweise einzigartige unternehmerische Ideen, welche zu diesen Ergebnissen führen. Aber der Umgang mit Daten der Privatkunden erscheint grenzenlos und eine funktionierende Marktordnung kaum erstrebenswert. Die Regulierungsbehörden im In- und Ausland stehen hier oftmals machtlos davor. Der unbegrenzte Zugriff des Geheimdienstes ist nicht zu stoppen. Selbst höchste politische Stellen in den USA sind ahnungslos über das Treiben dieser Dienste. Der 11. September 2001 hat diesen Trend eher verstärkt. In der Folge hätte es die Möglichkeiten zu einer Beendigung dieses Irrweges gegeben, aber sie wurden nicht dazu genutzt. Zunächst standen die USA der Digitaltechnik eher abwartend gegenüber und überließen auf dem Feld der Mobilfunkgeräte den Europäern den digitalen Vormarsch. Sie zelebrierten auch ihre Erfolge auf dem Gebiet des Internets als Folge ihrer Forschungen und Anwendungen auf zusammen gestalteten Universitätsnetzen und der Ergebnisse der Entwicklungen im Verteidigungsministerium. Sie glaubten noch nicht so recht daran, dass jetzt auch ein technologischer Fortschritt aus Europa kommt. Und diese Chance haben wir Europäer mit dem Aufbau des weltweiten GSM gut genutzt. Hier in Europa wurden die ersten digitalen Mobilfunkgeräte (Handys)

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entwickelt und der zunächst in Europa entwickelte GSM-Standard erhielt binnen kurzer Zeit weltweite Gültigkeit. Die Europäer besitzen auf vielen Gebieten ein höheres Volumen von Sachkenntnis, welches ungenutzt dahinsiecht und infolge von jahrelangen politischen Problemen nicht nutzbar gemacht wird. Man denke nur an das US-amerikanische Verfassungsdiktat von Dayton (1995) und die verheerenden Auswirkungen für BosnienHerzegowina durch die Überlappung ethnischer und demokratischer Prinzipien. Doch wo war die Stimme Europas – mit der notwendigen Geschichtskenntnis dieser Region, mit den in Zentraleuropa lange bekannten föderativen Verfassungsmodellen, und wo das Wissen um die religiösen Toleranzedikte nach dem 30jährigen Krieg in Europa? Und so kommen wir zum Schluss zurück auf die heute chaotischen Verhältnisse auf dem Gebiet der Daten, der Staatsgeheimnisse, der Geheimdienste und der praktisch ungebremsten Ausspionierung der Bürger seitens der Geheimdienste, des Staats und der Nutzungsteilnehmer, die ein Interesse daran haben, in die Privatsphäre des Nachbarn einzudringen. Es geht hier nicht um Einzelregelungen und hoch komplizierte Spezialformeln, sondern es geht erst einmal um eine neue gemeinsame Grundlage der Überzeugungen und Werte. Ohne die Einigung auf gemeinsame Werte wird man sich in politischen Verhandlungen nicht auf gemeinsame Prioritäten einigen können. Das beginnt bei den Daten der Bürger und reicht bis zu den Kriminaldelikten der durch den WeltStrafgerichtshof verfolgten Menschenrechtsverletzungen, die in gleicher Weise von den kleinen und großen Staaten der Welt zu ahnden sind.15 Internationale Körperschaften können nur dann funktionsfähig bleiben, wenn die Handhabung nach rechtsstaatlichen Prinzipien erfolgt und dabei gegenseitiges Vertrauen aufgebaut wird.16 Gerade die USA und die anderen großen Staaten haben da einen großen Handlungsbedarf vor sich, denn überbordende Geheimdienste müssen wieder unter Kontrolle gebracht werden. Dies ist viel schwieriger, als Rahmenbedingungen, auf die man sich einmal geeinigt hat, in Ordnung zu halten. 15 Der im Jahre 2012 gegründete Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wurde von den US-Amerikanern von Anfang an, also schon während der Gründungsverhandlungen, die 1998 mit dem Rom-Statut zum Abschluss gebracht wurden, aufs Schärfste bekämpft. Der deutsche Diplomat Hans-Peter Kaul war in Rom der erfolgreiche Gegenspieler, der mit Mut, Sachverstand und Hartnäckigkeit die US-amerikanischen Versuche, den Internationalen Strafgerichtshof gar nicht erst entstehen zu lassen, bekämpfte. (Kaul verstarb im Juli 2014). Erstaunlicherweise wurde er darin vom Kanzleramt und vom Auswärtigen Amt nachhaltig unterstützt – eine bemerkenswerte Tatsache. Auf diesem Feld gibt es für deutsche Politik noch einiges zu tun. Für die USA wird es äußerst kritisch werden, wenn die Prognose Hans-Peter Kaul eintreffen sollte, dass eines Tages China vorangehen wird und noch vor den USA dem IStGH beitreten wird. Vgl. Interview von Friederike Bauer mit Hans-Peter Kaul, in: Der Tagesspiegel vom Sonntag, den 3. 8. 2014, Nr. 22123, „Die Sonntagsfrage“ S. 4/5. 16 Siehe Christian Schwarz-Schilling, Rückkehr zum Gesetz des Dschungels? Menschenrechte Diskussion und Außenkulturpolitische Konzepte, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, Heft 4, 1996.

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Wie sagte Hugo Grotius, der große Völkerrechtslehrer, der es schaffte, ein neues Zeitalter des Zusammenlebens der Menschen zu kreieren? „Omnibus viribus huic saeculo in peius ruenti sese opponere – wir müssen uns ständig mit allen Kräften dem Drange dieser Welt entgegenstellen, ins Schlimmere abzugleiten.“

Um diese Sisyphusarbeit werden wir im 21. Jahrhundert nicht herumkommen.

Deutschlands Chance: Innovation! Von Heinz Riesenhuber Intelligente Sicherheitssysteme, neueste Technik für Digitalkameras, Solar- und Windkraftanlagen, ultraleichte Nano-Materialien für den Fahrzeugbau, innovative Mikrochips oder bahnbrechende Medikamente – Hightech made in Germany erobert die Welt. Wir sind Meister der Systeme. Wir sind Vizeexportweltmeister bei forschungsintensiven Gütern und halten besonders in den Bereichen Maschinen- und Anlagenbau, Elektroindustrie, Automobilbau, Chemie, Medizintechnik, Umweltund Energietechnik eine Spitzenstellung auf den Weltmärkten. Als „hidden champions“ zeigen sich dabei gerade unsere mittelständischen Betriebe, die fast die Hälfte unserer Weltmarktführer stellen und wesentliche Antreiber für Innovationen sind. Und das ist gut so. Denn damit sichern wir Wachstum, Arbeitsplätze, Wohlstand und sozialen Frieden bei uns im Land. Das hat uns geholfen, die Wirtschaftskrise besser als die meisten anderen Staaten zu überstehen. Das macht uns in der Eurokrise zum Fels in der Brandung. Und das hilft uns gleichzeitig dabei, die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern: Klimawandel, Energieverknappung, demografischer Wandel, Ernährungssicherung in der Welt, Friedenssicherung. Damit das so bleibt, müssen wir unseren Konkurrenten im globalen Innovationswettlauf auch künftig immer eine Nasenlänge voraus sein und immer schneller immer besser werden. In der globalisierten Wissensgesellschaft, in der wir heute leben, müssen wir mit immer neuen Hightech-Produkten, Verfahren und Dienstleistungen punkten – und mit hervorragenden Fachkräften, die sie entwickeln. Chancen hat heute nur der, der sich immer wieder neu erfindet, der konsequent auf Innovationen setzt und dabei die gesamte Wertschöpfungskette im Auge behält. Schon immer waren Innovationen wichtig, um zu überleben und über uns selbst hinaus zu wachsen. Tatsächlich ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Innovationen, von der Erfindung des Rades über die Dampfmaschine bis zum Computer. Was heute anders ist als noch vor 40 Jahren: das rasende Tempo der Entwicklung, die zunehmende Komplexität der technologischen Herausforderungen und die Eroberung der unsichtbaren Welt der Gene, der Quanten, der Mikrochips, der Nanomaschinen. Die Konkurrenz im Innovationswettkampf ist groß, allen voran unsere klassischen Technologie-Mitbewerber USA und Japan. Aber auch aufstrebende Schwellenländer wie China und Indien sind uns immer dichter auf den Fersen und drängen mit Macht an die Weltspitze. So steigert China bei seiner Aufholjagd Jahr für Jahr seine For-

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schungsinvestitionen um 20 % und liegt heute schon an zweiter Stelle hinter den USA. Mit seiner offensiven Innovationsstrategie setzt das Reich der Mitte konsequent auf neueste Technologien und die Ausbildung von Spitzenfachkräften. Rund 1,5 Mio. MINT-Absolventen, d. h. Absolventen naturwissenschaftlich-technischer Fächer, verlassen jährlich die chinesischen Universitäten – 17mal mehr als bei uns. Inzwischen erobern die Chinesen immer mehr Kompetenzfelder, in denen wir traditionell auf dem Weltmarkt führend sind, vom Automobil- und Maschinenbau bis zu Elektrotechnik, Energie- und Umwelttechnologien. Was die chinesische Dominanz in der Photovoltaik mit den Solarunternehmen in Deutschland macht, sehen wir an der hohen Anzahl von Insolvenzen und Übernahmen in diesem Bereich. Gleichzeitig ist China ebenso wie die anderen Schwellenländer ein gewaltiger Markt, den wir mit innovativen Produkten und Anlagen made in Germany erobern können. Rund 8000 deutsche Unternehmen und Forschungsinstitute sind jetzt schon erfolgreich in China tätig. Diese Chancen müssen wir künftig noch besser nutzen. Dazu brauchen wir nicht nur neue strategische Innovationspartnerschaften mit diesen Ländern. Vor allem müssen wir unsere Innovationskraft im Ganzen weiter stärken. Davon hängt alles ab. Unsere Voraussetzungen für den Erfolg sind gut. Unsere Stärken sind unsere vielfältige Forschungslandschaft, unser starker innovativer Mittelstand, die gute Vernetzung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, eine Infrastruktur, um die uns die Welt beneidet, unser gutes Ausbildungssystem, unsere exzellenten Forschungs- und Innovationsförderprogramme. Diese Stärken haben wir in den letzten Jahren weiter ausgebaut. Mit der Hightechstrategie haben wir unsere Innovationspolitik auf Zukunftsthemen ausgerichtet und innovative Technologien wie Internet, Nanotec, Biotec zunehmend für wichtige gesellschaftliche Ziele eingesetzt. So sollen zum Beispiel die „CO2-freie Stadt“, die „Intelligente Fabrik“, „Zukunftsfähige Energienetze“, das „Selbständige und gesunde Leben bis ins hohe Alter“, die „Umweltfreundliche Mobilität“ mit einer Million Elektrofahrzeugen auf deutschen Straßen schon in wenigen Jahren Wirklichkeit werden. Mit drei Prozent des BIP haben wir noch nie so viel in Forschung und Innovation investiert wie heute, das sind insgesamt rund 80 Mrd. Euro pro Jahr. Seit 2006 hat allein die Bundesregierung ihre Forschungsausgaben um über 13 Mrd. Euro erhöht, bis 2017 kommen noch einmal 3 Mrd. Euro dazu. Inzwischen gibt sie jährlich über 14 Mrd. Euro für Forschung und Entwicklung aus. Auch die deutsche Wirtschaft – die zu den innovationsstärksten der Welt gehört – hat ihre Forschungsausgaben auf eine Rekordhöhe von rund 56 Mrd. Euro gesteigert. Wir sind auf einem guten Weg. Aber wir müssen uns trotzdem immer wieder neu die Frage stellen: Wie können wir noch besser werden? Denn richtig ist auch: Trotz all dieser Stärken konnten wir unsere Innovationskraft 2013 – gemessen nach dem Innovationsindikator der Deutschen Telekom-Stiftung und des BDI – gegenüber

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dem Vorjahr nicht verbessern und liegen hier weiter „nur“ auf Platz 6 unter 28 Industrienationen. Der Grund: Wir haben im Vergleich zu anderen Ländern relative Schwächen in unserem Bildungssystem, beim Fachkräftenachwuchs, bei Hightech-Gründungen, bei der privaten Innovationsfinanzierung durch Wagniskapital, beim Ausbau von Spitzentechnologien wie den Kommunikationstechnologien. Das kann gefährlich werden, denn die Konkurrenz schläft nicht. Wir müssen uns noch mehr anstrengen als bisher, um diese Defizite zu beheben und unsere Stärken weiter zu stärken. Damit wir im globalen Innovationswettlauf auch künftig ganz vorne mit dabei bleiben. Damit wir Fragen beantworten können wie: Wie wollen wir morgen leben? Womit verdienen wir morgen unser Geld? Das mahnen auch der Sachverständigenrat und die Expertenkommission für Forschung und Innovation an, die die Bundesregierung beraten und dazu jährlich unsere Leistungsstärke messen. Auf dem Weg in die Zukunft müssen wir unsere Hightechstrategie noch stärker zu einer umfassenden Innovationsstrategie ausbauen. Neben der weiteren Steigerung unserer Forschungsausgaben auf möglichst 3,5 % des BIP – denn nur so kann der deutsche Innovationsmotor Europa als Ganzes besser mitziehen auf dem Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit in der Welt – müssen wir uns dabei im Wesentlichen auf acht Ziele konzentrieren: I. Innovation heißt, Zukunftsprojekte zum Erfolg führen Beispiel Energiewende: Eine der wichtigsten Aufgaben, vor denen wir aktuell stehen, ist zweifellos die Energiewende. Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 haben wir als erstes Industrieland der Welt die Abschaltung aller Atomkraftwerke bis 2022 beschlossen und sind mit Vollgas ins Zeitalter der Erneuerbaren Energien gestartet. Sie sollen bis 2050 mindestens 80 % unseres Stroms liefern und 60 % unseres gesamten Energiebedarfs decken. Das heißt auch, langfristig Abschied nehmen von fossilen Energien, vorrangig von Kohle und Öl – eine Riesenherausforderung. Wir wollen gleichzeitig die Möglichkeiten der Energiewende optimal nutzen. Das Weltmarktpotenzial bei den Energie- und Umwelttechnologien liegt bis 2025 bei 4.000 Milliarden Euro oder mehr – das ist die Chance für unsere Unternehmen, die hier heute schon die Weltmärkte dominieren. Die Welt schaut auf uns, wie wir das schaffen. Wir haben ein schlüssiges und wissenschaftlich fundiertes Energiewendekonzept. Von vielen zunächst euphorisch begrüßt, werden inzwischen aber immer mehr Zweifel daran laut. Denn reibungslos geht ein solches Mammutprojekt natürlich nicht vonstatten. Problem Nr. 1: Die Strompreise steigen – paradoxerweise gerade weil der Ausbau von Sonnen- und Windstrom so erfolgreich verläuft. Die Erneuerbaren tragen schon

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heute zu rund 25 % der Stromversorgung bei – und liegen damit weit über Plan. Die Produktion wird dadurch zwar wirtschaftlicher. Aber die durch das ErneuerbareEnergien-Gesetz garantierte Einspeisevergütung über 20 Jahre und die steigende EEG-Umlage, die sich aus der Differenz zum Strombörsenpreis ergibt, werden dem nicht gerecht. Durch eine grundlegende Reform des EEG haben wir 2014 die Überförderung besonders beim teuren Solarstrom weiter abgebaut, um den Anstieg der EEG-Umlage zu stoppen – aber das war sicher nicht der letzte Schritt. Nach der Reform ist vor der Reform. Problem Nr. 2: Der Netzausbau hält mit dem schnellen Ausbau der Erneuerbaren Energien nicht Schritt. Auch der Anschluss der Offshore-Windparks an die Küste geht zu langsam voran. Wir müssen bis 2020 viele Tausend Kilometer neue Höchstspannungsleitungen bauen oder erneuern, um den Windstrom von der Nordsee über vier große Stromautobahnen bis zu den Industriezonen im Süden zu transportieren und dort den Atomstrom zu ersetzen – ganz zu schweigen vom Ausbau der regionalen Verteilnetze. Um den Netzausbau zu beschleunigen, haben wir deshalb die Genehmigungsverfahren vereinfacht und verkürzt. Gleichzeitig müssen unsere Netze den zunehmenden „Transitverkehr“ beim Stromhandel in Europa bewältigen, und den „Gegenverkehr“ durch die Stromeinspeisung der vielen kleinen Windparks und Solaranlagen auf den Dächern. Die Entwicklung neuer zukunftsfähiger Netztechnologien und Netzmodelle, die diesen Aufgaben standhalten, sind daher ein wichtiger Schwerpunkt in unserem 6. Energieforschungsprogramm. Problem Nr. 3: Erneuerbare Energien sind nicht grundlastfähig, denn Sonne und Wind halten sich nicht an die Zeiten des Bedarfs. Das birgt die Gefahr von Stromlücken – gerade für unsere Industrieproduktion und unser Gesundheitssystem kann das fatal sein. Um das schwankende Angebot der Erneuerbaren auszugleichen, brauchen wir deshalb schon bald mehr Speicherkapazitäten und neue leistungsfähige Speichertechnologien, die wir heute noch nicht haben – auch dies daher ein wichtiges Thema unseres Energieforschungsprogramms. Wir treiben besonders die Entwicklung von Batterien, Druckluftspeichern und die Power-to-Gas-Technik, also die Umwandlung von Strom in stoffliche Speicher wie Wasserstoff oder Methan, voran. Bis zur Wirtschaftlichkeit und zu einem breiten Einsatz ist es aber noch ein weiter Weg – auch wenn vieles technisch bereits marktfähig ist. Als mobile Energiespeicher können künftig auch Elektroautos dienen, wenn wir unser Ziel erreichen, mit 1 Million E-Mobilen auf Deutschlands Straßen bis 2020 zum Leitmarkt und zum Leitanbieter zu werden und die entsprechende Infrastruktur dafür schaffen. Hier laufen viele vielversprechende Versuche, die durch unsere weltweit einmalige Nationale Plattform Elektromobilität koordiniert werden. Elektrofahrzeuge sind auch fest eingeplant als wichtige Mitspieler in der energieeffizienten Stadt der Zukunft, besonders durch den Einsatz im städtischen Lieferverkehr und im öffentlichen Nahverkehr. Sie fahren nicht nur abgasfrei, sondern sind auf Kurzstrecken auch besonders energieeffizient.

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Energieeffizienz ist überhaupt einer der wichtigsten Schlüssel für die Energiewende. Wir wollen den Energieverbrauch bis 2050 um 50 % senken. Ein ehrgeiziges Ziel, aber machbar, denn Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, die ihre Wirtschaftsleistung schon in den letzten Jahren immer stärker vom Energieverbrauch abkoppeln konnten. Wichtige Technologien sind hier die Kraft-Wärme-Kopplung und moderne Verfahren zur energetischen Gebäudesanierung, denn rund 40 % des Energieverbrauchs entfallen auf Gebäude. Wir wollen die Sanierungsrate verdoppeln und haben deshalb die Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf 1,8 Mrd. Euro pro Jahr erhöht. Auch Green Building, das Intelligente Haus, das seinen Energiehaushalt selbstständig steuert, die Integration erneuerbarer Energietechniken im gesamten Baubereich inklusive Städtebau, ja die digitale Steuerung der Energieversorgung insgesamt sollen künftig Standard werden. Und damit sind wir bereits bei unserem zweiten großen Zukunftsprojekt. Beispiel digitale Gesellschaft: Wir leben im digitalen Zeitalter. Smartphone, Skype, Facebook, Online-Banking, GPS-Navigation, intelligente Verkehrslenkung sind schon heute aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Haushaltsroboter, Telemedizin, energieneutrale Städte, die vierte industrielle Revolution mit intelligenten Fabriken, lernenden Maschinen, schlauen Produkten und der umfassenden Verschmelzung von Produktion und Internet, ganz neuartige Neuro- und Quantencomputer mit immer größerer Rechenpower, und die immer engere Verbindung von Mensch und Maschine – das ist unsere Zukunft. Völlig neue Möglichkeiten bietet speziell das Internet der Dinge, das keinesfalls auf die „Smart Factory“ der Zukunft beschränkt sein wird. Die zunehmende Vernetzung von Alltagstechnik und damit zahlreiche neue nützliche Dienstleistungen werden für uns alle schon bald unverzichtbar sein. Sei es bei der Parkplatzsuche von selbstfahrenden Autos, bei der Fernsteuerung von Heizung und Haustechnik in Smart Homes, beim Faxen von Gegenständen und Drucken von Lebensmitteln, bei Ortungsgeräten für Hunde und Fahrräder, bei smarten Datenbrillen und Puls messenden Hemden, oder bei Pflegerobotern und virtuellen Erinnerungshilfen für Senioren. Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts, werden immer mehr zur wichtigsten Währung. Big Data, die Analyse riesiger Datenmengen, lässt grüßen. Die Digitalisierung und das Internet sind die größten Innovationstreiber der Welt. Sie ermöglichen den Unternehmen eine ungeahnte Flexibilität und die passgenaue Kundenorientierung bei optimalem Ressourceneinsatz. Nur mit ihrer Hilfe können wir es schaffen, die zunehmende Dynamik und Komplexität der Welt zu beherrschen, die Energiewende und die alternde Gesellschaft zu organisieren – und gleichzeitig damit Geld zu verdienen. Rund 1.000 Mrd. Euro mehr als heute pro Jahr, um genau zu sein, wie eine McKinsey-Studie 2014 errechnet hat. Das schafft auch zahlreiche neue Arbeitsplätze.

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Aber dazu müssen wir Vorreiter sein und als erste die Regeln und Standards für die digitale Wirtschaftswelt setzen. Dazu müssen wir das Internet der smarten Dinge und der intelligenten Dienste, Industrie 4.0, Cloud Computing, Robotik, Green-IT, e-energy und Smart Grids, e-health, e-government, e-commerce, e-democracy und schnelles Breitband für alle so schnell wie möglich ausbauen. Die Digitale Agenda der Bundesregierung weist den Weg, um Deutschland zum digitalen Wachstumsland Nr. 1 in Europa zu machen. Bei aller Euphorie über die Möglichkeiten der schönen neuen total vernetzten Welt: Die Digitalisierung wirft auch viele neue Fragen auf und birgt Gefahren, wie nicht zuletzt die NSA-Affäre, die zunehmende Kriminalität im Netz und die Milliardenschäden der Wirtschaft durch Industriespionage zeigen. Einmal abgesehen von der Möglichkeit, zur guten alten Schreibmaschine zurückzukehren (die übrigens zurzeit eine regelrechte Renaissance erlebt): Vor allem Cyber-Sicherheit muss gewährleistet werden, damit Bürger und Unternehmen dem Netz vertrauen und seine großartigen Dienste nutzen. IT-Sicherheit wird so auch zum Wettbewerbsvorteil. Dafür hat die Bundesregierung eine umfassende Strategie entwickelt, die zahlreiche Maßnahmen umfasst. Das reicht von neuen Sicherheitstechnologien und besseren Verschlüsselungs- und Anonymisierungsverfahren über neue Datenschutzbestimmungen bis zur besseren Ausstattung der Sicherheitsbehörden und zur Kooperationsplattform des Nationalen Cyber-Abwehrzentrums. Es führt kein Weg daran vorbei, neue Regeln für das Netz auch international durchzusetzen, besonders im Rahmen der Cyber-Dialoge mit unseren Partnern und der Weltkonferenzen zu Informationsgesellschaft und Internet-Governance. Nicht nur beim Datenschutz gilt das Prinzip: Die Rechte, die die Menschen offline haben, müssen auch online geschützt werden. Deshalb brauchen wir auch eine europäische Alternative zu Google. II. Innovation braucht mehr innovative Gründer Energiewende, digitale Gesellschaft – damit diese und andere Zukunftsvisionen wahr werden können, brauchen wir vor allem mehr Innovatoren, einen schnelleren Technologietransfer und den richtigen Rahmen für unseren Innovationsstandort. Ganz wichtig: Wir müssen Deutschland zu einem Hightech-Gründerland, zu einer Brutstätte für junge Start-ups machen. Denn das bleibt der schnellste Weg, um neues Wissen aus der Forschung erfolgreich in die Märkte zu bringen und neue Märkte zu erschließen. Auch Bill Gates hat einmal klein angefangen. Die Bundesregierung fördert Hightech-Gründungen auf geradezu vorbildliche Weise, vor allem durch staatlich aufgelegte Fonds wie den Hightech-Gründerfonds und durch Förderprogramme wie EXIST für Gründungen aus Hochschulen. Aber ein deutsches Silicon Valley, das Welterfolge fast wie am Fließband produziert, ist damit noch nicht in Sicht – auch wenn die digitale Start-up-Szene in Berlin inzwischen Furore macht. Die letzte deutsche IT-Gründung von Weltruf bleibt nach wie vor SAP,

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und die liegt über 40 Jahre zurück. Und gerade in den für unseren Standort so wichtigen Spitzentechnologiebereichen wie Biotechnologie, Pharmazie, Mess- und Steuertechnik nimmt die Gründungstätigkeit seit Ende der 90er Jahre kontinuierlich ab. Warum ist das so? An Erfindergeist mangelt es bei uns nicht. Deutschland liegt international mit an vorderster Stelle bei der Anmeldung von weltmarktrelevanten Patenten. Aber nur ein Bruchteil neuer Ideen schafft es bis in die Märkte. Ein wichtiger Grund hierfür ist der Mangel an privatem Wagniskapital. Auch rund 15 Jahre nach dem Platzen der Dotcom-Blase und dem Zusammenbruch des Neuen Marktes im Jahr 2000 bleibt der deutsche Wagniskapitalmarkt nahezu ausgetrocknet. Wir haben zu wenige Wagniskapitalfonds und vor allem zu wenige Business Angels, die jungen Gründern in den ersten schwierigen Jahren nicht nur mit Geld, sondern auch mit Rat und Tat zur Seite stehen und deshalb unverzichtbar für ihre Entwicklung sind. Best-Practice-Beispiel sind hier die USA mit ihrem weit gespannten Netz von über 300.000 Business Angels, die jährlich zweistellige Milliardenbeträge in ihre Start-ups investieren – hervorragende Business-Ideen natürlich vorausgesetzt. Zum Vergleich: Die Zahl der deutschen Business Angels wird auf 5.000 geschätzt, ihre jährlichen Investitionen auf 200 bis 300 Mio. Euro. Was in Deutschland fehlt, ist gerade das, was Wagniskapital in den USA stark gemacht hat: steuerliche Vorteile und strikte Deregulierung für Wagniskapitalinvestitionen. Wir müssen die Rahmenbedingungen für privates Wagniskapital deshalb auch bei uns endlich attraktiver machen und an das Niveau anderer Länder anknüpfen. Nur so können wir Wettbewerbsverzerrungen abstellen und mehr ausländische Investoren anlocken. Einige Fortschritte haben wir schon erzielt, vor allem mit dem neuen INVEST-Zuschuss für Business Angels. Das geplante Venture Capital-Gesetz, das die Bundesregierung im Koalitionsvertrag versprochen hat, muss uns hier noch weiter bringen. Was in Deutschland außerdem (noch) fehlt, sind ein gesunder Gründergeist, mehr Risikofreude, die Lust an der Selbstständigkeit und an der Eroberung neuer Märkte. Die Initiative „Unternehmergeist in die Schulen“ mit Projekten wie Gründerklassen, Schüler-Wirtschaftstagen, Schülerfirmen und Schüler-Business-Wettbewerben ist deshalb eine tolle Idee, um das vielleicht schon bald zu ändern. III. Innovation braucht mehr innovative Mittelständler Auch den gestandenen innovativen Mittelstand müssen wir noch besser unterstützen, denn er ist wesentlicher Motor des technischen Fortschritts bis hin zu Spitzentechnologien. Er ist Garant für Spitzenplätze auf den Weltmärkten und für Arbeitsplätze bei uns zu Hause. Gerade weil seine Unternehmen kleiner und flexibler sind als Großunternehmen, können sie schneller, flexibler und passgenauer auf neue Kundenwünsche und Forderungen der Märkte reagieren, ihre Systemkompetenz ausspie-

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len und neue Märkte erobern. Auch bei der vierten industriellen Revolution sind vielfach sie die Macher, und nicht die Großkonzerne. Ein Warnsignal schickt uns der Bundesbericht Forschung 2014, nach dem die Zahl der regelmäßig forschenden Mittelständler leicht abgenommen hat. Wichtig ist deshalb besonders der weitere Ausbau des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand, das wir schon jetzt mit über 500 Mio. Euro pro Jahr ausstatten. Wir wollen auch neue Unternehmen an die Forschung heranführen und brauchen deshalb zusätzlich eine größere Breitenwirkung der Forschungsförderung. Dafür müssen wir auch neue Wege gehen, zum Beispiel mit Steuergutschriften für Forschungsausgaben in Unternehmen, wie sie in der Mehrzahl der anderen OECD-Länder längst üblich sind. Als Einstieg könnten wir diesen Forschungsbonus auf kleine und mittlere Unternehmen beschränken, das spart Kosten und bringt den größten Effekt. Die steuerliche Forschungsförderung ist unbürokratisch, technologie- und branchenoffen, schnell wirksam und erreicht eine hohe Zahl von Unternehmen. Es gibt viele positive Erfahrungen und Studien aus anderen Ländern dazu. Danach setzen die Unternehmen die Steuerersparnis in der Regel wieder für die Forschung ein, melden mehr Patente an und kurbeln das Wirtschaftswachstum insgesamt an. Warum also nicht auch bei uns? Leider braucht es einige Jahre, bis solche Erfolge sichtbar werden. Bisher war deshalb vor allem unser Finanzminister noch skeptisch. Das Bohren dicker Bretter bleibt daher Pflicht. Der Staat kann auch selbst noch stärker als Innovationstreiber auftreten und durch eine innovative Beschaffungsstrategie mehr Innovationen im Mittelstand anstoßen. Das jährliche Volumen der öffentlichen Auftragsvergabe beträgt rund 300 Mrd. Euro. Davon könnte man rund 3 Mrd. Euro für innovative Beschaffung einsetzen – ein Potenzial, das noch lange nicht ausgeschöpft ist. Das neue Kompetenzzentrum der Bundesregierung für Innovative Beschaffung gibt hier neuen Rückenwind, vor allem für die Bereiche IT-Ausstattung, Energieeffizienz und Dienstfahrzeuge der Behörden. Das Bundeswirtschaftsministerium ist gemeinsam mit fünf anderen Bundesressorts Vorreiter dabei, innovative Lösungen beim Einkauf intensiver zu berücksichtigen. Wichtig ist jetzt, dass hier künftig möglichst alle Beschaffungsstellen in Bund, Land und Kommunen an einem Strang ziehen und eine große Allianz bilden. IV. Innovation braucht Zusammenarbeit Auch Unternehmen untereinander und Wirtschaft und Wissenschaft müssen künftig noch früher und stärker zusammenarbeiten, um erfolgreich innovativ zu sein. Die Zeiten, wo jeder für sich allein kämpfen konnte, sind vorbei. Dazu sind die Herausforderungen zu komplex. Forschungsaufträge der Wirtschaft an Forschungsinstitute, Stipendien der Unternehmen für begabte Studenten, Stiftungsprofessuren an Hochschulen im Wert von insgesamt 4 Mrd. Euro pro Jahr sind gut. Noch besser sind Netzwerke, Kooperationen, strategische Allianzen und innovative „Public-Private-Part-

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nership“-Modelle, die Kompetenzen bündeln und dabei besondere Synergieeffekte und Innovationskraft entfalten. Mit der Initiative „Forschungscampus“ unterstützt die Bundesregierung deshalb im Rahmen ihrer Hightechstrategie einen neuen Typ von Forschungsstrukturen, in denen Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft langfristig gemeinsam an Zukunftsthemen wie Gesundheit, Energieversorgung und nachhaltige Mobilität arbeiten. So arbeitet die Universität Stuttgart in der Forschungsfabrik „ARENA2036“ zusammen mit großen Partnern der Automobilindustrie und mit kleinen und mittleren Zulieferbetrieben an einer neuen umweltfreundlichen Automobilgeneration, die leichter ist und weniger Energie verbraucht, dabei weiter ein Höchstmaß an Sicherheit, Komfort und Ausstattung bietet. Dafür müssen neue Materialien, intelligente Leichtbauweisen und flexible Produktionslinien entwickelt werden. Ein weiterer Forschungscampus widmet sich am Hochschulstandort Aachen dem Thema „Elektrische Netze der Zukunft“. Und in Berlin will der Campus „Connected Technologies“ die Vision des vernetzten Lebens von morgen verwirklichen und schafft dazu neue Möglichkeiten der intelligenten Heimvernetzung im künftigen „Smart Home“. In spätestens 15 Jahren erwarten wir marktfähige Ergebnisse von insgesamt zehn Forschungsfabriken. Viel erwarten wir uns auch von den strategischen „Innovationsallianzen“ der Industrie, die wir ebenfalls mit unserer Hightechstrategie unterstützen. So soll die „Innovationsallianz Photovoltaik“ mit über 120 weltweit führenden Forschungsinstituten und Solarunternehmen den Innovationsvorsprung der deutschen Solarindustrie gegen die Konkurrenten auf dem Weltmarkt verteidigen. Sie wollen Solarstrom günstiger und effizienter machen und die Solarfabrik der Zukunft entwickeln. Die enge Kooperation beschleunigt das Innovationstempo. Durch neue Produktionstechnologien und bessere Prozessschritte ist es inzwischen gelungen, die Herstellungskosten von Solarfabriken um 30 Prozent zu senken. In der Innovationsallianz Carbon Nanotubes wollen rund 90 Partner aus Wirtschaft und Wissenschaft mit winzigen Kohlenstoffröhrchen – kurz CNT – völlig neue Materialien mit spektakulären Eigenschaften für die Bereiche Energie und Umwelt, Mobilität, Leichtbau und Elektronik entwickeln. CNT sind rund 10.000 Mal kleiner als ein menschliches Haar, besitzen dabei eine höhere spezifische Festigkeit als Stahl, eine höhere elektrische Leitfähigkeit als Kupferdraht und eine höhere Wärmeleitfähigkeit als Diamanten. Erste kleinere Produkte mit CNT-haltigen Kunststoffen sind bereits auf dem Markt, wie Tennisschläger, Fahrradhelme, Skier, Sportschuhe und sichere Transportbehälter für leicht entflammbare Stoffe wie Lösemittel und Öle. Zukunftsvisionen sind CNT-haltige Benzinleitungen, der Einsatz im Fahrzeugund Flugzeugbau, CNT-verstärkte Offshore-Windkraftanlagen, die hohe Belastungen aushalten können, hochstabiler und gleichzeitig elastischer Beton auf CNTBasis für den Einsatz in Erdbebengebieten und vieles mehr. Der Zukunftsmarkt mit CNT-Anwendungen wird auf über 100 Mrd. Euro geschätzt und kann über 100.000 Arbeitsplätze schaffen. Deutschland spielt hier bereits heute eine weltweit

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führende Rolle und will mit Hilfe der Innovationsallianz zum absoluten Leitmarkt für neuartige Kohlenstoffnanomaterialien werden. Die zahlreichen deutschen Spitzencluster sind Paradebeispiele für die erfolgreiche Zusammenarbeit von Unternehmen und Forschungseinrichtungen in den Regionen. Die besten hat der Spitzencluster-Wettbewerb der Hightechstrategie strategisch weiterentwickelt und international positioniert. Dazu gehören der Luftfahrtcluster Hamburg, die Biotechnologie-Cluster der Regionen Heidelberg und München, der Software-Cluster in Darmstadt und Silicon Saxony Dresden. Cluster eignen sich auch besonders für den Ausbau internationaler Partnerschaften, die immer wichtiger werden, um gemeinsam Probleme zu lösen und um den Zugang zu wichtigen neuen Absatzmärkten wie China zu sichern. Konkurrenz und Kooperation schließen sich nicht aus. Im Fokus steht die Zusammenarbeit mit unseren EU-Partnerländern, denn wir wollen Europa gemeinsam zum stärksten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt machen. Großprojekte in der Grundlagenforschung – wie der größte Teilchenbeschleuniger der Welt am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf – oder in der Luft- und Raumfahrt – wie Airbus, Ariane und die internationale Raumstation ISS – sind schon viele Jahrzehnte Vorreiter für gewinnbringende internationale Kooperationen. Sie zeigen uns auch den Weg für die erfolgreiche friedliche Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Nationen.

V. Innovation verlangt Freiraum Innovationen kann man nicht staatlich verordnen. Sie brauchen Freiraum, um sich zu entwickeln. Ein weiteres Gebot der Stunde heißt deshalb Bürokratieabbau. Das spart den Unternehmen viel Zeit und Milliarden an Euro, die sie viel sinnvoller zur Stärkung ihrer Innovationskraft einsetzen können – und wirkt deshalb gleichzeitig wie ein kostenloses Konjunkturprogramm. Im Vergleich zu 2006 haben wir es geschafft, rund 25 % bzw. 12 Mrd. Euro an Bürokratiekosten pro Jahr abzubauen: durch schnellere und billigere Genehmigungsverfahren, leichtere Unternehmensgründungen, weniger Statistikpflichten, höhere Freigrenzen, weniger Vorschriften, einen Bürokratiecheck für neue Gesetze und vieles mehr. Unser Nationaler Normenkontrollrat leistet dabei gute Arbeit. Dieses Fitness-Programm müssen wir fortführen – auch in Europa. Dazu gehört auch der weitere Ausbau von e-government, das den Kontakt von Bürgern und Unternehmen mit den Behörden um ein Vielfaches erleichtert. Bisher werden digitale Dienste wie der elektronische Personalausweis, die elektronische Steuererklärung, die e-Gesundheitskarte, die e-Bilanz, die e-Signatur oder neue rechtssichere E-Mail-Verfahren aber nur von jedem zweiten Deutschen genutzt. Denn vielfach sind die IT-Angebote der Verwaltung im Vergleich zur Wirtschaft, die auf mobile Lösungen, Social Media, Cloud Computing und Big Data setzt, zu unbekannt, zu kompliziert, oder noch nicht auf dem neuesten Stand der Technik. Künftig sollen die 100 wichtigsten und am häufigsten genutzten Verwaltungsleistun-

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gen technisch aufbereitet und bundesweit online angeboten werden. Mit dem E-Government-Gesetz haben wir dafür im vergangenen Jahr wichtige Weichen gestellt. Der e-Government-Wettbewerb bringt innovative Lösungen voran. Die Nationale e-government-Strategie müssen wir weiter aktualisieren und auf jeden Fall in Richtung Mobiles Government erweitern, denn gerade hier steigt der Bedarf. Freiraum heißt auch, Spielräume für Investitionen in die Zukunft zu schaffen und zu erhalten. Das erfordert vor allem: solide Finanzen, weiteren Schuldenabbau, Senkung von Steuern und Abgaben, weitere Strukturreformen, damit unsere sozialen Sicherungssysteme fit für die Zukunft werden. Einen wichtigen Erfolg kann man hier nicht hoch genug werten: 2015 macht der Bund zum ersten Mal seit 1969 keine neuen Schulden mehr. Das stärkt auch unsere Innovationsbasis erheblich. VI. Innovation fordert, dass wir alle Menschen auf dem Weg in die globalisierte Wissensgesellschaft mitnehmen Schlaue Köpfe sind unser wichtigstes Kapital in der Wissensgesellschaft. Aber die werden nach allen Prognosen bald Mangelware sein in unserer alternden Gesellschaft, die insgesamt viel zu wenig Nachwuchs produziert. Schon jetzt haben die Unternehmen Probleme, ausreichend qualifizierte Fachkräfte zu finden, und das nicht nur im Hightech-Bereich. Es birgt auch sozialen Sprengstoff, wenn rund sechs Prozent der Schüler eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss verlassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass so viele junge Menschen keine Chance haben, ihr Leben aus eigener Kraft zu gestalten und ihren Platz in unserer Wissensgesellschaft zu finden. Das fordert unser Bildungssystem heraus. Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen und jedem jungen Menschen eine sichere Zukunft zu bieten, müssen wir unsere Bildung auf allen Ebenen weiter optimieren, vom Kindergarten bis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und zum lebenslangen Lernen. Wir müssen zur Bildungsnation erster Klasse werden. Dafür werden wir die Bildungsinvestitionen weiter erhöhen – bis 2017 um 6 Mrd. Euro allein durch den Bund – und die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der Bildung verbessern. Mit unserer nationalen Qualifizierungsoffensive haben wir hier bereits wichtige Signale gesetzt. Mit dem „Haus der kleinen Forscher“ wollen wir schon im Kindergarten das Interesse an neuen Technologien wecken. Wir brauchen mehr naturwissenschaftlichen Unterricht von klein auf und müssen besonders Mädchen und junge Frauen noch stärker an technische Themen heranführen, denn sie sind in diesen Berufen stark unterrepräsentiert. Hier helfen auch die Unternehmen und die Forschungsinstitute mit beispielhaften Initiativen wie Schülerlaboren, Schülerpraktika, der Kampagne „MINTZukunft schaffen“, der „Schulpartnerschaft Chemie“ oder dem Nationalen Pakt für Frauen in MINT-Berufen. Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten helfen wir verstärkt mit Sprachförderung, Praxisklassen, Ausbildungspaten, Bildungslotsen, Bildungsketten und Berufsorientierungsprogrammen. Aufstiegsfortbildung und Weiterbildung wer-

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den künftig noch größer geschrieben, denn in der Wissensgesellschaft werden sich fast alle im Laufe ihres Lebens beruflich immer wieder neu erfinden müssen. Maßnahmen wie Meister-BAföG, Aufstiegsstipendien, Studium ohne Abitur oder Bildungsprämien unterstützen das. Mit besseren Beratungsangeboten, Stipendienprogrammen, attraktiven Studienbedingungen und Lehrangebote wollen wir noch mehr junge Menschen für das Abenteuer Studium begeistern und gleichzeitig die besten jungen Köpfe der Welt nach Deutschland locken. Dabei helfen der Hochschulpakt, der Qualitätspakt Lehre und die Exzellenzinitiative für Hochschulen. Auch die Digitalisierung der Hochschulen müssen wir weiter vorantreiben. Das digitale Lernen mit neuen Angeboten wie MOOCs – Massive Open Online Courses – ist nicht nur beim Vorreiter USA, sondern weltweit auf dem Vormarsch. Online-Vorlesungen vor dem Bildschirm statt im Hörsaal machen das Studieren örtlich und zeitlich unabhängig, billiger, familienfreundlicher, demokratischer, vernetzter. Das ist besonders attraktiv für die jungen „Digital Natives“, die zunehmend die Hochschulen erreichen. Die New York Times hat das Jahr 2012 zum „Year of the MOOC“ gekürt und Hoffnungen auf eine globale Bildungsrevolution mit freier Hochschulausbildung für alle geschürt. Die Vision umfasst auch ein globales akademisches Netzwerk, in dem länderübergreifend zusammen an Innovationen gearbeitet wird. Ganz so schnell, wie viele hoffen, wird diese Vision sicher nicht wahr werden. Denn viele Fragen im Hinblick auf Datensicherheit, Datenschutz, die technischen, organisatorischen und didaktischen Anforderungen, die Zertifizierung der OnlineKurse und die Kosten sind noch ungeklärt. Aber eins ist klar: Auch die deutschen Hochschulen müssen sich noch stärker und schneller auf diesen Trend einstellen, um mit der digitalen Gesellschaft Schritt zu halten und deutsche Bildung und Wissenschaft international sichtbarer zu machen. Um damit auch neue Antworten zu finden auf überfüllte Hörsäle, auf weiter wachsende Studentenzahlen, auf Finanzierungslücken bei Forschung und Lehre, und auf den Ruf nach neuen Geschäftsmodellen und digitalen Angeboten der Universitäten zur beruflichen Weiterbildung. Vielversprechend sind hier deutsche Initiativen wie der digitale Campus Iversity aus Brandenburg, das Kompetenznetz E-Learning in Hessen, und die digitale Hochschule Bayern. Digitale Medien können aber sicher auch künftig die Anwesenheit im Hörsaal nicht vollständig ersetzen, denn wahre Erkenntnis entsteht noch immer am besten im direkten Dialog und persönlichen Kontakt. VII. Innovation braucht Mut und Offenheit und Flexibilität Eine gute Bildung ist auch die beste Voraussetzung dafür, um offen für Neues zu bleiben, um neue Technologien vorurteilsfrei zu bewerten und ihnen damit zum Durchbruch zu verhelfen – sofern die Risiken beherrschbar sind. Gerade das Beispiel Grüne Gentechnik zeigt, wie wichtig Offenheit und Flexibilität für Innovationen ist. Die Grüne Gentechnik kann dazu beitragen, in kurzer Zeit

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Pflanzen zu züchten, die passgenaue Antworten für alle möglichen Zwecke liefern: Pflanzen für den Anbau in trockenen Gebieten, die helfen, den Hunger in der Welt zu bekämpfen; Industriepflanzen, die helfen, die Chemieproduktion umweltfreundlicher zu machen, einschließlich biologisch abbaubarer Verpackungen; Energiepflanzen für die Biospritbranche. Damit könnten wir in Deutschland auch alternative Einkommensquellen für die Landwirtschaft erschließen, ohne dabei die Nahrungsmittelproduktion oder Naturflächen und Wälder zu gefährden, wie es leider in manchen anderen Ländern der Fall ist. Die Risiken für Umwelt und Gesundheit sind genau untersucht und nach Ansicht vieler Experten beherrschbar. Dennoch ist der Anbau in Deutschland nicht durchsetzbar. Damit wird eine Technik verhindert, die – ebenso wie die rote Gentechnik im Bereich der Medizin und die weiße Gentechnik in der Industrie – viel Gutes bewirken könnte. Nur eine ergebnisoffene, ideologiefreie und sachliche wissenschaftlich-fundierte Herangehensweise aller Beteiligten könnte bewirken, dass wir eines Tages auch in Deutschland die Potenziale der grünen Gentechnik mit aller gebotenen Vorsicht dort erschließen können, wo sie für uns alle nützlich ist. Aber auch hier gilt. Wenn diese Tür wirklich verschlossen bleibt, müssen wir flexibel bleiben und mutig andere Türen aufstoßen. Im Bereich Pflanzenbau gibt es dank des großen Forschergeistes in Deutschland und anderswo inzwischen zahlreiche neue Ansätze, die auch ohne grüne Gentechnik die nächste grüne Revolution einläuten: So könnten neue präzise Schnellzuchtmethoden mit Hilfe der Genanalyse, selbstdüngende Pflanzen, Bewässerungssteuerung mit Sensoren und Hightech-Gewächshäuser die Produktion von Mais, Reis und anderen Nahrungspflanzen vielleicht schon bald weltweit verdoppeln – und dabei gleichzeitig Dünger, Pflanzenschutzmittel, Energie und Wasser einsparen. Auch für eine erfolgreiche Energiewende müssen wir viele Maßnahmen kombinieren und dürfen nicht alles nur auf das Pferd „Erneuerbare Energie“ setzen. Zumindest für eine Übergangszeit brauchen wir dafür auch innovative Energietechnologien, die neue Energiereserven konventioneller Art erschließen können. Dabei geht es zum Beispiel um den Neubau hocheffizienter Braunkohlekraftwerke. Oder um Technologien wie das Fracking, bei dem Erdgasvorräte in tieferen Bodenschichten erschlossen werden. Die USA wenden Fracking seit einigen Jahren erfolgreich an und werden damit immer unabhängiger von Energieimporten. Auch in Deutschland müssen wir den Einsatz ernsthaft prüfen und dabei gleichzeitig alle Risiken so weit minimieren, dass Mensch und Umwelt keinen Schaden nehmen. Das ist technisch durchaus möglich. Das gleiche gilt für die CCS-Technologie in Kohlekraftwerken, die die anfallenden Kohlendioxidemissionen auffangen, unterirdisch speichern und damit die Atmosphäre erheblich entlasten kann.

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VIII. Innovation heißt Bürgerbeteiligung und Dialog Um auch die Menschen mitzunehmen, die neuen Technologien eher skeptisch gegenüber stehen, und insgesamt die gesellschaftliche Akzeptanz von Innovationen zu verbessern, müssen wir den Technikdialog mit den Bürgern ausbauen, sie stärker in die Diskussion um Zukunftsprojekte einbeziehen und ihre Beteiligung bei der Planung von technologischen Großprojekten verbessern. Nicht zuletzt die Proteste gegen Stuttgart 21 haben uns eindrücklich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass die Bürgerinnen und Bürger in allen Phasen der Planung ein größeres Mitspracherecht und praktikable und angemessene Angebote für den Natur- und Anwohnerschutz bekommen. Nur wenn wir alle an einem Strang ziehen, können wir Mammut-Aufgaben wie die Energiewende erfolgreich bewältigen. Dass ein solcher Prozess auch bei widerstreitenden Interessen erfolgreich möglich ist, hat das Mediationsverfahren beim Ausbau des Frankfurter Flughafens in den letzten Jahren bewiesen. Einen wichtigen Beitrag für das Technikverständnis leisten auch die Wissenschaftsjahre der Bundesregierung – 2014 drehte sich alles um die digitale Gesellschaft, 2015 geht es um die Stadt der Zukunft. Noch wichtiger ist schon seit den 70er Jahren die Technikfolgenabschätzung, bei der Wissenschaftler die Chancen und Risiken neuer Technologien genau untersuchen, dabei auch ethische Grenzen aufzeigen wie bei der Stammzellforschung, und wichtige Entscheidungshilfen für die Politik geben. Die Nr. 1 im Innovationsgeschehen weltweit zu sein ist unser Ziel. Die Stärke, das Können, die Durchsetzungskraft, die Kreativität und den Willen dazu haben wir. Visionäre Zukunftsprojekte, Hightech-start-ups und innovative Unternehmen, gute Bildung, Offenheit für Neues, Mut, Freiraum, Flexibilität, Vernetzung und Bürgerbeteiligung – all das sind wichtige Zutaten dafür, dass Deutschland auch künftig ein Innovationszentrum erster Klasse in der Welt bleiben kann. Kooperation ist ein weiteres Zauberwort. Für den Erfolg müssen wir alle Hand in Hand zusammenarbeiten, eine Innovationsmannschaft bilden: die Forschung, die neues Wissen schafft, die Unternehmen, die neues Wissen in die Märkte bringen, der Staat, der innovationsfreundliche Rahmenbedingungen schafft, die Bürgerinnen und Bürger, die den Weg in die Zukunft mitgehen. Wie erfolgreich man sein kann, wenn man als Mannschaft geschlossen für ein Ziel kämpft, das wissen wir erst recht, seitdem unsere großartige Fußball-Nationalmannschaft 2014 in Brasilien den Weltmeistertitel geholt hat. Nur gemeinsam können wir die Innovationskräfte in unserem Land entfesseln und Entwicklungen anstoßen, die uns trotz demografischem Wandel in „Goldene Zwanziger Jahre“ und noch viel weiter führen können. Nur so können wir unsere Chancen optimal nutzen, die Grenzen des Wachstums wieder und wieder sprengen und das Leben für alle besser machen. Nur so können wir unsere Soziale Marktwirtschaft auch künftig zum Erfolgsmodell für die Menschen in Deutschland und für die

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ganze Welt machen. Und nur so können wir auch die großen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern. Nur wer sich immer wieder neu erfindet, wer den ständigen Wandel umarmt und dabei immer seiner Zeit ein wenig voraus geht, bleibt bestehen. Das gilt für Sie und mich, das gilt für Deutschland als Ganzes und für die ganze Welt.

Die Vietnamesisch-Deutsche Universität (VGU) – Zwei Welten werden eine Welt Von Udo Corts Seit 1991 hatte ich die Freude, in Politik und Wirtschaft mit Friedrich Bohl über viele Jahre zusammen zu arbeiten, zunächst als Referatsleiter, später als Unterabteilungsleiter Ausland im Bundespresseamt (und damit in seinem) im Geschäftsbereich des Bundeskanzlers. Im Jahr 2008 trafen wir uns im Vorstand der Deutschen Vermögensberatung AG überraschend wieder. Seit 2009 habe ich das Vergnügen dort unter seiner „Aufsicht“ zu stehen. In all diesen Jahren habe ich Friedrich Bohl als Vorgesetzten, Kollegen und Freund kennen und schätzen gelernt. Trotz seiner herzlichen, fast leichten und unkomplizierten Art im Umgang, überzeugt er mit einem klaren Verstand und einem präzisen Urteil. Mit seiner Lebensklugheit besitzt er auch das Wissen für das Machbare. Seine Analyse von Situationen und Sachverhalten und sein Mut (fast) Undenkbares auch möglich zu machen, zumindest machen zu wollen, sind regelmäßig Ansporn. Fritz Bohl besitzt die Fähigkeit zu gestalten, zu organisieren und zu verändern. Seine politischen Erfahrungen sind unschätzbar. Er steht mitten im Leben und wirkt mit seinem fröhlichen und jungenhaften Auftreten wie Mitte 50. Er ist ein Vorbild für die jüngere Generation. Im Folgenden schildere ich aus meiner Zeit als Wissenschaftsminister des Landes Hessen die Entstehung einer ungewöhnlichen Idee und ihre Umsetzung. Es sind persönliche Eindrücke, überraschende Erlebnisse und spannende Erfahrungen. Die Geschichte passt gut zu Fritz Bohl: (Fast) Undenkbares kann man hinkriegen, oder besser gesagt: gestalten! Man muss nur den Mut dazu haben! Es steht außer Frage, dass nach dem Ende des Kalten Krieges und mit dem Eintritt in das Zeitalter der Globalisierung eine staatliche Außenwissenschaftspolitik wichtiger Teil einer vorausschauenden Außenpolitik geworden ist. Forschung und Lehre waren stets international. Ohne den Austausch der Wissenschaftler gab es keinen Fortschritt. Bedeutende und herausragende Forschungsergebnisse entstanden häufig nicht durch einen nationalen, sondern durch den internationalen Wettbewerb unter den besten Forschern der Welt. Durch die Teilung der Welt in zwei politisch-ideologische und wirtschaftliche Blöcke waren die Kooperationsmöglichkeiten zwischen diesen im Bereich der Wissenschaften aber eher reduziert und begrenzt. Nach dem Ende des Kalten Krieges und im Zuge der Globalisierung konnten sich vielfältige neue Beziehungen im Bereich der Wissenschaften, der Wirtschaft, der Kultur und der Politik entwickeln. Nicht nur wegen der demographischen Situation in

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der alten westlichen Welt findet heute ein lebhafter Wettbewerb um die begabtesten und kreativsten Köpfe statt. Dies gilt insbesondere für die Wissenschaften. Mit ihnen und ihren Fähigkeiten hat man die größere Chance, auch zukünftig in der internationalen Top-Liga der Wissenschaften mitzuhalten. Ein Blick über den Atlantik auf die Ivy-League-Universitäten macht sehr deutlich, wie international die Studierendenund Professorenschaft in den letzten zwanzig Jahren geworden ist. Hier findet die weltweite Besten-Auslese statt. In Deutschland hemmt das Zuständigkeitsgerangel im Bund-Länder-Verhältnis eine offensive Außenwissenschaftspolitik. Viele verpasste Chancen der Vergangenheit fordern heute geradezu auf, jede mögliche Initiative einer aktiven Außenwissenschaftspolitik oder eines internationalen Wissenschaftsaustauschs nachhaltig zu unterstützen. Jede denkbare Möglichkeit einer konstruktiven Zusammenarbeit in der internationalen Forschung zwischen Hochschulen, zwischen wissenschaftlichen Institutionen und Forschungseinrichtungen oder sogar Staaten sollte intensiv gefördert werden. Wir müssen investieren! Tatsächlich ist jede Investition ein Beitrag zur Sicherung der zukünftigen Prosperität und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Wir können sicher sein, dass es immer einen Return on Investment geben wird, sei es politisch, wirtschaftlich, kulturell oder wissenschaftlich. Als ich im Jahre 2003 das Amt des Ministers für Wissenschaft und Kunst im Kabinett des damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch übernahm, musste ich feststellen, dass im Vergleich zu den Ländern Baden-Württemberg oder Bayern das Land Hessen im Ressort Wissenschaft und Kunst seine internationalen Aktivitäten im Rahmen einer Außenwissenschaftspolitik nicht „gebündelt“ hatte und ich eine Neuausrichtung vornehmen musste. Meine ersten Reisen führten mich daher in die Vereinigten Staaten, um dort vorhandene Hochschulkooperationen zu beleben und zu festigen. Ich gründete eine eigene hessische Hochschulrepräsentanz in New York City, die offensiv Hochschulen und wissenschaftliche Institutionen auf beiden Seiten des Atlantiks zusammenführen sollte. Übrigens die erste Hochschulrepräsentanz in New York City seitens eines der deutschen Bundesländer. Länderminister-Reisen in die weite Welt werden häufig seitens der Opposition hinterfragt und mit kritischem Getöse begleitet, um daraus für die mediale Öffentlichkeit die eine oder andere vermeintliche „Lustreise des Ministers“ zu konstruieren. Um dem entgegenzuwirken, lud ich möglichst häufig Vertreter der Opposition zu den Reisen ein, um diese dann mit den Möglichkeiten und Chancen einer Außenwissenschaftspolitik vertraut zu machen. So leitete ich im Jahre 2004 in Vertretung von Ministerpräsident Koch eine große Delegationsreise mit Vertretern aus Wirtschaft und Wissenschaft nach Asien. Auch hier stellte ich bei meinen Gesprächen, insbesondere in China, ein großes Interesse an einer Zusammenarbeit fest. Allerdings zeigten die ersten Gespräche auch, dass vieles in China nur zentral über Peking geregelt werden konnte und dass ein einmaliger Besuch nicht ausreichte, um Sichtbares und Beständiges zu vereinbaren. Hier gab es später dann auch viele Hürden, die einen langen Atem verlangten. Auch die Opposition musste dies erkennen.

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Im Herbst des Jahres 2006 überraschte mich ein Anruf des Geschäftsführers der deutschen Sektion des World-University-Service (WUS) in Wiesbaden, Dr. Kambiz Ghawami. Er bat mich an dem folgenden Sonntag den vietnamesischen Bildungsminister Professor Dr. Nhan und dessen Delegation im Transitbereich des Frankfurter Flughafens zu einem Gespräch zu empfangen. Professor Dr. Nhan wolle mit mir über Studierendenaustausch und die Einrichtung einer Hochschulrektorenkonferenz in Vietnam sprechen. Das vietnamesische Volk und die vietnamesische Geschichte hatten mich seit meiner Jugend in Washington Ende der 60er Jahre immer wieder fasziniert und interessiert: Ich sagte zu. Vietnam war ein Land, das damals noch wenig im Fokus des Westens stand. Ich wusste, dass ein Teil Deutschlands in der Zeit des Kalten Krieges sehr intensive Beziehungen zu Vietnam gepflegt und viele tausende vietnamesische Fachkräfte ausgebildet hatte. Insgesamt sollen mehr als 100.000 Vietnamesen in dieser Zeit in der ehemaligen DDR ihre Fachausbildung absolviert oder studiert haben. Ich konnte später feststellen, dass diese Menschen ausnahmslos ein ausgesprochen positives Verhältnis zu Deutschland hatten. Die Tatsache, dass sie in der ehemaligen DDR ausgebildet worden waren, spielte für sie überhaupt keine Rolle. Wir trafen uns wie vereinbart Sonntag Mittag im Transitbereich des Frankfurter Flughafens im Restaurant Käfer. Unserer kleinen hessischen Delegation bestehend aus meinem Abteilungsleiter, Ministerialdirigent Dr. Rolf Bernhard, Dr. Kambiz Ghawami und mir stand eine mehr als zehnköpfige vietnamesische Delegation unter Leitung des damaligen Bildungsministers Professor Dr. Nhan gegenüber. Sichtlich war die Freude groß, dass wir die Einladung zum Gespräch angenommen hatten. Bildungsminister (Minister of Education and Training/MOET) Professor Dr. Nhan wurde im Jahre 1954 als Sohn eines Arztes geboren. Er hatte von 1972 bis 1982 in Magdeburg Maschinenbau studiert und dort auch in Kybernetik promoviert. Fehlerfrei, fließend und fast akzentfrei sprach er Deutsch, sein umfangreiches Vokabular war beeindruckend. Während der zehn Jahre, in denen er sein Studium und seine Promotion in der ehemaligen DDR absolviert hatte, hatte er nie die Möglichkeit gehabt, nach Hause zu reisen. Er hatte Deutschland, dessen Geschichte und Literatur intensiv aufgenommen! „Ich liebe die deutsche Klassik und deutsche Fachwerkhäuser,“ waren häufig seine Worte. Aus seiner Sicht gehörte das deutsche Bildungswesen, sei es die berufliche duale Ausbildung oder auch die akademische Ausbildung, zu den besten weltweit. In Deutschland würde man „denken lernen“, im Rest der Welt würde man „nur auswendig lernen!“ Fast alle Mitglieder der Delegation hatten in den 70er und 80er Jahren irgendwo in Osteuropa oder in Frankreich studiert. Obwohl wir uns auf Englisch als gemeinsame Sprache für den Gedankenaustausch geeinigt hatten, wechselten wir regelmäßig zwischen Deutsch, Englisch und Französisch. Wenn Professor Nhan das Gespräch an sich zog, dann formulierte er stets auf Deutsch: „Wer kein Deutsch sprechen kann, der ist selbst schuld!“

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Um die Atmosphäre zu entspannen und ein wenig ins Gespräch zu kommen, tauschten wir uns zunächst über die Speisen des bevorstehenden Mittagessens aus. Die Vietnamesen pflegen eine exzellente Küche, die auch viele internationale, sei es französische oder chinesische, Einflüsse aufgenommen hat. Das Thema Essen hat einen sehr hohen Stellenwert im Leben der Vietnamesen. Immer wieder wurde ich bei späteren Aufenthalten in Vietnam vorzüglich und variationsreich bewirtet. Umso überraschter war ich, dass sie sich am Ende alle für das Wiener Schnitzel entschieden. Das Gespräch verlief auf beiden Seiten zunächst als ein vorsichtiges Herantasten, um die Vorstellungen und Erwartungen des jeweiligen Gegenübers auszuloten. Eine neugierige Sympathie war zu spüren und schnell stimmte zwischen Professor Nhan und mir die Chemie. Rückblickend ist es für uns Nachgeborene schwierig zu verstehen, warum in den 60er und 70er Jahren auf beiden Seiten während des Vietnamkrieges so kompromisslos, unnachgiebig und blutig gekämpft worden war. Uns saßen Vertreter einer Generation gegenüber, die alle den Krieg erlebt und zum Teil als Soldaten sogar aktiv daran teilgenommen hatten. Natürlich war der Vietnamkrieg zunächst auch ein Thema in der Runde, aber anders als ich es noch in den späten 70er und 80er Jahren zum Teil in unseren europäischen Nachbarländern dreißig Jahre nach Kriegsende erlebt hatte, war dies ohne erkennbare Ressentiments. Professor Nhan hatte auf seiner Dienstreise in Bremen, Sachsen-Anhalt und Berlin den Versuch unternommen, das Kontingent vietnamesischer Studierender und Promovierender in Deutschland nachhaltig zu erhöhen. Nhan vermutete eine zu schwache Finanzkraft dieser Länder, weshalb er auf „große Zurückhaltung bei meinen Gesprächspartnern“ gestoßen war. Sein Wunsch, das Kontingent auf mehr als eintausend vietnamesische Studierende jährlich zu erhöhen, hatte nirgends Widerhall gefunden. Obwohl selbst Absolvent der Harvard Business School, betonte er, dass er seine Nachwuchsleistungsträger nicht nur nach Amerika schicken wollte. Deutschland läge ihm näher. Deutschland sei seine zweite Heimat geworden, der er mit großer Sympathie begegnete. Seine beiden Söhne hat er in London und in Magdeburg studieren lassen. Ich versuchte ihm zu erläutern, dass kein Bundesland aus eigener Kraft mit einem anderen Land dieser Erde ein so großes Kontingent von Studierenden stemmen könne. Im Übrigen gäbe es auch ein Wirrwarr von Finanzierung und Zuständigkeit in der deutschen Wissenschaftspolitik. In dieser Frage schnell voranzukommen, sei nicht ganz einfach. Ich wies darauf hin, dass auch die Frage der Unterschiede der Ideologien und der politischen Systeme noch eine Rolle spiele. Der bisherige Austausch zwischen Hessen und Vietnam habe sich sicherlich mitunter auch deshalb sehr zurückhaltend entwickelt. Einzig gebe es ein durch das Land Hessen finanziertes Programm des WUS, das jedes Jahr Stipendien für vietnamesische Studierende zur Verfügung stelle. In unseren Breiten sei der Vietnamkrieg nicht vergessen und am Ende sei Vietnam immer noch ein sozialistischer Staat kommunistischer

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Prägung. Auch wenn es eine wirtschaftliche Öffnung gäbe, Menschenrechte würden auch weiterhin verletzt. Nach dem ausführlichen Gedankenaustausch mussten wir einvernehmlich feststellen, dass das ursprünglich von vietnamesischer Seite in Aussicht genommene Vorhaben auch in Hessen nicht umsetzbar sein würde. Wer am Ende in dem weiteren Gesprächsverlauf auf die Möglichkeit einer deutschen Universität in Vietnam kam, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Während des Gedankenaustauschs hatten wir die neueste hessische Gesetzgebung in der Wissenschaftspolitik erläutert, wozu auch das hessische Autonomiemodell gehörte, das an der Technischen Universität Darmstadt eingeführt werden sollte. Diese Organisationsform einer deutschen Universität faszinierte Professor Nhan und seine Delegation. Er könne sich dies sehr wohl auch in seinem Land vorstellen, allerdings müsse man überlegen wie dies dann tatsächlich umgesetzt werden könne. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann man heute im Rückblick feststellen, dass viele Rahmenbedingungen, die heute Bestand haben, in diesem ersten Gespräch erstmals entwickelt wurden. Im Grunde ging es darum, zunächst eine „Flying faculty“ nach Vietnam zu entsenden, dort durch die vietnamesische Seite Infrastrukturmaßnahmen vorzubereiten, um am Ende eine Universität in Vietnam zu gründen, die den Humboldtschen Grundsätzen entsprach. Lehre und Forschung waren die Begriffe, die im Vordergrund standen. Nhan wollte keine Lehrhochschule, die der Fachhochschule alter deutscher Bauart entsprach. Er wollte eine Forschungsuniversität nach Vietnam holen, um insbesondere die dortigen ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen und Probleme lösen zu können. So gab es auch erste Festlegungen bei den Studiengängen: Ingenieurwissenschaften, Logistik, Wasserwirtschaft, Umwelttechnik und Betriebswirtschaft. Die Master-Studiengänge sollten Schwerpunkt der Universität werden, um danach für die Besten die Möglichkeit zu eröffnen in Deutschland zu promovieren. Schnell wurde klar, dass Nhan diese Universität im Süden seines Landes, nämlich in der Region Ho Chi Minh Stadt, ansiedeln wollte. Dies hing in erster Linie mit seiner Herkunft und seinen persönlichen, beruflichen und politischen Beziehungen zusammen. Nhan war vor seiner Berufung zum Bildungsminister Vize-Parteichef der Region Ho Chi Minh City gewesen. Nach einem fast vierstündigen Gespräch konnten wir dann Folgendes informell vereinbaren: In den nächsten Monaten sollte juristisch, politisch, aber auch insbesondere wissenschaftspolitisch und logistisch die Frage der Gründung einer deutschen Universität in Vietnam ausgelotet werden. In diesem Zeitraum sollte auf Fachebene die gemeinsam entwickelte politische Vision hinsichtlich ihrer Machbarkeit überprüft werden. Gleichzeitig hatten Nhan und ich aber auch vereinbart, dass für den Fall, dass die Gespräche auf Fachebene ins Stocken gerieten, wir selbst das Gespräch miteinander suchen wollten. Insgesamt hatten wir uns auf einen Zeitraum von sechs Monaten festgelegt, in denen diese Fragen zu prüfen waren. Es sollte keine unendliche Geschichte werden, vielmehr waren wir beide uns einig, dass wir entweder den

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Mut haben, (fast) Unmögliches und Undenkbares zu schaffen oder nach sechs Monaten sagen müssen, dass das Unmögliche unmöglich bleibe. Am folgenden Tag tagte wie üblich montags die sogenannte Regierungsrunde. Diese Runde von Ministern beriet unter Vorsitz des Ministerpräsidenten Roland Koch jeden Montagabend informell über anstehende politische Vorhaben, bereitete Initiativen vor, stimmte schwierige Kabinettsvorlagen ab und sprach über anstehende Personalentscheidungen. Als ich an der Reihe war, erzählte ich von meiner Begegnung mit dem vietnamesischen Bildungsminister am Vortag. Ich bat um Zustimmung, meine informelle Vereinbarung zur Errichtung einer Deutsch-Vietnamesischen Universität in die Tat umzusetzen. Ich erläuterte, dass andere Länder, wie zum Beispiel Baden-Württemberg schon seit mehr als zwanzig Jahren eine aktive Außenwissenschaftspolitik betrieben und wir als ein wirtschaftlich starkes Bundesland Nachholbedarf hätten. Eine aktive Außenwissenschaftspolitik zu betreiben bedeute am Ende, auch für den Standort Hessen eine weitsichtige Wirtschaftspolitik zu unterstützen. Vietnamesische Nachwuchskräfte, die während ihres Studiums mit Deutschland in Berührung gekommen seien, würden zukünftig bei ihren Entscheidungen sicherlich immer wieder auch auf das Land ihrer Ausbildung und ihres Studiums zurückkommen. Die erfolgreiche Stipendiatenpolitik der Humboldtstiftung sei ein sehr positiver Beweis hierfür. Weiter führte ich aus, dass die Globalisierung dazu geführt habe, dass der Wettbewerb um die klügsten Köpfe dieser Welt schon in Gange sei. Es gelte nicht nur regelmäßig nach Europa und Amerika zu schauen, sondern die große Personalreserve in China und auch Südostasien für den Arbeitsmarkt und mittelfristig auch die Forschung in Betracht zu ziehen. Am Beispiel Vietnam erläuterte ich die demographischen Unterschiede: während in Deutschland zwei Drittel der Bevölkerung älter als 30 Jahre seien, sei es in Vietnam genau umgekehrt. Zwischen Vietnam und Deutschland gäbe es viele Parallelen. Schmunzelnd erwähnte ich, dass man sie auch die Preußen Südostasiens bezeichne. Eine Zusammenarbeit könne sehr erfolgsversprechend sein. Es sei längst an der Zeit, hier aktiv in den Wettbewerb einzutreten. Ich bezeichnete die zusätzlichen Mittel für die Prüfung der Machbarkeit in der Runde als „Spielgeld“, da niemand am Ende wissen könne, ob das Projekt auch tatsächlich Realität werden würde. Nicht nur von Amtswegen fühlte sich der Finanzminister durch diesen Begriff provoziert. Wegen des fortdauernden und unerschöpflichen Mittelbedarfs der jeweiligen Wissenschaftsminister ist das Verhältnis zu den Finanzministern stets ein wenig angespannt. Am Ende der Diskussion stimmte Ministerpräsident Koch zusammen mit der Runde dem Vorhaben zu. Koch war neugierig auf dieses Projekt und sagte mir auch seine persönliche Unterstützung zu. In der Folgezeit verhandelte die Fachebene unter Leitung meines damaligen Staatssekretärs und heutigen Kultusministers, Prof. Dr. Alexander Lorz, über das Vorhaben mit dem Ziel, ein Memorandum of Understanding zu erstellen. Es galt viele bürokratische und emotionale Hürden zu nehmen, auf die ich allerdings hier im Einzelnen nicht eingehen möchte.

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Viele Skeptiker waren auch unter meinen politischen Freunden. Der Tenor, dass man mit den Investitionen weit ab von Hessen im fernen Vietnam keine hessischen Bürgerinnen und Bürger erreiche und damit auch keine Wahlen gewinnen könne, war immer wieder deutlich zu hören. Vertreter der Opposition, die ich frühzeitig eingebunden hatte, waren erstaunt: Der CDU-Wissenschaftsminister und „der Vietkong“, das sei wohl das neue Dream-Team. Im Verlauf des Frühjahres 2007 zeichnete sich ein Staatsbesuch von Bundespräsident Köhler in Vietnam ab. Wie bei derartigen Reisen üblich, sichtete man in Berlin während der Vorbereitungszeit unterschriftsreife bilaterale Vorhaben. Auf dem „kleinen Dienstweg“ erfuhren wir in Wiesbaden, dass dem Auswärtigen Amt nichts wirklich Interessantes für eine mögliche Unterzeichnung bilateraler Abkommen vorlag. Der Bundesebene, inklusive des DAAD, waren unsere Schritte in Hanoi nicht verborgen geblieben. Nach Überwindung einer leichten Arroganz, die Bundesbeamte gegenüber Landesbeamten zuweilen an den Tag zu legen pflegen, nahm man unseren Vorschlag an: Das „Memorandum of Understanding“ zur Gründung einer deutschen Universität anlässlich des Bundespräsidentenbesuchs in Hanoi durfte gezeichnet werden. Als wir durch das Bundespräsidialamt und das Auswärtige Amt offiziell ein grünes Signal erhielten, legten wir uns erst recht ins Zeug. Es galt die letzten Feinheiten für das „Memorandum of Understanding“ zu formulieren. Zusammen mit meinem Abteilungsleiter, Ministerialdirigent Dr. Bernhardt, sowie Dr. Ghawami reiste ich im Frühjahr 2007 nach Hanoi, um das „Memorandum of Understanding“ abzustimmen und letzte Passagen auszuformulieren. Ich erinnere mich an einen sehr herzlichen Empfang im vietnamesischen Bildungsministerium, wo wir dann mit der vietnamesischen Seite zu sechst das Memorandum of Understanding endgültig abstimmten. Auf vietnamesischer Seite leitete Professor Nhan die Delegation. Er hatte die beiden zuständigen Abteilungsleiter hinzugezogen, die im Vorfeld bereits in dieses Vorhaben eingebunden waren. Einer dieser Abteilungsleiter sprach ein vorzügliches Englisch ohne jemals während seines Studiums in Europa oder Amerika gewesen zu sein: Ein sehr charismatischer Beamter, belesen, gebildet und mit besten Umgangsformen. Über ihn hatte das US-amerikanische Fernsehen in den 90er Jahren einen Beitrag mit dem Titel ausgestrahlt: „I am the enemy!“ Der Beitrag baute Brücken für ein besseres Verständnis zwischen den USA und Vietnam nach Ende des Vietnamkrieges. Tief in der Nacht waren beide Seiten davon überzeugt, dass wir ein vielversprechendes und zukunftsgerichtetes „Memorandum of Understanding“ erarbeitet hatten. Für den Besuch des Bundespräsidenten war alles vorbereitet. Gleichzeitig konnten wir in unseren jeweiligen Heimatländern etwas Aussichtsreiches vorstellen. Im Mai 2007 reiste ich dann mit einer kleinen Delegation nach Hanoi, um anlässlich des Besuchs des Bundespräsidenten und in dessen Gegenwart das Memorandum of Understanding zu zeichnen. Erwartungsvoll und gespannt freute ich mich auf den Besuch in Vietnam und die Begegnung mit Bundespräsident Köhler.

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Einige Stunden vor dem eigentlichen feierlichen Festakt im Palast des Präsidenten der Sozialistischen Republik Vietnam erhielt ich einen Anruf. Das Protokoll des Bundespräsidenten teilte mir mit, dass der Bundespräsident mich in Vorbereitung auf den Festakt sprechen wolle. Ich ging davon aus, dass es sich um ein normales Briefing handeln würde. Als ich dann im Zimmer des Bundespräsidenten eintraf, teilte mir ein Mitarbeiter des Protokolls mit, dass der Bundespräsident mich unter vier Augen sprechen wolle. Ich kannte Bundespräsident Köhler flüchtig von Veranstaltungen in Frankfurt. In der Paulskirche war ich ihm vorgestellt worden. Er begrüßte mich sehr herzlich und teilte mir mit, dass er nur die Gelegenheit wahrnehmen wollte, sich für eine Unterstützung, die ich im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Wissenschaftsminister in Hessen geleistet hatte, zu bedanken. Wir erörterten die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam. Ich erläuterte ihm – obwohl er exzellent vorbereitet war – die Idee, die hinter der Gründung einer deutschen Universität in Vietnam stand. Er fand großen Gefallen daran und sagte mir zu, mich unterstützen zu wollen. Als ich mich verabschiedete, fragte er, ob er noch irgendetwas für mich tun könne. Ich bat ihn nach der Unterzeichnung des „Memorandum of Understanding“ auf Fragen der Presse etwas Positives zu dem Memorandum zu sagen. Er sagte dies zu. Auch aus Überzeugung, wie er meinte. Die später verbreiteten Agenturmeldungen von dpa und anderen Medien, in denen Bundespräsident Köhler ausführlich zu unserem Leuchtturmprojekt zitiert wurde, waren später in Deutschland hilfreich, um die eine oder andere Hürde zu nehmen. Der Hinweis, auch der Bundespräsident stehe hinter dem Projekt, konnte Barrieren beiseiteschieben. Das Projekt schritt gut voran. Von den beteiligten Bundesorganisationen, Behörden und Ministerien wurden wir kritisch begleitet. Immer wieder wurden auch Vorbehalte geäußert. Insbesondere der DAAD – es gab seit vielen Jahren ein Verbindungsbüro in Hanoi – war sehr verhalten. Dies war überraschend für uns, da die Universitätsgründung das erste größere vorzeigbare Projekt in der staatlichen Zusammenarbeit zwischen den Ländern im Bereich der Wissenschaften war. Die Fachebene des Bundesbildungsministeriums begleitete uns konstruktiv, aber auch zurückhaltend. Hintergrund war sicherlich auch die unklare Zuständigkeitssituation. Die politische Führung des Bundesministeriums für Forschung und Technologie unterstützte uns nicht nur ideell, sondern auch finanziell. Der hessische Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Wilsch hatte im Haushaltsausschuss des Bundestages dafür hilfreich den Weg geebnet. Dies war ein wichtiger Beitrag für die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und dem Land Hessen. Dennoch erhielt ich Ende 2007 von der Leitungsebene des BMBF einen Anruf, dass jetzt eine Grenze für die weitere Umsetzung des Vorhabens für die Bundesrepublik Deutschland erreicht sei. Hintergrund war, dass die vietnamesische Seite auf Beamtenebene die Einführung einer paramilitärischen Ausbildung für die Studierenden sowie das Lehrfach Marxismus/Leninismus für das Curriculum vorge-

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schlagen hätte. Ich betonte, dass auch ich diese Wünsche der vietnamesischen Seite nicht akzeptieren würde und sagte zu, Wege zu finden, um das Problem zu lösen. Richtig ist, dass zu keinem Zeitpunkt während der Gespräche mit Professor Nhan über einen derartigen Vorschlag gesprochen worden war. Ich gebe zu, dass ich auch nie auf die Idee gekommen bin, dass in einer Deutsch-Vietnamesischen Universität, die einen autonomen Status nach dem Modell der Technischen Universität Darmstadt erhalten sollte, derartige Fächer unterrichtet würden. Da ich Professor Nhan als undogmatischen Pragmatiker kennengelernt hatte, bat ich Dr. Ghawami, der seit vielen Jahren beste Beziehungen nach Vietnam pflegte, Möglichkeiten zu suchen, den Verhandlungsknoten aufzulösen. Dr. Ghawami kam einige Tage später mit einem spannenden Vorschlag, der wohl auch auf vietnamesischer Seite mit Professor Nhan und Herrn Dr. Bui Cong Tho, Leiter der Internationalen Abteilung des Bildungsministeriums und jetzigem Leiter des zu meiner Zeit gegründeten Hessenbüros Vietnams, vorbesprochen worden war. Mir wurde vorgeschlagen eine Einladung zur Audienz bei dem früheren General Võ Nguyên Giáp anzunehmen. Damit würde die vietnamesische Öffentlichkeit, aber insbesondere die alte Nomenklatur sehen, wie hoch das Projekt angesiedelt sei und dass es ohne Wenn und Aber umgesetzt werden solle. General Giáp (1911 – 2013) hatte als Oberbefehlshaber – militärischer Führer der Viet Minh-Truppen von Ho Chi Minh und der Volksarmee Nordvietnams – im Mai 1954 bei Dien Bien Phu die Franzosen besiegt und 1975 die USA. Aufgrund seiner Verdienste um die Befreiung Vietnams genießt er bis heute ein hohes Ansehen. Der Ostasien-Kenner Peter Scholl-Latour bezeichnete General Giáp aufgrund seiner taktischen und strategischen Brillanz als „Napoleon des Ostens“. Nach dem Sieg über die Franzosen wurde er Verteidigungsminister und blieb es über Jahrzehnte; während des Vietnamkrieges war er stellvertretender Ministerpräsident Nordvietnams. Der damalige deutsche Botschafter in Hanoi glaubte nicht recht an eine Audienz, da General Giáp seit vielen Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten sei. Auch habe er nach seiner Kenntnis seit vielen Jahren keine westlichen Delegationen mehr empfangen. Von vietnamesischer Seite erhielt ich im Vorfeld der Audienz vorsichtig und freundlich den Hinweis, dass General Giáp sich sehr über einen Orden oder eine vergleichbare Auszeichnung aus Deutschland freuen würde. In diesem Fall sah ich allerdings keinen Ansatz. Weder gab es Gründe für den Hessischen Verdienstorden noch für das Bundesverdienstkreuz. Um dem Wunsch des „alten Herrn“ nachzukommen, die Audienz nicht zu gefährden und die Sache vom Tisch zu bekommen, fiel mir eine Möglichkeit ein, die auch ohne Dritte umgesetzt werden konnte. Als Wissenschafts- und Kunstminister hatte ich das Recht, Ehrenurkunden für Verdienste um Kunst und Wissenschaft zu vergeben. In der Frage der Kriterien war ich frei. Ich allein konnte dies entscheiden. Im Vorgriff auf das zu erwartende Engagement, nämlich hilfreich die Hürden des Marxismus/Leninismus und der paramilitärischen Ausbildung beiseite zu räumen, entschied ich mich für die Urkunde. Zusammen mit der

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Urkunde sollte General Giáp auch den „Hessischen Löwen“ aus Hoechster Porzellan erhalten: Ein Gesamtkunstwerk! Geplant war Ende Februar 2008 anlässlich der Reise von Außenminister Dr. Steinmeier nach Vietnam die Gründungsdokumente für die Vietnamesisch-Deutsche Universität zu unterzeichnen. Im Rahmen eines Festaktes – wie ein Jahr zuvor anlässlich des Besuchs des Bundespräsidenten in Vietnam – unterzeichnete ich jetzt zusammen mit Professor Nhan in Gegenwart der beiden Außenminister die Gründungsdokumente, das heißt, den eigentlichen Vertrag zur Gründung der Universität. Zwei Tage zuvor hatte das Treffen mit General Giáp stattgefunden. Bis zuletzt waren wir uns nicht sicher, ob das Treffen stattfinden würde. Ich lud – comme il faut – den deutschen Botschafter ein, mich zu begleiten. Giáp wohnte in einer wunderschönen alten Kolonialvilla in Hanoi, in unmittelbarer Nähe zum Mausoleum von Ho-Chi-Minh. Das Haus war eingebettet in einen grünen Mantel von Palmen, Bambus und tropischen Pflanzen. Links von der Villa gab es einen Zweckbau, der sich mir anlässlich einer meiner späteren Besuche als beeindruckendes Museum über das Leben General Giáps öffnete. Einige Dienstboten und sehr ernst drein blickende Sicherheitsbeamte erwarteten uns bereits und ließen uns in den Garten. Das vietnamesische Fernsehen sowie weitere Fotografen amtlicher vietnamesischer Nachrichtenagenturen waren ebenfalls anwesend. Wir wurden um das Haus zum Wintergarten geführt. Die Türen zum Wintergarten wurden geöffnet und mir gegenüber saß General Giáp in vollem Ornat und in der Uniform eines Vier-Sterne-Generals. Giáp machte mit seinen fast 97 Jahren einen sehr wachen Eindruck. Er schien sich tatsächlich über unseren Besuch zu freuen. Auf jeden Fall waren wir eine spannende Abwechslung für den „alten Herren“. Ich begrüßte General Giáp und stellte ihm den deutschen Botschafter und meine Delegation aus Hessen vor, zu der auch Vertreter der Landtagsfraktionen inklusive Opposition gehörten. Die Abgeordneten nahmen regelmäßig an meinen Auslandsdienstreisen teil. Nebeneffekt war auch, dass man sich auf den Reisen außerhalb der tagesaktuellen Diskussion austauschen konnte und das off-record zwischen Regierung und Opposition pflegte. Es folgte eine gute halbe Stunde eines gehobenen politischen Smalltalks, unter anderem über Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, die Partnerschaft zwischen Vietnam und Deutschland, das Verhältnis zwischen Europa und Asien sowie die DeutschVietnamesische Universität. Ich bedankte mich bei ihm, dass er insbesondere letzteres Vorhaben nachhaltig unterstütze. In der Presseerklärung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst vom 29. Februar 2008 heißt es unter anderem „das lebenslange Engagement von General Giáp für mehr Bildung und Ausbildung und die Verständigung zwischen Hessen und Vietnam, das sich in seiner Unterstützung für die Vietnamesisch-Deutsche Universität manifestiert, ist vorbildlich“. Sodann erhob ich mich und las die Urkunde vor, die ich zur Würdigung seiner Verdiens-

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te gezeichnet hatte. Darüber hinaus überreichte ich ihm in einem sehr schönen Schmuckkästchen eingepackt den Hessischen Löwen aus Hoechster Porzellan. General Giáp nahm meine Worte dankend zur Kenntnis. Nach ca. 40 Minuten war die Audienz zu Ende. Wir verabschiedeten uns und zogen uns zurück, das Gespräch und die Ehrung von General Giáp wurde vom vietnamesischen Fernsehen festgehalten und abends im Fernsehen ausgestrahlt. Die Curricula Marxismus/Leninismus und paramilitärische Ausbildung waren vom Tisch, die vietnamesische Seite thematisierte dieses Ansinnen nie wieder. Giáp hatte die historische Autorität, sich über ideologische Regeln und Vorschriften hinwegzusetzen und damit wichtige Vorhaben in der Entwicklung der Sozialistischen Republik Vietnams voranzubringen. Da auch die konservativsten Vertreter des alten kommunistischen Regimes erkannt hatten, dass Vietnam nur mit Hilfe des Westens im Bereich Bildung und Forschung den Sprung nach vorne machen könnte, lag unsere Universität grundsätzlich auf der Linie. Wie General Giáp in unser Vorhaben der Gründung einer Deutsch-Vietnamesischen Universität genau eingebunden war, ist mir nie 100 %ig klar geworden. Der damals noch lebende Vater des Bildungsministers Professor Nhan war während des Vietnamkrieges Militärarzt gewesen und mit General Giáp sehr gut bekannt. Vieles spricht dafür, dass hier ein vietnamesischer „Old-Boys-Pfad“ genutzt worden war. Eine weitere Hürde waren die Studiengebühren, die von beiden Seiten geplant waren. Allerdings lag die Problematik darin, dass in der bundesdeutschen Diskussion die Frage der Erhebung von Studiengebühren in fast allen Parteien zurückhaltend beurteilt wurde; dagegen waren Studiengebühren in Vietnam, insbesondere in privaten Hochschulen, an der Tagesordnung. Es war eine echte Herausforderung, die vietnamesische Seite davon zu überzeugen, dass die Studiengebühren angemessen sein mussten. Die vietnamesische Seite akzeptierte letztendlich unseren Vorschlag. Für sie waren Studiengebühren eine „Investition in die eigene Zukunft“! Und diese sollten adäquat für die gebotene Leistung sein, nämlich hoch! Einen Monat nach der Unterzeichnung der Gründungsakte schied ich auf eigenen Wunsch mit Ablauf der Legislaturperiode aus dem Amt des Wissenschafts- und Kunstministers aus, um eine Position in der Wirtschaft zu übernehmen. Wie ging es weiter? Unter der Führung von Ministerpräsident Roland Koch, und auch später unter Ministerpräsident Volker Bouffier, wurde die Vietnamesisch-Deutsche Universität mit viel Engagement weiterentwickelt. Ich blieb der Universität bis heute als Mitglied des Universitätsrates verbunden. Meinen Nachfolgern Staatsministerin Kühne-Hörmann und Staatsminister Boris Rhein sowie den Beamten auf Bundes- und Landesebene habe ich viel Arbeit hinterlassen. Ihnen gilt mein Dank. Ich freue mich, dass sie den Ausbau der Universität weiter gefördert haben. Am 7. März 2008 wurde der Gründungspräsident der VGU Professor Dr. Wolf Rieck ernannt. Aufgrund seiner guten Vietnamkenntnisse und seiner langjährigen Er-

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fahrungen als Präsident der Fachhochschule Frankfurt leistete er einen wichtigen Beitrag in der Fortentwicklung der Universität. Im Februar 2009 wurde der VGU-Verein gegründet, in dem mehr als 33 deutsche Hochschulen und der TU-Verbund den inhaltlichen und wissenschaftlichen Input für die VGU vorgeben. Im März 2009 trat die VGU-Grundordnung in Kraft, die sich an der Grundordnung der ersten autonomen Universität Hessens, der TU Darmstadt, orientiert. Nach langwierigen Verhandlungen, die auch nachhaltig von Ministerpräsident Roland Koch unterstützt wurden, gewährte die Weltbank einen Kredit in Höhe von 180 Mio. Dollar für die vietnamesischen Infrastrukturmaßnahmen, insbesondere den Bau des Campus in Ho Chi Minh City. Nach einem internationalen Architektenwettbewerb im Jahre 2013 ist in Kürze mit dem Baubeginn der Universität zu rechnen. Im März 2010 konnte das VGU-Forschungszentrum in Ho Chi Minh City eröffnet werden. Derzeit wird noch in Provisorien studiert und gelehrt. Das Land Hessen finanziert den Ausbau der Verwaltung und des Präsidiums sowie zwei Studienprogramme hessischer Hochschulen mit jährlich 1,5 Mio. Euro. Das BMBF finanziert mit 1,5 Mio. Euro jährlich die Studiengänge der anderen deutschen Hochschulen und den Konsortialverein. Vietnam übernimmt die laufenden Kosten des Betriebs der VGU vor Ort und hat den Weltbankkredit zum Aufbau des Campus eingeworben. Bis 2014 unterstützte das Land Baden-Württemberg das Vorhaben mit jährlich 300.000 Euro. Die Studienstruktur und die Studienabschlüsse entsprechen europäischem Standard gemäß Bologna. Die Curricula der Bachelor- und Master-Studiengänge sind modular aufgebaut. Die Vorlesungen werden in englischer Sprache von deutschen Professorinnen und Professoren gehalten, Deutschunterricht findet studienbegleitend statt. Inhaltliche Schwerpunkte sind Hochtechnologie und Nachhaltigkeit: Ingenieurwesen, Technologie, angewandte Naturwissenschaften sowie Management und Finance. Die Studienstruktur arbeitet in sog. Clustern, ein Cluster soll einem Bachelor und drei thematisch vertieften Masterprogrammen entsprechen. Die Entwicklungsplanung sieht ab dem Jahr 2017 1500 Studierende und vier Cluster vor. Nach dem Jahr 2020 sollen es bereits 5000 Studierende in sieben Clustern sein. Vor dem Bachelor-Studium müssen die Studierenden ein sog. Foundation-Year absolvieren. Es beinhaltet neben Schlüsselkompetenzen auch die Auffrischung in Englisch und in den jeweiligen Kernfächern (z. B. Mathematik und Physik sowie in deutscher Landes- und Wissenschaftskunde). Derzeit (2014) studieren an der Hochschule 1050 Studierende in zehn Studiengängen (drei Bachelor, sieben Master). Bis einschließlich 2013 haben mehr als 100 Studierende der Master-Studiengänge ihr Studium absolviert. Nach anfänglichem Zögern der deutschen Industrie gibt es mittlerweile positive Signale und zum Teil auch finanzielle Unterstützung. Bayer Vietnam, Deutsche Telekom, Robert Bosch, B. Braun Melsungen, Messer AG, Bombardier, Fresenius und andere fördern in unterschiedlicher Höhe die Universität.

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Im September 2013 wurde die „Vereinigung der Freunde und Förderer der Vietnamesisch-Deutschen Universität“ gegründet, und mit Prof. Dr. Wilhelm Bender als Vorsitzenden der Vereinigung konnten wir hierfür einen ausgewiesenen Kenner der deutschen Wirtschaft gewinnen, der auch gemeinsam mit Dr. Ghawami, Klaus Peter Wallsch (MdB) und mir im Universitätsrat der VGU sitzt. Es überrascht nicht, dass weitere Länder Südostasiens, die die Entwicklung der VGU beobachtet haben, gern ein solches Projekt auch in ihrem Lande sehen würden. Im Vergleich zum Gesamtbundeshaushalt wird hier eine überschaubare Summe in ein Vorhaben investiert, das nicht nur wissenschaftlich und politisch interessant ist, sondern auch mittelfristig wirtschaftliche Früchte tragen wird.

Blick zurück im Zorn – Japanisches Recht in Marburg Von Heinrich Menkhaus I. Einleitung Der zu Ehrende ist nicht nur mit Marburg eng verbunden, sondern auch mit Jura und Japan. Jura, weil er dies an der Philipps-Universität studiert und später in Marburg praktiziert hat, Japan, weil er insbesondere in seiner Zeit als Kanzleramtsminister auch die wissenschaftlichen Beziehungen zu Japan zu betreuen hatte. Der Verfasser erinnert sich an ein Foto, das ihn zusammen mit den Mitgliedern des 1994 gegründeten, aber mittlerweile nicht mehr existenten „Deutsch-Japanischen Kooperationsrats für Hochtechnologie und Umwelttechnik“ im Kanzleramt zeigt. Grund genug, die Geschichte des japanischen Rechts in Marburg aufzurollen. Hier hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem japanischen Recht die ältesten Wurzeln in Deutschland und hier hat sie den passenden institutionellen Rahmen erhalten. Diesen beiden bedeutenden Merkmalen ist bei der Neuaufteilung der Regionalstudien in Hessen, die insgesamt viel Kritik erfahren hat, keine Beachtung geschenkt worden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Japan in Marburg wurde abgeschafft, das japanische Recht ist lediglich in Form einer außerplanmäßigen Professur erhalten geblieben. II. Fachbereich Die Aufarbeitung der Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem japanischen Recht an der Philipps-Universität Marburg hat mit dem Fachbereich Rechtswissenschaften zu beginnen, weil es um das Methodenfach Rechtswissenschaften geht, das in seinen disziplinären Ausprägungen als fremde Rechtssysteme und Rechtsvergleichung angesprochen ist. Die Auseinandersetzung mit einem fremden Recht kann nur auf der Grundlage solider Kenntnisse des heimatlichen Rechts erfolgen und setzt deshalb einen (Voll)Juristen voraus. Die Beiträge der Japanwissenschaftler (dazu gleich) sollen damit nicht geschmälert werden. Aber sie erschöpfen sich in aller Regel darin, dass (japanisches) Recht nur als Nebenfach im Magisterstudiengang gewählt wurde oder Übersetzungen von Texten gefertigt wurden, die auch für Juristen von Bedeutung sind.

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1. Ära Herrfahrdt Am 1. November 1933 wurde Heinrich Herrfahrdt (1890 – 1969), der sich an der Universität Greifswald 1926 mit einer venia legendi für die Fächer Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Arbeitsrecht habilitiert hatte, in der Nachfolge von Johann Viktor Bredt als Ordentlicher Professor auf das planmäßige Extraordinariat Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeine Staatslehre der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Marburg berufen. Am 1. Oktober 1934 wechselte er in das entsprechende planmäßige Ordinariat in der Nachfolge von Felix Genzmer, der einen Ruf nach Tübingen angenommen hatte. Unter seinen Arbeiten hat insbesondere die Monographie über „Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluss der politischen Praxis“1 Beachtung gefunden. In ihr wurde eine Rechtsfigur befürwortet, die unter dem Stichwort „konstruktives Misstrauensvotum“ später im Grundgesetz umgesetzt wurde.2 Herrfahrdt beschäftigte sich indes nicht nur mit dem Staatsrecht Deutschlands, sondern er zeigte Interesse an den Rechtsordnungen Ostasiens, auch Japans. Wie es dazu kam, ist noch nicht erforscht. 1934 wurde Herrfahrdt Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Arbeitsrecht und richtete in diesem eine Abteilung zur Erforschung ostasiatischer Staatsund Rechtsordnungen ein. Die Stempel in den angeschafften Büchern trugen die Inschrift „Institut für Öffentliches Recht der Universität Marburg/L. Abt. Ostasien“. Etwa gleichzeitig stellte er beim Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung u. a. den Antrag, seine Lehrbefugnis um ostasiatische Rechts- und Staatslehre zu erweitern. Dieses Antragsschreiben ist leider nicht mehr erhalten, aber aus einem Brief des Rektors der Universität Marburg an den Minister vom 10. März 1936 und der Verfügung des Ministers vom 29. Dezember 1937 lässt sich seine Existenz ableiten.3 Der Rektor schreibt an den Minister, dass sich Herrfahrdt tatsächlich auch mit Japan befasse. Außerdem habe er den Wunsch geäußert, die Universität zu verlassen, weil seine Prüfungsberechtigung für das juristische Examen durch das OLG Kassel noch nicht ausgesprochen sei und er an eine Universität wolle, an der die Forschung zu Ostasien intensiver betrieben werde. Im April 1936 wurde indes die Prüfungsberechtigung erteilt und im Dezember 1937 folgte die beantragte Erweiterung der Lehrbefugnis um ostasiatische Rechts- und Staatslehre. Kenntnisse der japanischen Sprache und Schrift hielt Herrfahrdt für wichtig. Mangels anderer Möglichkeiten erarbeitete er sie sich autodidaktisch. Die dazu verwandten Lesebücher für den Japanischunterricht an japanischen Grundschulen (junjo¯ sho¯1

Verlag Liebmann, Berlin 1927. Zu Herrfahrdt als Staatsrechtslehrer siehe Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland. 4. Band: 1945 – 1990, 2012, S. 60 ff. 3 Zwei Akten zu Herrfahrdt finden sich im Archiv der Philipps-Universität Marburg und der private Nachlass befindet sich im Hessischen Staatsarchiv Marburg. 2

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gaku kokugo dokuhon), herausgegeben vom japanischen Kultusministerium (monbusho¯) fanden sich ebenfalls in der Bibliothek des Instituts für Öffentliches Recht Marburg/L. Abt. Ostasien. Wie weit die so erworbenen Kenntnisse der japanischen Sprache und Schrift aber wirklich trugen, ist nicht mehr ermittelbar. Die bis zu ihrem Tode in Marburg ansässige Tochter Herrfahrdts, Sabine (1926 – 2012), berichtete, dass sie mit ihrem Vater zusammen Japanisch gelernt habe. Herrfahrdt versuchte sich auch an einer Übersetzung der japanischen Verfassung von 1946 und schrieb eine Japanische Grammatik. Beide Dokumente finden sich in seinem Nachlass, sind aber nicht veröffentlicht worden. Natürlich gab es auch immer wieder japani¯ gata Kikuaki4, später Professor für Medizin an der Unische Gäste in Marburg, wie O versität Tokushima, an denen man das erlernte Japanisch testen konnte. Schließlich bemühte sich Herrfahrdt mehrfach um einen japanischen Lektor, was ihm indes nicht gelang. Er gewann aber einen in Göttingen zum Dr. jur. promovierten Chinesen, Chang Hsun-Yang, der als Lektor ausweislich des Personal- und Vorlesungsverzeichnisses der Philipps-Universität über viele Jahre neben chinesischen auch japanischsprachige Fachtexte mit den Studenten las. Herrfahrdt selbst bot unermüdlich Lehrveranstaltungen zur Staatsentwicklung Japans an. Das drückt sich auch in seinen Veröffentlichungen aus.5 Er betreute eine Reihe von Doktoranden, die sich zum japanischen Recht verhielten.6 Auch als Zweitberichterstatter zu sich mit Japan befassenden Dissertationen anderer Fachbereiche 4 ¯ gata zusammen mit Während seines Studienaufenthalts in Marburg veröffentlichte O einem Doktoranden von Herrfahrdt, Siegfried Heyer, ein Buch mit dem Titel: Vom Glauben des japanischen Volkes. Drei Vorträge. Elwertsche Universitäts- und Verlagsbuchhandlung, Marburg 1943. 5 Japans Staatsentwicklung vom „Dritten Reich“ her gesehen, in: Deutsche Juristenzeitung 41 (1936), Sp. 1266 – 1270; Die innere Sprachform des Japanischen im Vergleich mit der der indogermanischen Sprachen, in: Wörter und Sachen 1938, S. 165 – 176; Besprechung von Christoph Kaempf, Der Wandel im japanischen Staatsdenken der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Stellung des Tenno, Felix Meiner, Leipzig 1938 und Günther Wenck, Die japanischen Minister als politische Führung, Felix Meiner, Leipzig 1940, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 101 (1941), S. 590 – 592; Besprechung von Otto Koellreutter, Der heutige Staatsaufbau Japans, Junker und Dünnhaupt, Berlin 1941, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 102 (1942), S. 395; Was haben sich Deutschland und Japan gegenseitig zu geben? in: Nippon. Zeitschrift für Japanologie 9 (1943), S. 49 – 57; Die staatsrechtliche Entwicklung Japans seit 1945, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1951, S. 746 – 749; Besprechung von Thomas L. Blakemore, The Criminal Code of Japan as amended in 1947 and the Minor Offenses Law of Japan, Charles E. Tuttle, Rutland 1950, in: Archiv des Völkerrechts 1953, S. 121 – 122; Ostasienreise, in: Mitteilungen Universitätsbund Marburg 2 (1960), S. 68 – 79; Parlament und Krone im heutigen Japan, in: Der Staat 2 (1963), S. 65 ff. 6 Hans-Hellmuth Ruete, Der Einfluss des abendländischen Rechtes auf die Rechtsgestaltung in Japan und China, Ludwig Leopold, Bonn 1940 (Diss. jur. Marburg 1938); Arno Böx, Das japanische Familiensystem, C. Schulze, Gräfenhainichen 1940 (Diss. jur. Marburg 1940); Siegfried Heyer, Staatswirklichkeit und Staatsdenken in Japan zur Zeit des Sho¯gunats (Diss. jur. Marburg 1942); Rolf H. Kasteleiner, Die staatsrechtliche Entwicklung Japans seit 1945 (Diss. jur. Marburg 1951); Hans-Jürgen Roll, Die Entwicklung des japanischen Familiensystems seit 1945 (Diss. jur. Marburg 1953); Fritz Vith, Zaibatsu: Die Auflösung der Familienkombinate in Japan (Diss. jur. Marburg 1957).

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wurde Herrfahrdt tätig.7 Seine Zusammenarbeit mit anderen Fakultäten der Universität wurde auch im Rahmen einer Vorlesungsreihe deutlich, die 1938 zum Thema „Die olympische Idee“ stattfand. Diese war als Vorbereitung für die 1940 in To¯kyo¯ geplanten, aber wegen des Kriegsbeginns nicht realisierten Olympischen Spiele gedacht. Im Jahre 1939 stellte er auf der Grundlage des 1938 abgeschlossenen Deutsch-Japanischen Kulturabkommens den Antrag, auf eine Vortragsreise nach Japan geschickt zu werden, der aber durch Schreiben vom 24. Juni 1940 wegen Kriegseinsatzes von Herrfahrdt zurückgestellt wurde.8 Die erste Japanreise konnte er erst sehr viel später, nämlich 1959/60 realisieren. Zum 1. April 1958 wurde Herrfahrdt emeritiert, allerdings mit der Erlaubnis, den Lehrstuhl selbst zu vertreten. Er nutzte diese Stellung, um im Jahre 1958 eine Professur für Staat und Recht Ostasiens zu beantragen. Diese hat sich nicht verwirklichen lassen. In der ihm im Jahre 1961 gewidmeten Festschrift zum 70. Geburtstag wurde sein Interesse für die Rechtsordnungen Ostasiens in den Beiträgen leider nicht reflektiert. Der Herausgeber Erich Schwinge schreibt lediglich im Vorwort: „… das Recht Ostasiens, trat im Laufe der Zeit immer mehr in den Mittelpunkt seiner Interessen“. Auch die im selben Jahr durch Herrfahrdt erfolgte Übernahme der Fachgruppe für Vergleichende Rechtsgeschichte, Orientalische Rechte und Ethnologische Rechtsforschung in der Gesellschaft für Rechtsvergleichung mündete nicht in eine vertiefte Befassung der Gesellschaft mit dem japanischen Recht. Nach Herrfahrdts Emeritierung wird die Abteilung zur Erforschung ostasiatischer Staats- und Rechtsordnungen aus dem Institut für Öffentliches Recht ausgegliedert und als eigenständige Institution unter seiner Leitung weitergeführt, nach Herrfahrdts Tod im Jahre 1969 ab dem Jahre 1971 aber von dem Inhaber des neu geschaffenen Ordinariats für Öffentliches Recht, insbesondere Völker- und Europarecht, Gerhard Hoffmann (1917 – 2009), abgewickelt. Die japanbezogenen Teile der Bibliothek wurden dabei in das 1959 in Marburg im Fachbereich Außereuropäische Philologien gegründete Fachgebiet Japanologie überführt. Die Forschung zur Person Herrfahrdt ist nicht abgeschlossen. Es ist unklar, warum er mit dem Studium der ostasiatischen Rechte begann. Hier interessiert insbesondere, ob die entscheidenden Impulse der vom „Dritten Reich“ ausgehenden deutsch-japanischen Annährung, die in der Achse Berlin-Tokio-Rom ihren Höhepunkt fanden, geschuldet sind.9 Es ist weiter ungeklärt, warum der von Herrfahrdt beantragte Lehrstuhl für Staat und Recht Ostasiens nicht verwirklicht wurde. Es ist aber das unbe7 Johannes Tadao Araki, Geschichte der Entstehung und Revision der ungleichen Verträge mit Japan (1853 – 1894), Diss. phil. Marburg 1959. 8 1938/1939 war für ein Jahr der Münchener Staatsrechtler Otto Koellreutter als Austauschprofessor nach Japan gesandt worden, der Herrfahrdt unter dem 26. 11. 1938 eine Postkarte aus Tokio schickte, in der er die Hoffnung ausdrückte, dass sich aus dem neuen Kulturabkommen noch mehr Austauschmöglichkeiten ergeben mögen. 9 Siehe aber Oliver Uthe, Zur Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Marburg im Nationalsozialismus (1933 – 1940), Magisterarbeit im Fach Geschichtswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg 2000.

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strittene Verdienst Herrfahrdts, die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem japanischen Recht in Deutschland in Marburg begründet zu haben. 2. Ära Leser Das Interesse am japanischen Recht wurde in Marburg von Hans Georg Leser (geb. 1928) aufrecht erhalten. Er hatte sich 1968 bei Ernst von Caemmerer in Freiburg habilitiert und erhielt die venia legendi u. a. für die Fächer Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Rechtsvergleichung und Internationales Privatrecht. Im selben Jahr wurde er auf den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht in Marburg berufen und zum Direktor des Instituts für Rechtsvergleichung ernannt. Auch bei ihm ist nicht abschließend geklärt, warum er begann, sich für das japanische Recht zu interessieren. Immerhin gehörte sein akademischer Lehrer zu einem Kreis Freiburger Kollegen, die eine intensive Beschäftigung mit dem japanischen Recht förderten,10 die ihren Ausdruck in einer vorübergehend veröffentlichten Schriftenreihe zum japanischen Recht11 und einer Einführung in das japanische Recht12 fanden. Leser betreute mehrere japanische Studierende der Rechtswissenschaften, etwa Nitta Ko¯ji (1979 – 1980), mittlerweile emeritierter Professor der juristischen Fakultät der Universität Kanto¯ Gakuin, Matsuoka Hisakazu 1987 – 1989, heute Professor an der juristischen Fakultät und Rechtsgraduiertenschule der Universität Kyo¯to, Nakata Kunihiro (1988 – 1990), heute Professor an der juristischen Fakultät und Rechtsgraduiertenschule der Universität Ryu¯koku, Kyo¯to, Miyamoto Kenzo¯ (1988 – 1989), heute Professor an der juristischen Fakultät und Rechtsgraduiertenschule der Universität Ho¯sei, To¯kyo¯, Kasai Osamu (1994 – 1995), heute Professor an der Rechtsschule für den Staatsexamensstudiengang Rechtswissenschaften an der Universität Chu¯o¯, To¯kyo¯ und Ueda Seiichiro¯ (1994 – 1995), heute Professor an der juristischen Fakultät der Universität Do¯shisha, Kyo¯to. Besonders hervorzuheben ist Fukuda Kiyoaki, in Marburg von 1986 – 1991, heute Professor an der Rechtsschule der Meiji Gakuin Universität in To¯kyo¯, die den Examensstudiengang Rechtswissenschaften anbietet, der 1991 in Marburg zum Dr. jur. promoviert wurde.13 Daneben betreute Leser einen deutschen Doktoranden, der 1980 mit einer Arbeit zum japanischen Recht in Marburg promoviert wurde: Roland R. Bahr.14

10

Wolfram Müller-Freienfels, Recht in Japan. Berichte über Entwicklungen im Japanischen Recht, in: Echo (Zeitschrift des Alumni Verbandes der ehemaligen japanischen Stipendiaten des DAAD) 6 (1991), S. 41 – 44. 11 Recht in Japan, Heft 1, 1975, Heft 14, 2006. 12 Paul Eubel, Das japanische Rechtssystem, 1979. 13 Kiyoaki Fukuda, Entstehung und Entwicklung der Verkehrssicherungspflichten für Grundstücke in ihren einzelnen Elementen. Diss. jur. Marburg 1991. 14 Roland R. Bahr, Das Tatemonohogoho in der höchstrichterlichen Rechtsprechung Japans. Rezeption und Handhabung der Gebäudemiete und Grundstücksnutzung im modernen Japan, Carl Heymanns, Köln u. a. 1980.

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Gedanken aus seiner Habilitationsschrift „Der Rücktritt vom Vertrag. Abwicklungsverhältnis und Gestaltungsbefugnisse bei Leistungsstörungen“15 hat er zum Anlass genommen, die deutsche Rechtslage mit der japanischen unter dem Titel „Entwicklungslinien des Rücktritts im deutschen BGB und im japanischen ZGB“16 miteinander zu vergleichen. Leser fungierte auch als Herausgeber der Reihe „Japanische Rechtsprechung“.17 Seine wiederholten Vortragsreisen nach Japan brachten ihn in engen Kontakt mit einigen bedeutenden japanischen Rechtswissenschaftlern, die ihrerseits in Deutschland studiert hatten. Eine besondere Verbindung entstand dabei zu Kitagawa Zentaro¯ (1932 – 2013).18 Diesem wurde im Jahre 1989 in Marburg die Ehrendoktorwürde des Fachbereichs verliehen19 und im Jahre 1992 unter dem Titel: „Wege zum japanischen Recht“ eine Festschrift20 gewidmet. Die besondere Bedeutung Lesers aber bestand darin, dass er die von Herrfahrdt angestrebte Professur für das Recht Ostasiens in Form einer Professur für japanisches Recht im Zusammenwirken mit anderen in Marburg verwirklichte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er, als er im September 1994 emeritierte, in einer besonderen Feierstunde vom damals schon existenten Japan-Zentrum der Universität Marburg (dazu sogleich) am 2. November 1994 verabschiedet wurde. In der Ansprache des seinerzeitigen Leiters des Japan-Zentrums, Erich Pauer, hieß es: „Herr Professor Leser hat, seit die Pläne hinsichtlich der Gründung eines Japan-Zentrums konkreter wurden, immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, in einer solchen wissenschaftlichen Einrichtung auch das japanische Recht zu studieren. Mit der Gründung des Japan-Zentrums vor nunmehr sechs Jahren wurde dann auch eine Professur für das japanische Recht eingerichtet.“21

15

Mohr Siebeck, Tübingen 1975. In: Rolf Knütel/Shigeo Nishimura (Hrsg.), Hundert Jahre Japanisches Zivilgesetzbuch. Carl Heymanns, Köln u. a. 2004, 210 – 216. 17 Bisher sind zwei Bände erschienen: Japanische Entscheidungen zum Verfassungsrecht in deutscher Sprache, Carl Heymanns, Köln u. a. 1998 und Japanische Entscheidungen zum Bürgerlichen Recht. I. Allgemeiner Teil und Sachenrecht, Carl Heymanns, Köln u. a. 2004. 18 Siehe den Nachruf auf Kitagawa: Heinrich Menkhaus, Der japanische Rechtswissenschaftler Zentaro¯ Kitagawa und Marburg – ein Nachruf“, in: Marburg Law Review 2 (2013), S. 114 f. 19 Hans G. Leser (Hrsg.), Ein Jahrhundert Deutsch-Japanische Rechtswissenschaft. Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg an Professor Dr. Zentaro Kitagawa am 12. Juli 1989 in Marburg an der Lahn, Institut für Rechtsvergleichung, Marburg 1990. 20 Hans G. Leser/Tamotsu Isomura, Wege zum japanischen Recht. Festschrift für Zentaro Kitagawa zum 60. Geburtstag am 5. April 1992, Duncker & Humblot, Berlin 1992. 21 Die Beiträge der Festveranstaltung sind nicht veröffentlicht. Ein mit Fotos versehenes gedrucktes Original ist Hans G. Leser im Nachgang der Veranstaltung überreicht worden. 16

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Auch in der Leser zum 70. Geburtstag 1998 gewidmeten Festschrift22 führen die Herausgeber im Vorwort aus: „Seine Bemühungen um den weiteren ,Brückenbau‘ gerade mit Japan schlugen sich unter anderem in der Mitwirkung und Förderung des Marburger Japanzentrums (sic!) nieder.“ Die Festschrift enthält entsprechend Beiträge seiner Schüler und Weggefährten zum japanischen Recht. III. Japanwissenschaften Die Benutzung des Ausdrucks Japanwissenschaften mag hier verwundern, weil es nicht um ein eigenständiges Methodenfach geht, dass die Verwendung des Wortes Wissenschaft rechtfertigt. Mit dem Begriff lässt sich aber deutlich machen, dass sich verschiedene Methodenfächer einer Region zuwenden, hier Japan. Ohne die Erkenntnisse dieser anderen Methodenfächer über Japan aber ist eine sich mit Japan befassende Rechtswissenschaft isoliert. Recht ist eingebettet in einen kulturellen Kontext, der aus vielen Merkmalen besteht und dessen Kenntnis für die Beurteilung einer fremden Rechtsordnung unerlässlich ist. Japanisches Recht kann deshalb nur dort erfolgreich betrieben werden, wo die japanische Sprache und Schrift gelehrt wird und auch andere Japanwissenschaften angesiedelt sind. Das war in Marburg der Fall und deshalb wurde der Begriff Japanwissenschaften dort verwendet. 1. Japanologie Wo die erste universitäre Japanologie im deutschsprachigen Raum angesiedelt war, ist ebenso umstritten wie die Genese des Begriffs selbst. Normalerweise wird Hamburg mit dem Entstehungsdatum 1914 genannt, aber Leipzig und Marburg haben nachweislich eine wesentlich ältere Geschichte der wissenschaftlichen Befassung mit Japan. In Marburg wurde diese von dem Geographen Justus Wilhelm Rein begründet, der sich 1874/75 im Auftrag der preußischen Regierung in Japan aufgehalten hatte, um das Potenzial des gegenseitigen Handelsverkehrs auszuloten. Nach seiner Rückkehr bekleidete er ab 1876 die erste Geographie-Professur in Marburg und bot ab dem Wintersemester 1878/79 die Vorlesung „Über die Geographie und Naturgeschichte Japans“ an. Aus seiner Feder stammt das zweibändige Werk „Japan nach Reisen und Studien im Auftrage der Königlich Preußischen Regierung“.23 Die Japanwissenschaften in Marburg wurden also durch die Disziplin Geographie begründet. Die Philologie als Disziplin hat sich aber in der Folge als stärker erwiesen. Sie wurde im deutschsprachigen Raum das herrschende Methodenfach bei der Befassung mit Japan mit der Folge, dass sich unter dem Begriff Japanologie, soweit es überhaupt als Fachgebiet universitär eingerichtet war, philologische Fächer wie 22 Olaf Werner/Peter Häberle/Zentaro Kitagawa/Ingo Saenger (Hrsg.), Brücken für die Rechtsvergleichung. Festschrift für Hans G. Leser, Mohr Siebeck, Tübingen 1998. 23 Band 1: Wilhelm Engelmann, Leipzig 1881, Band 2, 1883.

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Sprach- und Literaturwissenschaft verbargen. Allenfalls die Geschichte und die Religionswissenschaft kamen daneben mitunter zum Zuge. Diese philologische Ausrichtung bestimmte dann auch die Zuordnung des Fachgebiets zu den Fakultäten. Die 1959 in Marburg gegründete Japanologie wurde so im Fachbereich Außereuropäische Philologien verortet. Hier soll noch einmal der Leiter des Marburger Japan-Zentrums zu Wort kommen, der anlässlich der Emeritierung von Leser im Jahre 1994 dessen Verdienste würdigte: „Die Überlegungen, ein Japan-Zentrum an der Philipps-Universität zu errichten, gehen bis in die frühen 1980er Jahre zurück. Ausgangspunkt der Überlegungen war damals zum einen die Tatsache, dass fast in jedem Haus ein Fernseher aus japanischer Fertigung stand, japanische Motorräder auf unseren Straßen zum Inbegriff der Motorradkultur wurden und mehr und mehr Käufer sich einem japanischen Auto zuwandten. Japan war nicht mehr das Land der Geishas und Kirschblüten, Japan war Weltwirtschaftsmacht geworden! Gleichzeitig aber mangelte es allerorts an Kenntnissen über dieses Land. Die traditionelle Japanologie – auf Sprache und Literatur fixiert – hatte es versäumt, sich den Anforderungen der Gegenwart zu stellen. Hier nun sah man in Marburg eine Chance.“ 2. Japan-Zentrum Die Chance wurde Japan-Zentrum genannt. Gegründet wurde 1988 ein Wissenschaftliches Zentrum nach Hessischem Landesrecht, das den Fakultäten vorgeordnet war und direkt dem Präsidium der Universität unterstand. In dieses Zentrum mit eigenem Budget, eigener Verwaltung, eigener Bibliothek und eigener Sprachabteilung konnten die beteiligten Fakultäten ihre Japanspezialisten entsenden. Diese hatten dann eine Doppelfunktion, sie gehörten dem Lehrkörper des Japan-Zentrums ebenso an, wie dem Lehrkörper ihrer Heimatfakultät. Entsprechend unterrichteten sie die japanbezogenen Lehrveranstaltungen in den jeweiligen Studiengängen der beteiligten Fakultäten. Für den Staatsexamensstudiengang Rechtswissenschaften waren das nach der Reform der Juristenausbildung im Jahre 2002 insbesondere Veranstaltungen zur Vermittlung fachlicher Fremdsprachenkenntnisse und solche für die Schwerpunktbereiche. Für den älteren Magisterstudiengang Japanologie/sozialwissenschaftliche Richtung war es das Nebenfach Japanisches Recht und für die im Zuge des Bologna Prozesses neu eingerichteten BA- und MA- Studiengänge Japanwissenschaften die entsprechenden Module Japanisches Recht. Die an der Gründung des Japan-Zentrums beteiligten Fakultäten ihrerseits waren in die Verwaltungsstruktur des Zentrums eingebunden, in dem sie jeweils eine Person in den Beirat entsandten. Das waren vom Fachbereich Rechtswissenschaften zunächst Hans Georg Leser und dann sein 1995 berufener Nachfolger auf dem Lehrstuhl Erich Schanze, zugleich Direktor des Instituts für Rechtsvergleichung, Angloamerikanische Abteilung. Selbstverständlich hatten die Professoren am Japan-Zentrum Sitz und Stimme in den Gremien ihrer jeweiligen Heimatfakultäten.

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Bis im Jahre 2001 eine ständige Professur für japanisches Recht eingerichtet war, musste sich das Fach Rechtswissenschaften mit dem Fach Wirtschaftswissenschaften zunächst eine Professur teilen, die jeweils für 2 Jahre der einen oder anderen Disziplin zur Verfügung stand. Über die schon angesprochene persönliche Verbindung zwischen Leser und Kitagawa wurde die Rechtsprofessur nicht zuletzt in Ermangelung geeigneten deutschen Personals zunächst von japanischen Rechtslehrern besetzt, die die deutsche Sprache beherrschten. Von 1989 – 1991 war auf ihr der seinerzeitige Professor an der Universität Ko¯be und heutige Professor an der Universität Waseda, To¯kyo¯, Zivilrechtler Isomura Tamotsu tätig. Von 1994 – 1995 folgte dann der heute emeritierte, seinerzeit an der Universität Kyo¯to tätige Professor für Internationales Privatrecht Sakurada Yoshiaki. Dieser wurde von 1995 – 1996 abgelöst durch den Professor für Öffentliches Recht, Takada Atsushi, seinerzeit Universität ¯ saka. Im Jahre 2000 konnte dann noch einmal ein Hiroshima, heute Universität O Strafrechtler, Professor Onagi Akihiro, seinerzeit an der Universität Kumamoto, heute an der Universität Hokkaido¯, Sapporo, gewonnen werden. Insgesamt erwies es sich aber als zunehmend schwierig, die Professur, trotz des zweijährigen Wechsels mit den Wirtschaftswissenschaften, mit japanischen Rechtswissenschaftlern zu besetzten und die ständige Suche nach Lehrbeauftragten als zu zeitaufwendig und den Studierenden wenig zuträglich. Daher stimmte das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst im Jahre 1997 der Umwidmung der alten Professur für Sprache und Kultur Japans, die zum inzwischen aufgelösten Fachbereich Außereuropäische Philologien gehörte, in eine Professur für „Japanisches Recht“ am Fachbereich Rechtswissenschaften zu. Diese Professur konnte indes erst im Jahre 2001 besetzt werden. Die alternierend für Recht und Wirtschaft zur Verfügung stehende Professur wurde gleichzeitig in eine Professur für japanische Wirtschaft umgewidmet und den Fachbereich Wirtschaftswissenschaften zugeordnet. Im Jahre 2001 erreichte also das Japan-Zentrum seinen vorläufig vollen Ausbauzustand mit vier Professuren aus vier Fachbereichen: Geschichte, Religionswissenschaft, Wirtschaft und Recht. Es verfügte über zwei festangestellte Lektoren für die japanische Sprache und Schrift, jeweils eine Person aus Japan und eine aus Deutschland, eine Stelle für Information und Dokumentation, die die Publikationen betreute, und eine japanischsprachige Bibliothekarin. Die Spezialbibliothek zu Japan, die sich aus den verschiedenen Japanbeständen der Universität gespeist hatte, u. a. aus der Abteilung Ostasien des Instituts für Öffentliches Recht und Arbeitsrecht aus Herrfahrdts Zeiten und der Japanologie, war mit 160 laufenden Zeitschriften und über 35.000 Bänden nach den Staatsbibliotheken Berlin und München die größte Japan-Bibliothek in Deutschland.24 In den Folgejahren wies das Japan-Zentrum eine stetig wachsende Zahl von Studierenden auf.

24 Vgl. die immer noch im internet zugängliche alte homepage des Arbeitskreises Japanbibliotheken: http://www.ub.uni-marburg.de/bi-syste/japanbib/japanbiblist/index.html.

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Einen besonderen Schwerpunkt des Japan-Zentrums bildeten in der Lehre die Hilfsmittel. Für die Rechtswissenschaften lautete die entsprechende Übung: Hilfsmittel der juristischen Japanforschung. Diese fand ihren Niederschlag in den in Rede stehenden Skripten der Reihe „Information und Dokumentation“.25 Eine eigene Schriftenreihe unter dem Titel: „Marburger Japan-Reihe“ ergänzte die Veröffentlichungspalette des Zentrums. Auch in ihr sind Veröffentlichungen mit juristischem Bezug erfolgt.26 Schließlich gab es die Occasional Papers, die ebenfalls juristische Beiträge enthielten.27 Vom Inhaber der Professur für japanisches Recht wurden mehrere Dissertationen betreut.28 Das gilt nicht nur für Marburg, sondern auch für andere Universitäten.29 In Marburg hat er eine Festschrift herausgegeben.30 Geehrt wurde der japanische akademische Lehrer des Stelleninhabers. Die akademische Feier dazu fand im Jahre 2007 in Marburg statt.31 Es wurden mehrere japanische Gastwissenschaftler und Studierende der Rechtswissenschaften betreut. Hier ist insbesondere der japanische Rechtshistoriker Iwano Hideo von der Do¯shisha Universität in Kyo¯to zu nennen, der eigentlich als Gast des Fachbereichs Geschichte in Marburg weilte, aber wegen seines Studiums des mittelalterlichen deutschen Rechts besser am Fachbereich Rechtswissenschaften aufgehoben war. Leider war die finanzielle Ausstattung des Japan-Zentrums immer so knapp bemessen, dass ein Mittelbau nicht eingerichtet und deshalb wissenschaftlicher Nachwuchs nicht herangezogen werden konnte. 25

Yoshiaki Sakurada/Thoralf Bölicke, Wie finde ich Primärquellen zum japanischen Recht? Band 1: Gesetze, Band 2: Entscheidungen. Information und Dokumentation Nr. 5 und Nr. 6, Marburg 1995. 26 Heide Philipp, Umweltinformationen und Umweltinformationssysteme in Japan: Funktionen, rechtliche Grundlagen, Ziele, Band 19, 1997; Björn Menden, Corporate Governance in Japan: Band 26, 1999; Jutta Berger, Die japanische Umsatzsteuer, Band 27, 1999; Swantje Lorenz, Das japanische Rohstoffrecyclinggesetz. Übersetzung aus dem japanischen Original: Gesetzestext und Kommentar, Band 31, 2002. 27 Shigeru Takahashi, Kernenergie in Japan: Politik, Justiz und Recht, Band 32, Marburg 2005; Masashi Shibata, Das japanische Familiengericht, Band 32, Marburg 2005. 28 Deniz Günal, Die Verschmelzung im japanischen Gesellschaftsrecht. Carl Heymanns: Köln u. a. 2014 (Diss. jur. Marburg 2013); Sandra Schuh, Gemeinnützige Rechtsträger in Japan (Diss. jur. Marburg 2013); Heike Alps, Beilegung individualarbeitsrechtlicher Streitigkeiten in Japan (Diss. jur. Marburg 2013). 29 Christine Schulte, Die Erweiterung der Möglichkeiten privater Anleger und die Ausgestaltung des Anlegerschutzes in Japan – Anlageschadensprozesse und das „Gesetz über den Verkauf etc. von Finanzprodukten (Diss. phil. Erlangen 2004) http://www.google.co.jp/ur l?url=http://opus4.kobv.de/opus4-fau/files/926/b Christine SchulteDissertation. 30 Heinrich Menkhaus/Fumihiko Sato, Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis, in: Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 60. Geburtstag. Duncker & Humblot, Berlin 2006 31 Akademische Feier aus Anlass der Überreichung der Festschrift Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis an Prof. Dr. Yamauchi Koresuke am 2. 5. 2007, Alte Aula der Philipps-Universität Marburg, Japan-Zentrum der Philipps-Universität Marburg, Occasional Papers, Band 33, 2007.

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Auch für die Professur für japanisches Recht standen allenfalls studentische Hilfskraftstellen zur Verfügung, weil diese aus Sachmitteln bezahlt werden konnten. Das Japan-Zentrum sollte aber sogar weiter arrondiert werden. Bei den Berufungsverhandlungen für die Besetzung der Professur für japanisches Recht hieß es, die Marburger Professur für Sinologie, die ebenfalls im aufgelösten Fachbereich für außereuropäische Philologien angesiedelt war, solle bei Entpflichtung der Inhaberin wegen Erreichens der Altersgrenze auch dem Japan-Zentrum zugeschlagen werden. IV. Hessische Zentrenbildung für Regionalstudien Aber daraus wurde nichts, im Gegenteil. Im Jahre 2005 hieß es plötzlich, im Zuge der Hessischen Zentrenbildung für Regionalstudien, die Ostasien der Universität Frankfurt, den mittleren Osten der Universität Marburg und Osteuropa der Universität Gießen zuordnete, solle das Japan-Zentrum geschlossen werden. Damit war dem Japan-Zentrum, das gerade erst im Jahre 2001 seinen vorläufigen Ausbauzustand erreicht hatte, der Wind aus den Segeln genommen. Schon vom Wintersemester des Jahres an durften keine neuen Studierenden in die japanwissenschaftlichen Studiengänge mehr aufgenommen werden. Die Abwicklung dauerte indes bis zum Ende des Wintersemesters 2012. Erst dann graduierten die letzten Studierenden und der Lehrveranstaltungs- und Prüfungsbetrieb konnte endgültig eingestellt werden. Die Bibliothek war schon vorher teilweise verlagert worden. In Marburg verblieben war lediglich die Fachliteratur für die Fachgebiete, die anderenorts nicht vertreten waren. Doch auch diese Bestände, mit Ausnahme der Literatur zum Fach Religionswissenschaft in der Religionskundlichen Sammlung, haben Marburg mittlerweile verlassen. Zu Anfang der Neuordnung der Zentrenbildung für Regionalstudien hieß es noch, die Arbeitsplätze der Betroffenen würden, freilich teilweise räumlich verlagert, erhalten bleiben. Emeritierungen, Entpflichtungen und Pensionierungen, der Auslauf zeitlich befristeter Beamtenstellen und Arbeitsverhältnisse aber wurden genutzt, um das Personal auszudünnen. Drei Personen sind an der Philipps-Universität, freilich auf anderen Arbeitsplätzen, verblieben, nur eine Person wurde im Zuge der Zentrenbildung von einer anderen Universität übernommen. Es war auch dem Fachbereich Rechtswissenschaften in Marburg nicht möglich, die Professur für japanisches Recht in ihren Bestand zu übernehmen, weil diese im Japan-Zentrum budgetiert war, und die frei werdenden Mittel nicht an den Fachbereich gingen, sondern in Marburg dem neuen regionalwissenschaftlichen Zentrum gewidmet wurden. V. Ausblick Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem japanischen Recht in Marburg hat also trotz ihrer dortigen Geschichte nur kurze Zeit gewährt. Das lag allerdings im Trend. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Japan insgesamt ist in Deutschland

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in den letzten Jahren wegen knapper Ressourcen erheblich unter Druck geraten. Die wirtschaftlichen „Boom“-Jahre in Japan, die das Umdenken in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts einleiteten und die Einrichtung des Japan-Zentrums in Marburg begünstigten, sind vorüber. Mittlerweile wächst die japanische Volkswirtschaft, wenn überhaupt, nur noch so wenig wie alle westlichen Industrienationen. Das wirtschaftliche Interesse ist also von Japan abgerückt und wird zukünftigen Wachstumsmärkten zugewandt. Dieser Prozess wird durch andere attraktive japanische Angebote, die dort gern als „soft power“ bezeichnet werden, wie manga, anime, cospurei usw. nicht aufgefangen. Es war ohnehin erstaunlich zu beobachten, wie wenig Japan selbst dieser Entwicklung in Hessen entgegengetreten ist. Immerhin sollten ja die in Marburg noch identifizierbaren Japanstudien nach den Vorstellungen der neuen Regionalzentrenbildung in den Ostasienstudien aufgehen. Der beschriebene Druck geht aber auch von strukturellen Veränderungen im Universitätswesen in Deutschland selbst aus. Es ist zum einen die im Zuge des BolognaProzesses erfolgte Umstellung vieler Studiengänge auf BA und MA. Diese können nur von größeren Lehrkörpern abgewickelt werden, was die Beschäftigung mit einem Land allein nahezu unmöglich macht. Andererseits überhebt man sich erheblich, wenn man unter Regionalstudien ganze Regionen zu erfassen versucht. Das gilt insbesondere für die Rechtswissenschaften. Diese sind immer noch in erster Linie national geprägt. Bei einer Veranstaltung der ELSA Mainz im Jahre 2007 zum ostasiatischen Zivilrecht hat der Verfasser deutlich gemacht, dass es so etwas wie ein ostasiatisches Zivilrecht gar nicht gibt, sondern dass man – wenn man davon ausgeht, dass Ostasien aus den Ländern besteht, die früher stark unter chinesischem kulturellen Einfluss standen, also China, Taiwan, Japan, Korea und Vietnam – es immerhin mit fünf sehr verschiedenen Rechtsordnungen zu tun hat.32 Nur ganz behutsame Ansätze des Rechtsvergleichs, die auf eine gemeinsame historische Basis zurückgeführt werden, sind erfolgversprechend.33 Dort, wo die geographische Vergrößerung des Regionalstudien in Form von Zentren nicht stattgefunden hat, erfolgte eine Zuordnung der sich mit Japan befassenden Wissenschaftler in die Fakultäten, die ihnen methodisch am Nächsten standen. Hier aber lauert die Gefahr der Marginalisierung. Die Globalisierung führt zur Befassung mit der englischen Sprache. Also sind die Länder, in denen Englisch Amtssprache ist, von besonderer Attraktivität. Das lässt sich auch an den juristischen Fakultäten in Deutschland ablesen. Die Rechtsvergleichung mit den Staaten, in denen Englisch gesprochen wird, also überwiegend dem common law-Rechtskreis, herrscht vor. Der Kollege, der etwas anderes macht, und nur wenige Studierende zu betreuen hat, wird schnell gezwungen, sich im gerade bei Juristen recht umfangreichen Lehrver32 Matthias Weiden, ELSA fernrechtlich. Mainzer Studenten organisieren ein Seminar zu den drei großen ostasiatischen Rechtsordnungen, in: Zeitschrift für japanisches Recht 12 (2007), S. 301 f. 33 Z. B. Yu-Cheol Shin, Rezeption europäischer Rechte in Ostasien, Bobmunsa, Seoul 2013.

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anstaltungspflichtprogramm zu engagieren, wodurch wiederum die Spezialisierung leidet. Das rechtliche Instrument für eine interdisziplinäre wissenschaftliche Beschäftigung mit Japan ist vorhanden, das wissenschaftliche Zentrum. Auch die wirtschaftliche Bedeutung Japans hat nicht nachgelassen, allenfalls, wie erwähnt, die Wachstumsraten. Das und andere Parallelen fortgeschrittener Industriestaaten, wie die demographische Entwicklung, ziehen eine solche Fülle von Folgeproblemen nach sich, die eine kontinuierliche Erforschung Japans nicht nur naheliegen, sondern geradezu erzwingen. Der Bedarf an juristischer Beteiligung daran ist unabweisbar. Das Studium Japans sollte in Deutschland nicht in durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Japans beeinflussten Sinuskurven erfolgen, sondern konstant auf hohem Niveau gehalten werden. Neue Regionen, die heute noch nicht so im Fokus stehen, mögen hinzukommen, dürfen aber die Fortführung des Bestehenden nicht gefährden. Das ist in Marburg und Hessen nicht beachtet worden. Da beruhigt es überhaupt nicht, dass es auch anderenorts in Deutschland um die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem japanischen Recht nicht besser bestellt ist.34

34 Heinrich Menkhaus, Die deutsche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem japanischen Recht, in: Koresuke Yamauchi/Werner F. Ebke (Hrsg.), Meilensteine im Internationalen Privat- und Wirtschaftsrecht. Festgabe für Bernhard Großfeld und Otto Sandrock, Chuo Universitätsverlag, Tokio 2014, S. 77 – 128.

Perspektiven sichern für die Hochschulmedizin Von Boris Rhein Es ist mir eine große Ehre, in dieser Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags den Mann würdigen zu dürfen, der als Präsident der Emil von Behring und Wilhelm Conrad Röntgen-Stiftung mit Sitz in Marburg maßgeblich zur Weiterentwicklung der hessischen Universitätsmedizin beiträgt. Hoch oben im Landgrafenschloss in Marburg, mit Blick über die Stadt und das Lahntal, hat er sein Domizil. Mit Weitblick leitet er von dort seit Dezember 2011 die Geschicke der Von Behring-Röntgen-Stiftung ehrenamtlich als deren Vorstandsvorsitzender. Es freut mich, dass die bundesweit einzigartige Stiftung mit Friedrich Bohl einen anerkannten, durchsetzungsstarken und allseits als verbindlich, freundlich und umgänglich charakterisierten Repräsentanten an ihrer Spitze hat. Die Stiftung hat zwar nicht eine so lange und stolze Geschichte wie das Marburger Landgrafenschloss mit seinen rund 1900 Jahren, doch hat sie in den neun Jahren seit ihrer Gründung bereits Beachtliches geleistet. Sie hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die medizinische Forschung und Lehre an den Universitäten Marburg und Gießen zu fördern. Gegründet wurde sie im Zuge der Fusion der Universitätskliniken Gießen und Marburg und ihrer anschließenden Privatisierung als rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts. Die Hessische Landesregierung hat damals einen bis heute bundesweit einmaligen Prozess in Gang gesetzt. Ein zukunftsorientierter Weg hat der Hochschulmedizin in Gießen und Marburg neue Perspektiven und Zukunftschancen eröffnet. Ausgestattet mit einem Stammkapital in Höhe von 100 Millionen Euro gehört die Von Behring-Röntgen-Stiftung heute zu den größten Medizinstiftungen in Deutschland. Sie hat sich in kurzer Zeit zu einer bestens geratenen Organisation und festen Größe entwickelt, die ihrem Auftrag voll und ganz gerecht wird. Im Fokus stand und steht die Absicht, der Hochschulmedizin in Marburg und Gießen hervorragende Entwicklungsperspektiven zu schaffen. Unabhängigkeit und Sicherung der medizinischen Forschung und Lehre sowie die Verbesserung der Voraussetzungen zur Entwicklung von Spitzenleistungen und zur Herausbildung von Exzellenz für die mittelhessischen Medizinstandorte hatte und hat die Hessische Landesregierung dabei stets im Blick. Dieses Ziel ist durch die besondere Fördertätigkeit der Von Behring-Röntgen-Stiftung mit ihrem Präsidenten Friedrich Bohl an der Spitze zweifellos einen bedeutenden Schritt näher gerückt. Die besonders enge Verbundenheit Friedrich Bohls mit der mittelhessischen Region trägt zusätzlich dazu bei. Die Stiftung hat

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ihr Profil gefunden, sie wird positiv wahrgenommen und das ist nicht zuletzt Verdienst von Friedrich Bohl. Der Prozess der Fusionierung und Privatisierung der beiden Universitätskliniken war und ist aufgrund seiner Einzigartigkeit und Komplexität zweifellos eine Herausforderung für alle Beteiligten. Dass diese Herausforderung bisher gut bewältigt worden ist, wird nicht zuletzt durch das Ergebnis der Evaluation durch den Wissenschaftsrat belegt. Gleichwohl ist nicht zu verhehlen, dass die Privatisierung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg von Beginn an bis heute viel Kritik ausgesetzt ist. Das Positive, wie z. B. die medizinische Forschungsförderung durch die Von BehringRöntgen-Stiftung, wird leider dabei meistens vergessen. Diese Förderung gäbe es zweifelsfrei nicht ohne die Privatisierung. Die Privatisierung ist quasi die Geburtsstunde der Stiftung. Die Von Behring-Röntgen-Stiftung schreibt jedes Jahr eine Förderrunde aus. Bis zum Jahr 2014 hat sie insgesamt rund 12 Millionen Euro für medizinische und biomedizinische Forschungsvorhaben und für die Arbeit exzellenter Wissenschaftler im Bereich der medizinischen Forschung und Lehre an den Universitäten Marburg und Gießen bewilligt. Hinzu kommen die Von Behring-Röntgen-Nachwuchspreise, mit denen Postdoktoranden für ihre herausragenden Arbeiten auf Gebieten der medizinischen und biomedizinischen Forschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Philipps-Universität Marburg gewürdigt werden. Gefördert werden herausragende und innovative Projekte, die vor allem gemeinsam von Wissenschaftlern der beiden Hochschulen standortübergreifend durchgeführt werden, sowie exzellente Forschungsvorhaben von Nachwuchswissenschaftlern. Bei der Auswahl der Förderprojekte steht der Stiftung ein wissenschaftlicher Beirat mit Rat und Tat höchst sachkundig zur Seite. Es ist gelungen, internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Persönlichkeiten mit ausgewiesener Reputation, für dieses Gremium zu gewinnen und somit eine erfolgreiche Fördertätigkeit durch ausgewiesene Expertise zu ermöglichen. Friedrich Bohl befördert maßgeblich die öffentliche Wahrnehmung dieser Forschungsförderung. Er hat erkannt, dass die Hochschulmedizin in der Region Mittelhessen nur gemeinsam und übergreifend etwas erreichen kann, dass es notwendig ist, alle Chancen zu nutzen, um für sinnvoll erachtete Projekte auch Finanzierungswege zu finden und dem für richtig Erkannten zum Gelingen zu verhelfen. Friedrich Bohl hat den Vorsprung der Region in den Bereichen Medizin, Gesundheit, Wissenschaft und Forschung im Blick. Er setzt sich dafür ein, diesen Vorsprung zu nutzen, indem die vorhandenen Strukturen in der Gesundheitsregion weiter miteinander verzahnt werden. Er fühlt sich verantwortlich – das ist nicht selbstverständlich. Auch dem Land Hessen ist seine Gesamtverantwortung für die Hochschulmedizin sehr präsent. Wie in allen Lebensbereichen spielt das Geld auch dabei eine große

Perspektiven sichern für die Hochschulmedizin

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Rolle. Die Lösung der Frage, wie nachhaltige Finanzierungskonzepte für die Fachbereiche Medizin mit erhöhten Studierendenzahlen und für die Universitätskliniken mit ihren zahlreichen Sonderbelastungen gefunden werden können, ist eine große Herausforderung, die sich dem Land stellt. Es gilt, eine exzellente Lehre und Forschung sowie allerbeste Krankenversorgung auf Dauer sicherzustellen, und als Wissenschaftsminister ist es mir ein Anliegen, beste Voraussetzungen dafür zu schaffen. Wir alle erleben jeden Tag, wie wichtig Gesundheit für uns ist. Und wenn es einmal nicht rund läuft, sind wir froh und dankbar, wenn wir von Ärzten und Pflegepersonal gut versorgt werden. Obendrein hätten wir gerne eine medizinische Spitzenversorgung auf dem neuesten Stand der Forschung. Vor allem aber erwarten wir, dass die Menschlichkeit nicht auf der Strecke bleibt. Einen wichtigen und guten Beitrag leistet dazu die Von Behring-Röntgen-Stiftung mit einem loyalen Präsidenten an der Spitze. Ihm gilt der Dank und die Anerkennung für sein Engagement und den Erfolg bei der Etablierung der Stiftung in der Wissenschafts- und Stiftungslandschaft. Es würde mich freuen, wenn Friedrich Bohl die Geschicke der Stiftung von hoch oben aus dem Landgrafenschloss mit Weitblick noch eine Weile lenken würde. Für seine ganz persönlichen weiteren Planungen und Ambitionen wünsche ich ihm zu seinem 70. Geburtstag alles erdenklich Gute, vor allem Gesundheit und persönliches Wohlergehen.

IV. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Die Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht Eine rechtshistorische Betrachtung Von Ralph Backhaus I. Einführung Nach § 1 Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes (i. F.: BWG) werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt; das bedeutet nach § 1 Abs. 2 BWG, dass die eine Hälfte der Abgeordneten in den Wahlkreisen gewählt wird, die andere Hälfte nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten). Nach § 4 BWG hat jeder Wähler zwei Stimmen (Erststimme für die Wahl des Wahlkreisabgeordneten, Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste). Die Wahlkreisabgeordneten werden nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl bestimmt1: Gewählt ist nach § 5 Satz 2 BWG der Bewerber, der die meisten Erststimmen im Wahlkreis auf sich vereinigen kann; die für die unterlegenen Bewerber abgegebenen (Erst-)Stimmen bleiben entsprechend dem System der Mehrheitswahl unberücksichtigt. Für die Zweitstimmen gilt dagegen Verhältniswahl (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 BWG a. E.); die (berücksichtigungsfähigen) Zweitstimmen (§ 6 Abs. 1 Satz 2 BWG) werden den Landeslisten der (berücksichtigungsfähigen) Parteien (§ 6 Abs. 3 BWG) zugeordnet, und zwar gem. § 6 Abs. 2 BWG entsprechend dem Verhältnis der für die einzelnen Listen abgegebenen Zweitstimmen2. Das Modell dieser „personalisierten Verhältniswahl“3 ist in den soeben geschilderten Grundzügen so alt wie die Bundesrepublik Deutschland selbst; es findet sich bereits im BWG vom 14. August 1949, nach dem der Erste Bundestag gewählt wurde4. Auch hatte der Parlamentarische Rat als Wahlgesetzgeber des Jahres 1949 schon klar erkannt, dass die Abgleichung der Ergebnisse in den Wahlkreisen (Mehrheitswahl) mit den Ergebnissen der Listenwahl (Verhältniswahl) Probleme verursa-

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BVerfGE 131, 316, 357. BVerfGE 121, 266, 271: „Die Zahl der einer jeden Partei zufallenden Sitze sollte sich zur Gesamtzahl der Sitzes des Parlaments verhalten wie die Zahl der für diese Partei abgegebenen Zweitstimmen zur Gesamtzahl aller gültigen Zweitstimmen.“ 3 BVerfGE 6, 84, 90; 7, 63, 70; 16, 130, 139. 4 Dort allerdings mit der Maßgabe, dass die Sitze zwischen Wahlkreisen und Landeslisten nach dem „ungefähren Verhältnis von 60 zu 40“ zu verteilen waren, § 8 Abs. 2 BWG 1949. 2

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chen kann5 : Es kann nämlich der Fall eintreten, dass bei der Wahl nach Landeslisten eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreismandate erringt, als ihr nach dem Ergebnis der Verhältniswahl zustehen6 (Überhangmandate)7. Der Rat hatte darum in § 10 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 des Entwurfs zum BWG vom 15. Juni 1949 für diesen Fall eine Ausgleichsregelung favorisiert, wonach sich die Zahl der Sitze in den betroffenen Ländern um die Zahl der Überhangmandate erhöhen sollte, wobei diese Ausgleichsmandate nach der Berechnungsmethode d’Hondt vergeben werden sollten8. Diese Regelung war aber nicht praktikabel; darum wurde § 10 Abs. 3 BWG von den Militärgouverneuren nur wenige Tage vor der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 dahin geändert, dass Überhangmandate der davon begünstigten Partei ohne Ausgleich verbleiben sollten9. Bei diesen „ausgleichslosen Überhangmandaten“ sollte es dann bis zur Novellierung des BWG durch das 22. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 3. Mai 2013 bleiben10. Die ausgleichslosen Überhangmandate sind mit Blick auf den durch Art. 38 Abs. 1 GG verbürgten Grundsatz der Gleichheit der Wahl problematisch. Denn weil sie mit dem Ergebnis der Verhältniswahl nicht verrechnet werden11, erhält die hiervon begünstige Partei die Erstmandate, die durch das Ergebnis bei der Listenwahl nicht gedeckt sind, zusätzlich; die Wähler dieser Partei können darum mit ihren Stimmen auf das Wahlergebnis stärker Einfluss nehmen als die Wähler

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Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Band 6, Ausschuß für Wahlrechtsfragen, bearbeitet von Harald Rosenbach, S. 794; im Folgenden: Parlamentarischer Rat, Band 6. 6 Die Gründe für das Entstehen der Überhangmandate sind vielfältig. Zu nennen sind etwa ein ungleicher Zuschnitt der Wahlkreise, unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung oder ein überdurchschnittlicher Anteil von ungültigen Zweitstimmen (BVerfGE 95, 335, 346). Vor allem kann es zu Überhangmandaten dann kommen, wenn es zu viele Wahlkreise in einem Bundesland gibt, s. dazu Christofer Lenz, Grundmandatsklausel und Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht, in: NJW 1997, 1534; Hans Jürgen Papier, Überhangmandate und Verfassungsrecht, in: JZ 1996, 265, 266. 7 Keines der bisherigen Bundeswahlgesetze enthält den Begriff „Überhangmandate“. Dieser Begriff hat sich vielmehr eingebürgert, Wolfgang Schreiber/Karl-L. Strelen, Bundeswahlgesetz, 2013, § 6, Rn. 29; Josef Isensee/Paul Kirchhof/Hans Meyer, HStR III (2005), § 46, Rn. 45; noch ausführlicher Hans Meyer, Lösungsmöglichkeiten nach dem Wahlrechtsurteil des BVerfG vom 3. Juli 2008, in: DVBl. 2009, S. 137 ff. (138 Fn. 3). 8 BGBl. 1949, I, S. 21. 9 BGBl. 1949, I, S. 25 „In einem solchen Fall erhöht sich die Gesamtzahl der für das Land vorgesehenen Abgeordnetensitze um die gleiche Zahl; eine erneute Berechnung nach Absatz 1 findet nicht statt“. 10 BGBl. 2013, I, S. 1082. 11 So schon § 10 Abs. 3 des BWG vom 5. 8. 1949 (BGBl. 1949, I, S. 25.); inhaltlich (und fast auch sprachlich) identisch § 9 Abs. 3 des BWG vom 8. 7. 1953 (BGBl. I, S. 470) und § 6 Abs. 3 des BWG vom 9. 5. 1956, BGBl. 1956, I, S. 383) und auch noch § 6 Abs. 5 Satz 2 des BWG vom 25. 11. 2011, BGBl. I, S. 2313: „eine erneute Berechnung nach den Absätzen 2 bis 3 (sc. des § 6 BWG) findet nicht statt“.

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von nicht durch Überhangmandaten begünstigten Parteien12. Dass das BVerfG in der Folge immer wieder mit der Problematik dieser Überhangmandate konfrontiert wurde13, vermag darum nicht zu verwundern, zumal diese Überhangmandate14 eine eminente politische Bedeutung entfalten können15. So haben etwa die 13 Überhangmandate, die die SPD bei der Wahl im Jahr 1998 errungen hat, die rot-grüne Regierungskoalition erheblich stabilisiert16; ähnlich verhielt es sich bei den 12 von der CDU im Jahr 1994 gewonnenen Überhangmandaten17. Das BVerfG hat sich in mehreren Grundsatzverfahren, in denen es um die Vereinbarkeit ausgleichsloser Überhangmandate mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl ging, mit diesem Problem schwer getan. Der folgende Beitrag will darum den unterschiedlichen Ansätzen, die das Gericht zur Bewältigung dieser Problematik entwickelt hat, nachgehen und eine Bewertung dieser Ansätze versuchen. Da der Jubilar von 1991 bis 1998 als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes in der von Bundeskanzler Helmut Kohl geführten Bundesregierung in vorderster Front politisch aktiv war und somit gerade die Bundestagswahlen der Jahre 1994 und 1998, bei denen es zu besonders vielen und für den Wahlausgang bedeutsamen Überhangmandaten kam, hautnah und gewiss mit großer Spannung miterlebt hat, sind die nachfolgenden Ausführungen vielleicht für ihn von Interesse.

12 So auch schon früh das BVerfG, s. BVerfGE, 7, 63, 75; 16, 130, 140: „Modifizierung der Erfolgswertgleichheit“ durch die ausgleichslosen Überhangmandate, die „nur insoweit verfassungsrechtlich zu rechtfertigen“ ist, „als ihre Zuteilung die notwendige Folge des spezifischen Zieles der personalisierten Verhältniswahl ist“. 13 BVerfGE 7, 63, 74 f.; 16, 130, 140 ff.; 79, 169 ff. 14 Statistik der bisher entstandenen Überhangmandate bei Schreiber/Strelen (Anm. 7), BWahlG, § 6, Rn. 30. 15 Damit kann auch die Regierungsbildung vom Zufall abhängig sein, so richtig Jörn Ipsen, Wahlrecht im Spannungsfeld von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, DVBl. 2013, S. 267 f.; ders., Staatsrecht I, 25. Aufl. 2013, Rn. 117. Positiv zur „mehrheitsbildenden Kraft“ ausgleichsloser Überhangmandate dagegen Dieter Nohlen, Erfolgswertgleichheit als fixe Idee oder – Zurück zu Weimar? Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Bundeswahlgesetz vom 3. Juli 2008, in: ZParl. 2009, S. 179 (193 ff.). 16 1998 hatte die SPD von insgesamt 669 Mandaten 298 gewonnen (ohne Überhangmandate wären es nur 285 gewesen). Die rot-grüne Koalition hatte bei 47 Mandaten für die Grünen damit insgesamt 345 Mandate und damit eine bequeme absolute Mehrheit im Bundestag. Ohne Überhangmandate wäre die Mehrheit deutlich knapper gewesen (332 von insgesamt 656 Mandaten). 17 1994 hatte die Union von insgesamt 672 Mandaten 294 gewonnen (ohne Überhangmandate wären es nur 282 gewesen). Schwarz/gelb hatte bei 47 Mandaten für die FDP damit insgesamt 341 Mandate und damit ebenfalls eine komfortable absolute Mehrheit. Ohne Überhangmandate wäre es auch hier knapper gewesen (333 von insgesamt 656 Mandaten).

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II. Der Erste Senat (1951 – 1956): „Weiter Ermessensspielraum des Gesetzgebers“ In den Jahren 1951 – 1956 war (auch18) der Erste Senat des BVerfG für das Wahlrecht zuständig. Dieser ging davon aus, dass dem Gesetzgeber bei der Konkretisierung der in Art. 38 Abs. 1 GG festgelegten Wahlgrundsätze ein weiter Ermessensspielraum zukomme; dies folge daraus, dass Art. 38 Abs. 3 GG dem Wahlgesetzgeber anheim gebe, zur Konkretisierung der Wahlgleichheit „das Nähere“ zu bestimmen19. Unter Hinweis auf eine wahlrechtliche Entscheidung des RStGH20 führt der Senat dann aus, dass auch Entscheidungen von großer Tragweite wie etwa die Auswahl des Wahlsystems und die Einteilung der Wahlkreise von diesem Auftrag umfasst seien21. Dies legt es nahe, dass der Senat, wenn er mit der Problematik der Überhangmandate befasst worden wäre22, in deren verfassungsrechtlicher Rechtfertigung kein Problem gesehen hätte. III. Rechtsprechung des Zweiten Senats (1956 – 1997): Der „zwingende Grund“ 1. Im Gegensatz zum Ersten Senat ging der seit 1956 für das Wahlrecht allein zuständige Zweite Senat – jedenfalls bis zum Urteil vom 10. April 199723 – in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass dem Wahlgesetzgeber mit Blick auf die in Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistete Wahlgleichheit nur ein enger Spielraum eröffnet sei; Differenzierungen bedürften stets eines „zwingenden Grundes“24. Später wurde dies dahin präzisiert, dass „zwingend“ hier nicht im Sinne des Nichtbestehens einer Alternative zu verstehen sei; Differenzierungen seien dann mit Art. 38 Abs. 1 GG vereinbar, wenn die gesetzliche Regelung, die die Ungleichheit bewirke, einem der Wahlrechtsgleichheit gleichrangigen Zweck diene und zur Verfolgung dieses Zweckes geeignet und erforderlich sei25. Im System der Verhältniswahl besage der 18 Zur Entwicklung der Zuständigkeitsverteilung beim Wahlrecht innerhalb des BVerfG siehe Ralph Backhaus, Entscheidungsbesprechung. Neue Wege beim Verständnis der Wahlgleichheit?, in: DVBl. 1997, S. 737 Fn. 3. 19 BVerfGE 3, 19, 24 f.; 3, 383, 394; 5, 77, 81. 20 RGZ 128, Anhang 1, 8. 21 BVerfGE 3, 19, 24 f. 22 Tatsächlich war das nicht der Fall. Die erste Entscheidung, in der es um die Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten geht, ist BVerfGE 7, 63, 74 (Zweiter Senat). 23 BVerfGE 95, 335 ff. (dazu näher unten III.). 24 So schon BVerfGE 1, 208, 249, s. ferner BVerfGE 14, 121, 132; 82, 353, 364; 89, 266, 270; 93, 373, 377. Weitere Nachweise aus dieser ständigen Rspr. bei Backhaus (Anm. 18), DVBl. 1997, S. 737 ff. (738 Fn. 5). Zum Sonderfall BVerfGE 59, 119 ff. (Kollision zwischen dem Grundsatz der Allgemeinheit und der Geheimheit der Wahl) s. Backhaus (Anm. 18), DVBl. 1997, S. 737 ff. (738 Fn. 6). 25 BVerfGE 95, 408, 418. In der Sache übereinstimmend BVerfGE 95, 367, 376 f. („nicht tragende“ Richter): Die Differenzierung muss auf Gründen beruhen, deren Zweck darauf ausgerichtet ist, die staatspolitischen Ziele einer Parlamentswahl zu verfolgen oder Störungen

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Grundsatz der Wahlgleichheit, dass jeder Wählerstimme nicht nur wie bei der Mehrheitswahl ein gleicher Zählwert, sondern auch ein gleicher Erfolgswert zukommen müsse26 ; das Verhältnis der für die (zu berücksichtigenden) Parteien abgegebenen gültigen Wählerstimmen müsse darum soweit als möglich der Verteilung der Sitze im Parlament entsprechen27. Das gelte auch für die personalisierte Verhältniswahl nach dem BWG, da das Vorschalten von Elementen der Mehrheitswahl lediglich dazu diene, die personelle Zusammensetzung des Bundestags im Sinne einer besonders starken Bindung der direkt gewählten Bewerber an „ihren“ Wahlkreis zu steuern; der Charakter einer Verhältniswahl solle dagegen hierdurch nicht aufgehoben werden28. Dieses Gebot der Erfolgswertgleichheit gelte auch für den Ersten Abschnitt des BWG (§§ 1 – 6); Überhangmandate seien darum stets als rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlungen anzusehen29. 2. Doch hat der Zweite Senat bis zur Bundestagswahl des Jahres 1990 ausgleichslose Überhangmandate, die allerdings bis dahin nur in sehr geringem Umfang anfielen30, als „zwingenden Grund“ im Sinne des oben genannten Maßstabs anerkannt31. Das wurde damit begründet, dass nur bei Vorschaltung von Elementen der Mehrheitswahl (Wahl der Hälfte der Bewerber durch Mehrheit der Erststimmen in den Wahlkreisen) und das Hinnehmen dabei entstehender Überhangmandate die mit der personalisierten Verhältniswahl angestrebte besonders enge persönliche Anbindung eines Großteils der Abgeordneten an ihren Wahlkreis erreicht werden könne32. Obwohl der Gedanke einer Wiederherstellung des Proporzes unter den Parteien durch Ausgleichsmandate schon im Vorfeld der ersten Bundestagswahl im Jahr 1949 diskutiert worden war33 und obwohl zahlreiche Wahlgesetze der Länder schon früh für diesen Lösungsweg optiert hatten34, wurde dieses Kompensationsmodell vom des Staatslebens entgegenzuwirken; ebenso in der Sache auch BVerfGE 121, 266, 297; 124, 1, 19. 26 BVerfGE 6, 104, 111; 79, 169, 170; 82, 322, 337; 121, 266, 296; ebenfalls ständige Rspr. 27 BVerfGE 121, 266, 296; 124, 1, 18, ebenfalls ständige Rspr. 28 So mit Bezug auf das BWG etwa BVerfGE 6, 104, 111; 34, 81, 100; 82, 322, 337; ebenso BVerfGE 121, 266, 297. 29 BVerfGE 7, 63, 74; 16, 130, 140; 79, 169, 171 f. 30 Bis 1990 fielen bei keiner Bundestagswahl mehr als fünf Überhangmandate an (1961), vgl. Schreiber/Strelen (Anm. 7), BWahlG, § 6, Rn. 30; s. dazu auch BVerfGE 95, 367, 382 ff. 31 BVerfGE 79, 169, 171. 32 BVerfGE 7, 63, 74; 16, 130, 140; 79, 169, 171 f. 33 Parlamentarischer Rat, Band 6, S. 791 ff. 34 Art. 38 Abs. 1, 43 Abs. 2, Satz 2 des LWG von Bayern; § 2 Abs. 3 Satz 1, 2 Abs. 4, S. 1 des LWG von Baden-Württemberg; §§ 15 Abs. 1, 19 Abs. 2 des LWG von Berlin; §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 7 des LWG von Brandenburg; §§ 8, 10 Abs. 5 Satz 2 des LWG von Hessen; §§ 1 Abs. 2, 4 Abs. 6 Sätze 2 bis 4 des LWG von Mecklenburg-Vorpommern; §§ 1 Abs. 3, 33 Abs. 7, Satz 2 und 3 des LWG von Niedersachen; §§ 26 Abs. 1 Satz 1, 33 Abs. 4 Sätze 2 bis 6 des LWG von Nordrhein-Westfalen; §§ 27, 30 Abs. 2 des LWG von Rheinland-Pfalz; §§ 4, 6 Abs. 6 des LWG von Sachsen; §§ 1 Abs. 1, 27 Abs. 1, 35 Abs. 8 des LWG von SachsenAnhalt; §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 4, Sätze 2 bis 4 des LWG von Schleswig-Holstein und §§ 3, 5

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BVerfG vor der Entscheidung vom 10. April 1997 ebenso wenig diskutiert wie ein Ausgleich durch Wegfall von Listenmandaten der von den Überhangmandaten begünstigten Partei auf den Listen dieser Partei in Bundesländern, in denen keine Überhangmandate angefallen waren („bundesweiter Verhältnisausgleich“)35. Das mag hinsichtlich der Ausgleichsmandate auf der Furcht vor einer übermäßigen Aufblähung und einer dadurch reduzierten Arbeitsfähigkeit des Parlaments beruhen36, bezüglich des bundesweiten Verhältnisausgleichs daran, dass das BWG die Vermutung der Verbindung von Landeslisten nach dem – inzwischen wieder aufgehobenen – § 7 Abs. 1 BWG noch nicht enthielt, also stärker föderal strukturiert war. IV. BVerfGE 95, 335 ff. („tragende“ Richter): Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der „Systembestimmung und -durchführung“ 1. Im Jahr 1997 standen die Überhangmandate erneut auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand; in einer 4:4-Entscheidung hat das BVerfG sie erneut als verfassungskonform angesehen37. Auf den ersten Blick scheint sich danach gegenüber der bisherigen Rechtsprechung des Zweiten Senats nichts geändert zu haben. Dieser Eindruck trügt jedoch. Bei genauerer Betrachtung der Gründe der die Entscheidung „tragenden“ Richter wird deutlich, dass diese in mehrfacher Hinsicht neue Wege gegangen sind: (1) Zunächst wird der in der Judikatur des Zweiten Senats bislang nicht verwendete Begriff der „Erfolgschancengleichheit“ eingeführt38. Hierbei handelt es sich nach Ansicht der „tragenden“ Richter um einen allen Wahlsystemen (Mehrheitswahl, Verhältniswahl, Mischsysteme) immanenten Grundsatz: Jeder Wähler müsse – ex ante betrachtet – die gleiche rechtliche Möglichkeit haben, mit seiner Stimme auf das Wahlergebnis Einfluss zu nehmen39. Erfolgschancengleichheit ist damit weniger als die aus der bisherigen Judikatur des Senats bekannte Erfolgswertgleichheit40, die verlangt, dass das Verhältnis der Wählerstimmen möglichst exakt der Verteilung der Sitze im Parlament entspricht41. (2) Sodann werden die Wirkbereiche der ErAbs. 6 des LWG von Thüringen; vgl. dazu noch die Literaturhinweise bei Schreiber/Strelen (Anm. 7), BWahlG, § 6, Fn. 53. 35 S. dazu die Drucksache 2 der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestags vom 4. 10. 1995, S. 10, 12 und die Berechnungen S. 60, 71 ff. 36 Dazu Christian Starck, FAZ vom 15. 11. 1994; Ute, Mager/Robert Uerpmann, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, in: DVBl. 1995, S. 273 ff. (278). 37 BVerfGE 95, 335. 38 BVerfGE 95, 353; in der Literatur war dieser Begriff schon vor dieser Entscheidung des BVerfG bekannt, so z. B. Christofer Lenz, Die Wahlrechtsgleichheit und das Bundesverfassungsgericht, in: AöR 121 (1996), S. 337 ff. (354); ebenso bereits Roman Herzog, Rechtsgutachten zu der Vereinbarkeit der Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen (Dreier-Wahlkreis) mit dem Grundgesetz, 1968, S. 54. 39 BVerfGE 95, 335, 353. 40 Dazu schon oben III. 1. 41 BVerfGE 7, 63, 74.

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folgswertgleichheit einerseits und der Erfolgschancengleichheit andererseits umrissen: Jene gelte uneingeschränkt im System einer reinen Verhältniswahl, in Mischsystemen jedoch nur insoweit, als es um den vom Verhältniswahlrecht geprägten Teil des Wahlsystems gehe (etwa: Zuweisung der Listenmandate nach § 6 Abs. 2 BWG)42. Dagegen sei bei der Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem und dessen Durchführung im Einzelnen dem Wahlgesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet43 ; insoweit seien darum die Entscheidungen des Wahlgesetzgebers nur am Maßstab der Erfolgschancengleichheit zu messen44. (3) Dieser Spielraum bestehe auch für die Sitzzuteilung und damit für die durch § 6 Abs. 5 Satz 2 BWG (in der Fassung des 13. Gesetzes zur Änderung des BWG vom 15. November 199645) verordnete Zuweisung ausgleichsloser Überhangmandate46. (4) Zudem seien Überhangmandate Direktmandate, die dem Regime des Mehrheitswahlrechts unterlägen47. Das Anfallen solcher Mandate sei auch aus diesem Grund nicht am Gebot der Erfolgswertgleichheit, sondern nur an dem der Erfolgschancengleichheit zu messen48. (5) Diese sei aber durch die ausgleichslosen Überhangmandate nicht berührt, weil ex ante betrachtet jeder Wähler die Chance gehabt habe, dass die von ihm gewählte Partei durch Überhangmandate begünstigt werde49. Als verfassungswidrig seien die Überhangmandate nur dann anzusehen, wenn sich die Auswirkungen der Wahl von der Grundentscheidung des Gesetzes, namentlich dem „Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl“50, entfernten51, wobei die 5 % Sperrklausel als Anhaltspunkt dienen solle52. 42

BVerfGE 95, 335, 354: „Gleichheit der Wahl im jeweiligen Teilsystem“. BVerfGE 95, 335, 349, 354. 44 So verfahren die „tragenden“ Richter dann auch im Subsumtionsteil, s. dazu BVerfGE 95, 335, 359 ff.: „ …. verstößt auch als solche nicht gegen den allen Wahlsystemen übergeordneten allgemeinen Grundsatz der Wahlgleichheit, wonach allen Stimmen die gleiche Erfolgschance einzuräumen ist ….“. 45 BGBl. 1996, I, S. 1712. 46 S. dazu BVerfGE 95, 335, 356: „Das Wahlsystem ist darauf angelegt, dass die Ergebnisse der vorgeschalteten Mehrheitswahl erhalten bleiben“. „Der Gesetzgeber hat die Verhältniswahl von vornherein mit Elementen der Mehrheitswahl verbunden“. 47 BVerfGE 95, 335, 357, 361. 48 S. dazu BVerfGE 95, 335, 358: (Nur) die Sitzzuteilung nach den für die Listen abgegebenen Zweitstimmen (also nach § 6 Abs. 2 BWG) unterliegt als solche der spezifischen Erfolgswertgleichheit der Verhältniswahl. 49 Das wird zwar von den „tragenden“ Richtern nicht explizit gesagt, geht aber aus BVerfGE 95, 335, 361/362 eindeutig hervor. 50 BVerfGE 95, 335, 358, 365. 51 BVerfGE 95, 334, 365; dass bei den 16 Überhangmandaten der Wahl von 1994 die Grenze der Geringfügigkeit noch nicht überschritten sein soll, erscheint freilich zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass es sich dabei um 1,1 Millionen Wähler handelt, die über ein doppeltes Stimmgewicht verfügten, so Hans Meyer, Der Überhang und anderes Unterhaltsames aus Anlaß der Bundestagswahl 1994, in: KritVj 77 (1994), S. 312 ff. (347). 52 BVerfGE 95, 335, 366; zustimmend Peter Badura, Anmerkung zu BVerfG U. v. 10. 04. 1997 – 2 BvF 1/95 –, Zur Regelung der Überhangmandate, in: JZ 1997, S. 681. 43

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2. Dieser neue Weg war insoweit unvermeidbar, als die bisherige Begründung, die Zuweisung ausgleichsloser Überhangmandate sei im Interesse einer engen persönlichen Anbindung eines Großteils der Abgeordneten an ihren Wahlkreis notwendig, im Jahr 1997 nicht mehr tragfähig war. Denn die nunmehr im Schrifttum diskutierten und auch von den „nicht tragenden“ Richtern aufgegriffenen Kompensationsmodelle53 (bundesweite Verrechnung54, Vergabe von Ausgleichsmandaten55) hatten gezeigt, dass Überhangmandate und Erfolgswertgleichheit durchaus miteinander in Einklang zu bringen waren56. Damit fehlte es für die Zuweisung ausgleichsloser Überhangmandate an der Erforderlichkeit und damit an dem „zwingenden Grund“ im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des Senats57. 3. Eine andere Frage ist es, inwieweit der Lösungsansatz der „tragenden“ Richter zu überzeugen vermag. Hier bestehen in mehrfacher Hinsicht Bedenken58 : a) Undeutlich bleibt schon die These vom „weiten Gestaltungsspielraum“, der dem Gesetzgeber „im Hinblick auf die Auswahl des Wahlsystems und dessen Durchführung im Einzelnen“59 eingeräumt sei. Richtig daran ist, dass durch das Grundgesetz kein bestimmtes Wahlsystem vorgegeben wird (vgl. Art. 38 Abs. 3 GG). Der Gesetzgeber war also frei, sich für ein (reines) Mehrheitswahlsystem, ein (reines) Verhältniswahlsystem, ein sog. Grabensystem (Wahl eines Teils der Abgeordneten durch Mehrheitswahl, eines anderen Teils durch Verhältniswahl)60 oder für eine Mischform wie für die in § 1 BWG vorgesehene „personalisierte Verhältniswahl“ zu entscheiden61. Unklar bleibt allerdings, was es bedeuten soll, dass dieser Gestaltungsspielraum nicht nur bei der Auswahl des Systems, sondern auch für „dessen Durchführung im Einzelnen“62 gelten soll. Hier entsteht ein Spannungsverhältnis zur bisherigen Judikatur des BVerfG63, wonach dem Grundsatz der Wahlgleichheit 53 Zusammenfassend Papier (Anm. 6), JZ 1996, S. 265 ff. (271 ff.); zuvor schon Klaus Unterpaul, Zunehmende Zahl der Überhangmandate unbedenklich?, in: NJW 1994, S. 3267 ff. (3269); Christian Naundorf, Der überflüssige Überhang – Reformvorschläge, in: ZParl. 1996, S. 393 ff. (395 f.), sowie das von Bundesinnenminister entwickelte sog. repräsentanzfördernde Kompensationsmodell, BT-Drucks. 13/5575. 54 Dazu Gerald H. Mann, Die unumgängliche Umkehr bei der Berechnung von Überhangmandaten, in: ZParl. 1996, S. 398 ff. (402). 55 Dazu Rolf Schmidt, Überhangmandate – Ist ein Ausgleich verfassungsrechtlich geboten?, in: ZRP 1995, S. 91 ff. (93); gegen die Einführung von Ausgleichsmandaten aber Waldemar Schreckenberger, Zum Streit um die Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate, in: ZParl 1995, S. 678; Helmut Nicolaus, Die unzulängliche Rechtfertigung der Überhangmandate – Aufklärungsversuche, in: ZParl 1996, S. 383 ff. (393). 56 So auch Meyer (Anm. 51), KritVj 77 (1994), S. 312 ff. (346/347). 57 Dazu schon oben III. 58 Zum Folgenden eingehend Backhaus (Anm. 18), DVBl. 1997, S. 737 ff. (740 ff.). 59 BVerfGE 95, 335, 349. 60 Zum Begriff BVerfGE 95, 335, 354; Meyer (Anm. 7), DVBl. 2009, S. 137 ff. (138). 61 BVerfGE 6, 84, 90; 6, 104, 111. 62 BVerfGE 95, 335, 349. 63 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 208, 248, 256.

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für die verschiedenen Wahlsysteme unterschiedliche, systemspezifische Anforderungen zu entnehmen sind, von denen nur bei Vorliegen eines „zwingenden Grundes“ abgewichen werden darf. Eine klare Abgrenzung der Bereiche, in denen weite Gestaltungsfreiheit besteht, von den Bereichen, in denen das Erfordernis des „zwingenden Grundes“ zu beachten ist, wäre umso wünschenswerter gewesen, als auch die „tragenden“ Richter an diesen „systemspezifischen Anforderungen“ festhalten, indem sie etwa den verhältniswahlrechtlichen Teil im Mischsystem dem Gebot der „spezifischen Erfolgswertgleichheit“64 unterwerfen. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Auch die 5 %-Sperrklausel lässt sich als Maßnahme zur Ausgestaltung des Wahlsystems begreifen, weil hierdurch das Prinzip der reinen Verhältniswahl mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments eingeschränkt wird65. Nach dem Ansatz der „tragenden“ Richter müsste dem Wahlgesetzgeber also auch insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum zustehen66. Diesen billigt das BVerfG dem Gesetzgeber aber hier gerade nicht zu67, sondern verlangt in ständiger, erst kürzlich bestätigter Rechtsprechung das Vorliegen eines besonderen, sachlich legitimierten, in der Vergangenheit als „zwingend“ bezeichneten Grundes68; dabei muss es sich um einen Grund handeln, der durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht ist, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann69. b) Die Annahme eines weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums bei der „Durchführung des Wahlsystems im Einzelnen“ erweckt auch mit Blick auf das Demokratiegebot Bedenken, welches den Gesetzgeber bei seiner Systemgestaltung bindet70. Weil das Volk in einer repräsentativen Demokratie seine Gewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG in Wahlen und Abstimmungen ausübt, besteht ein enger inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Gebot der Wahlgleichheit und dem Demokratieprinzip71. Demokratie als Volksherrschaft in dem Sinn, dass alle Gewalt vom Volk ausgeht (Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG), ist darum nur gewährleistet, wenn alle wahlberechtigten Bürger im Wahlakt gleich behandelt werden; gerade dieses egalitäre demokratische Prinzip bildet die Grundlage für die von Art. 38 Abs. 1 GG geforderte 64

BVerfGE 95, 335, 353. BVerfGE 1, 208, 247 f.; 6, 84, 94; 24, 300, 341; 41 399, 413, 421. Die 5 %-Klausel ist mit Blick auf die Wahlgleichheit ebenso zweifelhaft wie ausgleichslose Überhangmandate, vgl. Christofer Lenz, Grundmandatsklausel und Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht, in: NJW 1997, S. 1534 ff. (1536). 66 Ebenso Wolfgang Löwer, Aktuelle Verfassungsfragen, Rechtsgutachten erstattet dem deutschen Bundestag, 1996, S. 152; ähnlich Papier (Anm. 6), JZ 1996, S. 265 ff. (270 f.). 67 „Strenger Maßstab“: BVerfGE 120, 82, 106; 129, 300, 320. 68 BVerfGE 6, 84, 92; 51, 222, 236; 95, 408, 418 (Grundmandatsklausel); 129, 300, 320; BVerfG, NVwZ 2014, S. 439, 442 (Sperrklausel bei der Europawahl). 69 BVerfGE 95, 408, 418; 129, 300, 320; 130, 212, 227 f.; BVerfG, NVwZ 2014, 439, 442. 70 Vgl. dazu die Nachweise bei Backhaus (Anm. 18), DVBl. 1997, S. 737 ff. (740, Fn. 36). 71 Zutreffend betont in BVerfGE 131, 316 ff.: Gefahr, dass die Wähler das Vertrauen in den Wert der für die Zusammensetzung des Parlaments entscheidenden Zweitstimme und damit letztlich in die demokratische Integrität des Wahlsystems verlieren. 65

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und gewährleistete Wahlgleichheit72. Dass diese auch bei der Durchführung des Wahlsystems im Einzelnen dem Gesetzgeber zur Disposition stehen soll, entwertet die Gewährleistung des Art. 38 Abs. 1 GG deutlich. In systematischer Hinsicht ist hier zudem zu beachten, dass das GG dem in Art. 38 Abs. 3 GG erteilten Auftrag, das „Nähere“ zu bestimmen, in Art. 38 Abs. 1 GG den Grundsatz der Wahlgleichheit vorangestellt hat; dies zeigt, dass der Gesetzgeber den Auftrag zur Ausgestaltung des Wahlrechts insgesamt unter dem Vorbehalt der Wahrung von (strikter) Wahlrechtsgleichheit erteilen wollte73. c) Auch mit Blick auf den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien74 bestehen Bedenken, dem Gesetzgeber auch für die Ausgestaltung des Wahlrechts im Einzelnen einen weiten Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Denn auch dieser Grundsatz ist kraft des Demokratiegebots in einem strikten und formalen Sinn zu verstehen75. Eine Gleichbehandlung der Parteien kann nur dann garantiert werden76, wenn die beteiligten Wahlvorschläge nach der mathematischen Rundung des Mandatsverteilungsverfahrens annähernd gleich viele Stimmen für den Gewinn eines Mandats benötigen77. Darum müssen die Parteien gegen eine Fehlgewichtung der Wählerstimmen durch Zuweisung ausgleichsloser Überhangmandate im selben Maß geschützt sein wie etwa gegen eine übermäßig hohe Sperrklausel, für deren Verfassungsmäßigkeit nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats stets ein „zwingender Grund“ bestehen muss78. d) Das in diesem Zusammenhang häufig vorgebrachte argumentum a maiore ad minus, dem Gesetzgeber stehe es frei, ein reines Mehrheitswahlrecht einzuführen und so die nicht von Überhangmandaten begünstigten Parteien noch viel gravierender zu benachteiligen79, verfängt bei genauem Hinsehen nicht: Die personalisierte 72 BVerfGE 51, 222, 234; 78, 350, 357; 82, 322, 337; 95, 367, 368 („nicht tragende“ Richter). 73 BVerfGE 95, 367, 368 („nicht tragende“ Richter). 74 BVerfGE 85, 264, 297. 75 BVerfGE 82, 322, 337, BVerfG, NVwZ 2014, S. 439, 441. 76 Unterpaul (Anm. 53), NJW 1994, S. 3267 ff. (3268); dagegen den tragenden Richtern folgend Holger Jakob, Überhangmandat und Gleichheit der Wahl, Diss. Marburg 1998, S. 119/120: An der Ungleichbehandlung, die durch Überhangmandate entstehe, wirkten die Parteien nicht aktiv mit. Darum müsse beim Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien ein anderes Kriterium gelten als bei den Wählern (gleiche rechtliche Möglichkeit). 77 Bei der Bundestagswahl 1994 hatte die CDU wegen der angefallenen zwölf Überhangmandate für ein Mandat nur 65.941 Zweitstimmen gebraucht. Die SPD benötigte bei vier Überhangmandaten schon 68.017 Zweitstimmen. Noch gravierender war die Differenz zu den kleineren Parteien, insbesondere zu den „Grünen“, die im Vergleich zur CDU 3942 Zweitstimmen mehr für ein Mandat benötigten, vgl. die Berechnung in BVerfGE 95, 367, 389. 78 BVerfG, NVwZ 2014, 439, 442. 79 So etwa Steffen Kautz, Überhangmandate und die Gleichheit der Wahl, in: NJW 1995, S. 1871, 1873; Thomas Poschmann, Wahlrechtsgleichheit und Zweistimmensystem, in: BayVBl. 1995, S. 299, 300; Lenz (Anm. 38), AöR 121 (1996), S. 337 ff. (345). Dagegen schon BVerfGE 6, 84, 90 und BVerfGE 95, 367, 372 (nicht „tragende“ Richter); ebenso schon Hans-

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Verhältniswahl ist gegenüber einer Mehrheitswahl kein „minus“, sondern ein „aliud“. Denn bei der Mehrheitswahl ist mit der Auszählung der Stimmen der Wahlakt beendet, so dass sich die Frage der Wahlgleichheit im Sitzzuteilungsverfahren dort nicht mehr stellen kann; bei der personalisierten Verhältniswahl ist das gerade anders (vgl. § 6 Abs. 2 BWG). e) Ein zweiter Begründungsstrang der „tragenden“ Richter geht dahin, dass es sich bei den Überhangmandaten um Direktmandate handele, die darum (nur) dem Regime des Mehrheitswahlrechts unterworfen seien; auch aus diesem Grund sei die ausgleichslose Zuweisung solcher Mandate an eine Partei nicht am Maßstab der Erfolgswertgleichheit, sondern (nur) an dem der Erfolgschancengleichheit zu messen80. Dies begegnet aus zwei Gründen Bedenken: aa) Überhangmandate sind – wie die „nicht tragenden Richter“ zutreffend betonen81 – keine Direktmandate82, sondern Listenmandate. Direktmandate haben die (derzeit) 299 Abgeordneten inne, die nach den §§ 1 Abs. 2, 4, 5 BWG mit der Erststimme in den Wahlkreisen gewählt werden; mit der Zuteilung der Sitze an die in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerber ist die Mehrheitswahl beendet. Keines dieser Mandate ist ein Überhangmandat, weil kein Wähler bei der Mehrheitswahl den Inhaber eines Überhangmandats wählen kann83; die „tragenden“ Richter räumen dies indirekt selbst ein, indem sie ausführen, es lasse sich nicht feststellen, welches einzelne Mandat einen „Überhang“ bilde84. Überhangmandate entstehen vielmehr erst im Rahmen der Sitzzuteilung nach § 6 Abs. 2 BWG, wenn sich zeigt, dass nicht alle Listenmandate, die eine oder mehrere Parteien errungen haben, auf die in den Wahlkreisen errungenen Direktmandate angerechnet werden können. Darum muss die Zahl der 299 (regulären) Listenmandate erhöht werden („Unterschiedszahl“ i.S.v. § 6 Abs. 5 Satz 2 BWG); die dabei entstehenden zusätzlichen Mandate können nur aus den Landeslisten der Parteien besetzt werden. Überhangmandate sind darum als Listenmandate dem verhältniswahlrechtlichen Teil der Wahl zuzuordnen85. Folgerichtig sind sie auch nach den Maßstäben der Verhältniswahl (Prinzip der Erfolgswertgleichheit) zu beurteilen. bb) Allein diese Lösung bringt auch die grundrechtsgleiche Gewährleistung der Gleichheit der Wahl (und auch der Chancengleichheit der Parteien) effektiv zur GelJustus Rinck, Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und das Bonner Grundgesetz, in: DVBl. 1958, S. 221 ff. (223); Herzog (Anm. 38), Rechtsgutachten zu der Vereinbarkeit der Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen (Dreier-Wahlkreissystem) mit dem Grundgesetz, 1968, S. 58. 80 BVerfGE 95, 335, 357; den „tragenden Richtern“ folgend Badura (Anm. 52), JZ 1997, S. 681 ff. (683). 81 BVerfGE 95, 367, 380. 82 Bereits Meyer (Anm. 51), KritVj 77 (1994), S. 312 ff. (346). 83 BVerfGE 95, 367, 381 („nicht tragende“ Richter). 84 BVerfGE 95, 335, 362. 85 BVerfGE 95, 367, 381 („nicht tragende Richter“).

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tung. Denn die von den „tragenden“ Richtern implementierte „Erfolgschancengleichheit“ reduziert die Wahlgleichheit auf eine gleiche Chance des Wählers auf Teilhabe an einem ungleichen Ergebnis86; der Wähler hat allenfalls noch die Chance, zu der privilegierten Gruppe zu gehören, die infolge der Zuweisung der Überhangmandate auf die Zusammensetzung des Parlaments stärkeren Einfluss87 nehmen kann als die Wähler einer Partei, die keine Überhangmandate errungen hat88. Überdies haben diese Chance in der Praxis nur Wähler der großen (namentlich CDU/CSU, SPD)89, nicht aber der kleineren Parteien (Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Piraten, AfD), weil diese unter den derzeit gegebenen Verhältnissen keine Aussicht auf Direktmandate und damit auf Überhangmandate haben. Und noch ein Weiteres kommt hinzu: Das Kriterium der Erfolgschancengleichheit öffnet bei konsequenter Handhabung Weiterungen Tür und Tor90, die bislang durchgängig für verfassungsrechtlich unzulässig erachtet wurden, so etwa einer Prämie durch Zuweisung zusätzlicher Mandate an die bei der Wahl stärkste Partei91. Denn auch hier haben ex ante betrachtet die Wähler die gleiche Chance, der von ihnen favorisierten Partei zu dieser Prämie zu verhelfen – nicht anders, als es sich bei den Überhangmandaten verhält.

V. BVerfGE 95, 367 ff. („nicht tragende“ Richter): Die (fast) „reine Lehre“ von der Erfolgswertgleichheit 1. Demgegenüber wenden sich die „nicht tragenden“ Richter in der Entscheidung vom 10. 4. 1997 gegen eine Beschränkung des Grundsatzes der Wahlgleichheit auf eine – nur im Mehrheitswahlrecht hinreichende – Erfolgschancengleichheit92 und votieren für eine strikte Bindung des deutschen Wahlgesetzgebers an die durch Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistete Erfolgswertgleichheit93. Dieser Grundsatz gelte nämlich nicht nur in einem reinen Verhältniswahlrecht, sondern auch bei der personalisierten Verhältniswahl nach § 1 Abs. 1 BWG, weil auch hier die regulären Sitze 86 So im Ergebnis auch Jakob (Anm. 76), S. 115, der jedoch entgegen den „tragenden Richtern“ gar keine Ungleichbehandlung feststellt. 87 Bei den Überhangmandaten kommt es zur Verdoppelung der Stimmen, denn sowohl die Erst- als auch die Zweitstimme haben Mandatsrelevanz, s. dazu schon oben I.; ferner Ingo von Münch/Philip Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl., 2012, Art. 38, Rn. 61. 88 So richtig BVerfGE 95, 335, 371 („nicht tragende Richter“). Anders Kautz (Anm. 79), NJW 1995, S. 1871 ff. (1872): Auch die Erststimmen, die für einen unterlegenen Wahlkreisbewerber abgegeben werden, hätten keinen Erfolgswert. Das überzeugt nicht. Die Mehrheitswahl darf den mit der Verhältniswahl geforderten Proporz nicht außer Kraft setzen; s. dazu auch Unterpaul (Anm. 53), NJW 1994, S. 3267 ff. (3269). 89 In den neuen Bundesländern auch die Wähler der „Linken“. 90 So auch Lenz (Anm. 65), NJW 1997, S. 1534 ff. (1536). 91 Kritisch hierzu Meyer (Anm. 51), KritVj 77 (1994), S. 312 ff. (336). 92 BVerfGE 95, 367, 370 f. 93 BVerfGE 95, 367, 371 f. gegen Lenz (Anm. 38), AöR 121 (1996), S. 337 ff. (345), der auch im (personalisierten) Verhältniswahlrecht nur die Erfolgschancengleichheit als gewährleistet ansieht.

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im Parlament nach dem Verhältnis der Wählerstimmen verteilt würden und Elemente der Mehrheitswahl nur insoweit inkorporiert seien, als durch die Erststimme eine personenbezogene Wahl ermöglicht werden solle94. Erfolgswertgleichheit sei in einem solchen Wahlsystem auch im Bereich des Verfahrens der Sitzzuteilung und damit für die Zuweisung von Überhangmandaten von Verfassungs wegen gefordert95. Blieben solche Mandate, die eine Partei in einem Bundesland erzielt habe, ohne Ausgleich erhalten, hätten die Wähler dieser Partei mit ihrer Stimme einen größeren Erfolg erzielt als die Wähler von Parteien, die keine Überhangmandate errungen hätten96. Damit sei das Gebot der Erfolgswertgleichheit berührt. Zu rechtfertigen sei dies – abgesehen von den bei der Umrechnung der Wählerstimmen in Sitze zwangsläufig auftretenden Ungleichheiten97 – mit Blick auf Art. 38 Abs. 1 GG nur, wenn die Ungleichbehandlung dem Zweck diene, die staatspoltischen Ziele einer Parlamentswahl zu verfolgen oder Störungen des Staatslebens entgegenzuwirken und zur Erreichung dieses Zwecks auch erforderlich sei98. Hieran fehle es jedoch. Es sei möglich, alle Mandate einschließlich der Überhangmandate unter gleichzeitiger Wahrung der Erfolgswertgleichheit zuzuteilen, und zwar entweder durch Ausgleichsmandate99 oder durch einen bundesweiten Verhältnisausgleich100. Von diesen Möglichkeiten habe der Gesetzgeber jedoch keinen Gebrauch gemacht. Die ausgleichslose Zuweisung von Überhangmandaten nach § 6 Abs. 5 BWG (in der Fassung vom 23. Juli 1993101) verletze danach – unter den Bedingungen des Jahres 1997 – zwar nicht das Gebot der Unmittelbarkeit102, wohl aber das der Gleichheit der Wahl und zudem das der Chancengleichheit der Parteien103. 2. Damit sind die grundlegenden Unterschiede zwischen der Auffassung der „tragenden“ und der „nicht tragenden“ Richter deutlich geworden: Die „tragenden“ Richter halten (nur) im Ergebnis an der bisherigen Rechtsprechung des Zweiten Senats zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von ausgleichslosen Überhangmandaten fest104, weichen aber in der Begründung dieses Ergebnisses von dieser Rechtsprechung ab, indem sie dem Wahlgesetzgeber für den Bereich der Systembestimmung einen weiten Gestaltungsspielraum einräumen und die Entscheidung für den Bestand 94

BVerfGE 95, 367, 373 f. BVerfGE 95, 367, 370, 376. 96 BVerfGE 95, 367, 375 f. 97 BVerfGE 95, 367, 395 ff.; auch schon in 79, 169, 172. 98 BVerfGE 95, 367, 376 f. 99 BVerfGE 95, 367, 395, 403 f. 100 BVerfGE 95, 367, 400 ff.; hierfür auch Meyer (Anm. 7), DVBl. 2009, S. 137 ff. (142 ff.); vgl. auch Nohlen (Anm. 15), ZParl. 2009, S. 179 ff. (192). 101 BGBl. I, S. 1288. 102 So unter Hinweis auf die „tragenden“ Richter BVerfGE 95, 367, 391 ff. 103 BVerfGE 95, 367, 389 f. 104 So richtig auch BVerfGE 95, 367, 385 („nicht tragende“ Richter). Ebenso sehen dies aber auch die „tragenden“ Richter, BVerfGE 95, 335, 358: „An dieser Rechtsprechung ist im Ergebnis festzuhalten“. 95

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ausgleichsloser Überhangmandate diesem Bereich zuweisen. Dagegen wollen die „nicht tragenden“ Richter für das gesamte Wahlverfahren am Erfordernis des „zwingenden Grundes“ für Abweichungen von der Erfolgswertgleichheit und damit an den Grundlagen der bisherigen Rechtsprechung des Zweiten Senats festhalten105; sie halten aber angesichts der nunmehr gegebenen Kompensationsmöglichkeiten106 einen solchen „zwingenden Grund“ nicht mehr für gegeben. 3. Die Vorzüge dieses Lösungswegs sind evident: Einerseits kann der Grundsatz der Erfolgswertgleichheit jeder Wählerstimme – abgesehen von den unvermeidlichen Nachteilen durch Auf- oder Abrundungen bei der Umrechnung der Wählerstimmen in Sitze107 – konsequent durchgeführt werden. Zugleich wird aber auch besonders das Anliegen der „personalisierten Verhältniswahl“, in allen Wahlkreisen Abgeordnete nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl zu bestimmen, uneingeschränkt realisiert. Gleichwohl konnte sich dieses Konzept im Jahr 1997 noch nicht durchsetzen. Vielmehr sollten bis zur Implementierung dieses Modells in der Praxis durch das 22. Änderungsgesetz zum BWG vom 3. Mai 2013 noch 16 Jahre vergehen108. VI. BVerfGE 121, 267 ff.: Das „negative Stimmgewicht“ In dieser Entscheidung ging es nicht direkt um die Verfassungsmäßigkeit ausgleichsloser Überhangmandate, sondern um ein Phänomen, das durch solche Mandate im Zusammenspiel mit der – damals bestehenden – Fiktion der Verbindung der Landeslisten einer Partei nach § 7 BWG hervorgerufen werden konnte. Dieses Paradoxon bestand darin, dass in einem Bundesland, in dem eine Partei Überhangmandate erzielt hatte, diese Partei (bundesweit) zusätzliche Mandate dadurch erhalten konnte, dass für sie in dem Bundesland, in dem die Überhangmandate angefallen waren, weniger (Zweit-)Stimmen abgegeben wurden. Das beruhte darauf, dass zusätzliche Stimmen für diese Partei in dem Land, in dem die Überhangmandate angefallen waren, dazu geführt hätten, dass die Partei dort zusätzliche Listenmandate erhalten hätte, die aber mit den Überhangmandaten verrechnet worden wären und somit nicht zu einer höheren Zahl von Sitzen im Bundestag geführt hätten. Ohne diese zusätzlichen Stimmen konnten dagegen andere Landeslisten dieser Partei in Ländern, in dem für sie keine Überhangmandate angefallen waren, zusätzlich weitere Sitze erhalten. Die von den Überhangmandaten begünstigte Partei konnte darum durch eine höhere Zahl von für sie abgegebenen Zweitstimmen bezüglich der Zahl ihrer Mandate insgesamt schlechter stehen109. Besonders gravierende Auswirkungen 105

So eindeutig BVerfGE 95, 367, 387. S. oben IV. 2. 107 BVerfGE 95, 367, 378. 108 S. dazu näher unten VIII. 109 S. dazu Dirk Ehlers/Marc Lechleitner, Die Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten, in: JZ 1997, S. 761, 763; Meyer (Anm. 51), KritVj 77 (1994), S. 312 ff. (321). Ebenfalls zu diesem Befund BVerfGE 121, 266, 274/275. 106

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hat dieser Effekt, wenn in einem Wahlbezirk nach § 43 BWG eine Nachwahl durchgeführt werden muss, weil die Wähler in diesem Fall diesen Effekt bewusst zugunsten der von ihnen favorisierten Partei einsetzen können, indem sie mit ihrer Zweitstimme eine andere Partei wählen110. 2. Das BVerfG hat durch Urteil vom 3. Juli 2008111 entschieden, dass die §§ 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit 6 Abs. 4 und 5 BWG in der Fassung vom 11. März 2005 verfassungswidrig seien, soweit hierdurch das Phänomen des „negativen Stimmgewichts“ ermöglicht werde. Wie heftig dieses Verdikt ausfiel112, belegen die Gründe der Entscheidung: Ein Berechnungsverfahren, das dazu führe, dass eine Wählerstimme für eine Partei eine Wirkung gegen diese Partei habe, widerspreche dem Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl113, lasse den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten als „widersinnig“ erscheinen und beeinträchtige darum den Grundsatz der Stimmengleichheit bei der Wahl „in eklatanter Weise“114 ; daneben sei auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verletzt115. 3. Der Zweite Senat hat sein verfassungsrechtliches Verdikt in dieser Entscheidung strikt auf den Effekt des „negativen Stimmgewichts“ beschränkt; auf die Verfassungskonformität der ausgleichslosen Überhangmandate geht er – wohl bewusst – nicht explizit ein. Und doch lässt das Urteil – gewissermaßen zwischen den Zeilen – ein Unbehagen gegenüber diesem Phänomen erkennen. So wird im Maßstabsteil der Grundcharakter des Wahlsystems des BWG als Verhältniswahl und die Maßgeblichkeit der Erfolgswertgleichheit in einem solchen System hervorgehoben116. Ebenso wird insoweit an die frühere Senatsrechtsprechung angeknüpft, als das Erfordernis des „zwingenden Grundes“ für Differenzierungen betont wird; diese müssten 110 So verhielt es sich bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag im Wahlkreis 160 (Dresden), wo durch das Versterben einer Direktkandidatin der NPD eine Nachwahl erforderlich geworden war, bei der die Wähler aus taktischen Gründen der CDU weniger Zweitstimmen gegeben haben, sodass sie ihr drittes Zweitstimmenmandat im Saarland behalten konnte, vgl. dazu die Ausführungen bei Volker M. Haug, Entscheidungsbesprechung: Blick auf das Wahlrechtsurteil vom 25. Juli 2012, S. 658, 659. 111 BVerfGE 121, 266 ff. 112 Trotz der nach Ansicht des BVerfG eindeutigen Verfassungswidrigkeit des „negativen Stimmgewichts“, hat das Gericht dem Gesetzgeber nicht aufgegeben, diese bis zur nächsten Bundestagswahl im Jahre 2009 zu beseitigen. Begründet wurde dies mit der Komplexität des Regelungsauftrags, dem kurzen Zeitraum für die Änderung des Wahlgesetzes und der daraus resultierenden Gefahr, dass die „Alternativen nicht in der notwendigen Weise bedacht und erörtert werden können“, BVerfGE 121, 366, 316. Kritisch dazu Gerald Roth, Entscheidungsbesprechung. Negatives Stimmgewicht und Legitimationsdefizite des Parlaments, in: NVwZ 2008, S. 1199 ff. (1200, 1201); Meyer (Anm. 7), DVBl. 2009, S. 137; zustimmend dagegen Michael König, Paradoxie des negativen Stimmgewichts, in: ZG 2009, S. 177 ff. (193 ff.). 113 BVerfGE 121, 266, 300. 114 BVerfGE 121, 266, 299. 115 BVerfGE 121, 266, 307 f. 116 BVerfGE 121, 266, 296/297.

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durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das der Wahlgleichheit die Waage halten könne117. An prominenter Stelle wird zudem hervorgehoben, dass der verfassungswidrige Effekt des „negativen Stimmgewichts“ nur im Zusammenhang mit Überhangmandaten auftreten könne118. Und schließlich weist der Senat in seiner „Segelanweisung“ am Ende der Entscheidung ausdrücklich darauf hin, dass der Gesetzgeber den festgestellten Verfassungsverstoß nicht nur durch die Beseitigung der Listenverbindungen nach § 7 BWG (damaliger Fassung), sondern auch durch Verrechnung von Direktmandaten mit Zweitstimmenmandaten oder dadurch beseitigen könne, dass das Entstehen von Überhangmandaten von vornherein verhindert werde119. Vielleicht kann man dies als vorsichtige Empfehlung des Gerichts für eine Abschaffung ausgleichsloser Überhangmandate deuten120. VII. BVerfGE 131, 316 ff.: Kappung der ausgleichslosen Überhangmandate 1. Das Urteil des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012 bildet den (bisherigen) Endpunkt der Diskussion um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit ausgleichsloser Überhangmandate. Das BVerfG hat hier salomonisch im Sinn eines „ja, aber“ entschieden; es liegt nicht ganz fern, dass sich im Senat – nicht anders als im Jahr 1997 – Befürworter und Kritiker der Überhangmandate gegenüber standen, und dass der in der Entscheidung befürwortete Weg einen Kompromiss darstellt, auf den sich – anders als 1997 – beide Lager verständigen konnten121: Ausgleichslose Überhangmandate sind danach grundsätzlich zulässig, aber nur in beschränktem Umfang; sie dürfen die Hälfte der für die Bildung einer Bundestagsfraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten, also die Zahl von 15, nicht überschreiten122. a) In Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung geht der Senat davon aus, das System des BWG weise den Grundcharakter einer Verhältniswahl auf123. Der Verhältnisausgleich nach § 6 Abs. 4 BWG unterliege daher unbeschränkt den Anforderungen der Erfolgswertgleichheit124, Abweichungen hiervon bedürften einer 117

BVerfGE 121, 266, 297. BVerfGE 121, 266, 267. 119 BVerfGE 121, 266, 315. 120 Deutlicher Roth (Anm. 112), NVwZ 2008, S. 1199 ff. (1200), der die Entscheidung für „inkonsistent“ hält, weil die ausgleichslosen Überhangmandate unter Zugrundelegung des Maßstabs der Erfolgswertgleichheit, dessen sich das BVerfG bei der Beurteilung des „negativen Stimmgewichts“ bedient (BVerfGE 121, 266, 299), nicht begründbar seien. 121 So auch Martin Morlok, Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG vom 25. 7. 2012 – 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11, in: NVwZ 2012, S. 1101, 1117. 122 BVerfGE 131, 316, 357. 123 BVerfGE 131, 316, 359. Anders etwa Volker M. Haug, Entscheidungsbesprechung. Blick auf das Wahlrechtsurteil vom 25. Juli 2012, in: ZParl. 2012, S. 658 ff. (673) (Mischmodell von Mehrheits- und Verhältniswahl). 124 BVerfGE 131, 316, 361. 118

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Rechtfertigung125. Die Zuteilung ausgleichsloser Überhangmandate führe dazu, dass die Wähler der hiervon begünstigten Partei auch mit ihrer Erststimme Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages nähmen und sei damit eine solche rechtfertigungsbedürftige Differenzierung; in gleicher Weise werde hierdurch der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien berührt126. b) Diese Differenzierung beim Erfolgswert der Wählerstimmen sei zwar nicht dem Wahlsystem immanent, durch den föderalen Proporz gefordert oder im Sinne einer Sicherung stabiler Mehrheitsverhältnisse notwendig127; sie sei jedoch in begrenztem Umfang durch das Anliegen gerechtfertigt, die Verhältniswahl mit den Vorteilen der Personenwahl zu verbinden128. Zwar könne der durch Überhangmandate gestörte Proporz durch die Zuteilung von Ausgleichsmandaten wieder hergestellt werden. Doch führe das zu einer im Einzelnen nicht vorhersehbaren Erhöhung der Sitzzahl des Bundestages durch weitere Listenmandate; das Ziel, die Abgeordneten des Bundestags zur Hälfte personenbezogen zu legitimieren129, werde so verfehlt. c) Die ausgleichslosen Überhangmandate dürften aber nicht dazu führen, dass der Grundcharakter einer Verhältniswahl aufgehoben werde130 ; der Verhältnisausgleich müsse vielmehr den Regelfall darstellen, weil sonst das Vertrauen des Wählers in das Gewicht der Zweitstimme und die demokratische Integrität des Wahlsystems verloren gehen könne131. In welchem Umfang ausgleichslose Überhangmandate hinzunehmen seien, könne – im Gegensatz zur Auffassung der „tragenden“ Richter im Urteil vom 10. April 1997 – nicht am Fünf-Prozent-Quorum orientiert werden, da dieses in keinem Zusammenhang mit dem Gebot der Wahlgleichheit stehe; möglich sei aber eine Anknüpfung an § 10 Abs. 1 GOBT, wonach der Fraktionsstatus nur Vereinigungen von mindestens 5 % der Mitglieder des Bundestags zukommen könne132. Überhangmandate seien darum, wenngleich das als Akt richterlicher Normkonkre125

BVerfGE 131, 316, 361. BVerfGE 131, 316, 362, 363. 127 BVerfGE 131, 316, 364, 365; zum föderalen Proporz auch schon BVerfGE 6, 84, 99; 16, 130, 143; 95, 367, 401 f. („nicht tragende“ Richter): Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, föderale Belange bei der Gestaltung des Wahlrechts zum Bundestag als dem unitarischen Vertretungsorgan zu berücksichtigen. 128 BVerfGE 131, 316, 364, 365; kritisch dazu Morlok (Anm. 120), NVwZ 2012, S. 1116: Die meisten Kandidaten in einem Wahlkreis träten nicht nur auf, um für sich Erststimmen zu sammeln, sondern auch mit Blick auf den Gewinn von Zweitstimmen für ihre Partei. Außerdem dominiere bei „sicheren“ Wahlkreisen ohnehin nicht die personale Komponente. Besonders ungereimt erscheine der personale Bezug zu einem Wahlkreis bei einem Direktkandidaten, der mit nur 30 % der Stimmen die relative Mehrheit in seinem Wahlkreis errungen habe, so dass sich etwa zwei Drittel der Wähler gegen ihn ausgesprochen hätten; vgl. auch Ipsen (Anm. 15), Staatsrecht I, Rn. 121; Hartmut Maurer, Staatsrecht, 6. Aufl. 2010, § 13, Rn. 20 ff. 129 BVerfGE 131, 316, 366/367. 130 BVerfGE 131, 316, 367. 131 BVerfGE 131, 316, 367. 132 BVerfGE 131, 316, 368/369. 126

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tisierung nicht vollständig begründbar sei133, dann mit Blick auf die Wahlgleichheit nicht mehr hinnehmbar, wenn ihre Zahl über die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von etwa 15 Abgeordneten hinausgehe134. Da diese Zahl bei der Bundestagswahl 2009 deutlich überschritten worden sei und dies angesichts der Parteienlandschaft auch in Zukunft zu erwarten sei, bestehe für den Gesetzgeber nunmehr Handlungsbedarf135. 2. a) Das Urteil vom 25. Juli 2012 ist zunächst insofern uneingeschränkt zu begrüßen, als es unmissverständlich klarstellt, dass ausgleichslose Überhangmandate auch im System der personalisierten Verhältniswahl einen rechtsfertigungsbedürftigen Eingriff in die durch Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistete Wahlgleichheit darstellen; die Erwägungen der „tragenden“ Richter zum weiten Gestaltungsspielraum des Wahlgesetzgebers und zu einer Reduzierung der Erfolgswertgleichheit auf eine Erfolgschancengleichheit bei der Wahlsystembestimmung im Urteil vom 10. April 1997 sind damit vom Tisch136, und die Maßstäbe der voraufgegangenen, kontinuierlichen Rechtsprechung des Zweiten Senats zur Wahlgleichheit gelten wieder ohne jede Einschränkung – auch wenn das im Urteil vom 25. Juli 2012 nicht explizit gesagt wird137. b) Die Argumente, mit denen der Senat den – zutreffend konstatierten – Eingriff in den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (in begrenztem Umfang) rechtfertigt, erscheinen nachvollziehbar, aber nicht zwingend. Dass Ausgleichsmandate zu einer Erhöhung der Zahl der Sitze im Bundestag führen, ist – wie die Bundestagswahl von 2013 gezeigt hat138 – zutreffend, wird aber für sich genommen auch vom Senat wohl nicht als ausreichend angesehen, um den Eingriff in die Wahlgleichheit zu legitimieren139. Richtig ist auch die Feststellung des Senats, dass die Vergabe von Ausgleichsmandaten dazu führt, dass entgegen § 1 Abs. 2 BWG nicht mehr genau die Hälfte aller Abgeordneten in den Wahlkreisen gewählt wird, sondern die Zahl der Listenmandate die der Wahlkreismandate überschreitet. Weniger zu überzeugen vermag allerdings die Wertung, der Gesetzgeber habe den mit der Zulassung ausgleichsloser Überhangmandate verbundenen Verstoß gegen die Wahlgleichheit dem Bestreben

133

BVerfGE 131, 316, 370. BVerfGE 131, 316, 369/370. 135 BVerfGE 131, 316, 370 – 373. 136 So auch Haug (Anm. 123), ZParl., 2012, S. 658 ff. (670 ff.) („Ermessensspielraum auf Null reduziert“), der diesem Weg des BVerfG allerdings kritisch gegenübersteht. 137 S. aber BVerfGE 131, 316, 361/362, wo eine Änderung des Maßstabs durch die „tragenden“ Richter (95. Band) schlechthin in Abrede gestellt wird. Kritisch hierzu Haug (Anm. 123), ZParl. 2012, S. 658 ff. (670, 671/672). 138 Dort standen vier Überhangmandaten 29 Ausgleichsmandate gegenüber, was die Zahl der Abgeordneten im 18. Deutschen Bundestag auf 631 erhöht hat, s. das amtliche Endergebnis, abrufbar unter www.bundeswahlleiter.de. 139 BVerfGE 131, 316, 366: „…. abgesehen von damit verbundenen Praktikabilitätsproblemen …“. 134

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nach Parität zwischen Wahlkreis- und Listenmandaten hintanstellen dürfen140. Denn zum einen ist auch bei der Zuteilung von Ausgleichsmandaten gewährleistet, dass jedem Wahlkreis ein Direktmandat zugeteilt wird und darum – nicht anders als ohne Ausgleichsmandate – in jedem Wahlkreis ein Abgeordneter vorhanden ist, der über die angestrebte enge persönliche Beziehung zu den Wählern dort verfügt; die Kommunikation zwischen dem Abgeordneten und „seinem“ Wahlkreis wird darum durch die Ausgleichsmandate nicht gestört. Und zudem ist zu bedenken, dass – wie auch der Senat zutreffend erkennt – die ausgleichslosen Überhangmandate die Gefahr in sich tragen, dass hierdurch bei den Wählern das Vertrauen in die demokratische Integrität des Wahlsystems verloren geht141. Dies aber wiegt deutlich schwerer als der Aspekt der Parität von Wahlkreis- und Listenmandaten. c) Den Kompromisscharakter der Entscheidung verdeutlichen auch die Erwägungen, mit denen der Senat zu einer Höchstgrenze von etwa 15 ausgleichslosen Überhangmandaten gelangt. Dass diese Grenze nach Ansicht des Senats nicht in Anknüpfung an die 5 %-Sperrklausel gefunden werden kann, weil zwischen dem Aspekt der Funktionsfähigkeit des Parlaments, der die Sperrklausel rechtfertigt142, und der Wahlrechts- und Chancengleichheit kein Zusammenhang besteht143, ist gewiss zutreffend. Ein solcher Zusammenhang besteht aber auch zwischen der Wahlgleichheit und dem vom Senat nunmehr bevorzugten Anknüpfungskriterium der Fraktionsstärke nicht, und zwar schon darum nicht, weil die Überhangmandate unterschiedlichen Parteien zufallen können und in diesem Fall kaum davon gesprochen werden kann, dass die „Überhänger“ eine „eigenständige politische Kraft im Parlament144“ darstellten. Ebenfalls nicht recht deutlich wird, warum bei einer Anknüpfung an das Kriterium „Fraktionsstärke“ ausgleichlose Überhangmandate bereits dann verfassungsrechtlich unzulässig sein sollen, wenn ihre Zahl die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet145; zu Recht und in erfrischender Deutlichkeit weist der Senat in diesem Zusammenhang selbst darauf hin, dass diese Zahl „nicht vollständig begründet werden kann“, also „gegriffen“ ist. d) Aufschlussreich ist schließlich auch die eher beiläufige Bemerkung des Senats, es sei Sache des Gesetzgebers festzulegen, wie mit den über die Grenze von 15 hinausgehenden Überhangmandaten zu verfahren sei, und Alternativen zum geltenden Wahlsystem ins Auge zu fassen146, falls eine solche Regelung nicht gefunden werden könne147. Hier wird eine gewisse Skepsis des Senats erkennbar, ob und gegebenenfalls mit welchem legislatorischen Aufwand eine Differenzierung zwischen aus140

BVerfGE 131, 316, 366. BVerfGE 131, 316, 367. 142 BVerfGE 129, 300, 310. 143 BVerfGE 131, 316, 369. 144 So BVerfGE 131, 316, 369. 145 BVerfGE 131, 316, 369. 146 BVerfGE 131, 316, 372. 147 BVerfGE 131, 316, 370. 141

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gleichslosen und ausgleichungspflichtigen Überhangmandaten erreicht werden kann. Ob hierin auch eine Empfehlung des Senats für einen praktisch einfacher realisierbaren vollen Ausgleich der Überhandmandate gesehen werden kann, muss offen bleiben. VIII. Die Lösung des Gesetzgebers: Abschaffung ausgleichsloser Überhangmandate Der durch das Urteil vom 25. 7. 2012 erteilte Regelungsauftrag des BVerfG wurde durch das 22. Gesetz zur Änderung des BWG vom 3. Mai 2013 erfüllt148. Dabei ging der Gesetzgeber über die Vorgaben des Gerichts insoweit hinaus, als er von der Option des Senats, 15 ausgleichslose Überhangmandate zuzulassen und erst oberhalb dieser Grenze eine Ausgleichung vorzusehen, keinen Gebrauch gemacht, sondern alle Überhangmandate ausgleichungspflichtig ausgestaltet hat. Diese „überschießende“ Umsetzung hat wohl zum einen wahlrechtsdogmatische, aber auch pragmatische und politische Gründe: 1. Die vom Gesetzgeber gewählte Lösung ist im Gegensatz zum Urteil des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012 keine Kompromisslösung. Sie setzt auch nicht diese Entscheidung 1:1 um, sondern die Lösung der „nicht tragenden“ Richter im Urteil vom 10. April 1997: Nicht erst das sechzehnte, sondern schon das erste angefallene Überhangmandat wird durch Ausgleichsmandate kompensiert149; damit können – wie es in den Materialien richtig heißt – „im Ergebnis keine Überhangmandate mehr auftreten“150. Der Gesetzgeber hat damit die Lösung gewählt, die dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit aller Wählerstimmen am nächsten kommt, gleichzeitig aber auch eine Zuteilung aller in den Wahlkreisen errungenen Direktmandate ohne Wegfall von Listenmandaten in anderen Bundesländern gewährleistet. Damit wird dem vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung betonten Grundcharakter der Bundestagswahl als einer Verhältniswahl151 so weit als möglich Rechnung getragen. Lediglich die von § 1 Abs. 2 BWG angestrebte Parität von Direkt- und Listenmandaten und einen vollständigen föderalen Proporz bei der Unterverteilung der Sitze auf die einzelnen Landeslisten152 vermag dieses Modell nicht zu leisten. Doch hat nach dem oben (VII. 2. c)) Gesagten das erstgenannte Defizit gegenüber dem Grundsatz der Wahlgleichheit geringeres Gewicht. Und föderale Belange muss der Gesetzgeber 148

BGBl. I, S. 1082. Kritisch zu der Einführung von Ausgleichsmandaten in Bezug auf das Bundesstaatsprinzip, Peter Badura, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff, Bonner Kommentar 2014, Anhang zu Art. 38, Rn. 58. 150 So die Begründung des Entwurfs zum 22. Gesetz zur Änderung des BWG, BTDrucks. 17/11819 vom 11. 2. 2012, S. 5. 151 S. dazu BVerfGE 6, 84, 90; 13, 127, 129; 16, 130, 139; 66, 291, 304; 95, 335, 357 f.; 121, 266, 297; 131, 316, 359. 152 So benötigte bei der Bundestagswahl 2013 die CDU in Hessen 58.714 Stimmen für ein Listenmandat, während für die CDU in Thüringen wegen eines dort angefallenen Überhangmandats nur 53.031 Stimmen genügten. 149

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bei der Gestaltung des Wahlrechts zum Bundestag als dem unitarischen Vertretungsorgan des Volkes ohnehin nicht berücksichtigen153. 2. Das im Mai 2013 in Kraft getretene Wahlrecht hat auch den Vorteil, dass es unter Beachtung der vom BVerfG gemachten Vorgaben die einfachste aller denkbaren Lösungen darstellt: Die Sitzzuteilung nach Maßgabe von § 6 Abs. 6 BWG (aktueller Fassung) erfolgt zwar nach einer ziemlich komplizierten Berechnung154; diese war aber, wenn am System der personalisierten Verhältniswahl festgehalten werden sollte, nach den Vorgaben des Urteils vom 25. Juli 2012 ohnehin unumgänglich. Sie wäre sogar noch schwieriger ausgefallen, wenn der Gesetzgeber entsprechend der vom BVerfG eröffneten Option zwischen ausgleichslosen und ausgleichungspflichtigen Überhangmandaten differenziert hätte. Und der Auftrag des BVerfG, gegebenenfalls „Alternativen zum geltenden Wahlsystem ins Auge zu fassen“155, hätte, wenn der Gesetzgeber ihn aufgegriffen hätte, wohl das Ende der „personalisierten Verhältniswahl“ bedeutet. 3. Das 22. Gesetz zur Änderung des BWG beruht auf einem gemeinsamen Entwurf aller Parteien, die bisher auf Bundesebene Regierungsverantwortung getragen haben (CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen). Dass diese Parteien einen gemeinsamen Weg gefunden haben, der sich zwar innerhalb der Vorgaben des BVerfG hält, aber den vom Gericht eröffneten Rahmen nicht vollständig ausschöpft, verdient allen Respekt und belegt, dass das Parlament auch schwierige Aufgaben selbständig und ohne „Hilfestellung aus Karlsruhe“ zu lösen vermag. Zwar war dabei zweifellos auch politischer Kalkül im Spiel: Die kleineren Parteien wie die FDP und die „Grünen“ hatten in der Vergangenheit ohnehin nie von den Überhangmandaten profitiert; dass sich dies alsbald ändern könnte, ist nicht absehbar. Und die CDU/CSU, die bis 1994 überwiegend Nutznießerin der Überhangmandate gewesen war, musste bei der Bundestagswahl im Jahr 1998 schmerzlich erfahren, dass es sich hierbei um ein Spiel handelte, dass auch zu ihrem Nachteil ausgehen konnte156. Dies vermag aber nichts daran zu ändern, dass der allseitige und aus freien Stücken vollzogene Verzicht der vier Parteien auf dieses aleatorische Element im Wahlrecht uneingeschränkt zu begrüßen ist.

153

BVerfGE 6, 84, 99; 16, 130, 143; 95, 367, 401 f. („nicht tragende“ Richter). S. dazu das Berechnungsbeispiel in der aktuellen Mitteilung des Bundeswahlleiters vom 9. 10. 2013, abrufbar unter http://www.bundeswahlleiter.de/de/aktuelle_mitteilungen/down loads/20131009_Erl_Sitzzuteilung.pdf. Kritisch zur kaum mehr gegebenen Verständlichkeit des § 6 BWG Ipsen (Anm. 15), Staatsrecht I, Rn. 121. 155 BVerfGE 131, 316, 372. 156 13 Überhangmandate für die SPD (in Brandenburg), keines für die CDU/CSU. Auch im Jahr 2005 erzielte die SPD mehr Überhangmandate als die CDU/CSU. 154

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IX. Resümee und Ausblick 1. Unsere Retrospektive hat gezeigt, wie schwer sich das BVerfG mit dem Thema „Überhangmandate“ getan hat. Im Kern geht es darum, wie viel Mehrheitswahlrecht unser System der personalisierten Verhältniswahl in sich aufnehmen darf. Die Positionen, die in dieser Frage vertreten werden können, sind in der Entscheidung vom 10. April 1997 am deutlichsten thematisiert worden. Die nachfolgenden Entscheidungen (BVerfGE 121, 266 ff. und 131, 316 ff.) sind darum bemüht, beschränken sich aber auch darauf, die Schäden zu begrenzen, die sich aus ausgleichslosen Überhangmandaten für die durch Art. 38 Abs. 1 GG garantierte Wahlgleichheit ergeben können. Zu einer Lösung, die entsprechend dem Modell der „nicht tragenden“ Richter im Jahr 1997 das Anliegen der personalisierten Verhältniswahl und den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit zu einem vollständigen Ausgleich führt, konnte sich das Gericht nicht durchringen. Dies in Anknüpfung an das Votum der „nicht tragenden“ Richter 16 Jahre später realisiert zu haben, ist das Verdienst des Gesetzgebers. 2. Mit dem neuen Wahlrecht dürfte die verfassungsrechtliche Diskussion um die Überhangmandate in ruhigeres Fahrwasser gelangt sein. Die nunmehr vom Gesetzgeber gefundene Lösung erscheint jedenfalls im Grundsatz verfassungsfest. Schon in seiner „Segelanweisung“ aus dem Jahr 2008 hatte der Zweite Senat klargestellt, dass eine Verrechnung von Direktmandaten mit Zweitstimmenmandaten, wie sie nunmehr vorgesehen ist, von Verfassungs wegen keinen Bedenken begegnet157. Im Urteil vom 25. Juli 2012 hat das Gericht ausgleichslose Überhangmandate als nur in begrenztem Umfang mit der Wahlgleichheit vereinbar angesehen; dies zeigt, dass ein Ausgleich, der der Wahlgleichheit in stärkerem Maß Geltung verschafft, erst recht nicht mit Blick auf Art. 38 Abs. 1 GG zu beanstanden ist. Probleme könnte es künftig allenfalls dann geben, wenn es zu einer sehr hohen Zahl von Überhangmandaten käme. Die Bundestagswahl 2013 hat gezeigt, dass nach dem Modell des § 6 BWG (aktueller Fassung) schon vier Überhangmandate 29 Ausgleichsmandate erforderlich gemacht haben. Wenn künftig etwa eine dreistellige Zahl von Ausgleichsmandaten anfiele, müsste unter dem Aspekt der Funktionsfähigkeit des Parlaments, bei dem es sich nach der Rechtsprechung des BVerfG um einen verfassungsrechtlichen Belang von höchstem Rang handelt158, über das jetzige Modell des BWG neu nachgedacht werden159. Zu einer Wiedereinführung der ausgleichslosen Überhangmandate sollte das allerdings nicht führen!

157

BVerfGE 121, 266, 315. BVerfGE 62, 1, 44; 82, 353, 369; 95, 367, 404 („nicht tragende“ Richter). 159 Bedenken mit Blick auf die Komplexität der in § 6 BWG getroffenen Regelung bei Meyer (Anm. 51), KritVj 77 (1994), S. 312 ff. (315 ff.), und Ipsen (Anm. 15), Staatsrecht I, Rn. 121, die bemängeln, dass die Bestimmung nur noch für Fachleute verständlich sei. 158

Der bundesstaatliche Finanzausgleich im Umbruch Von Volker Bouffier Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, aber auch der Länder untereinander stehen in wesentlichen Teilen zur Disposition. Der 31. Dezember 2019 als konstitutiver Bestandteil eines Kompromisses von Bund und Ländern, dem es in seiner Ausformulierung im Maßstäbe- und im Finanzausgleichsgesetz gelungen ist, die Verteilung des bundesweiten Steueraufkommens jedenfalls für nahezu zwei Jahrzehnte auf eine belastbare Grundlage zu stellen, ist zum Verfallsdatum geworden. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil vom 11. November 19991 den Streit über die beklagten Verfassungsverstöße des damaligen Finanzausgleichs nicht entschieden, statt dessen ein verfassungskonkretisierendes Maßstäbegesetz gefordert und sich damit der ihm angetragenen Schiedsrichterrolle verweigert. Daraufhin fanden Bund und Länder zu einer Absprache, die den vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen und ausgedeuteten finanzverfassungsrechtlichen Rahmen des Grundgesetzes unverändert ließ und den Anspruch erhob, sehr gegensätzliche Interessen im Verfahren wechselseitigen Nachgebens für geraume Zeit zum Ausgleich zu bringen. Es ist die Anwendungspraxis, die zwar keinen Anlass gibt, den grundsätzlichen Konsens von Bund und Ländern über die Verteilung ihres Finanzaufkommens in Frage zu stellen, aber doch die strukturellen Mängel dieses mehr als komplexen Finanzausgleichs hat hervortreten lassen. Mittlerweile werden bereits die ersten Umverteilungsvorschläge ausgetauscht. Es kann daher nicht falsch sein, die Grundzüge des Finanzausgleichs in Erinnerung zu rufen und auf seine Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen.

1 BVerfGE 101, 158. Antragsteller waren die Landesregierungen der Geberländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen auf der einen und auf der anderen Seite für die Nehmerländer der Bremer Senat und die Landesregierungen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Die Fortgeltung des Finanzausgleichsgesetzes vom 23. 6. 1993 (BGBl. I S. 977) längstens bis zum 31. 12. 2004 hatte das Gericht davon abhängig gemacht, dass der Gesetzgeber spätestens zum 31. 12. 2002 „die nach Maßgabe der Gründe notwendigen verfassungskonkretisierenden und verfassungsergänzenden allgemeinen Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens und für den Finanzausgleich einschließlich der Bundesergänzungszuweisungen (Artikel 106, 107 des Grundgesetzes) bestimmt“ (S. 160).

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I. Die Ausgangslage 1. Die Befristung des Finanzausgleichsrechts als Gesetzgebungsauftrag Die Karriere jenes Verfallsdatums beginnt mit dem Maßstäbegesetz (im Folgenden: MaßstG) vom 9. September 2001, das nach seinem § 15 mit dem 31. Dezember 2019 außer Kraft treten wird2 und auf den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zurückgeht: Die Finanzverfassung der Art. 106 und 107 des Grundgesetzes (GG) enthalte, wie das Gericht meint, keine unmittelbar vollziehbaren Maßstäbe, sondern verpflichte den Gesetzgeber, „das verfassungsrechtlich nur in unbestimmten Begriffen festgelegte Steuerverteilungs- und Ausgleichssystem entsprechend den vorgefundenen finanzwirtschaftlichen Verhältnissen und finanzwissenschaftlichen Erkenntnissen durch anwendbare, allgemeine, ihn selbst bindende Maßstäbe gesetzlich zu konkretisieren und zu ergänzen“.3 Mit dieser „auf langfristige Geltung angelegten, fortschreibungsfähigen Maßstabbildung“4 war, wenn man das Gericht hätte wörtlich nehmen wollen, eine angesichts ihrer Dauer allerdings unschädliche Befristung im Grunde nicht zu vereinbaren.5 Die Bundesregierung6 sah sie in ihrem pflichtgemäß vorgelegten Gesetzentwurf daher ebenso wenig vor wie die nachfolgende Beschlussempfehlung des für seine Begleitung eingerichteten Sonderausschusses.7 Ihre Grundlage findet sich vielmehr in einem fraktionsübergreifenden Änderungsantrag,8 der sich ohne weitere Begründung darauf berief, dass Bund und Länder sich über das Außerkrafttreten am 31. Dezember 2019 einig seien. Diese Einigkeit ist der Entstehungsgeschichte des Maßstäbegesetzes zu verdanken.9 Sie macht die strukturellen und inhaltlichen Probleme der damaligen und auch einer künftigen Gesetzgebung deutlich, mit der Bund und Länder als deren von der Verfassung bestimmte Akteure zuvörderst über ihre eigenen und in diesem Fall besonders gewichtigen Belange entscheiden. 2

Gesetz über verfassungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzausgleich unter den Ländern sowie für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen (BGBl. I S. 2302). 3 BVerfGE 101, 158, 215. 4 BVerfGE 101, 158, 217. 5 – es sei denn, man wollte das Maßstäbegesetz als Beispiel experimenteller Gesetzgebung betrachten. Tatsächlich zeigt die Befristung aber nur, „dass es im Maßstäbegesetz nicht vorrangig um Maßstäbe, sondern um politisch begründete Festlegungen geht, die in der Geltungsdauer des Gesetzes dem Streit entzogen sein sollen“ (Stefan Korioth, Maßstabgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich – Abschied von der „rein interessenbestimmten Verständigung über Geldsummen“?, ZG 2002, S. 335, 349). 6 BT-Drucks. 14/5951 v. 7. 5. 2001. 7 BT-Drucks. 14/6533 v. 2. 7. 2001. 8 BT-Drucks. 14/6581 v. 4. 7. 2001. 9 Hierzu und zum nachfolgenden Finanzausgleichsgesetz Korioth (Anm. 5), ZG 2002, S. 335 ff. (340 ff.).

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Das Bundesverfassungsgericht hatte Bundestag und Bundesrat unter erheblichen Zeitdruck gesetzt,10 der auf Eigenart und Schwierigkeiten des Gesetzgebungsauftrags wenig Rücksicht nahm – das Urteil vom 11. November 1999 mit seiner vorangegangenen Entscheidungen11 widersprechenden,12 in der mündlichen Verhandlung nicht einmal angedeuteten und deshalb alle Beteiligten überraschenden Forderung eines je selbständigen Maßstäbe- und Finanzausgleichgesetzes musste ausgewertet, der Regelungsauftrag musste diskutiert, präzisiert und schließlich abgearbeitet werden. Der Deutsche Bundestag setzte hierfür im Oktober 2000 einen „Sonderausschuss Maßstäbegesetz/Finanzausgleichsgesetz“ ein.13 Am 23. Februar 2001 leitete die Bundesregierung dem Bundesrat den Entwurf eines Maßstäbegesetzes zu,14 den sämtliche Länder, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, mit einer Entschließung als nicht zustimmungsfähig ablehnten, die den prinzipiellen Gegensatz von Geber- und Nehmerländern offenlegte: Diese präsentierten einen eigenen Gesetzentwurf,15 jene – Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und damals noch NordrheinWestfalen – plädierten vor allem für eine geringere Berücksichtigung der kommunalen Finanzkraft und eine stärkere Beteiligung des Bundes durch den Ausbau der Bundesergänzungszuweisungen.16 Die Bundesregierung dokumentierte umgehend ihre Kompromissbereitschaft,17 und die Ministerpräsidenten erreichten ihrerseits nach langwierigen Verhandlungen in ihrer Sonderkonferenz vom 21. bis 23. Juni 2001 ein bis zum Jahresende 2019 befristetes Einvernehmen, das schließlich in ihre Vereinbarung mit dem Bundeskanzler gleichfalls vom 23. Juni 2001 über die Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern einging. Deren Ergebnisse sind in dem Entschließungsantrag vom 4. Juli 200118 festgehalten. Sie entwickeln in mehr als nur programmatischer Form die Grundzüge eines künftigen Finanzausgleichs und des Solidarpakts II, die, wie übereinstimmend erwartet wurde, „zur Überwindung der Folgen der Teilung und zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnis10

Vgl. hierzu die Angaben in Anm. 1. Die Urteile vom 24. 6. 1986 (BVerfGE 72, 330) und 27. 5. 1992 (BVerfGE 86, 148) hatten Art. 106 und 107 GG als selbstverständlich tauglichen Prüfmaßstab zugrunde gelegt. 12 BVerfGE 72, 330, 389: „Das Grundgesetz hat (…) in diesem Bereich (…) rechtliche Positionen, Verfahrensregeln und Handlungsrahmen festgelegt, die Verbindlichkeit beanspruchen.“ 13 Einsetzungsantrag BT-Drucks. 14/4251 v. 11. 10. 2000, der am folgenden Tag einstimmig angenommen wurde (124. Sitzung vom 12. 10. 2000, S. 11902). 14 BR-Drucks. 485/01. 15 BR-Drucks. 161/01, Beschluss vom 27. 4. 2001 Abs. IV 1 S. 3 – 108 = BT-Drucks. 14/ 5951, S. 31 – 78; zur gesonderten Position Thüringens s. BR-Drucks. 161/01 Abs. IV 3 S. 122 = BT-Drucks. 14/5951, S. 83. 16 BR-Drucks. 161/01, Beschluss vom 27. 4. 2001 Abs. IV 2 S. 109 – 121 = BT-Drucks. 14/ 5951, S. 78 – 83. 17 S. 1 ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates BT-Drucks. 14/5971 vom 9. 5. 2001. 18 BT-Drucks. 14/6577. 11

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se in Deutschland innerhalb einer Generation beitragen werden. Diese Regelungen sind daher bis zum Jahr 2020 zu befristen. Es wird Aufgabe der nächsten Generation sein, den bundesstaatlichen Finanzausgleich den dann gewandelten finanzwirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen.“19 Folgerichtig findet sich diese Zeitvorgabe in den nachfolgenden, inhaltsgleichen Gesetzentwürfen des Solidarpaktfortführungsgesetzes vom 9. Oktober und 1. November 200120 und damit im Finanzausgleichsgesetz (im Folgenden: FAG) vom 20. Dezember 2001.21 Im Zuge der Föderalismusreform I wurde sie in die Kompensationsregel des Art. 143c Abs. 1 GG übernommen22 und setzt sich als Ergebnis der Föderalismusreform II umstands- wie begründungslos in der Übergangsregelung des Art. 143d GG zur Anpassung an die Schuldenbremse des Art. 109 Abs. 3 GG und zur Gewährung von Konsolidierungshilfen fort.23 Beide Föderalismusreformen ließen die Grundlagen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, soweit sie für den Finanzausgleich von Bedeutung sind, im Wesentlichen unangetastet. Die für die Föderalismusreform I zuständige Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung sollte zwar „insbesondere … die Finanzbeziehungen (insbesondere Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen) zwischen Bund und Ländern überprüfen“,24 konnte sich jedoch nicht auf ein Reformkonzept einigen und ging in der Grundgesetzänderung vom 28. August 200625 finanzverfassungsrechtlichen Themen aus dem Wege. Deren Überarbeitung sollte einem weiteren Verfahren vorbehalten bleiben, dem der Bundestag voller Optimismus entgegensah26 und für das er in Abstim19

BT-Drucks. 14/6577 S. 1 – 2 = BR-Drucks. 485/01, S. 2. BT-Drucks.14/7063 und 14/7256. 21 Art. 5 § 11 Abs. 3 und § 20 des Solidarpaktfortführungsgesetzes (BGBl. 2001 I S. 3955). Der Hinweis der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 14/7063, S. 18), die Befristung passe sich derjenigen des Maßstäbegesetzes an, scheint allerdings den eigentlich maßgeblichen Entschließungsantrag vom 4. 7. 2001 aus den Augen verloren zu haben. Als Überblick über die Änderungen im neuen FAG s. BT-Drucks. 14/6577, S. 6, auch im Jahresgutachten 2001/2002 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung BT-Drucks. 14/7569, S. 133. 22 Art. 1 Nr. 23 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. 8. 2006 (BGBl. I S. 2034) und dazu die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 16/813, S. 22; eine Begründung für die Parallelregelung in Art. 125c Abs. 2 Satz 2 GG ist nicht ersichtlich. 23 Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. 7. 2009 (BGBl. I S. 2248) und dazu die Begründung BT-Drucks. 16/12410, S. 7, 13 f. 24 So der Einsetzungsantrag BT-Drucks. 15/1685 vom 14. 10. 2003 = BR-Drucks. 750/3 vom 17. 10. 2003. 25 BGBl. I S. 2034. 26 In dem am 30. 6. 2006 (Plenarprotokoll S. 4295) angenommenen Entschließungsantrag BT-Drucks. 16/2052 begrüßte der Bundestag die „Aussage, in einem weiteren Reformschritt in der 16. Wahlperiode die Bund-Länder-Finanzbeziehungen den veränderten Rahmenbedingungen inner- und außerhalb Deutschlands, insbesondere für Wachstums- und Beschäftigungspolitik, anzupassen. Der Deutsche Bundestag geht davon aus, zusammen mit der Bundesregierung und dem Bundesrat zügig ein entsprechendes Verfahren zu verabreden, in dem die Voraussetzungen und Lösungswege für eine Grundgesetzänderung geklärt werden können, 20

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mung mit dem Bundesrat am 15. Dezember 2006 eine Gemeinsame Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen einsetzte.27 Auch sie kam bei diesem neben der Neuregelung des Staatsschuldenrechts wichtigsten Gegenstand ihres Auftrags über die Formulierung gegensätzlicher Standpunkte jedoch nicht hinaus und entschied sich dafür, die Finanzausgleichsregeln des Grundgesetzes bis zu dem absehbaren Auslaufen des Maßstäbe- und des Finanzausgleichsgesetzes zum Jahresende 2019 unverändert zu lassen.28 Damit hat der verfassungsrechtliche Rahmen der Aufkommensverteilung, den das Grundgesetz der Finanzreform des Jahres 196929 verdankt, weiterhin Bestand – das Interesse an der Fortgeltung der beiden Ausführungsgesetze war allgemein, so dass auch das Grundgesetz unberührt bleiben sollte. Dass es bei der nunmehr bevorstehenden Überarbeitung des Finanzausgleichs entscheidend verändert werden könnte, ist wenig wahrscheinlich und eine Föderalismusreform III etwa mit einer Neuverteilung staatlicher Aufgaben,30 einer erweiterten Steuerertrags- oder -zuschlagsautonomie der Länder,31 einer weitgehenden Neuordnung der vertikalen Finanzströme32 oder grundlegenden Änderungen des Steuer- und daran anknüpfend des Verfassungs-

die das Ziel der Stärkung der Eigenverantwortung der Gebietskörperschaften und ihrer aufgabenadäquaten Finanzausstattung verfolgt.“ Der ehrgeizige Umfang dieses Vorhabens ergibt sich aus der „offenen Themensammlung“ der Anlage. 27 BT-Drucks. 16/3885, angenommen am 15. 12. 2006 (Plenarprotokoll S. 7410) = BRDrucks. 913/06. 28 S. hierzu: Deutscher Bundestag und Bundesrat (Hrsg.), Die gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Die Beratungen und ihre Ergebnisse, 2010, S. 151 – 163, insbes. S. 158. 29 Einundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12. 5. 1969 (BGBl. I S. 359). 30 Henning Tappe, Die künftige Ausgestaltung der bundesstaatlichen Finanzordnung, in: DVBl. 2013, S. 1079 ff. (1080 f.). 31 So z. B. der Sachverständigenrat (Anm. 21) BT-Drucks. 14/7569, S. 324; Clemens Fuest/ Michael Thöne, Reform des Finanzföderalismus in Deutschland, 2009, S. 60 – 71, 87 f.; zurückhaltender dagegen z. B. Clemens Fuest, Würde mehr Steuerautonomie die finanzschwachen Bundesländer benachteiligen?, in: KritV 2008, S. 200. 32 Für die Übernahme der kommunalen Sozialausgaben durch den Bund plädieren etwa Hans Eichel/Philipp Fink/Heinrich Tiemann, Vorschlag zur Neuordnung des Finanzausgleichs, in: WISO direkt, Juni 2013, S. 1 ff. (3 f.), und dazu Alexander Eck/Joachim Ragnitz/ Felix Rösel/Johannes Steinbrecher/Christian Thater, Wer bestellt, bezahlt! Für eine Reform des Finanzausgleichs zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland: Berechnung des Vorschlags zur Neuordnung des Finanzausgleichs von Eichel, Fink und Tiemann (2013), in: WISO direkt, Mai 2014; und dies., Wer bestellt, bezahlt! Berechnung des Vorschlags zur Neuordnung des Finanzausgleichs von Hans Eichel, Philipp Fink und Heinrich Tiemann, in: WISO direkt, 2014; André W. Heinemann, Finanzströme im deutschen Bundesstaat: Vertikale und horizontale Aspekte der Gewährleistung angemessener Finanzausstattungen der öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden, in: ifo Schnelldienst 1/2014, S. 15 ff. (19), fordert sogar „eine umfassende Analyse der Gesamtarchitektur eines föderalen Gesamtsystems“ als Voraussetzung der Finanzausgleichsreform.

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rechts33 kaum zu erwarten. Zumindest heute spricht alles dafür, dass sich auch ein künftiger Finanzausgleich, allenfalls von geringfügigen Verschiebungen abgesehen, im Rahmen der gegenwärtigen Finanzverfassung halten wird und mit einer Verständigung über grundsätzliche Veränderungen der Verteilungs- und Ausgleichsmechanismen nicht zu rechnen ist.34 Nach allem, was sich zur Jahresmitte 2014 sagen lässt, sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern – namentlich über die Handhabung des Deckungsquotenverfahrens35 (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 GG) und über die Folgen von Steuermindereinnahmen der Länder durch die Berücksichtigung von Kindern im Einkommensteuerrecht (Art. 106 Abs. 3 Satz 5 GG) – , aber auch zwischen den finanzschwächeren und -stärkeren Ländern derart groß, dass Mehrheiten für einen verfassungsändernden Systemwechsel mit einer veränderten Aufkommensverteilung nicht zu erreichen sein werden und selbst kleinere Verbesserungen, wie sie etwa im Steuerrecht in Betracht kommen könnten,36 auf einen all-

33 Dazu etwa Gisela Färber/Carsten Kühl/Denis Alt, Neuordnung der Besteuerungskompetenzen bei der Einkommensteuer, in: Wirtschaftsdienst 2014, S. 267 ff.; und dies., Faire Steuerbasis für künftige Herausforderungen notwendig – eine Erwiderung, in: Wirtschaftsdienst 2014, S. 579 ff., und zu diesem Vorschlag kritisch Alfred Boss/Reinhold Weiß/Werner Münzenmaier/Christoph Weber, Was bringt eine geänderte Ertragskompetenz bei der Einkommensteuer? – eine Replik, in: Wirtschaftsdienst 2014, S. 575 ff. 34 Daher wird hier von einer Diskussion der grundsätzlichen Änderungsvorschläge abgesehen. Einen aktuellen Überblick gibt insbesondere Ulrich Haltern, Die künftige Ausgestaltung der bundesstaatlichen Finanzordnung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Bd. 73, 2014, S. 103 ff. (105 – 113). Näheres findet sich bei Lars P. Feld/Hanno Kube/Jan Schnellenbach, Optionen für eine Reform des bundesdeutschen Finanzausgleichs. Gutachten im Auftrag der FDP-Landtagsfraktionen der Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen, 2013; Fuest/Thöne (Anm. 31); Simon Kempny/Ekkehart Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Gutachten D zum 70. Deutschen Juristentag, 2014 (hierzu wiederum Jochen-Konrad Fromme/Klaus Ritgen, Neuordnung der Finanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, in: DVBl. 2014, S. 1017 ff.; Ralf P. Schenke, Aufgabengerechte Finanzverteilung, in: NJW 2014, S. 2542 ff.; Joachim Wieland, Eigenständigkeit und Solidarität – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, in: JZ 2014, S. 829 ff. (833 ff.), in Kurzfassung auch in NJW-Beilage 2/2014 S. 39; Thomas Lenk/Martina Kuntze, Neuordnung der föderalen Finanzverfassung nach 2019 unter besonderer Berücksichtigung der kommunalen Finanzausstattung, 2012; Ekkehart Reimer, Die künftige Ausgestaltung der bundesstaatlichen Finanzordnung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Bd. 73, 2014, S. 153 ff. (170 – 179); Joachim Wieland, Neuordnung der Finanzverfassung nach Auslaufen des Solidarpakts II und Wirksamwerden der Schuldenbremse, 2012; zu weiteren Diskussionsthemen s. beispielhaft Stefan Korioth, Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, in: ZG 2007, S. 1 ff. (10 ff.); Tappe (Anm. 30), DVBl. 2013, S. 1079. 35 Zur Position des Bundesrates s. schon dessen Stellungnahme zum Regierungsentwurf des Maßstäbegesetzes BT-Drucks. 14/5951, S. 31. 36 Vgl. nur die Vorschläge bei Kempny/Reimer (Anm. 34), S. D 58 – 65.

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gemeinen Leidensdruck und damit auf allseitige Verständigungsbereitschaft angewiesen sind.37 Zur dringend erforderlichen Überprüfung und damit zur Disposition muss dagegen – ganz unabhängig von der Frage seiner vom Bundesverfassungsgericht behaupteten Verbindlichkeit für den Gesetzgeber – das Maßstäbegesetz selbst und zugleich das Finanzausgleichsgesetz stehen. Deren mit ihrer Befristung beabsichtigte Veränderungsresistenz verdankt sich jenem Bund-Länder-Vergleich vom 23. Juni 2001, also „eine(r) rein interessenbestimmte(n) Verständigung über Geldsummen“,38 der das Bundesverfassungsgericht die Missbilligung einer „vertragliche(n) Verständigung über Tatbestände und Rechtsfolgen des Finanzausgleichsgesetzes“39 und das Verfassungspostulat einer getrennten Maßstabs- und Ausgleichsgesetzgebung gerade entgegengehalten hatte. Dass der Gesetzgeber Maßstäbe bilden und ein Maßstäbegesetz beschließen soll, bevor ihm dessen Wirkungen und die Finanzbedürfnisse von Bund und Ländern bekannt sind,40 wird der Folgenverantwortung der Akteure schwerlich gerecht, mag politik- wie überhaupt realitätsfern41, allein schon die Erfindung eines „den Gesetzgeber selbst bindenden maßstabgebenden Gesetzes“42 mag verfassungsrechtlich gewagt anmuten. Davon soll hier jedoch nicht weiter die Rede sein. Keinesfalls darf sich der Gesetzgeber einem ständigen Überdenken einmal getroffener Entscheidungen verschließen, muss vielmehr die Verfahrensschritte der Aufkommensverteilung folgerichtig aufeinander abstimmen, muss die Balance zwischen bündischer Solidarität und individueller Eigenstaatlichkeit im Blick behalten und bereit sein, die Kontinuitätserfordernisse der Haushaltsplanung mit der Sachgerechtigkeit aktueller Verteilungsergebnisse zum Ausgleich zu bringen.

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Treffend BVerfGE 72, 330, 397: „Erforderliche Verständigungs- und Kompromissbereitschaft kann, wenn es wie hier um den Ausgleich erheblicher und dabei gegensätzlicher Finanzinteressen geht, nicht von vornherein unterstellt werden. Sie bedarf der Aktivierung und Unterstützung.“ 38 BVerfGE 101, 158, 217. 39 BVerfGE 101, 158, 219; realistischer äußert sich BVerfGE 72, 330, 396, über zulässige „politische Verhandlungen zwischen den Beteiligten“ und „ein Zusteuern auf Verständigung und Kompromiss; beides liegt (…) im Sinne des bündischen Prinzips“; ähnlich dort S. 411 und sehr praxisnah die abweichende Ansicht Niebler ebenda, S. 424 – 426. 40 BVerfGE 101, 158, 217 f. 41 Nach dem Bericht des Sonderausschusses Maßstäbegesetz/Finanzausgleichsgesetz vom 2. 7. 2001 (BT-Drucks. 14/6533, S. 17) bestand „unter allen Fraktionen … Einvernehmen, dass die künstliche Trennung des BVerfG in ein ,abstraktes‘ Maßstäbegesetz und ein ,konkretes‘ Finanzausgleichsgesetz in der Praxis kaum durchführbar sei. Im Vordergrund des Echos auf die Vorschläge der Bundesregierung stehe wie immer die Frage nach den finanziellen Auswirkungen eines jeden Modells für die einzelnen Länder.“ Das entspricht der Einschätzung etwa von Peter M. Huber, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 107 Rn. 55; Tappe (Anm. 30), DVBl. 2013, S. 1079 ff. (1082). 42 BVerfGE 101, 158, 217. Zur Kritik statt aller Helmut Siekmann, in: Michael Sachs, Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art. 104a Rn. 61 – 66, Art. 106 Rn. 18 m. Hinweisen.

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Ohne eine Veränderung der gegenwärtigen Finanzströme wird es dabei nicht abgehen können. Die einvernehmliche Befristung des Finanzausgleichs dachte sich ihn als statisches Modell ohne grundlegenden Veränderungsbedarf und ging von der Erwartung aus, bis zum Jahresende 2019 werde sich die Finanzkraft Berlins und der dann auch nicht mehr neuen Länder derjenigen der übrigen Länder so weit angenähert haben, dass der Finanzausgleich neu konstruiert werden könne.43 Tatsächlich hat sich der Umfang der Ausgleichsleistungen im Zeitraum von 1995 – damals wurden die neuen Länder in den Finanzausgleich einbezogen – bis 2013 jedoch kaum verändert, nahezu ausnahmslos ist er sogar gestiegen. Ebenso wie die Leistungsfähigkeit des Finanzausgleichs und die Entwicklungschancen der neuen Länder überschätzt worden sind, sind auf der anderen Seite die möglichen Folgen wirtschaftlicher, demographischer44 oder – so im Fall der „Schuldenbremse“ des Art. 109 GG45 – (verfassungs-)rechtlicher Änderungen vernachlässigt worden. Unterhalb der Verfassungsebene kann deshalb die Überarbeitung des Finanzausgleichs nicht zum Ergebnis haben, dass er in allen Punkten so bleibt wie er ist. Seine Belastungen sind zu ungleich verteilt, seine Konstruktionsmängel sind zu offensichtlich, als dass er im kommenden Jahrzehnt weitergeführt werden dürfte. Gleichwohl besteht Grund zur Sorge, dass der kleinste gemeinsame Nenner für alle Beteiligten die derzeitige Finanzverfassung bleiben könnte.46 2. Der verfassungsrechtliche Rahmen Das Grundgesetz eröffnet dem Gesetzgeber weite Gestaltungsräume. Seine unbestimmten Rechtsbegriffe gelten für die vertikale Umsatzsteuerverteilung (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 und Abs. 4 GG und dazu § 4 MaßstG), den Finanzausgleich zwischen den Ländern (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG und dazu §§ 6 – 9 MaßstG) und für die Höhe von Ergänzungszuweisungen des Bundes (Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG und dazu § 10 Abs. 3 MaßstG). Ihre Steuerungswirkung bleibt bescheiden und ist zudem den Mehrheitsverhältnissen vor allem im Bundesrat unterworfen. Gänzlich fehlt sie, wo es wie 43

So auch der Sachverständigenrat (Anm. 21) BT-Drucks. 14/7569, S. 215 Ziff. 370. Hierzu etwa das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, Finanzpolitische Herausforderungen des demografischen Wandels im föderativen System, 2013, S. 15 ff. Das Problem der Remanenzkosten, die von einer schrumpfenden Bevölkerung aufzubringen sind, wird dort allerdings vernachlässigt; s. hierzu etwa das Jahresgutachten 2004/2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung BT-Drucks. 15/4300, S. 479 – 483. 45 Zu deren schon heute aktuellen Konsolidierungsanforderungen etwa Ingolf Deubel, Schuldenbremse und Finanzausgleich. Wie stark muss der Finanzausgleich im Jahr 2020 ausgleichen, damit (fast) alle Länder die Schuldenbremse einhalten können?, in: ifo Schnelldienst 1/2014, S. 43 ff. (44 ff.); allgemeiner auch Clemens Fuest/Michael Thöne, Durchsetzung der Schuldenbremse in den Bundesländern, 2013, S. 71 ff. 46 Das stimmt mit der Analyse von Michael Broer, Reformoptionen des Länderfinanzausgleichs unter politökonomischer Betrachtung, in: Wirtschaftsdienst 2014, S. 258 ff., überein, nach den Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat sei mit der Annahme der meistdiskutierten Änderungsvorschläge nicht zu rechnen. 44

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für die Zerlegung der Körperschaft- und der Lohnsteuer (Art. 107 Abs. 1 Satz 2 GG), den Vorwegausgleich der Umsatzsteuer (Art. 107 Abs. 1 Satz 3 und 4 GG und dazu § 5 MaßstG), für die tatbestandlichen Voraussetzungen und die Maßstäbe der Ausgleichsansprüche und -pflichten der Länder untereinander (Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG) und für die Grundentscheidung des Bundes über die Gewährung seiner Ergänzungszuweisungen (Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG und dazu § 10 Abs. 1, §§ 11 und 12 MaßstG) auf Maßgaben überhaupt verzichtet. Für die Erfüllung seines Konkretisierungs- und Regelungsauftrags steht dem Gesetzgeber damit ein weitreichendes Ermessen und in den unbestimmten Begriffen der Art. 106 und 107 GG nur eine sehr ungefähre Handlungsanleitung zur Verfügung. Verfassungsrechtlich gebunden ist er gleichwohl. Ob seine gegenwärtigen Regelungen sich in den verfassungsrechtlichen Rahmen bruchlos einfügen, muss bezweifelt und darf dann auch das Bundesverfassungsgericht gefragt werden. Nichts anderes haben Bayern und Hessen mit ihrem Normenkontrollantrag vom März 2013 getan47 – nicht um die Aufkommensverteilung insgesamt oder auch nur den eigentlichen Länderfinanzausgleich zu demontieren, sondern um aus ihrer Sicht verfassungswidrige Grenzüberschreitungen des Ausgleichsmechanismus identifizieren und den Bund-Länder-Gesprächen über den Finanzausgleich eine verfassungskonforme Grundlage geben zu lassen. Die als Vorwurf gemeinte Interpretation, der Antrag orientiere sich am „Leitbild des reinen Wettbewerbsföderalismus“,48 liegt deshalb neben der Sache, wie überhaupt politische Großformeln von angeblich fehlender Solidarität oder den vermuteten Anforderungen eines kooperativen Föderalismus eine sachbezogene Erörterung nicht voranbringen. Fraglos ist die Finanzverfassung „einer der tragenden Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes“;49 als „Regelung eines Kernbereichs der bundesstaatlichen Struktur wie auch der politischen Machtverteilung in der Bundesrepublik Deutschland“50 verfügt sie, gemessen an dem jährlich zu verteilenden Finanzvolumen und verglichen etwa mit der detailfreudigen Ordnung der Gesetzgebungskompetenzen, über auffällig unbestimmte Konturen. Anschaulich greifbar wird sie und werden vor allem ihre derzeit streitbefangenen Wirkungen erst mit der Anwendung ihrer das Grundgesetz ausfüllenden Ausgleichsmechanismen. Es regelt kein Verfahren, mit dessen Hilfe sich der Bedarf von Bund und Ländern und der zur Bedarfsdeckung erforderliche Betrag sachbezogen bestimmen ließen. Den Begriff der „notwendigen Ausgaben“, die mit der Umsatzsteuerverteilung gedeckt werden sollen (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 GG), klärt auch § 4 MaßstG nicht, der die Umsatzsteuerverteilung nach dem Prinzip der Deckungsquoten – 47 Das Verfahren wird bei dem Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 2 BvF 1/13 geführt. 48 Eichel/Fink/Tiemann (Anm. 32) S. 1, 2. Für eine „stärker an der Idee des föderalen Wettbewerbs der Regionen orientierte Konzeption“ (Sachverständigenrat [Anm. 21] BTDrucks. 14/7569, S. 323, 327) lässt sich allerdings durchaus streiten. 49 BVerfGE 55, 274, 300; 72, 330, 388; ähnlich BVerfGE 105, 185, 194. 50 BVerfGE 55, 274, 301.

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„als rechnerisches Verhältnis der laufenden Einnahmen zu den notwendigen Ausgaben“51 – vorschreibt, aber keine Anstalten macht, das Kriterium des Notwendigen zu erläutern.52 Eine Praxis, die die tatsächlichen kurzerhand zu den notwendigen Ausgaben erklärt, kann zumindest vor dem Verfassungswortlaut keinen Bestand haben. Ob freilich ein anderes, streng aufgabenorientiertes Verfahren aus ökonomischer Sicht überhaupt möglich wäre53 und Realisierungschancen hätte, lässt sich bezweifeln; das Zahlengebilde des korrespondierenden § 1 FAG belegt als handlungsleitendes Prinzip vor allem das Bemühen, aus den unterschiedlichsten Sachverhalten abgeleitete Zahlungsansprüche der Länder zu befriedigen. Fällt die Notwendigkeit einer Aufgabe als Zuteilungskriterium jedoch aus, dann steht als Bezugs- und Vergleichsgröße, worauf die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG) und der Einwohnermaßstab bei der horizontalen Umsatzsteuerverteilung (Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG) verweisen, nur noch die Einwohnerzahl zur Verfügung. Der Grundsatz, Bund und Länder hätten je gesondert die Ausgaben zu tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben (Art. 104a Abs. 1 GG), bezeichnet die ratio der Aufkommensverteilung,54 wird mit der Lastenübernahmeregel des Art. 104a Abs. 3 GG sogleich wieder relativiert, durch die vertikale Ertragszuordnung des Art. 106 GG auch ansatzweise konkretisiert, lässt sich als Verteilungsmaßstab jedoch nicht handhaben. a) Der primäre vertikale Finanzausgleich Der bundesstaatliche Finanzausgleich beginnt mit der vertikalen, nach Steuerarten getrennten Zuweisung des originären Steueraufkommens (Art. 106 Abs. 1 und 2 GG). Soweit nicht ausnahmsweise gesetzliche Verteilungsregeln vorgesehen sind (Art. 106 Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4 GG für die Umsatzsteuer, Art. 106 Abs. 5 und 5a GG für den Gemeindeanteil an der Einkommen- und der Umsatzsteuer), kann sie Umverteilungswünschen nur durch eine Änderung des Grundgesetzes angepasst werden. Im Jahre 2013, das den folgenden Berechnungen zugrunde liegt, hatte das Gesamtaufkommen einschließlich der Zölle und ohne die reinen Gemeindesteuern 51

So die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/5951, S. 17. S. hierzu auch u. Anm. 57. Das verfehlt deutlich die Verpflichtung des Gesetzgebers aus BVerfGE 101, 158, 215 – ähnlich S. 227 f. –, „insbesondere den Tatbestand der ,laufenden Einnahmen‘ und der ,notwendigen Ausgaben‘ so bestimmt und berechenbar (zu formen)…, dass daraus Verteilungsschlüssel abgeleitet werden können“. Ebenso S. 220: „Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die ,notwendigen‘ von den im Haushalt veranschlagten Ausgaben zu unterscheiden, also in einer Erforderlichkeits- und Dringlichkeitsbewertung von Ausgabenstrukturen der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern eine Grenze des Finanzierbaren vorzugeben.“ Zum verpflichtenden Charakter dieser Aufgabe schon BVerfGE 72, 330, 383 f. 53 „Der Begriff ,notwendige Aufgaben‘ wirft (…) unlösbare Definitions- und Messprobleme auf (…). Das Kriterium der Notwendigkeit stellt in der heutigen Finanzwissenschaft kein klar abgegrenztes ökonomisches Konzept dar.“ (Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen zum Urteil des BVerfG vom 11. 11. 1999). 54 BVerfGE 32, 333, 338; 39, 96, 107 f.; 72, 330, 383; 86, 148, 213. 52

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570,212 Mrd. E betragen.55 Auf den Bund entfielen davon nach Abzug der Bundesergänzungszuweisungen von 10,792 Mrd. E 259,866 Mrd. E (davon als reine Bundessteuern 100,454 Mrd. E), auf die Länder einschließlich der Bundesergänzungszuweisungen 244,206 Mrd. E (davon 15,723 Mrd. E als reine Landessteuern), auf die Gemeinden 35,040 Mrd. E, an die EU gingen 31,101 Mrd. E. Am Aufkommen der Einkommen-, der Körperschaft- und der Umsatzsteuer als Gemeinschaftsteuern (Art. 106 Abs. 3 GG) in Höhe von 449,805 Mrd. E waren die drei staatlichen Ebenen in unterschiedlichem Maße beteiligt: Von der Lohn- und der veranlagten Einkommensteuer in Höhe von 200,476 Mrd. E erhielten nach dem Schlüssel des Art. 106 Abs. 3 Satz 1 und 2, Abs. 5 GG und nach § 1 des Gemeindefinanzreformgesetzes56 der Bund und die Ländergesamtheit je 85,2 Mrd. E und die Gemeinden 30,1 Mrd. E, die Körperschaftsteuer stand in Höhe von jeweils 9,75 Mrd. E dem Bund und den Ländern zu (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG). Den Ertrag der Umsatzsteuer verteilt das Grundgesetz dagegen nicht selbst. Vielmehr beauftragt es Bundestag und Bundesrat als Gesetzgeber mit einer fallweisen Regelung, die Bund und Ländern unter Berücksichtigung einer mehrjährigen Finanzplanung die gleichmäßige Deckung ihrer notwendigen Ausgaben sichern und dabei einen billigen Ausgleich erzielen, die Überlastung der Steuerpflichtigen vermeiden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet wahren soll. Vermutlich in der Annahme, diesen Ansprüchen zu genügen, wurden im Jahre 2013 der Bund mit 105,083 Mrd. E, die Länder mit 87,830 Mrd. E und die Gemeinden mit 3,988 Mrd. E am Umsatzsteueraufkommen beteiligt (Art. 106 Abs. 3 Satz 3 – 5, Abs. 5a GG i. V. m. § 4 MaßstG und § 1 FAG).57 b) Die horizontale Ertragsverteilung An diese die Länder als Gesamtheit behandelnde vertikale Primärverteilung schließt sich, weiterhin nach Steuerarten getrennt, als zweite Stufe des Finanzausgleichs die horizontale Ertragsverteilung im Verhältnis der Länder zueinander an. Das Aufkommen der Landessteuern ohnehin, aber ebenso der Ertrag der Einkommen- und der Körperschaftsteuer steht den Ländern zunächst nach dem Ort ihrer Ver55

Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen vom 31. 1. 2014; die dort nicht ausgewiesenen Zahlen sind der vorläufigen Abrechnung des Länderfinanzausgleichs für das Jahr 2013 und den daraus abgeleiteten Berechnungen des Hessischen Ministeriums der Finanzen entnommen. 56 Gesetz i. d. F. vom 10. 3. 2009 (BGBl. I S. 502), geändert durch Gesetz vom 8. 5. 2012 (BGBl. I S. 1030). 57 Die Grundzüge des in § 4 Abs. 1 MaßstG genannten Deckungsquotenverfahrens werden in der Begründung der Bundesregierung zu § 3 Abs. 2 ihres Gesetzentwurfs (BT-Drucks. 14/ 5951, S. 17 f.) angedeutet. Der geltende § 4 MaßstG geht auf die Beschlussempfehlung BTDrucks. 14/6533, S. 5 – dort noch § 3 – zurück, die zugleich (S. 35) auf „tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung des Deckungsquotenverfahrens“ zwischen Bund und Ländern verweist und deren Regelung noch in der laufenden Wahlperiode ankündigt. Dem entsprach die Erwartung von Bundestag (Entschließungsantrag vom 4. 7. 2001 BTDrucks. 14/6577 Nr. IV 3, S. 3) und Bundesrat (Beschluss vom 13. 7. 2001 BR-Drucks. 485/01 Nr. IV 3 S. 59). Das Ergebnis findet sich in § 1 FAG mit seinen mittlerweile 17 Änderungen.

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einnahmung zu (Art. 107 Abs. 1 Satz 1 GG). „In Richtung auf die wirkliche Steuerkraft“ korrigierend58 wird das Aufkommen der Lohnsteuer sodann nach dem Wohnsitz- und für die Körperschaftsteuer nach dem Betriebsstättenprinzip unter den Ländern zerlegt (Art. 107 Abs. 1 Satz 2 GG und dazu §§ 7 und 8, §§ 2 – 4 des Zerlegungsgesetzes59). Dieses Verfahren soll das Verfassungsprinzip der Steuerzuweisung nach dem örtlichen Aufkommen (Art. 107 Abs. 1 Satz 1 GG) als Abbild der eigenen Steuerkraft verwirklichen und hat beträchtliche Folgen: Im Anschluss allein an die horizontale Steuerverteilung betrugen die Steuereinnahmen der Länder nach dem örtlichen Aufkommen des Jahres 2013 insgesamt 134,419 Mrd. E und das durchschnittliche ProKopf-Steueraufkommen 1.668 E. Daraus ergibt sich eine Spreizung, die von 41,7 % des Durchschnitts in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 187,2 % für Hamburg und zu 133,4 % in Hessen reicht. Durch die Zerlegung erhöht sich dieser Ausgangswert für Mecklenburg-Vorpommern auf 54,1 % und auch für die übrigen vier neuen Länder im Mittel um 12 %, während er für Hamburg auf 147,6 % und für Hessen auf 121,6 % absinkt; selbst das steuerschwache Bremen verliert auf diese Weise nahezu 18 Prozentpunkte und liegt nach der Zerlegung mit 88 % trotz seiner überdurchschnittlichen Wirtschaftskraft deutlich unter dem Durchschnitt. Beide Hansestädte verlieren jeweils mehr als ein Viertel ihrer Lohnsteuereinnahmen – Hamburg 1,27 Mrd. E von 3,23 Mrd. E, Bremen 209 Mio. E von 672,5 Mio. E, aber auch einige der wirtschaftsstarken Länder wie Nordrhein-Westfalen (1,59 Mrd. E von 16,16 Mrd. E), BadenWürttemberg (848,5 Mio. E von 11,363 Mrd. E) und Hessen (607 Mio. E von 6,83 Mrd. E) sind betroffen, und es erscheint durchaus zweifelhaft, ob die gegenwärtige Zerlegung tatsächlich die Steuern „auf die Länder in einer Weise verteilt, die nach Möglichkeit der wirklichen Steuerkraft, d. h. der Steuerleistung der Wirtschaft und der Bürger des einzelnen Landes entspricht“.60 Begünstigt sind vor allem die an die Hansestädte angrenzenden und im Übrigen vornehmlich die wirtschaftsschwachen Länder.61 Ähnliche, wenngleich dem Aufkommen nach geringere Umverteilungswirkungen erzeugt die Zerlegung der Körperschaftsteuer, durch die etwa Hamburg mit 202 Mio. E mehr als die Hälfte seines örtlichen Aufkommens wieder verliert, während Hessen mit Zusatzeinnahmen von 339,8 Mio. E an der Spitze der Gewinner-Länder liegt.

58

BVerfGE 72, 330, 384. Zerlegungsgesetz vom 6. 8. 1998 (BGBl. I S. 1998), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. 7. 2014 (BGBl. I S. 1266). 60 So die Forderung in BVerfGE 72, 330, 391. Allerdings müssen Zerlegungsergebnisse und Wirtschaftskraft keinesfalls übereinstimmen (vgl. die Berechnungen von Wolfgang Renzsch, Steuerzerlegung, Wirtschafts- und Steuerkraft, in: Wirtschaftsdienst 2013, S. 405). 61 Eindrucksvoll hierzu Reinhold Weiß/Werner Münzenmaier, Auswirkungen einer Lohnsteuerzerlegung nach Arbeitsort im Länderfinanzausgleich, in: Wirtschaftsdienst 2014, S. 732 ff. 59

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c) Die Umsatzsteuerverteilung Es wäre daher wenig sachgerecht, die Verteilungs- und Nivellierungseffekte des Zerlegungsverfahrens außer Betracht zu lassen und unter diesem Gesichtspunkt erst die anschließende Umsatzsteuerverteilung (Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG) in den Blick zu nehmen. Sie verteilt die auf die Ländergesamtheit entfallende Umsatzsteuer – im Jahre 2013 in Höhe von 87,830 Mrd. E – nicht nach dem Prinzip des örtlichen Aufkommens, das aus erhebungstechnischen Gründen kein vernünftiges Kriterium abgäbe. Stattdessen wird zunächst der jeweilige Einwohneranteil berechnet und diesem Teilschritt der Steuerverteilung damit sowohl die Annahme eines bundesweit übereinstimmenden Konsumverhaltens als auch die Einwohnerzahl als abstraktes Bedarfskriterium62 mit Nivellierungswirkung63 zugunsten der wirtschaftsschwachen Länder zugrunde gelegt (Art. 107 Abs. 1 Satz 4, 1. Hs. GG). Darüber hinaus ermächtigt das Grundgesetz den Bund, bis zu einem Viertel des Länderanteils an der Umsatzsteuer für Ergänzungsanteile zu verwenden und sie denjenigen Ländern zuzuweisen, deren Einnahmen aus den Landessteuern, der Einkommen- und der Körperschaftsteuer und dem Ausgleich für die Übertragung der Kraftfahrzeugsteuer auf den Bund (Art. 106b GG) je Einwohner den Durchschnitt aller Länder nicht erreichen (Art. 107 Abs. 1 Satz 4, 2. Hs., i. V. m. § 5 MaßstG und § 2 FAG). Bis zu diesem Viertel nimmt das Grundgesetz die Zuweisung der Umsatzsteuer nach Einwohneranteilen also fakultativ wieder zurück, was auch die zunächst begünstigten finanzschwachen Länder trifft. Bei der Bestimmung der Anspruchsberechtigten legt sich das Grundgesetz fest, dem Ermessen des Gesetzgebers bei der Zuwendung von Ergänzungsanteilen gibt der Wortlaut dagegen weder Maßstab noch Richtung vor. § 5 MaßstG verdichtet es zu einem Handlungsauftrag mit dem Ziel der „Verminderung besonders großer Unterschiede der Einnahmen“, § 2 Abs. 1 FAG verfolgt das Ausgleichsziel mit zwei Formeln, die für sich in Anspruch nehmen, den Sachverhalt „sowohl eindeutig als auch verständlich“ zu beschreiben.64 Ihre Folgen sind erheblich und kaum aufeinander abgestimmt: Bezugsgröße für die Zuweisung der Ergänzungsanteile ist die Höhe des durchschnittlichen Pro-Kopf-Steueraufkommens der Länder, das im Jahre 2013 bei 1.668 E je Einwohner lag. Hamburg übertraf diesen Wert mit 147,6 %, Bayern mit 128,3 %, Hessen mit 121,6 % und Baden-Württemberg mit 116,8 %. Das als nächstes folgende Land Nordrhein-Westfalen lag dagegen mit 99,3 % bereits knapp unter dem Durchschnitt, auf Rheinland-Pfalz (95,6 %) und Schleswig-Holstein (93,8 %) folgte Berlin mit 91,8 %, an letzter Stelle lag Thüringen mit 53,3 %. Die Zuweisung der Ergänzungsanteile von 11,468 Mrd. E entsprach dieser Verteilung. Die vier überdurchschnittlich steuerstarken Länder erhielten sie folgerichtig nicht, ganz überwie62

BVerfGE 72, 330, 384; 101, 158, 221; 116, 357, 379. Huber (Anm. 41), Art. 107 Rn. 81; Siekmann (Anm. 42), Art. 107 Rn. 15. 64 So die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/7063, S. 24 f., die auch die Funktionsweise der Formeln zusammenfasst. 63

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gend gingen die Leistungen an die fünf neuen Länder. Der Restbetrag des Umsatzsteueranteils der Länder in Höhe von 76,363 Mrd. E wurde nach dem Verhältnis der Einwohnerzahlen verteilt (§ 2 Abs. 2 FAG). Entfielen auf jeden Einwohner vor Abzug der Ergänzungsanteile 1.090 E, so betrug der Durchschnittswert danach nur noch 948 E. Aus dieser Differenz ergaben sich für die Länder ohne oder mit nur geringfügigen Ergänzungsanteilen in Relation zu ihrer Einwohnerzahl erhebliche rechnerische Verluste. Am höchsten waren sie für Nordrhein-Westfalen, das zunächst einen Umsatzsteueranteil von 19,124 Mrd. E hätte erwarten können, wegen seiner leicht unterdurchnittlichen Steuerkraft sogar Ergänzungsanteile in Höhe von 126,5 Mio. E erhielt und als Folge der Restverteilung dennoch 2,370 Mrd. E einbüßte, also „künstlich – man kann auch durchaus von willkürlich sprechen – zum Nehmerland degradiert wird“.65 Ähnlich, wenngleich nicht in diesem Ausmaß waren auch die Länder Rheinland-Pfalz66, Schleswig-Holstein67 und Berlin68 betroffen, die zwar Ergänzungsanteile erhielten, aber nach Abschluss des Umsatzsteuervorausgleichs über weniger Einnahmen verfügten als ihnen ohne dieses Verfahren zugestanden hätten. Die ursprünglichen Umsatzsteueranteile von acht Ländern haben sich im Jahre 2013 auf diese Weise um 7,316 Mrd. E zugunsten der unterdurchschnittlich ausgestatteten Länder vermindert. Der ohnehin nur für die horizontale Umsatzsteuerverteilung bestimmte Ansatz, mit Hilfe der Einwohnerzahl den anteiligen Finanzbedarf eines Landes abzubilden, erweist sich damit als einigermaßen kurzlebig – das Grundgesetz erlaubt es, ihn zugunsten eines Ausgleichsziels wieder aufzugeben, das sich allein mit der Festsetzung der Umsatzsteueranteile von Bund und Ländern, die doch die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet hätte wahren sollen (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG), erwartungsgemäß nicht hatte erreichen lassen. Das heißt freilich nicht, dass der Gesetzgeber den Einwohnermaßstab auch zur Umverteilung der einzelnen Länderanteile an der Umsatzsteuer einsetzen dürfte. d) Der Finanzausgleich unter den Ländern Für das Bundesverfassungsgericht, das mit den Finanzausgleichsgesetzen, mit den Folgen einer derartigen Berechnung dagegen bislang nicht befasst war, steht erst nach diesem Eingriff des Gesetzgebers die Finanzausstattung jedes einzelnen Landes fest.69 Das Grundgesetz rechnet zumindest mit der Möglichkeit, dass mit der Entnahme und Verteilung selbst eines Viertels der Länderanteile an der Umsatzsteuer der gewünschte Ausgleich unter den Ländern noch nicht herzustellen sein 65

Deubel (Anm. 45), ifo Schnelldienst 1/2014, S. 43, 50. USt-Anteil 4,347.2 Mrd., Ergänzungsanteil 241,3 Mio., USt-Rest 3,780 Mrd., Verlust 325,9 Mio. E. 67 USt-Anteil 3,060.6 Mrd., Ergänzungsanteil 249,7 Mio., USt-Rest 2,661 Mrd., Verlust 149,9 Mio. E. 68 USt-Anteil 3,699.3 Mrd., Ergänzungsanteil 413,4 Mio., USt-Rest 3,218 Mrd., Verlust 69,9 Mio. E. 69 BVerfGE 72, 330, 385; 101, 158, 221; 116, 327, 379. 66

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könnte.70 Das war im Jahre 2013 auch tatsächlich nicht der Fall. Nach Abschluss des Umsatzsteuervorausgleichs näherten sich die Pro-Kopf-Steuereinnahmen dem Durchschnitt der Einwohner an, wahrten aber doch einen merklichen Abstand voneinander. Durchweg verloren die steuerstarken Länder: Hamburg blieben von seiner originären Steuerkraft von 147,6 % des Länderdurchschnitts noch 123,6 %, Bayern sank von 128,3 % auf 111,9 %, Hessen von 121,6 % auf 107,9 % und Baden-Württemberg von 116,8 % auf 105,0 %. Die Werte von Rheinland-Pfalz und von Schleswig-Holstein blieben mit etwa 94 % des Durchschnitts nahezu unverändert, während andererseits die vier ursprünglich steuerschwächsten Länder sich um nahezu 30 Prozentpunkte auf einen Wert von etwa 93 % des Durchschnitts verbessern konnten. Der vertikalen ersten und der anschließenden horizontalen Verteilungsstufe folgt daher mit dem Finanzausgleich unter den Ländern ein weiteres, gleichfalls horizontal wirkendes Korrekturinstrument, das in deren Verhältnis zueinander einen angemessenen Ausgleich unterschiedlicher Finanzkraft bewirken und dabei Finanzkraft wie Finanzbedarf der Gemeinden berücksichtigen soll (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. §§ 6 – 9 MaßstG und §§ 4 – 10 FAG). Wie bei der Gewährung und Bestimmung der Ergänzungsanteile geht der Regelungsauftrag an den Gesetzgeber – erneut ohne Vorgaben zur Methodik, anders dagegen mit der freilich kaum hilfreichen Benennung des Regelungsgegenstandes, also der Ausgleichsansprüche und -pflichten und der Maßstäbe für die Höhe der Ausgleichsleistungen (Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG). Er soll die durchschnittliche Finanzkraft aller Länder und die Finanzkraft jedes einzelnen Landes nach der horizontalen Umsatzsteuerverteilung und der Vergabe der Ergänzungsanteile bis zu einem Grade einander annähern, den das Grundgesetz ohne genauere Angabe als angemessen bezeichnet. Die hierbei umzuverteilenden Mittel sind ausschließlich solche, die den Ländern als eigene und ohne Beteiligung des Bundes zustehen. Für das Jahr 2013 hat der Bund sie mit 8,459 Mrd. E ermittelt, von denen nach dem Abschöpfungs- und Auffüllungstarif des § 10 FAG Bayern 4,320 Mrd. E, Baden-Württemberg 2,429 Mrd. E und Hessen 1,711 Mrd. E zu tragen haben. Die höchsten Ausgleichsleistungen erhielten Berlin mit 3,338 Mrd. E, Sachsen mit 1,002 Mrd. E und Nordrhein-Westfalen mit 693 Mio. E.

70 Bei der Beratung der Finanzreform 1969 war der Vermittlungsausschuss allerdings optimistisch: „Durch den (…) Verteilungsmodus der Umsatzsteuer und (…) durch die Vorwegverteilung eines Viertels des Länderanteils der Umsatzsteuer (wird) der horizontale Finanzausgleich jetzt schon auf ein Minimum, nämlich auf den echten Spitzenausgleich der Steuerkraftunterschiede, zurückgeschraubt. Es besteht an sich gar kein Bedenken, dass er im Laufe der Entwicklung eines Tages durch die übrige Verteilung einmal überflüssig werden könnte“ (so der mündliche Bericht vom 20. 3. 1969 in: Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, 222. Sitzung, Protokoll, S. 12059). Das lässt sich als Kompromiss lesen: Finanz- und Rechtsausschuss hielten den horizontalen Finanzausgleich für entbehrlich (BT-Drucks. V/3605, S. 7: „Es ist (…) nicht Aufgabe eines Teils der Gliedstaaten, für eine ausreichende Finanzausstattung der anderen Gliedstaaten zu sorgen.“), der Bundesrat sah darin ein beizubehaltendes System, um „Unterschiede in der Finanzausstattung einzelner Länder durch einen intensivierten Länderfinanzausgleich abzubauen“ (BT-Drucks. V/3826, S. 7).

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Für die Konkretisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht wieder das Maßstäbegesetz für zuständig erklärt. Die Aufgabe des vom Grundgesetz geforderten angemessenen Ausgleichs wird dort als Annäherung der Finanzkraft unter Berücksichtigung der Eigenstaatlichkeit der Länder einerseits und ihrer Einbindung in die bundesstaatliche Solidargemeinschaft andererseits verstanden (§ 5 MaßstG), als „eine den ländereigenen Aufgaben entsprechende hinreichende Annäherung der Finanzkraft der Länder“, die erreicht ist, „wenn die Eigenstaatlichkeit der Länder und ihre Einbindung in die bundesstaatliche Solidargemeinschaft zugleich berücksichtigt sind“ (§ 9 MaßstG). § 7 MaßstG bezieht in den Verfassungsbegriff der Finanzkraft grundsätzlich alle ausgleichserheblichen Einnahmen von Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden ein. Vergleichsgröße ist die Einwohnerzahl, die zu modifizieren ist, wenn strukturelle Eigenarten der Länder und ihrer Gemeinden abstrakte Mehrbedarfe begründen, bei denen auch der Finanzbedarf der Gemeinden und Gemeindeverbände Berücksichtigung findet (§ 8 Abs. 1 MaßstG). Den abstrakten Mehrbedarfen der Stadtstaaten muss, denjenigen besonders dünn besiedelter Flächenländer kann Rechnung getragen werden (§ 8 Abs. 2 MaßstG). Wer als Kennzeichen des Maßstäbegesetzes die wortgetreuen Anlehnungen an das Bundesverfassungsgericht und den weitgehenden Verzicht auf anwendungstaugliche Tatbestandsmerkmale und Handlungsanweisungen deutlich machen will, braucht diese Bestimmungen nur zu zitieren. Das Finanzausgleichsgesetz verzichtet daher von vornherein auf den Versuch, seine Festlegungen aus ihnen abzuleiten. Es verengt den nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts71 weit gefassten Begriff der Finanzkraft auf die Steuerkraft (§ 7 FAG) und vergleicht die Pro-Kopf-Finanzkraft aller Länder als Durchschnitt mit der individuellen Finanzkraft eines Landes je Einwohner, Grundlage ist jeweils die Summe der eigenen und der Steuereinnahmen der Gemeinden (§§ 7 und 8 FAG). Dieser zunächst unproblematische, vom Bundesverfassungsgericht72 vorgeschlagene Vergleichsmaßstab wird für einen Teil der Länder zugunsten einer Einwohnerwertung dann jedoch aufgegeben, und da nicht nur die Finanzkraft, sondern auch der Finanzbedarf der Gemeinden in einem vom Grundgesetz nicht näher bestimmten Umfang zu berücksichtigen ist, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, diesen Tatbestand nachvollziehbar zu entwickeln und auf dessen Grundlage über das Maß der Berücksichtigung zu befinden. Tatsächlich geht der Finanzausgleich – anders als die freilich ihrerseits defizitäre Vorgabe in § 8 MaßstG – auf den kommunalen Finanzbedarf jedoch nicht ein und entscheidet sich ohne weiteres dafür, die Steuereinnahmen der Gemeinden zu 64 % in die Finanzkraftmesszahl der Länder einzubeziehen (§ 6 Abs. 2 i. V. m. § 8 Abs. 3 FAG) – in 71

BVerfGE 86, 148, 216: „Der Begriff der Finanzkraft (…) ist umfassend zu verstehen und darf nicht allein auf die Steuerkraft reduziert werden.“ Nach BVerfGE 101, 158, 222, umfasst die Finanzkraft „grundsätzlich alle Finanzmittel, die ein Land zu haushaltspolitischen Gestaltungen befähigen, beschränkt sich also nicht auf das Steueraufkommen, sondern bezieht auch sonstige Finanzmittel ein.“ 72 BVerfGE 72, 300, 400 f.; 101, 158, 228.

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erster Linie deshalb, weil Bundestag und Bundesrat sich für eben diesen Wert ausgesprochen hätten, er sich vor dem Hintergrund eingeholter Gutachten im Rahmen des Grundgesetzes, des Maßstäbegesetzes und der Rechtsprechung bewege und der abstrakte kommunale Mehrbedarf zwar einerseits indikatorengestützt abgebildet, andererseits aber doch nicht sicher bestimmt werden könne.73 Für die gesonderte Einwohnerwertung der Stadtstaaten in ihrer Eigenschaft sowohl als Länder wie als Gemeinden, aber auch der dünn besiedelten Flächenländer (§ 9 Abs. 2 und 3 FAG) beruft sich die Gesetzesbegründung allgemein auf die hierzu erstellten Gutachten, die das Vorliegen abstrakter Mehrbedarfe bejaht hätten und einen „Korridor möglicher Einwohnerwertungen“ zuließen, für deren Festlegung der Gesetzgeber dann seinen Beurteilungs- und Ermessensspielraum genutzt habe.74 Die Konsequenzen sind beträchtlich. Die berücksichtigungsfähigen Steuereinnahmen der Gemeinden lagen 2013 bei etwa 87,470 Mrd. E, als Anteil von 64 % einbezogen worden sind 55,983 Mrd. E, von denen auf die steuerstarken Länder Bayern (10,409 Mrd. E), Baden-Württemberg (9,040 Mrd. E) und Hessen (5,175 Mrd. E) die nach der Einwohnerzahl und nach Nordrhein-Westfalen als dem bevölkerungsreichsten Land (11,825 Mrd. E) auch die absolut höchsten Beträge entfielen. Damit wird Hessen allein durch die kommunale Steuerkraft im Länderfinanzausgleich in Höhe von 741,5 Mio. E belastet, obgleich die Schulden seiner Gemeinden und Gemeindeverbände im Jahre 2013 mit 18,135 Mrd. E nur von denen in Nordrhein-Westfalen mit 50,163 Mrd. E übertroffen wurden75 und ihre Pro-Kopf-Verschuldung mit 5.173 E hinter derjenigen im Saarland (6.220 E) bundesweit die zweite Stelle einnimmt.76 Die Berücksichtigung der kommunalen Finanzkraft setzt indessen einen prüfbaren abstrakten Mehrbedarf voraus, der ohne Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse einzelner Gemeinden allgemein bei der Erfüllung kommunaler Aufgaben entsteht, neben den Kommunen selbst auch den jeweiligen Ländern zur Last fällt und deshalb darüber Auskunft gibt, „in welchem Ausmaß deren Finanzkraft durch ihre Sorge für eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen in Anspruch genommen wird“.77 Um solche Feststellungen hat sich der Gesetzgeber jedoch nicht bemüht.78 Ebenso wenig hat er dem Umstand Rechnung getragen, dass die Gemeinden finanzverfassungsrechtlich zwar als Teil der Länder behandelt werden (Art. 106 Abs. 9 GG), dass Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG ihnen mit der Selbstverwaltung aber zugleich die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung garantiert und in Art. 106 Abs. 5 – 6 GG zur Stärkung ihrer Finanzkraft zwar eigene Finanzquellen erschließt, auf die die Länder jedoch ebenso wenig Zugriff haben wie sie in den Grenzen des kommunalen Selbstverwaltungsrechts die Verwendung der übrigen kommu73

So die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/7063, S. 28. BT-Drucks. 14/7063, S. 28. 75 So die Angaben des Statistischen Bundesamtes Fachserie 14 Reihe 5, 2013, S. 112 – 114. 76 Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Nr. 274 vom 1. 8. 2014. 77 BVerfGE 86, 148, 223. 78 Das beanstandet auch Huber (Anm. 41), Art. 107 Rn. 106. 74

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nalen Einnahmen steuern können. Dann ist aber durchaus offen, in welchem Umfang sie durch ihre Kommunen in ihren eigenen Aufgaben entlastet werden und sich deshalb die weitgehende Anrechnung der kommunalen Finanzkraft gefallen lassen müssen, deren Ausgleichsrelevanz sich zudem durch die gebotene Einbeziehung des kommunalen Finanzbedarfs wieder verringert. Die vollständige Einbeziehung der kommunalen in die Finanzkraft ihrer Länder hätte nach den Berechnungen des Hessischen Ministeriums der Finanzen für die Geber- wie für die Nehmerländer erhebliche Folgen: Bayern verlöre nach der Abrechnung für 2013 758 Mio. E, BadenWürttemberg 726 Mio. E, Hessen 432 Mio. E, selbst die derzeitigen Nehmerländer Hamburg (103 Mio. E) und Nordrhein-Westfalen (59 Mio. E) stünden schlechter, Nutznießer wären die westlichen, mit zusätzlichen Gewinnen von 269 Mio. E bis zu 550 Mio. E die östlichen Nehmerländer und mit einem Betrag von 633 Mio. E vor allem Berlin; aber selbst kleinere Veränderungen – beispielsweise eine verminderte Einbeziehung von 60 % der Steuereinnahmen oder eine Erhöhung auf 70 % – hätten bereits spürbare Verschiebungen zur Folge.79 Da Finanzkraft und -bedarf der Kommunen dem Ziel eines angemessenen Finanzkraftausgleichs unter den Ländern aber lediglich „zu- und untergeordnet“80 und deshalb nicht mehr als zu berücksichtigen sind, scheidet deren vollständige Einbeziehung in die Länderfinanzkraft aus;81 für das Maß ihrer Berücksichtigung schuldet der Gesetzgeber nachvollziehbare Argumente. Aber nicht nur für die Berücksichtigung der Kommunen, auch für den im Ländervergleich unterschiedlichen Ansatz der Einwohnerzahlen fehlt eine belastbare Grundlage. In der jeweiligen Einwohnerzahl sieht § 8 Abs. 1 MaßstG ein Bedarfskriterium, die Annahme abstrakter, mit Hilfe objektivierbarer Indikatoren zu bestimmender Mehrbedarfe (§ 8 Abs. 2 MaßstG) aufgrund struktureller Eigenarten der Länder und ihrer Gemeinden führt im Ländervergleich zu einer fiktiven Erhöhung der Einwohnerzahl namentlich bei den Stadtstaaten (§ 8 Abs. 3 MaßstG). Für diese setzt § 9 Abs. 2 und 3 FAG den Erhöhungsfaktor sowohl bei den Länderwie bei den Gemeindeeinnahmen auf 135, für die besonders dünn besiedelten Flächenländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt – allerdings jeweils nur bei der kommunalen Finanzkraft – auf 105, 103 und 102 fest. Berlin wird danach so behandelt, als hätte es nicht 3,394, sondern 4,582 Mio. Einwohner, Hamburg wächst um fiktive 610.050 auf 2,353 Mio. und Bremen von 655.000 auf 884.250 Einwohner. In demselben Maße steigt, da sich die Finanzkraft nach dem Ver79

S. hierzu etwa die Berechnungen von Broer (Anm. 46), Wirtschaftsdienst 2014, S. 258 ff. (263). 80 BVerfGE 86, 148, 216. 81 Ebenso etwa Huber (Anm. 41), Art. 107 Rn. 98 und wohl auch Rn. 104; Tappe (Anm. 30), DVBl. 2013, S. 1079 ff. (1085), hält einen bedarfsbedingten Abschlag für jedenfalls zulässig. Für eine vollständige Anrechnung dagegen z. B. die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen vom Mai 2000 zu dem Urteil vom 11. 11. 1999, die jedoch nur die Gemeindesteuern in den Blick nimmt, und ferner das Gutachten des Sachverständigenrates (Anm. 21) BT-Drucks. 14/7569, S. 213 Ziff. 365, S. 328; Deubel (Anm. 45), ifo Schnelldienst 1/2014, S. 43 ff. (50).

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hältnis der Steuereinnahmen zur Einwohnerzahl bestimmt, der Ausgleichsbedarf – die Städte werden bei unverändertem tatsächlichen Steueraufkommen mit Hilfe erhöhter Einwohnerzahlen zu Lasten der übrigen Länder ärmer gerechnet. In der praktischen Abwicklung führt das für die begünstigten Städte und Länder zur Konstruktion eines erheblichen – scheinbaren – Verlustes an Steuerkraft und damit zur Verschiebung der Steuerkraftreihenfolge: In den Länderfinanzausgleich des Jahres 2013 ist Hamburg mit der bundesweit höchsten originären Steuerkraft von 130,8 % des Durchschnitts hineingegangen, Bremen lag mit 94,3 % an siebter und Berlin mit 89,8 % an zehnter Stelle, Bayern, Hessen und Baden-Württemberg nahmen mit Werten von 113,7 %, 111,9 % und 109,8 % die zweite bis vierte Stelle ein. Im unmittelbaren Anschluss an diesen eigentlichen Länderfinanzausgleich hätte Hamburg ohne die Einwohnerwertung nach seiner Pro-Kopf-Steuerkraft mit 132,1 % des Durchschnitts noch immer an der Spitze gelegen, Bremen hätte mit 117,6 % den zweiten und Berlin mit 115,7 % den dritten Platz erreicht, die drei zunächst finanzstärksten Länder wären auf die Plätze vier bis sechs zurückgefallen. Selbst unter Berücksichtigung der Bundesergänzungszuweisungen hätte sich die Reihenfolge nur zum Teil geändert – Berlin hätte jetzt mit 128,7 % des Durchschnitts an der Spitze gelegen, Hamburg und Bremen hätten sich mit 128,1 % und 123,2 % angeschlossen, die drei Geberländer wären noch hinter die fünf neuen Länder zurückgefallen. Als Folge der fiktiven Einwohnervermehrung findet sich Hamburg nach Abschluss des gesamten Zuteilungsverfahrens dagegen unversehens an vierter Stelle und ist in Höhe von 87,09 Mio. E im Länderfinanzausgleich anspruchsberechtigt, Bremen erhält auf dem 13. Platz 588,64 Mio. E und Berlin bildet mit einem Ausgleichsbetrag von 3,338 Mrd. E das Schlusslicht der Finanzkraftreihenfolge, während Bayern, Baden-Württemberg und Hessen insgesamt 8,459 Mrd. E einbringen und ihre Plätze eins bis drei behalten. Welche abstrakten Mehrbedarfe der Stadtstaaten auf der einen und der dünn besiedelten Länder auf der anderen Seite derartige Zahlungsansprüche auslösen könnten, ist nicht zu erkennen. § 8 Abs. 3 MaßstG legt sich indessen von vornherein darauf fest, dass „den“ – nicht etwa den vielleicht möglichen – Mehrbedarfen der Stadtstaaten Rechnung zu tragen sei, fordert dafür aber immerhin objektivierbare Indikatoren (§ 8 Abs. 2 Satz 2 MaßstG).82 Davon ist die gesetzliche Festlegung von 135 v. H. (§ 9 Abs. 2 und 3 FAG) und ihre Begründung weit entfernt. Sie hätte nicht nur die absolute Höhe der Einwohnerwertung, sondern auch die Sachgerechtigkeit des bundesweiten Ausgleichs anstelle einer naheliegenden differenzierenden Problemlösung primär im Verhältnis von Stadtstaaten und Umland erörtern und als Alternative überhaupt erkennen müssen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt zwar an, „die Andersartigkeit der Stadtstaaten (betreffe) … nicht etwa nur deren Nachbarländer, sondern alle Glieder des Bundes“,83 begründet das aber nicht weiter und will diese besondere Stadt-Umland-Problematik allein über 82

Dazu im Einzelnen BVerfGE 86, 148, 233 – 236; 101, 158, 230 f.; Huber (Anm. 41), Art. 107 Rn. 118 – 120, der allerdings meint, der Gesetzgeber sei den Anforderungen zwar nicht vollständig, aber doch im Wesentlichen gerecht geworden. 83 BVerfGE 72, 330, 415.

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die Einwohnerveredelung lösen. Die abstrakten Mehrbedarfe der Stadtstaaten, wenn es sie denn geben sollte,84 entstehen aber gerade aus dieser regionalen Verflechtung, ihre weiterreichende Wirkung ist bislang nicht nachgewiesen. Die Prämienlösung des § 7 Abs. 3 FAG ist ein Akt symbolischer Gesetzgebung. Sie stellt 12 % der im Ländervergleich überdurchschnittlichen Zuwächse an Steuereinnahmen eines Jahres für eben dieses Jahr ausgleichsfrei, um einen Anreiz zur Erhöhung des Steueraufkommens zu setzen. Die Prämie setzt also, um wirken zu können, eine gewisse Einnahmenautonomie der Länder voraus, lässt sich zudem aber auch dann verdienen, wenn nicht etwa der eigene Steuerertrag steigt, sondern wenn der Durchschnittswert unversehens zurückgeht. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre führen ausgleichsrelevante Steuermehreinnahmen überdies zu Ergebnissen einer Größenordnung, die für die Finanzkraft der Geber- wie der Empfängerländer weitgehend irrelevant bleibt.85 Das Verfahren des Ausgleichs zwischen Geber- und Nehmerländern ist damit abgeschlossen. Was das Finanzausgleichsgesetz nicht erkennen lässt, sind die daraus sich ergebenden Grenzabschöpfungsquoten im Fall von Steuermehreinnahmen. Sie fallen, wie eine Beispielsrechnung zeigt,86 bei steuerstarken und -schwachen Ländern ganz unterschiedlich aus und belegen, dass die Anreizwirkung in Richtung auf eine Verbesserung der eigenen Finanzkraft im Verhältnis zu dieser abnimmt – je finanzschwächer ein Land ist, desto weniger wird sein Interesse unterstützt, durch eigene Bemühungen seine Finanzkraft zu stärken. Gelingt es einem Land, seinen Einkommensteuerertrag um 1 Mio. E zu erhöhen, stehen hiervon dem Bund 425.000 E zu (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG), und weitere 150.000 E gehen an die eigenen Gemeinden (§ 1 Gemeindefinanzreformgesetz). Nach Abschluss des Umsatzsteuervorausgleichs verbleiben von den restlichen, auf das Land entfallenden 425.000 E in Hessen als Beispiel eines steuerstarken Landes noch 408.338 E, also 96,1 %, während – wiederum als Beispiel – Sachsen-Anhalt als steuerschwaches Land nach dem Verlust von 387.497 E noch 37.503 E, also 8,8 % behielte. Durch den Länderfinanzausgleich verliert Hessen weitere 324.465 E, verfügt also noch über 83.873 E. Sachsen-Anhalt dagegen hätte sich im Länderfinanzausgleich um weitere 85.814 E verschlechtert, und seine allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen gingen um 25.987 E zurück. Diese Berechnung würde mit einem Einnahmen84 So etwa Markus Eltges/Michael Zarth/Peter Jakubowski/Eckhard Bergmann, Abstrakte Mehrbedarfe im Länderfinanzausgleich, Gutachten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, 2001; Markus Eltges/Michael Zarth/Peter Jakubowski, Abstrakte Mehrbedarfe sind keine Fiktionen, in: Wirtschaftsdienst 2001, S. 323 ff. 85 Einzelheiten ergeben sich aus den Antworten für das Jahr 2005 (BT-Drucks. 16/1240, S. 20 f.), für die Jahre 2006 – 2011 (BT-Drucks. 17/11612, S. 17 – 20) und für das Jahr 2013 (BT-Drucks. 18/1684, S. 23). Als Fehlkonstruktion bezeichnet sie daher schon das Gutachten des Sachverständigenrates (Anm. 21), BT-Drucks. 14/7569, S. 213 Ziff. 367. Das stimmt mit den Ergebnissen von André W. Heinemann, Länderfinanzausgleich 2005: Kritische Bewertung des Prämienmodells, in: Wirtschaftsdienst 2006, S. 651 ff. (653 f.), überein. 86 Die Zahlen sind einer Berechnung des Hessischen Ministeriums der Finanzen entnommen.

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rückgang von 499.298 E und damit einem Verlust für den Landeshaushalt von 74,298 E schließen. Damit verlöre es „seine“ 425.000 E vollständig und könnte nur deshalb noch geringfügige Mehreinnahmen von 75.702 E verbuchen, weil seinen Kommunen die 150.000 E unverändert zufließen, während Hessen unter Einbeziehung seiner Kommunen 233.873 E verbleiben.87 In ihrer gegenwärtigen Form werden die Einwohnerwertung und der hohe Ansatz der kommunalen Finanzkraft daher schwerlich Bestand haben können. Dieser eigentliche Länderfinanzausgleich im Umfang von 8,459 Mrd. E mag im Verhältnis zu den 244,206 Mrd. E, die die Ländergesamtheit im Jahre 2013 durch die vertikale Aufkommensverteilung erhalten hat, und erst recht zu dem Gesamtvolumen des Finanzausgleichs von 570,212 Mrd. E nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Dagegen sind diese Zahlungen für die Nehmerländer, wie schon deren Ablehnung jeglicher Änderungsgespräche zeigt, von einiger Bedeutung, und für die Geberländer gilt das nicht weniger: Legt man die Kassenstatistik des Statistischen Bundesamtes zugrunde, dann zahlt Bayern mit 4,320 Mrd. E etwa 9,23 % seiner bereinigten Ausgaben des Jahres 2013 in Höhe von 46,785 Mrd. E, Baden-Württemberg mit 2,429 Mrd. E 5,95 % von 40,847 Mrd. E und Hessen mit 1,711 Mrd. E 7,53 % von 22.727 Mrd. E. Das Argument eines angeblich zu vernachlässigenden Volumens fällt damit in sich zusammen. e) Die Bundesergänzungszuweisungen Im Anschluss an diesen horizontalen Ausgleich eröffnet Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG dem Bund die Befugnis, leistungsschwachen Ländern im Wege eines zweiten vertikalen Finanzausgleichs aus seinen zum Teil freilich von den Ländern refinanzierten Mitteln Ergänzungszuweisungen ohne spezifische Zweckbindung zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs zu gewähren.88 Im Jahre 2013 hat 87

Vgl. zu diesem Problem schon Christian Baretti/Bernd Huber/Karl Lichtblau, Weniger Wachstum und Steueraufkommen durch den Finanzausgleich, in: Wirtschaftsdienst 2001, S. 38, und aktuell Deubel (Anm. 45), ifo Schnelldienst 1/2014, S. 43 ff. (49 f.), der zu Grenzabschöpfungsquoten von 52,8 % für Bayern und 88,5 % für Bremen kommt. Fuest/Thöne (Anm. 31), S. 51 – 55, geben bei der Lohn- und Einkommensteuer Abschöpfungsquoten zwischen 78 % für Nordrhein-Westfalen, 107 % für Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein und 108 % für das Saarland an. Vergleichsberechnungen für das Jahr 2002 und für die Neuregelung finden sich bei Hans Fehr/Michael Tröger, Reform des Länderfinanzausgleichs und Kommunalfinanzen, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 2003, S. 391 ff. (394 – 396, 398 f.); André W. Heinemann, Selbstbehalt im Länderfinanzausgleich – (K)ein Problem für dezentrale Politik?, in: Finanzpolitik aktuell, Oktober 2012, S. 4 f., untersucht die Verbleibsquoten bei einer in jedem Land gleichzeitig erzielten Mehreinnahme von 1 Mio. E und kommt zu einer Spanne von 37 % (= 370.000 E) für Bremen bis zu 219 % (= 2,190 Mio. E) für Bayern. Aktuelle Berechnungen mit ähnlichen Ergebnissen finden sich auch bei Joachim Ragnitz, Wie funktioniert eigentlich der Länderfinanzausgleich?, in: ifo Dresden berichtet, 2013, S. 5 ff. (7 ff.), dort gewürdigt als „ein System, das keiner wirklichen Rationalität zu folgen scheint“ (S. 18). 88 Der Mehrbelastungs- wie der Sonderlastenausgleich (Art. 106 Abs. 4 Satz 2 und 3, Abs. 8 GG) und die Konsolidierungshilfen nach Art. 143d GG könnten als Sonderfälle des

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er hierfür als allgemeine Bundesergänzungszuweisungen 3,187 Mrd. E aufgewandt.89 Niedersachsen und die drei steuerstärksten Länder erhielten nichts, der geringste Betrag von 42 Mio. E ging an Hamburg, der höchste mit 1,055 Mrd. E an Berlin. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings frühzeitig geklärt, dass die tatbestandliche Leistungsschwäche sich zwar grundsätzlich aus dem Verhältnis des Finanzaufkommens zu den allgemeinen und besonderen Aufgabenlasten eines Landes ergebe. Sie müsse aber nicht Folge einer unterdurchschnittlichen, sondern könne selbst bei überdurchschnittlicher Finanzausstattung durch Sonderlasten verursacht sein.90 Diese Anregung hat zunächst das Maßstäbegesetz (§§ 10 – 12) und sodann das Finanzausgleichsgesetz aufgenommen. Nach der Vorgabe von § 10 Abs. 1 und 3 und § 11 MaßstG erklärt § 11 Abs. 2 FAG solche Länder für leistungsschwach, deren Finanzkraft nach Durchführung des Länderfinanzausgleichs 99,5 % der durchschnittlichen Länderfinanzkraft nicht erreicht, und füllt den Fehlbetrag zu 77,5 % auf. Neben diesen allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen sind bis zum Jahre 2019 kontinuierlich abnehmende Festbeträge zur Deckung teilungsbedingter Sonderlasten und zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft vorgesehen – für das Jahr 2013 in Höhe von etwa 6,546 Mrd. E (§ 11 Abs. 3 FAG) –, die nach einem gleichbleibenden Schlüssel auf Berlin und die fünf neuen Länder verteilt werden. Davon ging der größte Teil mit 1,707 Mrd. E an Sachsen, Berlin erhielt 1,245 Mrd. E und Mecklenburg-Vorpommern den geringsten Betrag von 689,5 Mio. E. Weitere Festbeträge erhalten die fünf neuen Länder zum Ausgleich erhöhter sozialer Lasten (§ 11 Abs. 3a FAG). Als problematisch erweisen sich demgegenüber die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen „wegen überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung“ (§ 11 Abs. 4 FAG), die der Bund unbefristet und ohne weitere Überprüfung als jährliche Festbeträge von insgesamt 516,916 Mio. E an zehn Länder vergibt. Die Wissenschaft lehnt solche „Kosten der Kleinheit“ mitunter als bundesstaatswidrig ab,91 das Bundesverfassungsgericht92 hatte sie bei leistungsschwachen Ländern mit geringer Einwohnerzahl zur Finanzierung einer Mindestausstattung der staatsleitenden Organe für wohl nicht geboten, aber zulässig gehalten. Der Regierungsentwurf für ein Maßstäbegesetz93 hatte diesen Gestaltungsspielraum genutzt und sie nicht vorgesehen, der Bundesrat hatte auf ihnen bestanden und den Begriff wie seine tragenden Argumente eingehend erläutert,94 der Sonderausschuss Maßstäbegesetz/Finanzausgleichsgesetz hat sie dann als § 14 Abs. 6 ohne weitere Begründung in das Gesetz Finanzausgleichs behandelt werden, sollen hier aber außer Betracht bleiben. Zu weiteren Fällen eines verdeckten Finanzausgleichs s. Kempny/Reimer (Anm. 34), S. D 24 – 26. 89 Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen vom 21. 2. 2014. 90 BVerfGE 72, 330, 403 – 405. 91 So etwa Huber (Anm. 41), Art. 107 Rn. 154 mit Hinweisen. 92 BVerfGE 72, 330, 405; 86, 148, 274 f.; 101, 158, 235. 93 BT-Drucks. 14/5951. 94 BT-Drucks. 14/5951, S. 38 (§ 23), 74 f.

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eingefügt.95 Dass die Kosten politischer Führung außer in den drei steuerstärksten Zahlerländern im Länderfinanzausgleich nur in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hamburg zumindest durchschnittlich sein und in jedem der übrigen zehn Länder im Mittel bei nahezu 52 Mio. E jährlich über dem Durchschnitt liegen sollen, ist zunächst überraschend96 und sodann von Verfassungs wegen97 begründungsbedürftig (§ 12 Abs. 1 Satz 1 MaßstG) – § 12 Abs. 6 Satz 1 MaßstG spricht nur allgemein davon, dass die Kosten politischer Führung solche Ergänzungszuweisungen dann begründen können, wenn sie ein Land im Hinblick auf seine Einwohnerzahl überproportional belasten. Als besonderer Typus der Ergänzungszuweisungen sind sie unter der allgemeinen Voraussetzung der Leistungsschwäche nach Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG nach Grund und Höhe der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen. An die Erfordernisse sachgerechter Maßstabsbildung bleibt er jedoch gebunden. In diesem Punkt zeigt das Zuordnungsverfahren Defizite. Sonderbedarfe wegen der Kosten politischer Führung können nur bei einer im Verhältnis zur Einwohnerzahl überproportionalen, nicht schon überdurchschnittlichen Belastung bestehen (§ 12 Abs. 6 Satz 1 MaßstG). Ihre Grundlage ist die Annahme, jedes Land benötige unabhängig von seiner Einwohnerzahl zur Erfüllung seiner Aufgaben im Bereich der politischen Führung eine Grundausstattung mit der Folge, dass in Ländern mit geringer Einwohnzahl die dafür erforderlichen Pro-Kopf-Ausgaben steigen. In der Tat waren diese Aufwendungen für politische Führung im Referenzjahr 2010 im Saarland als dem kleinsten Flächenland mit 122,57 E je Einwohner am höchsten, unmittelbar gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern, das nur wenig größer ist und für seine politische Führung mit 116 E je Einwohner den zweithöchsten Betrag aufwendet, während Nordrhein-Westfalen als größtes Land sich die politische Führung mit 29,69 E nach Baden-Württemberg mit 26,42 E am wenigsten kosten lässt. Eine dem durchschnittlichen Kostenaufwand entsprechende Vergleichsgröße weist der Gesetzgeber indessen nicht aus. Bei der aktuellen, in § 11 Abs. 4 Satz 2 FAG vorgeschriebenen Abstimmung zwischen Bund und Ländern98 geht er als maßgeblich vielmehr von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Länder aus. Sodann wird jene Eingangshypothese auf der Grundlage der vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Rechnungsergebnisse der öffentlichen Haushalte99 regressionsanalytisch überprüft und der normierte Pro-Kopf-Aufwand der einzelnen 95

BT-Drucks. 14/6533, S. 10 f., 36. Das gilt auch für den Gesetzgeber. Er ging davon aus, „dass nur etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung in Ländern wohnt, die überhaupt Bezieher von Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für überdurchschnittliche Kosten politischer Führung sein können“ (BT-Drucks. 14/7063, S. 31). 97 BVerfGE 101, 158, 225. 98 Das für die Leistungen ab dem Jahre 2015 maßgebliche Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 9. 10. 2013 an die Finanzministerien der Länder (Az. VA 4 – FV 3020/ 05/0006) ist bislang nicht veröffentlicht. 99 Statistisches Bundesamt Fachserie 14 Reihe 3.1 „Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Haushalte nach Arten und Aufgabenbereichen“, Kennziffer 1003 Politische Führung Zeile 70 („Staat“). 96

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Länder in Abhängigkeit von ihrer Einwohnerzahl ermittelt. Zur Bestimmung der Ausgleichsbeträge werden dann die normierten Pro-Kopf-Ausgaben von Hessen herangezogen, das sich mit seinen etwa sechs Millionen Einwohnern als kleinstes überdurchschnittlich großes Land als Referenzland anbietet. Wenngleich die überdurchschnittlichen Kosten nicht in voller Höhe ausgeglichen werden, erweist sich eine solche Durchschnittsberechnung doch deshalb als mangelhaft, weil sie das aktuelle Ausgabeverhalten für die Geltungsdauer des Finanzausgleichsgesetzes verfestigt und den Ländern mit bislang überdurchschnittlich kostspieliger politischer Führung kaum Anlass zu strukturellen Änderungen gibt. Darüber hinaus verändert die Summe aller Bundesergänzungszuweisungen die Finanzkraftreihenfolge der Länder deutlich. Im Ländervergleich liegen die finanzstarken Länder mit Werten von etwa 105 % zwar immer noch über dem Durchschnitt, werden aber von den fünf neuen Ländern, die etwa 114 % des Durchschnitts erreichen,100 deutlich überholt und liegen noch hinter Berlin, das vom 16. auf den sechsten Platz vorrückt. Realistischer wird dieses Bild allerdings, wenn es nicht den durch die Einwohnerwertung erhöhten, sondern den Finanzbedarf zugrunde legt, der der tatsächlichen Einwohnerzahl entspricht. In diesem Fall steht Berlin mit 128,7 % des Durchschnitts, gefolgt von Hamburg (128,1 %) und Bremen (123,1 %), an erster Stelle, während die drei Geberländer Bayern (101,2 %), Hessen (101,0 %) und Baden-Württemberg (100,3 %) die Plätze neun bis elf einnehmen. II. Folgerungen Insgesamt hat das System des Art. 107 GG mit den Ergänzungsanteilen an der Umsatzsteuer, dem Länderfinanzausgleich und den Bundesergänzungszuweisungen – den allgemeinen und den Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für die Kosten politischer Führung, für die Bedarfe der neuen Länder und zum Ausgleich struktureller Arbeitslosigkeit – den 13 Nehmerländern im Jahre 2013 einen Betrag von 30,886 Mrd. E zugewiesen.101 Der größte Anteil fiel mit 6,295 Mrd. E an Sachsen, dann folgte mit 6,095 Mrd. E Berlin, die Leistungen an die übrigen neuen Länder deckten eine Bandbreite von 3,470 Mrd. E für Thüringen bis zu 2,637 Mrd. E für Mecklenburg-Vorpommern ab, für die alten Bundesländer verblieben Beträge von 1,533 Mrd. E für Niedersachsen über 1,160 Mrd. E für Nordrhein-Westfalen bis zu 129 Mio. E für Hamburg. Zu dieser Verteilungsleistung steuerten die Geberländer 100

Nach der Darstellung des Bundes zuletzt für 2012 (BT-Drucks. 17/12646, S. 30) und 2013 (BT-Drucks. 18/412, S. 35) bleiben sämtliche Empfängerländer dagegen unterhalb des Länderdurchschnitts, aber nur deshalb, weil seine Berechnung mit den allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen endet und diejenigen aus Gründen der Sonderbedarfe nicht einbezieht. 101 BT-Drucks. 18/729, S. 40; vgl. für die Jahre 2005 (32,788 Mrd. E) BT-Drucks, 16/894, S. 8 f., 2006 (33,862 Mrd. E) BT-Drucks. 16/4633, S. 14 f., 2007 (35,365 Mrd. E) BTDrucks. 16/10097, S. 18 f., 2008 (35,984 Mrd. E) BT-Drucks. 16/12073, S. 14 f. und 2012 (30,483 Mrd. E) BT-Drucks. 17/12161, S. 12 f.

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im eigentlichen Länderfinanzausgleich, also ohne Berücksichtigung der erheblichen Umverteilungswirkungen der vorangegangenen Steuerzerlegung und des Umsatzsteuervorausgleichs, mit 8,459 Mrd. E immerhin 27,4 % bei. Gewiss wird man nicht sagen dürfen, auf diese Weise hätten die gut 29 Millionen Einwohner der Geberländer für ihre 51 Millionen Mitbürger in den Nehmerländern aufzukommen. Gleichwohl sollte die Belastung für die Geber nicht außer Betracht bleiben – der im Land selbst erwirtschaftete Pro-Kopf-Beitrag zum Länderfinanzausgleich lag im Jahre 2013 in Bayern bei 344,24 E, in Hessen bei 283,90 E und in Baden-Württemberg bei 229,16 E. In dieser Höhe mussten die Geberländer demnach die Leistungen für ihre eigene Bevölkerung kürzen, und sie werden es ohne Aussicht auf wesentliche Besserung weiterhin tun müssen, wenn es nicht gelingt, das gesamtstaatliche Finanzaufkommen so zu verteilen, dass es in spürbarem Umfang dort und bei denen verbleibt, wo und von denen es erarbeitet worden ist. Föderale Solidarität und die Pflicht der Länder zum bündischen Einstehen füreinander102 sind dann keine starken Argumente, wenn die Bürger gezwungen sind, die gerechtfertigten, weil selbst erarbeiteten Ansprüche an ihr Land auf Dauer zurückzustellen. Schmerzlich spürbar werden diese Einbußen vor allem, sobald die Länder spätestens ab dem Jahre 2020 ihre Haushalte nicht mehr mit Einnahmen aus Krediten ausgleichen dürfen (Art. 109 Abs. 3, Art. 143d Abs. 1 Satz 3 und 4 GG) und ihnen der Ausweg in die Bedarfsdeckung durch Verschuldung versperrt ist. Auch die Verwendung des Steueraufkommens bedarf demokratischer Legitimation, die auf durchsichtige, begründbare Verfahren und Entscheidungen angewiesen ist. Sie fehlt dem Finanzausgleich ohnehin – dass etwa die Verkürzung des örtlichen Umsatzsteueraufkommens durch den Umsatzsteuervorausgleich die Landeshaushalte zwar nachhaltig trifft, in ihnen aber nicht ausgewiesen und deshalb als im Einzelfall einnahmenmindernd und problematisch nicht wahrgenommen, sondern verschleiert wird,103 ist nur ein Beispiel defizitärer Legitimation.104 In der einfach-gesetzlichen Konkretisierung seiner Verteilungsschritte erweist sich der Finanzausgleich als durchaus intransparent.105 Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber ermahnt, bei der Ausgestaltung des Finanzausgleichs „entschieden auf eine Vereinfachung und verbesserte Verständlichkeit der Einzelregelungen hinzuwirken“.106 102

Eine Standardformel seit BVerfGE 72, 330, 386. So schon die Kritik des Sachverständigenrates (Anm. 21), BT-Drucks. 14/7569, S. 212 Ziff. 365. 104 Haltern (Anm. 34) VVDStRL, Bd. 73, 2014, S. 103, 128 spricht von einem „Zustand der Unleserlichkeit (…), der vor der Aufgabe der Herstellung von Verantwortungsklarheit und demokratischer Rückkopplung kapituliert.“ 105 Ebenso schon das Gutachten des Sachverständigenrates (Anm. 21), BT-Drucks. 14/ 7569, S. 211 Ziff. 364, S. 324 und 328. Für Deubel (Anm. 45), ifo Schnelldienst 1/2014, S. 43 ff. (50), besteht darin sogar „das Hauptproblem des jetzigen Finanzausgleichssystems (…), dass es wohl nur relativ wenige Personen gibt, die dieses komplexe und in sich widersprüchliche mehrstufige System wirklich durchschauen.“ 106 BVerfGE 101, 158, 231. Schon BVerfGE 86, 148, 258, legt Wert auf „Normenklarheit und -verständlichkeit“. 103

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Pflichtgemäß verwandelt § 2 Abs. 3 MaßstG diesen Wunsch in einen ebenso bemerkenswerten wie folgenlosen Gesetzgebungsauftrag. Die Mechanik des Finanzausgleichsgesetzes ist deshalb nicht verständlicher geworden – das Bild vom „Schleier des Nichtwissens“ über den Entscheidungen der Abgeordneten107 erhält aus der Sicht des Steuerbürgers einen tieferen Sinn. Dem Finanzausgleich fehlt es in den Konsequenzen seiner hier näher betrachteten Verfahrensschritte aber nicht nur an Plausibilität. Vor allem erfüllt er den Auftrag nicht, den das Grundgesetz den unterschiedlichen Ausgleichsstufen zuordnet – die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu wahren (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG), die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen auszugleichen (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) und dabei, was das Grundgesetz voraussetzt und das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont, auf die Eigenstaatlichkeit der Länder Bedacht zu nehmen. Das Gericht stellt den Finanzausgleich in den Rahmen des bundesstaatlichen Prinzips,108 schützt die Leistungsfähigkeit der Geberländer vor ihrer entscheidenden Schwächung,109 sichert die Länderfinanzen gegen ihre Nivellierung110 und unterbindet mit dem Hinweis auf Art. 109 GG, also auf die Selbständigkeit der Haushaltswirtschaft, eine Kontrolle der Ausgabenwirtschaft etwa im Verhältnis der Länder untereinander.111 Für das Bundesverfassungsgericht teilt „der Länderfinanzausgleich … die dem Bundesstaatsprinzip innewohnende Spannungslage, die richtige Mitte zu finden zwischen der Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualitäten der Länder auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite“.112 Zugleich beschreibt jenes bündische Prinzip aber die Grenzen der daraus hergeleiteten Hilfeleistungspflicht113 – Solidarität beweist sich nicht nur im Geben, sondern auch im Nehmen, ihrer staatlichen Eigenverantwortlichkeit müssen Geber- wie Nehmerländer in der Generierung ihrer – wenigen – Einnahmen wie in der Bewirtschaftung ihrer Ausgaben gerecht werden. Dass „politische Autonomie sich in der Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung und Haushaltswirtschaft (Art. 109 Abs. 1 GG) entfalten“ müsse,114 trifft deshalb die Nehmer- nicht weniger als die Geberländer. Deren Bedürfnisse kommen indessen nur unzulänglich zur Geltung. Eine institutionelle Haushaltsaufsicht über den Stabilitätsrat des Art. 109a GG hinaus verbietet sich, sie wird zu Recht auch nicht vorgeschlagen. Auch die Einführung von Belastungs- oder Ausgleichshöchstgrenzen im Verhältnis der Länder zueinander wird 107

BVerfGE 101, 158, 218. BVerfGE 1, 117, 131; 72, 330, 386; 86, 148, 264. 109 BVerfGE 1, 117, 131; 72, 330, 398; 86, 148, 270; 101, 158, 222; 116, 327, 380. 110 BVerfGE 1, 117, 131; 72, 330, 398, 404; 86, 148, 250 f., 278. 111 BVerfGE 1, 117, 133. 112 BVerfGE 72, 330, 398; ähnlich BVerfGE 86, 148, 240 f.; 101, 158, 222. 113 BVerfGE 72, 330, 386 f.; 86, 148, 214. 114 BVerfGE 86, 148, 264. 108

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wohl ausscheiden. Richtig ist aber ebenfalls, dass die Länder kraft ihrer Autonomie und Eigenständigkeit für die haushaltspolitischen Folgen derjenigen Entscheidungen einstehen müssen, die sie selbst getroffen haben.115 Das gilt nicht nur bei wirtschaftlichen Fehlschlägen, sondern nicht weniger auch für eine gelungene Ansiedlungsund Förderpolitik. Unverständlich ist daher, dass, von dem misslungenen Ansatz des § 7 Abs. 3 FAG abgesehen, die Ausgleichstarife keine besonderen Anreize für die Nehmerländer vorsehen, ihre Ertragslage und ihre Kostenstruktur zu verbessern und damit im Ergebnis die Belastung des Finanzausgleichs zu vermindern. Es mag schon richtig sein, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen nicht gerade mit Blick auf ihre Folgen für den Finanzausgleich getroffen werden.116 Etwas anderes ist sinnvollerweise aber auch nicht zu erwarten. Die wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen ausgleichsrelevanten Bemessungsfaktoren, deren Wirkungen sich erst nach Ablauf eines Jahres feststellen lassen (§ 12 FAG), schließt im Zeitpunkt der aktuellen Entscheidung jede ausgleichsbezogene Kalkulation aus, und bei auf längere Sicht angelegten Förderprojekten gilt das erst recht. Sicher ist allein, dass erhöhte selbstgenerierte Einnahmen eines Nehmerlandes jedenfalls mit erheblich verringerten Zuweisungen aus dem Finanzausgleich einhergehen. Verlässlich darf auch ein Geberland nur damit rechnen, dass eine Steigerung von Einnahmen eine erhöhte Abschöpfung zur Folge hat, von der sich im Vorhinein nicht einmal sagen lässt, ob sie die Höhe des eigenen Wertschöpfungsbeitrags vielleicht noch übersteigt. Auch darin wird eine Nivellierungs- und Umverteilungswirkung117 manifest, die die Solidarität der Geberländer überfordert – nicht nur durch die Belastungen ihrer Haushalte, sondern ebenso deshalb, weil es weder für sie noch für die Nehmerländer Instrumente bereithält, mit denen sich dieses Missverhältnis ändern ließen. Bündische Solidarität ist zudem Sache nicht allein der Länder, sondern auch des Bundes. Er verfügt über die ertragreichen Steuerquellen und über deren Steuersätze, er misst – wenngleich mit Zustimmung des Bundesrates – den Ländern ihren Anteil an der Umsatzsteuer zu, finanziert die Bundesergänzungszuweisungen und hat sämtliche Stufen der Ausgleichsgesetzgebung zu verantworten. Dass ihm dabei unter Mithilfe der Länder ein besonders erfolgreiches Modell gelungen wäre, lässt sich nach den Erfahrungen der alten Bundesländer mit dem Finanzausgleich schwerlich vertreten: Bayern ist das einzige Land, dem es im Jahre 1989 gelungen ist, sich nach annähernd 40 Jahren vom Nehmer- zum Geberland zu entwickeln, Baden-Württemberg und, von vier ausgleichsfreien Jahren abgesehen, Hessen werden seit 1950 als Zahlerländer herangezogen. Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und mit Aus115

BVerfGE 72, 330, 405; 116, 327, 384 f. So etwa Tappe (Anm. 30), DVBl. 2013 S. 1079 ff. (1084). 117 Die Nivellierung erklärt das Bundesverfassungsgericht seit seiner ersten Finanzausgleichsentscheidung (BVerfGE 1, 117, 131) in ständiger Rechtsprechung (BVerfGE 72, 330, 398, 404; 101, 158, 222, 234; 116, 327. 380) für verfassungswidrig. Dass der Gesetzgeber die ihm vom Gericht (BVerfGE 101, 158, 234 f.; 116, 327, 381 f.) zugestandene Befugnis hätte in Anspruch wollen, wegen außergewöhnlicher Gegebenheiten in der Ausgestaltung des Gesamtsystems vom Nivellierungsverbot abzuweichen, lässt sich nicht erkennen. 116

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nahme von drei Jahren Schleswig-Holstein haben es dagegen nie erreicht, aus der Rolle eines Nehmerlandes herauszufinden, für Bremen hat sie sich seit dem Jahre 1970 verfestigt, Hamburg ist erstmals seit 2013, Nordrhein-Westfalen ist im Jahre 2010 zum Nehmerland geworden. Damit erwecken die gegenwärtigen Regelungen den Anschein, es seien 13 von 16 Ländern auf solidarische Hilfe des Bundes und der verbleibenden drei Länder angewiesen, um das Ziel des Finanzausgleichs zu erreichen – nämlich „Bund und Länder finanziell in die Lage zu versetzen, die ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben auch wahrzunehmen; erst dadurch kann die staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern real werden, können sich Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung entfalten“.118 Für die fünf neuen Länder und für Berlin steht dabei der Unterstützungsbedarf dem Grunde nach nicht in Frage. Ob und, falls überhaupt, in welchem Umfang er gerade von den anderen Ländern zu decken ist, muss allerdings überprüft werden. Die geltende Finanzverfassung hat seit längerem keinen guten Ruf.119 Verfassungsrechtler und zumal Finanzwissenschaftler entwerfen und diskutieren die unterschiedlichsten Reformmodelle. Die wenigsten werden ohne Eingriffe in das Grundgesetz zur verwirklichen sein. Schon die Grundannahmen, die ganz unterschiedlichen Zielvorstellungen und schließlich die Konsequenzen sind streitbefangen und politische Bewertungen stehen ohnehin noch aus. Die publizistische Begleitung des bayerischen und hessischen Normenkontrollantrags, der doch nicht mehr als einzelne Teilschritte des Finanzausgleichs, aber keinesfalls seinen Grundgedanken in Frage stellt,120 lässt zudem hoch emotionale Verhandlungen erwarten. Vor diesem Hintergrund kann es hilfreich sein, sich zunächst der aktuellen Rechtslage und ihrer Schwierigkeiten zu vergewissern.

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BVerfGE 72, 330, 383. Überaus kritisch bereits der Sachverständigenrat (Anm. 21) BT-Drucks. 14/7569, S. 211 – 215. 120 S. dazu schon Volker Bouffier, Klage gegen den Länderfinanzausgleich: Ein richtiger Schritt gegen unfaire Verteilung?, in: ifo Schnelldienst 9/2013, S. 3. Deshalb ist der Antrag gerade nicht „Ausdruck des Unwillens (…), ,aus Eigenem‘ Transferleistungen zugunsten der im Finanzausgleich begünstigten Länder erbringen zu müssen“ (so aber Jochen-Konrad Fromme/Klaus Ritgen (Anm. 34), DVBl. 2014, S. 1017 ff. [1018]); und von einer „Aufkündigung der Solidarität“ (Norbert Walter-Borjans, Klage gegen den Länderfinanzausgleich: Ein richtiger Schritt gegen unfaire Verteilung?, in. ifo Schnelldienst 9/2013, S. 6) kann ebenso wenig die Rede sein. 119

Erosion der Ehe durch gesellschaftlichen Wandel? Von Steffen Detterbeck I. Eine bundesverfassungsgerichtliche Kehrtwende Wer heutzutage behauptet, „gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz“, oder „Homosexualität als [möglicherweise] unausweichliche körperlich-seelische Abartigkeit“ bezeichnet, muss mit öffentlicher Ächtung, persönlicher Verfolgung und der Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens rechnen. Der Hinweis darauf, dass es sich bei den inkriminierten Äußerungen um O-Ton des Bundesverfassungsgerichts handelt,1 dürfte die genannten Negativreaktionen kaum verhindern. Änderungen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sind sehr selten. Dass eine dezidiert geäußerte (Rechts-)Ansicht nicht nur aufgegeben, sondern sogar das genaue Gegenteil behauptet wird, dürfte in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung einmalig sein und einem Politiker, der es gelernt hat, auf neue gesellschaftliche Strömungen aus Gründen der Parteiraison flexibel zu reagieren, allerhöchsten Respekt abnötigen. Um einen solchen Fall der Verkehrung richterlicher Grundsätze in ihr Gegenteil geht es hier. Zwar nicht innerhalb kurzer Zeit, sondern einer Zeitspanne von etwa 50 Jahren. Erschien die gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften im Jahre 1952, aus dem die eingangs zitierte bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung datiert, ebenso Utopie wie die Existenz extraterrestrischer Lebensformen, erklärte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2002 den Gesetzgeber für berechtigt, mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft ein Rechtsinstitut zu schaffen, das es gleichgeschlechtlichen Partnern ermöglicht, eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft in einem rechtlich geschützten Rahmen ehegleicher Rechte und Pflichten zu praktizieren.2 Sprachlich kommt die zur Realität gewordene Utopie dadurch zum Ausdruck, dass es die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft als Lebensform bezeichnet. Mit einem bloßen Recht des Gesetzgebers zur Angleichung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft ließ es das Bundesverfassungsgericht indes nicht bewenden. Vollzogen war seine Kehrtwende mit der Verpflichtung des Gesetzgebers, bestehende rechtliche Unterschiede zwischen den beiden Formen menschlichen Zu1 2

BVerfGE 6, 389, 434, 436. BVerfGE 105, 313, 331 LS 1, 351.

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sammenlebens zu beseitigen. Aus einem Recht des Gesetzgebers zur Annäherung wurde eine Pflicht zur De-facto-Gleichstellung. Dies betrifft das Steuerrecht,3 hier zuletzt das Ehegattensplittung,4 die betriebliche Hinterbliebenenversorgung für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes5 und erfasst nunmehr zum Teil auch das Adoptionsrecht.6 Verfassungsrechtlicher Hebel ist der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Aus ihm leitet das Bundesverfassungsgericht eine prinzipielle Pflicht zur Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft ab. Rechtliche Unterschiede akzeptiert es nur noch, wenn sich hierfür Gründe finden lassen, die im Wesentlichen dem strengen grundgesetzlichen Maßstab des Art. 3 Abs. 3 GG genügen. Solche Gründe hat das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren weder finden noch gelten lassen wollen. De facto hat es die eingetragene Lebenspartnerschaft der Ehe gleichgestellt. Neben einigen wenigen sachlichen Unterschieden – die Lebenspartnerschaft kann anders als die Ehe erst mit Volljährigkeit beider Partner eingegangen werden und verpflichtet auch nicht wie die Ehe zur Lebensgemeinschaft (§ 1353 Abs. 1 BGB), wozu nach überkommener Auffassung auch die Geschlechtsgemeinschaft zählt,7 sondern lediglich zur gemeinsamen Lebensgestaltung (§ 2 LPartG); ein wesentlicher Unterschied besteht noch im Adoptionsrecht – differiert nur noch die Terminologie. In Anbetracht dieser einfachrechtlichen materiellen Quasi-Gleichstellung8 nimmt es nicht wunder, wenn in der Tagespresse und Laiensprache davon die Rede ist, zwei gleichgeschlechtliche Partner hätten geheiratet oder die Ehe geschlossen, und wenn die Lebenspartner als Eheleute bezeichnet werden. Verfassungsrechtlich stellen sich vor allem drei übergreifende Fragen. Durfte der Gesetzgeber die eingetragene Lebenspartnerschaft der Ehe nahezu völlig gleichstellen, musste und muss er noch bestehende Unterschiede beseitigen und darf er das Eherecht auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ausnahmslos erstrecken einschließlich der Terminologie, d. h. darf er die eingetragene Lebenspartnerschaft einbenennen und als Ehe bezeichnen? Praktiker und Politiker würden die ersten beiden Fragen unter Hinweis auf die mittlerweile gefestigte bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung als schon beantwortet nicht mehr diskutieren. Für einen (Verfassungs-)Rechtstheoretiker sind sie indes nach wie vor bedeutsam, auch wenn mit einer abermaligen Kehrtwende des Bundesverfassungsgerichts nicht zu rechnen ist. Denn ihre Beantwortung muss bei grundrechtsdogmatischen Strukturprinzipien ansetzen, deren Auslegung und Anwendung von fallübergreifendem Interesse sind. Die dritte Frage ist vom Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Sie wird nach 3

BVerfGE 126, 400 ff. BVerfGE 133, 377 ff. 5 BVerfGE 124, 199 ff. 6 BVerfGE 133, 59 ff. 7 Palandt/Gerd Brudermüller, 73. Aufl. 2014, § 1353 Rn. 7. 8 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 490: eingetragene Lebenspartnerschaft als Ehe unter anderer Bezeichnung; Michael Germann, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie?, in: VVDStRL 73 (2014), S. 286. 4

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wie vor kontrovers diskutiert und stößt deshalb auch auf das Interesse rein praxisorientierter Politiker. Bekanntlich ist es nicht ratsam, den zweiten oder gar dritten Schritt vor dem ersten zu machen. In diesem Fall verhält es sich indes anders. Wäre der Gesetzgeber nicht daran gehindert, das einfachgesetzlich normierte Institut der Ehe durch einen Federstrich für gleichgeschlechtliche Verbindungen zu öffnen, wäre es ihm erst recht unbenommen, der Ehe entsprechende Rechtsinstitute zu schaffen. II. Keine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner Der Begriff der Ehe ist weder im Grundgesetz noch im Bürgerlichen Gesetzbuch legal definiert. Auch das Personenstandsgesetz schweigt. Insbesondere fehlt eine ausdrückliche Beschränkung auf Personen verschiedenen Geschlechts. Immerhin geht das Gesetz beiläufig von der Zweipersonenehe aus (vgl. etwa § 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB). Die polygame Ehe ist damit schon deshalb ausgeschlossen. Mit Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes vom 16. Februar 20019 ist jedenfalls mittelbar einfachgesetzlich klargestellt, dass die Ehe gleichgeschlechtlichen Verbindungen nicht offensteht. Denn andernfalls hätte es eines Rechtsinstituts, das ausschließlich gleichgeschlechtlichen Personen die Möglichkeit einer gesetzlich geschützten Verbindung, die auf Lebenszeit angelegt ist, nicht bedurft. Das Anliegen, auch gleichgeschlechtlichen Personen die Eheschließung zu ermöglichen, setzte deshalb die Aufhebung des Lebenspartnerschaftsgesetzes voraus; zusätzlich würde sich dann die gesetzliche Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Personenstandsgesetz empfehlen, dass die Ehe auch gleichgeschlechtlichen Personen offensteht. Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Regelung ist freilich eine ganz andere, gleich zu diskutierende Frage. Der radikalste Ansatz wäre, dass eine solche positive gesetzliche Normierung nur deklaratorische Bedeutung hätte. In der Tat wurde vor Erlass des Lebenspartnerschaftsgesetzes vereinzelt die Auffassung vertreten, dass aufgrund eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels die Geschlechtsverschiedenheit kein prägendes Ehemerkmal sei, dass also die Ehe auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung gleichgeschlechtlichen Personen offen stünde.10 Weniger radikal, wenngleich ebenfalls auf einen angeblichen gesellschaftlichen Wandel abstellend ist die Forderung nach einer konstitutiven einfachgesetzlichen Ausweitung des Rechtsinstituts Ehe auf gleichgeschlechtliche Personen.11 9

BGBl. I, S. 266. AG Frankfurt, NJW 1993, 940 f.; Herbert Trimbach/Annette Webert, Ist die Homo-Ehe noch verfassungswidrig?, in: NJ 1998, S. 63 ff. (66); aktuell auch Lothar Michael/Martin Morlok, Grundrechte, 4. Aufl. 2014, Rn. 252. 11 Antrag der SPD-Fraktion vom 13. 11. 2011, BT-Drucks. 17/8155, S. 1 ff.; Gesetzentwurf der SPD- und Bündnis 90/Die Grünen-Fraktionen vom 12. 3. 2013, BT-Drucks. 17/12677; zu ähnlichen Anträgen bis hin zum Initiativentwurf des Lebenspartnerschaftsgesetzes näher Peter Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 58a ff. (April 2012). 10

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Jede einfachgesetzliche Änderung des Rechtsinstituts Ehe muss allerdings mit grundgesetzlichen Vorgaben vereinbar sein. Eine einfachrechtliche Erstreckung der Ehe auch auf gleichgeschlechtliche Personen wäre nichtig, wenn sie gegen zwingende Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 GG verstieße. Diese Vorschrift definiert die Ehe zwar nicht. Sie geht aber von einem bestimmten Ehebegriff aus. Danach ist Ehe i. S. d. Art. 6 Abs. 1 GG „eine grundsätzlich auf Dauer angelegte, auf freiem Entschluss beruhende Lebensgemeinschaft eines Mannes und einer Frau, deren Übereinstimmung durch einen staatlichen Mitwirkungsakt festgestellt wird“.12 Ähnlich definiert auch das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen die Ehe. In ständiger Rechtsprechung betont es das hier relevante Erfordernis der Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute.13 Daran hat es auch in seiner Transsexuellen-Entscheidung vom 27. Mai 2008 festgehalten. Auch in dieser Entscheidung betont das Bundesverfassungsgericht die Geschlechtsverschiedenheit der Eheleute als Strukturelement des grundgesetzlichen Ehebegriffs.14 Der Eindruck, auch gleichgeschlechtliche Paare könnten die Ehe eingehen, wird als falsch bezeichnet.15 Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber auch nicht gezwungen, das Rechtsinstitut der Ehe für Paare offenzuhalten, von denen sich ein Partner nach Eingehung der Ehe einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, die personenstandsrechtlich anerkannt worden ist. Vielmehr hat es lediglich das Recht des Gesetzgebers anerkannt, in einem solchen absoluten Ausnahmefall die Fortführung der Ehe, die zunächst zwischen Personen verschiedenen Geschlechts geschlossen worden ist,16 als eingetragene Lebenspartnerschaft, als Lebensgemeinschaft sui generis oder auch als Ehe gesetzlich zuzulassen.17 Davon, dass das Bundesverfassungsgericht die Geschlechtsverschiedenheit als Ehevoraussetzung in Frage gestellt und den Ehebegriff deutlich ausgeweitet habe, kann nicht die Rede sein.18 Die Geschlechtsverschiedenheit der Eheleute als Strukturelement des grundgesetzlichen Ehebegriffs stand bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates völlig außer Zweifel.19 Verschiedene Beschlussvorlagen definierten die Ehe als dauernde

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Stern (Anm. 8), S. 370, unter Benennung zahlreicher Literaturbelege in Fn. 151; Badura (Anm. 11), in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rn. 4. 13 BVerfGE 10, 59, 66; 29, 166, 176; 31, 58, 69; 36, 146, 162; 49, 286, 300; 53, 224, 245; 58, 377, 391; 62, 332, 330; 76, 1, 51; 87, 234, 264; 103, 89, 101; 105, 313, 342; 121, 175, 193, 201; 126, 400, 427; 133, 377 Rn. 81. 14 BVerfGE 121, 175, 193, 201. 15 BVerfGE 121, 175, 193. 16 Diesen Aspekt betont zu Recht Christian v. Coelln, in: Michael Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 6 Rn. 6. 17 BVerfGE 121, 175, 202 f. 18 So aber der Beschlussantrag der SPD-Fraktion vom 13. 12. 2011, BT-Drucks. 17/8155 in grundlegender Fehlinterpretation der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung. 19 Stern (Anm. 8), S. 373.

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Lebensgemeinschaft von Mann und Frau.20 Von der Verschiedengeschlechtlichkeit ging auch Art. 119 Abs. 1 S. 2 WRV aus, der die Gleichberechtigung der beiden Geschlechter als eine der Grundlagen der Ehe betont. Auch Art. 12 EMRK vom 4. November 1950 (in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010) räumt nur Männern und Frauen das Recht der Eheschließung ein; gemeint ist nur das Recht auf Eheschließung zwischen Mann und Frau.21 Die Diskussionen im Parlamentarischen Rat kreisten im Wesentlichen um die grundgesetzliche Stellung der nichtehelichen Mütter und Kinder. Der Aspekt der Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute wurde nicht thematisiert. Eine diesbezügliche ausdrückliche Regelung in Art. 6 Abs. 1 GG hielt man für überflüssig.22 Daraus, dass sie nicht in die Endfassung des Art. 6 Abs. 1 GG aufgenommen worden ist, darf man deshalb auf gar keinen Fall den Rückschluss ziehen, der Verfassungsgeber habe die Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute nicht als Strukturelement des grundgesetzlichen Ehebegriffs angesehen und das grundgesetzliche Rechtsinstitut der Ehe auch gleichgeschlechtlichen Personen offenhalten wollen.23 Gleiches gilt im Übrigen auch für Polygamie und sämtliche Erscheinungsformen von Lebensgemeinschaften zwischen mehreren Personen. Von der Beschränkung des grundgesetzlichen Ehebegriffs auf zwei Personen geht Art. 6 Abs. 1 GG auch ohne ausdrückliche Regelung wie selbstverständlich aus.24 Nicht grundgesetzlich definiert ist desweiteren, was unter Mann und Frau zu verstehen ist. Dass der Verfassungsgeber von der Maßgeblichkeit eines objektiven realbiologischen Unterscheidungsmaßstabes ausgegangen ist, steht völlig außer Zweifel. Aus dem Umstand, dass diese Vorstellung im Grundgesetz nicht positivrechtlich formuliert worden ist, darf deshalb nicht der Schluss gezogen werden, der Verfassungsgeber habe das Grundgesetz insoweit bewusst für mögliche künftige Entwicklungen offenhalten wollen. Mit anderen Worten: Die Frage, wer Mann im Sinne des Art. 12a Abs. 1 GG ist und damit gegebenenfalls der Wehrpflicht unterliegt, bestimmt sich nach objektiven realbiologischen Kriterien und nicht nach subjektiven Wunschvorstellungen oder psychoso20 Zu den verschiedenen Vorschlägen Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: JöR n. F. 1 (1951), S. 92 ff.; zur Entstehungsgeschichte des Art. 6 GG auch Christian Seiler, in: BK, Art. 6 Abs. 1 Rn. 43 ff. (2014); Badura (Anm. 11), in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rn. 40 ff.; Stern (Anm. 8), S. 358 ff. 21 EGMR, NJW 2011, 1421 Rn. 55 – nicht nachvollziehbar dann aber die Relativierung in Rn. 61. 22 Stern (Anm. 8), S. 373. 23 Diese Möglichkeit indes erwägend Monika Böhm, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie?, in: VVDStRL 73 (2014), S. 212 ff. (217); von einer nur „nachträglichen Zuschreibung“ im Volkmann’schen Sinne – VVDStRL 73 (2014), S. 299 (Diskussionsbeitrag) – handelt es sich beim Erfordernis der Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute auf gar keinen Fall; zur Irrelevanz gegenläufiger Rechtsentwicklungen im Ausland im Ergebnis zutreffend Gunther Dietrich Gade/Christoph Thiele, Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft: Zwei namensverschiedene Rechtsinstitute gleichen Inhalts?, in: DÖV 2013, S. 142 ff. (151). 24 BVerfGE 105, 313, 343: „Zweierbeziehung“; a. A. Frauke Brosius-Gersdorf, in: Horst Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 79.

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ziologischen Ansätzen, nach denen nicht mehr die herkömmliche biologische Geschlechterteilung maßgeblich ist, sondern die individuelle Selbstbeschreibung und Positionsbestimmung, die sich auch ändern könnten und damit den geschlechtlich nicht festgelegten Transgender oder Genderqueer ermöglichten. Der grundgesetzliche Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG bestimmt Auslegung und Anwendung des geltenden einfachen Rechts. Sie dürfen nicht gegen die geschriebenen und ungeschriebenen strukturellen Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb eine Verfassungsbeschwerde gegen den Bescheid eines Standesamtes, mit dem der Antrag auf Eheschließung zweier gleichgeschlechtlicher Personen abgelehnt wurde, sowie gegen gerichtliche Entscheidungen, die diesen Bescheid bestätigten, nicht zur Entscheidung angenommen.25 In den Gründen wurde auf die fehlende verfassungsrechtliche Bedeutung der Verfassungsbeschwerde hingewiesen. Die Geschlechtsverschiedenheit der Eheleute als eheprägendes Merkmal wurde bestätigt. Auch die Form einer bloßen Kammerentscheidung belegt, dass die Geschlechtsverschiedenheit der Eheleute als Strukturelement des grundgesetzlichen Ehebegriffs nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann.26 Fehl geht auch der Hinweis auf einen angeblichen Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen über den Ehebegriff. Selbst wenn Umfragen tatsächlich belegen sollten, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Personen begrüßt27 – das Ergebnis hängt indes von der genauen Fragestellung ab, auch die ständige unreflektierte Rede in den Medien von der Ehe oder Homo-Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern trägt dazu bei –, änderte dies nichts an zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgaben. Das Verfassungsrecht gilt nicht nach Maßgabe des gesunden oder ungesunden Volksempfindens.28 Der Zeitgeist – wer bestimmt und ergründet ihn überhaupt: mehr oder minder aggressive Lobbyverbände, die Medien, das Bundesverfassungsgericht? – kann sich zudem wie25

BVerfG(K), NJW 1993, 3058 f. Siehe nur Klaus F. Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung? Ehe und Eingetragene Lebenspartnerschaft im Spiegel der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, in: Arndt Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit, 2014, S. 85 ff. (100 f.), mit vielen Nachweisen in Fn. 60; a. A. ausdrücklich Michael/Morlok (Anm. 10), Rn. 252, die sich für die Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in den Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG aussprechen; ebenso Brosius-Gersdorf (Anm. 24), in: Dreier, Art. 6 Rn. 81; Germann (Anm. 8), VVDStRL 73 (2014), S. 286; dagegen völlig zu Recht Jörn Ipsen, Schutz von Ehe und Familie, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 9, der diese Auffassung als keinen ernst zu nehmenden Beitrag im rechtswissenschaftlichen Diskurs bezeichnet. 27 Einen grundlegenden Wandel des Eheverständnisses im Hinblick auf die Geschlechtsverschiedenheit verneinend Badura (Anm. 11), in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rn. 58; Dagmar Coester-Waltjen, in: Ingo von Münch/Philip Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 9; Gade/ Thiele (Anm. 23), DÖV 2013, S. 142 ff. (145); skeptisch auch Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (105 Fn. 73). 28 In diese Richtung auch Günter Püttner, VVDStRL 73 (2014), S. 301 f. (Diskussionsbeitrag); Joachim Lege, VVDStRL 73 (2014), S. 303 f. (Diskussionsbeitrag). 26

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der drehen.29 Eine Normativität des Zeitgeistes („Normativität des Ideologischen“)30 ist der Totengräber einer jeden rechtsstaatlichen Verfassung; erinnert sei an die nationalsozialistische Umdeutung der Reichsverfassung.31 Das Verfassungsrecht bietet vielmehr den Rahmen für gesellschaftliche Strömungen und Entwicklungen.32 Damit setzt es aber auch Grenzen. Die Funktion als „Bremser“ gesellschaftlicher Entwicklungen ist insoweit nicht nur rechtsstaatliches, sondern auch freiheitssicherndes Anliegen des Grundgesetzes. Gewandelte gesellschaftliche Anschauungen können zwar dazu führen, dass insbesondere verfassungsrechtliche Blankettformeln wie Menschenwürde, Kunst, friedlich (Art. 8 Abs. 1 GG), Eigentum und auch Ehe anders als bisher ausgelegt werden,33 soweit sich die neue Auslegung im verfassungsrechtlichen Rahmen, der u. a. durch die Entstehungsgeschichte und den (Wort-)Sinn der Verfassungsbestimmung gezogen ist, bewegt.34 Die Einbeziehung des Mietbesitzes in den Eigentumsbegriff des Art. 14 Abs. 1 GG35 etwa bewegt sich im Rahmen dieser Vorschrift; gleiches würde für die Einbeziehung von staatlichen Genehmigungen36 oder des Vermögens als solches37 gelten. Auch die Auslegung nicht verfassungsunmittelbarer unbestimmter Rechtsbegriffe wie etwa die Sittenwidrigkeit hängt, in diesem Fall sogar naturgemäß, von den jeweiligen gesellschaftlichen Anschauungen ab, wie die zu Beginn der Abhandlung zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts38 eindrucksvoll belegt. Eine Uminterpretierung verfassungsrechtlicher Fixpunkte ist dagegen unzulässig. Eine auch nur partielle Totalrevision durch stillen Verfassungswandel gibt es nicht.39 Die Zulassung einer Inhaltsänderung von Verfassungsnormen durch stillen Verfas-

29 Hierauf zu Recht hinweisend Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (129 f.); vgl. auch Bernd Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014, S. 126. 30 Rüthers (Anm. 29), S. 128. 31 Rüthers (Anm. 29), S. 15 f., 126 f. 32 Vgl. Gerhard Robbers, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 6. 33 Vgl. Böhm (Anm. 23), VVDStRL 73 (2014), S. 221 ff. m. w. N. 34 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 825; vgl. auch die berechtigte Kritik dess. (Anm. 8), S. 368 f.; hiervon ausgehend auch Dieter Grimm, VVDStRL 73 (2014), S. 301 (Diskussionsbeitrag). 35 BVerfGE 89, 1, 5 f. 36 Ablehnend BVerfG(K), NVwZ 2009, 1428; BGHZ 108, 364, 371; dazu ausführlich Meinhard Schröder, Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz von Genehmigungen, in: Wolfgang Durner/Franz-Joseph Peine/Foroud Shirvani (Hrsg.), Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa. Festschrift für Hans-Jürgen Papier, 2013, S. 605 ff. 37 Ablehnend BVerfGE 95, 267, 300; 78, 232, 243. 38 BVerfGE 6, 389, 434, 436. 39 Vgl. Martin Burgi, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 6 Rn. 15 (Stand: IV 2002); Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (111 ff.); insoweit zutreffend Frauke Brosius-Gersdorf, VVDStRL 73 (2014), S. 305 (Diskussionsbeitrag); Germann (Anm. 8), VVDStRL 73 (2014), S. 316 (Diskussionsbeitrag).

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sungswandel, die der Sache nach eine Änderung des Verfassungstextes ist,40 wäre ein Anschlag auf das rechtsstaatliche Grundanliegen des Art. 79 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 GG, das Grundgesetz nicht nur dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers, sondern auch dem Zugriff außerparlamentarischer Kräfte und potentieller Verfassungsfeinde zu entziehen.41 Gerade vor dem Hintergrund verfassungsindifferenter Beliebigkeit deutscher Vor- und Nachkriegsdiktaturen Mitte des vergangenen Jahrhunderts stellt sich die Funktion des Verfassungsrechts als „Bremser gesellschaftlicher Entwicklungen“ nicht als zu überwindendes Relikt überholter Verfassungsrechtsdogmatik dar, sondern als rechtsstaatliches und freiheitssicherndes Grundanliegen.42 Wer Mann im Sinne des Art. 12a Abs. 1 GG oder Mutter im Sinne des Art. 6 Abs. 4 GG ist, bestimmt sich deshalb auch dann nach objektiven realbiologischen Kriterien, wenn psychosoziopolitische gender-(ver-)queere Phantasien und Wunschvorstellungen gesellschaftlich akzeptiert würden. Auch der „Ordnungskern“ des grundgesetzlichen Ehebegriffs „ist für das allgemeine Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein unantastbar“.43 Eine de lege lata durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Homo-Ehe ist deshalb eine Schimäre. Wohl aber kann ein tatsächlicher oder auch nur vermeintlicher Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen Anlass und Grund für eine Verfassungsänderung sein.44 Eine ausdrückliche Erstreckung des Art. 6 Abs. 1 GG auch auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit den erforderlichen Mehrheiten des Art. 79 Abs. 2 GG wäre möglich;45 Art. 79 Abs. 3 GG stünde dem nicht entgegen. An die zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 GG sind nicht nur die gesetzesauslegenden und gesetzesanwendenden Behörden und Gerichte gebunden. Auch der einfache Gesetzgeber darf den grundgesetzlichen Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht sprengen.46 Gesetzesänderungen innerhalb dieses Rahmens, wie etwa eine Neuregelung von Altersgrenzen oder des Scheidungsrechts, sind prinzipiell möglich. Änderungen, die den verfassungsrechtlichen Rahmen sprengen, sind verfassungswidrig. Das betrifft insbesondere die gesetzliche Einführung einer befris40

Vgl. Udo Steiner, Der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG), in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2011, § 108 Rn. 3 a. E. 41 Vgl. Badura (Anm. 11), in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rn. 37. 42 In diese Richtung auch Püttner (Anm. 28), VVDStRL 73 (2014), S. 301 f. (Diskussionsbeitrag); Lege (Anm. 28), VVDStRL 73 (2014), S. 303 f. (Diskussionsbeitrag); vgl. auch Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (129 f.); dies grundlegend verkennend Lothar Michael, VVDStRL 73 (2014), S. 300 (Diskussionsbeitrag) sowie Stefan Huster, VVDStRL 73 (2014), S. 307 (Diskussionsbeitrag). 43 BVerfGE 10, 59, 66. 44 Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (112 f.); zu entsprechenden nicht mehrheitsfähigen Bestrebungen Stern (Anm. 8), S. 375 m. w. N. 45 Coester-Waltjen (Anm. 27), in: von Münch/Kunig, Art. 6 Rn. 9; vgl. auch Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (104 f., 112 f.). 46 Vgl. BVerfGE 121, 175, 193; 105, 313, 345; dies gründlich verkennend Germann (Anm. 8), VVDStRL 73 (2014), S. 286, 289.

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teten Ehe (Ehe auf Zeit),47 wie sie unlängst in der rechtspolitischen Diskussion angeregt wurde, einer Ehe zwischen mehr als zwei Personen (Polygamie)48 und eben die gesetzliche Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in die Ehe (Zulassung der Homo-Ehe).49 Eine „Verfassungsentwicklungskompetenz des Gesetzgebers“50 kennt das Grundgesetz nicht. Das Grundgesetz gilt gerade nicht nach Maßgabe des einfachen Gesetzesrechts. Das Gegenteil ist der Fall.51 III. Keine Pflicht des Gesetzgebers zur Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft Vor noch nicht einmal 15 Jahren war das Recht des Gesetzgebers, mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft ein einfachrechtliches Institut zu schaffen, das dem Rechtsinstitut der Ehe angenähert ist, noch heftig umstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat das Lebenspartnerschaftsgesetz vom 16. Februar 2001 für vereinbar mit Art. 6 Abs. 1 GG erklärt.52 Mittlerweile ist die weitgehende gesetzliche Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft nach Maßgabe der nachfolgenden bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht mehr rechtfertigungsbedürftig. Rechtfertigungsbedürftig ist vielmehr die Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft. Die verfassungsrechtlichen Vorzeichen wurden umgepolt. Als verfassungsrechtlicher Hebel dient Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 GG. Da der Gesetzgeber mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft ein eheähnliches Rechtsinstitut geschaffen habe, seien Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft zwei im Wesentlichen vergleichbare Rechtsinstitute.53 Eine Ungleichbehandlung der beiden Rechtsinstitute durch den Gesetzgeber führe zu einer Ungleichbehandlung von Personen. Weil die Ehe nur geschlechtsverschiedenen und die eingetragene Lebenspartnerschaft nur gleichgeschlechtlichen Personen offen stünde, knüpfe die gesetzliche Ungleichbehandlung an die sexuelle Orientierung der un47

Markus Kotzur, in: Klaus Stern/Florian Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 6 Rn. 19; a. A. Brosius-Gersdorf (Anm. 24), in: Dreier, Art. 6 Rn. 80. 48 A. A. Brosius-Gersdorf (Anm. 24), in: Dreier, Art. 6 Rn. 79 mit Nachweisen der gegenteiligen Rspr. des BVerfG in Fn. 333. 49 Für all das und noch viel mehr demgegenüber Stephan Rixen, Neukonturierung der Bereichsdogmatik von Art. 6 Abs. 1 GG: ein Signal des spanischen Verfassungsgerichts, in: JZ 2013, S. 864 ff. (873); zutreffend dagegen Püttner (Anm. 28), VVDStRL 73 (2014), S. 301 (Diskussionsbeitrag): „glatt verfassungswidrig“; lediglich zweifelnd Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (121). 50 Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 348; zustimmend speziell auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG Rixen (Anm. 49), JZ 2013, S. 864 ff. (872 f.); offenbar auch Germann (Anm. 8), VVDStRL 73 (2014), S. 286, 289. 51 So speziell auch zu Art. 6 Abs. 1 GG Hans-Jürgen Papier, abw. M. BVerfGE 105, 313, 358; Stern (Anm. 8), S. 369 f. 52 BVerfGE 105, 313 ff. 53 BVerfGE 131, 239, 261: nur wenige Unterschiede in den Grundstrukturen.

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gleich behandelten Personen an. Deshalb gelte für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung der beiden Rechtsinstitute und Lebensgemeinschaften ein besonders strenger Maßstab.54 Diese Argumentation ist ein Musterbeispiel bundesverfassungsgerichtlicher Inkonsequenz. Auch im Übrigen ist sie verfehlt.55 Die Inkonsequenz der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung besteht darin, dass es die eingetragene Lebenspartnerschaft zunächst zutreffend als aliud gegenüber der Ehe bezeichnet – „Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist (…) keine Ehe mit falschem Etikett…, sondern ein aliud zur Ehe.“56 –, dann aber in kurz darauffolgenden Entscheidungen beide Lebensgemeinschaften als im Wesentlichen vergleichbar qualifiziert und Ungleichbehandlungen am Maßstab des Art. 3 Abs. 1, 3 GG misst. Die Ehe ist gegenüber der eingetragenen Lebenspartnerschaft ein aliud. Beide Lebensgemeinschaften sind inkommensurabel. Ungleichbehandlungen sind deshalb gleichheitsrechtlich irrelevant.57 Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Lebensgemeinschaften besteht in folgendem: Die Ehe ist die einzige grundgesetzlich anerkannte und privilegierte auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft, die Ausgangspunkt und Ursprung einer eigenen Generationenfolge sein kann.58 Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist demgegenüber „eine – biologisch gesehen – nicht vitale Lebensgemeinschaft“.59 Die Ehe ist mehr als eine bloß auf Dauer angelegte Intimpartnerschaft, die unter staatlicher Mitwirkung zustande kommt.60 Die Ehe ist auch weitaus mehr als eine „rechtlich verbindliche und in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten (etwa bei Krankheit oder Mittellosigkeit) ausgestattete dauerhafte Paarbeziehung“.61 Die Ehe ist mehr als eine „besondere Verantwortungsbeziehung“.62 Selbst einfachrechtlich ist sie kein bloßes Schuldverhältnis.63 54

BVerfGE 133, 377 Rn. 73 ff.; 131, 239, 255 ff.; 126, 400, 416 ff.; 124, 199, 218 ff. Dazu im Einzelnen ausführlich und überzeugend Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff.; Seiler (Anm. 20), Art. 6 Abs. 1 Rn. 173 f. 56 BVerfGE 105, 313, 351; einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft betont auch BVerfGE 126, 400, 427. 57 Ipsen (Anm. 26), in: Isensee/Kirchhof, § 154 Rn. 21 f., 58; v. Coelln (Anm. 16), in: Sachs, Art. 6 Rn. 50; Christian Hillgruber, Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG vom 7. 5. 2013 (2 BvR 909/06), in: JZ 2013, S. 833 ff. (843 ff.); Rüthers (Anm. 29), S. 116 ff.; vgl. auch Germann (Anm. 8), VVDStRL 73 (2014), S. 318 (Diskussionsbeitrag). 58 So nahezu wörtlich BVerfGE 126, 400, 427; ebenso Rüthers (Anm. 29), S. 116 ff. Herbert Landau/Sibylle Kessal-Wulff, abw. M. BVerfGE 133, 377 Rn. 118; v. Coelln (Anm. 16), in: Sachs, Art. 6 Rn. 6; dazu ausführlich und weiterführend Manfred Spieker, Ehe und Familie als Ressource der Gesellschaft, in: Arnd Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit, 2014, S. 11 ff. 59 Steiner (Anm. 40), in: Merten/Papier, § 108 Rn. 35 a. E. 60 So die eigentlich favorisierte Definition von Michael/Morlok (Anm. 10), Rn. 252. 61 So aber die Optik von BVerfGE 133, 377 Rn. 83; Brosius-Gersdorf (Anm. 39), VVDStRL 73 (2014), S. 305 (Diskussionsbeitrag). 62 So aber BVerfGE 133, 377 Rn. 85. 55

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Vielmehr hat der Verfassungsgeber die Ehe als diejenige Form menschlichen Zusammenlebens anerkannt, die die besten Voraussetzungen dafür bietet, dass Kinder gezeugt werden und dadurch der Fortbestand der Gesellschaft gewährleistet ist.64 Die Tatsache, dass Ehen (zunehmend) sowohl gewollt als auch nicht gewollt kinderlos bleiben (können), ist ebenso wenig ein taugliches Gegenargument wie die Tatsache, dass (zunehmend) auch außerhalb der Ehe Kinder geboren werden.65 All dies ändert nichts an der ursprünglichen und nach wie vor verbindlichen Einschätzung des Verfassungsgebers der Ehe als für die Reproduktion von Volk und Staat optimaler Form menschlichen Zusammenlebens. Primär aus diesem Grunde hat er die Ehe als einzige Form des Zusammenlebens zweier Menschen verfassungsrechtlich anerkannt und privilegiert.66 Auf eine Formel gebracht: „Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder.“67 Ähnlich, aber staatstragender formuliert Art. 119 Abs. 1 S. 1 WRV: „Die Ehe [ist] (…) Grundlage (…) der Erhaltung und Vermehrung der Nation (…)“. Dass der Grundgesetzgeber auch „seine“ Ehe unter dieses Leitmotiv gestellt hat, ist unstreitig. Der Verfassungsgeber – nicht erst der einfache Gesetzgeber – hat die Ehe nicht primär deshalb privilegiert, weil die Eheleute füreinander auf Dauer auch rechtlich verbindliche Verantwortung übernehmen.68 Andere Geschlechtsgemeinschaften, ob auf Dauer angelegt oder nicht, ob staatlich anerkannt oder nicht, können sich zwar auf das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Anders als die Ehe nennt sie das Grundgesetz aber nicht als Institut des Verfassungsrechts. Sollte der verfassungsändernde Gesetzgeber die Einschätzung des Verfassungsgebers aufgrund tatsächlicher gesellschaftlicher Veränderungen und gewandelter Anschauungen nicht mehr teilen, steht es ihm frei, Art. 6 Abs. 1 GG zu ändern – sei es durch die Öffnung der Ehe oder die Benennung anderer Formen menschlichen Zusammenlebens, bis hin zur Streichung dieser Verfassungsbestimmung.69

63

Zutreffend Alexander Erbarth, Die Ehe ist kein Schuldverhältnis, in: NJW 2013, 3478 ff. Rüthers (Anm. 29), S. 117 f.; v. Coelln (Anm. 16), in: Sachs, Art. 6 Rn. 6, 50; Ipsen (Anm. 26), in: Isensee/Kirchhof, § 154 Rn. 21 f.; Hillgruber (Anm. 57), JZ 2013, S. 833 ff. (845); Landau/Kessal-Wulff, abw. M. BVerfGE 133, 377 Rn. 118; vgl. auch BVerfGE 117, 316, 328; ablehnend Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (124 f.). 65 v. Coelln (Anm. 16), in: Sachs, Art. 6 Rn. 6; Ipsen (Anm. 26), in: Isensee/Kirchhof, § 154 Rn. 17; Hillgruber (Anm. 57), JZ 2013, S. 833 ff. (845); Gade/Thiele (Anm. 23), DÖV 2013, S. 142 ff. (150 f.). 66 Rüthers (Anm. 29), S. 117; v. Coelln (Anm. 16), in: Sachs, Art. 6 Rn. 50; Seiler (Anm. 20), Art. 6 Abs. 1 Rn. 62, 174; Ipsen (Anm. 26), in: Isensee/Kirchhof, § 154 Rn. 16 f. 67 § 1 Abs. 2 S. 1 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten aus dem Jahre 1794. 68 So aber BVerfGE 124, 199, 225; zutreffend dagegen Rüthers (Anm. 29), S. 117; v. Coelln (Anm. 16), in: Sachs, Art. 6 Rn. 50; Ipsen (Anm. 26), in: Isensee/Kirchhof, § 154 Rn. 16; vgl. auch Jürgen Kohler, Glosse Post Gender Trouble – oder: Ein Lehrstu¨ ck u¨ ber die Not notwendiger Konsequenz, in: JZ 2014, S. 459 ff. (462). 69 Vgl. v. Coelln (Anm. 16), in: Sachs, Art. 6 Rn. 50; Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (104 f.). 64

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Gerade weil die Ehe durch Art. 6 Abs. 1 GG gegenüber der eingetragenen Lebenspartnerschaft und allen anderen Lebensgemeinschaften verfassungsrechtlich privilegiert ist, darf sie auch der einfache Gesetzgeber steuer- und versorgungsrechtlich sowie in anderer Art und Weise fördern; zum Schutz des Instituts Ehe ist er durch Art. 6 Abs. 1 GG sogar objektiv-rechtlich verpflichtet, und das in besonderer Weise. Fördert er andere Lebensgemeinschaften, wozu auch die eingetragene Lebenspartnerschaft gehört, nicht in vergleichbarer Weise, behandelt er wesensverschiedene Rechtsinstitute und Sachverhalte ungleich. Das ist kein Anwendungsfall des Art. 3 Abs. 1, 3 GG.70 Selbst wenn man dies mit dem Bundesverfassungsgericht anders sieht: Eine gesetzliche Besserstellung der Ehe gegenüber anderen gesetzlich geregelten Lebensgemeinschaften ist durch die in Art. 6 Abs. 1 GG statuierte Pflicht auch des Gesetzgebers zum besonderen Schutze der Ehe verfassungsrechtlich gerechtfertigt.71 Andere Lebensgemeinschaften stehen nicht unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Das Recht des Gesetzgebers zur Ungleichbehandlung verbürgt Art. 6 Abs. 1 GG. Diese Vorschrift muss insoweit – ebenso wie Art. 12a Abs. 1 GG (Wehrpflicht nur für Männer) oder Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG (Sonderrecht für Ausländer) – als Ausnahme- und Spezialvorschrift gegenüber Art. 3 Abs. 1, 3 GG begriffen werden.72 Demgegenüber argumentiert das Bundesverfassungsgericht auf den Punkt gebracht: Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist etwas völlig anderes (ein aliud) als die Ehe, deshalb verstößt das Lebenspartnerschaftsgesetz nicht gegen Art. 6 Abs. 1 GG.73 Weil die eingetragene Lebenspartnerschaft aber wesensgleich mit der Ehe ist, sind Ungleichbehandlungen der beiden Rechtsinstitute am Maßstab von Art. 3 Abs. 1, 3 GG zu messen.74 Diese Argumentation ist ebenso einzigartig wie die Ehe und deshalb ebenfalls nicht zur Nachahmung zu empfehlen.75

70

Nachweise Anm. 57. BVerwGE 129, 129 Rn. 27 ff.; 125, 79 Rn. 14; v. Coelln (Anm. 16), in: Sachs, Art. 6 Rn. 50 mit Fn. 389; Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (99 ff.); im Ergebnis auch BVerfGK 13, 501 ff.; JZ 2008, 792 ff.; die besondere staatliche Schutzpflicht betont zu Recht Christian Seiler, Ehe und Familie – noch besonders geschützt? Der Auftrag des Art. 6 GG und das einfache Recht, in: Arndt Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit, 2014, S. 37 ff. (41 ff., 56 f.). 72 Ähnlich Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (102 f.). 73 BVerfGE 105, 313, 351; auch BVerfGE 126, 400, 427, betont den grundsätzlichen Unterschied. 74 BVerfGE 131, 239, 261. 75 Rixen (Anm. 49), JZ 2013, S. 864 ff. (871) attestiert dem BVerfG Inkonsistenz. 71

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IV. Recht des Gesetzgebers zur Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft Der fehlenden verfassungsrechtlichen Pflicht des Gesetzgebers zur prinzipiellen Gleichstellung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe korrespondiert noch keine zwingende verfassungsrechtliche Pflicht zur Ungleichbehandlung (Abstandsgebot). Sie müsste positiv begründet werden. Im Ausgangspunkt dürfte es unstreitig sein, dass es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verwehrt ist, der auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft von zwei Personen desselben Geschlechts einen Rahmen zu geben, in dem sie die ihrer Neigung entsprechende Form menschlichen Zusammenlebens auch rechtlich geschützt praktizieren können. Ein entsprechender Verfassungsauftrag besteht indes – anders als im Fall des Art. 6 Abs. 1 GG – nicht. Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG verleiht nur ein Recht auf gleichgeschlechtliche Betätigung; es gewährt aber keinen Anspruch auf eine institutionelle Absicherung durch den Gesetzgeber. Eine ersatzlose Streichung der eingetragenen Lebenspartnerschaft wäre deshalb verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Indes darf der Gesetzgeber gesellschaftliche Strömungen und geänderte (Moral-) Vorstellungen gesetzgeberisch aufgreifen und aufarbeiten. Die Natur des Menschen ist vielschichtig. Sie zeichnet sich durch eine Vielzahl von Eigenschaften, Neigungen und Veranlagungen aus. Homosexualität gehört mindestens ebenso zur Natur des Menschen wie mittlerweile der Islam zu Deutschland. Gleiches gilt auch für Pädophilie. Selbst ihre Legalisierung war offizielles Anliegen einer schon regierungstragenden Partei. Freilich darf der Gesetzgeber nicht jede zur menschlichen Natur gehörende Neigung und Veranlagung einfachgesetzlich absichern oder zumindest ermöglichen, auch wenn das von interessierten Kreisen noch so vehement gefordert wird. Stets hat der Gesetzgeber die durch das Verfassungsrecht gesetzten Grenzen zu beachten, insbesondere wenn es um den Schutz anderer Menschen geht. Die gesetzliche Normierung pädophiler Lebensgemeinschaften wäre deshalb unvereinbar mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) der Minderjährigen. Derartigen Einwänden sieht sich die eingetragene Lebenspartnerschaft nicht ausgesetzt. Auch das in Art. 2 Abs. 1 GG genannte Sittengesetz steht der gesetzlichen Absicherung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft nicht mehr entgegen. Die eingangs zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts76 mag zum damaligen Zeitpunkt stimmig gewesen sein. Durch die gewandelten Sittenund Moralvorstellungen ist sie indes überholt. Fraglich ist allerdings, ob Art. 6 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber und dem ihn treibenden Bundesverfassungsgericht Grenzen bei der Schaffung und Ausgestaltung eines Rechtsinstituts gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft setzt. Eine einfachgesetzliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner verbietet Art. 6 Abs. 1 76

BVerfGE 6, 389, 434, 436.

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GG. Das wurde bereits oben dargelegt.77 Damit ist aber noch nicht entschieden, ob Art. 6 Abs. 1 GG auch eine gesetzliche Regelung der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft verbietet, die der Regelung der Ehe im Wesentlichen gleicht. Art. 6 Abs. 1 GG verbürgt mit der Benennung der Ehe zumal als einziger verfassungsrechtlich anerkannten Form des auf Dauer angelegten Zusammenlebens zweier Menschen78 eine Institutsgarantie.79 Der besondere staatliche Schutzauftrag kommt hinzu. Das Institut der Ehe, so wie es grundgesetzlich verbürgt ist, muss durch geeignete staatliche Vorkehrungen in einer Weise ausgestaltet werden, dass es die ihm vom Verfassungsgeber zugedachte Funktion effektiv erfüllen kann. Mit dieser staatlichen Funktions- und Gewährleistungspflicht unvereinbar wäre es, wenn staatliche Maßnahmen die Bedeutung und den grundgesetzlichen Stellenwert des Instituts Ehe aushöhlen und untergraben würden. Aus der staatlichen Pflicht zur besonderen Förderung der Ehe folgt, dass er Maßnahmen unterlassen muss, die das Institut Ehe mehr als nur marginal beeinträchtigen. Die Unterlassenspflicht erstreckt sich nicht erst auf ein staatliches Verhalten, das das Institut Ehe als solches in Frage stellt. Sie setzt schon viel früher ein. Mit der Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG hängt die von dieser Bestimmung getroffene objektive Wertentscheidung80 für das Institut Ehe eng zusammen. Eine klare Trennung ist kaum möglich.81 Die Frage ist nun, ob der Gesetzgeber das Institut Ehe, so wie es der Verfassungsgeber garantieren wollte und garantiert hat, dadurch geschwächt hat, dass er die eingetragene Lebenspartnerschaft rechtlich wie die Ehe ausgestaltet hat. Das ist nicht der Fall.82 Weniger, weil es sich bei der eingetragenen Lebenspartnerschaft um ein aliud gegenüber der Ehe handelt. Stellt der Gesetzgeber völlig andere Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens zur Verfügung und gestaltet er sie ähnlich attraktiv aus wie die Ehe, kann dies dazu führen, dass dadurch die Attraktivität der Ehe 77

Sub II. Seiler (Anm. 20), Art. 6 Abs. 1 Rn. 61. 79 BVerfGE 6, 55, 72; 80, 81, 92; 105, 313, 344 f.; dazu näher Evelyn Haas, abw. M. BVerfGE 105, 313, 360 ff.; Ipsen (Anm. 26), in: Isensee/Kirchhof, § 154 Rn. 47 ff.; Badura (Anm. 11), in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rn. 8, 69 ff.; Burgi (Anm. 39), in: Friauf/Höfling, Art. 6 Rn. 30. 80 BVerfGE 80, 81, 92 f.; 105, 313, 346; ausführlich Stern (Anm. 8), S. 427 ff.; Badura (Anm. 11), in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rn. 7, 67 f.; Burgi (Anm. 39), in: Friauf/Höfling, Art. 6 Rn. 34 ff.; Germann (Anm. 8), VVDStRL 73 (2014), S. 266 ff.; zweifelnd hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Institutsgarantie Stern (Anm. 8), S. 487, der dann aber offenbar eine Missachtung der objektiven Wertentscheidung und des hieraus abgeleiteten Abstands- und Differenzierungsgebots zu anderen rechtlich anerkannten Lebensgemeinschaften annimmt, S. 488 ff.; eindeutig für einen solchen Verfassungsverstoß Burgi (Anm. 39), in: Friauf/Höfling, Art. 6 Rn. 47 f.; Badura (Anm. 11), in: Maunz/Dürig, Art. 6 Rn. 58; Rüthers (Anm. 29), S. 118; kritisch auch Steiner (Anm. 40), in: Merten/Papier, § 108 Rn. 37 f. 81 Vgl. demgegenüber Burgi (Anm. 39), in: Friauf/Höfling, Art. 6 Rn. 30. 82 Einen Verstoß gegen die Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG nehmen dagegen z. B. an Hans Hofmann, in: Bruno Schmidt-Bleibtreu/Hans Hofmann/Hans-Günter Henneke, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 6 Rn. 19 f., der außerdem einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG annimmt; Gade/Thiele (Anm. 23), DÖV 2013, S. 142 ff. (150). 78

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schwindet. Dem steht die Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG entgegen. Mit anderen Worten: Die Ehe steht unter weitreichendem Konkurrenzschutz. Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist nun aber nicht im Entferntesten geeignet, der Ehe Konkurrenz zu machen. Zwar steht die eingetragene Lebenspartnerschaft auch potenziell ehewilligen und ehefähigen Personen offen. Tatsächlich dürfte der Fall, dass sich eine Person für die eingetragene Lebenspartnerschaft unter Verzicht auf die Ehe entscheidet, die absolute Ausnahme sein. Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist für die Ehe keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Anders verhielte es sich, wenn der Gesetzgeber z. B. ein Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft auf Zeit ohne Beschränkung auf Personen gleichen Geschlechts einführen und für die Zeit der Partnerschaft eheähnliche gesetzliche Regelungen vorsehen würde. Auch dieses Rechtsinstitut entspräche nicht im wesentlichen der Ehe, weil die erfassten Partnerschaften von vornherein nicht auf Dauer angelegt wären. Dennoch verstieße die gesetzliche Einführung einer befristeten Ehe (Ehe auf Zeit) gegen Art. 6 Abs. 1 GG, weil ein solches Rechtsinstitut in Konkurrenz zur Ehe träte. Da die eingetragene Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe ein aliud ist, ist nicht die rechtliche Ungleichbehandlung, sondern vielmehr die Gleichbehandlung rechtfertigungsbedürftig.83 Behandelt des Gesetzgeber im Wesentlichen ungleiche Sachverhalte gleich, verstößt er gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn sich für die Gleichbehandlung kein hinreichend gewichtiger sachlicher Grund finden lässt. Er lässt sich im Falle der eingetragenen Lebenspartnerschaft allerdings finden. Zwar liegt er nicht darin, dass die Lebenspartner füreinander dauerhaft auch rechtsverbindliche Verantwortung übernehmen. Denn dies ist nicht Grund für die auf Dauer angelegte gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft, sondern Folge ihrer gesetzlichen Ausgestaltung.84 Schon die gesetzliche Zulassung eines derartigen eheungleichen Rechtsinstituts unter Rückgriff auf eherechtliche Regelungen bedarf des rechtfertigenden sachlichen Grundes. Er liegt vor allem im menschlichen Bedürfnis einer gesellschaftlichen Minderheit nach staatlicher institutioneller Einhegung85 eines Verhaltens, das mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert wird und nicht mehr dem Verdikt der Sittenwidrigkeit anheimfällt. Die Hürde des rechtfertigenden sachlichen Grundes für die Gleichbehandlung im Wesentlichen ungleicher Sachverhalte ist niedrig. Deshalb: Der Gesetzgeber muss die eingetragene Lebenspartnerschaft nicht ehegleich ausgestalten, er darf es aber. Die vollständige und ausnahmslose Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in die Ehe ist ihm dagegen von Verfassungs wegen verwehrt.

83 Einen rechtfertigenden sachlichen Grund verlangt auch Gerrit Manssen, Staatsrecht II, 11. Aufl. 2014, Rn. 433. 84 Vgl. Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (111). 85 Vgl. Gärditz (Anm. 26), in: Uhle, S. 85 ff. (111, 122 f.).

Das Bundesverfassungsgericht und die Unionsgrundrechte Von Jörn Griebel I. Einleitung Mit Urteil vom 8. April 20141 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) den Schutz der Europäischen Grundrechte in einer bislang nicht gekannten Weise betont.2 So wurde die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung3 für mit den Art. 7 und 8 der Grundrechtecharta (GRCh) unvereinbar erklärt.4 Betrachtet man die Auslegung der einschlägigen Grundrechte durch den EuGH im Vergleich zur spiegelbildlichen Diskussion der Regeln der deutschen Richtlinienumsetzung speziell im Telekommunikationsgesetz5 durch das Bundesverfassungsgericht im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung,6 so wird deutlich, dass es sich bei den jeweils herangezogenen grundrechtlichen Maßstäben nicht zwingend um deckungsgleiche Konzepte handelt. Vielmehr finden sich Anhaltspunkte für einen umfangreicheren grundrechtlichen Schutz auf europäischer Ebene. Die Entscheidung des EuGH gibt damit wie keine andere zuvor Anlass, über die Anwendung der Unionsgrundrechte auch im Jurisdiktionsbereich des Bundesverfassungsgerichts nachzudenken. Hier gilt es der spannenden Frage nachzugehen, inwieweit das Bundesverfassungsgericht, zu dessen primären Aufgaben der Grundrechtsschutz zählt, in der eigenen Rechtsprechung auch anwendbare Unionsgrundrechte beachtet, soweit diese einen umfänglicheren Schutz gewährleisten als die deutschen Grundrechte.

1 Verb. Rs. C-293/12 und C-594/12, 8. 4. 2014, vorläufig nur im Internet veröffentlicht unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?docid=150642&doclang=DE&cid= 281339. 2 Für erste Medienberichte siehe Heribert Prantl, Europas Gericht erwacht, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. 4. 2004, S. 4; Helene Bubrowski, Keine Daten für niemand, FAZ vom 9. 4. 2014, S. 4; siehe zudem die wenig später erlassene Google-Entscheidung des EuGH, 13. 5. 2014, C-131/12, veröffentlicht unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf? text=&docid=152065&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1. 3 RL 2006/24/EG vom 15. 3. 2006, Amtsblatt der Europäischen Union, 13. 4. 2006, L 105/ 54. 4 Siehe Anm. 1, Rn. 31 ff., insb. Rn. 69. 5 Auf Grundlage des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung vom 21. 12. 2007. 6 BVerfGE 125, 260.

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Der Beitrag basiert auf der Grundthese, dass das Bundesverfassungsgericht sich dem Schutz unionsrechtlicher Grundrechte faktisch verweigert. Dies scheint nicht nur eine beiläufige Folge anderweitiger Grundentscheidungen zu sein, wie etwa einem in Teilbereichen selbst auferlegten judicial restraint im Rahmen der Solange-Rechtsprechung. Vielmehr ist dahinter die Intention zu vermuten, die deutsche Grundrechtsdogmatik frei von den Einflüssen umfassenderer und vorrangiger Unionsgrundrechte zu halten. Auf diesem Weg soll der grundrechtliche Wertekanon auch perspektivisch unbeeinflusst von Unionsgrundrechten gesichert werden. Dogmatisch wird dies über die Annahme einer strikten Trennung der Anwendungsbereiche deutscher und unionsrechtlicher Grundrechte erreicht.7 Parallel dazu wird eine in diesem Punkte ebenfalls bestehende Trennung der Zuständigkeitsbereiche von EuGH und Bundesverfassungsgericht angenommen. So ignoriert das Bundesverfassungsgericht die Unionsgrundrechte auch in europarechtlichen Konstellationen, in denen es seine eigene Gerichtsgewalt wahrnimmt und für die – jedenfalls aus unionsrechtlicher Perspektive – die Gewährleistungen der Grundrechtecharta greifen müssten. Die einleitende Grundthese der Schutzverweigerung für Unionsgrundrechte wird zunächst von einer Betrachtung der Art und Weise gestützt, in der das Bundesverfassungsgericht den Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in seiner Rechtsprechung Beachtung schenkt. So soll zunächst prägnant auf die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingegangen werden, um so einen Vergleichsmaßstab zu legen (unter II.). Dabei wird nicht verkannt, dass hier die Gefahr besteht, in Konzeption und Wirkungsweise verschiedene Instrumente miteinander in Bezug zu setzen. Der Vergleich beruht auf der Überlegung, dass die bundesverfassungsgerichtlichen Konzepte für die Einbeziehung der EMRK aufgrund des europäischen Vorrangprinzips umso mehr für die Unionsgrundrechte gelten sollten, soweit deren Anwendungsbereich eröffnet ist. Im Zentrum des Beitrags steht sodann die Haltung des Bundesverfassungsgerichts zu den Unionsgrundrechten in Gestalt der Gewährleistungen der GRCh.8 Speziell hier gilt es die einleitend aufgeworfenen Thesen zu belegen (unter III.). Der Beitrag schließt mit einem Resümee, welches auch einen vorsichtigen Ausblick auf die weiteren Entwicklungen umfasst (unter IV.). II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur EMRK Zunächst gilt es in der gebotenen Kürze die Kernelemente der konventionsfreundlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zusammenzufassen. Die 7

Siehe dazu Gliederungspunkt III. Dieser Fokus rechtfertigt sich insoweit, als die GRCh mit dem Vertrag von Lissabon Verbindlichkeit erlangt hat und damit nunmehr auch ein in formeller Hinsicht mit den Grundrechten des GG vergleichbarer Grundrechtsstandard auf Unionsebene besteht. 8

Das Bundesverfassungsgericht und die Unionsgrundrechte

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EMRK nimmt in Deutschland den Rang eines einfachen Bundesgesetzes ein.9 Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht in Fortführung der Unschuldsvermutungsentscheidung aus dem Jahre 1987 im Jahre 2004 in der Görgülü-Entscheidung und sodann in der Sicherungsverwahrungsentscheidung vom 4. Mai 2011 die Grundlage für eine recht weitgehende Beachtung der EMRK-Gewährleistungen innerhalb der deutschen Grundrechtsdogmatik gelegt.10 Dabei sucht das Bundesverfassungsgericht insbesondere Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu vermeiden.11 Diese konventionsfreundliche Rechtsprechung wird insbesondere von folgenden vier Komponenten geprägt: 1. Die grundlegende Komponente besteht darin, dass die Gewährleistungen der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR Auslegungshilfen darstellen, die bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der deutschen Grundrechte einzubeziehen sind.12 Auch wenn es dabei Grenzen gibt, so ist es doch bemerkenswert, welche enorme Ausstrahlungswirkung dem Vertragsgesetz zur EMRK auf den Bereich des Verfassungsrechts beigemessen wird. 2. Weiter ist es nach dem Bundesverfassungsgericht möglich, einen Verstoß gegen die EMRK oder eine nicht hinreichende Berücksichtigung einer Entscheidung des EGMR gestützt auf das einschlägige deutsche Grundrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip zu rügen.13 Die EMRK ist so zwar nicht unmittelbar im Rahmen der Verfassungsbeschwerde beschwerdefähig.14 Faktisch wird sie jedoch als im Rahmen der Verfassungsbeschwerde „mittelbar beschwerdefähig“ anerkannt.15 3. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Entscheidungen des EGMR späteren rechtserheblichen Änderungen der Rechtslage gleichstehen können und entsprechend angenommen, dass das Prozesshindernis der entgegenstehenden

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Statt vieler BVerfGE 74, 358, 370, und zuletzt BVerfGE 128, 326, 367. Für einen Überblick mit weiteren Nachweisen siehe Jörn Griebel, Doppelstandards des Bundesverfassungsgerichts beim Schutz europäischer Grundrechte, in: Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. 11 BVerfGE 111, 307, 328, und 128, 326, 369, Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. (379 f.). 12 Siehe etwa BVerfGE 111, 307 (317); 120, 180 (200); 128, 326, 366. 13 BVerfGE 111, 307, 329 f., und Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, in: NVwZ 2010, S. 4 ff. 14 BVerfGE 111, 307, 317; 128, 326, 367; die Annahme einer unmittelbaren Beschwerdefähigkeit von EMRK-Gewährleistungen ist gegenwärtig nicht geboten; dies mag sich aber mit dem Vollzug des Beitritts der EU zur EMRK, mit dem die EMRK-Gewährleistungen Teil der Unionsrechtsordnung werden, ändern; hierzu generell Jörn Griebel, Europäische Grundrechte als Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde, in: DVBl. 2014, S. 204 ff. (insb. S. 209 f.). 15 Griebel (Anm. 14), DVBl. 2014, S. 204 ff. (206 f.). 10

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Rechts- und Gesetzeskraft früherer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus diesem Grunde überwunden werden könne.16 4. Und letztlich nimmt das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge und speziell der EMRK durch die Fachgerichte ein unbegrenztes Prüfungsrecht wahr.17 Dies bedeutet eine Abkehr – jedenfalls in diesem Kontext – vom Prinzip der sonst praktizierten bloßen Willkürkontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen im Sinne einer Vermeidung von Völkerrechtsverstößen. Aus diesen vier Aspekten folgt, dass die Gewährleistungen der EMRK zwar keinen gleichwertigen Verfassungsmaßstab im Vergleich zu den deutschen Grundrechten bilden, gleichwohl aber soweit als mögliche Beachtung auf grundrechtlicher Ebene erfahren sollen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dabei insbesondere auch die Rolle eines Letztentscheiders über die Grenzen der Berücksichtigung der EMRK zuerkannt.18 Hierfür sprechen speziell die Anerkennung der Schutzstandards der EMRK als mittelbar rügefähige Gewährleistungen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, die Abkehr vom bloßen Willkürmaßstab bei der Prüfung von Urteilsverfassungsbeschwerden und die Überwindung von Rechts- und Gesetzeskraft infolge neuer EGMR-Entscheidungen. III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtecharta Vor diesem Hintergrund soll nunmehr die Position des Bundesverfassungsgerichts zu den Gewährleistungen der GRCh betrachtet werden. Dabei handelt es sich um Regeln im Rang des europäischen Primärrechts, die in ihrem Anwendungsbereich Vorrang gegenüber nationalem Recht beanspruchen.19 Im Hinblick auf ihre Berücksichtigung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden: Zum einen der Fall, bei dem das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsgewalt auf Grundlage der Solange-Rechtsprechung aufgegeben hat (unter I.), und zum anderen der Fall, in dem das Bundesverfassungsgericht Gerichtsgewalt in EU-Kontexten wahrnimmt (unter II.). Der Darstellung beider Konstellationen folgt eine Bewertung (unter III.).

16

BVerfGE 128, 326, 364 f. BVerfGE 111, 307, 328. 18 Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 204 ff. (378). 19 Grundlegend zum Vorrang des Unionsrechts EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251, Rn. 12. 17

Das Bundesverfassungsgericht und die Unionsgrundrechte

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1. Missachtung der Unionsgrundrechte infolge der Aufgabe von Gerichtsgewalt Bekanntlich verzichtet das Bundesverfassungsgericht auf seine Gerichtsgewalt, wenn es um die Überprüfung von EU-Recht geht oder um deutsche Hoheitsakte, die zwingenden europarechtlichen Vorgaben entsprechen.20 Mit dieser Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht im Sinne des Verwerfungsmonopols des EuGH das Konzept aufgegeben, eine Überprüfung entsprechender Akte anhand der deutschen Grundrechte vorzunehmen. So erscheint diese Rechtsprechung vordergründig als europarechtsfreundlich. Misst man diesen Verzicht auf Gerichtsgewalt jedoch an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur EMRK, so fällt auf, dass das Bundesverfassungsgericht hier nicht sucht, denkbare fachgerichtliche Fehlinterpretationen bei der Anwendung der Unionsgrundrechte zu korrigieren; vielmehr entzieht es sich dem unionsgrundrechtlichen Schutz durch den selbst auferlegten Verzicht auf Gerichtsgewalt vollständig. Dabei kann diese Verweigerung der Rolle eines Kontrollorgans unionsgrundrechtlicher Verstöße durch fachgerichtliche Entscheidungen potenziell auch Verurteilungen durch den EuGH speziell im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach sich ziehen. Im EMRK-Kontext war eine entsprechende Gefahr wie dargelegt eine zentrale Motivation für das Bundesverfassungsgericht, eine abschließende und umfassende Prüfung der Beachtung von EMRK-Gewährleistungen vorzunehmen. Nun mag man diese Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mit überragenden rechtspolitischen Zwängen zu erklären suchen. Es fragt sich jedoch, ob der Verzicht auf eine Überprüfung speziell auch gebundener deutscher Vollzugsakte anhand der deutschen Grundrechte zugleich auch einen Verzicht auf eine Überprüfung anhand der Unionsgrundrechte mit sich bringen muss. Dies ist zu verneinen. Es ist durchaus vorstellbar, dass das Bundesverfassungsgericht auch in diesen Konstellationen Gerichtsgewalt wahrnimmt, um unionsgrundrechtlichen Verpflichtungen gerecht zu werden, ohne zugleich eine Prüfung anhand der deutschen Grundrechte vorzunehmen.21 Nur so könnte auch sichergestellt werden, dass Fachgerichte in entsprechenden Konstellationen nicht Entscheidungen treffen, die unionsgrundrechtswidrig sind. 2. Missachtung der Unionsgrundrechte soweit Gerichtsgewalt ausgeübt wird Dass es dem Bundesverfassungsgericht inzwischen im Hinblick auf den Verzicht auf Gerichtsgewalt in seiner Solange-Rechtsprechung womöglich auch darum geht, 20

BVerfGE 73, 339, 387; 102, 147, 162 ff.; 118, 79, 95 f.; 121, 1, 15; BVerfG, BvR 2036/ 05 vom 14. 5. 2007 (NVwZ 2007, 942 f.); BVerfGE 125, 260, 306; 129, 78, 90; Voßkuhle (Anm. 13), NVwZ 2010, S. 4 ff. (6). 21 Zu dieser Überlegung Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. ), S. 374 ff. (394 ff.).

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Konflikten, die sich für die deutschen Grundrechte aus dem Vorranganspruch der Unionsgrundrechte ergeben könnten, auszuweichen, wird deutlich, wenn man sich die zweite Konstellation betrachtet. Das Bundesverfassungsgericht nimmt Gerichtsgewalt wahr, wenn es um die Beurteilung europarechtlich nicht vollständig determinierter Akte geht, d. h. immer dann, wenn bei der Umsetzung, Anwendung und Auslegung von Unionsrecht (Gestaltungs- und Ermessens-)Spielräume bestehen.22 Inwieweit in entsprechenden Konstellationen Unionsgrundrechte durch das Bundesverfassungsgericht heranzuziehen sind, stellt sich als problematisch dar. Der EuGH hat in seiner viel diskutierten Åkerberg Fransson-Entscheidung23 angenommen, dass die Gewährleistungen der GRCh gem. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh generell im Anwendungsbereich des Unionsrechts Anwendung finden müssen.24 Danach müssten Unionsgrundrechte gerade auch dann seitens des Bundesverfassungsgerichts herangezogen werden, wenn es gilt, solche europarechtlich nicht vollständig determinierten Akte deutscher Staatsgewalt zu beurteilen. Denn in solchen Konstellationen wird typischerweise der Anwendungsbereich des Unionsrechts gegeben sein. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht auf diesen Ansatz des EuGH mit offener Kritik reagiert. In seiner Entscheidung zur Antiterrordatei hat das Bundesverfassungsgericht den Ansatz mit deutlichen Worten zurückgewiesen: „(…) Nichts anderes kann sich aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson (…) ergeben. Im Sinne eines kooperativen Miteinanders zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof (…) darf dieser Entscheidung keine Lesart unterlegt werden, nach der diese offensichtlich als ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), dass dies die Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte (…). Insofern darf die Entscheidung nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechtecharta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche. Vielmehr führt der Europäische Gerichtshof auch in dieser Entscheidung ausdrücklich aus, dass die Europäischen Grundrechte der Charta nur in ,unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden‘ (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, C617/10, Rn. 19)“.25

22

Siehe etwa BVerfGE 121, 1, 15; 125, 260, 306 f.; 129, 78, 90 f. Rs. C-617/10, 26. 2. 2013 (Fransson), veröffentlicht unter http://eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62010CJ0617:DE:HTML.; bestätigt etwa im Urteil vom 30. 4. 2014, C-390/12 (Pfleger), veröffentlicht unter http://curia.europa.eu/juris/docu ment/document.jsf?text=&docid=151521&pageIndex=0&doclang=DE&mode=r eq&dir=&occ=first&part=1. 24 Fransson (Anm. 23), Rn. 17 ff.; siehe für eine Kommentierung insbesondere Wolfgang Weiß, Grundrechtsschutz durch den EuGH: Tendenzen seit Lissabon, in: EuZW 2013, S. 288 f. 25 BVerfG, 1 BvR 1215/07 vom 24. 4. 2013, Absatz-Nr. 91. 23

Das Bundesverfassungsgericht und die Unionsgrundrechte

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Der Ansatz des EuGH in der Fransson-Entscheidung kann zu Recht insoweit kritisiert werden, als der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht als Kriterium anzusehen ist, welches klare Konturen für die Anwendung der Unionsgrundrechte gewähren würde. So trägt die EuGH-Entscheidung zu Rechtsunsicherheit bei. Vorzugswürdig ist vielmehr eine Orientierung näher am Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh, welcher den Anwendungsbereich der GRCh-Gewährleistungen definiert. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh spricht insoweit von einer Bindung der Mitgliedstaaten an die Gewährleistungen der Charta „bei der Durchführung des Rechts der Union“. Nach der deutlich herrschenden Literaturmeinung werden hiervon jedenfalls auch Konstellationen erfasst, in denen Gestaltungs- und Ermessensspielräume vorhanden und von den Mitgliedstaaten genutzt werden.26 Wenn man diese im Vergleich zur Ansicht des EuGH in der Fransson-Entscheidung zurückgenommene Position zum Anwendungsbereich der Gewährleistungen der Charta zugrunde legt, sollte man erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht die GRCh auch im Rahmen ihrer in Europarechtskontexten wahrgenommenen Gerichtsgewalt heranziehen müsste. Betrachtet man jedoch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit Eintritt der Verbindlichkeit der Charta mit dem Vertrag von Lissabon, so stellt man fest, dass dieser Erwartung nicht entsprochen wird. Vielmehr lassen sich Fälle nachweisen, in denen das Bundesverfassungsgericht jegliche Heranziehung von Unionsgrundrechten vermieden hat, während die Unionsgrundrechte in den fachgerichtlichen Entscheidungen, die den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vorausgegangen waren, teilweise umfänglich einbezogen wurden.27 Gerade auch mit Blick auf die einleitend zitierte EuGH-Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie tritt hier die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung vom 2. März 2010 in den Fokus.28 Darin hat das Bundesverfassungsgericht das Umsetzungsgesetz in Gestalt des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung anhand der deutschen Grundrechte, speziell des Art. 10 GG, überprüft. Die neue EuGH-Entscheidung führt im Gegensatz

26 Statt vieler Martin Borowsky, in: Jürgen Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., 2011, Art. 51, Rn. 25, 27 f. m. w. N.; Hans D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kommentar, 2013, Art. 51, Rn. 23 und Art. 53, Rn. 10 ff. m. w. N.; Dirk Ehlers, in: Dirk Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 14, Rn. 50 f. m. w. N. 27 BVerfG, 1 BvR 1248/11 vom 15. 12. 2011, Abs. 26 ff.; BVerfGE 129, 78, 104 ff.; siehe hierzu auch Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff (386 ff.); zu denken wäre weiter auch an die Entscheidung 2 BvR 909/06 vom 7. 5. 2013, Absatz-Nr. 72 ff., bei der es um den Ausschluss eingetragener Lebenspartnerschaften vom Ehegattensplitting ging; dies scheint die europarechtliche Fragen des Art. 21 GRCh mit dem Schutz vor Diskriminierung infolge sexueller Orientierung insoweit zu betreffen, als dies auch die Gefahr eines Konterkarierens sozial- und arbeitsrechtlicher Schutzpositionen betraf. 28 BVerfGE 125, 260.

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dazu – wie einleitend angesprochen – deutlich vor Augen, welche Gewährleistungen der GRCh in die Beurteilung hätten einbezogen werden müssen.29 Die Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts spiegelt die Überzeugung getrennter Anwendungssphären von Unionsgrundrechten und deutschen Grundrechten wider. Danach stellt sich die Abgrenzung wie folgt dar: Soweit Handlungen der deutschen Staatsgewalt europarechtlich determiniert sind, finden die Unionsgrundrechte Anwendung. Soweit jedoch Spielräume bei der Umsetzung oder Anwendung von Unionsrecht bestehen, sind die deutschen Grundrechte ausschließlicher Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts.30 Diese Konzeption läuft damit parallel zu der Aufgabe von Gerichtsgewalt nach der Solange-Rechtsprechung und der Wahrnehmung von Gerichtsgewalt bei der Beurteilung europarechtlich nicht determinierter Akte. In anderen Worten nimmt das Bundesverfassungsgericht Gerichtsgewalt nicht wahr, wenn Unionsgrundrechte anzuwenden wären, während es eine Zuständigkeit sieht, soweit ausschließlich deutsche Grundrechte als Beurteilungsmaßstab dienen. Im Hinblick auf Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh begründet das Bundesverfassungsgericht seinen Standpunkt in der Antiterrordatei-Entscheidung wie folgt: „(…) die europäischen Grundrechte der Grundrechtecharta sind auf den zu entscheidenden Fall nicht anwendbar. Die angegriffenen Vorschriften sind schon deshalb an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen, weil sie nicht durch Unionsrecht determiniert sind (…). Demzufolge liegt auch kein Fall der Durchführung des Rechts der Europäischen Union vor, die allein die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta nach sich ziehen könnte (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh)“.31 Dies zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht von einer sehr restriktiven Interpretation des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh ausgeht. Diese überzeugt jedoch insoweit nicht, als es künstlich erscheint, einen zwingende Vorgaben und Gestaltungspielräume gleichermaßen umfassenden europäischen Sekundärrechtsakt anhand potentiell unterschiedlicher Grundrechtsmaßstäbe zu prüfen. Die Annahme einer unionsgrundrechtswidrigen Ausfüllung vorhandener, durch das EU-Recht gesetzter Spielräume kann nicht überzeugen.32 Speziell auch im Vergleich zum beschriebenen Ansatz des Bundesverfassungsgerichts zu den Gewährleistungen der EMRK sticht die künstliche Ausgrenzung der Unionsgrundrechte besonders ins Auge. So sucht das Bundesverfassungsgericht an29

Art. 7 GRCh verbürgt die Achtung des Privat und Familienlebens und Art. 8 GRCh den Schutz personenbezogener Daten. 30 Maximilian Steinbeis, Grundrechte-Überdruck in Europa? (Bericht zu einem Vortrag von Verfassungsrichter Professor Dr. Johannes Masing, wonach das Verhältnis von GRCh zu nationalen Verfassungen durch die Konzeption einer „Teilung“ geprägt sei), veröffentlicht unter http://www.verfassungsblog.de/de/grundrechte-ueberdruck-in-europa/#.U2C4faJmPAk; Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. (390). 31 BVerfG, 1 BvR 1215/07 vom 24. 4. 2013, Absatz-Nr. 88. 32 Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. (388).

Das Bundesverfassungsgericht und die Unionsgrundrechte

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ders als bei Kollisionen der deutschen Grundrechte mit EMRK-Gewährleistungen jegliche Berührung der deutschen Grundrechte mit konkurrierenden Grundrechten des Unionsrechts zu vermeiden. Auch hier scheint es das Leitmotiv zu sein, den materiellen Bestand des deutschen Grundrechtsschutzes von äußeren Einflüssen frei zu halten und damit vollständig zu bewahren.33 Weiter fällt an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf, dass es anders als in EMRK-relevanten Konstellationen nicht versucht, die Rolle des Letztentscheiders zur Vermeidung von Verstößen an sich zu ziehen. Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht in Konstellationen, in denen die Unionsgrundrechte Bedeutung erlangen, am Maßstab der bloßen Willkürprüfung von fachgerichtlichen Entscheidungen festhält (speziell bei der Beurteilung von Vorlageentscheidungen nach Art. 267 AEUV),34 zeugt ebenfalls von einem Doppelstandard.35 3. Bewertung Der beschriebene Ansatz des Bundesverfassungsgerichts wirft eine Vielzahl von Fragen auf. Lassen sich tatsächlich Gründe dafür anführen, den Anwendungsbereich der GRCh im Hinblick auf mitgliedstaatliches Handeln entgegen der herrschenden Meinung im Schrifttum als auf die Durchführung gebundener Entscheidungen beschränkt anzusehen? Ist es nicht gerade die Zielsetzung der Unionsgrundrechte auch in Bereiche auszustrahlen, in denen den Mitgliedstaaten europarechtlich Handlungsspielräume eröffnet sind? Gerade hier überzeugt es nicht, eine strenge Sphärentrennung der europäischen und nationalen Grundrechtsschutzsphäre anzunehmen. Die restriktive Interpretation des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh muss auf Grundlage der bereits genannten Argumente als europarechtsunfreundlich gewertet werden. In den einschlägigen Verfahren hat sich zudem gezeigt, dass die Fachgerichte die Unionsgrundrechte in ihre jeweilige Entscheidungsfindung einbezogen haben.36 Wie ist dies zu bewerten, wenn das Bundesverfassungsgericht bei nicht gebundener Durchsetzung die Anwendung von Unionsgrundrechten ausschließt? Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Ausdruck gebracht, dass es von der Pflicht der Fachgerichte, die deutschen Grundrechte anzuwenden, gerade auch bei nicht unionsrechtlich determinierten Rechtsfragen ausgehe.37 Damit ist das 33

Steinbeis (Anm. 30); Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. (396 ff.). Siehe hierzu mit weiteren Nachweisen Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. (384 ff.). 35 Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. (398 f.). 36 Siehe Fn. 27. 37 BVerfGE 129, 78 (103): „Lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum, ist dieser grundgesetzkonform auszufüllen (vgl. BVerfGE 113, 273, 300 ff.). Die Fachgerichte müssen den Einfluss der Grundrechte bei der Auslegung zivilrechtlicher Vorschriften des nationalen Rechts, die unionsrechtlich nicht oder nicht vollständig determiniert sind, zur Geltung bringen (vgl. BVerfGE 118, 79, 95 ff.)“. 34

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bisherige Einbeziehen der Unionsgrundrechte durch die Fachgerichte zumindest aus Perspektive des Bundesverfassungsgerichts in Frage gestellt. Auch wenn sich Gründe für diese Konzeption des Bundesverfassungsgerichts finden lassen, überzeugt diese gleichwohl nicht. So mag man es bedauern, dass die historisch gewachsenen deutschen Grundrechte nun in einzelnen Fällen einer unionsrechtlich Überformung ausgesetzt sind, die die Angepasstheit der Grundrechte an die jeweilige Gesellschaft, die diese hervorgebracht hat, in Frage stellt. Gleiches gilt auch für die generelle Vielfalt grundrechtlicher Konzepte in den 28 Mitgliedstaaten. Gleichzeitig scheint diese Entwicklung jedoch nicht aufhaltbar zu sein; die Gewährleistungen der GRCh dürfen berechtigterweise eine effektive Anwendung beanspruchen, auch wenn dies zu Lasten mitgliedstaatlicher Grundrechtskonzeptionen geht. Der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit EMRK und GRCh zeigt ein Bild, das einen Doppelstandard bei der Berücksichtigung europäischer Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht widerspiegelt. Während es bei der EMRK alle Möglichkeiten ausschöpft, um Verstöße der Fachgerichte korrigieren zu können, erfahren die in ihrem Anwendungsbereich gar vorrangigen Unionsgrundrechte keinen Schutz durch das Bundesverfassungsgericht. So kommt hier auch nicht die Rolle eines Letztentscheiders zum Tragen, was sich speziell an der bloßen Willkürkontrolle von Vorlageentscheidungen mit unionsgrundrechtlicher Relevanz zeigt. Als weitere Erklärung für die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts könnte man daran denken, dass es diesem auch darum gehen könnte, Situationen auszuweichen, in denen eine eigene Vorlage, so wie sie jetzt erst kürzlich erstmalig seitens des Bundesverfassungsgerichts an den EuGH herangetragen wurde,38 erforderlich werden könnte. Entscheidend erscheint hingegen ein anderer Gedanke. Während es dem Bundesverfassungsgericht möglich ist, die Auswirkungen der EMRK auf die deutsche Grundrechtsdogmatik begrenzt zu halten bzw. zu kontrollieren, stellen sich die Unionsgrundrechte mit ihrem Vorranganspruch – wie aufgezeigt – als eine Herausforderung für die deutschen Grundrechte dar. Soweit deren Schutz in ihrem Anwendungsbereich weiter reicht als der eines deutschen Grundrechts wäre dieser vorrangig zu beachten. Auch wenn Abwägungsentscheidungen zwischen kollidierenden Grundrechten zu treffen wären – das Bundesverfassungsgericht spricht hier von mehrpoligen Rechtsverhältnissen –, müssten sich die unionsgrundrechtlichen Ansätze durchsetzen.39 Das Bundesverfassungsgericht hat speziell im Hinblick auf die EMRK in diesen Fällen eine klare Grenze gezogen und deutlich gemacht, dass man sich dabei nicht zwingend der EMRK unterwerfen werde. Diese Freiheit kann sich das Bundesverfassungsgericht jedoch bei Unionsgrundrechten aufgrund

38 Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 9/2014 vom 7. 2. 2014, abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg14 – 009.html. 39 Siehe zu diesen Konstellationen Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. (397).

Das Bundesverfassungsgericht und die Unionsgrundrechte

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der Vorrangwirkung nicht nehmen.40 Vielmehr müsste eine ganz neue Methodik für Konflikte der deutschen Grundrechte mit Unionsgrundrechten entwickelt werden, eine Methodik, die letztlich nicht ohne erhebliche Auswirkungen auf die heutige Grundrechtsdogmatik bleiben kann.41 IV. Resümee und Ausblick Der Beitrag suchte aufzuzeigen, dass das Bundesverfassungsgericht die Unionsgrundrechte speziell in Gestalt auch der Gewährleistungen der GRCh als Maßstab seiner Entscheidungsfindung auszuschließen sucht. Dies geschieht entweder aufgrund einer Aufgabe von Gerichtsgewalt (Solange-Rechtsprechung) oder aber auf Grundlage einer nicht überzeugenden Annahme getrennter Anwendungsbereiche von Unionsgrundrechten und deutschen Grundrechten, die eine Anwendung von Unionsgrundrechten bei europarechtlich nicht determinierten Akten deutscher Staatsgewalt ausschließt. Diese Konzeption steht im offenen Widerspruch zu der sehr völkerrechtsfreundlichen Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK. Die Motivation des Bundesverfassungsgerichts besteht in der großen Herausforderung, welche die Unionsgrundrechte für die deutsche Grundrechtsdogmatik und ihren etablierten Wertekanon darstellen. Während die EMRK aufgrund ihres Ranges in der deutschen Rechtsordnung methodisch „zähmbar“ ist, wäre hinsichtlich der Unionsgrundrechte das Vorrangprinzip uneingeschränkt anwendbar. Ein weitergehender unionsrechtlicher Schutz oder eine anderweitige Abwägung widerstreitender Grundrechte bei mehrpoligen Rechtsverhältnissen wäre somit vorrangig zu beachten. Dies hätte erhebliche Konsequenzen für die heutige Grundrechtsdogmatik. Die Konsequenz dieses beschriebenen Doppelstandards in der Bundesverfassungsgericht-Rechtsprechung besteht darin, dass Verletzungen der EMRK und damit Verurteilungen durch den EGMR weitgehend vermieden werden, während Verletzungen der Unionsgrundrechte und daraus potentiell folgende Verurteilungen durch den EuGH jedenfalls vorläufig in Kauf genommen werden. Vieles spricht dafür, dass das Bundesverfassungsgericht dieser Konzeption so lange folgen wird, bis es von Seiten des EuGH in die Schranken verwiesen wird. Auch wenn in verschiedenen Bereichen des Grundrechtsschutzes von einem weitergehenden europarechtlichen Grundrechtsschutz auszugehen ist, erscheint es in verschiedener Hinsicht fraglich, ob sich hierfür eine Gelegenheit finden lässt. So ist zu befürchten, dass der europarechtsunfreundliche Standpunkt des Bundesverfassungs-

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Nach der eigenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts käme eine Grundrechtskontrolle nur in dem wohl kaum vorstellbaren Fall in Betracht, dass der elementare, von der Ewigkeitsklausel umfasste Grundrechtsschutz berührt würde, sog. Identitätskontrolle, Lissabon-Entscheidung, BVerfGE 123, 267, 354. 41 Zu entsprechenden Überlegungen etwa Griebel (Anm. 10), Der Staat 52 (2013), S. 374 ff. (396 ff.).

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gerichts mit all seinen – wie beschrieben – auch für die Fachgerichte problematischen Folgen einstweilen Bestand haben wird.

Grundgesetzliche Demokratie und europäische Integration. Juridische Grenzanschauungen Von Hans-Detlef Horn I. Auftakt: Der Grenzgang als Erkenntnisweg „Andere Leut‘ haben ihre Weltanschauung, ich hab‘ meine Grenzanschauung.“ Der Satz eines bayerischen Mundartautors1 will die folgenden Überlegungen nach Art eines Mottos sowohl einleiten wie anleiten. Denn just darum soll es gehen, um (juridische) Grenzanschauungen im Verhältnis von grundgesetzlicher Demokratie und europäischer Integration – im Gegenüber zu Weltanschauungen und ähnlichen Haltungen, Bekenntnissen und Überzeugungen, die das Thema so gerne beherrschen. Der Grenzgänger findet freilich selten große Gefolgschaft. Wer sich zur Grenze aufmacht, verlässt die Mitte des Üblichen und Bekannten, tritt aus dem Raum des Normalen und Gewohnten heraus und begibt sich an den Rand oder mit dem nächsten Schritt gar mitten hinein in das Niemandsland, das den vertrauten Boden von dem unbekannten Terrain, die Gewissheit von der Spekulation trennt. Das stört den behaglichen Konsens des Alltags und den routinierten Umgang mit dem status quo. Frei nach Kierkegaard: Solche Grenzwanderungen erzeugen eher „Furcht und Zittern“ vor der Konfrontation mit dem eigenen Ende und mit dem Beginn des Anderen. Auf die Furcht vor der Konfrontation aber folgen mit psychologischer Konsequenz Vermeidung und Verdrängung. Statt Grenzen zu ziehen und damit Unterscheidungen zu treffen, dominiert das Streben nach Inklusion und Homogenität. Grenzen und Unterscheidungen wollen lieber hinweggeredet und verleugnet oder, falls das nicht gelingt, so lange verschoben und zerredet werden, bis sie zur Unkenntlichkeit verschwimmen. So in etwa kann man den aktuellen psychopolitischen wie auch psychojudikativen Zustand umschreiben, der die Haltung zu der Frage bestimmt: Wieviel Mehr an europäischer Integration ist mit dem Grundgesetz noch zu machen? Spätestens mit dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts2 ist hier eine Grenze in das Sichtfeld des praktisch-politischen Geschehens gerückt, die zuvor allenfalls das geduldige Papier von Theoretikern beschäftigte. Die mit der Vermessung des Grundgesetzes wie mit der Verteidigung seiner Grenzen betrauten Richter hatten festgestellt, dass „für 1 Bernhard Setzwein, Die Papiere, bitte! Ein Wort vor Reiseantritt, in: ders., Ein Fahneneid aufs Niemandsland. Literatur über Grenzen, 2001, S. 7. 2 BVerfGE 123, 267 ff.

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eine Abgabe weiterer Kernkompetenzen an die Europäische Union (…) nicht mehr viel Spielraum“ bestehe, dieser „wohl weitgehend ausgeschöpft“ sei – so die Zusammenfassung ihres Präsidenten.3 Eine Überschreitung dieses Spielraums läge nicht mehr in der Binnenkompetenz der verfassungsgebundenen Volksgewalt. Dafür wäre vielmehr eine Grenzöffnung, sprich: eine neue Verfassung erforderlich, über die nur das Volk selbst, als Träger der „verfassunggebenden Gewalt“ – so das Gericht – befinden könne.4 Seither schwebt der Schlagbaum des Grundgesetzes über der politischen Agenda, die in einem „Mehr“ bzw. „Noch-mehr Europa“ die überlegene Idee erkennt, um das andauernde Übel der hoch infektiösen Finanz-, Währungs- und Staatsschuldenseuche buchstäblich aus der Welt schaffen zu können. Doch um den Schlagbaum hat sich längst, unter dem Eindruck stürmischer Wetterlagen und schützender Rettungsschirme, so dichter Nebel gebildet, dass er in eine unermessliche Ferne entrückt scheint. Das Bundesverfassungsgericht reagierte auf die verbreitete Kritik an seiner Grenzschau im Lissabon-Urteil mit offenbarer Grenzscheu in der Honeywell/MangoldSache5 oder im Verfahren zur Griechenland-Hilfe6, und auch die Grenzannäherung im ESM/EZB-Verfahren ließ auffällig lange auf sich warten.7 Der Bundespräsident verkündete gar die Notwendigkeit, jedwede Grenzbeobachtungen in staatlicher Politik und freiheitlicher Gesellschaft vollends einzustellen: Europa brauche keine Bedenkenträger, sondern Bannerträger.8 In solchem Stimmungsumfeld den Sinn des Grenzgangs zu loben,9 mag daher unbequem erscheinen, manchem gar lästig aufstoßen. „Lästig“ oder „ungeliebt“ zu sein, ist freilich für den Juristen keine ungewöhnliche Zuschreibung, im Gegenteil: sie hat geradezu Klassikerstatus.10 Sie rührt aus seinem Beruf, gegenüber dem dynamischen Eifer von Wirklichkeit und Politik die kritische Wahrung und Pflege des Rechts zu behaupten. Dieser Aufgabe aber korreliert die Methode der Grenzanschau-

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Vgl. Interview mit Andreas Voßkuhle, in: FAS vom 25. 9. 2011, S. 36 f. BVerfGE 123, 267, 332. 5 BVerfGE 126, 286 ff. 6 BVerfGE 129, 124 ff. 7 Vgl. zunächst BVerfGE 132, 195 ff. (einstweilige Anordnung), sodann – im Abstand von eineinhalb Jahren – BVerfG vom 14. 1. 2014 (Vorlage an den EuGH, soweit OMT-Beschluss der EZB betroffen; BVerfGE 134, 366 ff.) und vom 18. 3. 2014 (Urteil zum ESM; NJW 2014, S. 1505 ff.). 8 Joachim Gauck, Rede „Europa: Vertrauen erneuern – Verbindlichkeit stärken“ v. 22. 2. 2013, abrufbar unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden /DE/Joachim-Gauck/ Reden2013/02/130222-Europa.html. 9 Vgl. Konrad Paul Liessmann, Das Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft, 2012. 10 Vgl. nur Ernst Forsthoff, Der lästige Jurist, in: ders., Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950 – 1964, 1964, S. 57 ff.; Meinhard Heinze, Der ungeliebte Jurist, 1981. 4

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ung wie das Mittel zum Zweck. Sie entdeckt, was sonst kritiklos, also unbemerkt hinoder angenommen wird.11 Hier öffnet sich zumal das Aufgabenfeld, solchen Entgrenzungen des Politischen auf die Spur zu kommen, die das Recht selbst, wie zuweilen das europäische Vertragsrecht, als lästig empfinden und daher als variierbar, manipulierbar oder gar ignorierbar behandeln. Der Jubilar, dem diese Zeilen gewidmet sind und der über viele Jahre in Spitzenfunktionen des politischen Betriebs tätig und verantwortlich war, weiß um den Wert des Rechts und um die Gefahren, die eine Entkoppelung von Politik und Recht bedeutet. Eine Neigung, die Fesseln des Rechts zugunsten einer bewussten Machtstrategie oder einer vermeintlich sachnotwendigen TINA-Politik („there is no alternative“) zu lockern, bis hin zu Forderungen, die Kontrolldichte oder gar die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts zu begrenzen, ist eine Neigung, die abwärts führt. „Lösen wir Staat und Recht und Vernunft voneinander, dann fehlt uns“ – so schrieb kürzlich Udo Di Fabio zu Recht – „jeder Kompass für die humane und kluge Gestaltung des 21. Jahrhunderts“.12 Andererseits vermögen solche Grenzbetrachtungen des Rechts aber unter Umständen auch Erkenntniszuwächse hervorzubringen, die gleichsam umgekehrt Politikoptionen offenbaren, die bislang verborgen geblieben sind. Denn nicht minder richtig ist das, was – mit Andreas Voßkuhle – ebenso möglich ist, nämlich dass das Recht mitunter belastbarer ist als mancher glaubt.13 Es ist diese Polarität, die auch das Spannungsfeld kennzeichnet, in dem sich der Grenzgänger zwischen grundgesetzlicher Demokratie und europäischer Integration bewegt. II. Demokratische Binnengrenzen europäischer Integration 1. Demokratische Verfassungsidentität Sedes materiae ist zunächst Art. 79 Abs. 3 GG. Die Vorschrift schützt die Identität des deutschen Verfassungsstaates vor Aushöhlung oder Abschaffung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber von Bundestag und Bundesrat. Zu diesem änderungsfesten Kern gehören die „Grundsätze“ der in Art. 20 Abs. 2 GG niedergelegten Verfassungsgrundentscheidung für die staatliche Demokratie. Demnach darf es unter dem Grundgesetz nicht dazu kommen, dass das deutsche Volk, von dem die Staatsgewalt ausgeht, und also auch: dass die Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht, nichts Wesentliches mehr zu entscheiden hat.14 Dass dieser Vorbehalt auch und gerade im Kontext fortschreitender europäischer Integration virulent ist, macht das Grundge11

„Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis“ (Paul Tillich). Udo Di Fabio, Der Westen am Scheideweg. Ewige Bindung oder flüchtige Liaison?, vom 6. 10. 2011, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/. 13 Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, im Gespräch, in: FAZ vom 5. 5. 2014, S. 4. 14 Vgl. BVerfGE 89, 155, 184 ff.; 123, 267, 347 ff. 12

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setz selbst explizit deutlich. In Art. 23 bindet es jede verfassungsrelevante Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ausdrücklich an Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3. Damit limitiert es das Ausmaß des durch den Gesetzgeber Übertragbaren und schützt dadurch das Volk unter dem Grundgesetz vor einem Substanzverlust seiner Herrschaftsgewalt. Dem juridischen Grenzgänger begegnen damit zwei Fragen: Erstens, wieweit reicht das Übertragbare, mithin der Integrationsspielraum? Wo genau liegt – sub specie Demokratieprinzip – die Grenze? Und zweitens, wie ist die Lage dahinter? Was erwartet den ausreisewilligen Integrationisten? 2. Demokratischer „Solange-Vorbehalt“ Um die erste Frage will es hier nicht vorrangig gehen. Ihr soll nur so weit nachgegangen werden, wie sie für die zweite von Bedeutung ist. Denn sie führt mitten hinein in die zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen in der Folge des Lissabon-Urteils, zwischen die mannigfaltigen Grenzdeuter von Identitätsbarrieren und Integrationsreserven des Grundgesetzes. Doch in Anbetracht des besagten Nebels, der sich über die Szenerie gelegt hat, lässt sich der exakte Standort des Grenzpfostens ohnehin allenfalls vage ausmachen. Er markiert den Punkt, an dem die primärrechtliche Vertiefung der europäischen Integration mit einem „Identitätswechsel“15 der Bundesrepublik einhergeht. Der Fall wäre zwar gewiss offenkundig und eindeutig bei einer expliziten Aufgabe der Eigenstaatlichkeit und dem „sprunghaften“ Übergang16 in einen europäischen Bundesstaat. Doch der steht nicht ernsthaft in Rede. Politisch realer, aber auch juristisch schwieriger zu fassen, ist die schleichende Aufgabe der (Ausübung der) staatlichen Souveränität, die durch immer weitere Übertragungen von Hoheitsrechten bewirkt wird. Die zunehmende Bremskraft, mit der das Grundgesetz dieser Entwicklung begegnet, rührt aus der Garantiefunktion, die die Wahrung souveräner Staatlichkeit für das unabdingbare Minimum an demokratischer Gestaltungsmacht hat. Das wird vom Bundesverfassungsgericht zu Recht herausgestellt:17 Das demokratische Verfassungsprinzip, das die Souveränität des Volkes in der Trägerschaft und Ausübung der staatlichen Herrschaftsgewalt zur Geltung bringen will, setzt diese Herrschaftsgewalt in ihrer Souveränität tatsächlich voraus und ist auf diese bezogen.18 Die Folge ist: Solange die EU-Hoheitsgewalt nicht als souveräne, nicht mehr abgeleitete Gewalt aus der Souveränität eines eigenständigen, europäischen Volkswil15

BVerfGE 123, 267, 331. Peter Lerche, Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: Bernd Bender/Rüdiger Breuer/Fritz Ossenbühl (Hrsg.), Festschrift für Konrad Redeker, 1993, S. 131 ff. (141). 17 BVerfGE 123, 267 (347, 370 ff.). 18 Vgl. dazu Hans-Detlef Horn, Demokratie, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 743 ff. (747 f. Rn. 11). 16

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lens legitimiert werden kann, solange kann eine demokratische Legitimation der EU ohne Volkssouveränität, die sie über die einzelnen Staatsvölker (über die in den nationalen Parlamenten gewählten Regierungsvertreter im Europäischen Rat/Ministerrat und die Abgeordneten im Europäischen Parlament) in abgestufter Weise erfährt, nur bis zu jenem letzten Punkt hinreichen, an dem die volkssouveräne Demokratie nicht vollends entleert, sondern in der staatlichen Souveränität noch einen substanziellen Wirkungsraum findet („demokratische Solange-Formel“). Diesem demokratischen „Solange-Vorbehalt“ durch transnationalisierende (Mehrebenen-)Operationen am grundgesetzlichen Konzept der Demokratie auszuweichen, scheidet aus. Die Demokratie der Volkssouveränität ist als solche nicht abwägungs- und nicht relativierungsfähig.19 Sie hat ihre juridische wie politische Pointe gerade darin, dass sie die hoheitliche Gewalt im Rahmen der Verfassung an die reale Kraft des Volkes bindet (Rudolf von Jhering) und jede andere Legitimationsquelle ausschließt, wie etwa auch die Habermassche Idee einer transnationalen, zwischen individuellem Unionsbürger und geeintem Staatsvolk „geteilten Volkssouveränität“.20 Die Wesenheit dieser staatlichen Demokratie im Kern zu bewahren, mithin einen Mindestumfang von „demokratiefähigen“ staatlichen Hoheitsrechten zu erhalten: daran bleibt auch der verfassungsändernde Integrationsgesetzgeber gebunden (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Art. 79 Abs. 3 GG). Doch wo nun diese Grenze konkret liegt: die weitere Suche danach kann getrost unterbleiben, sie scheint auch wenig ergiebig. Peter Lerche hat schon vor 20 Jahren vermutet: Eine intensivere Integration wird, falls überhaupt, zu Schwebezonen führen, „bei denen die Frage des Nichtmehr-Abzuleitenden und damit Staatlichen nicht ohne dezisionistische Willkür … beantwortet werden könnte“. Es werde wohl „nie die große Glocke geben, die mit einem Stundenschlag die neue Staatlichkeit für alle hörbar einläutet“.21 3. Schutzgut verfassunggebende Gewalt Gleichwohl sind und bleiben neue institutionelle Arrangements, die jenseits oder zwischen den binären Modellen von Staat und Nicht-Staat bzw. von staatlicher, volkssouveräner und nicht-staatlicher Demokratie ohne Volkssouveränität liegen, 19

BVerfGE 123, 267, 343. So das von Jürgen Habermas vorgeschlagene Legitimationskonstrukt für sein „Verfassungsprojekt“ Europa, in: ders., Zur Verfassung Europas. Ein Essay, 2011, S. 39 ff.; auch ders., Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen, in: Der Staat 53 (2014), S. 167 ff. (180 ff.); ähnlich Armin von Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl., 2009, S. 13 ff. Treffend dazu die „juristische Stellungnahme“ von Albert Janssen, Verfassungsgebung ohne die verfassungsgebende Gewalt des Volkes?, in: ZG 2013, S. 21 ff. 21 Lerche (Anm. 16), in: Bender/Breuer/Ossenbühl, Festschrift für Konrad Redeker, S. 131 ff. (141). 20

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natürlich politisch denkbar und möglich. Daher gewinnt die zweite Frage nicht nur theoretisches Interesse, sondern auch praktische Relevanz, nämlich die Frage nach dem „Was dann?“. Sie wird vergleichsweise wenig gestellt. Der Staatsrechtslehre, engagiert und erprobt im Kampf um die Verfassungsfragen der Wiedervereinigung des deutschen Staates, sind die Verfassungsfragen seiner postgrundgesetzlichen Einbindung in eine neue Supranationalität nicht sonderlich anziehend. Indessen verspricht ein solcher Ausflug über die Grenze durchaus wertvollen Ertrag; die Sichtvermerke, die er in den Reisepapieren hinterlässt, helfen, den Druck der Gegenwart zu lindern und die Alternativen der Zukunft zu rationalisieren. Auch das Bundesverfassungsgericht hat auf die Lage jenseits des Grundgesetzes noch keinen Ausblick gewagt. Es konzentriert sich auf die intrakonstitutionell unverfügbare Identität des Grundgesetzes. In dem Bemühen allerdings, diese Schranke der Integration auch in ihrer Justiziabilität zu schärfen, lenkt der gerichtliche Schrankenwächter im Lissabon-Urteil den Blick dann auch auf den berufenen Schrankenwärter. Und diesen scheint das Gericht nicht innerhalb, sondern nur außerhalb des Grundgesetzes aufzufinden: So wie allein die verfassunggebende Gewalt über die Verfassung und deren Bindungen für die von ihr verfasste Gewalt bestimme, so sei auch nur sie berechtigt, über das Grundgesetz zu verfügen und über die Freigabe der Staatsgewalt zu entscheiden.22 Eine Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegten Verfassungsidentität bedeute daher, so das Gericht, zugleich einen Übergriff in die verfassunggebende Gewalt des Volkes.23 Das ist zunächst aus verfassungstheoretischer Warte evident, und insoweit könnte von einer allein ordnungstranszendierenden Argumentation gesprochen werden.24 Jedoch, dabei bleibt es nicht. Denn zur weiteren Bekräftigung seiner Feststellung kehrt das Gericht schließlich doch in den Begründungsrahmen des positiven Verfassungsrechts zurück: Es sei nämlich Art. 146 GG, der „aus Sicht des Demokratieprinzips“ das vorverfassungsrechtliche Recht des Volkes bestätige, „in freier Entscheidung“ über eine Ablösung des Grundgesetzes zu befinden.25 Damit aber ist das Theorem der „verfassunggebenden Gewalt“ von außen nach innen gerückt und als handfestes intrakonstitutionelles Argument inauguriert. Der Erkenntnisgewinn, den das Gericht daraus zieht, scheint allerdings zunächst schmal. Seine erste Schlussfolgerung aus der Heranziehung des Art. 146 GG lautet lediglich: Die Norm formuliere daher die „äußerste Grenze“ der Mitwirkung an der europäischen Integration.26 Zu dieser Einsicht aber war das Gericht „mit“ Art. 79 Abs. 3 GG auch schon gelangt. Weil jedoch beide Vorschriften nicht einfach, wenngleich aus unterschiedlicher Perspektive, die identische Grenze benennen, liegt die 22

BVerfGE 123, 267, 332. BVerfGE 123, 267, 344. 24 Dazu Stefan Haack, Ordnungstranszendierende Verfassungsdogmatik im Kontext der Staatlichkeitsfrage, in: Rechtstheorie 43 (2012), S. 325 ff. 25 BVerfGE 123, 267, 331 f. 26 BVerfGE 123, 267, 332. 23

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weiterreichende Erkenntnis notwendig darin: Art. 146 GG bestimmt nicht in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG die Grenze des Grundgesetzes, sondern sie formuliert „an der Grenze“ des Art. 79 Abs. 3 GG die Regelung für den „Ausgang“ aus dem Grundgesetz.27 Erst mit diesem Regelungsgehalt wird die Deutung überhaupt plausibel, dass Art. 146 GG allein eine verfassunggebende, also postgrundgesetzliche Gewalt des Volkes, berechtige, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben. Es geht hier also um deren Kompetenz, über den Ausgang aus dem Grundgesetz zu entscheiden, die geschützt wird. III. Die Suche nach einem demokratischen Grenzübergang So ist denn nun der Grenzgänger, so man ihn bis hierher begleitet hat, mit seiner Frage, „Was dann?“ – was dann, wenn die supranationale Integration den binnendemokratischen Solange-Vorbehalt des Art. 79 Abs. 3 GG zu überwinden trachtet? – an der Norm angelangt, die scheinbar Antworten verspricht. 1. Art. 146 GG als „Brückennorm“? Doch Art. 146 GG ist eine äußerst seltsame Bestimmung.28 Zweifelsfrei ist zunächst nur, dass das, was sie regelt, wie dargelegt, allenfalls den Ausgang, nicht aber den Eingang in eine neue Verfassungsordnung betrifft. Demnach enthält die Frage nach dem „Was dann?“ bei näherem Hinsehen zwei Unterfragen: Erstens, wie kann es „an der Grenze“ weitergehen? Diese Frage führt in das „Niemandsland“ zwischen die beiden Ordnungsräume. Und hernach zweitens: Wie kann es „hinter der Grenze“ aussehen? Mithin, wie kann man sich ein Verfassungsmodell der Demokratie unter der Bedingung erweiterter Supranationalität vorstellen? Auf diese Frage gibt Art. 146 GG jedenfalls keine direkte, allemal keine detaillierte Antwort. Aber auch als (Brücken-)Norm29 des Ausgangs mutet sie ungewöhnlich und fremdartig an. Üblicherweise enthalten Verfassungsordnungen keine solche Bestimmung. Üblicherweise sind es revolutionäre Ereignisse und Entwicklungen, die sich den Weg zu einer nachkonstitutionellen Ordnung bahnen. Vom Rechtsstandpunkt des ancien régime aus betrachtet, sind solche Revolutionen stets illegal – und d. h. auch dann, wenn sie schließlich erfolgreich sind und die alte Ordnung keine Unterstützung 27

So zu Recht auch Volker M. Haug, Über Partizipation zu einer postgrundgesetzlichen Verfassung, in: AöR 138 (2013), S. 435 ff. (444, 453). 28 Vgl. treffend Peter Lerche, Der Beitritt der DDR – Voraussetzungen, Realisierung, Wirkungen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, 1. Aufl., Bd. VIII, 1995, § 194 Rn. 61: „Ungetüm der Schlußbestimmung“. 29 Zum Bild der Brücke in diesem Kontext Martin Kriele, Art. 146 GG: Brücke zu einer neuen Verfassung, in: ZRP 1991, S. 1 ff. (3 ff.); Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009, S. 93; Haug (Anm. 27), AöR 138 (2013), S. 435 ff. (448). Das BVerfG spricht schon im KPD-Urteil von 1956 von einer „in die Zukunft gerichteten Überleitungsnorm“, BVerfGE 5, 85, 131.

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mehr findet. In dem Vermögen, den Rechtsbruch zu dokumentieren, liegt die letzte Wirksamkeit eines jeden Rechtssatzes.30 Einen solchen Selbststand behauptet auch die Sperre des Art. 79 Abs. 3 GG. Die Norm verbürgt das „axiomatische Geltungsverlangen“ der grundgesetzlichen Ordnung, das rechtsnormativ endgültige, nicht zu hintergehende und nicht mehr zu hinterfragende Gebotensein ihrer Kerngehalte.31 Sie kann zwar die reale Möglichkeit der Revolution nicht verhindern. Aber sie lässt sich dadurch auch nicht irritieren. a) Fortdauernde Gültigkeit Irritation muss hingegen verursachen, dass dieses als endgültig Gedachte zugleich in Art. 146 GG auf das Eingeständnis seiner Ersetzbarkeit treffen soll. Ist nicht eine Verfassung, die zwar keine Revolution, aber einen rechtsevolutionären Weg ihrer Ablösung „regelt“, im Begriffe, ihre eigene Richtigkeit zu dementieren und den Anspruch zu verleugnen, die einzig legitime Ordnungsgrundlage zu sein? Muss das nicht für ein rechtliches Unding gehalten werden? Mithin: Kann also Art. 146 GG überhaupt als eine Bestimmung begriffen werden, die einen Ausgang in eine postgrundgesetzliche Ordnung weist? Die Fragen sind nicht neu. Sie beschäftigten die Staatsrechtslehre vor allem im Kontext der Bewirkung der deutschen Wiedervereinigung. Ein Großteil der wissenschaftlichen Beiträge und Stellungnahmen zu Art. 146 GG stammt aus dieser Zeit. Hier sind es im Wesentlichen zwei Positionen, die der Norm jede normative Bedeutung absprechen:32 Eine erste Auffassung zieht aus der geschilderten Irritation sogleich den Schluss, also handele es sich bei Art. 146 GG – wegen Verstoßes gegen Art. 79 Abs. 3 GG – um „verfassungswidriges Verfassungsrecht“.33 Das freilich mutet zirkulär an. Denn die These behauptet nichts anderes als das, was im Kern gerade in Frage steht: dass 30

Ebenso Haack (Anm. 24), Rechtstheorie 43 (2012), S. 325 ff. (343 f.). Formulierung in Anlehnung an Haack (Anm. 24), Rechtstheorie 43 (2012), S. 325 ff. (342). 32 Zu den „Positionen im literarischen Dissens“ im Überblick und mit Nachweisen Josef Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. XII, 2014, § 258 Rn. 57 ff. 33 So etwa Richard Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt in Deutschland, in: DVBl. 1990, S. 1285 ff. (1300 f.); Bernhard Kempen, Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung, in: NJW 1991, S. 964 ff. (966 f.); Gerd Roellecke, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, in: NJW 1991, S. 2441 ff. (2444); Christian Hillgruber, in: Volker Epping/ders. (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2013, Art. 146 Rn. 8.1 m.w.N. Die Ansicht geht notwendig davon aus, dass der Art. 146 GG im Zuge des 1990 eingefügten Relativsatzes (Gesetz v. 23. 9. 1990, BGBl. II S. 885) zur Gänze neu und originär in Geltung gesetzt worden sei (Novationsthese), und impliziert damit auch den Vorhalt, die verfassungsändernden Organe von Bundestag und Bundesrat hätten mit der damaligen Neufassung ultra vires gehandelt (dazu aber noch unten bei und mit Anm. 35 ff.). Hingegen verfängt die Auffassung von vornherein nicht, wenn sich die (Fort-)Geltung des Art. 146 GG der ursprünglichen Verfassunggebung des Grundgesetzes von 1949 verdankt (Perpetuierungsthese), weil die Norm dann nicht der gleichzeitig in Kraft getretenen Vorschrift des Art. 79 GG unterliegen kann. 31

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zwischen den beiden Normen ein Widerspruch besteht und dass darin dem Art. 79 Abs. 3 GG der Vorrang zukommt. Eine andere, verbreitete Position hält den Art. 146 GG für „verbraucht“, funktionslos und überflüssig, nachdem die Wiedervereinigung nicht im Wege einer neuen Verfassunggebung, sondern durch den Beitritt nach Art. 23 GG a. F. bewirkt worden war. Daran ändere letztlich auch die 1990 erfolgte Einschreibung des Relativsatzes nichts. Dabei handele es sich lediglich um einen, in der politischen Auseinandersetzung gefundenen „dilatorischen Formelkompromiss“, der nicht dazu veranlasse, der Norm, nur weil sie formal gelte, einen Inhalt zu geben, den sie nicht habe.34 Diese (Konsumtions-)These unterstellt zunächst ein wechselseitiges Ausschlussverhältnis von Art. 146 GG a. F. und Art. 23 GG a. F. und damit einen identischen Regelungsgegenstand beider Normen. Eine solche normative Redundanz kann aber schon an sich, im Übrigen auch nach dem (anderen) Wortlaut und der systematischen Stellung des Art. 146 GG nicht recht überzeugen. Auch in historischer Betrachtung hatte die Option der Verfassungsablösung in „freier Entscheidung“ die Wiedervereinigung zwar vornehmlich und als notwendige, nicht aber ausschließlich und als alleinige Bedingung im Auge. Anders gewendet: Die Verfassungsfrage des Art. 146 GG a. F. umschloss zwar, aber erschöpfte sich nicht in der Wiedervereinigungsfrage.35 Spätestens seit der Ergänzung des Art. 146 GG im Jahre 1990 kann daran kein ernsthafter Zweifel mehr bestehen. Denn der Wiedervereinigungsvorbehalt, den die Norm enthalten hatte, hatte sich zwar rechtstatsächlich erledigt. Doch mit der Einschreibung des Relativsatzes (dass das Grundgesetz „nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt“) hat der verfassungsändernde Gesetzgeber gerade diese Erledigung in den Normtext aufgenommen.36 Dass er damit dem gesamten Art. 146 GG einen neuen Geltungsbefehl erteilt,

34 Dezidiert in diesem Sinne Josef Isensee, Braucht Deutschland eine neue Verfassung?, 1992; ders. (Anm. 32), HStR, 3. Aufl., Bd. XII, 2014, § 258 Rn. 14 ff., 30 ff., 50 f., 52 ff., 72 ff. 35 In diesem Sinne nachdrücklich Dreier (Anm. 29), S. 87; ders., in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 146 Rn. 31 m.w.N. Auch im Parlamentarischen Rat herrschte die Auffassung vor, dass der Beitritt aller anderen deutschen Länder Art. 146 GG nicht überflüssig machen würde; vgl. die Ausführungen des Abgeordneten Carlo Schmid als Berichterstatter in: Der Parlamentarische Rat, Bd. IX, S. 438, S. 443 f. Zumal unter Hinweis auf die Vorgaben und andauernden Vorbehalte der Besatzungsmächte im Jahre 1949 auch Ewald Wiederin, Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland – Versuch einer dogmatischen Zwischenbilanz zu Art. 146 GG n. F., in: AöR 117 (1992), S. 410 ff. (421 ff., 438); ferner Axel v. Campenhausen/Peter Unruh, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), GG, Bd. III, 6. Aufl. 2010, Art. 146 Rn. 4, 11 ff.; Haug (Anm. 27), AöR 138 (2013), S. 435 ff. (443 f.). Dem steht die Annahme nicht entgegen, dass trotz des 1949 noch unvollständigen Anwendungsgebiets des Grundgesetzes und der gegenüber den Besatzungsmächten noch eingeschränkten Hoheitsrechte der deutschen Staatsgewalt das Grundgesetz durchaus von Anfang an den Charakter einer Vollverfassung behauptete (so der Abgeordnete Adolf Süsterhenn, in: Der Parlamentarische Rat, Bd. V/2, S. 807). 36 In Hinsicht auf die territorialen Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands flankiert durch die völkerrechtlichen Festlegungen, wie namentlich durch den (Zwei-plus-Vier-)Vertrag

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mithin eine echte Neuregelung geschaffen habe, lässt sich schwerlich annehmen.37 Die Ergänzung ließ die ursprüngliche Perspektive einer Verfassungsablösung aus anderen Gründen vielmehr unberührt und hat diese damit fortschreibend bewahrt.38 Von einer derartigen, formalen wie inhaltlichen Fortgeltung (Perpetuierung, Kontinuität) des Art. 146 GG geht denn offenkundig auch das Bundesverfassungsgericht aus. Und für sie spricht durchaus Weiteres: Der Adressat des Art. 146 GG ist nicht eine beliebige, sich erst herausbildende und frei (revolutionär) sich entfaltende Volksgewalt. Das wäre in der Tat ein rechtslogisches Unding. Ein sich neu verfassendes, dabei neu definierendes und legitimierendes Volk wäre gar kein rechtlich ansprechbares Subjekt, das zum Träger von rechtlichen Kompetenzen gemacht werden könnte. Regelungsgegenstand des Art. 146 GG ist vielmehr das „deutsche Volk“ und dessen Vermögen, „in freier Entscheidung“ über eine neue Verfassung zu befinden. Damit knüpft die Vorschrift aber an Umstände an, die einen bestimmten, schon verfassten Zustand benennen und voraussetzen. Ihr Bezugspunkt ist also nicht ein anderes, gleichsam neues Volk, das mit dem der verfassten Bundesrepublik Deutschland nicht identisch zu sein braucht und verfassungstheoretisch nicht identisch über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. 9. 1990 (BGBl. II S. 1318) und den deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. 11. 1990 (BGBl. 1991 II S. 1329). 37 Dass nicht der Relativsatz allein, sondern der ganze Artikel 146 GG im Zuge der „beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes“ (Art. 4 Nr. 6 des Einigungsvertrages, Gesetz vom 23. 9. 1990, BGBl. II S. 885) neu beschlossen wurde, steht der Annahme der perpetuierten Geltung des Art. 146 GG nicht entgegen. Der Umstand verdankt sich lediglich dem Anliegen um eine angemessene Regelungsästhetik im Einigungsvertrag. In der Sache beschränkt sich die Neufassung auf die Aussage des Relativsatzes zu dem Zweck, die Verwirklichung der deutschen Einheit unter Fortbestand des Grundgesetzes zu „dokumentieren“ (vgl. die Denkschrift zum Einigungsvertrag, BT-Drucks. 11/7760, S. 355 ff., abgedruckt bei Klaus Stern/ Bruno Schmidt-Bleibtreu [Hrsg.], Einigungsvertrag und Wahlvertrag, 1990, S. 119 ff., 129). Dadurch erfährt der Norminhalt des Art. 146 GG keine substanzielle Neuerung, die die Norm in ihrer alten Fassung in toto ersetzte und also – vergleichbar der beitrittsbedingten Novellierung des Art. 23 GG – nur die alte „Hausnummer“ behielte. Demnach stehen dieser Änderung und gegen die dahingehende Kompetenz des verfassungsändernden Gesetzgebers auch keinerlei Einwände aus Art. 79 Abs. 3 GG entgegen. Schließlich kann auch die von den Alliierten eingeforderte Verpflichtung (vgl. Art. 1 Abs. 4 S. 2 Zwei-plus-Vier-Vertrag), die Verfassung des vereinten Deutschlands von Bestimmungen freizuhalten, die als Vorbehalt zukünftiger Gebietserweiterungen gedeutet werden könnten, nicht zur Folge haben, statt von einer (veränderten) Fortgeltung von einer (vollständigen) Neuschaffung des Art. 146 GG auszugehen. Ein solcher Vorhalt (der Völkerrechtswidrigkeit) würde sich, mag er auch keinerlei Grund für sich haben, gleichermaßen gegen einen fort- wie einen neu geltenden Art. 146 GG richten können. A. A. Isensee (Anm. 32), HStR, 3. Aufl., Bd. XII, 2014, § 258 Rn. 52, 63 f., 72. 38 So auch Dreier (Anm. 29), S. 85 ff. m.w.N.; ders. (Anm. 35), in: ders., GG, Art. 146 Rn. 31 f., 37 ff.; Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 146 Rn. 19 ff., 23 f.; Peter M. Huber, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Art. 146 Rn. 9 ff.; Axel v. Campenhausen/Peter Unruh, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), GG, Bd. III, 6. Aufl. 2010, Art. 146 Rn. 11 ff., 15; Michael Sachs, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland, in: JuS 1991, S. 985 ff. (989); Wiederin (Anm. 35), AöR 117 (1992), S. 410 ff. (433 ff., 436 f.); Brigitta Stückrath, Art. 146: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 79 ff.; Haug (Anm. 27), AöR 138 (2013), S. 435 ff. (444).

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sein könnte.39 Nur deshalb und nur unter dieser Bedingung kann das unmittelbare (deutsche) Volk zu einem ordnungsimmanenten, verfassungsgesetzlichen Argument erwachsen. b) Verfassungserneuernde Gewalt als Adressat Was der Grenzgänger bis hierher also feststellen kann, ist dies: Erstens: Art. 146 GG ist keine obsolete, sondern eine gültige Norm. Und zweitens: Es geht darin nicht um die verfassunggebende Gewalt im engeren Sinne jenes wildwüchsigen pouvoir constituant, der im Ursprung über den Anfang und am Ende über die Ablösung einer Verfassungsordnung als Ganzes verfügt. Sondern Regelungsadressat des Art. 146 GG ist die vom Grundgesetz als deutsches Volk verfasste Gewalt. Die Verfassungsentscheidung in freier Selbstbestimmung, zu der Art. 146 GG den Weg ebnet, verortet sich demnach nicht außerhalb, sondern „in einer Legalitätskontinuität zur Herrschaftsordnung des Grundgesetzes“.40 Dem wird freilich die schlichte Rede von der verfassunggebenden Gewalt an dieser Stelle nicht gerecht; sie überdeckt diese Differenz.41 Und doch ist der Unterschied in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hie und da gegenwärtig. So spricht das Gericht im Lissabon-Urteil fast selbstverständlich davon, dass Art. 146 ebenso „wie Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG“ – also wie jene Vorschrift, die innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung die demokratische Wahl des Deutschen Bundestages betrifft – ein Teilhaberecht des „wahlberechtigten Bürgers“ schaffe.42 39

Deutlich herausgestellt von Haack (Anm. 24), Rechtstheorie 43 (2012), S. 325 ff. (349 f.). 40 BVerfGE 123, 267, 343. Dreier (Anm. 29), S. 93, fügt den Aspekt hinzu, dass der Art. 146 GG eine juristische Revolution (zwar nicht verhindern kann, aber) überflüssig machen will: „Er will gerade vermeiden, dass sich die verfassunggebende Gewalt des Volkes nur im Umsturz gegenüber der vorhergehenden Ordnung artikulieren kann“. 41 Auch im Schrifttum ist in diesem Zusammenhang verbreitet vom „pouvoir constituant“ die Rede. Das vernachlässigt – in der Assoziation der Unterscheidung zum „pouvoir constitué“ nach der Lehre des Emmanuel Joseph Abbé Sieyès, Qu’est-ce que le tiers état? (1788), dt.: Was ist der dritte Stand?, in: ders., Politische Schriften 1788 – 1790, hrsg. v. Eberhard Schmitt/ Rolf Reichardt, 2. Aufl. 1981, 5. Kapitel – den feinsinnigen Unterschied, der zum (verfassungsändernden) Tätigwerden einer (partiell) verfassungserneuernden oder verfassungsrevisionären Gewalt in der Legalitätskontinuität der vorangehenden Herrschaftsordnung besteht. – In diese Richtung scheinen zunächst auch Überlegungen von Lothar Michael, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar (BK) zum Grundgesetz (Zweitbearbeitung 2013), Art. 146 Rn. 444 ff., 456 ff., zu weisen; diese gründen jedoch auf Theorieableitungen aus der überverfassungsrechtlichen Idee der Volkssouveränität und münden schließlich in den metarechtlichen Entwurf eines „trichotomischen Modells“ der Verfassungsrechtssetzung, das neben verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt in Art. 146 GG die selbständige Kategorie einer (sich selbst genügenden, weil nur durch Art. 146 GG formal legalisierten, im Übrigen aber verfassungsrechtlich gänzlich ungebundenen) verfassungsablösenden Gewalt des Volkes als „plebiszitäres Gegengewicht“ der parlamentarischen Demokratie erblickt (vgl. ebd., Rn. 411 ff., 542 ff., 585 ff.; dazu unten bei Anm. 50 ff.). 42 Demnach lässt sich freilich auch vermerken, dass die Ausführungen des BVerfG im Lissabon-Urteil nicht durchgängig auf eine konsistente dogmatische Linie gebracht werden

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2. Verfassungsbindungen in der Legalitätskontinuität des Grundgesetzes Die Lesart lässt allerdings noch offen – und ist vom Bundesverfassungsgericht auch ausdrücklich offen gelassen worden43 –, in welcher Weise sich diese Legalitätskontinuität auf den Inhalt des Art. 146 GG, mithin auf die Kompetenz der dort adressierten Volksgewalt auswirkt. a) Vorrang des Art. 79 Abs. 3 GG? Hierzu besteht nun die wirkmächtige These, die Schlussbestimmung des Grundgesetzes eröffne allenfalls das Verfahren zu einer Totalrevision des Grundgesetztextes, also der Urkunde des Verfassungsgesetzes. Auch eine solche Totalrevision bleibe aber an die unumstößliche Verfassungsidentität, wie sie durch Art. 79 Abs. 3 GG gesichert werde, gebunden.44 Das scheint zwar zunächst einzuleuchten, wenn man – wie soeben – auf der Basis der Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz45 den Art. 146 GG nicht der originären verfassunggebenden Gewalt zuordnet, sondern intrakonstitutionell verortet. Dann erlaubte die Norm wohl eine vollständige Neuformulierung des Verfassungstextes, nicht aber den Weg zu einer (partiellen) Neuschöpfung der Verfassung. Der identitätsbildende Inhalt des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3) bliebe ebenso wie dessen Geltungsgrundlage auch für den Volksentscheid nach Art. 146 GG unverfügbar. Dennoch, der juridische Grenzgänger muss hier stutzen: Wird hier nicht unterstellt, was noch zu begründen wäre: nämlich die Höherrangigkeit des Art. 79 Abs. 3 GG?46 War nicht Art. 79 Abs. 3 GG zuvor als die Grenze zu erkennen, die können; pointierte Kritik: Isensee (Anm. 32), HStR, 3. Aufl., Bd. XII, 2014, § 258 Rn. 103 ff.; auch Herdegen (Anm. 38), in: Maunz/Dürig, GG, Art. 146 Rn. 60 m.w.N. 43 BVerfGE 123, 267, 343. 44 Vgl. etwa Isensee (Anm. 32), HStR, 3. Aufl., Bd. XII, 2014, § 258 Rn. 72 m.w.N., 81 ff.; Herdegen (Anm. 38), in: Maunz/Dürig, GG, Art. 146 Rn. 47 ff. (siehe aber auch Rn. 56 ff.); Haack (Anm. 24), Rechtstheorie 43 (2012), S. 325 ff. (350 f.); vgl. auch noch BVerfGE 89, 155, 180. 45 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 11 ff., 20 ff. 46 Der Einwand trifft freilich nur diejenigen, die (wie hier) annehmen, Art. 146 GG stehe – unbeschadet seiner Ergänzung im Jahre 1990 – seit dem Erlass des Grundgesetzes 1949 in Geltung (dazu oben bei Anm. 35 ff.). Unter der Annahme hingegen, Art. 146 GG sei infolge der Erledigung seiner alten Fassung durch die Wiedervereinigung 1990 neu in Kraft gesetzt worden, scheint die Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG zwar an sich stimmig. Doch ergeben sich dann im Weiteren Unstimmigkeiten, die den Anforderungen einer methodengerechten Verfassungsauslegung zuwiderlaufen. Denn dann regelte der Art. 146 GG entweder nichts, was nicht auch im Wege der regulären Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 1 und 2 GG möglich wäre, wiese also einen gedoppelten oder redundanten Inhalt auf (vgl. ebenso Huber [Anm. 38], in: Sachs, GG, Art. 146 Rn. 11; auch Hillgruber [Anm. 33], in: Epping/ders., GG, Art. 146 Rn. 8.2). Oder Art. 146 GG wäre als eine Vorschrift zu deuten, die den Fall einer Totalrevision des Grundgesetztextes als lex specialis zu Art. 79 Abs. 3 GG regelte. Die Zu-

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einen Übergriff der verfassungsändernden Gewalt in die durch Art. 146 GG geschützte Kompetenz hindert,47 mit anderen Worten: die gegen einen Zugriff des mittelbaren, durch seine Vertretungsorgane agierenden Volkes auf die Entscheidungszuständigkeit des unmittelbaren, direkt auftretenden Volkes steht? Wenn man das – mit dem Bundesverfassungsgericht – bejaht, dann kann schwerlich jener Art. 79 Abs. 3 GG zugleich wiederum als (unüberwindbare) Grenze dieser Volkskompetenz aus Art. 146 GG aufscheinen. Dafür fehlte es an juristischer Plausibilität.48 b) Vorrang des Art. 146 GG? Fehl ginge indes, wer daraus sogleich den Schluss zöge, also beanspruche umgekehrt Art. 146 GG den prinzipiellen Vorrang vor der Stabilitätsnorm des Art. 79 Abs. 3 GG und verdränge diese.49 Solcher Umkehrschluss ist verwehrt. Zum Vorrang des Art. 146 GG führt kein gangbarer Weg. Zwar bemüht sich eine jüngere „Neuinterpretation“, einen solchen Weg gleichwohl freizuschaufeln. Doch die dazu unterbreitete Argumentation sprengt alle Grenzen, die der Begründungsrahmen des positiven Rechts zieht. Als maßgebenden Faktor führt sie das außer- oder überverfassungsrechtliche (Meta-)Prinzip der Volkssouveränität heran, das sich einer „Herrschaft der Toten über die Lebenden“ widersetze und „ein jederzeitiges, inhaltlich unbeschränktes, dem Mehrheitsprinzip (50 % plus 1) gehorchendes Recht auf Verfassungsrevision“ beherberge. Es sei diese schon „ungeschriebene Entgrenzung“ des Verfassungsrevisionsrechts, die von der geschriebenen Norm des Art. 146 GG lediglich nach Art einer „Modellnorm“ aufgenommen sei.50 Mit dieser Operation aber fallen alle Unterscheidungen zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz, zwischen verfassunggebender (pouvoir constituant) und verfasster Gewalt (pouvoir constitué), zwischen Verfassungsänderung und Verfassungs(neu)gebung. Verfassungstheoretische Reflexion mutiert zu unmittelbar verfassungsrechtlicher Relevanz mit der Folge, dass die Geltung des Grundgesetzes und seine durch Art. 79 GG (verfahrensschreibung weitergehender Norminhalte wäre gar nicht denkbar, ohne nicht zugleich einen ultra vires-Akt des verfassungsändernden Gesetzgebers von 1990 anzunehmen. Doch für keine der beiden Normdeutungen lassen sich irgendwelche hinreichenden Anhaltspunkte finden, weder im Wortlaut des Art. 146 GG noch in den zugrundeliegenden Gesetzesmaterialien. 47 Siehe oben bei Anm. 27. 48 Ebenso eine Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG im Kontext des Art. 146 GG ablehnend: Lerche (Anm. 16), in: Bender/Breuer/Ossenbühl, Festschrift für Konrad Redeker, S. 131 ff. (146); ders. (Anm. 28), in: HStR, 1. Aufl., Bd. VIII, 1995, § 194 Rn. 66; Dreier (Anm. 35), in: ders., GG, Bd. III, Art. 146 Rn. 33, 50; Huber (Anm. 38), in: Sachs, GG, Art. 146 Rn. 10 ff.; v. Campenhausen/Unruh (Anm. 38), in: v. Mangoldt Klein/Starck, GG, Art. 146 Rn. 17 ff.; Stückrath (Anm. 38), S. 108 ff., 240 ff., und passim; Haug (Anm. 27), AöR 138 (2013), S. 435 ff. (444 f.). 49 So aber im Ergebnis regelmäßig die Vertreter jener Auffassung, die eine Bindung (der Wahrnehmung) des Art. 146 GG an Art. 79 Abs. 3 GG per se ablehnen (Nachweise Anm. 48). 50 Vgl. Michael (Anm. 41), in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 146 Rn. 260, 364 ff. – Zitate, 411 ff., passim.

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und materiellrechtlich) geschützte Identität jederzeit und ganz und gar unter dem Vorbehalt der rechtlich ungebundenen Emanation der Volksgewalt stehen soll.51 Doch der Versuch, dem Art. 146 GG auf diese Weise eine Legalisierung der revolutionären Ablösung des Grundgesetzes zuzuschreiben, muss scheitern: am eigenständigen Geltungswillen des Grundgesetzes gegenüber Modellschöpfungen überschwänglicher Verfassungstheorie ebenso wie am realen Unwillen jeder offenen Revolution, sich in ihrem Bestreben von den letzten Resten alter Legalität einbinden zu lassen.52 Die Volkssouveränität, die Art. 146 GG in der Möglichkeit einer „freien Entscheidung“ des „deutschen Volkes“ über eine neue Verfassung in Bezug nimmt, ist keine extrakonstitutionelle, verfassunggebende, sondern ist und bleibt denknotwendig intrakonstitutionelle, verfassungsgegebene Gewalt. Die Schlussbestimmung des Grundgesetzes erschüttert daher auch nicht die kategorische Dichotomie zwischen nichtverfasster und verfasster Volksgewalt.53 Doch ob die „Trennlinie“ zwischen beiden „Gewalten“ „genau“ zwischen Art. 146 GG und Art. 79 Abs. 3 GG verläuft:54 das genau ist die Frage, die demnach weiterhin und unausweichlich aufgegeben bleibt. c) Komplementärität von Art. 146 GG und Art. 79 Abs. 3 GG Die Antwort führt notwendig zwischen die beiden beharrlich-gegensätzlichen Positionen, die den aktuellen Diskussionsstand zum Verhältnis zwischen Art. 146 und Art. 79 Abs. 3 GG in der Staatsrechtslehre kennzeichnen. Wenn nach alldem, was die vorstehenden Grenzbetrachtungen erwiesen haben, in diesem Verhältnis aber weder Art. 146 GG noch Art. 79 Abs. 3 GG der absolute Vorrang vor der jeweils anderen Norm zukommt, dann gibt das Grundgesetz dem Verfassungsinterpreten unter der Auslegungsmaxime der Einheit der Verfassung55 offenbar die Erwägung auf, dieses Verhältnis nach Art und Maßgabe eines komplementären Verhältnisses zu deuten und zu entfalten. So wie danach Art. 79 Abs. 3 GG im Kontext des Art. 146 GG keine unüberwindliche Schranke setzte, so ermächtigte Art. 146 GG auch nicht zu einer absoluten Überwindung des Art. 79 Abs. 3 GG. Es ist nicht die eine oder die andere, sondern es sind beide Normen, die in dieser Sicht im Zusammenwirken den Rahmen konstituieren, in den das Grundgesetz eine Verfassungsrevision jenseits seiner bisherigen Identitätsgrundsätze, aber in seiner Legalitätskontinuität bindet. 51 Vgl. Michael (Anm. 41), in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 146 Rn. 478 ff., 542 ff.: „plebiszitäres Gegengewicht“; 585 ff. 52 Ebenso berechtigte wie deutliche Kritik von Isensee (Anm. 32), HStR, 3. Aufl., Bd. XII, 2014, § 258 Rn. 68 ff. 53 A. A. Michael (Anm. 41), in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 146 a. a. O. 54 So Huber (Anm. 38), in: Sachs, GG, Art. 146 Rn. 11. 55 Dazu Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl., 1999, § 2 Rn. 71 f.; Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. XII, 2014, § 268 Rn. 53.

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Folgt man dem, dann sperrt sich das Grundgesetz also mitnichten vollkommen ausweglos gegen den Übergang in eine neue Entwicklungsstufe der europäisch integrierten Verfassungsordnung. Aber ebenso wenig öffnet es einen grenzenlosen Ausgang, der es einer unmittelbaren Volksgewalt erlaubte, die Identität der grundgesetzlichen Ordnung auf diesem Weg völlig preis- und den durch sie verfassten Staat völlig freizugeben. Vielmehr öffnet Art. 146 GG diesem Verständnis zufolge die Möglichkeit, die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungskerngehalte nach Art einer „europafreundlichen Auslegung“ in eine konkret-praktische Konkordanz mit dem Verfassungsstaatsziel der europäischen Integration in Art. 23 Abs. 1 GG zu bringen. Was dem Volk in dieser Kontinuität hingegen entzogen bleibt, das ist eine Abstimmung über die Geltung des Grundgesetzes überhaupt. Denn Art. 146 GG aktiviert nach dieser Lesart nicht die originäre verfassunggebende Gewalt des Volkes, sondern adressiert das deutsche Volk als durch und nach Maßgabe des Grundgesetzes verfasste Gewalt in ihrer durch besondere Verfahrensregeln spezifisch qualifizierten und geschützten Kompetenz zu einer das Grundgesetz punktuell variierenden Verfassungserneuerung. In verfahrensrechtlicher Hinsicht fordert Art. 146 GG für diesen Weg einen zustimmenden Volksentscheid.56 Doch liegt darin nicht, wie im Fall der Art. 29 und 118 GG, eine weitere Ausnahme von der Regel, dass Plebiszite auf Bundesebene unzulässig sind. Solche Deutung ist nach dem Gesagten verwehrt. Art. 146 GG delegitimiert nicht die zur Verfassungsänderung regulär berufenen Repräsentativorgane, weil die Vorschrift das Verfahren nach Art. 79 Abs. 1 und 2 GG nicht ersetzt. Art. 146 GG stellt zu diesem keine Spezialregelung dar, sondern tritt zu diesem ergänzend hinzu.57 Sein Gebot einer Volksabstimmung errichtet mithin eine zusätzliche Verfahrenshürde, ein Erschwernis der Verfassungsänderung, das seine Begründung eben in dem Vorhaben findet, die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG behutsam zu überschreiten. Gegenstand der Abstimmung kann mithin nur ein Gesetz sein, das nach Art. 79 Abs. 2 GG beschlossen ist. Mit anderen Worten: Das Initiativrecht liegt beim regulären Verfassungsgesetzgeber; bei dem Volksentscheid nach Art. 146 GG handelt es sich um ein Referendum i. e.S. IV. Ausblick: Die Frage nach dem grenzüberschreitenden Kontinuum der Demokratie Die Überlegungen wollen hier abbrechen. Sie hätten sich nun den Fragen des Vollzugs einer solchen Volksabstimmung zuzuwenden. Etwa: Bedarf es im Rahmen der Anwendung des Art. 146 GG eigener Volksabstimmungen darüber, ob die vorgeschlagene Verfassungsrevision überhaupt eingeleitet werden soll, welche Mehrheits56 Dabei wären folgerichtig nur Deutsche i. S. d. Art. 116 GG stimmberechtigt; ein Ausländerstimmrecht wäre nicht zulässig; ebenso statt vieler Huber (Anm. 38), in: Sachs, GG, Art. 146 Rn. 22; allgemein BVerfGE 83, 87 ff. 57 Ebenso i. E. Huber (Anm. 38), in: Sachs, GG, Art. 146 Rn. 16; Wiederin (Anm. 35), AöR 117 (1992), S. 410 ff. (438 f.).

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regel dabei gelten soll, ob die Wahl einer Repräsentativversammlung vorgesehen werden soll u. a.m.? Anders gewendet: Wieweit reicht die Befugnis des Gesetzgebers nach Art. 79 Abs. 2 GG oder auch nur des einfachen Gesetzgebers, die Durchführungsbedingungen des Volksentscheids „unter“ Art. 146 GG zu regeln? Statt in dieser Richtung den Grenzgang fortzusetzen, sei vielmehr noch ein kurzer Ausblick darauf geworfen, was vorhin als zweite Unterfrage angeführt worden war: Wie kann man sich die Lage „hinter der Grenze“, mithin wie ein Verfassungsmodell einer Demokratie unter der Bedingung erweiterter Supranationalität vorstellen? Denn eben darum geht es, wenn – in der Folge des Gesagten – die unmittelbare Volksgewalt nach der „Überleitungsnorm“58 des Art. 146 GG zur Entscheidung darüber berufen wird, den demokratischen Vorbehalt des Art. 79 Abs. 3 GG und das europäische Staatziel des Art. 23 GG in ein neues Verhältnis zu bringen. Das Feld der Möglichkeiten, das es hier auszumessen gilt, liegt zwischen der Unmöglichkeit einer staatsanalogen Demokratie in der Europäischen Union einerseits und der Unwahrscheinlichkeit einer staatsgleichen Demokratie in einem europäischen Bundesstaat andererseits. In diesem Zwischenfeld geht es darum, wie die Anforderungen der staatlichen, volkssouveränen (monistischen) Demokratie und die Bedingungen einer unionalen, nicht-volkssouveränen (gemischten) Demokratie in ein stimmiges Konzept gefügt werden können, das in der Legalitätskontinuität von beidem, des Grundgesetzes und des europäischen Vertragswerks, Demokratie in der supranationalen Konstellation konstituiert. Das bedeutete in der Tat nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Suche nach einer neuen Entwicklungsstufe der Demokratie. Sie wird mit Notwendigkeit die Frage zu konfrontieren haben, was denn die Identität der Demokratie über die Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG hinweg ausmacht, und in der Folge dessen wird sie letzten Endes der Frage nicht ausweichen können, ob nicht das Konzept der Demokratie in seiner Fixierung auf die Souveränität des als kollektive Entität begriffenen Volkes gelöst und ihr übergreifender Identitätsgehalt statt dessen in der freien und gleichen Teilhabe der Bürger an der in Deutschland ausgeübten Hoheitsgewalt aufgefunden werden muss.59 60

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BVerfGE 5, 85, 131; oben Anm. 29. Vgl. BVerfGE 123, 267, 341: „Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips“. 60 Die hier vorgetragenen Überlegungen werden in meiner Abhandlung „Vom Staat der Demokratie“ (Verlag Ferdinand Schöningh, 2015) vertieft auseinandergesetzt und fortgeführt. 59

Die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft Zur Unhintergehbarkeit des gesetzgeberischen Willens der Staaten bei Auslegung und Anwendung des Rechts der Europäischen Integration Von Sebastian Müller-Franken I. Friedrich Bohl – ein „Tat- und Zeitzeuge für den Kampf um den Euro“ Als Friedrich Bohl im Herbst des Jahres 2002 als Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Marburg-Biedenkopf in einem Festakt in der Marburger Stadthalle verabschiedet wurde, war der ehemalige CDU-Bundesvorsitzende und Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl unter den Gästen. In seiner Laudatio auf den scheidenden Kreisvorsitzenden würdigte der Kanzler die Verdienste seines Weggefährten und schilderte diesen als einen Menschen, der „Grundsatzpositionen mit Leidenschaft“ vertreten könne.1 Eine besondere Erwähnung fand sein Wirken im Amt des Kanzleramtsministers der Jahre 1992 bis 1998 bei der Durchsetzung eines politischen Vorhabens, das zusammen mit der Herstellung der Deutschen Einheit die zweite Regierungszeit der CDU prägen sollte: Friedrich Bohl sei ein „Tat- und Zeitzeuge für den Kampf um den Euro“.2 Bei der Einführung der Währungsunion, wie schon bei der Wiedervereinigung, ging es um politische Ziele, bei denen die damals Verantwortlichen ihre Grundsatzpositionen verfochten haben. Es lohnt, sich diese Positionen zu vergegenwärtigen, wenn die gegenwärtige Euro-Politik und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hierzu auf ihre Übereinstimmung mit den rechtlichen Grundlagen im Unions- wie im Verfassungsrecht zu würdigen sind. II. Die Schuldenkrise im Eurowährungsgebiet 1. Die Weichenstellung: bilateral gewährte Finanzhilfen an Griechenland Als Griechenland zu Beginn des Jahres 2010 nicht mehr in der Lage war, seine Staatsschulden am Kapitalmarkt zu Bedingungen zu refinanzieren, die das Land tra1 2

Hinterländer Anzeiger Nr. 270 B v. 5. 10. 2002, S. 21. Oberhessische Presse Nr. 231 v. 5. 10. 2002, S. 8.

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gen konnte, trat es an die Mitgliedstaaten der Währungsunion mit dem Ersuchen um finanziellen Beistand heran. Der Fall, von dem die Konstrukteure der Währungsunion seinerzeit geglaubt hatten, ihn durch die Regeln des Vertrags über die Europäische Union von Maastricht3 und deren Ergänzungen im „Stabilitäts- und Wachstumspakt“4 ausgeschlossen zu haben, war eingetreten: Das Defizit eines Mitgliedstaats der Währungsunion war außer Kontrolle geraten – der Mitgliedstaat stand vor seinem Bankrott. Die Idee der Wirtschafts- und Währungsunion, durch die Schaffung einer rechtlich auf das Prinzip der Haushaltsdisziplin festgelegten gemeinsamen Währung deren Mitglieder dauerhaft zu Wachstum und Wohlstand zu führen,5 war damit gescheitert. Der Ausgangspunkt der damals von den Staats- und Regierungschefs zu treffenden Entscheidung war klar. Die Staaten des Eurowährungsgebiets waren nicht verpflichtet, in einem solchen Fall einander Beistand zu leisten. Das Unionsrecht hatte in seiner „No-Bail-Out-Klausel“ ausdrücklich bestimmt, dass „ein Mitgliedstaat … für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats“ nicht haftet (Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV). Die von Griechenland um Hilfe ersuchten Staaten haben sich auf diese Regel jedoch nicht berufen, sondern haben auf freiwilliger Basis durch bilaterale, an Auflagen geknüpfte Kredite dessen drohende Zahlungsunfähigkeit für die akute Lage abgewendet. Ob solche freiwilligen Zahlungen mit der Nicht-Beistandsklausel in Einklang gestanden hatten, war damals und ist bis heute im Schrifttum zwar umstritten; inzwischen haben jedoch sowohl das Bundesverfassungsgericht6 als auch der Europäische Gerichtshof7 die Kredite der Eurostaaten an Griechenland rechtlich unbeanstandet gelassen, sodass die Rechtsentwicklung über die Frage hinweggegangen ist. 2. Weiterungen: Programme für „Rettungsschirme“ und Käufe von Staatsanleihen Für die im Anschluss an die erste Griechenlandhilfe getroffenen Maßnahmen zur Bewältigung der Schuldenkrise im Eurowährungsgebiet lässt sich diese Aussage dagegen nicht treffen. Schon gar nicht besteht Einigkeit darüber, welche bislang noch nicht eingesetzten Instrumente den Mitgliedstaaten wie auch der Europäischen Union und ihren Institutionen zukünftig zur Verfügung stehen, um im Sinne des

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BGBl. II 1992, S. 1253 ff. Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt v. 17. Juni 1997, ABl. Nr. C 236 v. 2. 8. 1997, S. 1 ff. 5 Matthias Herdegen, Europarecht, 16. Aufl., 2014, § 23, Rn. 1 f.; Peter Schäfer, Europarecht. Das Wirtschaftsrecht der EG, 3. Auflage, 2006, § 14, Rn. 255 f.; Werner Schröder, Grundkurs Europarecht, 2. Aufl., 2011, § 23, Rn. 2. 6 BVerfGE 129, 124, 177 ff. 7 EuGH, Urteil v. 27. 11. 2012, C-370/12 – Pringle, Rn. 92 ff. 4

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mit der Griechenlandhilfe eingeschlagenen Pfades der „Eurorettungspolitik“8 mit weiteren Unterstützungsmaßnahmen tätig zu werden: Die von den Mitgliedstaaten der Eurozone bilateral an Griechenland gewährten Kredite vermochten die Krise nicht zu lösen. Sie erwiesen sich lediglich als Auftakt zu einer Vielzahl weiterer Maßnahmen, mit denen nicht nur Griechenland, sondern auch eine Reihe anderer hoch verschuldeter und deshalb in finanzielle Schwierigkeiten geratener Mitglieder der Eurozone von den übrigen Mitgliedstaaten Unterstützung erfahren sollten. So folgte nur kurze Zeit nach Vereinbarung des ersten Kreditpakets für Griechenland die Einrichtung des „Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus“ (EFSM),9 der zwecks Erhöhung des zulässigen Kreditvolumens wenig später zur „Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität“ (EFSF)10 erweitert worden war. Aufgrund der zeitlichen Befristung des EFSF wurde wiederum unmittelbar im Anschluss an die Verhandlungen zu dessen Errichtung die Schaffung eines dauerhaften Stabilisierungsmechanismus, des „European Stability Mechanism“ (ESM), von den Eurostaaten vereinbart.11 Die Märkte gaben sich jedoch auch mit diesem Instrument nicht zufrieden, da dessen Haftungssumme gegenüber der des EFSF zwar erhöht, jedoch in seiner absoluten Höhe wiederum begrenzt war. So machten die Märkte über Ratingagenturen im Verbund mit wirtschaftlichen, publizistischen bis hin zu philosophischen Eliten den Regierungen der Euromitgliedstaaten deutlich, dass sie sich mit der bloßen Erhöhung bestehender oder der Errichtung weiterer „Brandmauern“ nicht zufrieden geben würden. Vielmehr würden sie erst bei einer unbegrenzten Haftungsgarantie der Mitgliedstaaten der Eurozone bereit sein, ihren Druck von diesen zu nehmen.12 Die deutsche Bundesregierung, die bislang alle Maßnahmen zur Stabilisierung der Eurozone mitgetragen hatte, war in dieser Phase der Krise jedoch nicht bereit, dem von der Kommission, den verschuldeten Staaten und den Finanzmärkten gleichermaßen für diesen Zweck geforderten Mittel, der Einführung gemeinsamer Anleihen, sog. Eurobonds, ihre Zustimmung zu erteilen. Man fürchtete, die Kontrolle über die Staatsverschuldung der Krisenstaaten nun völlig zu verlieren und Konditio8 Begriff der „Eurorettung“ übernommen in BVerfGE 132, 195, 236 (ohne Anführungszeichen). 9 VO (EU) Nr. 407/2010, ABl. Nr. L 118 v. 12. 5. 2011, S. 1 ff. 10 Das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus v. 22. 5. 2010, BGBl. 2010 I, S. 627 ff., ermächtigt in seinem § 1 Abs. 1 den Bundesminister der Finanzen, Kredite zu gewährleisten, die von einer Zweckgesellschaft zum Erhalt der Zahlungsfähigkeit eines Mitgliedstaates aufgenommen worden sind. Eine solche Gesellschaft wurde mit der „Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität“ durch den EFSF-Rahmenvertrag v. 7. 6. 2010 gegründet. 11 Gesetz zu dem Vertrag vom 2. 2. 2012 zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, BGBl. 2012 II, 981 ff.; Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Vertrages zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), BGBl. 2012 II, 1086 ff. 12 Lars Feld, Interview, FAZ Nr. 4 v. 30. 1. 2011, S. 35: „Nach 750 Milliarden kommt unendlich. Dann gibt es kein Halten mehr.“

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nalitäten nicht mehr durchsetzen zu können. Letzte Dämme würden brechen, ein die Integration zerstörender moral hazard freien Lauf nehmen. Die Märkte hielten damit ihren Druck unvermindert aufrecht. Um dieser, für den Fortbestand der Eurozone in ihrer derzeitigen Konfiguration prekären Entwicklung ein Ende zu bereiten, erklärte der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, auf einer Investorenkonferenz in London am 26. Juli 2012 überraschend, dass die Europäische Zentralbank tun werde, „whatever it takes to preserve the Euro“.13 Nachdem bereits schon im Juni 2010 im Rahmen des „Securities Markets Programmes“ (SMP) von der Europäischen Zentralbank Anleihen einzelner Mitgliedstaaten der Eurozone gekauft worden waren,14 fasste deren Rat im September 2012 den Beschluss zu den „Technical features of outright monetary transactions“ (OMT), wonach das System der Europäischen Zentralbanken nach bestimmten Modalitäten Staatsanleihen einzelner Mitglieder der Eurozone in unbegrenzter Höhe aufkaufen werde.15 Damit hatten die Märkte ihr Ziel erreicht: eine unbegrenzte Haftungszusage eines lenders of last ressort war da.16 III. Verfassungsrechtliche Vorgaben und Grenzen für die Stabilisierung der Eurozone 1. Der Ausgangspunkt: Schutz des Anspruchs der Bürger auf demokratische Mitbestimmung Eine ergebnisoffene politische Debatte des Für und Wider derartiger Hilfsmaßnahmen wurde in Deutschland nicht geführt. Die Maßnahmen wurden von der Bundesregierung und von den sie tragenden wie auch von fast allen in der Opposition befindlichen Parteien im Bundestag übereinstimmend in kürzester Zeit durchgesetzt, und zwar als „alternativlos“, ein Attribut, das sehr bald in die Geschichte der politischen Begriffe eingehen sollte. Erst vor dem Bundesverfassungsgericht, das gegen die Beteiligung Deutschlands sowohl an den Griechenlandkrediten als auch an der Errichtung des EFSM mit Verfassungsbeschwerden angerufen worden war,17 fand eine Diskussion dieser Fragen statt. Das Gericht kam in seinem, wie sich zeigen sollte, ersten Urteil in Sachen Eurostabilisierungspolitik zwar nicht zu der Feststellung, 13

FAZ Nr. 173 v. 27. 7. 2012, S. 1; Verbatim of the remarks made by Mario Draghi, abrufbar unter: http://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2012/html/sp120726.en.html. 14 Beschluss der Europäischen Zentralbank v. 25. 11. 2010 über die vorläufige Verteilung der Einkünfte der Europäischen Zentralbank aus dem Euro-Banknotenumlauf und aus im Rahmen des Programms für die Wertpapiermärkte erworbenen Wertpapieren, EZB/2010/24, ABl. Nr. L 6 v. 11. 1. 2011, S. 35 ff. 15 Press Release vom 6. 9. 2012, abrufbar unter: http://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/ 2012/html/pr120906_1.en.html. 16 Adalbert Winkler, „EZB-Krisenpolitik: OMT-Programm, Vollzuteilungspolitik und Lender of Last Resort“, Analysen und Berichte EWU, Wirtschaftsdienst Heft 10, 2013, S. 678 (683). 17 BVerfGE 129, 124, 125 ff., 128 ff.

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dass die Gesetze, die mit dem Ziel einer Bewältigung der Schuldenkrise im Euroraum erlassen worden waren, gegen das Grundgesetz verstießen; es wies sämtliche Verfassungsbeschwerden als unbegründet zurück.18 Das Gericht konkretisierte in diesem Urteil jedoch die Grenzen, welche die Verfassung der Beteiligung Deutschlands an derartigen Maßnahmen zur Stabilisierung des Eurowährungsgebietes setzt. Es stützte sich hierbei, wie auch bei seinen folgenden Urteilen zu diesen Fragen, auf die Grundidee des Vertrages zur Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion, das Konzept der Stabilitätsgemeinschaft.19 Es ist bei seiner Auslegung des Rechts der Währungsunion wie auch des Grundgesetzes stets vom Willen des Normgebers ausgegangen,20 auf eine Interpretation nach Maßgabe der aktuellen Bedürfnisse von Kommission und Mehrheit der Eurostaaten hat es sich nicht eingelassen. Der Zugang des Gerichts zu einer verfassungsrechtlichen Kontrolle der Eurohilfen ergab sich aus der zentralen Vorgabe, die das Grundgesetz der Integration des von ihm verfassten Staates in über- und zwischenstaatliche Einrichtungen setzt: der im Wahlrecht zum deutschen Bundestag verkörperte Anspruch des Bürgers auf Mitbestimmung an der demokratischen Selbstgestaltung des Volkes (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) darf in seinen Kerngehalten durch Schritte der Integration nicht aufgegeben werden.21 Die europäische Einigung darf nicht in einer Weise verwirklicht werden, „dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt“.22 2. Das Budgetrecht als wesentlicher Bereich demokratischer Gestaltung Zu den hiernach wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehört u. a. das Budgetrecht des Parlaments mit seinen Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben des Staates unter Einschluss der Kreditaufnahme.23 Das Bundesverfassungsgericht sieht eine „das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung des Budgetrechts des Bundestages“ gekommen, „wenn der Deutsche Bundestag nicht mehr dem Volk gegenüber verantwortlich über die wesentlichen Ausgaben des Staates entscheiden könnte“.24 „In diesem Bereich“, so sagt es weiter, „obliegt gerade die sozialpolitische Verantwortung dem demokratischen Entscheidungsprozess, auf den die Bürger mit der freien und gleichen Wahl einwirken wollen“. Zwar gefährde „nicht jede haushaltswirksame europäische oder internationale Verpflich18

BVerfGE 129, 124, 176 ff. BVerfGE 129, 124, 129, 138, 158, 161, 163, 181; 132, 195, 217, 243, 244; 134, 366, 394. 20 BVerfGE 129, 124, 181 f.; 132 195, 243 f. 21 BVerfGE 89, 155, 172; 123, 267, 330; 129, 124; 168; 132, 195, 238. 22 BVerfGE 123, 267, 358. 23 BVerfGE 123, 267, 359; unter Bezugnahme auf BVerfGE 70, 324, 355 f.; 79, 311, 329. 24 BVerfGE 123, 267, 361; auch zum Folgenden. 19

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tung (…) die Gestaltungsfähigkeit des Bundestages als Haushaltsgesetzgeber. Zu der vom Grundgesetz erstrebten Öffnung der Rechts- und Sozialordnung und zur europäischen Integration gehört die Anpassung an Vorgaben und Bindungen, die der Haushaltsgesetzgeber als nicht unmittelbar beeinflussbare Faktoren in die eigene Planung einstellen muss.“ Entscheidend sei aber, „dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch im Deutschen Bundestag getroffen werden kann“.25 3. Das Budgetrecht des Deutschen Bundestages und Maßnahmen zur Stabilisierung der Eurozone Als Repräsentanten des Volkes müssten die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, so das Gericht, auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten.26 Der Deutsche Bundestag dürfe seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen.27 Insbesondere dürfe er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die – sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen – zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen könnten. Es dürften keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinausliefen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden seien.28 Diese Aussagen des Gerichts haben zur Konsequenz, dass jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden muss. Darüber hinaus hat gesichert zu sein, dass hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht. Dem Gericht war es dabei wichtig festzuhalten, dass die Bestimmungen der europäischen Verträge dem Verständnis der nationalen Haushaltsautonomie als einer wesentlichen, nicht entäußerbaren Kompetenz der unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente der Mitgliedstaaten nicht entgegenstünden, sondern diese gerade voraussetzten.29 Die strikte Beachtung der Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten gewährleiste, dass die Handlungen der Organe der Europäischen Union in und für

25

BVerfGE 123, 267, 362. BVerfGE 129, 124, 178; 132, 195, 239. 27 BVerfGE 129, 124, 179; 132, 195, 240; auch zum Folgenden. 28 BVerfGE 129, 124, 180; 132, 195, 241; auch zum Folgenden. 29 BVerfGE 129, 124, 181; 132, 195, 243. 26

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Deutschland über eine hinreichende demokratische Legitimation verfügten.30 Die vertragliche Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft sei Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes.31 Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, für Gewährleistungen einstehen zu müssen, handelt es sich um eine Prognose. Dem Gesetzgeber komme hier daher ein Einschätzungsspielraum zu, der vom Bundesverfassungsgericht zu respektieren sei.32 Entsprechendes habe auch zu gelten für die Abschätzung der künftigen Tragfähigkeit des Bundeshaushalts und des wirtschaftlichen Leistungsvermögens der Bundesrepublik Deutschland.33 Zum Schutz der Kontrollrechte, die für die demokratische Mitbestimmung der Bürger notwendig sind, verlange die Verfassung grundsätzlich die Publizität der Entscheidungsprozesse.34 Die Entscheidung des Deutschen Bundestages über jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme, derer es zur Wahrung der demokratischen Selbstgestaltung bedarf, müsse grundsätzlich von allen Abgeordneten im Plenum in öffentlicher Beratung getroffen werden;35 die Delegation derartiger für das Budget erheblicher Entscheidungen an ein geheim tagendes Sondergremium sei verfassungswidrig.36 Die Pflicht der Bundesregierung, den Deutschen Bundestag über die Angelegenheiten der Europäischen Union umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten (Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG), die zur Wahrnehmung dieser Kontrollrechte Voraussetzung ist,37 erstrecke sich nicht nur auf Vertragsänderungen auf der Ebene des Primärrechts sowie auf Rechtsetzungsakte der Europäischen Union. Sie beziehe sich vielmehr auch auf völkerrechtliche Verträge, wenn sie, wie die Verträge zur Stabilisierung der gemeinsamen europäischen Währung, in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stünden.38

30 BVerfGE 129, 124, 181; 132, 195, 243; unter Bezug auf BVerfGE 89, 155, 199 ff.; 97, 350, 373. 31 BVerfGE 129, 124 , 181 f.; 132, 195, 243; unter Bezug auf BVerfGE 89, 155, 205. 32 BVerfGE 129, 124, 182 f.; 132, 195, 242. 33 BVerfGE 129, 124, 183; 132, 195, 242 f. 34 BVerfGE 131, 152, 204 ff. 35 BVerfGE 131, 152, 205 f., 213 f. 36 Zur Verfassungswidrigkeit des in Angelegenheiten des Europäischen Stabilisierungsmechanismus geheim tagenden „9er-Gremiums“: BVerfGE 130, 318, 356 ff. 37 BVerfGE 131, 152, 211 f. 38 BVerfGE 131, 152, 199.

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IV. Konkretisierungen 1. Das Gebot der Wahrung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung im Rahmen eines dauerhaften „Rettungsschirms“ a) Der Hintergrund der Klagen Die im unmittelbaren Anschluss an die Einrichtung des befristeten „Rettungsschirms“ EFSM39 erfolgende Organisation des dauerhaften „Rettungsschirms“ ESM wurde in Deutschland ebenfalls von Bürgern vor dem Bundesverfassungsgericht mit Verfassungsbeschwerden angegriffen.40 Hatten die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen im Deutschen Bundestag der Öffentlichkeit bei den bisherigen Maßnahmen stets versichert, dass es sich bei ihnen um eine befristete und damit revidierbare Abkehr vom Prinzip der finanziellen Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten der Eurozone gehandelt haben sollte, konnte eine solche Charakterisierung der Stabilisierungspolitik mit der Einrichtung des dauerhaften Unterstützungsinstruments ESM und der hierfür notwendigen Änderung des Unionsvertrages (Art. 136 Abs. 3 AEUV) gegenüber der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr aufrecht erhalten werden. Durch diese Maßnahmen ist die Nicht-Beistands-Klausel des AEUV (Art. 125) im Wesentlichen außer Kraft gesetzt und die Umgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion in eine Transferunion damit zwar nicht rechtlich, wohl aber faktisch unumkehrbar geworden. Denn unter den derzeitigen Mitgliedern der Währungsunion bilden die Staaten die Mehrheit, die als aktuelle bzw. potenzielle Empfänger von Hilfsmaßnahmen an einer Verdauerung der Instrumente interessiert sind. b) Der Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat weder dem Zustimmungsgesetz zur Änderung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, durch welche die unionsrechtliche Grundlage für die Errichtung eines Stabilitätsmechanismus geschaffen werden sollte (Art. 136 Abs. 3 AEUV), noch dem Zustimmungsgesetz zur Errichtung des Stabilitätsmechanismus selbst einen Verstoß gegen die unaufgebbaren Gehalte des demokratischen Prinzips des Grundgesetzes attestieren können.41 Zwar käme es durch diese Gesetze zu einer weitgehenden Umgestaltung der Wirtschaftsund Währungsunion; die Einrichtung eines dauerhaften Mechanismus löse sich vom Prinzip der Eigenständigkeit der nationalen Haushalte, in dem sie die Marktabhängigkeit der Refinanzierung der Mitgliedstaaten abschwäche.42 Die grundsätzliche Ausrichtung der Währungsunion auf das Prinzip der Stabilität werde jedoch nicht aufgegeben. Denn wesentliche Elemente dieses Konzepts, wie z. B. die Unabhängig39

Siehe oben unter II. 2. BVerfGE 132, 195, 195 f. 41 BVerfGE 132, 195, 247 ff. u. 251 f. 42 BVerfGE 132, 195, 248; auch zum Folgenden. 40

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keit der Europäischen Zentralbank, ihre Verpflichtung auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität (Art. 127, 130 AEUV) und das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung (Art. 123 AEUV), blieben unberührt. Allerdings werde das Gesetz zur Einführung des ESM der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung mit Blick auf das finanzielle Gesamtengagement und die notwendigen Informationsrechte des Bundestages nur bei einer verfassungskonformen Auslegung gerecht;43 zudem müssten weitere Anforderungen erfüllt sein, um diesem Gebot zu genügen.44 So sei die Haftung Deutschlands auf das Stammkapital begrenzt, Erhöhungen dürfe es nur mit seiner Zustimmung geben.45 Eine Auslegung des ESM-Vertrages, die eine Haftung Deutschlands über den festgelegten Umfang von 190 Mrd. Euro erlauben würde, sei für Deutschland unverbindlich; revidierte erhöhte Kapitalabrufe,46 Ausgabeaufschläge47 sowie die erst nach der mündlichen Verhandlung der einstweiligen Anordnung vor dem Bundesverfassungsgericht unter dem Stichwort „Banklizenz“ diskutierte Aufnahme von Kapital durch den ESM bei der Europäischen Zentralbank,48 mit denen sich die deutsche Haftung jeweils erhöhen ließe, seien unzulässig. Jede Aufstockung des deutschen Anteils am ESM bedürfe eines vorherigen konstitutiven Beschlusses des Bundestages.49 Aus dem ESM-Vertrag ergebe sich für Deutschland keine Pflicht, der Zurverfügungstellung weiteren Kapitals an den ESM seine Zustimmung zu erteilen, wenn das Stammkapital aufgebraucht sei.50 Unter allen Umständen müsse gewährleistet sein, dass der Legitimationszusammenhang zwischen dem Parlament und dem ESM nicht unterbrochen werde.51 Bundesregierung und Bundestag hätten daher Vorkehrungen dafür zu treffen, dass es nicht zu einer nach dem Vertrag möglichen Aussetzung der Stimmrechte komme. Der auf Deutschland entfallende Anteil am anfänglich einzuzahlenden Kapital sei dafür im Haushalt bereitzustellen und außerdem im gebotenen Umfang sicherzustellen, dass die weiteren auf Deutschland entfallenden Anteile jederzeit fristgerecht und vollständig eingezahlt werden.52 Damit der Bundestag seine haushaltspolitische Verantwortung wahrnehmen kann, sei er auf Informationen aus dem ESM angewiesen.53 Die Regeln über Geheim43

BVerfGE 132, 195, 252. BVerfGE 132, 195, 252 f. 45 BVerfGE 132, 195, 252. 46 BVerfGE 132, 195, 255, 257. 47 BVerfGE 132, 195, 253, 265. 48 BVerfGE 132, 195, 266 ff. 49 BVerfGE 132, 195, 273 ff. 50 BVerfGE 132, 195, 253 ff. 51 BVerfGE 132, 195, 264; auch zum Folgenden. 52 BVerfGE 132, 195, 263. 53 BVerfGE 132, 195, 241, 260. 44

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haltung und Verschwiegenheit des ESM-Vertrages seien daher so auszulegen, dass sie der umfassenden Unterrichtung von Bundestag und Bundesrat nicht entgegenstehen.54 Bei der Ratifikation des ESM-Vertrages hatte die Bundesregierung Beeinträchtigungen der Haushaltsautonomie des Bundestages, die bei einer entsprechenden Lesart des ESM-Vertrages möglich wären, zum Schutz der Verfassungsidentität des Grundgesetzes durch entsprechende Vorbehalte völkerrechtlich gesichert auszuschließen, anderenfalls Deutschland „an den ESM-Vertrag insgesamt nicht gebunden sein kann“. Die Pflicht hierzu hatte ihr das Gericht in seiner Entscheidung über die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den ESM-Vertrag auferlegt.55 Zur Wahrung des Legitimationszusammenhangs zwischen seinem Parlament und dem ESM ist Deutschland schließlich verpflichtet, seine derzeit bestehende Vetoposition bei Maßnahmen des ESM, die für die haushaltspolitische Gesamtverantwortung bedeutsam sind, zu wahren.56 Bei Beitritten von neuen Mitgliedern zum ESM haben Bundestag und Bundesregierung in dem einstimmig zu fassenden Beschluss des Gouverneursrats auf Änderungen der vertraglichen Grundlagen zu bestehen, die für die Aufrechterhaltung seiner Vetoposition notwendig sind.57 2. Das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung mit Anleihekäufen durch die Europäische Zentralbank a) Vorlage an den Europäischen Gerichtshof Die Beschwerdeführer wollten im Rahmen ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Einrichtung des dauerhaften Stabilisierungsmechanismus ESM auch das Anleihekaufprogramm OMT, das erst nach Einreichung der Beschwerdeschrift beschlossen worden war, mit zur verfassungsgerichtlichen Prüfung stellen.58 Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen den dauerhaften Stabilisierungsmechanismus ESM sah das Bundesverfassungsgericht für eine Entscheidung hierüber keinen Raum, weshalb es diese Frage dem Hauptsacheverfahren vorbehielt.59 Allerdings skizzierte es schon im Verfahren der einstweiligen Anordnung den rechtlichen Rahmen, der dem Hauptsacheverfahren gesetzt sein würde. Hiernach würden Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank als monetäre Haushaltsfinanzierung mit dem Unionsrecht nicht vereinbar sein.60 Ein hierin liegender Verstoß gegen das Unions54

BVerfGE 132, 195, 258 ff. BVerfGE 132, 195, 257. 56 BVerfGE 132, 195, 264. 57 BVerfGE 132, 195, 265. 58 BVerfGE 132, 195, 217 f. 59 BVerfGE 132, 195, 236, 273 ff. 60 BVerfGE 132, 195, 243 ff., 266 ff. 55

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recht sei auch von verfassungsrechtlicher Relevanz, da das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank ein wesentliches Element zur unionsrechtlichen Absicherung der verfassungsrechtlichen Anforderungen des Grundgesetzes an die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages darstellen würde.61 Der Europäischen Zentralbank sei Haushaltsfinanzierung verfassungsrechtlich untersagt.62 Im Hauptsacheverfahren sah sich das Bundesverfassungsgericht dann allerdings gehindert, die Frage, ob die Anleihekäufe im Rahmen des OMT-Programmes als Haushaltsfinanzierung einzustufen sein, selbst zu entscheiden. Bei der Qualifikation der Anleihekäufe handele es sich um eine unionsrechtliche Frage, über die zu entscheiden nach dem AEUV dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren der Vorabentscheidung vorbehalten ist (Art. 267). Das Gericht hat daher, erstmals in seiner Geschichte, sein Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof die unionsrechtlichen Fragen zur Entscheidung vorgelegt.63 Dabei hat das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof jedoch nur auf den ersten Blick die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Anleihekäufe überantwortet. Es hat nämlich in seinem Vorlagebeschluss ausführlich dargelegt, dass es sich aus seiner Sicht bei den Anleihekäufen zum einen nicht um Finanz,– sondern um Wirtschaftspolitik64 und damit um ein Handeln der Union ultra vires handele; zum anderen legte es dar, warum die Anleihekäufe als verbotene Staatsfinanzierung zu werten seien.65 b) Anleihekäufe als Wirtschaftspolitik und Staatsfinanzierung Bei einer Würdigung aller Umstände kam das Bundesverfassungsgericht zu der Ansicht, dass die Europäische Zentralbank mit ihren Anleihekäufen die Zinsaufschläge auf Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes neutralisieren wolle, die die Refinanzierung dieser Staaten belasteten. Eine solche Zielsetzung stehe als Wirtschaftspolitik im Widerspruch zu ihrem vertraglichen Mandat der Währungspolitik, da Zinsaufschläge nach dem Konzept des Unionsrechts als Schuldenbremse gewollt seien.66 Zinsaufschläge brächten das Prinzip der Eigenverantwortung der Mitglieder der Währungsunion für ihre nationalen Haushalte zum Ausdruck.67 Sofern die Senkung der Zinsaufschläge dazu dienen solle, den Fortbestand des Euro-Währungsgebietes in seiner aktuellen Konfiguration sicherzustellen, so sei diese Zielsetzung keine Frage der Geld-, sondern ebenfalls der Wirt61

BVerfGE 129, 124, 181 f.; 132, 195, 243 f. BVerfGE 132, 195, 243 f. 63 BVerfGE 134, 366, 369, 419. 64 BVerfGE 134, 366, 392 ff., 404; auch zum Folgenden. 65 BVerfGE 134, 366, 404 ff. 66 BVerfGE 134, 366, 404. 67 BVerfGE 134, 366, 405, unter Bezugnahme auf EuGH v. 27. 11. 2012 – C-370/12, – Pringle Rn. 125. 62

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schaftspolitik: die Beantwortung der Frage, aus welchen Staaten sich das Euro-Währungsgebiet zusammensetzen soll, obliege dem Rat, dem Parlament, der Kommission und den Mitgliedstaaten.68 Die Käufe seien zudem selektiv, sie differenzierten zwischen den Staaten des Währungsgebietes. Eine währungspolitische Maßnahme, wie die Senkung des Leitzinses oder des Satzes für die Mindestreserve, würde dagegen für alle Euro-Staaten in gleicher Weise gelten.69 Die bezweckte Neutralisierung von Zinsaufschlägen, die Selektivität und Parallelität der Käufe mit den Hilfsprogrammen der Stabilisierungsmechanismen, aus denen sich der wirtschaftspolitische Charakter der Anleihekäufe ergebe, sprächen ebenso für eine Umgehung des Verbotes der Staatsfinanzierung.70 Denn Anleihekäufe auf dem Sekundärmarkt dienten nicht der Währungspolitik, sondern der Staatsfinanzierung, wenn sie sich auf einzelne Staaten konzentrieren, deren Zinsaufschläge senken und dabei an wirtschaftspolitische Reformprogramme gebunden sein sollten.71 Bei den auf der Grundlage des OMT-Beschlusses zu erwerbenden Staatsanleihen solle das Eurosystem zudem keinen bevorrechtigten Gläubigerstatus in Anspruch nehmen.72 Das bedeute, dass es sich an einem Schuldenschnitt beteiligen und in diesem Fall auf einen entsprechenden Teil seiner Forderungen verzichten müsse. Zwischen dem Erlass der Rückzahlungspflicht aus einer Darlehensforderung und einer von Anfang an gegenleistungsfreien und endgültigen Zurverfügungstellung finanzieller Mittel sei im Hinblick auf den Regelungszweck des Verbotes der Staatsfinanzierung ein Unterschied jedenfalls dann nicht zu sehen, wenn der Ankauf von vornherein mit der Aussicht auf spätere Einbeziehung in einen etwaigen Schuldenschnitt verbunden werde. Schließlich sollten die erworbenen Staatsanleihen bis zur Endfälligkeit gehalten werden, was zu einem Widerspruch mit dem Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung unter dem Aspekt eines Eingriffs in die Marktlogik führt.73 Zwar gestatte die Satzung der Europäischen Zentralbank dem Eurosystem auch einen „endgültigen“ Ankauf von börsengängigen Wertpapieren. Ein dauerhafter Erwerb von Staatsanleihen durch das Eurosystem bleibe jedoch nicht ohne Auswirkungen auf die monetäre Haushaltsfinanzierung, und zwar speziell dann, wenn ein wesentlicher Teil der von einzelnen Mitgliedstaaten begebenen Staatsanleihen dauerhaft vom Markt genommen werde. Hier blieben Wirkungen aus, die normalerweise dann eintreten, wenn

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BVerfGE 134, 366, 405. BVerfGE 134, 366, 406. 70 BVerfGE 134, 366, 412. 71 BVerfGE 134, 366, 408. 72 BVerfGE 134, 366, 412; auch zum Folgenden. 73 BVerfGE 134, 366, 413; auch zum Folgenden. 69

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Anleihen, wie dies üblich sei, vor Fälligkeit verkauft würden.74 Damit würde das Eurosystem nicht nur eine unbeeinflusste Kursermittlung verhindern und so zur Finanzierung des betreffenden Haushaltes beitragen.75 Für die Wirtschaftspolitik besitze die Union offensichtlich keine Kompetenz. Ihr damit kompetenzloses Handeln sei strukturell bedeutsam, da mit ihm erhebliche Umverteilungswirkungen einhergingen.76 Die Anleihekäufe seien wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Verbot der Staatsfinanzierung ersichtlich unzulässig; dieser Rechtsverstoß sei strukturell bedeutsam, da er die Grundlage der Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion, das Konzept der Stabilitätsunion, in einem zentralen Punkt, dem Verbot der Staatsfinanzierung, in Frage stelle. Die Bedenken gegen die Gültigkeit des OMT-Beschlusses auf der Grundlage seines Wortlauts lassen sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts allerdings durch eine unionsrechtskonforme Auslegung ausräumen.77 Im Hinblick auf die Vornahme eines ausbrechenden Rechtsaktes der Wirtschaftspolitik dürfte dafür der Inhalt des OMT-Beschlusses bei wertender Gesamtbetrachtung die Konditionalität der Hilfsprogramme der Stabilisierungsmechanismen nicht unterlaufen und müsste einen die Wirtschaftspolitik in der Union nur unterstützenden Charakter haben.78 Bezogen auf die Frage verbotener Staatsfinanzierung müsste für Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank ein Schuldenschnitt ausgeschlossen sein und dürften Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in unbegrenzter Höhe angekauft und in die Preisbildung am Markt nicht mehr als unvermeidlich eingegriffen werden. V. Folgen für andere Stabilisierungsinstrumente Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Beteiligung Deutschlands an Hilfsmaßnahmen zur Lösung der Staatsschuldenkrise im Euroraum, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen herausgearbeitet hat, ergeben sich Folgen für andere Instrumente, die zu dem gleichen Zweck eingesetzt werden könnten, aber noch nicht eingesetzt worden sind. 1. Eurobonds So wären Eurobonds nicht zulässig, wenn es bei ihnen zu einer gesamtschuldnerischen Haftung der Eurostaaten für von ihren Mitgliedern begebene Staatsanleihen ohne konstitutive Zustimmung der verpflichteten Parlamente kommen sollte.79 Denn 74

BVerfGE 134, 366, 413. BVerfGE 134, 366, 413 f. 76 BVerfGE 134, 366, 393; auch zum Folgenden. 77 BVerfGE 134, 366, 416 f. 78 BVerfGE 134, 366, 417; auch zum Folgenden. 79 Udo Di Fabio, Zur Zukunft einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion, 2013, S. 66 f. 75

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wenn Deutschland für von anderen Staaten begebene Eurobonds zu haften hätte, würde es sich fremden Willensentscheidungen unterwerfen.80 Seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung wäre nicht mehr gewahrt. Nichts anderes würde gelten, wenn die Union durch eine Agentur Eurobonds unabhängig von den mitgliedstaatlichen Parlamenten begeben würde, wie dies verschiedentlich vorgeschlagen wird.81 Denn auch in diesem Fall würde die Haftung Deutschlands für die Schulden eines anderen Staates von einer für sich fremden Willensentscheidung abhängig sein. 2. Quantitative Easing Als Alternative zum Programm OMT wird vielfach empfohlen, die Europäische Zentralbank müsse lediglich die Anleihen aller Staaten kaufen und damit das tun, was etwa das Notenbanksystem der USA Federal Reserve, aber auch andere Notenbanken in solchen Lagen betrieben: „Quantitative Easing“, monetäre Lockerung, im Jargon „QE“, sei die Alternative.82 Die Restriktionen bezüglich der Haltedauer, der Begrenztheit des Umfangs der Käufe, der Teilnahme an einem Schuldenschnitt und des Eingriffs in die Marktpreisbildung würden indes auch hier gelten. Würde die Europäische Zentralbank etwa nach entsprechender Ansage unbegrenzt Anleihen sämtlicher Mitgliedstaaten der Eurozone kaufen, sie dauerhaft halten und nicht auf einem bevorrechtigten Gläubigerstatus bestehen wollen, würde die Preisbildung ebenso gestört und wiederum ein Finanzausgleich auf europäischer Ebene installiert.83 Zudem ist es ein Unterschied, ob die Notenbank eines Bundesstaates mit einem auch die Wirtschaftspolitik umfassenden Mandat Anleihen eben dieses Staates kauft oder ob die in ihren Kompetenzen begrenzte Europäische Zentralbank als Notenbank von in einem Staatenverbund zusammengeschlossenen souveränen Staaten Staatsanleihen von diesen Staaten erwirbt, die zudem für ihre Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik selbstverantwortlich sind. 3. Käufe von Kreditverbriefungen privater Banken geringer Bonität Der massenhafte Kauf risikobehafteter Kreditverbriefungen privater Banken, welche die Europäische Zentralbank nach ihren Statuten nicht als Sicherheit nehmen 80 Sebastian Müller-Franken, Eurobonds und Grundgesetz, in: JZ 2012, S. 219 ff. (220 f.); auch zum Folgenden; a. A. etwa Werner Heun/Alexander Thiele, Verfassungs- und europarechtliche Zulässigkeit von Eurobonds, in: JZ 2012, S. 973 ff. (975, 980) u. ö.; Franz C. Mayer/Christian Heidfeld, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Einführung von Eurobonds, in: NJW 2012, S. 422 ff. (427). 81 Siehe etwa Grünbuch der EU-Kommission über die Durchführbarkeit der Einführung von Stabilitätsanleihen v. 23. 11. 2011, KOM (2011) 818, abgedruckt in BR-Drucks. 779/11, S. 15, 38; zuletzt Martin Blessing, wiedergegeben in Handelsblatt Nr. 169 v. 3. 9. 2014, S. 4 ff. 82 Joachim Fels, Börsenzeitung Nr. 113 v. 18. 6. 2013, S. 7; Marcel Fratzscher, FAZ Nr. 65 v. 18. 3. 2014, S. 16; ders., Die Welt Nr. 58 v. 10. 03. 2014, S. 12. 83 Dietrich Murswiek, Der Hauptstadtbrief, Ausgabe 120, 2014, S. 26 f.; auch zum Folgenden.

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dürfte, und damit die Umfunktionierung der Europäischen Zentralbank zu einer Bad Bank,84 was vorgeschlagen wird,85 wäre schließlich ebenfalls unzulässig. Das Agieren der Europäischen Zentralbank als Anstalt zur Abwicklung notleidender Kredite von Privatbanken überstiege ihr Mandat und wäre unvereinbar mit dem Konzept der Stabilitätsgemeinschaft, nach dem die Europäische Zentralbank vor allen anderen Zielen der Geldwertstabilität verpflichtet ist. Dieses Ziel würde sie bei einem solchen Funktionswandel aufgeben.86 Zugleich gefährdete die Europäische Zentralbank ihre Unabhängigkeit, da sie sich in politische Abhängigkeiten begeben würde. VI. Notwendigkeit einer neuen Verfassung Solche weitergehenden Schritte überstiegen wegen der Aufgabe der Haushaltsverantwortung des Bundestages, die mit ihnen verbunden wäre, die Grenzen der Integration (Art. 79 Abs. 3 GG). Um diese Integrationsschritte gehen zu können, müssten die Deutschen sich eine neue Verfassung geben (Art. 146 GG). Diese Verfassung könnte nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts87 und einiger seiner Richter88 jedoch nicht, wie dies bei der Weimarer Reichsverfassung wie auch beim Grundgesetz der Fall gewesen ist, in einem repräsentativen Verfahren, sondern nur in einem Verfahren mit einer Volksabstimmung verabschiedet werden. Ob bei einer solchen Abstimmung eine Mehrheit für das Aufgehen Deutschlands in einem europäischen Bundesstaat, zu dem es der Sache nach hierdurch kommen würde, zu gewinnen sei, ist indes offen. Die Politik der Versuche einer Stabilisierung der Eurozone könnte damit zu einem Ende kommen. VII. Kritik am Bundesverfassungsgericht in Wissenschaft und Politik Das Bundesverfassungsgericht hat für seine Entscheidungen zu den verschiedenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Eurozone Kritik erfahren aus Wissenschaft und Politik. Deren Kern bestand in dem Vorwurf, das Gericht habe die in Rede stehenden Aktionen allein aus der deutschen, auf das Konzept der Geldwertstabilität fixierten vergangenheitsgerichteten Perspektive betrachtet, von dem ursprünglich

84 Zum Begriff Bad Bank siehe Benedict Wolfers/Markus Rau, Finanzmarktstabilisierung, 3. Akt: „Bad Banks“ zur Entlastung der Bilanzen, in: NJW 2009, S. 2401 ff. (2401), sowie das Glossar des BMF, abrufbar unter http://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Service/ Glossar/Functions/glossar.html?lv2=84618&lv3=173448. 85 FAZ Nr. 229 v. 2. 10. 2014, S. 19; FAZ Nr. 230 v. 4. 10. 2014, S. 21. 86 Hans-Werner Sinn, Die EZB mutiert zur Bad-Bank, in: Wirtschaftswoche 2014, Nr. 40 v. 29. 9. 2014, S. 47; siehe bereits Di Fabio (Anm. 79), Zukunft, S. 49; ders., wiedergegeben in: FAZ Nr. 223 v. 25. 9. 2014, S. 15. 87 BVerfGE 123, 267, 331 f. 88 Andreas Voßkuhle, Interview, FAZ Nr. 38 v. 25. 9. 2011, S. 37; Peter-Michael Huber, Interview, SZ Nr. 216 v. 19. 9. 2011, S. 6.

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die Währungsunion getragen war.89 Das Ziel eines dauerhaften Fortbestandes der Währungsunion und die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten der Gegenwart seien dagegen unbeachtet geblieben.90 Die Erfordernisse einer dauerhaft bestehenden Währungsunion müssten aber für die Auslegung der hier maßgebenden Bestimmungen bestimmend sein.91 Jedenfalls habe die Krise zu einem Verfassungswandel, einem “constitutional moment“ im Sinne Bruce Ackermans, geführt, bei dem Nachjustierungen durch Interpretation des bestehenden Rechts passgenauer seien als schwerfällige Reformen der Verträge.92 Die Entscheidung, ob die Eurozone in ihrer derzeitigen Konfiguration durch die verschiedenen Stabilisierungsmaßnahmen tatsächlich dauerhaft „gerettet“ werden kann, bedarf einer Prognose, bei der den handelnden Institutionen ein Einschätzungsspielraum zugeordnet ist. Erklärt man den zukünftigen Erhalt der Eurozone in ihrer einmal erreichten Zusammensetzung zum maßgebenden Zweck der die Währungsunion regelnden Normen, wird von vielen das Argument als überzeugend angesehen werden, die zur Stabilisierung der Eurozone getroffenen Maßnahmen seien nicht zu beanstanden; die verschiedenen Bail-outs hätten von den Investoren die Furcht vor einem Auseinanderbrechen der Eurozone genommen und so ihren Bestand gesichert.93 Die rechtliche Bewältigung der Eurokrise hängt damit strategisch ab von der Antwort auf eine methodische Frage:94 ob für das Verstehen des Rechts der europäischen Integration auf die subjektiven Vorstellungen des Normgebers oder hiervon gelöste objektivierte Zwecksetzungen maßgeblich sind. 89 Sylvie Goulard, Verfassungsnationalismus, FAZ Nr. 77 v. 1. 4. 2010, S. 10; Werner Heun, Eine verfassungswidrige Verfassungsgerichtsentscheidung – der Vorlagebeschluss des BVerfG vom 14. 1. 2014, in: JZ 2014, S. 331 ff. (337). 90 Charles Secondat, The German Constitutional Court’s Decision about the European Central Bank’s OMT Mechanismn: A masterpiece of judicial arrogance, European Policy Brief, No. 30, April 2014, p. 1 et seq. (4 et seq.); Ingolf Pernice, Difficult Partnership between Courts: The First Preliminary Reference by the German Federal Constitutional Court to the CJEU, in: Maastricht Journal 2014, p. 3 et seq. (6 et seq., 10 et seq.); Franz C. Mayer, Rebels without a Cause? A Critical Analysis of the German Constitutional Court’s OMT Reference, in: 15 German Law Journal (2014), p. 111 et seq. (143). 91 Peter Sester, Plädoyer für die Rechtmäßigkeit der EZB-Rettungspolitik, in: RIW 2013, S. 451 ff. (453). 92 Franz C. Mayer, Kompetenzverschiebungen als Krisenfolge? Die US-Verfassungsentwicklung seit dem New Deal und Lehren für die Euro-Krise, in: JZ 2014, S. 593 ff. (601). 93 So die in den Fn. 90 – 92 genannten Autoren. 94 Auslegungsfragen sind Machtfragen, Rainer Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I , in: Rainer Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation – Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005, 2008, S. 29 ff. (45), so dass bei einer Präponderanz der objektiv-teleologischen Auslegung sich das vom heutigen Rechtsanwender formulierte Ziel schon allein aufgrund dessen durchsetzen kann; die Sachfrage beantwortet dies nicht, dazu: Sebastian Müller-Franken, Das Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortlichkeit und Solidarität in einer Fiskalunion, in: Hermann-Josef Blanke/Stefan Pilz (Hrsg.), Die „Fiskalunion“, 2014, S. 227 ff. (239 ff.).

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VIII. Das Ziel der Auslegung 1. Recht der europäischen Union Eine objektivierte, allein auf funktionelle Bedürfnisse der Eurozone abstellende Betrachtungsweise vorzuziehen liegt nahe, gilt eine solche Perspektive doch gerade als Kennzeichen des Rechts der Europäischen Union. Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, das vor dem Vertrag von Lissabon die Grundlage der Europäischen Union gewesen (Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUVa.F. = ex-Art. A) und seit dem Lissabon-Vertrag selbst zum Unionsrecht geworden ist (Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV, Art. 1 Abs. 2 S. 1 AEUV), hat sich nach seinem Selbstverständnis von seiner völkerrechtlichen Wurzel gelöst und zu einer eigenen Rechtsordnung entwickelt.95 Für seine Auslegung kommt es, anders als im klassischen Völkerrecht, nicht an auf den Willen und die hinter diesem stehende Souveränität der vertragsschließenden Staaten, sondern auf die objektive Teleologie des Rechts der Union.96 Basierend auf diesem Grundverständnis des Unionsrechts ist dem Willen des Normgebers bei der Auslegung der vertraglichen Grundlagen der Union („Primärrecht“) vom Europäischen Gerichtshof keine Bedeutung zugemessen worden;97 auch das Schrifttum hat die Unangemessenheit der historischen Auslegung für das Europarecht betont.98 Doch eine solche Betrachtung wird dem heutigen Stand des Unionsrechts und der Methode seiner Anwendung nicht gerecht. Die Ausblendung des Willens des Normgebers entspricht der Aufbauphase des Unionsrechts, als dieses sich von den Staaten und ihrer Souveränität emanzipieren und seine unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrangigkeit durchsetzen musste.99 Diese Phase ist unterdessen vorüber.100 Inzwischen wird auch für das Unionsrecht erkannt, dass auch dieses Recht geschichtlich 95 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3, 24 ff. – van Gend & Loos; Analyse: Werner Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, in: JuS 2004, S. 180 ff. (183). 96 Thomas Oppermann/Martin Nettesheim/Claus Dieter Classen, Europarecht, 5. Aufl., 2011, § 9, Rn. 168; Schröder (Anm. 95), JuS 2004, S. 180 ff. (181); gegenüber dem heutigen, vor allem durch das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge v. 23. 5. 1969, BGBl. 1985 II, 926, geprägten Völkerrecht bestehen dagegen kaum noch Unterschiede, da dieses inzwischen auch einer objektiviert-dynamischen Auslegung den Vorrang vor dem Willen der Parteien gibt, Knut Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl., 2014, § 12, Rn. 21. 97 EuGH, C-327/91, Slg. 1994, I-3641/3677 – Frankreich/Kommission; C-314/91, Slg. 1993, I-1093/1112 – Weber; Schröder (Anm. 95), JuS 2004, 180, 183, auch mit den Unterschieden zum Sekundärrecht. 98 Hans Kutscher, Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aus Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, 1976, S. 23; Pierre Pescatore, La Cour en tant que jurisdiction fédérale et constitutionelle, in: 10 Jahre Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Kölner Schriften zum Europarecht 1 (1965), S. 177, 201 f., 209 ff. 99 Frank Schorkopf, Rechtsgeschichte der europäischen Integration, in: JZ 2014, S. 421 ff. (422 ff.). 100 Rudolf Streinz, Die Auslegung des Gemeinschaftsrecht durch den EuGH, in: ZEuS 7 (2004), S. 387 ff. (412).

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gewachsen ist und damit nur unter Berücksichtigung des Horizonts seines Normgebers verstanden werden kann.101 Gerade für das Recht der Währungsunion hat der Europäische Gerichtshof die Entstehungsgeschichte der Normen und die Vorstellungen der Mitgliedstaaten zu einem tragenden Gesichtspunkt der Auslegung erhoben.102 2. Grundgesetzliches Recht der Europäischen Integration Mit einer solchen Rezeption der Vorstellungen des Normgebers kommt es zur notwendigen Synchronisation der Auslegung des Unionsrechts mit der Auslegung des Integrationsverfassungsrechts des Grundgesetzes.103 Die Auslegung der Vorschriften des Grundgesetzes, auf deren Grundlage sich der von ihm verfasste Staat in zwischen- und überstaatliche Einrichtungen integriert, hat ihren Bezugspunkt in dem jeweiligen Integrationsprogramm. Das Grundgesetz erlaubt dem von ihm verfassten Staat nicht die Integration in sich verselbständigende, sich aus ihrer jeweiligen Teleologie heraus selbst dynamisierende Prozesse, sondern verlangt für Schritte der Integration stets ein vertraglich festgelegtes Programm.104 Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung, das im Unionsrecht ausdrücklich festgeschrieben ist und auf dem die Integration Deutschlands in die Europäische Union beruht (Art. 5 Abs. 2 EUV), ist dementsprechend kein zufällig gewähltes Prinzip, sondern verfassungsrechtliche Voraussetzung dafür, dass Deutschland überhaupt an der Entwicklung der Europäischen Union mitwirken darf.105 Die Mitgliedstaaten haben der Europäischen Union bislang nicht die Kompetenz übertragen, sich selbst neue Kompetenzen zu geben (Kompetenz-Kompetenz),106 sondern sie sind die „Herren der Verträge“ geblieben107 – und müssen dies aus Sicht des Grundgesetzes auch zukünftig bleiben, solange dieses den Prozess der Integration des von ihm verfassten Staates leiten soll.108 Dementsprechend enden seine Integrationsermächtigungen, wenn die ermächtigte

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Schorkopf (Anm. 99), JZ 2014, S. 421 ff. (423). EuGH v. 27. 11. 2012 – C-370/12, DVBl. 2013, 101, 102 ff. Rn. 135 – Pringle; EuGH v. 03. 10. 2013 – C-582/11, Rn. 50 – Inuit Tapiriit Kanatami. 103 Di Fabio (Anm. 79), Zukunft, S. 18; ders., Geleitwort, in: Karen Kaiser (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon vor dem Bundesverfassungsgericht, 2013, Abschnitt III, S. XV; Peter M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl., 2002, § 10, Rn. 10, § 7, Rn. 10. 104 Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 263 f.; Stefan Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, S. 388 f. 105 BVerfGE 123, 267, 347 ff. 106 Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 32, Rn. 79, 93; Ulrich Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in den Grenzen des Verfassungsrechts, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. X, 3. Aufl., 2012, § 215, Rn. 39. 107 BVerfGE 75, 223, 242; 89, 155, 190; 123, 267, 348 f., 368, 381 ff.; 126, 286, 302 f.; Vorlagebeschluss vom 14. 1. 2014, 2 BvE 13/13, 2 u. a., BVerfGE 134, 366, 438. 108 BVerfGE 123, 267, 349 f., 381 f.; Schorkopf (Anm. 104), Grundgesetz, S. 264 f. 102

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Organisation ihr Mandat überschreitet.109 Die subjektive, auf den Willen zum ursprünglichen Integrationsprogramm bezogene Auslegung der Normen der Union ist so eine Folge des Prinzips der Begrenztheit von Ermächtigungen zur Integration, auf dem das gesamte Integrationsverfassungsrecht des Grundgesetzes basiert. Diese „Geschäftsgrundlage“110 der Mitgliedschaft in der Europäischen Union steht einer dynamischen, sich selbst ermächtigenden Auslegung im Sinne eines „whatever it takes“ entgegen. Das Grundgesetz erlaubt nur die Eingehung einer Währungsunion, wenn diese eine Stabilitätsgemeinschaft ist.111 Damit ist das vertragliche Konzept der Stabilitätsgemeinschaft nach dem Grundgesetz Voraussetzung und Bedingung dafür, dass Deutschland an der Währungsunion beteiligt ist.112 Die Ermächtigung zur Teilnahme an der Währungsunion kommt an ein Ende, wenn die Union dieses Konzept verlässt.113 Das „Vertragsverständnis, in dem Deutschland die Wirtschafts- und Währungsunion mitbegründet hat“,114 ist als der gesetzgeberische Wille der Staaten bei Auslegung und Anwendung des Rechts der Europäischen Integration damit unhintergehbar. IX. Die Bedeutung der „Tat- und Zeitzeugenschaft“ Friedrich Bohls Friedrich Bohl war dabei, als Deutschland die Bedingungen formuliert hat, zu denen es sich auf das „Projekt“ einer gemeinsamen europäischen Währung einzulassen bereit gewesen ist.115 Wann immer sie konnten, haben seine Repräsentanten der Öffentlichkeit erklärt, dass sie der Aufgabe der D-Mark nur zustimmen würden, wenn die Mitgliedstaaten des Eurowährungsgebietes dauerhaft eine Stabilitätsgemeinschaft bilden würden.116 Es war die feste Überzeugung der damals Handelnden, 109 BVerfGE 104, 151, 213 (zu Art. 24 Abs. 2 GG); Verallgemeinerung des Gedankens: Di Fabio (Anm. 79), Zukunft, S. 51 f. 110 Begriff von Rudolf Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 4 EUV Rn. 3. 111 BVerfGE 89, 155, 200 ff. 112 BVerfGE 89, 155, 204 f.; 123, 267, 352; Di Fabio (Anm. 79), Zukunft, S. 51 f. 113 BVerfGE 89, 155, 205. 114 BVerfG vom 18. 3. 2014, 2 BvR 1390/12 u. a., BeckRS 2014, 48818, Rn. 180 (ESMHauptsache). 115 Siehe oben unter I. 116 Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl am 30. 1. 1991, Deutscher Bundestag Plenarprotokoll 12/68, S. 5797, 5798; Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl am 13. 12. 1991, Deutscher Bundestag Plenarprotokoll 12/5, S. 67, 85; Jahresgutachten 1988/1989 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 11/3478, S. 165 f.; Jahresgutachten 1991/1992 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 12/1618, S. 213 ff.; Hans Tietmeyer, Europäische Wirtschafts- und Währungsunion – Ausführungen anläßlich der öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages, Bonn, vom 18. September 1991 –, in: ZfZ 1991, S. 340 ff. (340 f.).; Antwort der Bundesre-

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dass nur ein Euro, der einer der D-Mark vergleichbaren Stabilitätsphilosophie verpflichtet sein würde, von den Bürgern als etwas empfunden werden würde, dem sie vertrauen können und das ihre Akzeptanz gewinnen würde. Denn ohne Akzeptanz bei den Bürgern lässt sich weder das Vorhaben einer gemeinsamen Währung noch der Europäischen Integration insgesamt verwirklichen. Das Bundesverfassungsgericht dafür zu kritisieren, dass es diese „Grundsatzpositionen“ der Gründerväter immer wieder zum Ausgangspunkt seiner Entscheidungen nimmt, besteht damit kein Anlass.

gierung auf eine Große Anfrage zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes, BTDrucks. 11/3139, S. 8 ff.; Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der SPD, BT-Drucks. 12/1068, S. 18 f.

Das Ende der DDR 1989/90 – eine demokratische Revolution in Deutschland! Von Burkhard Schöbener* 25 Jahre nach dem Ende der DDR bereitet die begriffliche Einordnung der Geschehnisse immer noch Schwierigkeiten. An Umschreibungen hat es schon damals nicht gefehlt: Neben der „Wende“ ist auch von „Umbruch“, „Zusammenbruch“, „Erosion“, „Scheitern“, „Implosion“ und „Untergang“1 die Rede, um nur die gebräuchlichsten Begriffe kurz in Erinnerung zu rufen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass trotz aller Unterschiede in der Akzentsetzung ihre Verwendung insbesondere den Zweck verfolgt, eine begriffliche Anknüpfung an möglicherweise vergleichbare historische Ereignisse bewusst zu vermeiden. Es handelt sich um Allerweltsbegriffe, denen jegliche wissenschaftliche (Vor-)Prägung fehlt. Das macht ihre Verwendung aber gleichzeitig auch attraktiv, wenn man – bewusst – den Begriff der „Revolution“ vermeiden möchte, weil eine demokratische Revolution2 dem sozialistisch geprägten politischen Weltbild einzelner Beobachter doch allzu sehr widerspricht.3 Bei den Befürwortern einer Bezeichnung der seinerzeitigen Ereignisse als Revolution mag hingegen ein Bedürfnis bestehen, das Lenin zugeschriebene Verdikt von der Unfähigkeit der Deutschen zur erfolgreichen Durchführung einer Revolution4 zu widerlegen, um für die Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts auch eine demokratische – und zugleich eine legale – Revolution in Deutschland registrieren zu können.

* Der Verfasser dankt seinem früheren Wiss. Mitarbeiter Dr. Martin Winkler für die Beschaffung und sorgfältige Durchsicht des Schrifttums. 1 Zusammenstellung nach Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel – Die Revolution von 1989 in der DDR, 2009, S. 537. 2 Zum Prozesshaften der demokratischen Revolution in der DDR: Günther Heydemann/ Günther Mai/Werner Müller, Einleitung, in: Heydemann/Mai/Müller (Hrsg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, 1999, S. 22. 3 Zutreffend verweist Ludger Kühnhardt, Umbruch – Wende – Revolution: Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989, in: APuZ, Bd. 40/41/1997, S. 12 ff. (18), darauf, dass es sich bei den Bezeichnungen Wende und Umbruch um „Hilfsbegriffe“ handelt, die „sich als Krücken oder sogar als ambitionierte Verniedlichung [entpuppen], nicht zuletzt, um den Gegenstand der Umwälzungen – die kommunistischen Einparteiendiktaturen – in günstigerem Licht erscheinen zu lassen“. 4 Vgl. nur das Zitat bei Christian Hillgruber, Deutsche Revolutionen – „Legale Revolutionen“?, in: Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167: „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte.“

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Revolutionen haftet etwas „Elementares“5 an, was aber auch den Blick für die Einsicht trüben kann, was dieses Fundamentale und Bestimmende jenseits aller Revolutions-Mythen für die wissenschaftliche Diskussion eigentlich ausmacht.6 Ein Vierteljahrhundert nach den historischen Ereignissen und losgelöst von der politischen und auch rechtlichen Unübersichtlichkeit der damaligen Umbruchzeit ist ein Beitrag zu einer Friedrich Bohl zu seinem 70. Geburtstag gewidmeten Festschrift ein passender Ort, um die seinerzeitigen Ereignisse in ihrer Gesamtheit begrifflich noch einmal einzuordnen, hat doch der Jubilar damals zunächst als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion (1989 – 1991), von 1991 bis 1998 dann als Chef des Bundeskanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben den Wiedervereinigungsprozess in maßgeblicher politischer Verantwortung gezielt mitgestalten können.

I. Vom schwierigen Umgang mit dem Begriff „Revolution“ Während des 20. Jahrhunderts hat sich eine „bunte Revolutions-Terminologie“7 herausgebildet, die es angesichts ihres Facettenreichtums und der unterschiedlichen inhaltlichen Prägungen besonders schwer macht, einen weitgehend konsentierten Begriffsinhalt festzustellen. Zu substanzlos und konturenarm wird der Begriff oftmals verwendet, zu widersprüchlich sind häufig seine Einzelaspekte,8 oder er dient sogar zur Kennzeichnung grundlegender Veränderungen in den Bereichen Wissenschaft und Technik.9 Notwendig ist deshalb zunächst die Einsicht, dass die Revolution im klassischen Verständnis einen Bezug zur modernen Staatlichkeit aufweist, indem sie eine tiefgreifende, eben „revolutionäre“ Veränderung ihrer Rechts- und Gesellschaftsordnung betrifft. Darüber hinaus bedarf es einer grundsätzlichen Differenzierung zwischen den mit dem Begriff Revolution verbundenen Erkenntnisinteressen und terminologisch-inhaltlichen Besonderheiten einzelner Wissenschaftszweige (dazu unter 2., 3.). Außerdem sind – worauf zunächst kurz eingegangen werden soll (1.) – die bereits 1989/90 artikulierten Vorbehalte gegen diese Begriffsverwendung zu berücksichtigen. 5 Wilfried Fiedler, Zur rechtlichen Bewältigung von Revolutionen und Umbrüchen in der staatlichen Entwicklung Deutschlands, in: Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436 ff. (442). 6 Zurückhaltend auch Fiedler (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436 ff. (452), wonach auf der Grundlage des Revolutions-Mythos „nur sehr begrenzte Antworten auf konkrete Rechtsfragen zu gewinnen sind“. 7 Fiedler (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436. 8 Prägnant Reinhart Koselleck, Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 653 ff. (656): „Es gibt kaum einen geschichtlichen Grundbegriff, der so sehr Einmaligkeit und Wiederholbarkeit, diachrone und synchrone Aspekte in sich versammelt wie der Begriff ,Revolution‘. Diese Verschränkungen zwingen sprachlich zu dauernden, logisch einander widersprechenden Anpassungen in der Metaphorik“. 9 Man denke nur an die Bezeichnungen „industrielle Revolution“ oder „digitale Revolution“, die im hier maßgeblichen Kontext ohne Relevanz sind.

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1. Vorbehalte gegen den Revolutionsbegriff im konkreten historischen Kontext Dass der Begriff massive Bedenken oder sogar strikte Ablehnung von denjenigen erfahren hat, die sich von den Geschehnissen im Ergebnis entweder generell – in politischer oder staats- und verfassungsrechtlicher Hinsicht – etwas anderes versprochen hatten oder individuell ihre Hoffnungen, Träume und Wünsche nicht verwirklichen konnten, ist durchaus verständlich. In den Augen mancher Zeitzeugen und politischer Aktivisten hatte sich die Revolution selbst diskreditiert; man hatte sie „abgebrochen“; sie war „unvollendet“ geblieben.10 Schon für die Volkskammer verzeichnete das Protokoll einer Sitzung im April 1990, in der die Abgeordnete Brigitta Kögler (Demokratischer Aufbruch) ausführte: „Wir haben eine Revolution durchgeführt“, zu den Reaktionen im Plenum: „schallendes Gelächter, vereinzelt Beifall“.11 Zudem hat – wie Ilko-Sascha Kowalczuk12 zutreffend konstatiert – „die bundesdeutsche etablierte Historiographie bis zum heutigen Tag die erste erfolgreiche deutsche Revolution nicht als ihr Thema entdeckt“. Die Gründe dürften allenfalls am Rande darin liegen, dass Revolution angeblich ein „suggestiver Begriff“13 sei. Wissenschaftlich ernster zu nehmen sind hingegen die Argumente, die darauf abstellen, die außenpolitischen Bedingungsfaktoren seien ausschlaggebend gewesen und das Regime habe keinen Widerstand geleistet, weshalb die Bezeichnung als Revolution unangemessen sei und gezielt der „Zusammenbruch“ der DDR als Gegenbegriff verwendet wird.14 Für die Revolutions-Befürworter ist hingegen maßgeblich, dass „das SEDRegime beseitigt wurde. Es brach nicht von allein zusammen“.15 2. Soziologischer und geschichtswissenschaftlicher Revolutionsbegriff Auch die Soziologie, die Politikwissenschaft und – vor allem – die Geschichtswissenschaft pflegen ihren am jeweils eigenen Erkenntnisinteresse ausgerichteten, 10 Vgl. Sigrid Koch-Baumgarten/Katharina Gajdukowa/Eckhart Conze, Einleitung, in: Eckhart Conze/Katharina Gajdukowa/Sigrid Koch-Baumgarten (Hrsg.), Die demokratische Revolution 1989 in der DDR, 2009, S. 7 (14), m. w. N. 11 Protokolle der Volkskammer der DDR, 10. Wahlperiode, 2. Sitzung vom 12. 4. 1990, S. 36; zitiert auch von Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 (201). 12 Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 544 f. 13 Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland: Die Geschichte der Wiedervereinigung, 2009, 117, der aber selbst einen dem juristischen angenäherten Revolutionsbegriff verwendet und eine „deutsche Revolution“ bejaht. 14 So Hans Joas/Martin Kohl, in: dies. (Hrsg.), Der Zusammenbruch der DDR, 1993, S. 9; ähnlich Erich Loest, Der Letzte macht das Licht aus, in: Martin Hermann (Hrsg.), Zwanzig Jahre friedliche Revolution, 2010, S. 49 ff. (55): „Das DDR-Gefüge, die kommunistische Einparteiendiktatur brach zusammen ohne Druck einer anderen Kraft, sie war eine Fehlgeburt von Anfang an, pleite, erledigt, sie hauchte ihren Ungeist aus.“ 15 Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 539.

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im Detail keineswegs einheitlichen Revolutionsbegriff. In der Historiographie dient er der Verdichtung historischer, in ihrem Kausalzusammenhang und ihrer Wirkung keineswegs einem gleichbleibenden Muster folgender Ereignisse,16 um diese auf den Begriff zu bringen. Vor allem die Französische Revolution von 1789 hatte insoweit begriffsprägende Funktion;17 sie stellt quasi einen Idealtypus dar, der allerdings schon bei der Bestimmung der für das „Ideale“ maßgeblichen Kriterien nicht unwesentliche Schwierigkeiten aufwirft.18 1789 hallt beispielsweise noch nach, wenn man die Revolutions-Definition von Reinhart Koselleck19 zugrunde legt, der damit „die mit Gewalt verbundenen Unruhen eines Aufstands [erfassen will], der sich zum Bürgerkrieg steigern kann, jedenfalls einen Wechsel der Verfassung herbeiführt.“ Dass hier die Französische Revolution zum historischen Vorbild diente, ein Vorbild, das aber ohne Schwierigkeiten auch als wissenschaftliche Blaupause der Glorious Revolution (1688) und der russischen Oktoberrevolution (1917) dienen kann, ist offensichtlich. Dasselbe gilt aber auch für sehr viel abstrakter formulierte Umschreibungen geschichtswissenschaftlicher Provenienz.20 Vor dem Hintergrund der Jahre 1989/90 in der DDR ist die an historischen Vorbildern ausgerichtete Umschreibung eines bestimmten Typus von Revolution jedoch in Frage gestellt worden. Kontrastiert wird diese Methode der Typisierung durch andere Historiker, indem man „das Deutungsangebot (…) pluralisiert: (…) Ursachen, Verlauf, Ereignisse und Merkmale von Revolutionen entziehen sich universellen Generalisierungsversuchen, so dass nationale, regionale und zeitliche Spezifika berücksichtigt werden: Jede Revolution weist ihre eigene singuläre Merkmalskonstellation auf.“21 Diese Erkenntnis wird auf den ersten Blick auch und gerade durch die DDRRevolution belegt, bei der eine Vielzahl externer und interner Ursachen in einer be-

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S. nur Charles Tilly, Die europäischen Revolutionen, 1993. Vgl. dazu Florian Scriba, „Legale Revolution“?, 2. Aufl. 2009, S. 57 ff. 18 Zur „Typologie“ des Revolutionsbegriffs in der Geschichtswissenschaft s. nur Koselleck (Anm. 8), in: Brunner/Conze/Koselleck, S. 653 ff. (654). Beispiel für eine typisierende Erfassung des Revolutionsbegriffs auch bei Hans H. Klein, Verfassungskontinuität im revolutionären Umbruch? – Die Verfassung der DDR zwischen dem 7. Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990, in: Peter Badura/Rupert Scholz (Hrsg.), Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 459 ff. (463 f.), unter Verweis auf Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, 1973, S. 20 ff. 19 Koselleck (Anm. 8), in: Brunner/Conze/Koselleck, S. 653 ff. (653 f.). Der Begriff der „Verfassung“ dürfte hier in einem eher nicht-juristischen Sinn zu verstehen sein, zumal Koselleck in diesem Zusammenhang auch einen „langfristigen Strukturwandel, der aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht“, anspricht und als Beispiele u. a. Veränderungen in den Bereichen „Industrie“ und „Kultur“ nennt. 20 Vgl. nur Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 548: „Revolutionen haben ihren Sinn in der Negation und im Wiederbeginn und in der Suche nach Neuem. Erfolgreiche Revolutionen setzen definitiv ein Ende und veranschaulichen zugleich, dass Geschichte selbst in einer scheinbaren Stillstandsphase niemals aufhört weiterzugehen“ (Hervorhebung i.O.). 21 So Koch-Baumgarten/Gajdukowa/Conze (Anm. 10), in: Conze/Gajdukowa/KochBaumgarten, S. 7 ff.(16), mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 17

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sonderen historischen Situation zusammengefunden haben.22 Was macht aber dann – im historischen Vergleich – eine Revolution aus? Die Antwort darauf kann nur ein Blick auf die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Umbruchsituationen geben, ohne dass damit die Besonderheiten ausgeblendet werden. Wie nachfolgend für den rechtswissenschaftlichen Revolutionsbegriff zu zeigen ist, bietet sich dafür besonders die Methode der Typenbildung an. Aber auch Soziologie sowie Geschichtsund Politikwissenschaft sind in diesem Zusammenhang – trotz der grundsätzlichen Unterschiede im Erkenntnisinteresse – mit der Methode der Typenbildung vertraut.23 3. Rechtswissenschaftlicher Revolutionsbegriff Auch der rechtswissenschaftliche Revolutionsbegriff ist historisch geprägt, besitzt aber eine eigenständige Zielrichtung. Im Unterschied zu anderen Wissenschaften gilt das revolutionstheoretische Erkenntnisinteresse der Rechtswissenschaft der konkreten Frage nach dem Fortbestehen der Rechtsordnung, das des Staatsrechts insbesondere nach dem Fortbestehen der staatlich-rechtlichen Grundordnung. Einigkeit besteht über den rechtswissenschaftlichen Revolutionsbegriff insoweit, „dass ein herrschendes staatstragendes System beseitigt und durch ein neues ersetzt wird“,24 und zwar mit dem Anspruch auf dauerhafte Auswechslung der normativen Verfassungsordnung. Im Zentrum dieser verfassungsrechtlichen Zäsur steht das grundlegende Legitimationsprinzip der jeweiligen Verfassungsordnung, nämlich – in einer idealtypischen Entgegensetzung – die Entscheidung zwischen einem demokratischen und einem autokratischen System nach dem Kriterium der Art und Weise der Legitimation staatlicher Herrschaft.25 „Von einer Revolution im Rechtssinne ist jedenfalls dann zu sprechen, wenn an die Stelle des die bisherige Ordnung des Staates und der Gesellschaft legitimierenden Prinzips ein anderes tritt, die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens ausgetauscht wird, wenn mit anderen Worten der Träger der verfassungsgebenden Gewalt wechselt.“26 Verbunden ist damit zwingend ein Wechsel in der konkreten Staatsform nach Maßgabe einer bipolaren Staatsfor-

22 Zusammenstellung der Ursachen bei Wilfried Fiedler, Die deutsche Revolution von 1989: Ursache, Verlauf, Folgen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Die Einheit Deutschlands, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII: Die Einheit Deutschlands – Entwicklung und Grundlagen, 1995, § 184, Rn. 44 ff. 23 Zu „unterschiedlichen Revolutionstypen“ vgl. nur Kühnhardt (Anm. 3), in: APuZ B 40/ 41/97, 12 (15); außerdem Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, 3. Aufl. 2010, S. 74 f. 24 Fiedler (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436; ders. (Anm. 22), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 184, Rn. 13. 25 Burkhard Schöbener/Matthias Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 2013, Rn. 5/16. 26 Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (464 f.); ebenso auf den Wechsel der verfassungsgebenden Gewalt abstellend: Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 (im Anschluss an Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 94).

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menlehre, die eine Grundsatzunterscheidung trifft zwischen einer Demokratie und einer Autokratie und deren je spezifischer Legitimation.27 An diesem so näher bestimmten juristischen Revolutionsbegriff fällt auf, dass er nicht – wie sonst bei Rechtsbegriffen weithin üblich – ein abstrakt-genereller, einer Definition zugänglicher Begriff ist,28 der nach dem allgemeinen Subsumtionsmuster des „Entweder-oder“ vom Grenzfall her gedacht wird, sondern ein Typus-Begriff, der ein „Mehr-oder-weniger“ der Zuordnung ermöglicht.29 Der Typus ist nämlich, wie Detlef Leenen30 einmal zutreffend formuliert hat, „ein ,Gefüge‘, ein sinnvoll strukturiertes Ganzes, in dem jedes ,Moment‘ auf ein ,Sinnzentrum‘, einen ,geistigen Kern‘ bezogen und dadurch in seiner Funktion, in seiner Bedeutung vom Ganzen her bestimmt ist.“ Mit anderen Worten: „Typologische Zuordnung ist Vergleich eines Einzelfalles mit dem Typus unter bestimmten Wertgesichtspunkten“, um auf diese Weise eine wertorientierte Zuordnung am Maßstab des (Ideal-) Typus vorzunehmen.31 Übergangs- und Zwischenformen bei der Systemtransformation sind dabei nichts Ungewöhnliches und stellen den rechtswissenschaftlichen Revolutionsbegriff nicht in Frage.32 Maßgeblich ist allein, dass im „Sinnzentrum“ der Ereignisse die fundamentale Änderung des Legitimationsprinzips durch Austausch des Legitimationssubjekts steht. Ohne Relevanz ist die Revolution hingegen für das Entstehen, die Fortexistenz und den Untergang eines Staates.33 Das konkrete Völkerrechtssubjekt selbst bleibt von einem fundamentalen Austausch des Legitimationssubjekts und der damit einhergehenden Neukonstituierung der Verfassungsidentität gänzlich unberührt. In diesem typologischen Verständnis hat der Revolutionsbegriff – angesichts seiner Undefinierbarkeit – den deutlichen Vorteil, dem rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresse eine überzeugende Folie zu bieten. Es überrascht deshalb nicht, dass auch die anderen Wissenschaften sich dem staats- und verfassungsrechtlichen Verständnis zunehmend annähern, auch wenn nicht immer klar wird, ob der jeweils

27

Schöbener/Knauff (Anm. 25), Allgemeine Staatslehre, Rn. 4/122, 5/2 und 5/16 ff. Zur Definitionsfeindlichkeit des Begriffs Revolution siehe nur Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 537 ff. 29 Zu „Revolution“ als Typus-Begriff s. auch Schöbener/Knauff (Anm. 25), Allgemeine Staatslehre, Rn. 4/109; allgemein zur Typusbildung: Rn. 1/18 ff. 30 Detlef Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 46 f. (unter Verweis auf eine ältere Definition von Larenz). 31 Leenen (Anm. 30), Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 39 f. 32 Vgl. Fiedler (Anm. 22), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 184, Rn. 13, der ebenfalls von einer „Typisierung des Revolutionsbegriffs“ spricht. 33 Schöbener/Knauff (Anm. 25), Allgemeine Staatslehre, Rn. 3/80, 4/136; Fiedler (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436 ff. (443 f.). 28

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zugrunde gelegte Verfassungsbegriff in einem juristischen (engen) Sinn gemeint ist oder möglicherweise durch soziologische Konnotationen erweitert wird.34 II. „Wir sind das Volk“ – „Wir sind ein Volk“: Demokratie und nationale Einheit Vor allem im Vergleich zu den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten erfolgte der Aufstand in der DDR nicht nur auf der Zeitschiene recht spät; er wurde auch ganz nachdrücklich geprägt von der Besonderheit, dass eine Nation ihre gesamtstaatliche Einheit wiedererlangen wollte.35 Freilich stand dieses Revolutionsziel keineswegs am Anfang der Ereignisse. Am inhaltlichen Wandel der Parolen auf den Transparenten der Demonstranten, deren Montagsdemonstrationen den größten politischen Druck auf das Regime ausübten, lässt sich anschaulich die Entwicklung in den Zielsetzungen verdeutlichen. Noch im Sommer 1989 versinnbildlichte der Spruch „Wir wollen raus!“ den Wunsch nach Gewährung der Ausreisefreiheit, während nur kurze Zeit später der völlig konträre Satz „Wir bleiben hier!“36 mehr als jede programmatische Rede hervorhob, dass sich die Zielrichtung der großen Mehrheit der DDR-Bewohner mittlerweile grundlegend gewandelt hatte – jetzt ging es primär darum, nach innen politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Das aber war ohne die notwendige Legitimation nicht vorstellbar – was mit einer gewissen Zwangsläufigkeit darauf hinauslief, dem autokratischen Legitimationssystem der DDR die Legitimation des aufbegehrenden Volkes entgegenzustellen, die nicht besser hätte ausgedrückt werden können als in dem Satz „Wir sind das Volk!“, der – als eine Art „Verfassungsparole“37 – erstmals am 9. Oktober 1989 in Leipzig skandiert wurde. Und schon die ersten Novemberdemonstrationen fügten auf Transparenten den Satz hinzu: „Wir sind ein Volk!“38 Nachdrücklich verdeutlicht wurde dadurch die gemeinsame nationale Identität. In ihrer Betonung zeigt sich aber nur die eine Seite der (Wiedervereinigungs-)Medaille in Form der ethnischen, historischen und kulturellen Zusammengehörigkeit. Auf der 34

So etwa bei Rödder (Anm. 13), Deutschland einig Vaterland: Die Geschichte der Wiedervereinigung, S. 116 f.; s. auch Heydemann/Mai/Müller (Anm. 2), in: dies., Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, S. 20. 35 Zu den historischen Ereignissen vgl. Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung – Leipzig und die Revolution in der DDR, 1993, S. 136 ff. 36 Vgl. dazu Fiedler (Anm. 22), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 184, Rn. 36 f. 37 Bernhard Schlink, Deutsch-deutsche Verfassungsentwicklungen im Jahr 1990, in: Der Staat, Bd. 30 (1991), S. 163. Diese Parole wurde zum „Symbol, das die Revolution, ihren Verlauf und ihren Gehalt deutlicher, kürzer und doch inhaltsreicher wiedergibt“ als selbst die Bilder von der überwundenen Berliner Mauer, wie Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution von 1989, 2009, S. 304, zutreffend festhält. 38 Vgl. Thomas Würtenberger, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 1995, § 187, Rn. 6. Zutreffend stellt Josef Isensee, Verfassungsrechtliche Wege zur deutschen Einheit, in: ZParl 1990, S. 309 ff. (310), dazu fest: „Die demokratische Revolution und die nationale Revolution in der DDR lassen sich nicht trennen.“

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anderen Seite – in diesem Moment für die staatliche Einigung wahrscheinlich sogar bedeutsamer – stand die Einheitlichkeit der deutschen Staatsangehörigkeit, an der jedenfalls das Bundesverfassungsgericht39 immer festgehalten hatte – gegen den massiven Widerstand des überwiegenden Teils des bundesdeutschen Politestablishments.40 Damit bildete die einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit einen rechtlichen Grund, aber auch einen politischen Stabilisator für die weitere Entwicklung mit dem Ziel, das Staatsvolk wieder in einem Staat zu vereinen. III. Verfassungsrechtliche Umwälzungen in der DDR als „Revolution“ 1. Austausch des Legitimationssubjekts Bei den Ereignissen in der DDR im Herbst/Winter 1989/90 ist das Entfallen des bisherigen Legitimationssubjekts augenfällig. Nach kommunistischem Staatsverständnis bildeten die „Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei“ (Art. 1 Abs. 1 DDR-Verfassung) das Legitimationssubjekt, dem zugleich die Aufgabe der „Führung“ des Staates übertragen wurde. Das daraus zugleich abgeleitete politische Führungsmonopol der SED war jedoch schon im Herbst 1989 nicht länger aufrechtzuerhalten. Gewissermaßen beurkundet wurde die Delegitimierung der SED – wie des gesamten politischen Systems – durch die bereits am 1. Dezember 1989 vorgenommene ersatzlose Streichung des bisher in der „Staatsfundamentalnorm“41 unmittelbar am Anfang der DDR-Verfassung enthaltenen uneingeschränkten Führungsanspruchs der „Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. Nicht gestrichen wurden hingegen die Formulierungen, dass die DDR „ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ und „die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land“ sei. Trotz dieser verbliebenen sozialistischen Fragmente ist die inhaltliche Modifikation des Art. 1 DDR-Verfassung als „der erste Schritt zu einem Wechsel der Staatsform“42 zu begreifen.

39 Grundlegend: BVerfGE 36, 1 (15); 77, 137 (147 ff.). Noch im Oktober 1987 hatte das BVerfG (E 77, 137/161) betont: „Ausschlaggebend dafür, daß es nicht dem allgemeinen Völkerrecht widerspricht, wenn für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes auch die Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik auf die oben bezeichnete Weise umfaßt, ist indes der Umstand, daß die Spaltung Deutschlands nicht vom Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes gedeckt ist. Vielmehr hält das deutsche Volk in seiner überwältigenden Mehrheit sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Deutschen Demokratischen Republik an dem Willen fest, die Spaltung Deutschlands auf friedliche Weise zu überwinden und die volle staatliche Einheit wiederherzustellen.“ 40 Vgl. Fiedler (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436 ff. (439 f.). 41 Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (462). 42 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 16.

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2. Auswirkungen auf die DDR-Rechtsordnung Die erfolgreiche Revolution markiert zweifellos eine „historische Zäsur“43; darüber hinaus entzieht sie aber auch „der bisherigen Rechtsordnung ganz oder teilweise die Legitimität; je nach Ausmaß, Richtung und Intensität“.44 Wenn es der Rechtsordnung an Legitimität mangelt, dann ist aber auch ihre rechtliche Geltung grundsätzlich in Frage gestellt: „Die Revolution wirkt rechtszerstörend und rechtsbegründend zugleich.“45 Maßgeblich für eine demokratische Revolution ist deshalb, dass sich in ihr „die verfassungsgebende Gewalt des Volkes zur Geltung“ bringt.46 Jedoch führen Revolutionen – selbst wenn sie erfolgreich durchgeführt wurden – keineswegs per definitionem zu einer Vernichtung des „alten“ Rechts. Der Aufbau einer neuen politischen Ordnung setzt nämlich notwendig die Ordnungskraft des Rechts voraus; die Beseitigung der bestehenden Ordnung soll auch nicht zu Gesetzlosigkeit und Anarchie führen, sondern zunächst einmal nur die Auswechslung des Legitimationssubjekts bewirken. Für die Rechtsordnung insgesamt, zumindest aber ihre staats- und verfassungstragenden Säulen, muss dies keineswegs in eine formale Aufhebung entsprechender Gesetze oder Einzelnormen münden. Vielmehr kann sich die Auswechslung des Legitimationssubjekts auch auf eine Änderung der Gesetzesund Einzelnorminterpretation beschränken, sofern schon auf diese Weise den modifizierten Legitimationsbedingungen hinreichend Rechnung getragen werden kann. 3. Insbesondere: die DDR-Verfassung Dass die DDR-Verfassung zumindest in Teilen auch in der Umbruchzeit Beachtung fand, ist offensichtlich. Umstritten war allerdings, ob die damit vorausgesetzte Anerkennung allein faktischer Natur war oder ob die Verfassung doch noch einen grundsätzlichen Geltungsanspruch besaß. Namhafte (west-) deutsche Staatsrechtslehrer47 verfochten die These, dass die DDR-Verfassung im Zuge der Geschehnisse spätestens im Zusammenhang mit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 untergegangen sei; andere bejahten ihren Geltungsanspruch auch weiterhin.48 Jedenfalls erfuhr die DDR-Verfassung vom 6. April 1968 (in der Fassung des Gesetzes vom 7. Oktober 1974) etliche Änderungen (a)), mit denen die Volkskammer verdeutlichte, dass sie jedenfalls grundsätzlich bereit war, den rechtlichen Geltungsanspruch des Verfassungsgesetzes zu akzeptieren, allerdings nur unter fundamentaler Veränderung seiner Gesamtidentität (b)). 43

Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 548. Fiedler (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436 ff. (437). 45 Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (465); Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 548. 46 Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (465). 47 Nachweise bei Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (470 ff.), der diese Ansicht ebenfalls vertritt. 48 So etwa Fiedler (Anm. 22), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 184, Rn. 61. 44

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a) Verfassungsänderungen Die grundsätzliche Befolgungsfaktizität von Volkskammer und Rundem Tisch spricht – ganz im Sinne von Georg Jellineks Satz von der „normativen Kraft des Faktischen“49 – prima facie für eine Fortgeltung der DDR-Verfassung auch in der Revolutionsphase. Mit jeder Änderung der DDR-Verfassung bestätigte die Volkskammer ihren grundsätzlichen Geltungsanspruch.50 Dennoch konnten die Änderungen – jedenfalls bis zum Inkrafttreten des Verfassungsgrundsätzegesetzes (VGS-G) – auf dem Weg in eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung nicht mehr als „Flickwerk“51 sein. aa) Textänderungsgebot Art. 106 der DDR-Verfassung52 enthielt ursprünglich ein ausdrückliches Textänderungsgebot, das von der Volkskammer auch eingehalten, dann aber mit dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR vom 17. Juni 1990 (sog. Verfassungsgrundsätzegesetz, VGS-G)53 modifiziert wurde. Damit war in den letzten Monaten der DDR eine Abweichung vom Prinzip der ausschließlichen Verfassungsurkunde zulässig, die es erlaubte, verfassungsrechtliche Regelungen auch außerhalb der Verfassung selbst zu normieren (sog. Verfassungsdurchbrechung),54 sofern nur die Bezeichnung des neuen Gesetzes als „Verfassungsgesetz“ erfolgte und das qualifizierte Mehrheitserfordernis (Zustimmung von zwei Drittel der gewählten Abgeordneten; Art. 63 Abs. 2 S. 2 DDR-Verf.) eingehalten wurde. bb) Einzelne Textänderungen Jedoch schon zuvor, unter Geltung des „alten“ Art. 106 DDR-Verfassung, hatte die Volkskammer – bis zu den Wahlen vom 18. März 1990 noch in der Zusammensetzung der letzten „Wahlen“ vom Juni 1986 – mehrere Verfassungsänderungen vorgenommen, „die zu einer – in der Sache revolutionären – Umgestaltung der Verfas-

49 Dazu Andreas Anter (Hrsg.), Die normative Kraft des Faktischen: das Staatsverständnis Georg Jellineks, 2004. 50 Schlink (Anm. 37), Der Staat, Bd. 30 (1991), S. 163 ff. (172). 51 So Schlink (Anm. 37), Der Staat, Bd. 30 (1991), S. 163 ff. (164). 52 Art. 106 DDR-Verfassung lautete in der ursprünglichen Fassung: „Die Verfassung kann nur von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik durch Gesetz geändert werden, das den Wortlaut der Verfassung ausdrücklich ändert oder ergänzt.“ 53 GBl. DDR I S. 299. 54 Art. 9 VGS-G lautete (im Auszug): „Art. 106 der DDR-Verfassung wird wie folgt gefasst: […] Die Verfassung kann nur von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik durch Gesetz geändert werden, das ausdrücklich als Verfassungsgesetz bezeichnet ist. […]“ (Hervorhebung B. Sch.).

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sungsordnung führten“.55 Hinzu kamen weitere (einfache) Gesetze, mit deren Verabschiedung die Volkskammer die rechtsstaatliche Transformation weiter ausbaute.56 Die grund- und menschenrechtlichen Gewährleistungen hatten in der Zeit der uneingeschränkten SED-Herrschaft trotz ihrer Erwähnung in der DDR-Verfassung und der ausdrücklichen Hervorhebung ihrer rechtlichen Verbindlichkeit57 weder die nötige materielle Normativität besessen noch waren sie gerichtlich durchsetzbar gewesen.58 Deshalb kam es bereits vor der ersten freien Volkskammerwahl, verstärkt aber danach mit der entsprechend umfassenden demokratischen Legitimation,59 zu etlichen Verfassungsänderungen, um die bisherigen Normen den Anforderungen eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates näherzubringen (z. B. zum Eigentumsrecht, zu freien Wahlen, zur Alternative von Wehr- und Zivildienst, zur Gründungs- und Betätigungsfreiheit von Gewerkschaften, zum Kommunalverfassungsrecht). Außerdem wurden mehrere Gesetze erlassen, die „in Ausgestaltung“ der bisher schon – rein formal – in der Verfassung aufgeführten Grundrechtsgewährleistungen, insbesondere zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 28 und 29 DDR-Verfassung), die erforderlichen Durchführungsbestimmungen enthielten und damit neben der eigentlichen subjektiven Verbürgung der Rechtssicherheit dienten. Verbunden war damit der radikale Bruch mit dem sozialistischen Verständnis politischer Freiheit zugunsten des pluralistischen Freiheitsverständnisses60 westlicher Verfassungsstaaten. Aber auch die staatsorganisationsrechtliche Architektur bedurfte gezielter Veränderungen. Dazu gehörte insbesondere die Abschaffung des bisherigen Staatsrates (5. April 1990) durch eine Verfassungsänderung (Art. 75a DDR-Verfassung) und die Übertragung seiner Befugnisse auf das Präsidium der Volkskammer. Besonders akut – und tagespolitisch aktuell – wurde die verfassungsrechtliche Fortgeltungsproblematik dann bei der von den Mitgliedern der Regierung von Lothar de Maizière zu leistenden Eidesformel, die eigentlich „auf die Verfassung“ (Art. 79 Abs. 4 DDR55 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 14. Die zahlreichen Verfassungsänderungen seit Dezember 1989 „dokumentieren die Erfolge der Revolution. Die DDR-Verfassung wurde geradezu zum Spiegelbild der revolutionären Veränderungen“ (ebd., Rn. 1). 56 Nachweise zu den Fundstellen der nachstehend in Bezug genommenen Gesetze bei Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (462 f.); Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 17 ff. 57 Art. 105 DDR-Verfassung lautete: „Die Verfassung ist unmittelbar geltendes Recht.“ 58 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 13, spricht von einem „offenkundigen Widerspruch zwischen Verfassungswortlaut und Verfassungspraxis“. Zum Instrumentalcharakter des Rechts in der marxistisch-leninistischen Staatstheorie im vorliegenden Kontext: Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (197). 59 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 25, weist darauf hin, dass die 1986 gewählte Volkskammer nicht „das politische Gewicht eines demokratisch gewählten Parlaments“ besaß. Das gilt natürlich erst recht für ihre fehlende demokratische Legitimation. 60 Dazu auch Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 27.

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Verfassung) zu leisten gewesen wäre.61 Statt – wie es Art. 68 DDR-Verfassung noch vorsah – die Verpflichtung zu übernehmen, die „Kraft dem Wohle des Volkes der Deutschen Demokratischen Republik [zu] widmen, ihre Verfassung und die Gesetze [zu] wahren“, war in einer neuen Fassung ganz allgemein vom „Wohle des Volkes“ (ohne ausdrücklichen Bezug auf die DDR-Bevölkerung) und den „Rechte[n] und Gesetze[n]“ der DDR die Rede. Die „Verfassung“ als solche fand keine Erwähnung mehr, obwohl kaum Zweifel bestanden haben dürften, dass auch diese von der Formulierung „Rechte und Gesetze“ erfasst wurde.62 Mit der neuen Formel vermied man allerdings einen allzu offensichtlichen inhaltlichen Widerspruch, der mit der Vereidigung auf die Verfassung in ihrem ursprünglichen (sozialistischen) Verständnis verbunden gewesen wäre.63 Den vorläufigen Schlusspunkt unter die verfassungsbezogenen Änderungen und Streichungen auf dem Weg zu einer Verfassungsordnung westlicher Prägung setzte das Verfassungsgrundsätzegesetz (s. o.), dessen Präambel sowohl den Übergangscharakter dieser Ordnung als auch die maßgeblichen Verfassungsgrundsätze hervorhob: „In der Erkenntnis, daß in der Deutschen Demokratischen Republik im Herbst 1989 eine friedliche und demokratische Revolution stattgefunden hat, und in der Erwartung einer baldigen Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wird für eine Übergangszeit die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik um folgende Verfassungsgrundsätze ergänzt. Entgegenstehende Verfassungsgrundsätze besitzen keine Rechtsgültigkeit mehr.“ Gemeint war mit den „folgenden Verfassungsgrundsätzen“ vor allem die Aufzählung in Art. 1 Abs. 1 S. 1 VGS-G: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und ökologisch orientierter Rechtsstaat.“ Und Art. 1 Abs. 2 VGS-G machte den in der Präambel bereits angesprochenen Geltungsvorrang dieses Gesetzes gegenüber (auch) der bisherigen DDR-Verfassung sowie die Notwendigkeit der verfassungsgrundsätzekonformen Interpretation noch einmal deutlich: „Vorschriften der Verfassung und sonstige Rechtsvorschriften sind entsprechend diesem Verfassungsgesetz anzuwenden. Bestimmungen in Rechtsvorschriften, die den einzelnen oder Organe der staatlichen Gewalt auf die sozialistische Staats- und Rechtsordnung, auf das Prinzip des demokratischen Zentralismus, auf die sozialistische Gesetzlichkeit, das sozialistische Rechtsbewußtsein oder die Anschauungen einzelner Bevölkerungsgruppen oder Parteien verpflichten, sind aufgehoben.“

61 Zur damaligen Diskussion: Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (201 f.). 62 Siegfried Mampel, Das Ende der sozialistischen Verfassung der DDR, in: DA 1990, S. 1377 ff. (1386), der in der Nichterwähnung der Verfassung auch keinen Hinweis auf ihre möglicherweise „mindere Bedeutung“ zu erkennen vermag. 63 Andernfalls hätte die nach den Wahlen vom 18. 3. 1990 ins Amt berufene Regierung „ihren Eid beharrlich brechen [müssen], um den Idealen der Revolution treu zu bleiben und die deutsche Staats- und Verfassungseinheit herzustellen“, wie Josef Isensee, Verfassungsrechtliche Wege zur deutschen Einheit, in: ZParl 1990, S. 309 ff. (323), anmerkt.

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b) Fortgeltung vs. Neugeltung der DDR-Verfassung Angesichts der revolutionären Ereignisse 1989/90 war und ist bis heute umstritten, ob die DDR-Verfassung damals ihren Geltungsanspruch verloren hat. Beachtliche Stimmen, zumal aus dem Kreis der (west-)deutschen Staatsrechtslehrer, sprachen sich für eine revolutionäre Vernichtung des Verfassungsrechts aus;64 andere wiederum vermerkten eine (zumindest beschränkte) Kontinuität;65 und einer meinte gar, es sei jedenfalls im Nachhinein müßig darüber zu diskutieren, ob die DDR-Verfassung obsolet geworden sei oder nicht – „jedenfalls war das Nachdenken darüber obsolet geworden“.66 Der Geltungsanspruch der DDR-Verfassung, die unter der SED-Herrschaft lediglich als „Herrschaftsinstrument der SED-Führung“ gedient hatte, ohne dass die SED selbst ihr unterworfen war,67 bestand in der Revolutionszeit keineswegs in einem umfassenden Sinne. Er erstreckte sich vorrangig auf die organisatorischen und verfahrensrechtlichen Verfassungsmaßgaben. Die Grundrechtsnormen wurden erst durch ihre einfachgesetzlichen Konkretisierungen (s. o.) zu wirklichen Rechtsgarantien. Auch ist in diesem Zusammenhang der (in der Rechtswissenschaft als Gegenbegriff zur förmlichen Verfassungsänderung herangezogene) Begriff des „Verfassungswandels“68 bemüht worden, der seinen stärksten Ausdruck in der „Uminterpretation der Grundrechte“69 gefunden hat und auf diese Weise eine „revolutionäre Umgestaltung der zuvor geltenden Verfassungsrechtslage“70 herbeiführte. Ermöglicht wurde der radikale Austausch von Legitimationssubjekt und Interpretationsmaßgaben vor allem durch das Fehlen einer „Ewigkeitsgarantie“, wie sie Art. 79 Abs. 3 GG bereits seit 1949 für die Bundesrepublik Deutschland vorschreibt. So standen – jedenfalls im Grundsatz – weder der Wortlaut71 noch die Gesamtintention der Verfassung einer „Uminterpretation“ ihrer Inhalte entgegen.72 64 Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459, m. w. N.; ders., Zur Verfassungslage Deutschlands, Sonderheft ZG 1990, S. 31 ff. (32); Isensee (Anm. 38), ZParl 1990, S. 309 ff. (321). 65 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 40 ff., m. w. N., der die Vernichtung des „Kerns der sozialistischen DDR-Verfassung“ auf den 17. Juni 1990 datiert (Rn. 46 f.);, Das Ende der sozialistischen Verfassung der DDR, in: DA 1990, S. 1377 ff. (1382). 66 Schlink (Anm. 37), Der Staat, Bd. 30 (1991), S. 163 ff. (175); dagegen dezidiert Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 f. 67 Isensee (Anm. 38), ZParl 1990, S. 309 ff. (323). 68 Etwa von Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 24. Zu diesem Begriff (allerdings in einem umfassenderen Verständnis) s. auch Koselleck (Anm. 8), in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, S. 653 (655). 69 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 26; vgl. auch Mampel (Anm. 62), DA 1990, S. 1377 ff. (1380 ff.). 70 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 27. 71 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 14. 72 So auch Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (196).

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Unbeachtet blieben von Beginn an grundsätzlich nur diejenigen Normen, die bereits nach ihrem Wortlaut und der sich daraus ergebenden ideologischen Eindeutigkeit den gewandelten politischen Verhältnissen nicht mehr entsprachen.73 Dass sie (jedenfalls zum Teil) noch ausdrücklich aufgehoben wurden, hatte eher klarstellende bzw. verfassungshygienische Bedeutung. Eine besondere, in der Verfassung nicht vorgesehene Funktion, die auch durch eine formelle Verfassungsänderung nicht legalisiert wurde und zudem nicht demokratisch legitimiert war,74 übte seit dem 7. Dezember 1989 der Zentrale Runde Tisch aus. Er bündelte nicht nur den politischen Druck der Straße und gab den Demonstranten eine organisierte Stimme, sondern er nahm durch seine Beschlüsse massiven Einfluss auf die Volkskammer. Auch institutionell manifestierte sich dieser politische Einfluss durch den Eintritt von acht Ministern ohne Geschäftsbereich in die Regierung Modrow am 5. Februar 1990. Von da an war die Volkskammer bis zur Wahl vom 18. März 1990 faktisch ein ausführendes Organ der revolutionären Bewegung, was mit gutem Grund als „Verfassungsdurchbrechung durch Doppelherrschaft“75 bezeichnet worden ist. Verfassungsrechtlich war dies nicht zu rechtfertigen. Der Runde Tisch war weder formal zur Repräsentation des Volkes legitimiert noch bildete er die Mehrheitsverhältnisse ab, wie sie sich bei den Wahlen am 18. März 1990 ergaben. Er war „ein Gremium aus selbstermächtigten Geschäftsführern der Demokratie ohne demokratisches Mandat“.76 Seine Legitimation als „Nebenregierung“ wurzelte ausschließlich in den besonderen Bedingungen der Revolution.77 Die Fortgeltung der DDR-Verfassung hatte aber auch Grenzen. Besonders deutlich wird dies an der Weigerung der Mitglieder der de Maizière-Regierung, den Amtseid auf die „alte“ Verfassung abzulegen (s. o.). Ihren Grund hatte diese Ablehnung offensichtlich weniger im Wortlaut der mittlerweile durch die Änderungen deutlich „entschärften“ Vorschriften, als vielmehr im sozialistischen (Un-)Geist, der die DDR-Verfassung angesichts der besonderen historischen und politischen Umstände ihrer Entstehung und ihrer jahrzehntelangen Anwendung noch immer durchzog. Erst mit der Verabschiedung und Inkraftsetzung des Verfassungsgrundsätzegesetzes am 17. Juni 1990 und dessen weitreichenden verfassungsrechtlichen Folgen nahm die Volkskammer für sich das Recht in Anspruch, als verfassungsgebende Versammlung zu handeln78, um so die Verfassung mit ihrer bisherigen Programmatik 73

Ähnlich Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 43. Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (200). 75 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 28; Georg Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof, HStR I, 3. Aufl. 2003, § 11, Rn. 12: „Doppelherrschaft alter und neuer Machtträger“. 76 Isensee (Anm. 38), ZParl 1990, S. 309 ff. (321). 77 Vgl. Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (198). 78 Ebenso Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 33, wonach die Volkskammer „der Sache nach“, ohne sich dessen wohl bewusst gewesen zu sein, „als verfassunggebende Versammlung“ handelte; außerdem Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (204). 74

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umfassend zu delegitimieren und eine neue, ausschließlich demokratisch legitimierte rechtliche Grundordnung zu errichten. Aus der sozialistischen war damit eine – jedenfalls im Grundsatz – demokratische Verfassung geworden,79 die spätestens mit dem Inkrafttreten des Verfassungsgrundsätzegesetzes Mitte Juni 1990 eine völlig neue und unabgeleitete verfassungsrechtliche Gesamtentscheidung im Sinne Carl Schmitts80 widerspiegelte. Nur so legitimiert sich zudem der in der Verabschiedung des Verfassungsgrundsätzegesetzes liegende Anspruch auf Neukonstituierung, der allein von der verfassungsgebenden Gewalt erfüllt werden kann. Dass die Vorschriften der DDR-Verfassung, soweit sie nicht der Vorrangregel des Verfassungsgrundsätzegesetzes unterfielen, in der Übergangszeit in Geltung blieben, beruhte allein darauf, dass die demokratisch gewählte Volkskammer sie in ihren Willen aufgenommen und dadurch neu – und zudem demokratisch – legitimiert hatte. „In Wahrheit hatten daher auch die scheinbar fortgeltenden und weiter angewandten Organisations- und Verfahrensbestimmungen der Verfassung, entideologisiert, einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren, waren im Grunde neues, durch die Revolution zur Geltung gelangtes Recht. Nur die Worthülse war gleich geblieben.“81 Erfolgt war im Zuge der Revolution eine grundlegende Umwandlung der alten DDR-Verfassung in eine westlichem Verfassungsverständnis entsprechende staatliche Grundordnung, die abgeschlossen wurde mit dem Inkrafttreten des Verfassungsgrundsätzegesetzes.82 Denn mit diesem hatte die Volkskammer „der Sache nach eine neue Verfassung“ geschaffen.83

79 Auf dieses Kriterium stellt auch Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (195), ab, um den „revolutionären Charakter“ der politischen Umwälzungen zu begründen. 80 Nach Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl. 1989 (unveränderter Nachdruck der 1. Aufl., 1928), S. 20 ff., ist zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz zu unterscheiden. Die Verfassung ist die „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit“ (S. 20), die dem Verfassungsgesetz vorausliegt. Diese Gesamtentscheidung wurde 1989/90 im Laufe der Revolution ganz eindeutig zugunsten von Demokratie und (verfassungs-)staatlicher Einheit getroffen. 81 Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (202). Ähnlich Isensee (Anm. 63), ZParl 1990, S. 309 ff. (321): „Das Verfassungsgesetz verlor seine Geltungskraft, weil sein Geltungsgrund, die Macht des real existierenden Sozialismus, zerstört wurde.“ 82 Engere Phaseneinteilung bei Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (465), der den „maßgeblichen Zeitraum zwischen dem Sturz Honeckers (18. Oktober 1989) und der Neuwahl der Volkskammer (18. März 1990)“ bestimmt. Dass in dieser Zeit die „Diktatur des Proletariats durch den demokratischen Verfassungsstaat ersetzt“ wurde (S. 465), die „Ziele der Revolution erreicht“ (S. 466) und der „demokratische Verfassungsstaat seine Form (…) im Grundsatz gefunden hatte (S. 466), entbehrt jedoch der Nachvollziehbarkeit, da ganz maßgebliche Verfassungsänderungen, insbesondere das Verfassungsgrundsätzegesetz noch nicht verabschiedet worden waren. Ähnliche Phaseneinteilung wie Klein aber auch bei Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 9 ff., der die letzte Phase gleichfalls mit den ersten freien Wahlen der Volkskammer („Verfassungswahl“) enden lässt. 83 Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (202 f.).

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IV. Die adjektivische Konkretisierung der Revolution Schon während des politischen und rechtlichen Umbruchs hat man versucht, durch die Verwendung von Adjektiven das Spezifische dieser Revolution zu kennzeichnen: Die Rede war und ist von der „stillen“84, der „friedlichen“85 und der „legalen“ Revolution, aber auch von der „demokratischen Revolution“86, um nur die am häufigsten verwendeten Bezeichnungen zu erwähnen.87 Zu den wesentlichen Charakteristika gehört zudem ihre Utopiefreiheit.88 Das gilt jedenfalls für die Phase der politischen Konsolidierung, in der die anfänglich noch eher unorganisiert herumvagabundierenden Gesellschaftsideen sich recht schnell entweder in realistische Konzepte einfügten oder aber weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verschwanden. Das nimmt dieser Entwicklung auch keineswegs ihren revolutionären Charakter; sie ist keine „abgebrochene Revolution“.89 Alle Begriffsverwendungen setzen die Einordnung als Revolution voraus, konkretisieren oder modifizieren den Revolutionsbegriff aber – im Sinne einer Hervorhebung der historischen Spezifika – durch die Hinzufügung von einem oder sogar mehreren Adjektiven. Dadurch wird insbesondere der Tatsache Rechnung getragen, dass die Revolution als Typenbegriff diese Besonderheiten aufgrund der schlagwortartigen Verdichtung nicht wiederzugeben vermag.90 1. Legale Revolution Die Charakterisierung als legal verdankt die Revolution in der DDR vor allem der Beachtung der verfahrensrechtlichen Verfassungsnormen sowie der zumindest grundsätzlichen Orientierung an den organisationsrechtlichen Maßgaben.91 Nicht gedeckt von der bisherigen Verfassungsordnung war hingegen die formelle Änderung und revolutionäre Uminterpretation zentraler, ihre Identität prägender Bestimmungen. Eine solche Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt durch die Volkskammer92 änderte die Verfassung nicht nur partiell, sondern unterzog die Identität 84 Fiedler (Anm. 22), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 184, Rn. 13; ders. (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436 und passim. 85 Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (195). 86 Heydemann/Mai/Müller (Anm. 2), in: dies, S. 22; Rolf Gröschner, Evolution der Revolution oder: Das Ende der DDR als Fortschritt im Begriff der Freiheitsrevolution, in: JZ 2009, S. 1025 ff. (1028 ff.), spricht von einer „Freiheitsrevolution“. 87 Zu weiteren adjektivischen und substantivischen Attributen vgl. Heydemann/Mai/Müller (Anm. 2), in: dies., S. 19 f. 88 Vgl. nur Jürgen Kocka, Revolution und Nation 1989 – Zur historischen Einordnung der gegenwärtigen Ereignisse, in: ders. (Hrsg.), Vereinigungskrise – Zur Geschichte der Gegenwart, 1995, S. 9 ff. (10 f.); Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 539. 89 Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 541. 90 S. dazu auch Konrad H. Jarausch, Zehn Jahre danach: die Revolution von 1989/90 in vergleichender Perspektive, in: ZfG 48 (2000), S. 909 ff. (922 f.). 91 Näheres bei Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 43 f. 92 So auch Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 44.

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der Verfassung einer radikal neuen Legitimation, wodurch der bisherige sozialistische Verfassungsinhalt letztlich in sein (demokratisches) Gegenteil verkehrt wurde. Umstritten ist allerdings, ob die Rechtswidrigkeit überhaupt zu den konstitutiven Kriterien des rechtswissenschaftlichen Revolutionsbegriffs gehört. So vertritt etwa Hans H. Klein93 die Auffassung, „[a]lle Revolution ist, gemessen am bis dahin geltenden Recht, begriffsnotwendig illegal“, während Thomas Würtenberger94 pointiert von einer „legal-revolutionären Verfassungsablösung“ in 1989/90 spricht. Freilich lassen sich „gewisse Rechtswidrigkeiten“ durchaus konstatieren, wozu etwa die „rechts- und verfassungswidrige“ Ausreise der Einwohner über Ungarn und die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik Deutschland ebenso gehörte wie die „rechtswidrigen“ Demonstrationen.95 Aber auch wenn man von diesen eher irrelevanten Rechts- und auch Verfassungsverstößen absieht, so ist die entscheidende Frage doch, ob die Verfassungsordnung der DDR als solche in massiv rechtswidriger Weise beseitigt wurde. Dies lässt sich – gemessen an der zwingenden Festlegung der DDR-Verfassung auf eine strikt sozialistische Verfassungsordnung mit ihren autokratischen Legitimationseigenheiten – letztlich nicht bestreiten. Zum einen war der Zentrale Runde Tisch in der bisherigen Verfassungsordnung weder vorgesehen noch überhaupt demokratisch legitimiert; er war ein klassisches Revolutionsorgan. Zum anderen war die Inanspruchnahme verfassungsgebender Gewalt durch die Volkskammer, die eine Neukonstituierung zur Folge hatte, weder vom Wortlaut noch von der Gesamtintention der bisherigen DDR-Verfassung gedeckt. 2. Stille/friedliche Revolution Gerade in Bezug auf die damaligen Ereignisse in der DDR war (und ist) zudem umstritten, ob zur Erfüllung des rechtswissenschaftlichen Revolutionsbegriffs die Anwendung von körperlicher Gewalt96 im Sinne von vis absoluta erforderlich ist.97 Wenn aber – wie oben ausgeführt – im Mittelpunkt des rechtswissenschaftlichen Revolutionsbegriffs der radikale Austausch des Legitimationssubjekts der staatlichen Rechtsordnung, zumal der Verfassung, steht, dann kann es auf die Art und Weise der Herbeiführung des neuen Zustands (mit oder ohne Gewalt) nicht ankom-

93 Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (464), m. w. N.; ebenso Fiedler (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436; ders. (Anm. 22), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 184, Rn. 13. 94 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 41. 95 Würtenberger (Anm. 38), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 187, Rn. 4 f. 96 Zu den verschieden Gewaltbegriffen im staatsrechtlichen und staatstheoretischen Kontext vgl. Schöbener/Knauff (Anm. 25), Allgemeine Staatslehre, Rn. 3/8. 97 Verneinend Klein (Anm. 18), in: Badura/Scholz, Festschrift für Peter Lerche, S. 459 ff. (464), m. w. N. (auch zur Gegenansicht); wohl auch Fiedler (Anm. 22), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 184, Rn. 13 („Die Revolutionstheorie (…) fordert jedoch kein bestimmtes Ausmaß der Gewaltanwendung“); ders., (Anm. 5), Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 436.

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men. Es handelt sich dann allein um ein die Besonderheiten der jeweiligen Revolution qualifizierendes Merkmal. Dass die Demonstrationen ohne Gewaltanwendung seitens der aufbegehrenden Bevölkerung abliefen, rechtfertigt zweifellos ihre Charakterisierung als „still“ bzw. „friedlich“. Auf Seiten der Staatsmacht (Polizei und Staatssicherheit) war dies keineswegs so, wie eine Vielzahl von Verhaftungen („Zuführungen“) und Übergriffen belegt.98 Ausgeblieben ist jedoch die „chinesische Lösung“, wie sie nach der äußerst blutigen Niederschlagung der Demonstrationen im Kontext der Proteste auf dem Pekinger „Platz des himmlischen Friedens“ im Juni 1989 von vielen Beobachtern in Ost und West befürchtet worden war, zumal die maßgeblichen politischen Organe (DDR-Regierung, SED-Führung, Volkskammer) die Polizeiaktion in China ausdrücklich und lautstark begrüßt hatten.99 Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Friedlichkeit (im Sinne von Gewaltfreiheit) ist zudem die – in einem weiten Verständnis – „Rechtsstaatlichkeit“ des politischen Umbruchs besonders bemerkenswert. Die Überwindung des alten Systems geschah nicht in einem Akt anarchischer Radikalität.100 Der revolutionäre Umbruch war vielmehr eingebunden in einen gleichzeitigen Prozess der Rechtserneuerung, der nicht kurzfristig für tabula rasa sorgte, sondern fast behutsam darauf achtete, das Volk auf diesem Weg konstruktiv mitzunehmen. Außerdem darf der doppelte Bedeutungsgehalt der Friedlichkeit nicht ausgeblendet werden: Denn zum einen ist damit – wie üblicherweise im hiesigen Kontext unterstellt – der Nichtgebrauch von körperlicher und (insbesondere) Waffengewalt gemeint; zum anderen ist aber auch die Friedlichkeit in dem Sinne zu beachten, dass die Autorität des Staates nicht in Frage gestellt wird.101 Jedenfalls in diesem zweiten Verständnis waren die damaligen Geschehnisse sehr wohl unfriedlich; und in diesem Verständnis gehört die Unfriedlichkeit ohne Zweifel auch zu den unabdingbaren, begriffskonstituierenden Merkmalen einer Revolution.

98 Vgl. nur Fiedler (Anm. 22), in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 184, Rn. 15 ff., insb. Rn. 17, 23. Deutlich auch Richard Schröder, Schwerter und Pflugscharen, FAZ vom 6. 10. 2014, S. 8: „Die Leipziger und Berliner Sicherheitskräfte waren vor dem 9. Oktober keineswegs friedlich, sondern brutal. Bei den harten Auseinandersetzungen im Dresdner Hauptbahnhof, als dort die Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen durchfuhren, wurden auch 45 Polizisten verletzt. Ein Einsatzwagen ging in Flammen auf. Man hätte sich also durchaus auch einen Herbst der Straßenschlachten vorstellen können, auch in Leipzig. Ohne das Einwirken der Kirchen auf staatliche Stellen wäre die Herbstrevolution sicher nicht friedlich geblieben.“ 99 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Vorgeschichte und die Revolution 1989 in der DDR, in: Martin Hermann (Hrsg.), Zwanzig Jahre friedliche Revolution, 2010, S. 37 ff. (42 f., 46). 100 In der Vorstellung vieler „Revolutionsromantiker“ geht es hingegen noch häufig um „die Abwesenheit von Rechtsprinzipien und die Sehnsucht nach Anarchie und basisdemokratischen Strukturmodellen“; so (kritisch) Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 543. 101 Dazu Gröschner (Anm. 86), JZ 2009, S. 1025 ff. (1025 f.).

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V. Fazit In ihrer weitgehenden Utopie- und Ideologiefreiheit waren die damaligen Ereignisse in der DDR kennzeichnend für einen modernen Typus von „neuen Revolutionen“, die keines „universalistischen Fortschrittsanspruchs“ mehr bedürfen.102 Dass es sich aber überhaupt um eine Revolution gehandelt hat, dürfte – jedenfalls vor dem Hintergrund eines rechtswissenschaftlichen Revolutionsbegriffs – keinem ernsthaften Zweifel unterliegen. Das „DDR-System“ brach nicht nur faktisch und wirtschaftlich zusammen. In der Konfrontation des autokratischen – und in gewisser Weise politisch-ideologisch autistischen – Systems mit dem idealtypischen Gegenentwurf des demokratischen Verfassungsstaates setzte sich letzterer durch, weil die Menschen in der DDR in ihrer großen Mehrheit dies wollten, dafür in einer Massenbewegung auf die Straße gingen und in kurzer Zeit das Ancien Régime und seine sozialistische Ordnung beseitigten. Beendet wurde diese Revolution mit der umfassenden – und diesmal demokratischen – Legitimation der Volkskammer durch die Wahl vom 18. März 1990 und das von ihr beschlossene, am 17. Juni 1990 in Kraft getretene Verfassungsgrundsätzegesetz, das „der Sache nach eine neue Verfassung“ bildete.103 In die Wirklichkeit umgesetzt wurde auf diese Weise der im ersten Leitspruch der Montagsdemonstranten („Wir sind das Volk!“) erhobene Anspruch auf demokratische Legitimation aller Staatsgewalt. Vollendet wurde die Revolution aber erst am 3. Oktober 1990, als auch das zweite Ziel der Demonstranten („Wir sind ein Volk!“) seine staats- und völkerrechtliche Erfüllung fand. Eine demokratische und nationale Revolution in Deutschland war erfolgreich zu Ende gegangen!

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Kowalczuk (Anm. 1), Endspiel, S. 539, m. w. N. Hillgruber (Anm. 4), Der Staat, Bd. 49 (2010), S. 167 ff. (202 f.).

Drei-Mächte-Rechte in Deutschland Von Gilbert H. Gornig I. Einführung Friedrich Bohl erlebte im Amt des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers eine der glücklichsten Stunden der deutschen Geschichte, nämlich die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Entschlossenes Handeln von Bundeskanzler Helmut Kohl, von Außenminister Hans-Dietrich Genscher und allen Bundesministern trug dazu bei, dass man am 3. Oktober 1990 für viele Unglaubliches1 erleben durfte, nämlich dass die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 a. F. GG beitrat.2 Als bewegenden Augenblick seiner politischen Laufbahn bezeichnete Friedrich Bohl die Bundestagssitzung am Tag des Mauerfalls: „Als die Sitzung unterbrochen wurde, alle Abgeordneten aufstanden und die Nationalhymne sangen, da hatten selbst gestandene Staatsmänner Tränen 1 So sagte Willy Brandt als SPD-Vorsitzender: „Die Hoffnung auf Wiedervereinigung wird gerade zur Lebenslüge der Zweiten Republik“, in: Frankfurter Rundschau vom 15. 9. 1989. Gerhard Schröder, der spätere Bundeskanzler, erklärte: „Nach 40 Jahren Bundesrepublik sollte man eine Generation in Deutschland nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen. Es gibt sie nicht“, in: Bild vom 12. 6. 1989. Oskar Lafontaine äußerte als stellvertretender SPD-Vorsitzender am 18. 12. 1989 beim Parteitag in Berlin: „Wiedervereinigung? Welch historischer Schwachsinn!” Der spätere Bundespräsident Johannes Rau sagte: „Wiedervereinigung ist die Rückkehr zum Alten. Jetzt aber wird ein Zukunftsmodell gebraucht”, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. 11. 1989. Egon Bahr (SPD) meinte: „In der Teilung gibt es deutsche Chancen. Es gibt keine Chance die beiden deutschen Staaten zusammenzuführen. Klein, schwach, unwichtig sind die Deutschen geworden. Aber unerträglich für die Glaubwürdigkeit unserer Republik wäre die Fortsetzung öffentlicher Sonntagsrednerei, wonach die Wiedervereinigung vordringlichste Aufgabe deutscher Politik bleibt. Das ist objektiv und subjektiv Lüge, Heuchelei, die uns und andere vergiftet, politische Umweltverschmutzung“, in: FAZ vom 13. 12. 1988. Joschka Fischer sagte als grüner Fraktionschef in Hessen am 27. 7. 1989 in einem „Bunte“ Interview: „Ein wiedervereintes Deutschland wäre für unsere Nachbarn nicht akzeptabel. Das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz wäre in seiner Konsequenz ein Unglück für das deutsche Volk. Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Vorteil die Deutschen von einer Wiedervereinigung hätten!“ Diese Beispiele ließen sich fortführen. Vgl. dazu etwa: FOCUS Magazin Nr. 40 (2000). 10 Jahre Einheit – Wendehälse. „Illusion, nicht Vision“, in: http://www.focus.de/politik/deutschland/10-jahre-einheit-und150-wendehaelse-illu sion-nicht-vision_aid_185563.html. 2 Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Einigungsvertrag lautet: „Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 werden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland.“ Text: BGBl. 1990 II, S. 889 ff.

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in den Augen“3. Im Jahre 1991 rückte Bohl für Seiters, der das Amt des Innenministers übernommen hatte, als Chef des Kanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben nach und war maßgebend an allen Entscheidungen der Bundesregierung in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung beteiligt. Nach Abschluss des Einigungsvertrags wurde am 12. September 1990 in Moskau der Zwei-plus-Vier-Vertrag4 unterzeichnet, der den Namen „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ erhielt. Mit Gesetz vom 11. Oktober 19905 stimmten die gesetzgebenden Körperschaften des wiedervereinigten Deutschlands diesem Vertrag zu, der dann am 15. März 1991 in Kraft trat und einen Friedensvertrag ersetzen sollte. In verschiedenen Verträgen der Siegermächte vor der Wiedervereinigung wurde allerdings auf die Notwendigkeit eines künftigen Friedensvertrages hingewiesen. So blieb die Festlegung einer Grenze nach dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 19456 einem Friedensvertrag vorbehalten. Auch im Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Deutschlandoder Generalvertrag) vom 26. Mai 19527 und im Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (Überleitungsvertrag) vom 26. Mai 1952 in der Fassung vom 23. Oktober 19548 befanden sich entsprechende Vorbehalte9. Dazu gehörte die Regelung territorialer, vermögensrechtlicher und sicherheitsrechtlicher Fragen. In Art. 5 Abs. 2 des Londoner Schuldenabkommens vom 27. Februar 195310 wurde eine Prüfung der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Forderungen gegen das Deutsche Reich bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfragen in einem Friedensvertrag zurückgestellt.11 Die Bundesrepublik Deutschland lehnte aber den Abschluss eines Friedensvertrages ab, weil sie sich bereits über mehrere Jahrzehnte als verlässlicher Partner im Frieden gezeigt habe. Man befürchtete auch ein erneutes Aufkommen der Diskussion um Reparationsforderungen, die 3

http://osthessen-news.de/n1212994/bad-hersfeld-soli-deo-gloria-friedrich-bohl-erz%C3 % A4hlt-vom-wunder-der-deutschen-einheit.html. 4 Text: BGBl. 1990 II, S. 1318 ff. 5 Text: BGBl. 1990 II, S. 1317. 6 Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin, Text: Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland, Ergänzungsblatt, Nr. 1, S. 13 ff. 7 Text: BGBl. 1955 II, S. 301 ff. Vgl. Präambel, Art. 2 Abs. 1, Art. 7 Abs. 2 des Vertrages. Vgl. auch Art. 10 lit. a Deutschlandvertrag, wonach die Vertragsparteien auf Ersuchen eines von ihnen im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands die Bestimmungen des Vertrages erneut überprüfen. 8 Text: BGBl. 1955 II, S. 405 ff. (944). Vgl. Erster Teil: Art. 1 Abs. 2; Neunter Teil: Art. 1, 2, 3 Abs. 1; Zehnter Teil: Art. 1 Abs. 6 und Art. 3. 9 Vgl. Art. 2, 7, 10 Deutschlandvertrag und Erster Teil Art. 1 Abs. 2 Überleitungsvertrag. 10 Text: BGBl. 1953 II, S. 333 ff. 11 Vgl. hierzu Georg Ress, Grundlagen und Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 449 ff. (460 f. Rn. 14).

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dann nicht nur die vier Siegermächte erheben würden, sondern auch andere Staaten, die sich aus solchen Reparationsforderungen eine Gesundung ihrer Wirtschaft erhofften.12 Es musste damit eine Vertragsform gefunden werden, die die Aufgaben eines Friedensvertrages erfüllte, ohne selbst ein Friedensvertrag zu sein.13 Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist somit kein Friedensvertrag im klassischen Sinne, da nicht alle Kriegsparteien diesen Vertrag unterzeichneten und es auch nicht um die Bereinigung des Sieger-Aggressor-Konflikts ging. Der Vertrag sollte nur die Teilung Deutschlands und die Teilung Europas überwinden. Er war insoweit ein Statusvertrag14, dessen Name und dessen Formulierungen in der Präambel zum Ausdruck bringen, dass er eine abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland enthält. II. Vier-Mächte-Rechte Nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Zwei-plus-Vier-Vertrag beenden die vier Mächte „ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“. Gemäß Art. 7 Abs. 1 Satz 2 Zwei-plus-Vier-Vertrag werden „die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der vier Mächte aufgelöst“. Gemäß Art. 7 Abs. 2 Zwei-plus-Vier-Vertrag hat der deutsche Staat „demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“. In diesem Zusammenhang gab der US-amerikanische Außenminister James Baker dem US-amerikanischen Präsidenten George Bush zusammen mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag eine Liste von Vereinbarungen und Entscheidungen, die durch Art. 7 Zwei-plus-Vier-Vertrag beendet werden sollten15. Auf dieser Liste sind unter anderem aufgeführt das Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von Groß Berlin (Londoner Protokoll) vom 12. September 194416, das Abkommen über die Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. November 194417, die Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands (Berliner Erklärung) vom 5. Juni 194518, die Resolution der Alliierten über die gemeinsame Verwaltung Berlins vom 7. Juli

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Das Beispiel Griechenlands zeigt dies auch noch heute. Gilbert Gornig, Der Zwei-plus-Vier-Vertrag unter besonderer Berücksichtigung grenzbezogener Regelungen, in: ROW 1991, S. 97 ff. (105). 14 Unter einem Statusvertrag versteht man ein völkerrechtliches Abkommen, das die Rechtsstellung eines Staates, eines Gebietes oder einer internationalen Verkehrsstraße als für alle verbindlich definiert. 15 Committee on Foreign Relations, Senate, 101st Congress, 2nd session, Exec. Rept. 101 – 33, S. 26 f. 16 Text: UNTS, Bd. 227 (1956), Nr. 532, 533, S. 279 ff. 17 Text: Department of State Public Relations 6199, S. 124 ff. 18 Text: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 7 ff. 13

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194519, das Viermächte-Abkommen vom 3. September 197120 sowie das Gesetz Nr. 63 der Alliierten Hohen Kommission „zur Klarstellung der Rechtslage in bezug auf deutsches Auslandsvermögen und andere im Wege der Reparationen oder Rückerstattung erfaßte Vermögensgegenstände“ vom 31. August 195121. Allerdings wurden nicht alle Probleme im Hinblick auf die Vier-Mächte-Rechte geregelt, sodass man die Verpflichtung einging, noch Briefe auszutauschen, um ungeklärte Fragen zu klären22. III. Drei-Mächte-Rechte 1. Problematik Die Verträge der Drei Mächte mit der Bundesrepublik Deutschland verpflichteten zunächst nur diese. Unklar war, ob die Drei-Mächte-Rechte auch im wiedervereinigten Deutschland gemäß dem völkerrechtlichen Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen23 gelten würden, da der Deutschlandvertrag und der Überleitungsvertrag nur bis zu einer friedensvertraglichen Regelung gelten sollten. Allerdings war der Zweiplus-Vier-Vertrag kein Friedensvertrag, sondern hatte nur eine friedensvertragsähnliche Wirkung. 2. Keine Aufhebung der Drei-Mächte-Rechte durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Nach Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts24 wurde den Drei-MächteRechten nicht durch Aufhebung der Vier-Mächte-Rechte die Rechtsgrundlage entzogen, da nach Art. 7 Zwei-plus-Vier-Vertrag ausdrücklich nur die Abkommen der vier Alliierten für beendet erklärt wurden, nicht aber die Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten25.

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Documents on Berlin 1943 – 1963, S. 25 f.; Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. (Hrsg.), Dokumente zur Berlin-Frage 1944 – 1962, 1962, S. 14 f. 20 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 3. September 1971, Nr. 127, S. 1360 ff. 21 AHK Gesetz Nr. 63 am 31. August 1951; Text: ABl. AHK, S. 1107. 22 Vgl. hierzu Robert Zoellick, Statement vor dem Committee on Foreign Relations, United States Senate, September, 28th 1990, 101st Congress, 2nd session, S 381 – 21, S. 24. 23 Verträge des den untergehenden Staat aufnehmenden Staates mit dritten Staaten erstrecken sich nun auf sein gesamtes vergrößertes Staatsgebiet. Vgl. etwa Karl Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl., 2004, S. 77 Rn. 171. 24 BVerfG, Beschluss vom 28. 1. 1998 – 2 BvR 1981/97 Ziffer 4 Absatz 3; BVerfG, VIZ 1998, S. 202. 25 BVerfGE, Beschluss vom 28. 1. 1998 – 2 BvR 1981/97 Ziffer 4 Absatz 2; BVerfG, VIZ 1998, S. 202. Auch: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk19980128_2bvr 198197.html.

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3. Indirekte Aufhebung der Drei-Mächte-Rechte durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag Nach Art. 7 Abs. 1 Zwei-plus-Vier-Vertrag werden in der Tat ausdrücklich nur Abkommen der vier Alliierten beendet, nicht aber die Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten.26 Die Drei-Mächte-Rechte verloren aber indirekt durch Art. 7 Abs. 1 Zwei-plus-Vier-Vertrag ihre Bedeutung, da diese mit der Beendigung der Vier-Mächte-Rechte und dem Erlangen der vollen Souveränität gemäß Art. 7 Abs. 2 Zwei-plus-Vier-Vertrag obsolet wurden. Die DreiMächte-Rechte hörten somit konkludent mit Art. 7 Abs. 1 Satz 2 Zwei-plus-VierVertrag auf zu existieren, weil durch die Beendigung der vierseitigen Verträge den dreiseitigen Verträgen die Rechtsgrundlage entzogen war.27 Für die Notwendigkeit der Beendigung der Drei-Mächte-Rechte gab es gewichtige Gründe: Nach Art. 7 Abs. 2 Zwei-plus-Vier-Vertrag sollte die Bundesrepublik „demgemäß volle Souveränität über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten“ erhalten. Da die Souveränität durch das Fortbestehen des Deutschlandvertrags und des Überleitungsvertrags beeinträchtigt würde, konnte die volle Souveränität also nur durch Beendigung dieser beiden Verträge hergestellt werden28. An keiner Stelle im Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde darauf hingewiesen, dass in Zukunft gewisse Besatzungsrechte fortbestehen sollten.29 Ferner waren die Drei-Mächte-Rechte eine Konkretisierung der Vier-Mächte-Rechte; nur die Teilung Deutschlands und der Ost-West-Konflikt30 hatten die drei Westmächte gezwungen, ihre aus den VierMächte-Rechten erwachsenen Verantwortlichkeiten ohne die Sowjetunion für die Bundesrepublik Deutschland näher auszugestalten.31 Auch zeigte sich inhaltlich 26

Gornig (Anm. 13), ROW 1991, S. 97 ff. (105); OLG Köln, VIZ 1998, S. 213 ff. (214). Vgl. Gornig (Anm. 13), ROW 1991, S. 97 ff. (105); vgl. ferner: Wilfried Fiedler, Die Wiedererlangung der Souveränität Deutschlands und die Einigung Europas, in: JZ 1991, S. 685 ff. (690). 28 Vgl. auch Fiedler (Anm. 27), JZ 1991, S. 685 ff. (690); Gornig (Anm. 13), ROW 1991, S. 97 ff. (105); Gilbert Gornig, Völkerrechtswidrigkeit von Vertreibung und entschädigungsloser Enteignung der Sudetendeutschen in: Forum für Kultur und Politik, Heft 16, 1996, S. 3 ff. (32). Anderer Ansicht OLG Köln, VIZ 1998, S. 214: Es sei nie die Intention gewesen, mit der Souveränität für Deutschland sämtliches Besatzungsrecht zu beseitigen. Art. 7 Zweiplus-Vier-Vertrag betreffe einen anderen Regelungsbereich. 29 Vgl. hierzu Christine Bötsch, Die Nachbefolgung des westalliierten Besatzungsrechts im Lichte des Staats- und Völkerrechts, 2000, S. 104. 30 Erste Gegensätze traten auf der Potsdamer Konferenz im Juli und Anfang August 1945 auf. Der US-amerikanische Marshallplan zum Wiederaufbau Westeuropas einschließlich der westlichen Besatzungszonen Deutschlands 1947 und die Gründungskonfernz des Kominform im September 1947 dokumentieren den Gegensatz. Mit der Berliner Blockade im Juni 1948 bis Mai 1949, der Gründung der NATO (4. 4.1949) und der Konstituierung der beiden deutschen Staaten war die Spaltung Deutschlands und Europas 1949 in zwei feindliche Blöcke vollzogen. 31 Vgl. Clemens von Goetze, Die Rechte der Alliierten auf Mitwirkung bei der Deutschen Einigung, in: NJW 1990, S. 2161 ff. (2164). 27

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ein Zusammenhang zwischen den Drei-Mächte-Rechten und den Vier-MächteRechten.32 Da sich nicht die Bundesrepublik Deutschland allein mit den Siegermächten im Kriegszustand befand, sondern Deutschland als Ganzes, betrafen die Regelungen zur Abwicklung der Reparationen Deutschland als Ganzes. Deshalb ging der Klageausschluss in Art. 3 des Sechsten Teils des Überleitungsvertrags auch auf das von den Vier Mächten erlassene AHK Gesetz Nr. 6333 und das Potsdamer Protokoll34 zurück. Die AHK-Gesetze und die Potsdamer Beschlüsse wurden aber mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag aufgehoben. Weiterhin zeigten die Drei-Mächte-Rechte ihre Verknüpfung mit den Vier-Mächte-Rechten auch darin, dass nach Erster Teil Art. 1 Abs. 1 Satz 3 Überleitungsvertrag das Kontrollratsrecht nicht aufgehoben werden durfte. Zudem standen viele Normen unter einem zeitlichen Vorbehalt. Beispielsweise sollte der Sechste Teil des Überleitungsvertrags nur bis zum Abschluss eines Friedensvertrags und damit bis zur Beendigung der Vier-Mächte-Rechte gelten. Durch die Aufhebung der Vier-Mächte-Rechte war somit die Rechtsgrundlage für die Drei-Mächte-Rechte erloschen.35 Schließlich wäre kaum verständlich gewesen, warum die Sowjetunion auf ihre Rechte verzichten sollte, während die drei Westmächte ihre Rechte in der Bundesrepublik Deutschland, und nun wegen des Grundsatzes der beweglichen Vertragsgrenzen im wiedervereinigten Deutschland, behalten sollten. Aus diesen Gründen stünde die Aufrechterhaltung der Drei-Mächte-Rechte im Widerspruch zur Feststellung des Art. 7 Abs. 2 Zwei-plus-Vier-Vertrag36. Diese Konsequenz gefiel aber den Drei Mächten nicht, zumal maßgebliche Vertreter des Vereinigten Königreichs und Frankreichs einem wiedervereinigten Deutschland skeptisch gegenüberstanden.37 32

Vgl. dazu Bötsch (Anm. 29), S. 102 ff. ABl. AHK, S. 1107. 34 Text: Dietrich Rauschning, Die Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale und internationale Texte zur Rechtslage Deutschlands 1962, Nr. 6, S. 95 ff. 35 Bötsch (Anm. 29), S. 103. 36 Vgl. auch Christian Tomuschat, Die Vertreibung des Sudetendeutschen. Zur Frage des Bestehens von Rechtsansprüchen nach Völkerrecht und deutschem Recht, in: ZaöRV, Bd. 56/ 1 – 2 (1996), S. 1 ff. (53). 37 Beide Staaten misstrauten einem großen und wirtschaftlich starken Deutschland in der Mitte Europas. Wenn sie schon nicht den Zusammenschluss der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR verhindern konnten, so wollten sie ihn doch an politische Bedingungen knüpfen. Vgl. zu Margaret Thatcher: http://www.spiegel.de/einestages/maggie-thatcher-und-die-wieder vereinigung-a-948498.html. Ferner: Oliver Das Gupta, Für Thatcher war Deutschland eine gefährliche Kröte, in: http://www.sueddeutsche.de/politik/deutsche-einheit-fuer-thatcher-wardeutschland-eine-gefaehrliche-kroete-1.28579 vom 18. 6. 2012; schließlich: http://www.welt. de/debatte/kommentare/article115175884/Thatchers-Unwille-gegenueber-dem-pfaelzischenRiesen.html. Vgl. zu François Mitterand: http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/ paris-und-die-wiedervereinigung-dem-elysee-tut-alles-weh-11558707.html. Diesen Bedenken trug Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. 12. 1989 Rechnung. Er bekannte sich dazu, dass die deutsche Einheit „unter einem europäischen Dach gebaut werden“ muss. Damit erteilte er einem neutralen wiedervereinigten Deutschland eine klare Absage. Text der Rede: http:// www.2plus4.de/chronik.php3?date_value=19.12.89+-20.&sort=001 – 007. 33

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4. Teilweise Aufrechterhaltung der Drei-Mächte-Rechte durch Notenwechsel Der US-amerikanischen Verhandlungsdelegation wurde es bei den Zwei-plusVier-Gesprächen bewusst, dass auch die Drei-Mächte-Rechte neu verhandelt werden müssten. Dies konnte natürlich nicht im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche erfolgen, da die Sowjetunion an den dreiseitigen Verträgen mit der Bundesrepublik Deutschland nicht beteiligt war und insoweit kein Mitspracherecht hatte. Jedenfalls war es den West-Alliierten klar, dass es politisch widersprüchlich gewesen wäre, die Drei-Mächte-Rechte beizubehalten, während man die Vier-Mächte-Verantwortung für beendet erklärte. Diese Auffassung vertrat verständlicherweise insbesondere auch die Sowjetunion. Unabhängig davon, ob nun durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag die Drei-Mächte-Rechte indirekt beendet werden würden oder nicht, regelten daher die Drei Mächte und die Bundesrepublik Deutschland ein paar Tage vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 das Schicksal der Drei-Mächte-Rechte ausdrücklich in verschiedenen Noten. a) Grundsatz In der Note zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und den Regierungen der Französischen Republik, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland vom 27./28. September 199038 wurde eine besondere Regelung für den Deutschlandvertrag und den Überleitungsvertrag getroffen. Der Notenwechsel kam als Verwaltungsabkommen zustande, sodass er bereits am 28. September 1990 wirksam werden konnte. Gemäß Ziffer 1 des Notenwechsels vom 27./28. September 1990 tritt der von den Drei Mächten mit der Bundesrepublik Deutschland vereinbarte Deutschlandvertrag mit dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags außer Kraft. Gemäß Ziffer 2 tritt der Überleitungsvertrag mit dem Deutschlandvertrag außer Kraft. Der Notenwechsel vom 27./28. September 1990 ist somit grundsätzlich ein Beendigungsvertrag des Überleitungsvertrags.39 Mit der Aufhebung des Deutschlandvertrags entfiel auch die Rechtsgrundlage für das Stationierungsrecht40 von Streitkräften der drei West-Alliierten auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wurde im Notenwechsel vom 20. Septem38

Text: BGBl. 1990 II, S. 1386 ff. Bötsch (Anm. 29), S. 117. 40 Art. 4 Abs. 1 Deutschlandvertrag lautete: „Bis zum Inkrafttreten der Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag behalten die Drei Mächte weiterhin ihre bisher ausgeübten oder innegehabten Rechte in bezug auf die Stationierung von Streitkräften in der Bundesrepublik. Die Aufgabe dieser Streitkräfte wird die Verteidigung der freien Welt sein, zu der die Bundesrepublik und Berlin gehören. Vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 5 Absatz (2) dieses Vertrages bestimmen sich die Rechte und Pflichten dieser Streitkräfte nach dem Vertrag über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland (im folgenden als ,Truppenvertrag‘ bezeichnet), auf den in Art. 8 Absatz (1) dieses Vertrages Bezug genommen ist.“ 39

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ber 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Regierungen Belgiens, Kanadas, der Niederlande, der USA und des Vereinigten Königreichs41 vereinbart, dass der Truppenvertrag mit einigen Ergänzungen in Kraft bleibt; jedoch wurde allen Vertragsparteien ein Rücktritts- und Beendigungsrecht unter Einhaltung einer Frist von zwei Jahren eingeräumt. Das Aufenthaltsrecht der Truppen beruhte von nun an also nicht mehr auf den Siegerrechten, sondern auf einer neuen vertragsrechtlichen Grundlage. b) Fortgeltende Drei-Mächte-Rechte Die meisten Regelungen des Überleitungsvertrages wurden aufgehoben. Einige Bestimmungen des Überleitungsvertrages bleiben jedoch ausdrücklich nach dem Notenwechsel (NW) in Kraft. So bleiben gemäß Ziffer 3 NW i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 ÜV „(d)ie Organe der Bundesrepublik und der Länder (…) gemäß ihrer im Grundgesetz festgelegten Zuständigkeit befugt, von den Besatzungsbehörden erlassene Rechtsvorschriften aufzuheben oder zu ändern“. Unter „Besatzungsbehörden“ versteht man den Kontrollrat, die Alliierte Hohe Kommission, die Hohen Kommissare der Drei Mächte, die Militärgouverneure der Drei Mächte, die Streitkräfte der Drei Mächte in Deutschland sowie Organisationen und Personen, die in deren Namen Befugnisse ausüben oder im Falle von internationalen Organisationen und Organisationen anderer Mächte (und der Mitglieder solcher Organisationen) mit deren Ermächtigung handeln, schließlich die bei den Streitkräften der Drei Mächte dienenden Hilfsverbände anderer Mächte. Einerseits dürfen die Vorschriften, die durch den Alliierten Kontrollrat erlassen wurden, aufgehoben werden. Andererseits bleiben „(a)lle Rechte und Verpflichtungen, die durch gesetzgeberische, gerichtliche oder Verhandlungsmaßnahmen der Besatzungsbehörden (…) begründet oder festgestellt worden sind (…), in Kraft“ (Nr. 3 NW i. V. m. Erster Teil Art. 2 Abs. 1 ÜV). Ferner sind grundsätzlich „deutsche Gerichte und Behörden nicht zuständig in strafrechtlichen oder nichtstrafrechtlichen Verfahren, die sich auf eine vor Inkrafttreten dieses Vertrags begangene Handlung oder Unterlassung beziehen, wenn unmittelbar vor Inkrafttreten dieses Vertrags die deutschen Gerichte und Behörden hinsichtlich solcher Handlungen oder Unterlassungen nicht zuständig waren, ohne Rücksicht darauf, ob sich diese Unzuständigkeit aus der Sache oder aus der Person ergibt“. In bestimmten aufgeführten Fällen dürfen deutsche Gerichte aber die ihnen nach deutschem Recht zustehende Gerichtsbarkeit ausüben (Nr. 3 NW i. V. m. Erster Teil Art. 3 Abs. 2, ferner Abs. 3 ÜV). Weiterhin bleiben „(a)lle Urteile und Entscheidungen in nichtstrafrechtlichen Angelegenheiten, die von einem Gericht oder einer gerichtlichen Behörde der Drei Mächte oder einer derselben bisher in Deutschland erlassen worden sind oder später erlassen werden, (…) in jeder Hinsicht nach deutschem Recht rechtskräftig und rechtswirksam und sind von den deutschen Gerichten und Behörden demgemäß zu behandeln und auf Antrag einer Partei von diesen in der gleichen Weise wie Urteile und Entscheidungen deutscher Gerichte und Behörden zu vollstrecken“ (Nr. 3 NW i. V. m. Erster Teil Art. 5 Abs. 1, ferner: 41

Text: BGBl. 1990 II, S. 1390 ff.

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Abs. 3 und Art. 7 Abs. 1 ÜV). Mitglieder von Gerichten und Ausschüssen des Besatzungsregimes genießen in Bezug auf Handlungen, die sie in Ausübung ihres Amtes vorgenommen haben, auch nach Ablauf der Amtsdauer Immunität gegen gerichtliche Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 3 NW i. V. m. Erster Teil Art. 8 ÜV). Die Immunität gilt auch für Richter des Obersten Rückerstattungsgerichts (Nr. 3 NW i. V. m. Dritter Teil Art. 3 Abs. 5 lit. a des Anhangs und Art. 6 Abs. 3 des Anhangs). Von besonderer Bedeutung ist, dass die Bundesrepublik Deutschland „in Zukunft keine Einwendungen gegen die Maßnahmen erheben (darf), die gegen das deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind oder werden sollen, das beschlagnahmt worden ist für Zwecke der Reparation oder Restitution oder auf Grund des Kriegszustandes oder auf Grund von Abkommen, die die Drei Mächte mit anderen alliierten Staaten, neutralen Staaten oder ehemaligen Bundesgenossen Deutschlands geschlossen haben oder schließen werden“. „Ansprüche und Klagen gegen Personen, die auf Grund der in Absatz (1) … dieses Artikels bezeichneten Maßnahmen Eigentum erworben oder übertragen haben, sowie Ansprüche und Klagen gegen internationale Organisationen, ausländische Regierungen oder Personen, die auf Anweisung dieser Organisationen oder Regierungen gehandelt haben, werden nicht zugelassen“ (Nr. 3 NW i. V. m. Sechster Teil Art. 3 Abs. 1, 3 ÜV). Der Einwendungsverzicht aus Art. 3 Abs. 1 Sechster Teil Überleitungsvertrag führte dazu, dass die Bundesregierung auf die Geltendmachung völkerrechtlicher Ersatzansprüche im Wege des diplomatischen Schutzes gegenüber den Alliierten verzichtete.42 Die Rechtswegpräklusion aus Art. 3 Abs. 3 Sechster Teil Überleitungsvertrag schließt aber lediglich prozessrechtlich die Geltendmachung der Ansprüche aus. Art. 3 enthält aber keine Aussage über den rechtlichen Bestand der Ansprüche, hebt diese also nicht materiell-rechtlich auf.43 42

Vgl. Bernhard Wolff, Zur Frage der Abgeltung von Reparationsschäden unter besonderer Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des Sechsten Teils des Überleitungsvertrags, 1964, S. 104. Nach Walter Lewald, Das Privatrecht der deutschen Reparationsleistung, in: NJW 1962, S. 561 ff. (562), hat mit dem Art. 3 des Sechsten Teils des Überleitungsvertrages „die Bundesregierung auf die Geltendmachung von völkerrechtlichen Ersatzansprüchen im Wege des diplomatischen Schutzes gegenüber den alliierten Mächten endgültig verzichtet und die ,früheren‘ Eigentümer damit ihrer Eigentumstitel bzw. der ihnen nach der Enteignung jedenfalls noch verbliebenen Entschädigungsrechte gegenüber den Alliierten endgültig beraubt.“ Die Bundesregierung hat in einer Erklärung zum Überleitungsvertrag festgestellt, dass der Verzicht auf Einwendungen gegen die zu den in Art. 3 des Sechsten Teils des Vertrages von den Alliierten durchgeführten Reparationen nur bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage gelte; vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 25. 5. 1952, Nr. 59, S. 654. Zur sudetendeutschen Problematik vgl. Gornig (Anm. 28), in: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik, Heft 16, Mai 1996, S. 1 ff. (30 ff.). 43 Dieter Blumenwitz, Das Offenhalten der Vermögensfrage in den deutsch-polnischen Beziehungen, 1992, S. 63; Silke Wenk, Das konfiszierte deutsche Privatvermögen in Polen und der Tschechoslowakei. Die Rechtslage nach Abschluß des deutsch-polnischen und deutschtschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrages, 1993, S. 108.

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Schließlich bleiben Bestimmungen in Kraft, in denen es um die Übernahme gewisser Garantien für verschleppte Personen und Flüchtlinge geht, insbesondere verpflichtet sich die Bundesrepublik, für die Gräber der alliierten Soldaten Sorge zu tragen (Nr. 3 NW i. V. m. Siebenter Teil Art. 1 und 2 ÜV). In Kraft bleibt auch folgender Artikel: „Vorbehaltlich der Bestimmungen einer Friedensregelung mit Deutschland dürfen deutsche Staatsangehörige, die der Herrschaftsgewalt der Bundesrepublik unterliegen, gegen die Staaten, welche die Erklärung der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942 unterzeichnet haben oder ihr beigetreten sind oder mit Deutschland im Kriegszustand waren oder in Art. 5 des Fünften Teils dieses Vertrags genannt sind, sowie gegen deren Staatsangehörige keine Ansprüche irgendwelcher Art erheben wegen Maßnahmen, welche von den Regierungen dieser Staaten oder mit ihrer Ermächtigung in der Zeit zwischen dem 1. September 1939 und dem 5. Juni 1945 wegen des in Europa bestehenden Kriegszustandes getroffen worden sind; auch darf niemand derartige Ansprüche vor einem Gericht der Bundesrepublik geltend machen“ (Nr. 3 NW i. V. m. Neunter Teil Art. 1 ÜV). Weiterhin wird bestätigt, dass der Kriegszustand an sich nach deutschem Recht die Verpflichtung von Vorkriegsschulden und vor dem Kriegszustand erworbene Rechte nicht berührt (Nr. 3 NW i. V. m. Zehnter Teil Art. 4 ÜV). Außerdem sollen Absatz VII der Schreiben des Bundeskanzlers an jeden der drei Hohen Kommissare vom 23. Oktober 1954 betreffend Erleichterungen für Botschaften und Konsulate sowie die Bestätigungsschreiben der Hohen Kommissare vom 23. Oktober 1954 in Kraft bleiben. c) Rechtliche Qualifizierung Es stellt sich die Frage, ob der Überleitungsvertrag als völkerrechtlicher Vertrag teilweise fortgilt oder ob die fortgeltenden Normen dem Notenwechsel in Verbindung mit dem Überleitungsvertrag zu entnehmen sind. Ferner könnte eine innerstaatliche Umsetzung durch einen Notenwechsel in Widerspruch zu Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG stehen. Schließlich ist diese Frage von Bedeutung, weil nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Überleitungsvertrag den Rang eines Bundesgesetzes hat. Der Notenwechsel jedoch wurde durch eine Rechtsverordnung innerstaatlich umgesetzt und hat damit lediglich einen Rang unter dem eines Bundesgesetzes. Gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. a Wiener Vertragsrechtskonvention bedeutet „Vertrag“ eine in Schriftform geschlossene und vom Völkerrecht bestimmte internationale Übereinkunft zwischen Staaten, gleichviel, ob sie in einer oder in mehreren zusammengehörigen Urkunden enthalten ist und welche besondere Bezeichnung sie hat. Die deutsche Note wurde vom Auswärtigen Amt entworfen und an die Botschafter der drei Westmächte übermittelt. Mit den Antwortnoten der Botschafter44, die das Einverständnis ihrer Regierungen zum Ausdruck bringen, liegt ein Notenwechsel vor, der eine völkerrechtliche Vereinbarung zwischen den vier Regierungen darstellt.

44

Es waren die Botschafter: Vernon Walters, Christopher Mallaby und Serge Boidevaix.

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Der Notenwechsel vom 27./28. September 1990 ist somit ein völkerrechtlicher Vertrag. Nach dem Wortlaut des Notenwechsels vom 27./28. September 1990 tritt der Überleitungsvertrag mit dem Deutschlandvertrag außer Kraft. Das fortgeltende Recht ergibt sich nunmehr, nach Beendigung der Besatzungszeit, allein aus dem Notenwechsel. Die Bestimmungen haben damit innerstaatlich lediglich den Rang einer Rechtsverordnung. Es ist aber nicht undenkbar, dass man die im Notenwechsel genannten Bestimmungen des Überleitungsvertrags als fortdauernd in Kraft betrachtet. Allerdings hätte man dann im Notenwechsel eine andere, umgekehrte, Formulierung wählen müssen, nämlich dass der Überleitungsvertrag in Kraft bleibt mit Ausnahme der im Einzelnen aufgezählten Bestimmungen. In diesem Fall wäre dann die Umsetzung des Überleitungsvertrags bereits durch Bundesgesetz 1955 erfolgt, es sei denn Vertragsmodifikationen erforderten ein erneutes bundesgesetzliches Verfahren. IV. Vereinbarkeit des Notenwechsels mit dem Grundgesetz und einfachem Bundesrecht 1. Problem Das Völkerrecht hat aus völkerrechtlicher Sicht grundsätzlich einen höheren Rang als jedes nationale Recht einschließlich Verfassungsrecht, sodass sich kein Staat der Welt unter Berufung auf seine innerstaatliche Rechtsordnung völkerrechtlichen Verpflichtungen entziehen kann. Allerdings wird der Staat in der Regel völkerrechtliche Verträge nur dann unterzeichnen, wenn sie mit dem Verfassungsrecht im Einklang stehen, sodass vorab die formelle und materielle Vereinbarkeit des völkerrechtlichen Vertrages mit dem Verfassungsrecht geprüft werden sollte. Durch den Notenwechsel vom 27./28. September 1990 wurde unter anderem dauerhaft ein Klagestopp bezüglich der Kriegsfolgemaßnahmen vereinbart. Dadurch wurde den Betroffenen in Deutschland beispielsweise das Recht genommen, sich gegen die Maßnahmen internationaler Organisationen, ausländischer Regierungen oder Personen, die auf Anweisung dieser Organisationen oder Regierungen gehandelt haben, zur Wehr zu setzen. Eine solche Beschränkung muss Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG sein; dies bedeutet, dass der Notenwechsel bereits formell der Verfassung gemäß sein muss45. Die deutsche Note vom 27. September 1990 wurde von einem beamteten Staatssekretär im Auswärtigen Amt unterzeichnet. Die Vereinbarung trat am 28. September 1990 in Kraft, nachdem die das Einverständnis der Regierung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland ausdrückende Antwortnote am 27. September 1990 und die das Einverständnis der Regierungen der Französischen Republik sowie der Vereinigten Staaten von Amerika ausdrückenden Antwortnoten am 28. September 1990 eingegangen waren. Der Notenwechsel wurde also in Form 45

Vgl. hierzu BVerfGE 6, S. 32 (dritter Leitsatz) (Elfes-Urteil).

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eines Regierungsabkommens zwischen den beteiligten Staaten verabschiedet. Eine Parlamentsbeteiligung erfolgte nicht. Wahrscheinlich wurde von dieser abgesehen, da die Zeit für ein langwieriges Gesetzgebungsverfahren nicht zur Verfügung stand. Die Vereinbarung sollte nämlich noch vor der Erlangung der vollen Souveränität in Kraft treten, auch wollte man die Wiedervereinigung nicht gefährden. Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Notenwechsels waren die Drei-MächteRechte noch in Kraft, da die Vier-Mächte-Rechte durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag noch nicht aufgehoben waren. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde erst 1991 durch alle Vertragsstaaten – zuletzt am 4. März 1991 durch den Obersten Sowjet der UdSSR – ratifiziert, wobei die Annahme des Vertrags keineswegs gesichert war. Aus diesem Grund gaben die Vertreter der USA, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der Sowjetunion am 1. Oktober 199046 in New York eine Erklärung ab, nach der ihre „Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Vereinigung Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland ausgesetzt“ seien. Aber auch dieser Termin lag hinter dem des Inkrafttretens des Notenwechsels. Es stellt sich die Frage, ob ein Bundesgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erforderlich gewesen wäre, um den Notenwechsel innerstaatlich wirksam umzusetzen. Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen nach Art. 59 Abs. 2 GG der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Entbehrlich wäre diese Zustimmung oder Mitwirkung gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG also nur, wenn ein nicht politisches Verwaltungsabkommen vorläge oder sich die Vereinbarung nicht auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezöge47. 2. Denkbare Vertragsarten a) Politischer Vertrag Für die Entscheidung, ob ein politischer Vertrag vorliegt, kommt es entscheidend auf das Gewicht des Vertrages für die Bundesrepublik Deutschland an48. Der Begriff des politischen Vertrages darf nicht zu weit gefasst werden, da ansonsten alle Verträge zwischen Staaten darunter fallen würden, die in irgendeiner Hinsicht politische Wirkungen entfalten. Sie wären damit zustimmungspflichtig und die in Satz 1 des Art. 59 Abs. 2 GG angeordnete Zustimmungspflicht für gesetzesinhaltliche Verträge 46

Text: BGBl. 1990 II, S. 1331 f. Insgesamt ist in Art. 59 Abs. 2 GG zwischen dem politischen Vertrag, den gesetzesinhaltlichen Vertrag und dem Verwaltungsabkommen zu unterscheiden. 48 Vgl. auch Bernhard Kempen, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), GG, Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 59 Rn. 63. 47

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wäre überflüssig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts49 ist ein politischer Vertrag nicht schon dann gegeben, wenn er sich allgemein mit den öffentlichen Angelegenheiten und dem Gemeinwohl und den Staatsgeschäften beschäftigt. Vielmehr muss hinzukommen, dass er die Existenz des Staates, seine territoriale Integrität, seine Unabhängigkeit, seine Stellung oder sein Gewicht unter den Staaten oder die Ordnung der Staatengemeinschaft betrifft, und zwar „wesentlich“ und „unmittelbar“. Beispiele für politische Verträge sind Bündnisse, Friedensverträge, Schiedsverträge, Garantiepakte und Abkommen über die politische Zusammenarbeit. Politische Verträge im Sinne des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 GG sind also nur hochpolitische Verträge50, die die staatliche Grundordnung in besonderer Weise betreffen. Im Notenwechsel vom 27./28. September 1990 sollte das Fortbestehen von Normen des Überleitungsvertrags gesichert werden, welche der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen einen Einwendungsverzicht und einen Klagestopp gemäß Art. 3 Abs. 3 des Sechsten Teils des Überleitungsvertrags auferlegen. Zwar werden durch diese Regelungen weder der Bestand der Bundesrepublik Deutschland noch die Stellung oder das Gewicht innerhalb der Staatengemeinschaft betroffen, auch stellt der Eingriff noch keine Bedrohung der Unabhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland dar, gleichwohl beeinträchtigt der Notenwechsel die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland in erheblichen Umfang, da der Inhalt von Verpflichtungen der Besatzungszeit fortgeschrieben wird51. Es könnte daher ein hochpolitischer Vertrag vorliegen52, der der Zustimmung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in Form eines Bundesgesetzes bedurft hätte.53 b) Gesetzesinhaltlicher Vertrag Gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ist auch dann eine Zustimmung notwendig, wenn die Gegenstände der Bundesgesetzgebung betroffen sind. Diese Bestimmung soll die Vertragserfüllung sicherstellen, wenn der vertraglichen Leistungspflicht nur durch den Erlass eines Gesetzes nachgekommen werden kann.54 Sie soll Friktionen im System des rechtsstaatlich und grundrechtlich verankerten Vorbehalts des Geset-

49

Vgl. BVerfGE 1, S. 351 ff. (366 ff.). Vgl. auch BVerfGE 40, S. 141 ff. (164); Ondolf Rojahn, in: Ingo von Münch/Philip Kunig, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 59 Rn. 23. 51 Man spricht auch vom „versteinerten Besatzungsrecht“: Dieter Blumenwitz, Deutsche Souveränität im Wandel, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 46 (1999), S. 195 ff. (199 ff.); vgl. auch Reinhard Müller, „Versteinertes Besatzungsrecht“, in: FAZ vom 10. 5. 2005, S. 14. 52 Ralf Wittkowski, Die Staatensukzession in völkerrechtliche Verträge unter besonderer Berücksichtigung der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands 1992, S. 219; Dieter Blumenwitz, Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands, Teil 1, 1992, S. 67. 53 Dazu vgl. unten. 54 BVerfGE 1, S. 372 ff. (388). 50

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zes verhindern55 und die Entschließungsfreiheit der Gesetzgebungskörperschaften sichern.56 Das Parlament soll davor geschützt werden, dass die Regierung durch völkerrechtliche Verträge in die Kompetenzen der Legislative eingreift. Zu den gesetzesinhaltlichen Verträgen gehören deswegen Verträge, deren Bestimmungen unmittelbar Rechte oder Pflichten für den Einzelnen begründen, abändern oder aufheben57. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts58 muss ein Vertrag vorliegen, in dem „der Bund durch Vertrag Verpflichtungen übernimmt, deren Erfüllung allein durch Erlaß eines Bundesgesetzes möglich ist“. Eine gesetzesinhaltliche Regelung könnte hier gegeben sein, da beispielsweise deutschen Staatsangehörigen untersagt ist, gegen bestimmte Staaten sowie gegen deren Staatsangehörige bestimmte Ansprüche vor einem Gericht in der Bundesrepublik geltend zu machen. Auch deswegen könnte die Zustimmung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in Form eines Bundesgesetzes erforderlich sein. Wenn also im Überleitungsvertrag eine gesetzesinhaltliche Regelung vorhanden ist, stellt sich ferner die Frage, ob sie noch vom Zustimmungsgesetz zum Überleitungsvertrag gedeckt ist oder nicht59. c) Verwaltungsabkommen aa) Begriff Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts60 kann Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht entnommen werden, dass immer dann, wenn ein Handeln der Bundesregierung im völkerrechtlichen Verkehr die politischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland regelt oder Gegenstände der Bundesgesetzgebung betrifft, die Form eines der gesetzgeberischen Zustimmung oder Mitwirkung bedürftigen völkerrechtlichen Vertrages gewählt werden muss. Es wird damit auf die in Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG geregelten Verwaltungsabkommen verwiesen. Sie berechtigen und verpflichten in erster Linie die öffentliche Verwaltung, aber auch die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt.61 Im Unterschied zu den politischen und gesetzesinhaltlichen Verträgen haben sie nicht hochpolitische Beziehungen des Bundes zum Gegenstand und bedürfen zu ihrer Erfüllung nicht eines Bundesgesetzes.62 Es

55

Kempen (Anm. 48), in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 59 Rn. 65. So Ulrich Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt und Außenpolitik, 1986, S. 220. Vgl. auch Kempen (Anm. 48), in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 59 Rn. 65. 57 Rojahn (Anm. 50), in: von Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, Art. 59 Rn. 26. 58 BVerfGE 1, S. 372 ff. (389). 59 Dazu vgl. unten. 60 BVerfGE 68, S. 1 ff. (84 f.) (Leitsatz 1b); später: BVerfGE 90, S. 286 (Leitsatz 7a). 61 Kempen (Anm. 48), in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 59 Rn. 101. 62 Kempen (Anm. 48), in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 59 Rn. 101. 56

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kann hierbei zwischen Regierungs- und Ressortabkommen unterschieden werden.63 Die Bundesregierung bedarf beim Abschluss eines Regierungsabkommens nicht der gesetzesförmlichen Zustimmung des Bundestages, aber in bestimmten Fällen der Zustimmung des Bundesrates. So muss der Bundesrat zustimmen, wenn dies nach Maßgabe der Vorschriften über die Bundesverwaltung zur innerstaatlichen Durchführung des Vertrags nötig ist.64 Der Notenwechsel vom 27./28. September 1990 ist ein Regierungsabkommen, da die Vereinbarung zwischen den Regierungen der drei westlichen Siegermächte und der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen wurde. Wenn in dem Regierungsabkommen nur Angelegenheiten angesprochen werden, die nicht hochpolitisch sind oder die bereits in einem Staatsvertrag enthalten sind oder Verpflichtungen des Staatsvertrages wiedergegeben werden oder auf diese Bezug genommen wird, so bedarf ein solches Regierungsabkommen keiner gesetzlichen Umsetzung.65 Liegt dieser Fall vor, könnte ein Zustimmungsgesetz zum Notenwechsel entbehrlich sein. bb) Auffassungen zum Notenwechsel Das Bundesverfassungsgericht geht – wie bereits dargelegt – davon aus, dass der Notenwechsel nur deklaratorisch sei und eine bereits geltende völkerrechtliche Regelung fortbestehen würde. Da der Zwei-plus-Vier-Vertrag nur Rechte der VierMächte aufgehoben habe, seien die Drei-Mächte-Rechte nicht betroffen. Der Überleitungsvertrag hätte somit trotz des Inkrafttretens des Zwei-plus-Vier-Vertrages weiterbestanden. Der Notenwechsel bekräftige lediglich klarstellend, dass eine bereits geltende, völkerrechtliche Regelung fortbestehe, sodass der Notenwechsel keines Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG bedurfte66. Nach Ansicht des OLG Köln67 gab es keine gesetzesinhaltlichen Änderungen, da durch die Note keine Rechte genommen wurden, die vorher bestanden hätten. Tomuschat vertritt die Auffassung, dass das Zustimmungsgesetz zum Überleitungsvertrag die innerstaatliche Rechtsgrundlage für die fortbestehenden Normen des Überleitungsvertrages sei. Mit der partiellen Aufhebung der Beschränkungen mit Zustimmung der Bundesrepublik vom 27./28. September 1990 hätten bis zu diesem Zeitpunkt die Normen des Überleitungsvertrags in ununterbrochener zeitlicher Kontinuität gegolten. Aus diesem Grund habe es nur eine deklaratorische Feststellung gegeben und nicht etwa eine neue Begründung68. 63 Das Auswärtige Amt erteilt nach § 82 Abs. 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien die Unterzeichnungsvollmacht. Kempen (Anm. 48), in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 59 Rn. 103. 64 Vgl. Kempen (Anm. 48), in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 59 Rn. 104. 65 Elfried Härle, Die völkerrechtlichen Verwaltungsabkommen der Bundesrepublik. Ein Beitrag zu Art. 59 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes, in: JIR, Bd. 12 (1965), S. 93 ff. (106). 66 BVerfG, 2 BvR 1981/97, VIZ 1998, S. 202; http://www.bverfg.de/entscheidungen/ rk19980128_2bvr198197.html. 67 OLG Köln, VIZ 1998, S. 213 ff. 68 Tomuschat (Anm. 36), ZaöRV, Bd. 56/1 – 2 (1996), S. 1 ff. (54).

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3. Stellungnahme Gegen die oben aufgeführten Ansichten könnte eingewendet werden, dass aus Besatzungsrecht nun Vertragsrecht, der territoriale Geltungsbereich der Normen vergrößert und der temporale Geltungsbereich verlängert wurde, sodass insgesamt ein erheblicher Eingriff in die Souveränität der nun größer gewordenen Bundesrepublik Deutschland gegeben sein könnte und ein beispielsweise neu begründeter Klagestopp gesetzesinhaltlich sei. a) Umwandlung von Besatzungsrecht als spezielles Völkerrecht in die Souveränität einschränkendes Völkervertragsrecht Den im Jahre 1949 sich konstituierenden deutschen Teilstaaten wurden durch das Fortschreiben der alliierten Siegerrechte entscheidende Souveränitätsrechte vorenthalten. Deutschland als Ganzes bestand als handlungsunfähiges Völkerrechtssubjekt und somit als Staat fort, während die Bundesrepublik Deutschland und die DDR Völkerrechtssubjekte mit einem qualitativ geminderten Völkerrechtsstatus waren. Im Jahre 1955 erlangte die Bundesrepublik Deutschland eine allerdings beschränkte Souveränität. Nach Art. 1 Abs. 2 des am 5. Mai 1955 in Kraft getretenen Deutschlandvertrages sollte die Bundesrepublik Deutschland nämlich nur „demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben“. Die Abstriche am vollen Souveränitätsstatus werden in Art. 2 deutlich: „Im Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrags verhindert hat, behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung. Die von den Drei Mächten vorbehaltenen Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf die Stationierung von Streitkräften in Deutschland und der Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte bestimmen sich nach den Artikeln 4 und 5 dieses Vertrags.“ Nach Art. 7 Zwei-plus-Vier-Vertrag beendeten die Vier Mächte „ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“. Als Folge beruhen nun alle im Notenwechsel vom 27./28. September 1990 enthaltenen Beschränkungen der Souveränität auf einer völkervertragsrechtlichen Grundlage außerhalb des Besatzungsrechts. Die fortgeltenden Normen mögen zwar inhaltlich mit bestehenden Normen des Besatzungsrechts Überleitungsvertrag identisch sein, sie sind aber kein Besatzungsrecht mehr, sie sind keine Bestimmungen des Überleitungsvertrages mehr, sondern vertraglich vereinbarte Regelungen für die Zeit nach Abschluss einer abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland. Die Bestimmungen sind also damit formal nicht „versteinertes Besatzungsrecht“, sondern die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland einschränkende Rechtsbeziehungen völkervertraglicher Natur und damit hochpolitisch.

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b) Vergrößerung des territorialen Geltungsbereichs Die Drei-Mächte-Rechte bezogen sich zunächst nur auf das Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland als Weststaat. Nach dem völkerrechtlichen Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen dehnte sich mit der Inkorporation der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland der Geltungsbereich der die Bundesrepublik Deutschland bindenden völkerrechtlichen Verträge automatisch auf das hinzugewonnene Gebiet der neuen Bundesländer aus. Dies bestätigt Art. 11 Einigungsvertrag69. Auch Ziffer 4a des Notenwechsels, in dem die Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, „dass sie sämtliche angemessenen Maßnahmen ergreifen wird, um sicherzustellen, dass die weiterhin gültigen Bestimmungen des Überleitungsvertrages auf dem Gebiet der gegenwärtigen Deutschen Demokratischen Republik und in Berlin nicht umgangen werden“, bestätigt, dass die genannten Vorschriften auch auf dem Gebiet der neuen Bundesländer Gültigkeit beanspruchen.70 Die Besonderheit besteht hier darin, dass der Notenwechsel bereits am 27./ 28. September 1990 in Kraft trat, also vor der Wiedervereinigung. In Kenntnis der Beendigung der Vier-Mächte-Rechte, die durch das Wirksamwerden des Zweiplus-Vier-Vertrags erfolgen sollte, wurde – zunächst für das Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland – durch den Notenwechsel vereinbart, dass nicht alle Bestimmungen des Überleitungsvertrages mit dem künftigen Zwei-plus-Vier-Vertrag als Folge des Untergangs der Vier-Mächte-Rechte außer Kraft treten sollten. Mit der Wiedervereinigung erstreckte sich dann der Geltungsbereich des Notenwechsels, und wegen Art. 11 i. V. m. Anlage I Einigungsvertrag nicht des Deutschlandvertrags

69 Art. 11 Einigungsvertrag lautet: „Die Vertragsparteien gehen davon aus, daß völkerrechtliche Verträge und Vereinbarungen, denen die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartei angehört, einschließlich solcher Verträge, die Mitgliedschaften in internationalen Organisationen oder Institutionen begründen, ihre Gültigkeit behalten und die daraus folgenden Rechte und Verpflichtungen sich mit Ausnahme der in Anlage I genannten Verträge auch auf das in Artikel 3 genannte Gebiet beziehen. Soweit im Einzelfall Anpassungen erforderlich werden, wird sich die gesamtdeutsche Regierung mit den jeweiligen Vertragspartnern ins Benehmen setzen.“ Ferner: Anlage I Kapitel I Abschnitt I: „Von der Geltung in dem in Art. 3 des Vertrages genannten Gebiet sind gemäß Art. 11 des Vertrages ausgenommen: 1. Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten vom 26. Mai 1952 in der gemäß Liste I des Protokolls über die Beendigung des Besatzungsregimes vom 23. Oktober 1954 geänderten Fassung (BGBl. 1955 II S. 305). 2. Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26. Mai 1952 in der gemäß Liste IV des Protokolls über die Beendigung des Besatzungsregimes vom 23. Oktober 1954 geänderten Fassung (BGBl. 1955 II S. 405) (…)“. 70 Die Niederlande waren hingegen unter Berufung auf die gewohnheitsrechtliche Geltung des Grundsatzes der beweglichen Vertragsgrenzen, der in Art. 31 WVK Eingang gefunden hat, davon ausgegangen, dass eine Erstreckung der Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden einer entsprechenden Einigung beider Vertragsparteien bedürfe. Dementsprechend wurde zur Regelung dieser Frage ein Protokoll abgeschlossen (Text: Tractatenblad 1994, Nr. 81, S. 1 ff.), in dem die Erstreckung der in Anlage 1 genannten Verträge auf das Beitrittsgebiet einvernehmlich festgestellt wurde.

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und des Überleitungsvertrags, nach dem Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen auch auf das hinzugewonnene Gebiet der nun ehemaligen DDR. Die Tatsache, dass aufgrund des völkerrechtlichen Grundsatzes der beweglichen Vertragsgrenzen bei Gebietsveränderungen sich der territoriale Rahmen, in dem Gesetze und völkerrechtliche Verträge gelten, ausdehnt, hat aber innerstaatlich grundsätzlich nicht zur Folge, dass bezüglich der sich auf das hinzugewonnene Gebiet erstreckenden Gesetze und völkerrechtlichen Verträge jeweils ein neues Gesetz bzw. Vertragsgesetz erforderlich wäre. Verfassungsrechtlich könnte sich jedoch wegen Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG eine andere Rechtslage ergeben. So könnte eine gesetzesinhaltliche Regelung etwa in der Tatsache liegen, dass die ehemaligen Bürger der DDR durch die Fortgeltung von Regelungen des Überleitungsvertrags nun Beschränkungen unterworfen wurden, die sie vor der Wiedervereinigung noch nicht betrafen.71 In der Praxis wurden im Falle des Hinzugewinns eines Territoriums die bereits geltenden und sich nun völkerrechtlich auf das hinzugewonnenen Gebiet erstreckenden Gesetze und Vertragsgesetze niemals erneut jeweils einem innerstaatlichen Gesetzgebungsverfahren unterzogen.72 Der Aufwand wäre auch viel zu groß. In der Regel genügt ein Gesetz im formellen Sinne, in dem zum Ausdruck gebracht wird, dass – möglicherweise von einzelnen Ausnahmen abgesehen – innerstaatliches Recht auch im hinzugewonnenen Gebiet in Kraft tritt. Dabei behält jedes Gesetz innerstaatlich seine Rechtsnatur bei. Rechtswidrig umgesetzte Vertragsgesetze bleiben rechtswidrig, deren Mängel werden nicht geheilt. Allein die Ausdehnung des territorialen Geltungsbereichs auf das hinzugewonnene Gebiet erfordert nicht ein Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. Die vorhandenen Gesetze und Vertragsgesetze gelten aufgrund des völkerrechtlichen Grundsatzes der beweglichen Vertragsgrenzen in Verbindung mit dem in der Regel mit verfassungsändernder Mehrheit verabschiedeten innerstaatlichen Gesetz nun für alle sich im aktuellen Staatsgebiet befindlichen Menschen. Die Tatsache, dass die ehemaligen Bürger der DDR nun Beschränkungen unterworfen sind, die sie vor der Wiedervereinigung noch nicht betrafen, macht Gesetze und Vertragsgesetze, aber auch die Vereinbarun-

71 Anders: Blumenwitz (Anm. 52), Staatennachfolge, S. 69; Wittkowski (Anm. 52), S. 221; Fiedler (Anm. 27), JZ 1991, S. 685 ff. (690); Bötsch (Anm. 29), S. 129. 72 Vgl. zum Beitritt des Saarlandes gemäß Art. 23 GG a. F.: Gesetz über die Eingliederung des Saarlandes vom 23. Dezember 1956, Text: http://www.verfassungen.de/de/saar/gesetz56. htm. Vgl. Wilfried Fiedler, Die Rückgliederungen des Saarlandes an Deutschland – Erfahrungen für die Zusammenarbeit zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR? – Staatsund völkerrechtliche Überlegungen, in: JZ 1990, S. 668 ff. – Ferner muss der unionsrechtliche Besitzstand (Community acquis bzw. acquis communautaire), der alle Rechtsakte, die für die Mitgliedstaaten der EU verbindlich sind, umfasst, von einem Staat, der der Europäischen Union beitritt, in seinem kompletten Umfang übernommen werden. Dies betraf zum Beispiel die zehn Staaten, die im Rahmen der EU-Osterweiterung am 1. 5. 2004 der Europäischen Union beigetreten sind.

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gen im Notenwechsel, nicht zu gesetzesinhaltlichen Regelungen.73 Auch bei der Zuwanderung von Personen in ein Staatsgebiet müssen die Gesetze und Vertragsgsetze nicht stets erneut verabschiedet werden. Die Bürger der DDR haben das gleiche Schicksal wie Gäste und Einwanderer, die durch die Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet eventuell neue Rechte genießen und neue Pflichten zu respektieren haben. Insoweit ist der Notenwechsel nicht anders zu behandeln wie jedes andere Bundesgesetz, das unter Umständen den Neubürgern neue Verpflichtungen auferlegt. c) Verlängerung des temporalen Geltungsbereichs Nach Auffassung des OLG Köln74 sei ein Zustimmungsgesetz nicht erforderlich, weil durch die temporale Ausdehnung keine materielle Änderung vorgenommen worden sei. In der Literatur wird vertreten, dass die Vorschriften des Art. 3 des Sechsten Teils einen zeitlich unbegrenzten Verzicht beinhaltet hätten75. Auch wird in diesem Zusammenhang vorgetragen, dass der Notenwechsel nur bekräftige, dass die durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag der Bundesrepublik Deutschland zugestandene Souveränität nur ex nunc gelte und nicht bedeuten könne, dass die Maßnahmen der Alliierten rückwirkend in Frage gestellt werden dürfen76. An der deklaratorischen Natur des Notenwechsels bestehen aber Bedenken, weil durch den Notenwechsel der zeitliche Anwendungsbereich von Normen des Überleitungsvertrages ausgedehnt wurde. In den Debatten zum Überleitungsvertrag ist man davon ausgegangen, dass dieser Vertrag und somit auch die jetzt fortbestehenden Bestimmungen nur bis zum Abschluss eines Friedensvertrages gelten würden77. Dass der Friedensvertrag nie zustande kommen würde, konnte man damals nicht voraussehen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist zwar kein Friedensvertrag, ersetzt ihn aber, da er eine „abschließende Regelung“ in Bezug auf Deutschland enthält. Die Übergangszeit war damit zu Ende. Eine inhaltliche Änderung ist darin zu sehen, dass man zunächst davon ausgehen konnte, dass ein Klagestopp nur bis zum Abschluss eines Friedensvertrages Bestand haben würde. Mit dem Notenwechsel und der Fortschreibung des Klagestopps änderte sich diese Rechtslage. Eine vorübergehende Regelung 73 Nach anderer Auffassung liegt in Ziffer 4 a des Notenwechsels eine gesetzesinhaltliche Regelung, demnach hätten deutsche Staatsbürger auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, die gegen ihr Vermögen gerichteten Konfiskationen ebenso wie Staatsbürger auf dem Gebiet der alten Bundesländer hinzunehmen, obwohl sie vorher noch nicht einmal in den Anwendungsbereich des Überleitungsvertrages fielen. So Blumenwitz (Art. 52), Staatennachfolge, S. 69; Wittkowski (Anm. 52), S. 221; Fiedler (Anm. 27), JZ 1991, S. 685 ff. (690); Bötsch (Anm. 29), S. 129. 74 OLG Köln, VIZ 1998, S. 213 ff. (214). 75 Hermann Raschhofer, Die deutsche Reparationsregelung und die Reparationsposition der Tschechoslowakei, in: Heinrich Kipp/Franz Mayer/Armin Steinkamm (Hrsg.), Um Recht und Freiheit. Festschrift für Friedrich August Freiherr von der Heydte, 1. Halbband 1977, S. 495 ff. (504). 76 Tomuschat (Anm. 36), ZaöRV, Bd. 56/1 – 2 (1996), S. 1 ff. (54). 77 BT-Drucks. 1/3500, Anlage 4, S. 7.

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wurde in eine dauerhafte umgewandelt. Durch den Ausschluss der Klagemöglichkeit haben sich damit die Rechtspositionen der deutschen Bürger in den alten Bundesländern verschlechtert. Damit liegt eine materiell-rechtliche Änderung und somit eine gesetzesinhaltliche Regelung vor.78 d) Völkerrechtliche Konsequenz der Verfassungswidrigkeit Wie bereits anfangs erwähnt kann sich grundsätzlich kein Staat der Welt unter Berufung auf die innerstaatliche Rechtsordnung völkerrechtlichen Verpflichtungen entziehen. Die völkerrechtliche Verpflichtung des Notenwechsels vom 27./28. September 1990 könnte also unabhängig von verfassungsrechtlichen Bedenken völkerrechtlich Gültigkeit beanspruchen. Die Frage, welche völkerrechtlichen Folgen sich ergeben, wenn das zum Vertragsabschluss landesrechtlich zuständige Organ die ihm verfassungsrechtlich hierfür auferlegten Schranken nicht einhält, ist umstritten. Sowohl die These, dass die völkerrechtliche Gültigkeit von Verträgen durch die Nichtbeachtung landesrechtlicher Schranken von Seiten des an sich zum Vertragsabschluss zuständigen landesrechtlichen Organs nicht beeinträchtigt wird (Irrelevanztheorie)79, als auch die umgekehrte These, dass die völkerrechtliche Gültigkeit von Verträgen durch die Nichtbeachtung landesrechtlicher Schranken von Seiten des an sich zum Vertragsabschluss zuständigen landesrechtlichen Organs beeinträchtigt wird (Relevanztheorie)80, wurde von namhaften Autoren vertreten. Nach der vom StIGH81 zurecht bevorzugten Irrelevanztheorie ist ein Verstoß gegen innerstaatliche Kompetenznormen im internationalen Bereich ohne Auswirkung. Als Begründung wird vor allem die Bedeutung der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes für den internationalen Rechtsverkehr angeführt. Auch nach Ansicht des Schweizerischen Bundesgerichts berührt die Nichteinhaltung der innerstaatlichen Kompetenzvorschriften beim Abschluss des Vertrages nicht die Gültigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags.82 Nach der Relevanztheorie hingegen hat ein Staat, dessen Organ bei Vertragsabschluss gegen innerstaatliche Kompetenznormen verstößt, zumindest ein Anfechtungsrecht. Eine vermittelnde Ansicht versucht zwischen beiden Extremen zu einen Ausgleich zu finden, indem 78

Ähnlich Blumenwitz (Anm. 42), Das Offenhalten der Vermögensfrage, S. 62; Fiedler (Anm. 27), JZ 1991, S. 690; Bötsch (Anm. 29), S. 131. 79 Vgl. dazu Gerald G. Fitzmaurice, in Art. 9 Abs. 1 seines ersten Entwurfs für die ILC, in: YILC 1956, Bd. II, S. 108; Dionisio Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, 3. Aufl., 1929, S. 275 ff.; er leitet dies aus dem „ius repraesentationis omnimodae“ ab; vgl. ferner Hans Blix, Treaty-Making Power, 1960, S. 388 f., er beruft sich auf die sog. „head of state theory“; Ernst Seligmann, Abschluß und Wirksamkeit der Staatsverträge, 1890, S. 148 ff.; Paul Heilborn, Das System des Völkerrechts aus den völkerrechtlichen Begriffen, 1896, S. 143 ff. 80 Vgl. dazu Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 236 ff. 81 StIGH, Series A./B., No. 53 (1933), S. 71 (S. 53 der Entscheidung) (Legal Status of Eastern Greenland). 82 Vgl. EuGRZ 1995, S. 309 f. (310 Ziffer 2 c).

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sie, im Grundsatz von der Irrelevanztheorie ausgehend, einer Verletzung innerstaatlicher Kompetenznormen nur dann für den internationalen Bereich eine Bedeutung zukommen lässt, wenn diese offenkundig ist und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betrifft (Evidenztheorie). Die Evidenztheorie liegt Art. 46 WVK zugrunde.83 Sie hat sich in der Lehre weitgehend durchgesetzt. Nach dieser Bestimmung kann ein Staat sich grundsätzlich nicht auf den Umstand berufen, dass seine Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, unter Verletzung seines innerstaatlichen Rechts über die Vertragsabschlusskompetenz erfolgt sei. Eine solche Berufung ist ausnahmsweise nur dann möglich, wenn die Verletzung des innerstaatlichen Rechts offenkundig war und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betraf. Art. 46 Abs. 2 WVK erklärt, dass eine Verletzung dann offenkundig ist, wenn sie für jeden Staat, der sich hier im Einklang mit der allgemeinen Übung und nach Treu und Glauben verhält, objektiv erkennbar ist. Hier kann nicht behauptet werden, dass der Fehler für die Partner des Notenwechsels evident erkennbar war, zumal man vom Vertragspartner nicht erwarten kann, mit der Rechtsordnung des anderen Vertragspartners besser vertraut zu sein als dieser selbst. Innerstaatlich ist der Notenwechsel formell verfassungswidrig, die Fehlerhaftigkeit bedeutet beispielsweise, dass vor allem der Klagestopp des Art. 3 Abs. 3 Sechster Teil Überleitungsvertrag dem Rechtsunterworfenen nicht entgegengehalten werden kann. Die formelle Verfassungswidrigkeit hat aber nicht die völkerrechtliche Nichtigkeit zur Folge. V. Resümee Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist den Drei-Mächte-Rechten nicht durch Aufhebung des Vier-Mächte-Rechte die Rechtsgrundlage entzogen worden, da nach Art. 7 Abs. 1 Zwei-plus-Vier-Vertrag ausdrücklich nur die Abkommen der vier Alliierten für beendet erklärt wurden, nicht aber die Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westalliierten. Die Drei-Mächte-Rechte haben aber indirekt durch Art. 7 Abs. 1 Zwei-plus-Vier-Vertrag ihre Bedeutung verloren, da diese mit der Beendigung der Vier-Mächte-Rechte und dem Erlangen der vollen Souveränität gemäß Art. 7 Abs. 2 Zwei-plus-Vier-Vertrag obsolet wurden. Schließlich wäre es kaum verständlich gewesen, warum die Sowjetunion ihre Rechte aufgeben sollte, während die Drei Westmächte ihre Rechte in Deutschland, und nun wegen des völkerrechtlichen Grundsatzes der beweglichen Vertragsgrenzen im wiedervereinigten Deutschland, behalten sollten. Der US-amerikanischen Verhandlungsdelegation war es bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen daher bewusst, dass auch die DreiMächte-Rechte neu verhandelt werden mussten. Dies konnte nicht im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche stattfinden, da die Sowjetunion an den dreiseitigen Verträgen nicht beteiligt war.

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YBILC 1966 II, S. 240 ff.

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In der Note zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und den Regierungen der Französischen Republik, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland vom 27./28. September 1990 wurde eine Regelung für den Deutschlandvertrag und den Überleitungsvertrag getroffen. Der Notenwechsel kam als Verwaltungsabkommen zustande, sodass er bereits am 28. September 1990, also vor der Wiedervereinigung, wirksam werden konnte. Gemäß Ziffer 1 des Notenwechsels vom 27./28. September 1990 trat der Deutschlandvertrag mit dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags außer Kraft. Gemäß Ziffer 2 trat der Überleitungsvertrag mit dem Deutschlandvertrag außer Kraft. Der Notenwechsel vom 27./28. September 1990 ist somit ein Beendigungsvertrag des Überleitungsvertrags. Gemäß Ziffer 3 blieben aber einige Bestimmungen des Überleitungsvertrags in Kraft. Die Drei-Mächte-Rechte bezogen sich zunächst nur auf das Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland als Weststaat. Nach dem Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen dehnte sich dann mit der Inkorporation der DDR der Geltungsbereich der die Bundesrepublik Deutschland bindenden völkerrechtlichen Verträge automatisch auf das hinzugewonnene Gebiet der neuen Bundesländer aus. Dies gilt aber wegen Art. 11 Einigungsvertrag nicht für den Deutschlandvertrag und den Überleitungsvertrag. Da aber einige Bestimmungen des Überleitungsvertrags wegen des Notenwechsels vom 27./28. September 1990 fortbestehen, erstrecken sich diese Bestimmungen nun auch auf das Gebiet und die Bewohner der ehemaligen DDR. Nach Art. 7 Zwei-plus-Vier-Vertrag beendeten die Vier Mächte „ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“. Als Folge beruhen nun alle Beschränkungen der Souveränität im Notenwechsel vom 27./ 28. September 1990 auf einer völkervertragsrechtlichen Grundlage außerhalb des Besatzungsrechts, auch wenn sie inhaltlich mit Normen des Besatzungsrechts Überleitungsvertrag identisch sind. Die Bestimmungen sind also damit formal nicht „versteinertes Besatzungsrecht“, sondern die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland einschränkende Rechtsbeziehungen völkervertraglicher Natur und damit hochpolitisch. Die Tatsache, dass aufgrund des völkerrechtlichen Grundsatzes der beweglichen Vertragsgrenzen bei Gebietsveränderungen sich der territoriale Rahmen, in dem Gesetze und völkerrechtliche Verträge gelten, ausdehnt, hat aber grundsätzlich nicht zwingend zur Folge, dass bezüglich der völkerrechtlichen Verträge innerstaatlich jeweils erneut ein Vertragsgesetz erforderlich wäre. Der Aufwand wäre auch viel zu groß. Die Gesetze gelten für die sich im aktuellen Staatsgebiet befindlichen Menschen. Auch bei der Zuwanderung von Personen in ein Staatsgebiet müssen Gesetze und Vertagsgesetze nicht stets erneut verabschiedet werden. Durch den Notenwechsel wurde ferner der zeitliche Anwendungsbereich von einigen Normen des Überleitungsvertrages ausgedehnt, da dieser Vertrag zunächst nur bis zum Abschluss eines Friedensvertrages gelten sollte. Dass der Friedensvertrag nie zustande kommen würde, konnte man damals nicht voraussehen. Der Zwei-

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plus-Vier-Vertrag ist zwar kein Friedensvertrag, ersetzt ihn aber, da er eine „abschließende Regelung“ in Bezug auf Deutschland enthält. Die Übergangszeit war damit zu Ende. Eine vorübergehende Regelung wurde somit in eine dauerhafte umgewandelt. Es erfolgte damit eine Umwandlung von Besatzungsrecht als spezielles Völkerrecht in die Souveränität einschränkendes allgemeines Völkervertragsrecht. Da ein erheblicher Eingriff in die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen wird und auch in die Rechte des einzelnen deutschen Staatsangehörigen eingegriffen wird, enthält der Notenwechsel vom 27./28. September 1990 gesetzesinhaltliche Regelungen, sodass die Zustimmung oder die Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes erforderlich gewesen wäre, die aber nicht vorlag, da der Notenwechsel als Verwaltungsabkommen nach Art. 59 Abs. 2 S. 2 GG verabschiedet wurde. Innerstaatlich ist damit die den Notenwechsel umsetzende Rechtsverordnung formell verfassungswidrig. Die formelle Verfassungswidrigkeit hat aber nach der Irrelevanztheorie nicht die völkerrechtliche Nichtigkeit zur Folge, zumal der verfassungsrechtliche Fehler nicht evident ist. Handeln also deutsche Gerichte oder Behörden verfassungsgemäß, verletzen sie das Völkerrecht, wollen sie dem Völkerrecht genügen, verletzen sie die Verfassung!

V. Wirtschaftsrecht

Wirtschaftsrecht zwischen Intervention, Abstimmung und Selbstregulierung Von Erich Schanze I. Koordination und Notariat im Wirtschaftsrecht Die Biografie Friedrich Bohls enthält zwei Daten, die für das Thema der Modalitäten der Wirtschaftsregulierung interessieren. Für seine ungewöhnliche politische Karriere scheinen sie eher am Rande zu stehen. Friedrich Bohl war von 1976 bis 1999 Notar. In Hessen gibt es das Anwaltsnotariat. Wer sich in den 70er Jahren als Rechtsanwalt zum Notar bestellen ließ, dokumentierte sein Interesse an der nicht-streitigen, vorsorgenden Jurisprudenz. In der Politik dagegen galt Bohl seinerzeit lange als kantiger Angreifer, Streiter, Advokat. Allerdings sah Bohl – so das zweite historisch belegte Datum, und insoweit wieder ganz Notar – in der eigenen Bundestagsfraktion seine Rolle als Vermittler und Koordinator. Der Nachweis dieses Talents machte ihn zu einer der Zentralfiguren bei der Realisierung der deutschen Einigung. Welche Rolle spielen die Grundkonzepte „Koordination“ und „Notariat“ im Wirtschaftsrecht? Im Folgenden möchte ich zunächst unter dem Stichwort „Koordination“ zeigen, dass sowohl die Form der vertraglichen Abstimmung als auch die Form der Selbstorganisation essentielle Modalitäten des Wirtschaftsrechts sind. Unter dem zweiten Stichwort „Notariat“ soll es nicht um das engere Bild des hochqualifizierten Urkundsbeamten des lateinischen Notariats gehen, der uns bei wichtigen privaten Rechtsgeschäften als Persönlichkeit in vielen Ländern Europas entgegentritt1 und respektheischende Kostennoten schreibt. Vielmehr geht es um den dort repräsentierten sozialen Mechanismus, die Notariatsfunktion, um ein gesellschaftlich wichtiges „Offizium“ der Vorsorge zur Vermittlung, Orientierung und Streitvermeidung. Dieses Offizium tritt uns, wie ich zeigen möchte, im Wirtschaftsrecht unter verschiedenen Namen als machtvolle, bisweilen autonome Instanz gegenüber. Denken wir beispielsweise an eine Zentralbank, ein kluges Kartellamt, eine von der Industrie ernst genommene Aufsichtsbehörde, vielleicht auch gelegentlich und unter Umständen an einen Minister für besondere Aufgaben. Aber zunächst: worum geht es im Wirtschaftsrecht? Warum ist dies ein so kontroverser Gegenstand?

1 Zur Verbreitung des lateinischen Notariats und dessen ökonomischer Funktion vgl. Arruñada, Institutional Foundations of Impersonal Exchange. The Theory and Policy of Contractual Registries, 2012.

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Erich Schanze

II. Wirtschaftsrecht und „Juristen als solche“ Wirtschaftsregulierung, so die ältere Definition, ist Eingriff des Staats in die Wirtschaft, Intervention.2 Der Rechtsstaat besitzt die klassischen Mittel der Gesetzgebung und des Verwaltungsvollzugs durch rechtsgebundene Verwaltungsakte in der Form von Verboten und Geboten. Die Geschichte des Rechtsstaats ist eine Geschichte der Zurückdrängung des Verwaltungsermessens. Ebenso wie das Gesetz allgemein gilt, sind die bestimmten und auch die unbestimmten Rechtsbegriffe der Normenhierarchie allgemein und gleich anzuwenden, ohne Ansehen der Person. Studiert man die Geschichte des „modernen“ Wirtschaftsrechts, die in Deutschland in der Gründerzeit des Berliner Kaiserreichs beginnt,3 so stößt man von Beginn an auf Anomalien. Sie betreffen insbesondere Eigenschaften und Inhalte des Gesetzgebungsprozesses und führen zu einer Distanzierung der führenden zeitgenössischen Juristen gegenüber diesem Gebiet. Der Streit scheint heute, da doch fast alles zu Wirtschaftsrecht geworden ist, aufgehoben. Er lebt jedoch subkutan unter anderem in der in Europa geltenden Scheidung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht fort. Beide Bereiche reklamieren das Wirtschaftsrecht für sich. Für Juristen gerät es häufig zur Kulturentscheidung, ob man sich dem öffentlichen oder dem privaten Recht zugehörig fühlt. Das Wirtschaftsrecht bleibt so ein Zwitter. Bernhard Windscheid, der dominante deutsche Zivilist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte in seiner berühmten Leipziger Rektoratsrede von 1884 formuliert: „Die Gesetzgebung steht auf hoher Warte; sie beruht in zahlreichen Fällen auf ethischen, politischen, volkswirtschaftlichen Erwägungen oder auf einer Kombination dieser Erwägungen, welche nicht Sache des Juristen als solchen sind.“4 Windscheid sagt dies im Kontext der Vorstellung, dass der Jurist Exeget des geltenden Rechts sei; er schöpfe seine Erkenntnis aus der Betrachtung der Entwicklung der Rechtsbegriffe.5 Man hat die Aussage Windscheids in der Folgezeit nicht als Befund, sondern als Inbegriff einer überwundenen Vorstellung der „Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts“ verstanden. Man hat sich über seine Feststellung sogar lustig gemacht. Problem blieb, dass auch die neue, antithetisch verstandene sog. „Interessenjurisprudenz“ des 20. Jahrhunderts mit ihrer Grundthese vom denkenden Gehorsam gegenüber dem Gesetz die von Windscheid bezeichneten „ethischen, politischen, volks2

Gerd Rinck, Wirtschaftsrecht, 5. Aufl. 1977, S. 7. Hans-Joachim Mertens/Christian Kirchner/Erich Schanze, Wirtschaftsrecht – Eine Problemorientierung, 1978, 2. Aufl. 1982, S. 65 – 69. 4 Bernhard Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft (Leipziger Rektoratsrede 1884), Gesammelte Reden und Abhandlungen, 1904, S. 112. 5 Windscheid (Anm. 4), Aufgaben, S. 107, 109. Lehrreich für die Kontinuität des fachlichen Verständnisses eines „Propriums“ des „Juristischen“ bei der richterlichen Entscheidungsmethode 130 Jahre nach Windscheid ist die vorwiegend an „klassischen“ Rechtsfällen im zivilistischen Kanon orientierte aktuelle rechtsvergleichende Studie von Günter Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, dazu meine Rezension, in: AcP 209 (2009), S. 712 – 718. 3

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wirtschaftlichen Erwägungen“ nicht zum methodisch durchdachten Gegenstand des juristischen Denkens und Arbeitens gemacht hat. Im „Dritten Reich“ wurde die Interessenjurisprudenz zwanglos mit dem „gesunden Volksempfinden“ und dem „Führerwillen“ verbunden.6 In der Nachkriegszeit sehen wir im Wirtschaftsrecht ein mehr oder minder autonomes juristisches Jonglieren zwischen den artikulierten Ansprüchen der Lobby im Rahmen breit formulierter verfassungsrechtlicher Grenzen, die dann ihrerseits in „aktiven“ Interpretationen des Verfassungsgerichts und der europäischen Rechtsprechung in einer Schaffung eines Netzes judikativer Direktiven eingeengt wurden. Seit dem Bestand der machtvollen Verfassungsgerichtsbarkeit war und ist es der Politik bisweilen genehm, dass Letztentscheidungen andernorts erledigt werden. Wirtschaftspolitische Fragen werden zu Rechtsfragen umformuliert und in streitigen Verfahren moderiert.7 Im Wirtschaftsrecht geht es um Zweckmäßigkeiten, in der Sprache Windscheids um genau jene „politischen, volkswirtschaftlichen Erwägungen“ seiner These. Sie finden ihre Grenze nicht bei der Gesetzgebung, sondern setzen sich in jeder Entscheidung einer Verwaltungsbehörde oder eines Gerichts fort. Dies stützt die Beobachtung, dass Wirtschaftsrecht „politisches Recht“ sei.8 Mit dieser tapferen und in der Sache kaum bestreitbaren Analyse sind jedoch nicht wirklich greifbare Folgen verbunden. Woher erhalten wir Orientierungen in jenem „politischen“ Entscheidungsprozess über wirtschaftsrechtliche Konfliktlagen? In einer Welt fortschreitender Juridifizierung stoßen sowohl Behörden als auch Gerichte nicht selten bei der Rechtsanwendung an die Grenzen ihres Wissens, da auslegungsfähige Maßstäbe fehlen. Ebenso problematisch sind jedoch auch die bereits angedeuteten fortschreitenden Anomalien des Gesetzgebungsprozesses für wirtschaftsrechtliche Maßnahmen. Während im Ausgang des 19. Jahrhunderts die „Juristen als solche“ sich hochgemut mit der Redaktion des BGB und einer Systematisierung der Grundlagen eines rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts und Strafrechts beschäftigten, wurden parallel im Reichstag zahlreiche wirtschaftsrechtliche Gesetze verabschiedet, die beispielsweise im Rahmen der „Schutzzollpolitik“ die wirtschaftspolitischen Interessen der Schwerindustrie und der Agrarwirtschaft kodifizierten.9 Auch die Patentgesetzgebung ist an den Interessen der rasch wachsenden Großunternehmen orientiert.10 Bereits im Prozess der Militarisierung der rivalisierenden europäischen Mächte und nachdrücklich dann im Ersten Weltkrieg werden zahlreiche Maßnahmegesetze verabschiedet, bisweilen Einzelfallgesetze, die über den Grundsatz der Allgemeinheit des Gesetzes disponieren. Die „Kriegswirtschaft“ und deren Rechtsetzungsprozesse, 6

Dazu im Detail: Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7. Aufl. 2012. Beispiel ESM: dazu Erich Schanze, Fuchs, Igel und die Präzepte des Rechts, in: Felix Maultasch (Hrsg.), Fuchs oder Igel? – Fall und System in Recht und Wissenschaft, 2014, S. 39, 43. 8 Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 249. 9 Mertens/Kirchner/Schanze (Anm. 3), S. 84. 10 Mertens/Kirchner/Schanze (Anm.3), S. 84 – 85. 7

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Kontroll-, Verbots-, Besteuerungs- und Fördermaßnahmen wurden in den Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zum Regelfall. Die wirtschaftsregulierenden Maßnahmen setzten sich unter der veränderten wettbewerbsorientierten verfassungspolitischen Konstellation nach 1949 eher mit Erweiterungen des Arsenals und Erhöhung der Regelungsdichte bis in die heutige Regulierungspraxis der Nationalstaaten und der Europäischen Union fort. Man hat deshalb bisweilen die Kriegswirtschaft als Ursprung des Wirtschaftsrechts bezeichnet,11 obwohl die Anfänge des „modernen“ Wirtschaftsrechts nachweislich in die Zeit der Industrialisierung der Nationalstaaten in Europa und in den USA im 19. Jahrhundert zurück reichen. In dieser Zeit organisieren sich Staat und Wirtschaft in einer neuen Form der „organisierten Interdependenz“.12 Das Gelingen der Wirtschaft wird zur dominanten Staatsaufgabe. Entsprechend artikuliert die Wirtschaft ihr manifestes Interesse an der Funktionsfähigkeit der Staatlichkeit. Dieser Befund nötigt zu einer Veränderung des Verständnisses des Wirtschaftsrechts.13 Das geläufige Bild vom „Eingriff“ des Staats zur Wirtschaftsregulierung ist schief und unvollständig. Es handelt sich auch schon lange nicht mehr um ein nationalstaatliches Phänomen. Wirtschaftsrecht ist im nationalen und im internationalen Kontext ein „Regelwerk der Koordinierung des Konflikts zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Planungsansprüchen privater, staatlicher, intermediärer (parastaatlicher) und suprastaatlicher Akteure“14. Ohne die Ordnungsleistungen nichtstaatlicher Akteure, wie beispielsweise im Normenwesen, ist Wirtschaftsrecht nicht verständlich. Gebot, Verbot, Abstimmung, Selbstregulierung stehen nebeneinander, nicht selten auch im Konflikt. Die Frage, ob und wieweit wir als Juristen auf die Bearbeitung dieses Befunds vorbereitet sind, mag der Leser beantworten. Der bedeutende amerikanische Richter Louis D. Brandeis zitiert hierzu bereits 1916 den bedenkenswerten Satz, dass ein Jurist, der weder Wirtschaftswissenschaften noch Soziologie studiert habe, auf dem besten Weg zum Feind der Allgemeinheit sei.15

11 Arthur Nussbaum, Das neue deutsche Wirtschaftsrecht: Eine systematische Übersicht über die Entwicklung des Privatrechts und der benachbarten Rechtsgebiete seit Ausbruch des Weltkrieges, 1920, S. 1. 12 Mertens/Kirchner/Schanze (Anm. 3), S. 65 – 72. 13 In den USA zum Komplementärbegriff der „regulation“ grundlegend: Stephen Breyer, Regulation and its Reform, 1982; zu den aktuellen Handlungsformen der Regulierung in Deutschland vgl. Werner Frotscher/Urs Kramer, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 6. Aufl. 2013, Rn. 617 ff. 14 Erich Schanze, Investitionsverträge im internationalen Wirtschaftsrecht, 1986, S. 27. 15 „A lawyer who has not studied economics and sociology is very apt to become a public enemy“. Der Satz, den Louis D. Brandeis, The Living Law, in: Illinois Law Review 10 (1915/ 16), S. 461 (467), mit großem Nachdruck zitiert, stammt von dem zeitgenössischen Chicagoer Soziologen Charles R. Henderson.

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III. Wirtschaftsregulierung durch Abstimmung Gewiss ist bis heute grundlegendes Ordnungsmuster wirtschaftsrechtlichen Staatshandelns das Schema „Verbot/Erlaubnis“ durch Gesetzgebung und Durchführung im Rahmen von Allgemeinverfügung und Verwaltungsakt. Diese vertikale Modalität des rechtsgebundenen Staatshandelns scheint frei von Abstimmungselementen zu sein. Jedoch wird es auch hier in der Realität der Durchsetzung komplexer Regelungsgegenstände zu Abstimmungsprozessen kommen. Die Behörde steht nicht selten vor Schranken des Wissens über den konkreten Regulierungsvorgang. Denken wir beispielsweise an Genehmigungsverfahren für als gefährlich eingeschätzte Industrieanlagen oder an die Erteilung einer Geschäftsleiterbefähigung durch die Bankenaufsicht. Wissensprobleme und Compliance-Probleme können zum Teil durch Zuziehung von Sachverstand ausgeräumt werden. Die naheliegende Frage ist dann, wer realiter über Verbot oder Genehmigung entscheidet. Dennoch gewährleistet die Überprüfung der Plausibilität durch die Entscheidungsbehörde ein gewisses Maß eher verfahrensrechtlich ausgestalteter Kontrolle der gutachtlich zugelieferten „Tatsachen“. Von hier ist der Weg zum Aushandeln von Entscheidungen nicht weit. Im Folgenden soll es nicht um das bekannte Problem des Vergleichs vor den Verwaltungsgerichten (vgl. § 106 VwGO) gehen; ebenso nicht um andere Grauzonen zwischen Behördenentscheidung und Konsens, die häufig zum Prüfstein für die Einhaltung rechtsstaatlicher behördlicher Maßstäbe werden. Mangelhafte Behördenorganisation und Entscheidungsprozesse werden beispielsweise dadurch signalisiert, dass sich ein Kreis behördennaher Rechtsberater berühmt, ein Monopol zur Erreichung günstiger Entscheidungen zu besitzen. Dass man inhaltlich „Bescheid weiß“, mag förderlich sein, dass man „dort bekannt“ sei, sicher irritierend. Leider gibt es für derartige werbliche Erklärungen der Profession auch noch im Jahre 2014 ein erhebliches Maß an Toleranz. Wirtschaftsregulierung durch Aushandeln und Abstimmung soll vielmehr hier nur dann von Interesse sein, wenn es in transparenten formalen Prozessen geschieht, die auch entsprechend dokumentiert werden. Formale Prozesshaftigkeit und Dokumentation verweisen auf den Topos „Notariat“, den wir im Privatrecht kennen. Der Frage wäre nachzugehen, ob es – sobald es zu rechtlich bedeutsamen Abstimmungsprozessen kommt – nicht auch bei der Beteiligung staatlicher Akteure eine Art „Notariat“ geben sollte, oder jedenfalls geeignete Substitute. Aus der Sicht des deutschen öffentlichen Rechts war bis vor etwa 30 Jahren die vertragliche Abstimmung von Regulierungsgegenständen weitgehend Tabuzone. Als nach der ersten Phase der Rezeption des Aufsatzes des Nobelpreisträgers R. H. Coase zum Problem der sozialen Kosten von 196016 Beiträge zur Regulierung 16 R. H. Coase, The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics 3 (1960), S. 1; deutsche Übersetzung in: Heinz-Dieter Assmann/Christian Kirchner/Erich Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, 1978, 2. Aufl. 1993, S. 129 mit Nachweisen zur Rezeption.

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von Umweltproblemen durch Coasean bargaining erschienen, war die Ablehnung groß. Heute ist der Umwelt-Zertifikatshandel eine regulative Selbstverständlichkeit. Ebenso erging es dem Vorschlag, sich bei Großinvestitionen systematisch mit den empirisch wohl unbestreitbar vorhandenen Erscheinungen der „konsensualen Wirtschaftsregulierung“17 auseinander zu setzen. Warnungen vor einer Abweichung vom Lehrkanon schienen geboten. Wehret den Anfängen! Die genaue Beschreibung der institutionellen Realitäten und ihrer Mechanik wurde zugleich als Rechtfertigung einer tendenziell illegalen Praxis verstanden. Die öffentlich-rechtliche Dogmatik hat – nach tastenden Versuchen mit der Form des Verwaltungsvertrags18 – erst wesentlich später verstanden, dass mit dem Festhalten am exklusiven Bild der vertikalen Entscheidungsstruktur weder die Qualität der nichtstaatlichen Wirtschaftsakteure noch die Macht- und Wissensprobleme, noch der Umgang mit Risiko im modernen Wirtschaftsrecht angemessen erfasst und problemtreffend behandelt werden können. Dass diese hybriden Handlungsformen zwischen Staatlichkeit und Wirtschaft verfassungsrechtlichen Beschränkungen unterliegen, insbesondere begründete Kompetenzen, geschützte Interessen und Transparenz achten müssen, sollte unbestritten sein. Wo dagegen die jeweiligen Grenzen liegen, ist die schwierigste, bei allen großen wirtschaftspolitischen Projekten auftretende Frage des aktuellen Wirtschaftsrechts.19 Denken wir an die Energiepolitik, die Finanz- und Währungspolitik oder die Verkehrspolitik. Wenden wir uns zur Erläuterung einem etwas engeren Beispiel zu: internationalen Rohstoffprojekten und deren institutioneller Ausformung in formalisierten Abstimmungsprozessen. IV. Regulation by Consensus: Das Frankfurter Rohstoffprojekt Wenn man heikle Themen „zu Hause“ nur schwer aufgreifen kann, aber dennoch publikumswirksam behandeln möchte, schreibt man Briefe aus der Sicht eines Persers, lettres persanes.20 So geschah es auch zwischen 1975 und 1988. Das Frankfurter Rohstoffprojekt mit seinen vielen Bänden zur Empirik und Analytik von großen Metallbergbau-Projekten in Entwicklungsländern21 war allerdings nicht nur davon ge17

Zum Begriff: Schanze (Anm. 14), Investitionsverträge, S. 14 – 15 und passim. Kritisch beispielsweise Joachim Burgmeister, Walter Krebs, Christian Autexier, Johannes Hengstschläger und Rainer J. Schweizer, Verträge und Absprachen zwischen der Verwaltung und Privaten, in: VVDStRL 52 (1993), S. 190. 19 Hierzu aus kartellrechtlicher Sicht umfassend: Michael Kling, Staatliches Handeln, Daseinsvorsorge und Kartellrecht – Die Rolle der europäischen Wettbewerbsregeln im öffentlichen Sektor, 2014. 20 Montesquieu, Lettres Persanes, 1721. 21 Zweibändige Grundstudie: Christian Kirchner et al., Rohstofferschließungsvorhaben in Entwicklungsländern, Teil 1: Interessenrahmen, Verhandlungsprozeß, rechtliche Konzeptionen, 1977, engl. 1979; Erich Schanze et al., Teil 2: Probleme der Vertragsgestaltung, 1981, engl. 1981 und dazu ausführlich aus heutiger Sicht: Erich Schanze, Internationales Rohstoff18

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tragen, die zu Hause nicht recht wahrgenommenen hybriden Formen der Wirtschaftsregulierung am Beispiel konkreter internationaler Projektorganisation zu illustrieren. Vielmehr ging es auch um andere wichtige Fragen, namentlich, wie die nationale Rohstoffversorgung gesichert, wie Milliardenprojekte in prekären Umgebungen organisiert und wie gerechte Transfers in Entwicklungsländer ermöglicht werden können. Aber die methodische Frage nach den Modalitäten der Wirtschaftsregulierung war in diesem Projekt rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung durchgehend virulent. Grundlage großer internationaler Bergbauprojekte ist regelmäßig ein Vertrag zwischen dem Gastland und einem oder einer Gruppe von Investoren, der seinerseits üblicherweise die Gründung oder den Eintritt in Zweckgesellschaften zur Projektdurchführung umfasst. Umfangreiche Finanzierungs-, Liefer- und Abnahmeverträge sowie völkerrechtliche Abkommen flankieren den Hauptvertrag. Dieser Hauptvertrag ist in vielen Rohstoffstaaten zugleich zur Formalisierung als Gesetz erlassen worden. Es geht in der Grundform um eine individuelle Koordinierung zur Durchführung eines langfristigen Projekts, beispielsweise einer Eisenerzgrube oder einer Grube eines Mischerzes zur Gewinnung von Konzentraten mit Kupfer-, Gold- und Silberanteilen. Mit der Grube entsteht umfangreiche Infrastruktur von Verkehrswegen, Häfen, Flugplätzen, Siedlungen mit Schulen, Krankenhäusern und Märkten, Verarbeitungs- und Hilfsbetrieben. Derartige Projektinvestitionen sind häufig zentrale Steuerquelle von Entwicklungsländern; von ihrem Gelingen hängen die Entwicklungsmöglichkeiten von Regionen oder ganzer Nationalstaaten ab. Rohstoffreiche Staaten wie beispielsweise Chile, der Kongo, Liberia oder Papua Neu Guinea haben zugleich den Fluch der Abhängigkeit von derartigen überlebenswichtigen Einzelprojekten erfahren. So sehr diese Verträge exotisch erscheinen mögen, sie haben mit wachsender Größe von Einzelprojekten in hochentwickelten Nationalstaaten dort strukturelle Gegenstücke in Kernkraftwerken, Braunkohlegruben, Windparks, Stromleitungsnetzen, Chemie- und Entsorgungsanlagen, großen Fertigungskomplexen von Industriegütern und Dienstleistungskomplexen, die nicht selten in Varianten der company town auftreten. Wenn man hier das Netzwerk ansiedlungspolitscher Zusagen durch Sonderkonditionen bei Infrastruktur und Besteuerung betrachtet, gelangt man ebenfalls zur Rechtsstruktur einer konsensualen Wirtschaftsregulierung, selbst wenn in diesen Vertragsschirmen zwischen den Akteuren auf Seiten des Staats und der Wirtschaft dann klassische Genehmigungsverfahren oder andere vertikale Entscheidungsprozesse stattfinden mögen. Diese „Verträge“, so konnte ich vor 30 Jahren nach Analyse von über einhundert Großverträgen dieser Art feststellen, „überschreiten trotz der Vertragsform nicht selten das, was der für den Privatrechtsverkehr konzipierte Vertrag inhaltlich aufnehrecht, in: Wulf A. Kaal/Matthias Schmidt/Andreas Schwartze (Hrsg.), Recht im ökonomischen Kontext. Festschrift für Christian Kirchner 2014, S. 253; weitere acht Bände folgten bis 1988.

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men und rechtsförmig in allen Konsequenzen zu regeln vermag. Gegenstände sind nicht nur die verschiedenartigen Abstimmungen des internationalen Leistungsaustauschs; es geht vielmehr um die Verfassung von Teilrechtsordnungen für Wirtschaftsprojekte. Die bezeichneten Koordinierungen verletzen vielfach die elementare Grenze, die jedem Vertragsschluss in Privatautonomie gesetzt ist, nämlich das Verbot des Vertrages zu Lasten Dritter.“22 Da diese Arrangements auch bisweilen über geltende allgemeine Gesetze disponieren, ist das Erfordernis besonderer Legitimierung unabweisbar. Auch der bereits genannte Weg der Verabschiedung als Gesetz ist wegen des Einzelfallcharakters prekär. Zudem haben sich in der Vergangenheit Investoren sogar gegen die Umformung in ein Gesetz gewehrt, weil sie befürchteten, die Abrede könne dann einseitig durch ein neues nationales Gesetz abgeändert werden. Die konsensualen Regulierungen versuchen, offene und latente Konfliktpotentiale zu kanalisieren, die aus verschiedenen Aktionspotentialen von Staat und Investor resultieren. Während der Investor die chronische Befürchtung hegt, der Staat werde die Investitionsbedingungen einseitig ändern und deshalb unangemessen schnell, illoyal, auf Amortisation seiner Investition drängt, kann der Staat die getätigte Investition zur „Geisel“ nehmen. In der Vertragsgestaltung kommt es mithin darauf an, dieses „Loyalitätsproblem“ und „Geiselproblem“ durch Vorkehrungen im Vertrag zu reduzieren. Sicherheit und Aufbau von Vertrauen auf beiden Seiten durch geeignete Vertragsgestaltung und Sicherungsnetzwerke kann zu einer “win-win“-Situation führen. V. Franchising im öffentlichen Sektor? Asymmetrische, hybride Koordinierungsvorgänge finden sich auch im sog. „Vergabewesen“.23 Der deutsche Gebrauch des Begriffs „Vergabe“ markiert noch die fragwürdige Kulisse hoheitlichen Handelns; in der Schweiz spricht man ehrlicher von „Beschaffung“, entsprechend der englische Fachbegriff „procurement“. Klammern wir zur Vereinfachung den Sonderfall der Beschaffung zur Verteidigung aus. Organe der öffentlichen Hand sind häufig Auftraggeber von Großaufträgen zur Entwicklung, Bereitstellung und zum Erwerb von Infrastruktur. Verkehrswegebau und Erhaltung, Erziehung in Kindergärten, Schulen und Universitäten, Krankenversorgung gehören zu den großen Haushaltstiteln in Bund, Ländern und Kommunen. Die harmlosen juristischen Rubriken heißen „Leistungsverwaltung“ und „Fiskalverwaltung“. Im deutschen Hörsaal spricht man bei letzterer gern von der Beschaffung von Papier, Bleistiften und dem orthopädisch korrekten Amtssessel. Hier trete der Staat wie ein Privater der Privatwirtschaft gegenüber. Grundlegendes Korrektiv von Willkür und Patronage sei die öffentliche Ausschreibung. Das Beschaffungs22

Schanze (Anm. 14), Investitionsverträge, S. 36 f. Übersicht und Rechtsvergleich Deutschland – Frankreich: Uwe Blaurock (Hrsg.), Der Staat als Nachfrager. Öffentliches Auftragswesen in Deutschland und Frankreich, 2008. 23

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und Ausschreibungswesen ist inzwischen detailliert sowohl national als auch europarechtlich geregelt. Die zunächst ökonomisch inspirierte Diskussion um das „make-or-buy“ in der Privatwirtschaft24 hat inzwischen alle Bereiche öffentlicher Aufgabenerledigung erfasst. Gerichte haben nun die Frage zu beantworten, ob eine bestimmte Staatsaufgabe „privatisiert“ werden darf. Kürzlich hatte das Bundesverfassungsgericht die aus Hessen stammende Frage zu beantworten: Dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen in einer Justizvollzugsanstalt, zweifellos Aufgaben im Kernbereich des Staats, vertraglich durch „private“ Mediziner ausgeführt werden?25 Viele öffentliche Auftraggeber, insbesondere Kommunen, sind dazu übergegangen, Aufgaben auf private Anbieter zu übertragen. Aber auch Bundesländer und der Bund engagieren sich in derartigen Projektdelegationen. Das „PPP“ (public-privatepartnering) ist zu einem lukrativen Erwerbszweig einer spezialisierten Anwaltschaft geworden. Verträge werden häufig erst bekannt, wenn diese „partnerschaftlichen“ Projekte scheitern. Die Parallele zu den bereits behandelten Projektverträgen ist deutlich. Wiederum geht es der äußeren Form nach um langfristige Verträge. Auch hier gibt es eine fundamentale Verschiebung der Einflussmöglichkeit vor und nach Vertragsschluss. Mit dem Vertragsschluss wird der Vertragsgegenstand nicht selten zur Beute des privaten Vertragspartners. Auf der Seite der öffentlichen Hand offenbaren sich häufig erst dann Kompetenzprobleme der Entscheider bei Auswahl und Folgenbeurteilung. Im privatwirtschaftlichen Bereich werden derartige Fehlentscheidungen durch Gewinneinbußen und deren Marktfolgen geahndet. Öffentliche Handlungsträger haben gewiss auch in der Vergangenheit „Verantwortung übernommen“; die Flurschäden können sie durch anderweitiges erfolgreiches Wirtschaften nicht ausgleichen. Zumindest in Teilbereichen der Leistungsverwaltung, den „Nebenbetrieben“ und auch bei einigen öffentlichen Beschaffungsvorgängen könnte ein weiterer Lernschritt das Entscheidungswissen der öffentlichen Auftraggeber verbessern. Bei standardisierten Leistungsangeboten, wie beispielsweise dem Betrieb von Krankenhäusern, der Verwaltung von Schul- und Amtsgebäuden, Schwimmbädern, Kläranlagen, ja selbst bei Flughäfen, sind terminierte Franchiselösungen denkbar. In diesem Schema, das die bilaterale Struktur des Leistungserstellungs-, Auftrags- und Beschaffungswesens durchbricht, setzt der öffentliche Auftraggeber (von der Kommune bis zum Bund) auf einen Wettbewerb zwischen kompetenten Franchisegebern, die ihrerseits die konkrete Organisation (z. B. ein Schwimmbad) als Franchisenehmerin 24 In Deutschland grundlegend: Arnold Picot, Ein neuer Ansatz zur Gestaltung der Leistungstiefe, in: Zfbf 43(1991), S. 336; in den USA: der Nobelpreisträger O. E. Williamson, The Economics of Defense Contracting: Incentives and Performance, in: Issues in Defense Economics 1967, S. 217; ders., The Economics of Organization: The Transaction Cost Approach, in: American Journal of Sociology 87 (1981), S. 548. 25 BVerfGE 130, 7 Vitos Haina (2012); vgl. zum Problem hoheitliches Handeln/wirtschaftliches Handeln des Staats auch Kling (Anm. 19), Staatliches Handeln, Daseinsvorsorge und Kartellrecht, S. 13 ff.

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mit einem Konzept und dessen Überwachung bedient. Dabei käme es nicht darauf an, ob die Franchisegeberin als Vertragsintermediärin „privat“ oder „öffentlich“ organisiert ist. Vielmehr muss sie seine Leistungsfähigkeit im Markt nachweisen und kann Franchisegebühren erheben. Dies ermöglicht eine wettbewerbsgetriebene Übertragung von Organisationswissen im öffentlichen Sektor.26 In der Gemeinde Z mag es ein kompetentes Team geben, das beim Bau und Betrieb eines Schwimmbads eine vorbildliche Arbeit nachweisen kann. Sollte man nicht diesem Team gestatten, ja es auffordern, eine Franchise gegen Entgelt anzubieten, die in den Gemeinden A, B, C, D, E ebenfalls den Bau und den Betrieb von Schwimmbädern organisiert oder alternativ einen privaten Anbieter einer derartigen im Wettbewerb als erfolgreich geltenden Franchiseleistung engagieren? Die heute praktizierten Lösungen der lokalen Vollprivatisierung dieser „Nebenbetriebe“ im Rahmen von PPP-Modellen mit den üblichen attraktiven Geschäftsführergehältern für ehemalige Politiker, oder anderseits der Bustourismus von Bürgermeistern und Stadtparlamenten zur Auswahl von Bauträgern für Schwimmbäder, Kläranlagen, Krankenhäuser usw. könnte – bei allem Charme dieses wohlmeinenden Aktionismus – dadurch in vernünftige Bahnen gelenkt werden.

VI. Selbstregulierung , insbesondere Normsetzung „Privater“ Ein bedeutsamer Teil der wirtschaftsrechtlichen Normsetzung ereignet sich weder in der Form der gesetzlich fundierten vertikalen Anordnung noch der horizontalen Abstimmung zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren. Vielmehr setzen die Wirtschaftsakteure selbst Normen und Spielregeln mit hoher Verbindlichkeit. Diese Normen werden von staatlichen Organen und Gerichten beständig angewandt und bestätigt. Die Gegenstände dieser „privaten“ Normsetzung sind nicht trivial. Sie reichen beispielsweise von klassischen Industrienormen über die neuere Praxis der Schaffung von Organisationsordnungen für Betriebe (ISO 9001), über Ordnungen über Solvenzstandards und Kreditvergabekriterien von Banken, SWAP-Geschäfte, Clearing, bis hin zum Regelwerk des Internet einschließlich der einschlägigen Streitschlichtungsorgane. Das regulative Großthema unserer Zeit, der Umgang mit technischen und wirtschaftlichen Risiken, ist überwiegend der Selbstregulierung überlassen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht liegt die Frage der Legitimierung der Selbstregulierung nahe. Wenn man der Frage nachgeht, stößt man auf die elementare Antinomie freiheitlicher Wirtschaftsverfassung, nämlich dass Wirtschaftsrecht nicht nur den Vorrang des Gesetzes, sondern auch den Vorrang der Gestaltungsfreiheit von Rechtsverhältnissen im Rahmen der Gesetze zu beachten hat. Privatautonomie erweist sich dabei in ihrer Janusköpfigkeit einerseits als die dominante kreative Ermög26 Vgl. Erich Schanze, Franchising im öffentlichen Sektor, in: Frieder Naschold et. al. (Hrsg.), Leistungstiefe im öffentlichen Sektor, Erfahrungen, Konzepte, Methoden, 1996, S. 127 ff.

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lichungsstruktur für die Schaffung klügerer, humanerer Lebensverhältnisse, als auch als potenziell zerstörerischer, gesellschaftsfeindlicher Freifahrschein zur Externalisierung von Risiken und Erlangung von Sondervorteilen. Wie reagiert die Staatlichkeit in dieser Situation, wenn sie begriffen hat, dass nicht alles planbar und juridifizierbar ist? Sie besinnt sich auf die Geltung vorhandener Grundregeln des Spiels. Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung fußt auf grundlegenden Normen, die nicht erst durch eine heute alles beherrschende Verfassungsexegese gewonnen werden müssen. Es geht namentlich um §§ 138 und 826 BGB, die jenseits des technischen Rechts die Grundlagen sittlichen Handels sichern. Im Gewühl des Wirtschaftsrechts scheinen auch Gerichte diese Normen bisweilen zu vergessen, obwohl sie hier die unbestrittene Kompetenz haben, diese Normen anzuwenden. Das Erstaunliche ist, dass bei aller Offenheit dieser Normen, ihrem Verweis aus dem Recht heraus in die Sittlichkeit, in der konkreten Anwendung sowohl Juristen als auch Laien sich sehr schnell darüber verständigen können, wann im Einzelfall ein evidenter Verstoß gegen die Verkehrssitte vorliegt. Es geht um die leuchtenden weißen doppelten Linien, die im Rechtsverkehr nicht überfahren werden dürfen. Das amerikanische Recht spricht von den „bright lines“. Erst hinter diesen doppelten Linien beginnt die komplexere und umstrittenere Methodik der Verbotsgesetze des § 134 BGB und des überinterpretierten § 242 BGB. Neben der Privatautonomie als Ermöglichungsstruktur für Formen der Selbstregulierung, insbesondere in Verträgen, Satzungen und Allgemeinen Geschäftsbedingungen, findet man verwandte, teils auch implizite Mechanismen der Rechtfertigung oder Duldung, Verbindungsmechanismen extra-legaler Normen zur „gesetzten“ Rechtsordnung, kurz „links to law“.27 Eine altehrwürdige Öffnung der Rechtsordnung gegenüber „selbstgesetztem Recht der Wirtschaft“ sind die Handelsbräuche nach § 346 HGB. Hier wird die Geltung zwischen den Parteien und deren Anerkennung durch die Gerichte im Streitfall von dem Nachweis der ständigen, einverständlichen und klar bestimmbaren Übung abhängig gemacht. Im Zeitalter der kostengünstigen umfangreichen Dokumentation hoch standardisierter Vertragswerke ist diese Modalität eher im Rückzug. Die aufwendige Ermittlung eines Handelbrauchs wird zudem einerseits durch die einfache gerichtliche Anerkennung von Üblichkeiten des Rechtsverkehrs bei entsprechender Darlegung verdrängt, anderseits durch die Tatsache, dass viele einschlägige Streitfälle heute in der industrienäheren Schiedsgerichtsbarkeit oder anderen Formen der alternativen Streitregelung (ADR) erledigt werden. Auch hier zeigen sich progressive Tendenzen der Autonomisierung von Regelsetzungen und deren Durchsetzung im Streitfall. Auch die Möglichkeit der Rechtswahl bei Verträgen und Auswahl von Gründungsjurisdiktionen für Gesellschaftsgründungen führt aus dem „eigentlich“ an27 Näher mit Nachweisen: Erich Schanze, Linking Extra-legal Codes to Law. The Role of International Standards and Other Off-the-Rack Regimes, in: Peer Zumbansen/Gralf-Peter Calliess, Law, Economics and Evolutionary Theory, 2011, S. 335.

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wendbaren nationalen Recht heraus. Die Parteiautonomie im Internationalen Privatrecht ist Seitenstück der Privatautonomie. Bei internationalen Sachverhalten ist sie häufig unentbehrlich, weil sie allein anderweitig unauflösbare Konflikte des anwendbaren Rechts überwindet. Sie ist jedoch auch, bei allem Missbrauchsverdacht, ein Motor für rechtliche Innovation in verkrusteten Rechtsordnungen. Das notorische Beispiel der routinemäßig gewählten Jurisdiktion des Bundesstaats Delaware für Gesellschaftsgründungen in den USA, immer wieder in Deutschland als eklatanter Missbrauch zitiert, entpuppt sich bei näherer Analyse als Spezialisierungsvorgang einer Rechtsordnung für einen bestimmten Sachbereich und als professionell höchst erwünschter Standardisierungsvorgang in der Konkurrenz der 50 Rechtsordnungen in den USA. Die „große Auswahl“ ist mit großen Rechtsberatungskosten verbunden. Angesichts der detaillierten Rechtsprechung in Delaware zu fast allen gesellschaftsrechtlichen Streitfragen ist aus dem angeblichen „race to the bottom“ eher ein „race to the top“ geworden. Der Europäische Gerichtshof hat hier im Rahmen seiner Freiheiten-Rechtsprechung das Problem eher verstanden als die deutschen Gerichte.28 Auch in Europa hat sich die Gründungsfreiheit von Gesellschaften als heilsamer Anstoß zum Nachdenken über die Funktion des Gesellschaftsrechts und ein nationalistisch gestricktes Internationales Privatrechts erwiesen. Das Abendland ist hier, wie in Deutschland noch bei den Plädoyers vor dem Europäischen Gerichtshof befürchtet, nicht untergegangen. Dass das Ausweichen vor dem anwendbaren Recht, insbesondere durch Selbstregulierung oder durch Wegzug in ein geschäftstüchtiges „Paradies“ missbräuchlich sein kann, steht außer Frage. Unter welchen Umständen Ausweichstrategien gelten oder nicht gelten, beginnt bei der Frage, ob man rechtstechnisch mit dem allgemeinen Verbot beginnt und Ausnahmen formuliert, oder ob man zunächst eine Gestaltung als möglich anerkennt, und dann sorgfältig erwägt, ob vitale Interessen der eigenen Jurisdiktion die Gestaltungsautonomie einschränken müssen. Das zweite Vorgehen ist das freiheitliche, zweifellos aber auch mühevollere. Dies bedeutet den schweren Abschied von der regulativen Tradition des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt in vielen Bereichen. Der Aufbruch ist umso eher möglich, wenn man sich dabei die Mühe macht, über neuere, klügere Formen der Regulierung nachzudenken. Dabei sollte man auch die wichtige, von Juristen nicht gern angegangene Frage einbeziehen, unter welchen Umständen und in welchem Maße Wirtschaftssubjekte in der Realität Normen befolgen. Dies ist die Gretchenfrage des Wirtschaftsrechts. Dazu zum Schluss eine Skizze zu den Themen „Compliance“ und „Notariat“.

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EuGH v. 9. 11. 2002 – Rs. C-208/00 – Überseering, AG 2003, 37. Dazu und zu der Entscheidungskette des EuGH, insbes. auch der vorangegangenen Grundsatzentscheidung Centros, näher Erich Schanze, Das Problem der Gesellschaften im Internationalen Privatrecht, in: Torstein Frantzen/Johan Giertsen/Giuditta Cordero Moss (Hrsg.), Rett og toleranse. Festskrift til Helge Johan Thue, 2007, S. 423 – 439.

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VII. Compliance und Notariat In Zeiten der Großen Unübersichtlichkeit wirtschaftsrechtlicher Regelungen nationalstaatlichen und europäischen Ursprungs liegt es nahe, dass sich unternehmensintern und -extern ein eigener Dienstleistungszweig entwickelt hat, der sich mit „compliance“ beschäftigt.29 Dabei geht es wesentlich um die Abarbeitung von Routinen, die Vorkehrungen gegen Normblindheit im Dschungel wirtschaftsrechtlicher Normen im Organisationsablauf von Unternehmen betreffen, gleichzeitig aber auch um den Versuch der Freistellung des Leitungspersonals von Organisationsverantwortlichkeiten. Hier soll es unter dem Stichwort „compliance“ um die allgemeinere Frage der Normbefolgung gehen. Ich wähle zunächst ein soeben publiziertes exotisches Beispiel, um Nachdenken über möglichst viele vergleichbare Situationen in unserer Weltgegend zu veranlassen. In der chinesischen Provinz Hunan ist es verboten, bestimmte Pestizide zu verwenden, die Behälter wegzuwerfen und in Schutzperioden zu ernten. In aller Vereinfachung der genau erhobenen Daten wurden diese Verbote trotz hoher Strafen nur in dem Maße befolgt, in dem die Bauern einen Nutzen in der Regelbefolgung sahen. Die Autoren der Studie30 empfehlen daher einen Regulierungsansatz, der nicht risiko-basiert, sondern nutzen-basiert ist. Ausbildung und Kommunikation erweisen sich als erfolgreichere Regulierungsstrategien als eine zunächst objektiv, vom Risiko her gedachte, vernünftig erscheinende Abschreckungsstrategie. In einer bemerkenswerten Studie zur Befolgung des Kartellverbots analysiert Roger Pierenkemper am notorischen Beispiel der Zementkartelle in Deutschland, dass die Verhängung bereits jetzt exorbitant erscheinender Geldbußen mit großer Wahrscheinlichkeit die Kartellierungspraxis in dieser Industrie nicht beenden wird.31 Vielmehr wirken die Strafen augenblicklich eher zum Nachteil der Verbraucher. Pierenkemper schlägt deshalb eine vom Kartellamt mentorierte Marktinformationsstrategie vor, die mit Bandbreiteninformationen über Preise arbeitet und damit hard-core Absprachen verhindern könnte.

29 Näher zur Struktur und Kritik: Erich Schanze, Conformité auto-régulation et efficiacité économique, in: Juris Classeur, La Semaine Juridique Entreprise et Affaires 30 (2012), no.1454. 30 Huiqi Yan/Benjamin Van Rooij/Jeroen Van der Heijden, Integrated Utility in Regulatory Compliance: Insights from Pesticide Behavior by Chinese Farmers, in: UC Irvine School of Law Research Paper No. 2014 – 24, http.//ssrn.com/abstract=2407620, March 11, 2014; in derselben Richtung die grundlegende Studie zur institutionellen Neustrukturierung der Entwicklungspolitik: Esther Duflo/Abhijit Banerjee, Poor Economics. A Radical Rethinking of the Way to Fight Global Poverty, 2011. 31 Roger Pierenkemper, Kartellbußen aus rechtlicher und ökonomischer Sicht, 2012, die Buchfassung einer Marburger Inauguraldissertation.

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Bei Regulierungsvorgängen müssen wir lernen, dass es eher um Information und Anreize, um „Schubsen in die richtige Richtung“ (nudge)32 geht, als um Verbote und Gebote. Die beiden Beispiele könnten beliebig vermehrt werden. Sie weisen einheitlich auf den Nutzen von präventiven Koordinationsagenturen hin, die im Vorfeld wirtschaftlich schädliches Verhalten durch kluge Moderation einzudämmen suchen. Dies führt zu Lösungen, die ich eingangs unter dem Funktionsbegriff „Notariat“ eingeführt habe. Der deutsche Grundstücksverkehr und die damit verbundene Sicherheitenpraxis sind im internationalen Vergleich beneidenswert streitfrei. Notare führen die Parteien zusammen, moderieren die Konditionenfindung und klären über die Risiken auf. Dies ist mit Kosten verbunden, aber die sozialen Kosten der Alternativen sind abschreckend. Auch im Bereich der Wirtschaftsregulierung gibt es Substitute für die Notariatsfunktion oder die Notwendigkeit von „öffentlichen“ unabhängigen „Notariaten“. Viele unkluge öffentliche Beschaffungsvorgänge und Public-Private-Partnerships würde es bei Bestehen von geeigneten Moderationsinstitutionen nicht geben. Dabei sollte es, wohlgemerkt, nicht um neue Genehmigungsbehörden gehen. Ebenso erscheint unbeschränkte Transparenz aller Transaktionen nicht Allheilmittel für Fehlentscheidungen. Meistens sehen wir heute Moderationsversuche leider erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. In der deutschen Finanzmarkregulierung haben wir in der Vergangenheit beobachten können, dass weniger die zuständige Aufsichtsbehörde als vielmehr die kompetent besetzte Bundesbank durch Ansage marktstabilisierende Effekte auslöste. Zentralbanken operieren heute neben ihren unbestreitbaren Interventionsaufgaben durch ständige glaubhafte sachverständige Kommunikation mit den Marktteilnehmern in gewisser Weise als Notariate. Auch bei den Kartellbehörden hat sich durch den “more economic approach“ die Aufgabenerledigung von direkter Intervention und Sanktion hin zur Moderation von latenten Kartellproblemen verlagert. Beide Beispiele, mit denen ich enden möchte, verweisen auf die Kerntugenden des Notariats: hohe Fachkenntnis, Aufbau von Vertrauen, Respekt, Verlässlichkeit, Verhandlungsgeschick, kurz: Koordinationskompetenz. Dies bestärkt mich in der Überzeugung, dass auch bei der Ausübung hoher politischer Ämter es für die Allgemeinheit nicht von Schaden ist, wenn sie gelegentlich von wirklichen Notaren besetzt sind.

32 Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness, 2008; deutsch: Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, 2009.

Der funktionsfähige Wettbewerb als Schutzgut des Kartellrechts und seine Bedeutung für die europäische und deutsche Wirtschaftsverfassung Von Michael Kling To widen the market and to narrow the competition, is always the interest of the dealers. To widen the market may frequently be agreeable enough to the interest of the public; but to narrow the competition must always be against it, and can serve only to enable the dealers, by raising their profits above what they naturally would be, to levy, for their own benefit, an absurd tax upon the rest of their fellow-citizens. Adam Smith, Wealth of Nations, vol. 1, 1776, Book I, Chapter XI, p. 316 et seq.

* Wirtschaftliche und persönliche Freiheit lassen sich nicht trennen. Wird die eine vernichtet, dann muss auch die andere untergehen. Hans Otto Lenel, Über zwei Richtungen des Sozialismus der Gegenwart, ORDO Bd. 1 (1948), S. 304, 320

* Es bleibt uns nur die Marktwirtschaft. Wer aber Marktwirtschaft sagt, sagt: freie Preisbildung, Konkurrenz, Verlustrisiko und Gewinnchance, Selbstverantwortung, freie Initiative, Privateigentum. Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, 11. Aufl. 1968, S. 331 f.

I. Einleitung 1. Die Rede des Bundespräsidenten zum sechzigjährigen Bestehen des Walter Eucken Instituts in Freiburg Am 16. Januar 2014 wurde in der deutschen Presse, beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung1 und der Welt2, über eine Grundsatzrede3 des Bundesprä1 FAZ, „Gauck verteidigt Neoliberalismus gegen unredliche Kritik“, im Internet abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/grundsatzrede-zur-wirtschaft-gauck-ver teidigt-neoliberalismus-gegen-unredliche-kritik-12754773.html.

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sidenten Joachim Gauck berichtet, die dieser aus Anlass des sechzigjährigen Bestehens des Walter Eucken Instituts in Freiburg gehalten hatte. In seiner bemerkenswerten Ansprache nahm der Bundespräsident den Neoliberalismus in Schutz und kritisierte in diesem Zusammenhang, dass dieser Begriff in Deutschland zu Unrecht negativ besetzt sei. Er betonte zugleich, dass die Freiheiten der Gesellschaft und die Freiheit in der Wirtschaft als Einheit zu betrachten seien. Ungerechtigkeiten gediehen letztlich nur dort, wo der Wettbewerb eingeschränkt werde, sei es durch Protektionismus, Korruption oder durch eine staatlich veranlasste Rücksichtnahme im Hinblick auf Einzelinteressen. Die zentralen Aussagen dieser Rede sind „Wasser auf die Mühlen“ jedes Wettbewerbsrechtlers; zumal dann, wenn man wie der Verfasser seinen Studierenden unermüdlich klarzumachen versucht, dass der Begriff „Neoliberalismus“ kein Schimpfwort ist,4 das man „Raubtierkapitalisten“ und ruchlosen Börsenspekulanten als Kritik entgegen hält,5 sondern eine wesentliche theoretische Grundlage unserer modernen Wirtschaftsordnung. Neoliberales Ideengut hat es heutzutage6 in der Öffentlichkeit und im Bewusstsein der Bürger schwer, und der freie Wettbewerb hat nur selten eine Lobby.7 In den Medien dominieren soziale Fragestellungen;8 die „Gerechtigkeitsdebatte“ und etatistische Erwartungen der Bevölkerung an einen Fürsorge leistenden „Wohlfahrtsstaat“ haben zu der weitverbreiteten (Fehl-)Einschätzung geführt, dass Marktwirtschaft und Wettbewerb „ungerecht“ seien und dass der Schutz des Wettbewerbs etwa durch Kartellgesetze nicht notwendig sei. Beispielhaft lässt sich hierfür 2

Die Welt, „Gauck nimmt den Neoliberalismus in Schutz“, im Internet abrufbar unter: www.welt.de/politik/deutschland/article123923225/Gauck-nimmt-den-Neoliberalismus-inSchutz.html. 3 Im Internet im Volltext abrufbar unter: www.bundespraesident.de/SharedDocs/ Reden/DE/ Joachim-Gauck/Reden/2014/01/140116-Walter-Eucken_Institut.html. 4 Das Missverständnis ist alt, schon Alexander Rüstow beklagte sich darüber, dass der Begriff „Neoliberalismus“ keinen Markenschutz genieße, s. Rüstow, Sozialpolitik diesseits und jenseits des Klassenkampfes, in: Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (Hrsg.), Sinnvolle und sinnwidrige Sozialpolitik, 1959, S. 20. 5 Offen zu Tage liegende „Entartungserscheinungen“ beklagt Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, 11. Aufl. 1968, S. 300. 6 Zum fehlenden Verständnis für unsere Wirtschaftsverfassung s. W. Röpke (Anm. 5), S. 301; Wernhard Möschel, Kartellrecht in Deutschland seit Stein-Hardenberg – Eine Reminiszenz, in: NZKart 2014, S. 42 ff. (46); s. ferner Franz Böhm, Monopoly and Competition in Western Germany, in: Edward H Chamberlin (ed.), Monopoly and Competition and their Regulation, 1954, p. 141 et seq. (167), wo das deutsche Volk charakterisiert wird als „a people which has never really liked competition, and which has been used to regard every additional regulation as an increase in public order and every concentration as a growth of the social ethos“. 7 So schon Möschel, Wettbewerbspolitik aus ordoliberaler Sicht, in: Otto F. von Gamm/ Peter Raisch/Klaus Tiedemann (Hrsg.), Strafrecht, Unternehmensrecht, Anwaltsrecht, Festschrift für Pfeiffer, 1988, S. 707 ff. (721). 8 S. dazu schon Eberhard Günther, Entwurf eines deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, in: WuW 1951, S. 17 ff. (18): „Der Reformwille scheint erlahmt zu sein; politische, soziale und soziologische Probleme sind in den Vordergrund getreten.“

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der folgende, vom Verfasser dieser Zeilen im Spätsommer 2013 vernommene Ausruf eines langjährigen universitären Personalrats- und Gewerkschaftsmitglieds anführen: „Den Wettbewerb muss man nicht schützen. So ein Quatsch!“ Dem verehrten Jubilar, der im Jahr 1990 als Herausgeber eines Buches mit dem Untertitel „Die Überwindung des Sozialismus in Deutschland“ fungierte,9 dürften diese gegenläufigen Tendenzen angesichts seiner jahrzehntelangen politischen Aktivität nicht unbekannt geblieben sein. Er wird den vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie herausgegebenen Jahreswirtschaftsbericht 2014 zur Kenntnis genommen haben, in dem mehrfach behauptet wird, dass Markt und Staat angeblich nur scheinbare Gegensätze bildeten.10 Er wird ferner wissen, dass die deutsche Bevölkerung neuerdings sogar das scheinbar unangefochtene Leitbild unserer Wirtschaftsordnung, die soziale Marktwirtschaft11, eher kritisch bewertet.12 Die soziale Marktwirtschaft, theoretisch fundiert von Alfred Müller-Armack13 (1901 – 1978) und politisch – ab 1948 – in die Tat umgesetzt von dem „Direktor der Verwaltung für Wirt9 Friedrich Bohl (Hrsg.), Abschied von einer Illusion. Die Überwindung des Sozialismus in Deutschland, 1990. 10 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Soziale Marktwirtschaft heute – Impulse für Wachstum und Zusammenhalt. Jahreswirtschaftsbericht 2014, im Internet abrufbar auf der Homepage des BMWi (http://www.bmwi.de/). Die im Text angeführte These findet sich zunächst im Geleitwort des Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel auf S. 4 und 5 sowie im Bericht selbst auf S. 17 unter Ziff. 51: „Oft nur scheinbare Gegensätze zwischen Markt und Staat (…) gilt es aufzulösen.“ 11 S. dazu die Definition Hans von Willgerodt, Soziale Marktwirtschaft – ein unbestimmter Begriff?, in: Christoph Engel/Wernhard Möschel (Hrsg.), Recht und spontane Ordnung. Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker, 1996, S. 329: „Als soziale Marktwirtschaft wird eine wirtschaftspolitische Gesamtkonzeption bezeichnet, die Freiheit und Wettbewerb auf dem Markt mit sozialem Ausgleich verbunden werden.“ 12 S. die Studie des Meinungsforschungsinstituts Allensbach „Was ist gerecht? Gerechtigkeitsbegriff und -wahrnehmung der Bürger“, 2013, S. 18 ff. („Marktwirtschaft und Gerechtigkeit“), im Internet abrufbar unter: http://www.insm.de/insm/kampagne/gerechtigkeit/ was-denkt-deutschland-ueber-gerechtigkeit.html sowie den Bericht der Wirtschaftswoche v. 27. 11. 2013 über diese Studie, „Die Deutschen lieben die Planwirtschaft. Gier, Ausbeutung, hohe Preise: So kritisch sehen die Deutschen die Marktwirtschaft. Die Zustimmung zum hiesigen Wirtschaftssystem sinkt. Stattdessen offenbart eine aktuelle Studie die stille Liebe der Deutschen zur Planwirtschaft.“, abrufbar unter: http://www.wiwo.de/politik/deutschland/al lensbach-studie-die-deutschen-lieben-die-planwirtschaft/9134680.html. Nach dieser Umfrage sind insgesamt sind nur 17 % der Bürger überzeugt, dass die Marktwirtschaft automatisch zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt, während 43 % davon ausgehen, dass ein freies Wirtschaftssystem eher dem Ziel sozialer Gerechtigkeit entgegensteht. In Westdeutschland halten das 38 %, in Ostdeutschland dagegen 61 % der Bevölkerung für richtig. Das Unbehagen über die wachsende soziale Differenzierung führt allerdings nicht zu einer Ablehnung des Wirtschaftssystems. Die Bürger der Bundesrepublik sehen nicht das Wirtschaftssystem und die Unternehmen in der Verantwortung, soziale Sicherheit sicherzustellen, sondern die Politik (a. a. O., S. 19). 13 S. Alfred Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, 1947; ders., Die Wirtschaftsordnungen sozial gesehen, in: ORDO, Bd. 1 (1948), S. 125 ff. (150 ff.); zum Begriff und der Konzeption Müller-Armacks s. u. a. Hans O. Lenel, Haben wir noch eine soziale Marktwirtschaft?, in: ORDO, Bd. 22 (1971), S. 29 ff. (31).

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schaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ und späteren Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (1897 – 1977), war unstreitig der Garant für den „außerordentlichen Wirtschaftsaufstieg Deutschlands nach der Reform von 1948“.14 Dieser Aufstieg wird von dem Ökonomen Wilhelm Röpke (1899 – 1966)15 auf zwei Grundsätze zurückgeführt, nämlich auf „Freiheit im Bereich der Güter und Leistungen, Disziplin im Bereich des Geldes“.16 Heute aber wird die soziale Marktwirtschaft von den Deutschen zum Teil für soziale Ungerechtigkeiten verantwortlich gemacht17 und damit quasi in ihr kontradiktorisches Gegenteil verkehrt.18 Vergessen scheint, was die führenden Ordoliberalen über Marktwirtschaft und Wettbewerb gesagt haben: Die Marktwirtschaft sei, so Franz Böhm (1895 – 1977), „eine Ordnung, die den Unternehmer zum Nutzen der ganzen Gesellschaft steuert, nicht eine Ordnung, in der die Gesellschaft den undomestizierten Interessen der Unternehmer huldigt“.19 Walter Eucken (1891 – 1950) stellte klar, es sei „nur die eine Seite der Wettbewerbsordnung, daß sie auf die Durchsetzung der ökonomischen Sachgesetzlichkeit dringt. Ihre andere Seite besteht darin, daß hier gleichzeitig ein soziales und ethisches Ordnungswollen verwirklicht werden soll. Und in dieser Verbindung liegt ihre besondere Stärke.“20 Nebenbei sei in diesem Zusammenhang ergänzt, dass Bundespräsident Joachim Gauck als einsamer Rufer in der medialen Wüste für seine eingangs zitierte Rede wie für seine Freiheitsliebe als solche viel öffentliche Kritik von „links“ einstecken musste. Diese Medienschelte war, – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – im Ganzen betrachtet unberechtigt, weil der Bundespräsident die sozialen Fragestellungen deutlich angesprochen hat. Wörtlich sagte der Bundespräsident: „Eine freiheitliche Gesellschaft beruht auf Voraussetzungen, die Markt und Wettbewerb allein nicht herstellen können.“21 14

W. Röpke (Anm. 5), S. 322. Wilhelm Röpke war von 1929 – 1933 Ordinarius an der Philipps-Universität Marburg. 1933 floh er vor den Nationalsozialisten in die Türkei, wo er an der Universität Istanbul lehrte. Zum Wintersemester 1937/38 wechselte er nach Genf an das Hochschulinstitut für internationale Studien. 16 W. Röpke (Anm. 5), S. 322. 17 S. dazu nochmals die in Fn. 12 zitierte Umfrage (a. a. O., S. 20 f.): Nur 43 % der Bevölkerung schließen sich danach der These an, dass die soziale Marktwirtschaft sozialen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit überhaupt erst möglich mache, da sie den Wohlstand schaffe, der die Basis für ein funktionsfähiges soziales Netz bilde, während 39 % bei der Überzeugung bleiben, dass auch die soziale Marktwirtschaft automatisch zu sozialer Ungerechtigkeit und zu wachsenden sozialen Unterschieden führe. In den unteren sozialen Schichten ist die Mehrheit überzeugt, dass die soziale Marktwirtschaft automatisch die soziale Spreizung und Ungerechtigkeiten vergrößere, während die Mehrheit der oberen Schichten die soziale Marktwirtschaft als Voraussetzung für sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit sieht. 18 S. dazu insbesondere Lenel (Anm. 13), in: ORDO, Bd. 22 (1971), S. 29 ff. (33, 44 f.). 19 Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, in: ORDO, Bd. 22 (1971), S. 11 ff. (27). 20 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1952, S. 370. 21 Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck vom 16. 1. 2014 (Fn. 3), S. 1. 15

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2. Das Kartellrecht und der „Neoliberalismus“ a) Die zentralen kartellrechtlichen Bestimmungen Das europäische und das deutsche Kartellrecht sind Früchte des von Bundespräsidenten Gauck wortmächtig verteidigten „Neoliberalismus“.22 Beide Regelungsmaterien verfolgen gemeinsam das Ziel, den Wettbewerb „als solchen“ vor Verfälschungen zu schützen. Dies geschieht auf dreifache Weise: Zum einen durch die beiden Kartellverbote in Art. 101 Abs. 1 AEUV (europäisches Kartellrecht) und § 1 GWB (deutsches Kartellrecht), welche nur solche Ausnahmen zulassen, die bei einer Gesamtbetrachtung der wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse als für den Wettbewerb günstig zu bewerten sind (s. Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB); zum anderen durch die Missbrauchsverbote in Art. 102 AEUV (europäisches Kartellrecht) und § 19 GWB (deutsches Kartellrecht), die marktbeherrschenden Unternehmen eine besondere Verantwortung für den so genannten Restwettbewerb auferlegen;23 schließlich drittens durch Regelungen über den Zusammenschluss selbständiger Unternehmen in der europäischen Fusionskontrollverordnung Nr. 139/2004 sowie in den Vorschriften über die Zusammenschlusskontrolle in den §§ 35 ff. GWB. b) Die Unmöglichkeit einer Definition des Begriffs „Wettbewerb“ Das Kartellrecht schützt den wirtschaftlichen Wettbewerb als eine wichtige Grundlage für die Verwirklichung der sozialen Marktwirtschaft. Geschützt werden nicht etwa nur die Unternehmer oder die Verbraucher, sondern der Wettbewerb „als solcher“. Die grundlegende Frage, was den Wettbewerb „als solchen“ genau ausmacht, ist allerdings nicht ganz einfach zu beantworten. Die am häufigsten gegebene Antwort dürfte lauten, dass eine positive Definition des Wettbewerbsbegriffs nicht möglich sei, weil dies dazu führen würde, dass bestimmte (z. B. neue) Formen des Wettbewerbs vom Anwendungsbereich der Kartellrechte oder seinen Beschränkungen ausgeschlossen wären.24 Diese Antwort ist sachlich durchaus korrekt. Wenn man jedoch das Schutzgut „Wettbewerb“ nicht exakt zu bestimmen vermag, fehlen dann nicht im Einzelfall auch die notwendigen Maßstäbe zur Ermittlung von Wettbewerbsbeschränkungen und kartellrechtlichen Missbräuchen? Drängt sich angesichts 22

S. dazu im Einzelnen unten II. 3. e). EuGH v. 9. 11. 1983 – Rs. 322/81, Slg. 1983, 3461 Rn. 57 = WuW/E EWG/MUV 642 – Michelin; EuGH v. 14. 11. 1996 – Rn. C-333/94 P, Slg. 1996, I-5987 Rn. 31 – Tetra Pak II; EuGH v. 16. 3. 2000 – Rs. C-395/96 P und C-396/96 P, Slg. 2000, I-1365 – Compagnie maritime belge/Kommission (= Kampfschiffe); EuG v. 23. 10. 2003 – Rs. T-65/98, Slg. 2003, II4653 = WuW 2004, 207 = WuW/E EU-R 765 Rn. 158 – van den Bergh Foods/Kommission (Unilever). 24 Ernst-Joachim Mestmäcker/Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, § 2 Rn. 75; Fritz Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 6. Aufl. 1999, § 5 Rn. 45; Fritz Rittner/Meinrad Dreher/Michael Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 8. Aufl. 2014, Rn. 5 f.; Möschel (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, S. 707 ff. (715). 23

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des diffusen Schutzguts nicht die grundsätzliche Frage auf, ob der vorgeblich angestrebte Schutz des Wettbewerbs „als solchem“ nicht bloß eine Chimäre der mit dem Wettbewerbsrecht befassten Juristen ist? 3. Fragestellungen Im Folgenden wird eine sowohl wettbewerbstheoretische als auch rechtshistorische Spurensuche unternommen, die den Grundlagen des modernen Kartellrechts gewidmet ist und die deren Relevanz nicht nur für unsere heutige Wirtschaftsund Rechtsordnung, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt, klären soll. Folgende Fragen sollen dabei geklärt werden: Inwieweit verträgt sich der Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs durch die Rechtsordnung mit der Verfolgung anderer wichtiger Belange des Gemeinwohls? Ist der wirtschaftliche Wettbewerb ein „Wert an sich“25 oder ist die Sicherung seiner Funktionsfähigkeit durch das Kartellrecht am Ende bloß dadurch gerechtfertigt, dass er ein geeignetes Mittel zum Schutz von legitimen Verbraucherinteressen – wie z. B. der Gewährleistung von niedrigen Preisen bei Konsumgütern – darstellt? Welcher Rang schließlich kommt dem Wettbewerbsprinzip im Verhältnis zu anderen, nichtwettbewerblichen Zielsetzungen wie dem Umweltschutz, der Gleichstellung von Mann und Frau, dem Arbeitnehmerschutz usw. innerhalb der Europäischen Wirtschaftsverfassung26 zu? Ist der früher unstreitig geltende Primat des Wettbewerbsprinzips heute ein „alter Zopf“, den es abzuschneiden gilt, weil soziale und andere nichtwettbewerbliche Fragestellungen nicht nur unsere moderne Gesellschaft prägen, sondern auch das geltende Recht dominieren? Wo liegen überhaupt die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Wettbewerbsprinzips für die Gesamtwohlfahrt? II. Grundlagen zum Verständnis von Wettbewerb 1. Marktwirtschaft und Wettbewerb a) Marktwirtschaft versus Zentralverwaltungswirtschaft Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sind durch offene, wettbewerbsorientierte Marktwirtschaften geprägt.27 Unter einer Marktwirtschaft versteht man 25

Bejahend Möschel, Wettbewerb zwischen Handlungsfreiheiten und Effizienzzielen, in: Christoph Engel/Wernhard Möschel (Hrsg.), Recht und spontane Ordnung. Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker, 2006, S. 355 ff. (366). 26 Hier im Sinne der nationalökonomischen Begriffsbildung verstanden als die Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines politischen Gemeinwesens, nicht als verfassungsrechtliche Aussage; s. zum Begriff auch Meinrad Dreher, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsrecht, in: JZ 2014, S. 185 ff. (186) („die wirtschaftsrechtliche Ordnung der Staatsverfassung“). 27 S. Fritz Rittner/Meinrad Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2008, § 2 Rn. 32 ff., 44 ff.; Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (186); Alexander Peukert,

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herkömmlicherweise „ein ökonomisches System, das ohne jede obrigkeitliche Lenkung auskommt, bei dem vielmehr die Lenkung der gesellschaftlichen Kooperation einem Mechanismus, nämlich dem Marktpreissystem anvertraut wird, der die ihm übertragene Lenkungsaufgabe automatisch besorgt“.28 Das Realphänomen Wettbewerb bildet den Dreh- und Angelpunkt jeder marktwirtschaftlichen Ordnung. Wettbewerb entsteht, wenn Rechtssubjekte im Wirtschaftsverkehr von ihrer individuellen Handlungsfreiheit im Wirtschaftsverkehr Gebrauch machen.29 Der Umfang der den Privatrechtssubjekten gewährten Wettbewerbsfreiheit hängt dabei maßgeblich von der jeweiligen Wirtschaftsordnung ab – d. h. von der grundlegenden Entscheidung für eine Marktwirtschaft oder für eine Zentralverwaltungswirtschaft30, wie sie beispielsweise in den früheren kommunistischen Staaten existierte oder heute z. B. noch in der Volksrepublik Nordkorea zu finden ist.31 Während in den marktwirtschaftlichen Systemen die Befugnis zur Teilnahme am Wirtschaftsverkehr die nicht begründungsbedürftige Regel ist, ist sie in planwirtschaftlichen Systemen grundsätzlich dem Staat vorbehalten. In solchen Fällen bildet die wirtschaftliche Aktivität Privater eine Ausnahme, d. h. sie hängt von einer staatlichen Erlaubnis ab.32 Schwer einzuordnen sind Länder wie die Volksrepublik China, deren politische und wirtschaftliche Verfassung dem Namen nach sozialistisch sind, in denen aber infolge noch nicht abgeschlossener Transformationsprozesse eine teils planwirtschaftliche, teils marktwirtschaftliche Ordnung existiert.33

Der Wandel der europäischen Wirtschaftsverfassung im Spiegel des Sekundärrechts – Erläutert am Beispiel des Rechts gegen unlauteren Wettbewerb, in: ZHR 173 (2009), S. 536 ff. (543 ff.); zur schrittweisen Erweiterung der Vertragsziele s. Peukert, ebd., S. 554 ff.; s. auch Carsten Öhlinger, Die Wirtschaftsverfassung der EU, in: Stefan Griller (Hrsg.), Die Europäische Wirtschaftsverfassung de lege lata et ferenda, 2007, S. 269, 280, der aus der Festlegung auf den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb zutreffend folgert, dass damit einem planwirtschaftlichen Wirtschaftsmodell eine eindeutige Absage erteilt worden sei, wobei eine begrenzte interventionistische Wirtschaftspolitik erlaubt sei. 28 Böhm, Demokratie und unternehmerische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht. Beiträge zum übernationalen und nationalen europäischen und amerikanischen Recht, erstattet für die Internationale Kartellrechts-Konferenz in Frankfurt am Main Juni 1960), Bd. I, 1961, S. 1 ff. (3). 29 Michael Kling/Stefan Thomas, Kartellrecht, 2007, § 1 Rn. 15; Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 73. 30 Zum Wirtschaftsprozess in der Zentralverwaltungswirtschaft s. Eucken (Anm. 20), S. 61 ff. 31 S. zum Problem Ludwig von Mises, Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920), S. 86 ff., im Internet abrufbar unter: http://www.mises.de/public_home/topic/31; aus neuerer Zeit bestätigend Huerta de Soto, Sozialismus, Wirtschaftsrechnung und unternehmerische Funktion, 1992/ 2013, passim. 32 Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 16; Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 73. 33 Rittner/Dreher (Anm. 27), § 2 Rn. 22; zum Transformationsprozess in der chinesischen Wirtschaftsordnung s. Jinglian Wu, Economics and China’s Economic Rise, in: Masahiko

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b) Die Merkmale des Wettbewerbs Der Begriff des Wettbewerb ist sowohl für das Unionskartellrecht (Art. 101 ff. AEUV) als auch das deutsche Kartellrecht des GWB ein unerlässlicher Zentralbegriff. Er entzieht sich zwar wie dargelegt einer allgemeingültigen positiven Definition,34 lässt sich aber mittels einer inhaltlichen Annäherung an dessen Wesen und Funktionen umschreiben. So spricht etwa der österreichische Ökonom und Nobelpreisträger für Wirtschaft Friedrich A. v. Hayek (1899 – 1992) in einer bis heute grundlegenden Abhandlung aus dem Jahr 196935 vom Wettbewerb als einem „Such- und Entdeckungsverfahren“36. Es handelt sich hierbei um ein eingeführtes Schlagwort, das zwei wesentliche Elemente des Wettbewerbs, nämlich die Dynamik des Geschehens einerseits und die Unsicherheit hinsichtlich seiner Resultate andererseits, besonders plastisch zum Ausdruck bringt. Nach einer anderen Umschreibung zeichnet sich der Wettbewerb als ein komplexes System von Marktprozessen aus, das aufgrund der Freiheit, daran teilzunehmen und innerhalb dieser Marktprozesse nach eigenem Plan tätig zu werden, entsteht.37 Als geeignet erweist sich in diesem Zusammenhang vor allem die folgende Klarstellung von Klaus Herdzina: „Der Terminus ,Wettbewerb‘ ist lediglich die abkürzende Formulierung für einen Katalog von Vorgängen und Sachverhalten. An die Stelle der ausführlichen Darlegung jener Vorgänge und Sachverhalte tritt der ,Name‘ Wettbewerb, d. h. man arbeitet mit einer ,nominalistischen‘ Wettbewerbsdefinition“.38 Allgemein zeichnet sich der wirtschaftliche Wettbewerb aus durch (1) die Existenz von Märkten, auf denen (2) mindestens zwei Anbieter bzw. Nachfrager vorhanden sind, die sich (3) antagonistisch (d. h. nicht kooperativ) verhalten, also die ihre Aoki/Jinglian Wu (Hrsg.), Chinese Economy: A New Transition, S. 25, der diese als „semimarket and semi-command economy“ bezeichnet. 34 Siehe auch Volker Emmerich, Kartellrecht, 12. Aufl. 2012, § 1 Rn. 2 ff.; s. ferner aus ökonomischer Sicht Erich Hoppmann, Workable Competition als wettbewerbspolitisches Konzept, in: Theoretische und institutionelle Grundlagen der Wirtschaftspolitik, Theodor Wessels zum 65. Geburtstag (Festgabe für Wessels), 1967, S. 145 ff. (174 ff.) („Das Problem der Normativierung“), wieder abgedruckt in Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, 1991, S. 179; ders., Zum Problem einer wirtschaftspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, in: Hoppmann (a. a. O.), Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 235 ff. (ursprünglich unter dem Titel: Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik in ORDO, Bd. 18, 1967, S. 77 ff. veröffentlicht); ders., „Neue Wettbewerbspolitik“: Vom Wettbewerb zur staatlichen Mikro-Steuerung, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 184 (1970), S. 397 ff., wieder abgedruckt in: Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, 1988, S. 235 ff. (276 f.). 35 Friedrich A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1969, in: Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 249 ff. 36 S. dazu noch unten II. 3. c) bb). 37 Hoppmann, Grundsätze marktwirtschaftlicher Wettbewerbspolitik, in: Walter Eucken Institut (Hrsg.), Fusionskontrolle, Vorträge und Aufsätze, Bd. 38, 1972, S. 7, 11; wieder abgedruckt in: Hoppmann (Anm. 34), S. 235 ff. (296, 298); s. auch Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 74. 38 Klaus Herdzina, Wettbewerbspolitik, 5. Aufl. 1999, S. 9.

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eigene Marktposition zu Lasten anderer zu verbessern suchen.39 Der Begriff „Wettbewerb“ oder dessen Synonym „Konkurrenz“ können im Sinne einer wirtschaftlichen „Wettkampfrivalität“ – durchaus vergleichbar mit dem sportlichen Wettstreit – verstanden werden. Diese „Wettkampfrivalität“ setzt ihrerseits voraus, dass ein unabhängiges Handeln der Wirtschaftssubjekte ohne Absprachen (= Kartelle) möglich ist. Darüber hinaus muss eine hinreichend große Zahl potenzieller und tatsächlicher Wettbewerber zur Verfügung stehen (so dass außergewöhnliche Gewinne eliminiert werden). Ferner muss auf Seiten der Konkurrenten ein ausreichendes Wissen über die Marktverhältnisse (d. h. der Zugang zu den wesentlichen Marktinformationen) sowie ausreichend Zeit für die notwendigen Anpassungsvorgänge bei der Faktorallokation (d. h. in Bezug auf die Verteilung von Produktionsfaktoren) gegeben sein.40 2. Die wettbewerbstheoretischen Leitbilder Die moderne Ökonomik des 20. Jahrhunderts hat verschiedene wettbewerbspolitische Leitbilder entwickelt, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll, da sie für das Verständnis des Kartellrechts von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind.41 a) Die Theorie der „vollständigen Konkurrenz“ Zunächst ist die Theorie der vollständigen Konkurrenz (engl. theory of perfect competition) zu nennen, die im frühen 20. Jahrhundert entwickelt wurde und über eine lange Zeit die Vorherrschaft in der ökonomischen Wissenschaft beanspruchte.42 Dieses Leitbild wurde u. a. von einem bedeutenden Ökonomen wie Joseph A. Schumpeter43 auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch als maßgeblich betrachtet.44 39

Ingo Schmidt/Justus Haucap, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 10. Aufl. 2013, S. 1 f.; Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 17. 40 Schmidt/Haucap (Anm. 39), S. 5; Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 18. 41 Auf den Schulenstreit zwischen der Chicago School (Konzept der Konsumentenwohlfahrt) und der Harvard School (Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs) kann hier nicht näher eingegangen werden; s. dazu Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 20; Romy Fleischer, Die Dynamik des Wettbewerbsschutzes im US-amerikanischen, europäischen und australischen Kartellrecht, 2013, S. 20 ff., 25 ff. 42 Als Vertreter dieser Theorie seien genannt Edward Hastings Chamberlin (1899 – 1967) in den USA, Piero Sraffa (1898 – 1983), Joan Robinson (1903 – 1983) und Sir Roy Forbes Harrod (1900 – 1978) im Vereinigten Königreich, Kurt Sting und Heinrich Frhr. v. Stackelberg (1905 – 1946) in Deutschland, Frederik Ludvig Bang von Zeuthen (1888 – 1959) in Dänemark und Ragnar Anton Kittil Frisch (1895 – 1973) in Norwegen. Die Auflistung folgt Hoppmann (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 (183 mit Fn. 23). Zur positiven Einstellung der Ordoliberalen zu dieser Theorie s. unten II. 3. e) aa) (1). 43 S. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl. 1950, S. 134 (die Originalausgabe in englischer Sprache erschien 1946). Der Verf. wendet sich gegen die „Fiktion eines völlig imaginären goldenen Zeitalters des vollkommenen Wettbewerbs“ und behauptet, es sei „doch völlig klar (…), daß die vollkommene Konkurrenz zu keinem Zeitpunkt mehr Wirklichkeit gewesen ist als heutzutage“ (englisch: „whereas it is

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Es konnte sich jedoch insgesamt wegen der ihm zugrunde liegenden statischen und für das praktische Leben viel zu unrealistischen Grundannahmen45 nicht durchsetzen.46 Als verfehlt hat sich etwa die Annahme erwiesen, dass verschiedene „statische“ Umstände wie die Einheitlichkeit von Preisen, die Homogenität von Gütern und eine vollkommene Markttransparenz kennzeichnend für den Wettbewerb seien.47 Dies sind jedoch gerade keine Eigenschaften des Wettbewerbs, sondern vielmehr Kennzeichen seines Fehlens.48 Friedrich A. v. Hayek (1899 – 1992) hatte schon 1946 erkannt, „daß, wenn der von der Theorie des vollkommenen Wettbewerbs angenommene Zustand je bestehen würde, er nicht nur allen Tätigkeiten, die das Wort ,Wettbewerb‘ beschreibt, die Entfaltungsmöglichkeit nehmen, sondern sie in ihrem Wesen unmöglich machen würde“.49 Wettbewerb sei „seiner Natur nach ein dynamischer Prozeß, dessen wesentlichste Merkmale als nicht bestehend angenommen werden, wenn man die Annahmen macht, die der statischen Analyse zugrunde liegen.“50 ,Vollkommener‘ Wettbewerb bedeute tatsächlich „das Fehlen aller wettbewerblichen Tätigkeiten“.51 quite clear that perfect competition has at no time been more of a reality than it is at present“); s. dazu auch die sehr kritische Rezension von W. Röpke, Muß der Sozialismus kommen?, in: ORDO, Bd. 1 (1948), S. 277 ff. 44 S. z. B. Leonhard Miksch, Wettbewerb als Aufgabe. Die Grundzüge einer Wettbewerbsordnung, 1947, S. 28 ff., 36 ff., 50, 137; Böhm, Wettbewerb, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, S. 150; Eucken (Anm. 20), passim. 45 S. John M. Clark, Competition and the Objective of Government Policies, in: Edward Chamberlin (ed.), Monopoly and Competition and their Regulation (1954), p. 317, 325: „The most available models are those that reach a static equilibrium. The outcome is the theory of ,perfect competition‘, a model whose characteristics are dictated by the requirement that price shall equal cost and all profits be eliminated. Actual competition is not like that; and the model may lead us to deplore this fact, when this uncalled-for. A world in which conduct is absolutely standardized would be arid, deadly, and intolerable. (…)“. 46 S. Rittner, Der „Leistungswettbewerb“ als wirtschaftspolitisches Programm, in: ZWeR 2004, S. 305 ff. (317); s. ferner die frühe Kritik (anlässlich eines Vortrags an der Universität Princeton am 20. 5. 1946) an der Theorie des vollkommenen Wettbewerbs bei v. Hayek, Der Sinn des Wettbewerbs, in: ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1952, S. 122 ff., der in dem genannten Beitrag den Versuch unternimmt, „zu zeigen, daß das, was die Theorie des vollkommenen Wettbewerbs diskutiert, eigentlich überhaupt nicht ,Wettbewerb‘ genannt werden dürfte (…)“ (S. 122). 47 v. Hayek (Anm. 46), in: ders., S. 122 ff. (125 ff.). 48 Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 78 m. w. N. 49 v. Hayek (Anm. 46), in: ders., S. 122 f.; ebenso Hoppmann (Anm. 34), S. 276, 286: „Durch die im wettbewerbspolitischen Leitbild enthaltene Wettbewerbsvorstellung, nämlich grundsätzlich vollkommene Konkurrenz mit einem vermeintlichen Optimum an Unvollkommenheiten als angeblich optimale Marktstruktur, werden also die zur Gestaltung des marktwirtschaftlichen Interaktionssystems entscheidenden Probleme der ökonomischen Rationalität nicht gelöst, nicht einmal gesehen.“ 50 v. Hayek (Anm. 46), in: ders., S. 122 ff. (125). 51 v. Hayek (Anm. 46), in: ders., S. 122 ff. (128).

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Erich Hoppmann (1923 – 2007) hat das Leitbild der „vollkommenen Konkurrenz“ ebenso treffend als „die Definition des totalen statischen Gleichgewichts und umgekehrt“ gebrandmarkt.52 Da im totalen statischen Gleichgewicht überhaupt keine wettbewerblichen Tätigkeiten stattfänden (sog. „Schlafmützenkonkurrenz“53), könne es in ihm auch keine Wettbewerbsfunktionen geben. Der Begriff „statische Wettbewerbsfunktionen“ sei „in sich widersprüchlich (…) ein Unbegriff“.54 Als in der Praxis nicht denkbar erwiesen sich ferner weitere Grundannahmen dieser Theorie wie das Fehlen von tatsächlichen oder rechtlichen Marktzutrittsschranken für Anbieter und Nachfrager sowie das Unterlassen von Eingriffen in den Preisbildungsprozess durch den Staat bzw. die Wirtschaftssubjekte. Darauf soll hier aber nicht weiter eingegangen werden. Die Kritik der Ökonomen am Leitbild der „vollständigen Konkurrenz“ ist aus wettbewerbsrechtlichem Blickwinkel überzeugend und verdient daher volle Zustimmung. In den Fällen des Vorhandenseins weniger Akteure auf dem Markt, die praktisch alles übereinander wissen, bestehen für miteinander konkurrierende Unternehmen keinerlei Anreize dafür, besondere Bemühungen zu entfalten und beispielsweise die Preise zu senken, die Qualität und die Vielfalt ihrer Produkte zu steigern bzw. zu erweitern und den Kundenservice zu verbessern. Es ist offensichtlich nicht normal, „daß jede Person, die sich am Markte beteiligt, vollkommene Kenntnis von allem besitzt, das den Markt beeinflußt“.55 Bei einem „statischen“ Marktgeschehen liegt vielmehr häufig ein sog. enges Oligopol vor, das sich durch eine geringe Anzahl von Anbietern auszeichnet und das – neben Monopolen und Dyopolen – wettbewerbsrechtlich betrachtet eines der problematischsten Marktstrukturphänomene darstellt. Das geltende europäische und deutsche Recht liefert dafür keine vollends zufriedenstellende rechtliche Handhabe. Zwar haben die Kartellbehörden gemäß § 32 Abs. 2 GWB grundsätzlich die Befugnis, Maßnahmen struktureller Art zu treffen; aber eine „Zerschlagung“ von großen, besonders marktmächtigen Konzernen würde letztlich vor dem Hintergrund der Artt. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG in der Regel dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widersprechen.56 Die Missbrauchsverbote in Art. 102 AEUV und § 19 GWB schützen den sog. „Restwettbewerb“, weil der Wettbewerb gerade wegen des Vorhandenseins eines oder mehrerer marktmächtiger Unternehmen auf dem relevanten Markt geschwächt ist. Das Kartellrecht nimmt das Bestehen von Marktmacht durchaus hin, wobei das Verhalten der marktmächtigen 52

Hoppmann (Anm. 34), S. 276, 285. S. dazu auch Lenel, Walter Euckens ordnungspolitische Konzeption, die wirtschaftspolitische Lehre in der Bundesrepublik und die Wettbewerbstheorie von heute, ORDO, Bd. 26 (1975), S. 22 ff. (71 f.); Rittner (Anm. 46), ZWeR 2004, S. 305 ff. (319). Der Ausdruck „Schlafmützenkonkurrenz“ wurde von Friedrich A. Lutz geprägt, s. Lutz, Bemerkungen zum Monopolproblem, ORDO, Bd. 8 (1956), S. 19 ff. (31 f.). 54 Hoppmann (Anm. 34), S. 276, 286. 55 v. Hayek (Anm. 46), in: ders., S. 122, 126. 56 Siehe dazu z. B. Martin Nettesheim/Stefan Thomas, Entflechtung im deutschen Kartellrecht, 2011, S. 37 ff., 85 ff., 132 ff. 53

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Unternehmen auf Missbräuche hin kontrolliert wird, und zwar sowohl von den Kartellbehörden als auch – über die Anspruchsgrundlage des § 33 GWB – von den betroffenen Konkurrenten. Die Akzeptanz intrinsischen Unternehmenswachstums im Kartellrecht ist unter anderem auch durch die Annahme gerechtfertigt, dass der Wettbewerb als dynamischer Prozess grundsätzlich ein geeignetes Instrument ist, um das erforderliche Machtgegengewicht herauszubilden.57 Der dynamische Wettbewerb, der Innovationen hervorbringt, ist – um mit Joseph A. Schumpeter zu sprechen – ein „Prozeß der schöpferischen Zerstörung“ (engl. „a process of creative destruction“).58 b) Das Konzept des „funktionsfähigen Wettbewerbs“ aa) Workable Competition in den USA Einen weiteren, überaus bedeutenden Ansatz zur Analyse von Wettbewerbsprozessen stellt das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs (engl. workable competition) dar, das maßgeblich von dem US-amerikanischen Ökonomen John Maurice Clark (1884 – 1963) um 1940 entwickelt wurde.59 Etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts machte dieses Konzept der Theorie der vollständigen Konkurrenz die Vorherrschaft streitig, um sie in der Folgezeit nahezu völlig zu verdrängen. Der „funktionsfähige Wettbewerb“ markiert insofern eine kopernikanische Wende in der Wettbewerbstheorie, als von Clark kein „vollkommener Wettbewerb“ mehr angestrebt, sondern ausdrücklich ein sog. second best-Konzept verfolgt wird:60 „(…) With this has come the realization that ‘perfect competition’ does not and cannot exist and has presumably never existed, for reasons quite apart from any inescapable tendency toward collusion, such as Adam Smith noted in his familiar remark on the gettings-together of members of a trade.61 What we have left is an unreal or ideal standard which may serve as a starting point of analysis and a norm with which to compare actual competitive conditions. It has also served as a standard by which to judge them.“62

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S. dazu sogleich unter 3. b). Schumpeter (Anm. 43), S. 134 ff. 59 John M. Clark, Toward a Concept of Workable Competition, in: The American Economic Review, Vol. XXX, No. 2 (June 1940), Part 1, p. 241 – 256. Der Beitrag ist über die Adresse http://jstor.org/stable/1807048 auch im Internet abrufbar. 60 Herdzina (Anm. 38), Wettbewerbspolitik, S. 69, stellt die Gegenmachtthese (scil. das Konzept der countervailing power) in den Kontext der Gegengifthypothese (second bestHypothese). 61 S. Adam Smith, Wealth of Nations, vol. 1, Book I, Chapter X, p. 160: „People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the publick, or in some contrivance to raise prices. It is impossible indeed to prevent such meetings, by any law which either could be executed, or would be consistent with liberty and justice. But though the law cannot hinder people of the same trade from sometimes assembling together, it ought to do nothing to facilitate such assemblies; much less to render them necessary.“ 62 Clark (Anm. 59), in: The American Economic Review, Vol. XXX, p. 241. 58

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Der entscheidende Wandel besteht darin, dass erstmals bestimmte Marktunvollkommenheiten (engl. remedial imperfections) nicht mehr als wettbewerbsvermindernd, sondern zutreffend als wettbewerbsfördernd erkannt wurden (sog. „Gegengiftthese“):63 „For some of the features listed as ,imperfections‘ in our present theoretical scheme may turn out to have some positive use in actual situations. It would be a truism to say that the most effective forms of competition we have, or can have, are imperfect forms, since there are no others.“64 Eine grundlegende Erkenntnis Clarks, die der Theorie der vollständigen Konkurrenz diametral entgegensteht, lautet, dass die Reduzierung oder gar der Ausschluss von Unsicherheit für den Wettbewerb grundsätzlich nachteilig ist.65 D. h. die Ungewissheit über das Verhalten der Marktteilnehmer infolge unvollkommener Marktübersicht wird – vor allem im Oligopol – „zu einem wichtigen Wettbewerbsantrieb“.66 In Übereinstimmung mit den Thesen von Clark hielt es v. Hayek im Jahr 1946 für eine „bedeutsame Tatsache, daß der Wettbewerb umso wichtiger ist, je komplizierter oder unvollkommener die objektiven Bedingungen sind, unter denen er wirksam sein soll“.67 Es sei keineswegs so, dass der Wettbewerb nur dann Vorteile bringe, wenn er „vollkommen“ sei, sondern die Notwendigkeit des Wettbewerbs sei nirgends größer „als in Gebieten, wo es die Natur der Güter oder Dienstleistungen unmöglich macht, daß je ein vollkommener Markt im theoretischen Sinn entsteht“.68 Die positive Bewertung von bestimmten Marktunvollkommenheiten durch Clark wird heute rückblickend zu Recht als „der entscheidende Meilenstein für die Entwicklung der dynamischen Wettbewerbstheorie in den folgenden Jahrzehnten“ bewertet.69 Seine Erkenntnisse werden im Kartellrecht beispielsweise im Rahmen der Kartellverbote des Art. 101 AEUV und § 1 GWB für identifizierende Preismel-

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Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 21. Clark (Anm. 59), in: The American Economic Review, Vol. XXX, p. 241 ff. (242). 65 S. z. B. Clark (Anm. 59), in: The American Economic Review, Vol. XXX, p. 241 ff. (249); s. ferner Ernst-Joachim Mestmäcker, Probleme des Bestmöglichen in der Wettbewerbspolitik, in: Paul G. von Beckerath/Martin Gersch/Rod Lampert (Hrsg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, Schriften des Vereins für Socialpolitik (SdVfS) N.F., Bd. 29 (1963), S. 305 ff. (313 ff.) (Abschnitt III., Förderung des Wettbewerbs durch Markttransparenz?); Ernst Heuß, Freiheit und Ungewißheit, ORDO, Bd. 15/16 (1965), S. 43 ff.; Arthur Woll, Zur wettbewerbspolitischen Bedeutung der Markttransparenz, in: Theoretische und institutionelle Grundlagen der Wirtschaftspolitik, Theodor Wessels zum 65. Geburtstag (Festgabe für Wessels), 1967, S. 199, 213; Schmidt/Haucap (Anm. 39), S. 13; Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 83. 66 Mestmäcker (Anm. 65), in: von Beckerath/Gersch/Lampert, S. 305 ff. (316). 67 v. Hayek (Anm. 46), in: ders., S. 122, 137. 68 v. Hayek (Anm. 46), in: ders., S. 122, 137. 69 Schmidt/Haucap (Anm. 39), S. 13; anders noch Schumpeter (Anm. 43), S. 135 Fn. 1. 64

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desysteme70 bzw. für den Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern allgemein71 fruchtbar gemacht. Später begründete John M. Clark seine Theorie in einer Monographie wesentlich ausführlicher.72 In dem Buch Competition as a Dynamic Process aus dem Jahr 1961 verändert Clark die Begrifflichkeit, indem er von dem Ausdruck workable competition zu der Bezeichnung effective competition wechselt.73 Entscheidend ist aber nicht so sehr die Veränderung in der Terminologie, sondern vielmehr, dass der Wettbewerb vor allem als ein dynamischer Prozess charakterisiert wird,74 der durch eine Folge nie abgeschlossener Vorstoß- und Verfolgungsphasen (engl. „a sequence of initiatory moves and counteracting responses“)75 gekennzeichnet ist.76 Dazu heißt es bei Clark: „The basic relation between initiatory and defensive competition can be briefly stated: without initiatory moves, competition does not begin, without defensive responses it does not spread.“77 Temporäre Vorzugsstellungen einzelner Wettbewerber gelten danach als tolerierbare Erscheinungen des Wirtschaftslebens, wobei die Geschwindigkeit ihres Abbaus als Ansatzpunkt für die Bestimmung der Wettbewerbsintensität zu betrachten ist.78 Die zentrale Erkenntnis Clarks, dass Wettbewerb kein statisches, sondern ein dynamisches Geschehen ist, hat für das Kartellrecht eminente Bedeutung.79 Daraus folgt beispielsweise, dass der Schutz des Wettbewerbs vor allem auch den potenziellen 70 Zum Problem der Marktinformationsverfahren s. Kling/Thomas (Anm. 29), § 4 Rn. 91 ff.; s. dazu schon Woll (Anm. 65), Festgabe für Wessels, 1967, S. 199 ff. (213). 71 S. z. B. Meinrad Dreher/Michael Kling/Jens Hoffmann, Kartell- und Wettbewerbsrecht der Versicherungsunternehmen, 2. Aufl. 2014, § 7 Der Austausch von Informationen in der Versicherungswirtschaft; Kling/Thomas (Anm. 29), § 4 Rn. 56 ff. 72 Clark, Competition as a Dynamic Process, 1961. 73 Zum Leitbild der effective competition bei Clark ab 1961 (scil. Abkehr von der Theorie des Zweitbesten, Integration der Schumpeter’schen Theorie der Innovation, völlige Aufgabe der vollkommenen Konkurrenz als Ziel) s. Schmidt/Haucap (Anm. 39), S. 13 f. 74 Clark (Anm. 45), in: Chamberlin, p. ix (Author’s Preface): „The theory of effective competition is dynamic theory“. 75 Clark (Anm. 45), in: Chamberlin, p. 317 et seq. (326 et seq.). Der zitierte Text steht dort in der Abschnittsüberschrift. Im Haupttext spricht Clark von einer „combination of (1) initiatory actions of a business unit, and (2) a complex of responses by those with whom it deals, and by rivals“ (p. 326); s. ferner noch folgende Aussage: „Progress in efficiency implies leaders and followers; hence difference in efficiency and cost in different enterprises are not a mere random imperfection, but are of the essence of a progressive state.“ (p. 329). 76 S. dazu auch Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 21. 77 Clark (Anm. 72), p. 429; s. ferner Clark, a. a. O., Chapter 19 betreffend „Common Requirements of Healthy Competition“ unter Ziffer 4 „Competition as a Sequence of Moves and Responses“ (p. 471 – 476). 78 Schmidt/Haucap (Anm. 39), S. 14. 79 S. zum Problem der „nationalökonomischen Dynamik“ v. Mises, Nationalökonomie. Theorie des Handelns und des Wirtschaftens, 1940, S. 244, im Internet im Volltext (756 S.) abrufbar unter: http://www.mises.de/public_home/article/73.

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Wettbewerb bzw. potenzielle Unternehmen i. S. des Kartellrechts mit einschließen muss.80 bb) Funktionsfähiger Wettbewerb in Deutschland In Deutschland fand das Clark’sche Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs vor allem bei Erhard Kantzenbach (geb. 1931) in seinem grundlegenden Werk „Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs“81 aus dem Jahr 1966 starken Widerhall.82 Kantzenbach vertritt ein Konzept, das von der damals in Deutschland herrschenden statischen Gleichgewichtstheorie diametral abweicht. Danach ist der Wettbewerb „ein evolutorischer Prozess (…), der seine optimale gesamtwirtschaftliche Funktionsfähigkeit bei einer mittleren Intensität erreicht“.83 Wettbewerb wird als „zyklischer Prozeß“84 begriffen, der „etwas Evolutorisches und Ungleichgewichtiges ist“85 und „in dem jede Innovation automatisch eine Anpassungstendenz zum neuen Gleichgewicht auslöst“.86 Kantzenbach übernimmt von Joseph A. Schumpeter (1883 – 1950) den treffenden Ausdruck vom Wettbewerb als „Prozeß der schöpferischen Zerstörung“87.88 Die „effektive Intensität eines Wettbewerbsprozesses“ hänge, so Kantzenbach, von der vorhandenen Unternehmensstruktur und vom Grad der Wettbewerbsbeschränkung ab.89 Er unterscheidet im Einzelnen zwischen den von ihm sog. drei „statischen Funktionen“ des Wettbewerbs, i. e. die marktleistungsgerechte Einkommensverteilung, die Konsumentensouveränität und die optimale Faktorallokation einerseits und den beiden „dynamischen Funktionen“ Anpassungsflexibilität und technischer Fortschritt andererseits.90 Die wohlfahrtsoptimale Marktform ist nach Kantzenbach nicht die der vollständigen Konkurrenz, sondern eine solche, die sowohl die Heterogenität konkurrierender Produkte als auch eine beschränk80

Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schumpeter (Anm. 43), S. 140. Erhard Kantzenbach, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, 1. Aufl. 1966, S. 17. 82 Schmidt/Haucap (Anm. 39), S. 14; Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 22. 83 Kantzenbach (Anm. 81), S. 159. 84 Kantzenbach (Anm. 81), S. 32 ff. 85 Kantzenbach (Anm. 81), S. 32. 86 Kantzenbach (Anm. 81), S. 33. 87 Schumpeter (Anm. 43), S. 134 ff. 88 Kantzenbach (Anm. 81), S. 32 f. 89 Kantzenbach (Anm. 81), S. 159. 90 Kantzenbach (Anm. 81), S. 16 f., 19 (Tabelle). Genauer: Die drei „statischen Funktionen“ werden bei Kantzenbach, a. a. O., S. 16 f. folgendermaßen bezeichnet: Die „funktionelle Einkommensverteilung nach der Marktleistung“, die „Zusammensetzung des laufenden Angebots an Waren und Dienstleistungen nach den Käuferpräferenzen“, die Lenkung der „Produktionsfaktoren in ihre produktivsten Einsatzmöglichkeiten“; die beiden „dynamischen Funktionen“ werden die „laufende flexible Anpassung der Produktionskapazität an die außerwirtschaftlichen Daten“ und als die „Durchsetzung des technischen Fortschritts bei Produkten und Produktionsmethoden“ bezeichnet; näher dazu auch Schmidt/Haucap, (Anm. 39) S. 15; kritisch Lenel (Anm. 53), ORDO, Bd. 26 (1975), S. 22 ff. (72). 81

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te Zahl von Konkurrenten beinhaltet.91 Die Anpassungsgeschwindigkeit und das Ausmaß der Anpassung der Konkurrenten werden ebenso wie die Existenzgefährdung durch Innovation zum Maßstab für die Wettbewerbsintensität gemacht.92 Die optimale Wettbewerbsintensität erfordere „keine extremen Marktbedingungen“.93 Sie liege „im Bereich weiter Oligopole mit unvollkommener Produkthomogenität und Markttransparenz“.94 In jenen Wirtschaftssektoren, in denen der Marktautomatismus keine befriedigende Koordination der unabhängigen unternehmerischen Investitionspläne bewirke, sei eine Planung „nötig“, eben weil der Wettbewerb nicht mehr „möglich“ sei.95 Die Frage, welchen gesellschaftlichen Gruppen die Kompetenz für die Planung derjenigen Wirtschaftssektoren übertragen werden soll, in denen der Wettbewerb nicht mehr funktionstüchtig ist, sei in erster Linie eine gesellschaftspolitische Frage, die eine bewusste politische Entscheidung verlange. Die Wirtschaftswissenschaften könnten zu ihrer Beurteilung „kaum einen wesentlichen Beitrag leisten“.96 c) Die Neoklassiker aa) Das Konzept des Freiheitsschutzes Von besonderer Bedeutung für das deutsche Kartellrecht ist unstreitig das Konzept des Freiheitsschutzes. Erich Hoppmann (1923 – 2007) bezeichnet den funktionsfähigen Wettbewerb als „ein normatives Ideal“, das anzeigt, „wie die einzelnen Märkte wettbewerblich ausgestaltet sein sollen“.97 Nach seiner Auffassung besteht das zentrale Ziel der staatlichen Wettbewerbspolitik darin, die Freiheit des Wettbewerbs zu schützen,98 und zwar sowohl als Freiheit des Wettbewerbs zu Vorstoß und Imitation (sog. Parallelprozess)99 als auch die Auswahlfreiheit (Substituierbarkeit) der Partner auf der Marktgegenseite (sog. Austauschprozess)100. Es handele sich dabei nicht etwa um „isoliert auftretende Elemente des Marktprozesses“, sondern um „zwei Dimensionen ein und desselben Prozesses“.101 Hoppmann unterscheidet

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Kantzenbach (Anm. 81), S. 31. Kantzenbach (Anm. 81), S. 40 ff. 93 Kantzenbach (Anm. 81), S. 130. 94 Kantzenbach (Anm. 81), S. 130. 95 Kantzenbach (Anm. 81), S. 161. 96 Kantzenbach (Anm. 81), S. 162. 97 Hoppmann, Workable Competition (Funktionsfähiger Wettbewerb). Die Entwicklung einer Idee über die Norm der Wettbewerbspolitik, in: ZBJV Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (258). 98 S. Hoppmann (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (251): „Staatliche Wettbewerbspolitik hat das Ziel, die Volkswirtschaft nach der Idee einer Wettbewerbswirtschaft zu gestalten. Norm ist der Wettbewerb.“ 99 Hoppmann (Anm. 34), S. 235, 266 ff.; s. ferner Schmidt/Haucap (Anm. 39), S. 18; Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 23. 100 Hoppmann (Anm. 34), S. 235, 265. 101 Hoppmann (Anm. 34), S. 235, 269. 92

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einerseits zwischen der Wettbewerbsfreiheit als einem selbständigen Ziel,102 das die besagte Freiheit der Anbieter zu Innovation und Imitation und die Wahlfreiheit der Marktgegenseite – gleichsam als Äquivalent einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung – einschließt sowie andererseits dem Wettbewerb als ein Instrument zur Erreichung ökonomischer Vorteile (z. B. niedrige Kosten, gute Qualität der Erzeugnisse, Varietät der Erzeugung, Einführung technischer und organisatorischer Fortschritte, Ausschaltung unwirtschaftlicher Bereiche, usw.).103 Die Erfahrungen stützen nach Hoppmann die „Auffassung, der freie, dynamische Wettbewerb entspreche den Zielen der Wettbewerbspolitik“.104 Die Zielsetzung der Wettbewerbsfreiheit bedeute, „daß man Wettbewerb als gesamtwirtschaftliches Ordnungs- und Koordinierungsprinzip wünscht“.105 Da die Theorie des dynamischen Wettbewerbs bereits bei den nationalökonomischen Klassikern vorgezeichnet gewesen sei, bezeichnet sie Hoppmann als „neoklassische Wettbewerbstheorie“.106 Der Unterschied zur Theorie des vollkommenen Wettbewerbs wird plastisch wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Der ,vollkommene‘ Wettbewerb ist seinem Wesen nach stationär, freier Wettbewerb ist vorwärtsstürmend.“107 Oder anders gewendet: „Wettbewerb ist ein zeitlicher, geschehnishafter Prozeß.“108 Der „funktionsfähige Wettbewerb“ wird über das Fehlen künstlicher Wettbewerbshindernisse (die durch den Staat oder durch unternehmerische Praktiken errichtet werden) definiert.109 Weder ein „vollkommener“ noch ein „unvollkommener“ (i. S. eines mit monopolistischen Praktiken durchsetzter) Wettbewerb, sondern „ein freier, unbeschränkter Wettbewerb muss die Norm sein“.110 Der Wettbewerbstest der neoklassischen Idee des funktionsfähigen Wettbewerbs wird von ihren Vertretern als Marktstruktur- und Marktverhaltenstest – unter ausdrücklichem 102 Hoppmann, Fusionskontrolle, 1972, S. 18; s. dazu auch Möschel (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, 1988, S. 707 ff. (712 ff.). 103 S. Hoppmann (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 ff. (149); ders. (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (253); ders., a. a. O., S. 157; ausführlich zur ökonomischen Vorteilhaftigkeit (i. S. individueller und überindividueller, d. h. gesamtwirtschaftlicher Vorteile) ders., in: Hoppmann (Anm. 34), S. 235, 243 ff., 245 ff., 248 ff. 104 Hoppmann (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249, 266. 105 Hoppmann (Anm. 34), S. 235, 243. 106 Hoppmann (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (266). Dieser Theorie wird ebd. das statische Modell des vollkommenen Wettbewerbs gegenübergestellt, „das nur ein rein analytisches Instrument ist“; s. auch dens. (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 ff. (152), wieder abgedruckt in Hoppmann (Anm. 102), Fusionskontrolle, 1972, S. 179, wo in einem Hinweis auf S. 178 auf Verwechslungen des Begriffs „neoklassisches Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs“ mit mechanistischen Gleichgewichtsmodellen und den daraus folgenden Verzicht des Verf. auf die weitere Verwendung des Begriffs hingewiesen wird. 107 Hoppmann (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (267). 108 Hoppmann (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 ff. (146). 109 Hoppmann (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (267); ders., Festgabe für Wessels, 1967, S. 145, 166. 110 Hoppmann (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (271).

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Verzicht auf einen Marktergebnistest –111 konzipiert.112 Der Gedanke des Innovationsschutzes spielt dabei eine wichtige Rolle.113 Für die deutsche Kartellrechtswissenschaft und -praxis ist dieses neoklassische Konzept des Freiheitsschutzes, d. h. die „Idee des funktionsfähigen Wettbewerbs“,114 etwa ab Mitte der 1960er Jahre prägend gewesen.115 Eine wesentliche Leistung bestand darin, die Wettbewerbstheorie in eine Herrschaft des Gesetzes oder rule of law überführt zu haben –116 im Unterschied zu den effizienzbetonten und diskretionären Entscheidungsmechanismen, wie sie auf europäischer Ebene und in den USA vorzufinden sind.117 Das deutsche Kartellrecht ging und geht im Kern auch heute noch von der Privatautonomie und der Unternehmerfreiheit aus. Die Vorschriften des Kartellrechts werden als Freiheitsbeschränkungen – d. h. als Eingriffe in die Vertragsfreiheit – bewertet, die zum Schutz des Wettbewerbs erforderlich sind.118 Es geht um den „Schutz individueller wirtschaftlicher Handlungsfreiheiten als Wert an sich“ bzw. – umgekehrt gewendet – um die „Domestizierung übermäßiger wirtschaftlicher Macht“.119 111

Zur fehlenden Eignung des Rückgriffs auf „gute“ Marktergebnisse s. Wernhard Möschel (Anm. 25), in: Festschrift für Mestmäcker, S. 355 ff. (365); Mestmäcker (Anm. 65), in: von Beckerath/Gersch/Lampert, S. 305 ff. (312); Joel B. Dirlam/Alfred E. Kahn, Fair Competition: The Law of Economics of Antitrust Policy, Ithaca, N.Y. 1954, p. 39: „To put the matter bluntly, the market performance test looks at the wrong end of the process.“ 112 Hoppmann (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (267). 113 Hoppmann (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 ff. (162, 163 ff.); vgl. dazu auch Jochen Röpke, Die Strategie der Innovation, 1977, passim. 114 Hoppmann (Anm. 97), ZBJV, Bd. 102 (1966), S. 249 ff. (271 f.). 115 Frühe Ansätze finden sich bei Borchardt/Fikentscher, Wettbewerb, Wettbewerbsbeschränkung, Marktbeherrschung, 1957; s. dazu Mestmäcker (Anm. 65), in: von Beckerath/ Gersch/Lampert, S. 305 ff. (308 ff.); s. auch Möschel (Anm. 25), in: Festschrift für Mestmäcker, S. 355 ff. (357). 116 Möschel (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, S. 707 ff. (708, 721); s. ferner dens. (Anm. 25), in: Festschrift für Mestmäcker, S. 355 ff. (360); Rittner, Das neue europäische Kartellrecht: Bürokratische Netze statt Herrschaft des Gesetzes?, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Bd. 99 (I/2004), S. 38, 40; s. zum Verhältnis von Recht und Ökonomie ferner Mestmäcker, Die Interdependenz von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik, in: Monopolkommission, Zukunftsperspektiven in der Wettbewerbspolitik. Colloquium anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Monopolkommission am 5. November 2004 in der Humboldt-Universität zu Berlin, 2005; Martin Hellwig, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Zur normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik, in: Engel/Möschel (Hrsg.), Recht und spontane Ordnung. Festschrift für Mestmäcker, 1996, S. 231 ff.; Möschel (Anm. 25), in: Festschrift für Mestmäcker, S. 355 ff.; zur Herrschaft des Gesetzes als metajuristische Lehre s. noch v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 4. Aufl. 2005, Kapitel 14. Die Sicherung der persönlichen Freiheit (= S. 282 ff.). Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel „The Constitution of Liberty“ 1960 in London; die erste deutschsprachige Ausgabe erschien 1971 in der Schriftenreihe des Walter Eucken Instituts. 117 Möschel, (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, S. 707 ff. (708); Rittner, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Bd. 99 (I/2004), S. 38 ff. 118 Rittner (Anm. 117), Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, S. 38. 119 Möschel (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, S. 707 ff. (712).

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Ein kurzer Blick in den Art. 101 Abs. 3 AEUV mit seinen vier kumulativ zu erfüllenden, an der Erreichung ökonomischer Effizienz orientierten, aber relativ unbestimmten Kriterien macht deutlich, dass auf europäischer Ebene seit jeher ein diskretionärer Ansatz bei der „Rechtfertigung“ von Wettbewerbsbeschränkungen gepflegt wurde. Damit konfligiert das sog. System der Legalausnahme, welches seit dem InKraft-Treten der Verordnung Nr. 1/2003 zum 1. Mai 2004 die Unternehmen zu einer kartellrechtlichen Selbstbegutachtung verpflichtet und die Europäische Kommission als Kartellbehörde wesentlich entlastet, ohne aber deren kartellbehördliche Befugnisse einzuschränken. Über § 2 GWB gilt dieser Rechtsstand seit Umsetzung der 7. GWB-Novelle von 2005 auch im deutschen Kartellrecht, d. h. für das Kartellverbot des § 1 GWB. Wir haben es also bei dem heutigen GWB mit einem „eigenartigen Mischwesen“ zu tun, in dem der Freiheitsschutz und die ökonomische Effizienz miteinander um die Vorherrschaft ringen. bb) Wettbewerb als „spontane Ordnung“ sowie als „Such- und Entdeckungsverfahren“ Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1974, Friedrich A. v. Hayek, versteht den Wettbewerb als eine „spontane Ordnung“120 bzw. als ein „Such- und Entdeckungsverfahren“121, dessen Ergebnisse nicht vorausgesagt werden können und die im Ganzen von niemandem hätten bewusst angestrebt werden können.122 v. Hayeks Studien aus den 1960er Jahren zufolge entstehen Ordnungen bzw. Institutionen spontan. D. h. sie sind weder geplant noch konstruiert, es handelt sich vielmehr um „unbeabsichtigte Konsequenzen absichtlicher Handlungen“:123 „Das 120 S. z. B. v. Hayek, Wahrer und falscher Individualismus, in: ORDO, Bd. 1 (1948), S. 19 ff. (30); ders., The Sensory Order. An Inquiry Into the Foundations of Theoretical Psychology, 1952, im Internet abrufbar unter der Webadresse: https://archive.org/details/sensor yorderinqu00haye; ders., Arten der Ordnung, ORDO Bd. 14, 1963, S. 1 ff., wieder abgedruckt in: Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 32 ff. (insbes. S. 40 ff.); ders., Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: ORDO, Bd. 18 (1967), S. 11 ff., wieder abgedruckt in: Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 108 ff.; ders., Rechtsordnung und Handelsordnung, in: Erich Streißler (Hrsg.), Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, Freiburger Rechtsund Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 27, 1967, S. 195 ff., wieder abgedruckt in: in: Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 161 ff.; s. ferner Hoppmann (Anm. 34), S. 235 ff. (242 f.); Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 93. 121 Ausführlich dazu v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Vortrag, gehalten am 5. 7. 1968 im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, veröffentlicht in: Erich Schneider (Hrsg.), Kieler Vorträge, Neue Folge 56, 1968; wieder veröffentlicht in: Freiburger Studien, gesammelte Aufsätze, 2. Aufl. 1994, S. 249 ff.; s. auch Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 24. 122 Ebenso Hoppmann (Anm. 102), Fusionskontrolle, 1972, S. 7, 17 = Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, 1988, S. 296, 305: „Die grundsätzliche Offenheit des Wettbewerbs als eines Entdeckungsverfahrens macht es unmöglich, den konkreten Ablauf gewünschter Marktprozesse durch ein Modell zu beschreiben.“ 123 v. Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs, in: Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 97 ff.

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Problem, das die spontane Marktordnung löst, ist gerade das der Nutzung von mehr Wissen, als irgendein einzelner Verstand besitzt. Die Marktordnung erreicht dies durch ein Entdeckungsverfahren, das wir Wettbewerb nennen.“124 Franz Böhm schrieb 1971, ganz im Sinne der vorgenannten Hayek’schen Konzeption: „Die von den Marktpreisen gesteuerte wirtschaftliche Kooperation von Menschen bringt ein Resultat zustande, das in keinem einzigen der beteiligten Köpfe präexistiert oder zu präexistieren braucht. (…) Die Besonderheit der marktwirtschaftlichen Ordnung (…) besteht vor allem darin, daß die Ordnung das gesamte Sozialgeschehen direkt und allein steuert. Die Steuerung die unter Geltung dieses Systems zustandekommt, hat automatischen Charakter. Es handelt sich um ein selbst steuerndes Geschehen.“125 Wettbewerb ist danach ein offener Prozess, dem – anders als von Kantzenbach postuliert – gerade keine festgelegten Zielfunktionen unterlegt werden können.126 Wettbewerb stellt vielmehr ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen dar, die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben würden oder die zumindest nicht genutzt werden könnten.“127 Die wichtigsten Funktionen des Wettbewerbs kämen also gar nicht in den Blick, wenn man von einer vollständigen Transparenz und der „Allwissenheit“ der Akteure über die Vorgänge auf dem Markt ausginge.128 Das Problem besteht aus der Sicht Hayeks sowie seiner Schüler und Sinnesgenossen gerade darin, zu erklären, warum es für den Einzelnen möglich ist, unter Bedingungen der Ungewissheit über künftige Entwicklungen rational zu handeln.129 cc) Wettbewerb als „geniales Entmachtungsinstrument“ Schließlich ist in diesem Zusammenhang eine wegweisende Erkenntnis von Franz Böhm (1895 – 1977), dem neben Walter Eucken führenden Vertreter der Freiburger Schule, zu erwähnen. Böhm qualifiziert den Wettbewerb in einem im Jahr 1960 in Frankfurt a.M. gehaltenen Vortrag treffend als „das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“130 und als „Streikbrecher ökonomischer 124 v. Hayek, Rechtsordnung und Handelsordnung, Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 161 ff. (167). 125 Böhm (Anm. 19), ORDO, Bd. 22 (1971), S. 11 ff. (17 f.). 126 Rittner, Vom Nutzen und Nachteil der Ökonomie für das Wettbewerbsrecht. Fünf Lehrstücke und 30 conclusiones, in: Nikolaus v. Verschuer/Joachim Gres (Hrsg.), Liber amicorum für Alexander Riesenkampff, 2006, S. 125 ff. (132 f.); s. auch Mestmäcker/ Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 94. 127 Hoppmann (Anm. 34), S. 276 ff. (293). 128 S. dazu schon Woll (Anm. 65), Festgabe für Wessels, S. 199 ff. 129 Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 92. 130 Böhm (Anm. 28), in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), S. 1 ff. (22); ders. (Anm. 19), ORDO, Bd. 22 (1971), S. 11 ff. (20); s. dazu auch Kling/ Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 25.

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Machtbildung“131. Dem Verbraucher kommt in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige Rolle zu, denn „die Herrschaft des Leistungsprinzips [ist] gleichbedeutend mit der Herrschaft des Konsumenten“.132 Der Letztverbraucher versieht die „Aufgabe des Schiedsrichters im Wettbewerb“.133 Böhm weist – wie vor ihm schon Schumpeter134 – zu Recht darauf hin, dass Konkurrenz schon dann entmachtend wirkt, wenn ein Unternehmen überhaupt mit Rivalen zu rechnen hat, also ebenso in den Fällen lediglich potenziellen Wettbewerbs. Das Kartellrecht erfasst folglich jene in der Wirtschaftswissenschaft als „bestreitbare Märkte“ (engl. contestable markets)135 bezeichnete Erscheinungsform des Wettbewerbs, weil nicht nur der aktuell bestehende, sondern auch der potenzielle Wettbewerb durch die Beseitigung künstlich geschaffener, wettbewerbsfeindlicher Marktzutrittsschranken zu schützen ist.136 Dafür spricht von supranationalem Blickwinkel aus vor allem die von der Europäischen Kommission zu Recht verfolgte Zielsetzung der Offenhaltung der Märkte innerhalb des Binnenmarkts, die sowohl dem Schutz des aktuellen als auch des potentiellen Wettbewerbs dient. Weil der Wettbewerb als dynamisches Geschehen, das Innovationen zur Durchsetzung verhilft,137 ein „Entmachtungsinstrument“ ist, kann im AEUV und im GWB auf spezifische Regeln zu Bekämpfung wirtschaftlicher Macht – z. B. besondere Zerschlagungstatbestände – verzichtet werden. Solange potenzieller Wettbewerb und damit Marktgegenmacht herrschen, müssen marktmächtige Akteure jederzeit um ihre wirtschaftliche Stellung fürchten. Allgemeiner gesagt, ist der Wettbewerb damit zugleich auch ein brauchbares Instrument zur Verhinderung wirtschaftlicher Macht.138 d) Zwischenergebnis Die geniale Formulierung Friedrich A. v. Hayeks vom Wettbewerb als einem Such- und Entdeckungsverfahren bringt zutreffend zum Ausdruck, dass es sich bei 131 Böhm (Anm. 28), in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), S. 1 ff. (22). 132 W. Röpke (Anm. 5), S. 307. 133 Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, S. 119. 134 Schumpeter (Anm. 43), S. 140: „Es ist kaum nötig zu erwähnen, daß die Konkurrenz, wie wir sie nun im Sinn haben, nicht nur wirkt, wenn sie tatsächlich vorhanden, sondern auch wenn sie nur eine allgegenwärtige Drohung ist. Sie nimmt in Zucht, bevor sie angreift.“ 135 Herdzina (Anm. 38), Wettbewerbspolitik, S. 72. 136 Vgl. Hoppmann (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 ff. (166). 137 S. dazu auch den Beitrag des „Neo-Schumpeterianers“ Chris Freeman, A Schumpeterian Renaissance?, SPRU Electronic Working Paper Series, Paper 102 (July 2003), p. 4 et seq.: „(…) that innovation is the crucial source of effective competition, of economic development and the transformation of society, have become very widely accepted.“, im Internet abrufbar über http://www.sussex.ac.uk/. 138 Kurt H. Biedenkopf, Wettbewerbsordnung und Sozialmacht, in: Engel/Möschel (Hrsg.), Wettbewerb zwischen Handlungsfreiheiten und Effizienzziele. Festschrift für Mestmäcker zum 80. Geburtstag, 2006, S. 83 ff. (91).

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dem Wettbewerb im Kern um einen offenen Prozess und damit um ein komplexes, dynamisches Marktgeschehen ohne konkret vorhersehbare Marktergebnisse handelt.139 Allerdings sind ökonomische Begriffsdefinitionen in aller Regel nicht tauglich, um Funktionsbegriffe des Rechts präzise festzulegen.140 Ökonomische Begriffsvorstellungen lassen sich nicht unreflektiert auf das Kartellrecht übertragen, weil fast immer zusätzliche juristische Wertungen getroffen werden müssen.141 Die ökonomische Wissenschaft kann durch die von ihr entwickelten Modelle den Juristen zwar beträchtliche Unterstützung leisten, sie kann ihnen die juristischen Wertungen und Entscheidungen aber niemals abnehmen.142 Als eine wertvolle Erkenntnis der Ökonomie für das Kartellrecht kann festgehalten werden, dass man zwar den Wettbewerb als Institution und zugleich die Freiheit der Wettbewerber zu schützen vermag,143 dass es aber unmöglich ist, mittels ökonomischer Analysen in Form von „Marktergebnistests“ zu den wettbewerbspolitisch erwünschten Ergebnissen zu gelangen.144 Bei dem Ausdruck „Wettbewerb“ handelt es sich um einen nicht präzise zu definierenden, unbestimmten Rechtsbegriff. Es ist nicht möglich, sämtliche Bedingungen, Wirkungsweisen und Folgen des Marktgeschehens von vornherein begrifflich zu erfassen.145 Durch eine vorherige Festlegung der Inhalte würden Freiheitspositionen aufgehoben werden,146 denn Wettbewerb läge immer nur dann vor, wenn ein der – wie auch immer gefassten – Definition entsprechendes Verhalten gegeben wäre; dadurch würden künftige, im Zeitpunkt der Entscheidung unbekannte Verhaltensweisen, ausgeklammert. Eine solche Vorgabe liefe auf eine unzulässige „Anmaßung von Wissen“ im Sinne v. Hayeks hinaus.147 Die Existenz der Kartellverbote in Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB steht mit dieser Aussage nicht in Widerspruch, denn die Bedingungen, unter denen der Wettbewerb seine Funktionen nicht erfüllen kann – Wettbewerbsbeschränkungen und missbräuchliche Verhaltensweisen also –, lassen sich empirisch nachweisen und grundsätzlich auch definieren, jeden139 Zur eingeschränkten Tauglichkeit von Marktergebnissen als Beurteilungskriterien im Wettbewerbsrecht Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 86, unter Hinweis auf Dirlam/ Kahn (Anm. 111), 1954, S. 39; s. ferner Herdzina (Anm. 38), Wettbewerbspolitik, S. 52 ff. 140 Siehe Rittner (Anm. 126), in: Liber amicorum für Riesenkampff, S. 125 ff. (138) (Thesen 25 – 29). 141 Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 27; vgl. auch Rittner (Anm. 24), § 5 Rn. 43. 142 Rittner (Anm. 126), S. 125 ff. (138) (These 26). 143 Rittner (Anm. 24), § 5 Rn. 48; Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 4 Rn. 25. Zur Wettbewerbsfreiheit als Determinante und Voraussetzung des funktionsfähigen Wettbewerbs siehe Herdzina (Anm. 38), Wettbewerbspolitik, S. 82 ff., 98 (vierzehnte These). 144 Ebenso Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 95. 145 Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 28; Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 75; Rittner (Anm. 24), § 5 Rn. 45; Herdzina (Anm. 38), Wettbewerbspolitik, S. 96 f. 146 Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 75. 147 S. v. Hayek, Die Anmaßung von Wissen, in: Wolfgang Kerber (Hrsg.), Die Anmaßung von Wissen, 1996, S. 3 ff. Es handelt sich dabei um die deutsche Übersetzung der am 11. 12. 1974 in Stockholm unter dem Titel „The Pretence of Knowledge“ gehaltene Nobelpreisrede des Autors.

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falls kann man sie in sinnvolle juristische Kategorien einordnen und somit typisieren.148 Das führt zu dem bekannten Paradoxon, dass der Zentralbegriff des Wettbewerbs nur über den Gegenbegriff der Wettbewerbsbeschränkung rechtlich hinreichend präzise erfasst werden könne.149 e) Die bei der Schaffung des modernen Kartellrechts herrschenden wettbewerbstheoretischen Vorstellungen Es verwundert angesichts der insgesamt gesehen recht diffusen wettbewerbstheoretischen Grundlagen nicht, dass weder das GWB von 1957 noch der EWG-Vertrag aus dem gleichen Jahr – seinerzeit ein Teil der Römischen Verträge von 1957 – klar und eindeutig auf einen der oben genannten Wettbewerbsbegriffe festgelegt werden kann.150 Sicher ist indessen, dass beiden liberalen, dem Freiheitsschutz verpflichteten Kartellrechtsordnungen der Aspekt des wirtschaftlichen Wettkampfes im Sinne eines dynamischen Verhaltens der Akteure auf dem Markt inhärent ist.151 Beide Kartellrechte richten sich gegen Beschränkungen des Wettbewerbs durch Wettbewerber und sorgen seit Jahrzehnen dafür, dass die Privatautonomie der wettbewerbswidrig agierenden Akteure auf eine Art und Weise begrenzt wird, dass sie sich nicht selbst aufhebt.152 aa) Die Leitideen des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957 (1) Die Freiburger Schule: Wettbewerb als „vollständige Konkurrenz“ Dem deutschen GWB vom 27. Juli 1957153 lagen die ordoliberalen Vorstellungen der Vertreter der Freiburger Schule zugrunde, die als wettbewerbstheoretisches Leitbild die Theorie der vollständigen Konkurrenz verfolgten.154 Das hauptsächliche

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Rittner/Dreher/Kulka (Anm. 24), Rn. 627 ff., 727. Rittner (Anm. 24), § § 5 Rn. 45: „Nicht der Wettbewerb läßt sich definieren, sondern nur die (einzelne) Wettbewerbsbeschränkung“; s. auch Hoppmann (Anm. 102), Fusionskontrolle, S. 7, 9 f. 150 Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 30. 151 Vgl. zum GWB von 1957 die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 2/1158, S. 31 und den Bericht des Ausschusses für Wirtschaftspolitik, Anlage zu BT-Drucks. 2/3644, S. 15. 152 S. Rittner (Anm. 24), § 5 Rn. 1 f., 44. 153 BGBl. I, S. 1081. Zur Bedeutung dieses Gesetzes s. Rittner, Über das Verhältnis von Vertrag und Wettbewerb, in: Meine Universitäten und das Wirtschaftsrecht, 2003, S. 88 ff.; zu dessen kompromisshaften Charakter (z. B. Fehlen einer Zusammenschlusskontrolle bis 1973, zahlreiche Ausnahmen vom Kartellverbot) s. Lenel (Anm. 13), ORDO, Bd. 22 (1971), S. 29 ff. (35); Möschel, (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, S. 707 ff. (718); ders, (Anm. 6), NZKart 2014, S. 42 ff. (44 f.). 154 S. dazu im Einzelnen Rittner/Dreher (Anm. 27), § 14 Rn. 20 f.; Rittner (Anm. 153), Meine Universitäten, S. 86 ff.; Möschel, (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, S. 707 ff.; instruktiv zur Genese des GWB ders. (Anm. 6), NZKart 2014, S. 42 ff. (44 ff.). 149

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Schutzziel der Freiburger Schule bestand in der Sicherung der individuellen Handlungsfreiheit der Wirtschaftsteilnehmer.155 Die Entwurfsverfasser des ersten GWB konnten auf den grundlegenden wettbewerbstheoretischen Werken der Zeit von Walter Eucken (1891 – 1950),156 Franz Böhm (1895 – 1977), Leonhard Miksch (1901 – 1950), Alfred Müller-Armack (1901 – 1978), Wilhelm Röpke (1899 – 1966) und Alexander Rüstow (1885 – 1963) aufbauen, die teilweise aus der Vorkriegszeit stammten. In der von Eberhard Günther157 (1911 – 1994) verfassten Gesetzesbegründung158 wird mehrfach auf die Theorie der vollständigen Konkurrenz Bezug genommen.159 Eucken hatte seinerzeit –160 in 155 Möschel (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, S. 707 ff. (712); Kling/Thomas (Anm. 29), § 11 Rn. 1. – Dem vor allem von Böhm verfolgten Anliegen, die Entstehung wirtschaftlicher Macht zu verhindern und wirtschaftliche Macht als solche zu bekämpfen (s. dazu unten 195), war zwar noch im sog. Josten-Entwurf vom 5. 7. 1949 (eigentlicher Titel: „Entwurf zu einem Gesetz zur Sicherung des Leistungswettbewerbs und zu einem Gesetz über das Monopolamt“, 1949), an dem Franz Böhm mitgearbeitet hatte, entsprochen worden. Denn dieser Gesetzentwurf orientierte sich nicht nur wie das spätere GWB von 1957 am Leitbild der vollständigen Konkurrenz, sondern er enthielt auch ein striktes Kartellverbot und einen Plan zur Entflechtung der Großkonzerne. Das war in Wirtschaft und Politik nicht durchsetzbar; s. zum JostenEntwurf Rittner/Dreher (Anm. 2), Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, § 14 Rn. 18; Günther, Die geistigen Grundlagen des sogenannten Josten-Entwurfs, in: Heinz Sauermann/ Ernst J Mestmäcker (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung. Festschrift für Franz Böhm, 1975, S. 183 ff.; Hoppmann (Anm. 34), S. 235 ff., 276 ff. Der Regierungsentwurf zum GWB vom 13. 6. 1952 (BT-Drucks. I, S. 3462) war „wesentlich praxisnäher und praktikabler gestaltet“ (so Rittner/Dreher, a. a. O., § 14 Rn. 19) und enthielt auch bedeutsame Ausnahmen vom Kartellverbot. 156 Zu Euckens Wettbewerbskonzeption s. Lenel, Walter Eucken. Leben und Werk, in: Vademecum zu Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie (Faksimile-Edition), 1990, S. 15 ff. (31); Lenel (Anm. 53), ORDO, Bd. 26 (1975), S. 22 ff.; ders., Vollständiger und freier Wettbewerb als Leitbilder für die Wettbewerbspolitik gegenüber mächtigen Unternehmen, in: Sauermann/Mestmäcker (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung. Festschrift für Böhm, 1975, S. 317 ff. 157 Der Jurist Dr. Eberhard Günter war seinerzeit der zuständige Referent im Bundesministerium für Wirtschaft. Er wurde später der erste Präsident des Bundeskartellamtes; zu seiner Biographie s. den Nachruf von Rittner, Eberhard Günther †, JZ 1995, S. 86 f.; Möschel bezeichnet ihn als „waschechten Ordoliberalen“, s. Möschel (Anm. 6), NZKart 2014, S. 42 ff. (45). 158 BT-Drucks. II/1158 Anlage 1, dort A. IV und A. V; ebenfalls abgedruckt in: MüllerHenneberg/Schwartz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 1958, S. 1057 ff.; zum Gesetzentwurf v. 22. 5. 1951 s. auch Günther (Anm. 8), WuW 1951, S. 17 ff. (22): „staatliche Aufsicht in der Richtung des vollständigen Wettbewerbs“. Die genannten Gesetzesmaterialen sind über den DIP-Server des deutschen Bundestages unter der Adresse http://pdok.bundes tag.de auch online verfügbar. 159 S. z. B. BT-Drucks. II/1158 Anlage 1, S. 22 unter A. V.: „Es darf als sichere wissenschaftliche Erkenntnis angesehen werden, daß die Marktverfassung des freien Wettbewerbs das Vorhandensein der Marktform des vollkommenen Wettbewerbs als wirtschaftliche Gegebenheit zur Voraussetzung hat, d. h. die Zahl der Marktteilnehmer auf beiden Marktseiten muß so groß sein, daß der Marktpreis für den Unternehmer eine von seinem Verhalten im wesentlichen unabhängige Größe ist. Soweit diese Voraussetzung zutrifft bzw. herstellbar ist, muß der

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Übereinstimmung mit der damals geltenden Preistheorie – die „vollständige Konkurrenz“161 als diejenige Marktform empfohlen, „in der die Wettbewerbsordnung dominiert“.162 Die vollständige Konkurrenz dient nach Eucken in der Wettbewerbsordnung nicht nur dazu, „die Leistung zu steigern, sondern sie ist die Marktform, deren Preise den Wirtschaftsprozeß lenken. (…) Lenkung des Wirtschaftsprozesses und Leistungssteigerung zusammen sollen in der Wettbewerbsordnung durch vollständige Konkurrenz bewirkt werden.“163 Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundprinzip bestehe darin, „die Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Konkurrenz“ zum wesentlichen Kriterium jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme zu machen.164 Dieses Grundprinzip verlange nicht nur, dass „gewisse wirtschaftliche Akte“ wie „staatliche Subventionen, Herstellung staatlicher Zwangsmonopole, allgemeiner Preisstopp, Einfuhrverbote usw.“ vermieden werden, denn es sei nicht in erster Linie negativ. Vielmehr sei „eine positive Wirtschaftsverfassungspolitik notwendig, die darauf abzielt, die Marktform der vollständigen Konkurrenz zur Entwicklung zu bringen und so das Grundprinzip zu erfüllen“.165 Die Hauptsache sei es, „den Preismechanismus funktionsfähig zu machen“.166 Die „Politik der Wettbewerbsordnung“ unterscheide sich „vollständig von der Politik des Laissez-faire, die nach ihrem Grundgedanken eine positive, wirtschaftliche Ordnungspolitik nicht kannte.“167 Das Ziel der Monopolgesetzgebung und der Monopolaufsicht bestehe darin, „die Träger wirtschaftlicher Macht zu einem Verhalten zu veranlassen, als ob vollständige Konkurrenz bestünde“.168

Gesetzgeber dafür Sorge tragen, daß der vollständige Wettbewerb nicht durch beschränkende Maßnahmen beeinträchtigt wird.“ 160 In Euckens erstem großen Beitrag mit dem Titel „Das ordnungspolitische Problem“, ORDO, Bd. 1 (1948), S. 56 ff. wird das „Lenkungsproblem“ zwar umfassend erörtert, aber die zentralen Begriffe „vollständige Konkurrenz“ und „Wettbewerbswirtschaft“ finden sich darin noch nicht. 161 S. dazu auch Lenel, Walter Eucken. Leben und Werk, in: Vademecum zu Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie (Faksimile-Edition), 1990, S. 15 ff. (31). 162 Eucken (Anm. 20), S. 246; s. auch Hoppmann (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 ff. (155). Dies galt aber nicht für monopolistische Marktformen, für die man sich auf das Workability-Konzept berief, s. Hoppmann, ebd. 163 Eucken (Anm. 20), S. 249. 164 Eucken (Anm. 20), S. 254. 165 Eucken (Anm. 20), S. 255. 166 Eucken (Anm. 20), S. 255. 167 Eucken (Anm. 20), S. 255. 168 Eucken (Anm. 20), S. 295; zu Euckens Forderung nach einem wettbewerbsanalogen Verhalten von Monopolisten s. Lenel (Anm. 53), ORDO, Bd. 26 (1975), S. 22 ff. (64); dens., (Anm. 156), in: Festschrift für Böhm, S. 317 ff.; s. ferner Rittner (Anm. 126), in: Liber amicorum für Riesenkampff, S. 125 ff. ( 131).

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(2) Theorie versus Realität Es wird heute mit gutem Grund vermutet, dass sich Eberhard Günther des „utopischen Charakters“ der von ihm in der Gesetzesbegründung in Bezug genommenen ordoliberalen Lehren bewusst gewesen sei.169 Für die führenden Ordoliberalen wie Walter Eucken170, Franz Böhm171 und Leonhard Miksch172 kann man konstatieren, dass sie das Modell der vollständigen Konkurrenz zuvörderst als einen theoretischen Ansatz verstanden. Die Theoretiker des ordoliberalen Denkens waren jedenfalls keine „idealistischen Träumer“, die fernab der Wirklichkeit forschten, sondern „gnadenlose Realisten“.173 Hans Otto Lenel (geb. 1917) hat dazu ausgeführt: „Eucken kannte die Wirklichkeit zu genau, um nicht zu wissen, daß vollständige Konkurrenz (auch in seinem Sinne) auf vielen Märkten nicht zu finden ist.“174 Vor diesem Hintergrund ist es einerseits plausibel, wenn gesagt wird, dass das „schlechterdings wirklichkeitsfremde“175 Modell der vollständigen Konkurrenz, das dem ersten GWB-Entwurf zugrunde gelegen habe, bei der Schaffung des GWB-Entwurfs durch Eberhard Günther „längst überwunden“ gewesen sei.176 Andererseits wurde das Modell der „vollständigen Konkurrenz“ zumindest als theoretisches Konstrukt, wohl aber auch als zumindest partiell praktisch umsetzbarer Ansatz, von Walter Eucken ernstlich vertreten. Das wird bei einer vollständigen Lektüre der Grundsätze der Wirtschaftspolitik, deren Rohfassung vom Verfasser kurz vor seinem plötzlichen Tod am 20. März 1950 in London fertiggestellt wurde, an vielen Stellen deutlich. Das bis heute gültige Clark’sche Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs wurde demgegenüber erst Mitte der 1960er Jahren in die deutsche Wettbewerbstheorie über-

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S. Rittner (Anm. 126), in: Liber amicorum für Riesenkampff, S. 125 ff. (131 f.); ders., Die Epochen der jüngeren deutschen Kartellrechtsentwicklung, in: Andreas Fuchs/Hans-Peter Schwintowski/Daniel Zimmer (Hrsg.), Wirtschafts- und Privatrecht im Spannungsfeld von Privatautonomie, Wettbewerb und Regulierung. Festschrift für Immenga, 2004, S. 319 ff. (321); zur Biographie Walter Euckens s. Heinz Grossekettler, Walter Eucken, in: Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Volkswirtschaftliche Diskussionsbeiträge, Beitrag Nr. 347, 2003, im Internet abrufbar unter der Adresse: http://www.wiwi.uni-muenster.de/institutsdaten/ 12/download/Publikationen/DB347.pdf. 170 S. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 1940, S. 203, 284 Anm. 34: „Beide Fälle [scil. Monopol und vollständige Konkurrenz] sind irreal, und die gesamte Wirklichkeit liegt zwischen ihnen.“; s. dazu auch Otto Schlecht, Zur Ethik in Euckens Werk, in: Vademecum zu Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie (Faksimile-Edition), 1990, S. 63, 69. 171 So jedenfalls der „spätere“ Böhm (Anm. 19), ORDO Bd. 22 (1971), S. 11 ff. (18). 172 Miksch (Anm. 44), S. 51. 173 Möschel (Anm. 7), Festschrift für Pfeiffer, S. 707 ff. (725). 174 Lenel (Anm. 53), ORDO, Bd. 26 (1975), S. 22 ff. (63). 175 Rittner (Anm. 169), in: Festschrift für Immenga, S. 319 ff. (321). 176 Rittner, Wettbewerbsrecht und Ökonomie, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Recht und Ökonomie im Europäischen Wettbewerbsrecht, 2006, S. 17 ff. (19); ders. (Anm. 169), Festschrift für Immenga, S. 319 ff. (321).

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nommen177 und sodann konsequent für die Anwendung des Kartellrechts fruchtbar gemacht.178 (3) Bedeutung der ordoliberalen Ideen für das moderne Wettbewerbsverständnis im Kartellrecht Im Mittelpunkt des deutschen Kartellrechts steht – den ordoliberalen Ansätzen folgend, diese aber durch eine gehörige Prise Pragmatismus ergänzend und damit einen Mittelweg verfolgend –179 bis heute eine effektive Verfolgung von Wettbewerbsbeschränkungen.180 Für diese Aussage sei der Freiburger Rechtslehrer Fritz Rittner in den Zeugenstand gerufen: „Ein Regelungssystem, das wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und andere wettbewerbsbeschränkende Praktiken zu verhindern sucht, strebt folglich keine Idealform des Wettbewerbs oder gar vollkommene oder vollständige Märkte an,181 sondern begnügt sich mit einer negativen Aufgabe. Positive Entscheidungen zu finden, überlässt es vielmehr im Allgemeinen der Privatautonomie und damit dem ,offenen’ Handeln der einzelnen. Ein solches Regelungssystem muss sich infolgedessen auf die wesentlichen, auf die gröberen Wettbewerbsbeschränkungen konzentrieren und darf nicht versuchen, der privatautonomen Gestaltung eigene Wettbewerbsvorstellungen vorzuschreiben.“182 An diesem Zitat wird zugleich der funktionale Zusammenhang zwischen (Austausch-)Vertrag und Wettbewerb deutlich, auf den u. a. die Juristen Franz Böhm183 und Fritz Rittner184 immer wieder hingewiesen haben: Der Wettbewerb ist ein fundamentales rechtliches Ordnungsprinzip; innerhalb der verfassungsmäßigen Ord-

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S. zum Problem Günther, Zehn Jahre Bundeskartellamt: Rückblick und Ausblick, in: Zehn Jahre Bundeskartellamt. Beiträge zu Fragen und Entwicklungen auf dem Gebiet des Kartellrechts, 1968, S. 11 ff., s. ferner Rittner (Anm. 153), Meine Universitäten, S. 89; s. Hoppmann (Anm. 97), ZBJV Bd. 102 (1966), S. 249 ff.; zur zeitgenössischen Ablehnung des Modells der vollständigen Konkurrenz zugunsten der workable competition-Konzepte s. z. B. Woll (Anm. 65), Festgabe für Wessels, S. 199 f.; s. auch v. Hayek (Anm. 46), in: ders., S. 122 ff. 178 Demgegenüber empfahl Hans O. Lenel noch im Jahr 1975, das Leitbild des vollständigen Wettbewerbs beizubehalten, „solange etwas Besseres nicht gefunden ist“, s. Lenel, (Anm. 156), in: Festschrift für Böhm, S. 317 ff. (330). A.a.O., S. 338 folgt dann jedoch eine Einschränkung dahingehend, dass man sich vom vollständigen Wettbewerb in vielen Fällen nicht leiten lassen könne, weil es an Vergleichsmöglichkeiten fehle und weil es vor allem auf einen zweckmäßigen Marktprozess ankomme etc. 179 Kling/Thomas (Anm. 29), § 11 Rn. 4. 180 Kling/Thomas (Anm. 29), § 14 Rn. 37. 181 Darin besteht die zentrale Abweichung zu den wettbewerbstheoretischen Grundaussagen der ordoliberalen Schule. 182 Rittner (Anm. 24), § 5 Rn. 45. 183 S. Böhm (Anm. 19), ORDO, Bd. 22 (1971), S. 11 ff. (19). 184 Rittner (Anm. 24), § 5 Rn. 41; ders. (Anm. 153), Meine Universitäten, S. 75 ff., insbesondere S. 80, 94 ff., 100 ff.

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nung steht er als komplementäre Größe neben der Privatautonomie.185 Nach Eucken soll die „Wettbewerbsordnung (…) ein integrierender Bestandteil der Rechtsverfassung sein.“186 Wettbewerb und Privatautonomie bedingen und ergänzen sich also wechselseitig.187 Eucken wusste auch um diesen Zusammenhang, denn für ihn ist die Vertragsfreiheit „offensichtlich eine Voraussetzung für das Zustandekommen der Konkurrenz“.188 Das heißt vor allem, dass die Unternehmen als Normadressaten des Kartellrechts die relevanten unternehmerischen Entscheidungen kraft der ihnen verfassungsmäßig garantierten Privatautonomie bzw. Unternehmerfreiheit selbständig treffen sollen.189 Der durch Angebot und Nachfrage entstehende Wettbewerb auf den Märkten wird also nicht durch den Staat „geordnet“, sondern er sollte gerade möglichst frei von staatlichen Eingriffen sein. Staatliche Regulierung findet idealerweise nur dort statt, wo der Wettbewerb – z. B. infolge oligopolistischer Marktstrukturen wie in verschiedenen Netzwirtschaften – nicht funktioniert. Die staatlichen Eingriffe in das Wettbewerbsgeschehen sollten sich hierbei auf die Kontrolle „wesentlicher“ Wettbewerbsbeschränkungen, bestimmter missbräuchlicher Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen sowie von wettbewerbsgefährdenden Unternehmenszusammenschlüsse beschränken.190 Der bereits angesprochene Pragmatismus bei der Durchsetzung des deutschen Kartellrechts, der diesbezügliche Verzicht auf „Zielfunktionen“ und vor allem auf eine umfassende „staatliche Ordnung“ des Wettbewerbs lassen den Schluss zu, dass die wettbewerbstheoretischen Vorstellungen v. Hayeks und Hoppmanns von der Freiheit des Wettbewerbs im heutigen deutschen Kartellrecht letztlich viel stärker berücksichtigt werden als verschiedene Vorstellungen der Ordoliberalen wie beispielsweise die vom „starken Staat“191 oder vom „Wettbewerb als Instrument staatlicher Wirtschaftslenkung“.192 Das für das moderne Kartellrecht prägende Selbständigkeitspostulat,193 welches durch Art. 12 185 Kling/Thomas (Anm. 29), § 11 Rn. 4; s. dazu schon Böhm (Anm. 19), ORDO, Bd. 22 (1971), S. 11 ff. (20). 186 Eucken (Anm. 20), S. 307. 187 Kling/Thomas (Anm. 29), § 11 Rn. 4. 188 Eucken (Anm. 20), S. 275. Das Zitat wird allerdings wie folgt zutreffend fortgesetzt: „– Aber die Vertragsfreiheit hat auch dazu gedient, um Konkurrenz zu beseitigen, um monopolistische Positionen herzustellen oder auch um sie zu sichern und auszunutzen.“ (a. a. O., S. 275 f.). 189 Zur Überlegenheit der privatautonomen Gestaltung Rittner (Anm. 153), Meine Universitäten, S. 103. 190 S. Rittner (Anm. 126), in: Liber amicorum für Riesenkampff, S. 125 ff. (137), These Nr. 23. 191 S. z. B. Miksch (Anm. 44), S. 5. 192 S. z. B. Böhm, Der Wettbewerb als Instrument staatlicher Wirtschaftslenkung, in: Günter Schmölders (Hrsg.), Der Wettbewerb als Mittel volkswirtschaftlicher Leistungssteigerung und Leistungsauslese, 1942, S. 51 ff.; Miksch (Anm. 44), S. 7 ff. (Kapitel „Wettbewerb und Staat“), S. 73 ff. (zum Thema „Die staatliche Lenkung als Ordnungsprinzip“); zur „Arbeitsgemeinschafts Volkswirtschaftslehre“ und zu Schmölders s. noch Rittner (Anm. 46), ZWeR 2004, S. 305 ff. (307 f., 311, 321). 193 S. dazu unten III. 1. a).

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Abs. 1 GG verfassungsrechtlich abgesichert ist, kann nur vor dem Hintergrund eines relativ freien Wettbewerbs funktionieren, aber nicht in einer Wettbewerbsordnung, die – wie bei Leonhard Miksch und Franz Böhm – als „staatliche Veranstaltung“194 oder sogar als „Institut des öffentlichen Rechts“ begriffen wird. Die isoliert betrachtet diskutable These – die z. B. von Franz Böhm195 und Leonhard Miksch196, aber auch (wenngleich differenzierter) von Walter Eucken197 vertreten wurde –,198 dass nicht bloß die sog. Missbräuche wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen seien, sondern die wirtschaftliche Macht selbst,199 steht mit den beiden kartellrechtlichen Missbrauchsverboten in Art. 102 AEUV und § 19 GWB (die tatbestandlich jeweils an eine „marktbeherrschende Stellung“ von Unternehmen anknüpfen) in evidentem Widerspruch.200 Daraus folgt, dass auch marktmächtige Unternehmen grundsätzlich einen Anspruch auf Wettbewerbsfreiheit haben,201 allerdings unstreitig verbunden mit einer besonderen Verantwortung für den sog. „Restwettbewerb“. Das zentrale ordoliberale Anliegen einer umfassenden Beschränkung von Marktmacht findet sich am ehesten in der europäischen Fusionskontrolle202 und der deutschen Zusam194 Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, S. 105 f.; Miksch (Anm. 44), S. 8 f., 40. 195 S. Böhm (Anm. 194), S. 150, 155 ff.; ders., Konzernauflösung und Konzernentflechtung. Spezialistenaufgabe oder Schicksalsfrage?, in: Böhm, Entmachtung durch Wettbewerb, 2007, S. 59 ff. (60, 61 f., 74, 79). 196 Miksch (Anm. 44), S. 99. 197 S. Eucken (Anm. 20), S. 376: „Niemand darf mehr und darf weniger wirtschaftliche Macht besitzen als notwendig ist, um eine Wettbewerbsordnung zu verwirklichen.“; ausführlich zum Problem wirtschaftlicher Macht Eucken, a. a. O., S. 169 ff.; s. auch dens., Konzernentflechtung und Kartellauflösung (Gutachten für das das Comité d’ Etudes Economiques), Freiburg Januar – März 1947, S. 9 (zitiert nach Walter Oswalt, Was ist Ordnungspolitik?, Nachwort, in: Walter Eucken, Ordnungspolitik, 1999, S. 63). 198 Insbesondere hat Eucken das Bestehen von Machtpositionen nicht generell abgelehnt, s. Eucken (Anm. 20), S. 376: „Obwohl in einer Wettbewerbsordnung wirtschaftliche Macht möglichst verringert wird, sind doch gewisse Machtpositionen für ihre Realisierung unentbehrlich.“ 199 Eucken (Anm. 20), S. 172: „Nicht in erster Linie gegen die Mißbräuche vorhandener Machtkörper sollte sich die Wirtschaftspolitik wenden, sondern gegen die Entstehung der Machtkörper selbst.“; ders., a. a. O., S. 291: „Wirtschaftliche Macht sollte in einer Wettbewerbsordnung nur insoweit bestehen, wie sie notwendig ist, um die Wettbewerbsordnung aufrecht zu erhalten.“; ders., a. a. O., S. 334: „Erster Grundsatz: Die Politik des Staates sollte darauf gerichtet sein, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktion zu begrenzen. Jede Festigung der Machtgruppen verstärkt die neufeudale Autoritätsminderung des Staates.“; in diese Richtung auch Biedenkopf (Anm. 138), in: Festschrift für Mestmäcker, S. 83 ff. (87), der die These aufstellt, dass privatrechtlich begründete Marktmacht mit der freiheitlich demokratischen Ordnung unvereinbar sei. 200 Das Problem der Verhinderung und Beseitigung unerwünschter Macht wurde im GWBGesetzentwurf v. 22. 5. 1951 nicht behandelt, s. Günther (Anm. 8), WuW 1951, S. 17 ff. (33). 201 S. Hellwig (Anm. 116), in: Festschrift für Mestmäcker, S. 231 ff., (248). 202 S. Art. 2 Abs. 3 der EG-Fusionskontrollverordnung Nr. 139/2004, ABl. EU Nr. L 24, S. 1.

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menschlusskontrolle203 verwirklicht, weil mittels dieser Instrumente (inzwischen allerdings im Rahmen des sog. SIEC-Tests204 anstelle des früheren Marktbeherrschungstests) die Entstehung oder Verstärkung von marktbeherrschenden Stellungen infolge externen Unternehmenswachstums bekämpft wird.205 (4) Die Vorbehalte einiger Ordoliberaler gegen zwei angebliche „Altliberale“ Bemerkenswert ist, dass sich manche Vertreter der sog. Neoliberalen – vor allem diejenigen, die sich auf der Suche nach einem „dritten Weg“206 zwischen Liberalismus und Kollektivismus befanden –207 zum Teil für wesentlich moderner hielten als die führenden Vertreter der Österreichischen Schule, deren Ideen noch während des Zweiten Weltkriegs als antiquierte Vorstellungen von „Altliberalen“ abgetan wurden. So schrieb beispielsweise Alexander Rüstow,208 der ein strikter Gegner des 203

S. § 36 Abs. 1 S. 1 GWB. SIEC steht für Significant Impediment to Effective Competition, dt. erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs. 205 S. auch Oswalt, Was ist Ordnungspolitik?. Nachwort, in: Eucken, Ordnungspolitik, 1999, S. 77 f.: „Aber der Kern seines Werks, das Konzept der Wirtschaftsverfassung der ökonomischen Machtminimierung, hat sich politisch nicht durchgesetzt. Die von Eucken geforderte Grundsatzentscheidung für die Wettbewerbsordnung hat es in Deutschland nie gegeben.“ 206 S. Eucken, Über die Gesamtrichtung der Wirtschaftspolitik, 1946, in: Eucken, Ordnungspolitik, 1999, S. 17; Rüstow, Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, ORDO, Bd. 2 (1949), S. 100 ff. (128 ff.) (Kapitel „Der dritte Weg“), ebenso veröffentlicht als verbesserter und erweiterter Sonderdruck, 1949, dort S. 31 ff.), erneut abgedruckt als: Der dritte Weg, in: Alexander Rüstow, Die Religion der Marktwirtschaft, 2009, S. 43 ff. W. Röpke bezeichnet diesen von ihm selbst mitgeprägten Ausdruck in der Ausgabe letzter Hand seines Lehrbuchs „Die Lehre von Wirtschaft“ (11. Aufl. 1968) als „mißverständlich“ (a. a. O., S. 332) und wählt als Kapitelüberschrift konsequent „Wirtschaft im Dienste des Menschen“ (a. a. O., S. 326). Missverständlich ist der Ausdruck „dritter Weg“ vor allem deshalb, weil sich Röpke und Rüstow eindeutig auf dem Boden der Marktwirtschaft bewegten, was besonders deutlich wird bei W. Röpke, a. a. O., S. 331 f. (diese Textstelle findet sich eingangs dieses Beitrags zitiert als Motto III.); s. ferner Eucken in seinem o.g. Gutachten für das Comité d’ Etudes Economiques aus dem Jahr 1946 (a. a. O., S. 17): „Dieser dritte Weg ist als ,Wettbewerbsordnung‘ bezeichnet worden.“; s. noch Lenel, Über zwei Richtungen des Sozialismus der Gegenwart, ORDO Bd. 1 (1948), S. 314 f., wo die „Wettbewerbswirtschaft“ als „dritter Weg“ propagiert wird; s. dazu auch Rittner (Anm. 46), ZWeR 2004, S. 305 ff. (318 f.). 207 Man wandte sich gleichermaßen gegen eine „vermachtete“ freie Wirtschaft wie gegen eine Zentralverwaltungswirtschaft, s. Eucken (Anm. 197), Ordnungspolitik, S. 13 ff. Deren Lenkungsmethoden sah man als „gescheitert“ an (Eucken, a. a. O., S. 16). 208 Rüstow war einer der Väter der Kartellverordnung von 1923. Er war sowohl ein wichtiger Vertreter sozialliberaler Ideen (Rüstow selbst verwandte dafür den Begriff „Sozialliberalismus“) als auch ein Befürworter eines „starken Staates“; s. Rüstow, Der Dritte Weg (Anm. 206), S. 43 ff. (50, 147 ff.); ders., Freie Wirtschaft – Starker Staat. Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftspolitischen Liberalismus, in: Franz Boese (Hrsg.), Deutschland und die Weltkrise, SdVfS, Bd. 187 (1932), S. 62 ff.; s. ferner Lenel (Anm. 13), ORDO, Bd. 22 (1971), S. 29 ff. (46); Katrin Meyer-Rust/Alexander Rüstow, Geschichtsdeutung und liberales Engagement, 1993, S. 47 ff. 204

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von ihm scherzhaft so genannten „Paläoliberalismus oder steinzeitlichen Liberalismus“209 war, in einem Brief vom 21. Februar 1942 an den Gleichgesinnten210 Wilhelm Röpke: „[Hayek und] sein Meister Mises211gehören in Spiritus gesetzt ins Museum als eines der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe heraufbeschworen haben.“212 Mit Euckens Forderung nach einer „positiven wirtschaftlichen Ordnungspolitik“ bzw. einer „positiven Wirtschaftsverfassungspolitik (…), die darauf abzielt, die Marktform der vollständigen Konkurrenz zur Entwicklung zu bringen“,213 lässt sich Hayeks Konzeption vom Wettbewerb als Such- und Entdeckungsverfahren in der Tat nur schwer vereinbaren – und dennoch waren diese beiden Wissenschaftler einander fachlich wie persönlich freundschaftlich verbunden.214 v. Hayeks Konzep209

Gemeint ist der „klassische“ Liberalismus i. S. von François Quesnay und Adam Smith; zur Verwendung des Begriffs „Paläoliberalismus“ und ähnlicher Begriffe s. Rüstow, Wirtschaftspolitik und Moral (Vortrag auf der 19. Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft „Stabiles Geld geht vor“ am 16. 10. 1962 in Bad Godesberg), in: Rede und Antwort, 1963, S. 9 ff. (12); ders., Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit (Vortrag auf der 15. Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft „Was wichtiger ist als Wirtschaft“ am 29. 6. 1960 in Bad Godesberg), in: Rede und Antwort, 1963, S. 76 f.; ders., Sozialpolitik diesseits und jenseits des Klassenkampfes (Vortrag auf der 12. Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft „Sinnvolle und sinnwidrige Sozialpolitik“ am 22. 1. 1959 in Bad Godesberg), in: Rede und Antwort, 1963, S. 116 ff. (132); ders., Hat der Westen eine Idee? (Vortrag auf der 7. Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 8. 5. 1957 in Bad Godesberg), in: Rede und Antwort, 1963, S. 165 ff. (177); ders., Wirtschaftsordnung und Staatsform (Vortrag auf dem Bundestag des Freiwirtschaftsbundes „Magna Charta der Sozialen Marktwirtschaft“ am 9. 11. 1951 in Heidelberg), in: Rede und Antwort, 1963, S. 230 ff. (234). 210 S. z. B. W. Röpke (Anm. 5), S. 307: „Dazu bedarf es allerdings eines starken Staates, der unparteiisch und machtvoll über dem wirtschaftlichen Interessenkampf steht, ganz im Gegensatz zu der verbreiteten Auffassung, daß dem ,Kapitalismus‘ eine schwache Staatsgewalt entsprechen müsse.“; s. ferner dens., Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 1. Aufl. 1942; dens., Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. 1966; dens., Marktwirtschaft ist nicht genug!, Gesammelte Aufsätze (hrsg. von Hans Jörg Henneke), 2009. 211 Gemeint ist v. Hayeks Lehrer v. Mises (1881 – 1973), dessen Hauptwerk Nationalökonomie. Theorie des Handelns und des Wirtschaftens 1940 in Genf erschienen ist. 212 NL 169/7; gemeint ist die „Große Depression“ seit 1929, welche die 1930er Jahre prägte; s. auch Hauke Janssen, Zwischen Historismus und Neoklassik, in: ORDO, Bd. 60, S. 101 ff. (110 mit Fn. 66). 213 Eucken (Anm. 20), S. 255. 214 S. dazu v. Hayek, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, in: Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 1 ff. (2) (Freiburger Antrittsvorlesung vom 18. 6. 1962): „Weitaus am wichtigsten für mich war aber meine langjährige Freundschaft, gegründet auf völlige Übereinstimmung in theoretischen wie in politischen Fragen, mit dem unvergeßlichen Walter Eucken.“; s. dazu auch Lenel (Anm. 53), ORDO, Bd. 26 (1975), S. 22 ff. (72), der feststellt, dass v. Hayeks Kennzeichnung des Wettbewerbs als ein Entdeckungsverfahren Eucken nicht bekannt gewesen sei. Das ist plausibel, da Eucken 1950 in London verstarb und v. Hayek sein Konzept erst in seinem Kieler Vortrag von 1968 öffentlich präsentierte. Hans O. Lenel, ein Schüler Euckens, hält v. Hayeks Betrachtung des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren zutreffend für

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tion erinnert freilich sehr deutlich an die Adam Smith’sche Metapher von der invisible hand215 und damit an klassische liberale Vorstellungen.216 Eucken war sich der v. Hayek identifizierten Probleme bewusst, wenn er beispielsweise schreibt, dass niemand „den Gesamtprozeß tagtäglich überblicken“ sowie „unmittelbar die notwendigen Anpassungen und Veränderungen vollziehen“ könne,217 und dass die Lenkung des Wirtschaftsprozesses dadurch „wesentlich kompliziert“ werde, dass dieser „meist dynamischen Charakter“ trage.218 Man unterstellt dem „Altliberalen“ v. Hayek häufig „eine Art Wirtschaftsdarwinismus“ nach dem Prinzip des survival of the fittest.219 Daran ist wohl richtig, daß die Frage der Bewältigung sozialer Probleme in seinen Werken aus den 1940er und 1950er Jahren – jedenfalls im direkten Vergleich mit Eucken220 – eine viel geringere Rolle gespielt hat.221 v. Hayek hat die soziale Dimension des Rechts wohl auch etwas unterschätzt, wenn er beispielsweise kritisiert, dass Staatseingriffe im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ meist gefordert würden, um „die einmal erreichte Position irgendeiner Gruppe zu schützen“.222 Darauf beschränken sich Forderungen nach der Herstellung „sozialer Gerechtigkeit“ nicht unbedingt und in jedem Fall. v. Hayek hat überdies aber auch keinen Grund gesehen, „warum eine Gesellschaft, die so reich ist wie die moderne, nicht außerhalb des Marktes, für diejenigen, die im Markt unter einen gewissen Standard fallen, ein Minimum an Sicherheit vorsehen sollte“.223 In einer modernen Gesellschaft müsse man es „als eine Tatsache hinnehmen (…), „eine wichtige Bereicherung des wettbewerbstheoretischen Denkens“, s. Lenel (Anm. 156), in: Sauermann/Mestmäcker, Festschrift für Böhm, S. 317 ff., (329). 215 Smith, Wealth of Nations, 1776, vol. 2, Book IV, Chapter II, p. 35: „(…) and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention.“ 216 Rüstow wiederum attestierte Smith’s „unsichtbarer Hand“ im Jahr 1949, sie enthalte „unverkennbar ein Element des pythagoreischen Mystizismus, und die wohltätige Harmonie, die sie leitet, ist nichts anderes als der Logos Heraklits und der Stoiker sowie das Tao Laotses, nur wurde sie in die christliche anthropomorphe Sprache des Deismus transformiert“, s. Rüstow, Die Defizite des Liberalismus, in: Die Religion der Marktwirtschaft, 3. Aufl. 2009, S. 17, 21 f. 217 Eucken, Das ordnungspolitische Problem, in: ORDO, Bd. 1 (1948), S. 56 ff. (63). 218 Eucken (Anm. 20), S. 5. 219 Sybille Tönnies, Die liberale Kritik des Liberalismus. Zur Aktualität Alexander Rüstows, in: Rüstow, Die Religion der Marktwirtschaft, 3. Aufl. 2009, S. 159 ff. (160); vgl. zu der Metapher von der „unsichtbaren Hand“ auch v. Hayek, Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 97 ff. (101 f.), der u. a. auf vergleichbare Ausführungen Smith’ Zeitgenossen Josiah Tucker (The Elements of Commerce, 1756) hinweist. 220 Zur „sozialen Frage“ s. z. B. Eucken (Anm. 20), S. 1 (11 ff., 43 ff.) 221 Anders im späteren Werk dieses Autors, s. z. B. v. Hayek (Anm. 116), Die Verfassung der Freiheit, Kapitel 19 Soziale Sicherheit (= S. 386 ff.), Kapitel 20 Besteuerung und Umverteilung (= S. 414 ff.), Kapitel 22 Wohnungswesen und Stadtplanung (= S. 455). 222 v. Hayek (Anm. 214), S. 108 ff. (120 sub 43). 223 v. Hayek (Anm. 214), S. 108 ff. (120 sub 51); ganz ähnlich ders., a. a. O., S. 161, 196 f.

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daß irgendeine Art Vorsorge für die Arbeitslosen und unbeschäftigten Armen getroffen werden wird“.224 Es sei nicht die Frage, „ob eine solche Vorsorge wünschenswert ist oder nicht, sondern bloß, in welcher Form sie am wenigsten das Funktionieren des Marktes behindert“.225 Er wendet sich vor allem gegen „Korrekturen“ des Marktergebnisses aus Gerechtigkeitsüberlegungen. Gerechtigkeit – im Sinne einer Behandlung nach gleichen Regeln – gibt es aus v. Hayeks Sicht nur im individuellen Verhalten, nicht aber in der Sonderform „soziale Gerechtigkeit“.226 Die ordoliberalen Kritiker der vorgeblichen „Altliberalen“ v. Mises und v. Hayek übersehen ihrerseits, dass – wie Hoppmann zutreffend ausführt – „das marktwirtschaftliche Interaktionssystem“ ein „selbst-organisierendes System“ ist, „also prinzipiell kein Instrument in der Hand des Wirtschaftspolitikers, der mit ihm ganz konkret vorgegebene Einzelziele bewirkt“.227 Die Gefahr, dass die Herausbildung „spontaner Ordnungen“ infolge funktionierenden Wettbewerbs gestört werden könnte, wenn der Staat gleichsam in den Randbereichen „um das Marktgeschehen herum“ stetig ordnend und lenkend eingriffe, scheint man damals auf Seiten der Ordoliberalen nicht klar genug erkannt zu haben.228 Nicht nur aus diesem Grund ist den „altliberalen“ Hayek’schen Lehren aus heutiger Sicht der Vorzug zu geben.229 Es ist dabei vor allem der Ruf der Ordoliberalen nach dem „starken Staat“, der uns heute problematisch erscheint. (5) Die Ordoliberalen und der „starke Staat“ Die Forderungen nach einem „starken Staat“230 und nach einer Dominanz des Staates über die Wirtschaft231 gehört – ungeachtet der hohen etatistischen Erwartungen der deutschen Bevölkerung an den modernen fürsorgenden Wohlfahrtsstaat – „zu den Hindernissen, die der Rezeption des Ordoliberalismus heute entgegenstehen“.232 Die Befürwortung eines „starken Staates“ durch die ordoliberalen Wissenschaftler ist vor dem Hintergrund der Bildung extrem martkmächtiger Konzerne wie z. B. der 1925 gegründeten, nach dem Zweiten Weltkrieg zerschlagenen, aber erst zum 31. Dezember 2012 aufgelösten IG Farben verständlich, diente er doch der Bewäl224

v. Hayek (Anm. 46), S. 141, 147. v. Hayek (Anm. 46), S. 141, 147. 226 v. Hayek (Anm. 214), S. 108 ff. (120 sub 51). 227 Hoppmann (Anm. 34), S. 276 ff. (290). 228 Anders zu Recht v. Hayek (Anm. 214), S. 108 ff. (122 sub 48). 229 Vgl. in diesem Zusammenhang auch v. Hayek (Anm. 116), Teil 3, Freiheit im Wohlfahrtsstaat (= S. 434 ff.). 230 S. z. B. noch das frühe Bekenntnis zum „starken Staat“ bei Rüstow, Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftlichen Liberalismus (Diskussionsrede auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik über „Deutschland und die Weltkrise“ in Dresden am 28. 9. 1932), in: Rede und Antwort, 1963, S. 249 ff. (258). 231 So Miksch (Anm. 44), S. 76. 232 Tönnies (Anm. 219), in: Rüstow (Anm. 219), S. 159 ff. (194). 225

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tigung der damals weithin als drängend empfundenen „Monopolfrage“.233 Zudem haben die Entbehrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit Niederschlag im ordoliberalen Schrifttum gefunden. So hält es Eucken Ende der 1940er Jahre für eine Aufgabe der Wirtschaftsordnung, Arbeit und sachliche Produktionsmittel so ineinandergreifen zu lassen, „daß die wirtschaftliche Knappheit so gut wie möglich überwunden wird“.234 Das ordoliberale Plädoyer zugunsten einer Wirtschaftslenkung durch den Staat erfolgte – jedenfalls aus heutiger Sicht – viel zu undifferenziert.235 Es war und ist zudem in terminologischer Hinsicht missverständlich (so jedenfalls bei Böhm236 und Miksch, weniger bei Eucken237); unbeabsichtigt geraten einige Vertreter des Ordoliberalismus durch eine aus heutiger Sicht prekäre Begriffswahl immer wieder in die Nähe des von ihnen rundweg abgelehnten planwirtschaftlich-autoritären Denkens,238 das sie so ehrenvoll während der NS-Zeit bekämpft hatten.239 Rittner hat dazu zutreffend festgestellt, dass „die sehr eigenwillige Lehre Franz Böhms“ nicht nur „an den Realitäten vorbei“ ging, sondern „eigentlich nur in einem totalitären Staat – als staatliche Veranstaltung – zu verwirklichen“ war.240 Das Konzept des „starken Staates“ bezeichnet er – ebenfalls korrekt – als „recht diffus“.241 v. Hayek hatte bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Gefahren dieses Konzepts erkannt und präzise beschrieben.242 Wenn man die Wettbewerbsfreiheit als ein wesentliches Element der freiheitlichen Ordnung ansieht, dann sind staatliche Interventionen mit wettbewerbspolitischem Hintergrund grundsätzlich kritisch zu betrachten; vor einem staatlich „ver233

S. dazu auch Böhm (Anm. 6), in: Chamberlin, p. 141, 148 et seqq. Eucken (Anm. 20), S. 7. 235 S. Miksch (Anm. 44), S. 101 f. 236 Böhms Verständnis vom „starken Staat“ hat sich im Lauf der Zeit erheblich gewandelt, worauf hier auf Raumgründen leider nicht mehr eingegangen werden kann. 237 Zur Rolle des Staates als „ordnende Potenz“ s. eingehend Eucken (Anm. 20), S. 325 ff. 238 Zum „konkreten Ordnungsdenken“ des „Kronjuristen“ des „Dritten Reiches“, Carl Schmitt (1888 – 1985), s. v. Hayek (Anm. 214), S. 32, 44. Die insoweit zentrale Schrift Schmitts trägt den Titel „Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“ (Schriften der Akademie für deutsches Recht, 1934); zur Missverständlichkeit des Begriffs „Ordnungsgestaltung“ allgemein v. Hayek, a. a. O., S. 161, 178. 239 Instruktiv dazu Müller-Armack (Anm. 13), ORDO, Bd. 1 (1948), S. 125 ff. (insbesondere S. 132). 240 Rittner (Anm. 46), ZWeR 2004, S. 305 ff. (317). Das Zitat wird folgendermaßen fortgesetzt: „Sie wollte nämlich, kurz gesagt, den vollständigen Wettbewerb, soweit möglich, auf allen Märkten erreichen und die restlichen Märkte der unmittelbaren Staatslenkung – für einen Als-Ob-Wettbewerb – unterstellen.“ 241 Rittner (Anm. 46), ZWeR 2004, S. 305 ff. (317). 242 v. Hayek, ,Freie Wirtschaft‘ und Wettbewerbsordnung, in: ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1952, S. 141 ff. Es handelt sich um den Text eines Vortrags, den v. Hayek im April 1947 auf einer Konferenz in Mont Pélèrin in der Schweiz gehalten hat. Der Begriff „Wettbewerbsordnung“ wird dabei in Abgrenzung zu dem von v. Hayek abgelehnten „geordneten Wettbewerb“ i. S. der Ordoliberalen verwendet (s. v. Hayek, a. a. O., S. 146). 234

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walteten Wettbewerb“243 wird zu Recht gewarnt.244 Eucken war das Problem, dass der „ordnende“ und die Wirtschaft „lenkende“ Staat in die Gefahr des Totalitarismus geraten kann, durchaus bewusst.245 Er stellte daher die Forderung auf: „Wenn man die Konsequenzen des Kollektivismus nicht will, dann muss man wollen, daß das Gesetz des Wettbewerbs herrscht.“246 Heute herrscht die Gewissheit, dass es „der Staat“ tunlichst unterlassen sollte, das wirtschaftliche Geschehen auf Wettbewerbsmärken, das durch „spontane Ordnungen“ gekennzeichnet ist, dezisionistisch „ordnen“ zu wollen – denn das „Spiel“ Wettbewerb läuft nach eigenen, uns unbekannten, „Spielregeln“ ab.247 Der wirtschaftliche Wettbewerb ist demnach – entgegen den bekannten ordoliberalen Schlagworten – gerade keine „staatliche Veranstaltung“248, sondern das Ergebnis individueller Freiheit von Privatrechtssubjekten. Es handelt sich bei dem Wettbewerb auch nicht um eine „Veranstaltung der Rechtsordnung“249 oder gar um eine „Einrichtung des öffentlichen Rechts“.250 Marktpreise kann man mit Böhm vielleicht noch als „Instrumente der Wirtschaftsordnung“, sicher aber nicht als „wirtschaftspolitische Einrichtungen 243 S. Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb. Eine vergleichende Untersuchung über den Schutz von Freiheit und Lauterkeit im Wettbewerbsrecht, 1984. 244 S. Hellwig (Anm. 116), in: Festschrift für Mestmäcker, S. 231 ff. (240 f.). 245 Eucken (Anm. 20), S. 331: „Die ganze Gefahr des totalitären Staates muß in gleicher Weise gesehen werden wie die Notwendigkeit eines stabilen Staatsapparates, der genug Macht besitzt, um bestimmte, genau umschriebene Ordnungsaufgaben zu erfüllen.“ Leonhard Miksch formulierte den gleichen Gedanken positiv, s. Miksch (Anm. 44), S. 135: „Daß die sich selbst regulierende Ordnung des freien Wettbewerbs so weit als irgend möglich als Grundlage der Wirtschaftsverfassung erhalten werden muß, ergibt sich aus der Tatsache, daß es schlechterdings kein anderes Prinzip gibt, das mit einem Minimum an Verwaltungsaufwand ein Maximum an Leistungsfähigkeit, Elastizität und Fortschritt verbindet. (…)“; zur Kritik an der Zentralverwaltungswirtschaft s. Eucken (Anm. 20), S. 106 ff. 246 Eucken (Anm. 20), S. 371. 247 Hoppmann (Anm. 34), S. 276 ff. (290). 248 So aber Miksch (Anm. 44), S. 8 f., 40, 136; Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, S. 105 f.; den Begriff übernehmend Hoppmann (Anm. 102), Fusionskontrolle, S. 7, 12. – Eine Ausnahme gilt für das Vergaberecht, d. h. für die staatliche Nachfrage. In diesem Bereich kann man von Wettbewerb als „staatlicher Veranstaltung“ sprechen; zur Einordnung der Vergabe öffentlicher Aufträge durch die Ordoliberalen s. Miksch (Anm. 44), S. 123 ff., 126 ff. 249 Böhm, Wettbewerb. Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, S. 120: „(…) daß der Wettbewerb kein Naturereignis, sondern eine Veranstaltung der Rechtsordnung ist (…).“ 250 Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, S. 121: „Als Veranstaltung der Rechtsordnung ist der Wettbewerb eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, so wie auch das Eigentum eine Einrichtung des öffentlichen Rechts ist.“; dagegen bereits Rittner (Anm. 126), in: Liber amicorum für Alexander Riesenkampff, S. 125 ff. (137) (These Nr. 22): „Der Wettbewerb selbst ist mithin weder eine ökonomische noch eine staatliche Veranstaltung, sondern ein Urphänomen menschlichen Lebens, das sich als wirtschaftlicher Wettbewerb lediglich besonders manifestiert, vergleichbar, wenngleich auch nur beschränkt, mit dem sportlichen Wettbewerb oder dem concours in der Wissenschaft.“

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öffentlich-rechtlichen Charakters“ bezeichnen.251 Würde man alle diese ordoliberalen Begrifflichkeiten aus den 1930er Jahren heute noch für „bare Münze“ nehmen, müsste man mit Hoppmann zu folgendem Ergebnis kommen: „(…) Wettbewerb als Instrument in der Hand der Regierung anzusehen, funktionalisiert die Marktteilnehmer, macht sie zu Funktionsträgern der Regierung und unterwirft sie staatlichen Anordnungen zu einem jeweils staatlich definierten austauschbaren Zweck.“252 Dass dies alles von den Vertretern der Freiburger Schule offensichtlich nicht beabsichtigt war,253 wird schon in den frühen Schriften aus den 1930er Jahren hinreichend deutlich.254 Später hat Eucken ausdrücklich zudem klargestellt, dass die Aufgabe des Staates nicht in der Lenkung des Wirtschaftsprozesses bestehe.255 Der Staat sei „unfähig (…) zur Führung des Wirtschaftsprozesses selbst“.256 Rüstow hat den Vorteil des Marktes zutreffend darin gesehen, „(…), daß auf ihm keine Herrschaft ausgeübt wird (…), daß er anarchisch ist“,257 und sich dementsprechend über die wohlfeile Kritik der Zeitgenossen an der „ruinösen Konkurrenz“ lustig gemacht.258 Die Missverständlichkeit der oben genannten „ordoliberalen Schlagworte“ bleibt von alldem jedoch unberührt. Hinzu kommt das weitere Problem, dass manche der ordoliberalen Forderungen, gemessen an den Maßstäben, die im Zeitpunkt ihrer Ergebung galten, selbst im günstigsten Licht besehen allenfalls als naiv-optimistisch zu qualifizieren gewesen wären. Wer etwa wie Wilhelm Röpke von einem „starken Staat“ fordert, „unbeirrt durch Ideologien aller Art, seine Aufgabe klar [zu] erkennen: den ,Kapitalismus‘ gegen die ,Kapitalisten‘ verteidigen, sooft sie versuchen, sich einen bequemeren Weg als den durch das Leistungsprinzip vorgezeichneten zur Rentabilität zu bahnen und die Verluste auf die Allgemeinheit abzuwälzen“,259 der verdrängt letztlich die unheilige Allianz zwischen Staat, Politik und Schwerindustrie, die die deutsche Wirtschaftsgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt auch die Genese des GWB von 1957 seit dem Josten-Entwurf von 1949 erheblich beein251

So aber Böhm (Anm. 249), Wettbewerb, S. 141. Hoppmann (Anm. 34), S. 276 ff. (293 f.). 253 Anders z. B. Gustav Schmoller, Das Verhältnis des Kartelle zum Staate, in: SdVfS, Bd. 116 (1906), S. 237, 256, der die Auffassung vertreten hatte, „dass eine einheitliche Leitung der volkswirtschaftlichen Prozesse von erhöhter Warte ein Fortschritt“ sei. 254 Miksch (Anm. 44), S. 11 f., 40 ff. 255 Eucken (Anm. 20), S. 336: „Zweiter Grundsatz: Die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates sollte auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses.“ 256 Eucken (Anm. 20), S. 336. 257 Rüstow, Zielgemeinschaft tut Not (Vortrag auf der 17. Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft „Was nun?“ am 30. 1. 1962 in Bad Godesberg), in: Rede und Antwort, 1963, S. 30 ff. (48). 258 Rüstow (Anm. 257), in: Rede und Antwort, 1963, S. 30 ff. (49): „(…) eine Konkurrenz, die niemanden ruiniert, ist keine Konkurrenz!“. 259 W. Röpke (Anm. 5), S. 307. 252

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flusst haben.260 Wilhelm Röpke weist mit seiner zitierten Forderung außerdem dem Staat eine Aufgabe zu, die man in der modernen Welt allenfalls bei Vorliegen eines besonders günstigen „gesellschaftlichen Klimas“ erreichen kann. Die Weltfinanzmarktkrisen der jüngsten Vergangenheit (seit 2008)261 haben in der heutigen Gesellschaft tatsächlich ein solches, gegen die sog. „Zocker-Mentalität“ gerichtetes, günstiges Klima erzeugt. Der längst bekannte notwendige Zusammenhang zwischen der Eingehung von wirtschaftlichen Risiken und der Haftung bei Fehlschlag wird wieder deutlicher als früher gesehen, eine „Sozialisierung“ von Schulden konsequent abgelehnt, nach dem Motto: „Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen.“262 Abzuwarten bleibt, wie lange diese kritische öffentliche Meinung vorherrschen wird, war doch die deutsche Bevölkerung dem Börsengeschehen gegenüber vor nicht allzu langer Zeit – nämlich in der „Blütezeit“ einer sog. „Volksaktie“ – gegenüber deutlich positiver eingestellt. Außerdem kann von einer souveränen Bewältigung der benannten Krisen durch einen „starken Staat“ (auf europäischer und nationaler Ebene sowie in den Vereinigten Staaten) wohl kaum die Rede sein, solange den krisenverursachenden Bankinstituten ohne weitere staatliche Prüfung „Systemrelevanz“ für die Gesamtwirtschaft attestiert wird und die verantwortlichen Vertreter von Regierungen und Zentralbanken bekunden, sich angesichts der Neuheit der Vorgänge in einem offenen Lernprozess zu befinden. Man gewinnt den Eindruck, dass die Regierungsvertreter zunehmend auf den Sachverstand und den Rat von führenden Vertretern der Wirtschaft angewiesen zu sein glauben, wenn es um die Bewältigung bedeutender Krisenzustände geht. Das demokratiegefährdende Potenzial der Finanzkrisen, d. h. die Bedrohung „individualbezogenen Urzwecke“ Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit, wird inzwischen auch von der Wissenschaft thematisiert.263 Mit ordoliberalen Vorstellungen von einem 260 Eucken (Anm. 20), S. 157, konstatiert: „Seit Beginn der Industrialisierung wurde kein Lenkungssystem entwickelt, das zureichend war. Vielmehr trat (…) eine fortwährende Verschlechterung ein. Die faktisch angewandten Lenkungsmethoden wurden gerade im 20. Jahrhundert wenig brauchbar.“ Zum Zusammenhang zwischen Regierungstätigkeit und Monopolproblem s. auch v. Hayek (Anm. 214), S. 108 ff. (120 sub 54). Es sei „sehr zweifelhaft, ob heute überhaupt ein besondere Maßnahmen erforderndes Monopolproblem bestehen würde, wenn sich die Regierung immer konsequent enthalten hätte, Monopole zu schaffen oder sie durch Schutzzölle, Patentgesetze oder gewisse Bestimmungen des Körperschaftsrechts zu fördern.“ Alle staatlich kontrollierten Monopole hätten „die Tendenz (…), zu staatlich geschützten Monopolen zu werden, die auch dann bestehen bleiben, wenn sie nicht mehr unvermeidlich sind.“ 261 S. dazu Hanno Kube, Staatsfinanzen und Finanzmarktkrisen, in: Martin Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen. Die Privatisierung existentieller Infrastrukturen. Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 69, 2012, S. 179 ff. 262 Eucken (Anm. 20), S. 279. 263 S. nur Hochhuth, Verteidigung der Demokratie gegen ein irregeleitetes Finanzwesen, in: ders., (Hrsg.) Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, 2012, S. 271 ff. (284 ff.); vgl. in diesem Zusammenhang noch Lenel, Große Banken, große Fehlschläge?, in: Engel/Möschel (Hrsg.), Wettbewerb zwischen Handlungsfreiheiten und Effizienzziele. Festschrift für

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starken Staat, der mit ordnender Kraft, gestützt auf den „Primat der Politik“ eine Wirtschaftsverfassung schafft, die selbst wettbewerbsdominiert ist, hat diese neuere Entwicklung herzlich wenig gemein.264 Mit der Zeit hat man sich von der Vorstellung des mit starker Hand ordnenden Staates immer weiter entfernt. Ein Grund für diesen schleichenden Erosionsprozess dürfte in der vielgescholtenen „Globalisierung“ liegen, die unter anderem dazu geführt hat, dass es heute keine nationalen Wirtschaftsordnungen mehr gibt, die von den Regierungen souveräner Staaten – gleichsam frei von äußeren Einflüssen – im Sinne ordoliberaler Vorstellungen „geordnet“ werden könnten. bb) Die Leitideen des Europäischen Kartellrechts im Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) von 1957 (1) Der Einfluss der Freiburger Schule Gesicherte Erkenntnisse zu den wettbewerbspolitischen Vorstellungen der Väter des europäischen Kartellrechts und der Konzeption der Art. 85 ff. EWGV (von 1957) lassen sich schwerer feststellen, als das für das GWB von 1957 der Fall ist. Denn die Materialien zum EWG-Vertrag von Rom vom Gemeinschaftsgesetzgeber wurden zunächst bewusst nicht veröffentlicht, um eine historische Interpretation des Vertrages durch den Europäischen Gerichtshof zu vermeiden.265 Nach der Öffnung der Archive der Institutionen der Europäischen Gemeinschaften im Jahr 1983266 liegt inzwischen aber doch eine ganze Reihe von veröffentlichten Dokumenten vor,267 die Aufschluss über die Entstehungsgeschichte der Wettbewerbsregeln des EWG-Vertrages und des dazu ergangenen Sekundärrechts geben.268 Daraus folgt, dass die wettbewerbspolitischen Konzeptionen des GWB von 1957 und des EWGV von 1957 Mestmäcker zum 80. Geburtstag, 1996, S. 255 ff. (268), wo für die Deutsche Bank in weiser Voraussicht festgestellt wird, daß sie nicht nur bezüglich der Kreditgewährung, sondern auch für einen großen Teil des übrigen Bankgeschäfts „kritische Größengrenzen schon überschritten“ habe; zum gegenwärtigen Stand der Problembewältigung s. den Finanzstabilitätsbericht des Internationalen Währungsfonds und dazu Martin Lanz, „Milliardensubventionen für Grossbanken“, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 31. 1. 2014, im Internet abrufbar unter: http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschafts-und-finanzportal/milliardensubventionen-fuer-diegrossbanken-1.18274387. 264 Gegen das Abstellen auf die „Interessenten“ als „weniger berufene Ratgeber“ s. nur Franz Böhm/Walter Eucken/Hans Großmann-Doerth, Unsere Aufgabe, in: Die Ordnung der Wirtschaft, 1937, S. VII, VIII. 265 Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 18. 266 Verordnung Nr. 354/83 des Rates vom 1. 2. 1983, ABl. EG Nr. L 43, S. 1 ff. (EWG und EAG); Entscheidung Nr. 359/83/EGKS der Kommission vom 8. 2. 1983, ABl. EG Nr. L 43, S. 14 f. (EGKS). 267 Die Dokumente sind abgedruckt in dem im Jahr 2000 von Reiner Schulze/Thomas Hoeren herausgegebenen Band 3 der Dokumente zum Europäischen Recht, Kartellrecht (bis 1957). Der Band erfasst auch Texte, die nach 1957 veröffentlicht wurden und die beispielsweise die Verfahrensverordnung Nr. 17/62 betreffen. 268 Ausführlich dazu Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 18 ff.

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sehr weitgehend übereinstimmen.269 Hans von der Groeben (1907 – 2005), einer der Väter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ein langjähriges Kommissionsmitglied, hat dazu folgendes mitgeteilt:270 „Im Einklang mit neoliberalen Wissenschaftlern, insbesondere der Freiburger Schule, vertraten wir die Auffassung, dass ein Gemeinsamer Markt mit binnenmarktähnlichen Verhältnissen, so gesehen von dem Abbau der Handelshemmnisse im Innern, einem gemeinsamen Außentarif und einer gemeinsamen Handelspolitik nur errichtet und funktionsfähig erhalten werden kann, wenn durch eine gemeinsame Wettbewerbspolitik ein fairer und effektiver Wettbewerb gewährleistet ist. (…) Die Einführung und Durchsetzung der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt stellt eine im Vergleich zur nationalen Wettbewerbspolitik viel schwierigere und vielfältigere Aufgabe dar, da die nationalen Vorschriften, die die Wettbewerbslage der Unternehmen beeinflussen, recht verschieden sind. Die Aufgabe der Wettbewerbspolitik bestand also nicht nur darin, Wettbewerbsbeschränkungen oder Verfälschungen durch Absprachen zwischen Unternehmen oder durch missbräuchliche Ausübung wirtschaftlicher Macht auszuschließen, sondern auch diejenigen Wettbewerbsverfälschungen zu beseitigen oder zumindest einzugrenzen, die sich aus den Unterschieden der Rechts- oder Verwaltungsvorschriften der nationalen Mitgliedstaaten oder aus einer unterschiedlichen Steuerpolitik ergeben. Es galt ferner, gegen Wettbewerbsverzerrungen vorzugehen, die durch staatliche Monopole oder Marktordnungen im Verhältnis zu Anbietern oder Nachfragern aus anderen Mitgliedstaaten entstehen können.“ Der Entstehungsprozess des EWG-Kartellrechts war – im Hinblick auf das künftige Kartellverbot und die Kontrolle marktbeherrschender Unternehmen – vor allem vom Kampf um das von der deutschen Delegation favorisierten Verbotsprinzip mit der Möglichkeit der Freistellung und dem von französischer Seite befürworteten Missbrauchsprinzip geprägt; dies übrigens, nachdem beide Seiten bei der Schaffung des Montanunionsvertrages (1951) noch jeweils die gegenteilige Ansicht vertreten hatten.271 Belastbare wettbewerbstheoretische Aussagen, die über das Ziel der Gewährleistung eines funktionsfähigen bzw. „fairen und wirksamen“272 Wettbewerbs 269

Ebenso Rittner (Anm. 24), § 5 Rn. 30. Die These von der Übereinstimmung der Konzeptionen wird bestätigt durch ein Memorandum von Eberhard Günther mit dem Titel „Das Kartellproblem in internationaler Beleuchtung“ vom 19. 7. 1956 (abgedruckt bei Schulze/ Hoeren, Dokumente zum Europäischen Recht, Band 3; Kartellrecht [bis 1957] aus dem Jahr 2000, Dokument 50, S. 150 ff. Günther hatte seinerzeit festgestellt: „Auf dem Gemeinsamen Markt stellt sich das Problem wettbewerbsbeschränkender Absprachen und marktbeherrschender Unternehmen im Prinzip nicht anders als auf einem nationalen Markt. Es bedarf der wirtschaftspolitischen Entscheidung, ob die Lösung des Problems derartiger Absprachen mit Verbotsvorbehalt oder durch Verbot mit Erlaubnismöglichkeit erfolgen soll. Der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung entspricht die zweite Alternative.“ 270 Hans von der Groeben, in: Schulze/Hoeren (Hrsg.), Dokumente zum Europäischen Recht, Band 3: Kartellrecht, 2000, Einführung, S. V f. 271 Ausführlich dazu Hoeren, in: Schulze/ders. (Hrsg.), Dokumente zum Europäischen Recht, Band 3: Kartellrecht, 2000, Einführung, S. XVIII ff. 272 Siehe von der Groeben (Anm. 270), in: Schulze/Hoeren (Hrsg.), Band 3: Kartellrecht, Vorwort, S. V f.

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hinausgehen, lassen sich den zur Genese des Europäischen Kartellrechts publizierten Materialien nicht entnehmen. Es kann lediglich festgestellt werden, dass die deutsche Delegation unter Führung von Hans von der Groeben und unter Beteiligung von Alfred Müller-Armack (1901 – 1978) den neoliberalen Lehren der Freiburger Schule anhing.273 (2) Theorie versus Realität Man darf den Beteiligten von damals im Übrigen wohl das gleiche Maß an Pragmatismus unterstellen, das den Entwurfsverfassern des GWB eigen war. Sehr wahrscheinlich hat in der deutschen Delegation niemand fest daran geglaubt, dass man auf den relevanten Märkten innerhalb des Gemeinsamen Marktes der EWG von 1957 die „vollständige Konkurrenz“ erzielen könne. Modellhafte theoretische Leitbilder dieser Art waren als theoretische Konstrukte akzeptiert, wurden aber rechtspolitisch und -praktisch nicht ernsthaft verfolgt. Diese Vermutung lässt sich mit einem Zitat aus einer Rede von der Groebens aus dem Jahr 1961 untermauern: „Our view of the advantages of competition in the Common Market does certainly not mean – and here I should like to forestall a further possible misunderstanding – that we start from the ideal of perfect competition, or that we believe this could be put into general practise. We are on the contrary convinced that competition can fulfil most of its functions even in an imperfect market, and that an imperfect market is still preferable to an imperfect market without competition. We must therefore endeavour to put into practice that degree of competition which is feasible under the conditions of the market concerned.“274 Daraus ergibt sich, dass auch auf europäischer Ebene der „vollständige Wettbewerb“ ebenfalls bloß als wettbewerbstheoretisches Ideal, nicht aber als realistisch erzielbares Szenario angesehen wurde. Auf europäischer Ebene waren demnach ebenfalls „Pragmatiker“ am Werk! III. Der Schutz vor Wettbewerbsverfälschungen im europäischen und deutschen Kartellrecht 1. Die Eckpfeiler des „Systems unverfälschten Wettbewerbs“ im Europäischen Primärrecht Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verfolgte ab 1957 das Ziel, ein System zu errichten, das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor

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Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 30. von der Groeben, Competition in the Common Market, Speech made by M. von der Groeben during the debate on the draft regulation pursuant to Articles 85 and 86 of the EEC Treaty in the European Parliament – 19 October 1961, p. 7 et seq. Der Text ist im Volltext (in englischer und französischer Sprache) im Internet abrufbar unter http://aei.pitt.edu/14786/1/ S49 – 50.pdf. 274

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Verfälschungen schützt.275 Der Binnenmarktbezug276 der Wettbewerbsregeln in den Art. 101 bis 109 AEUV ist bis heute ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Rechts.277 Er war infolge der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages am 1. Dezember 2009 in Art. 3 Abs. 1 lit. g des EG-Vertrags normiert. Das Wettbewerbsprinzip ist seither im Protokoll Nr. 27 zum EUV und AEUV geregelt, was mit einer Abschwächung in der rechtspolitischen Bedeutung einhergeht.278 Dieses Vorgehen spiegelt offenkundig die traditionelle französische Denkweise wider, nach der Schlüsselindustrien, bedeutsame Unternehmen und sämtliche wirtschaftliche Grundlagenentscheidungen unter erheblichem Staatseinfluss stehen sollen. Es handelt sich zugleich um ein rechtpolitisches Signal, nach dem der Wettbewerb in politischer Hinsicht künftig als „weniger wichtig“ angesehen würde, als das in den mehr als sechs Jahrzehnten seit der Gründung der EWG der Fall war. De iure hat sich an der Rechtsqualität des Wettbewerbsgedankens jedoch nichts geändert, denn die Zusatzprotokolle haben wegen Art. 51 EUV denselben Rang wie die Verträge.279 Außerdem hat man die Wettbewerbsregeln der Artt. 101 bis 109 AEUV unangetatstet gelassen. Der EuGH hat im Übrigen auch nach der Vertragsreform von Lissabon unbeirrt – und völlig zu Recht – an dem Schutzziel „Wettbewerb“ festgehalten.280 Unstreitig dienen die Art. 101, 102 AEUV dem „Schutz der Interessen der Konkurrenzunternehmen“.281 Aber diese Interessen lassen sich „von der Aufrechterhaltung einer Struktur des tatsächlichen Wettbewerbs nicht trennen“.282 In der Leitentscheidung GlaxoSmithKline entschied der EuGH zum Kartellverbot des Art. 101 AEUV (ex 275 Früher geregelt in Art. 3 lit. f EWGV; später in Art. 3 Abs. 1 lit. g EG und inzwischen im Protokoll Nr. 27 zum EUV und AEUV. Danach umfasst der Binnenmarkt „ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. 276 Vgl. Art. 14 Abs. 2 EG, jetzt Art. 26 Abs. 2 AEUV. 277 Hoeren, Der Schutz des Wettbewerbs in Europa, in: JZ 2011, S. 485 ff. (485). 278 Wörtlich traf Präsident Nicolas Sarkozy die folgende Aussage: „Es hat eine grundsätzliche Neuausrichtung hinsichtlich der Zielsetzungen der Union gegeben. Wettbewerb ist nicht länger ein Ziel der Union oder ein Zweck an sich, sondern ein Mittel, um dem Binnenmarkt zu dienen.“ (zitiert nach Thomas [Anm. 277], JZ 2011, S. 485 ff. [487]). 279 Rittner, Der – unverfälschte – Wettbewerb: Grundlage und Ziel der EG, in: WuW 2007, S. 967; Rudolf Streinz, Die „Verfassung der Europäischen Union nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und dem Vertrag von Lissabon, in: ZG 2008, S. 105 ff. (115); Jürgen Basedow, Das Sozialmodell von Lissabon: Solidarität statt Wettbewerb?, in: EuZW 2008, S. 225; Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (190); s. zur Diskussion auch Peukert (Anm. 27), ZHR 173 (2009), S. 536 ff. (538 f. m. w. N.); ausführlich zur Genese des Protokolls Nr. 27 Meinrad Dreher/Martin Lange, Die europäische Wirtschaftsverfassung nach dem Vertrag von Lissabon, in: FIW (Hrsg.), Wettbewerbspolitik und Kartellrecht in der Marktwirtschaft. Festschrift 50 Jahre FIW: 1960 bis 2010, 2010, S. 161 ff. (171 f.). 280 EuGH v. 17. 11. 2011 – Rs. C-496/09, Slg. 2011, I-11483 Rn. 60 – Kommission/Italien. 281 Präsident des EuGH, Beschluss v. 11. 4. 2002 – Rs. C-481/01 P (R), Slg. 2002, I-3401 Rn. 84 – IMS Health. 282 Präsident des EuGH, Beschluss v. 11. 4. 2002 – Rs. C-481/01 P (R), Slg. 2002, I-3401 Rn. 84 – IMS Health.

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Art. 81 EG), dass diese Vorschrift – wie auch die übrigen Wettbewerbsregeln des Vertrags –, aber nicht nur dazu bestimmt sei, die unmittelbaren Interessen einzelner Wettbewerber oder der Verbraucher zu schützen, sondern auch die Struktur des Marktes und damit den Wettbewerb als solchen.283 Diese Schutzzielbestimmung ist mit den oben erörterten wettbewerbsökonomischen Vorstellungen kongruent. a) Funktionaler Unternehmensbegriff und Selbständigkeitspostulat Die unmittelbar anwendbaren Wettbewerbsregeln der Art. 101 bis 109 AEUV richten sich an Unternehmen und damit anders als beispielsweise die primärrechtlichen Beihilferegeln in den Art. 107 bis 109 AEUV (ex-Art. 87 bis 89 EG) und das EU-sekundärrechtliche Vergaberecht nicht (nur) an die Mitgliedstaaten.284 Der Begriff des Unternehmens im europäischen Kartellrecht285 ist dabei funktional und weit, und vor allem autonom, auszulegen.286 Man spricht schlagwortartig von dem funktionalen Unternehmensbegriff des Kartellrechts, und zwar auf der europäischen wie auf deutscher Ebene gleichermaßen.287 Für die Erfüllung dieses Unternehmensbegriffs kommt es danach in erster Linie auf eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im weitesten Sinne an, nicht dagegen auf die Rechtsform der handelnden Einheit oder auf die Art von deren Finanzierung.288 Aus diesem Grund ist auch die staatliche wirtschaftliche Tätigkeit grundsätzlich von den Art. 101 ff. AEUV erfasst, so dass –

283 EuGH v. 6. 10. 2009 – Rs. C-501/06 P, C-513/06 P, C-515/06 P, C-519/06 P, C-501/06 P, C-513/06 P, C-515/06 P, C-519/06 P, Slg. 2009, I-9291 Rn. 63 – GlaxoSmithKline; bestätigt durch EuGH v. 4. 6. 2009 – Rs. C-8/08, Slg. 2009, I-4529 Rn. 38 – T-Mobile Netherlands. 284 Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 6. 285 Der davon zu unterscheidende Unternehmensbegriff im europäischen Kartellbußgeldrecht setzt – im Gegensatz zu jenem der Art. 101, 102 AEUV (s. EuGH v. 28. 6. 2005 – verb. Rss. C-189/02 P u. a., Slg. 2005, I-5425 Rn. 113) – Dansk Rørindustri – die Rechtspersönlichkeit des Bußgeldadressaten voraus, weil ansonsten der Bußgeldbescheid weder wirksam zugestellt noch vollstreckt werden kann, dazu Felix Engelsing/Hans-Helmut Schneider, in: MüKo, EU-Wettbewerbsrecht, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 40. 286 Demnach können die Begrifflichkeiten und rechtlichen Einordnungen nicht unreflektiert auf das europäische Kartellrecht übertragen werden, selbst wenn sie zum Teil dem Wortlaut nach identisch sind. 287 S. dazu Wulf-Henning Roth/Thomas Ackermann, in: FK-Kartellrecht, 2011, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 83; kritisch Hermann-Josef Bunte, in: Eugen Langen/HermannJosef Bunte (Hrsg.), Kartellrecht, 2014, Art. 81 EG Generelle Prinzipien Rn. 5; Carsten Weiß, Der Unternehmensbegriff im europäischen und deutschen Kartellrecht, 2012, S. 78 ff.; Martin Holzinger, Wirtschaftliche Tätigkeit der öffentlichen Hand als Anwendungsvoraussetzung des europäischen und deutschen Kartellrechts, 2011, S. 59; Peter von Wilmowsky, Mit besonderen Aufgaben betraute Unternehmen unter dem EWG-Vertrag, in: ZHR 155 (1991, S. 545 ff. (548 ff.). 288 S. EuGH v. 29. 9. 2011 – Rs. C-520/09 P, Slg. 2011, Slg 2011, I-8901 Rn. 37 – Arkema; EuGH v. 20. 1. 2011 – Rs. C-90/09 P, Slg. 2011, I-1 Rn. 34 – General Química.

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verkürzt gesagt – ebenso der Staat (bzw. seine Untergliederungen) Unternehmen im Sinne des europäischen Kartellrechts sein kann (können).289 Nach dem Selbständigkeitspostulat des Kartellrechts soll jedes Unternehmen selbständig bestimmen, welche Politik es auf dem Gemeinsamen Markt zu betreiben gedenkt.290 Das Selbständigkeitspostulat steht daher jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen den Unternehmen mit dem Zweck oder der Folge entgegen, das Marktverhalten des Mitbewerbers zu beeinflussen oder den Mitbewerber über künftiges eigenes Verhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht.291 Nur selbständig handelnde wirtschaftliche Einheiten sind danach Unternehmen im kartellrechtlichen Sinn. Werden wettbewerbswidrige Verhaltensweisen – im Sinne potentieller Verstöße gegen die Art. 101, 102 AEUV – hingegen durch nationale Gesetze oder Verordnungen verbindlich vorgeschrieben, dann können die Normadressaten dafür nicht verantwortlich gemacht werden, sondern die kartellrechtliche Verantwortung trifft den Mitgliedstaat, der diese wettbewerbswidrigen Vorgaben gemacht hat.292 Denn die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind wegen des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 Satz 3 EUV i. V. m. dem Protokoll Nr. 27 zum Vertrag von Lissabon293 sowie den Art. 101, 102 und 106 AEUV294 selbst zur Beachtung des Europäischen Kartellrechts verpflichtet.295 Die Mitgliedstaaten dürfen wegen dieser ihnen gegenüber der Europäi289

Ausführlich Michael Kling/Christoph Dally, Staatliches Handeln und Kartellrecht, in: ZWeR 2014, S. 3 ff. Das gilt nach der Rechtsprechung des EuGH uneingeschränkt für die Angebotstätigkeit, während dies neuerdings – und zwar zu Unrecht – für die staatliche Nachfragetätigkeit nicht gelten soll, s. EuGH v. 11. 7. 2006 – Rs. C-205/03 P, Slg. 2006, I-6295 Rn. 26 – FENIN/Kommission; EuGH v. 26. 3. 2009 – Rs. C-113/07, Slg. 2009, I-2207 Rn. 103 – SELEX. 290 EuGH v. 16. 12. 1975 – verb. Rss. 40/73 u. a., Slg. 1975, 1663 Rn. 173/174 – Suiker Unie; EuGH v. 14. 7. 1981 – Rs. 172/80, Slg. 1981, 2021 Rn. 13 f. – Züchner/Bayerische Vereinsbank; EuGH v. 27. 9. 1988 – verb. Rss. C-89/85 u. a., Slg. 1993, I-1307 Rn. 63 – Ahlström/Kommission (= Zellstoff). 291 EuGH v. 16.12.1975 – verb. Rss. 40 u. a./73, Slg. 1975, 1663 Rn. 173/174 – Suiker Unie; EuGH v. 14.7.1981 – Rs. 172/80, Slg. 1981, 2021 Rn. 14/12 – Züchner/Bayerische Vereinsbank; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, 3111 Rn. 87 – Deere; EuGH v. 8.7.1999 – Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287 Rn. 160 – Hüls. 292 Kling/Thomas (Anm. 29), § 4 Rn. 20 f. 293 Protokoll Nr. 27 ABl. EU Nr. C 115 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb v. 9. 5. 2008, S. 309; zur unveränderten Fortgeltung des Ziels nach der Vertragsreform von Lissabon s. EuGH v. 17. 2. 2011 – Rs. C-52/09, Slg. 2011, I-527 Rn. 20 – TeliaSonera; s. dazu auch Weiß (Anm. 287), Unternehmensbegriff, S. 61 ff. 294 Ex Art. 10 Abs. 2 EG i. V. m. Art. 81, 82 und 86 EG. 295 St. Rspr. des EuGH, s. EuGH v. 13. 2. 1969 – Rs. 14/68, Slg. 1969, 1 Rn. 6 – Walt Wilhelm u. a./Bundeskartellamt; EuGH v. 16. 11. 1977 – Rs. 13/77, Slg. 1977, 2115 Rn. 30/35 – GB-Inno/ATAB; EuGH v. 21. 9. 1988 – Rs. 267/68, Slg. 1988, 4769, Leitsätze 1 und 2 – van Eycke/Aspa; EuGH v. 28. 2. 1991 – Rs. C-332/89, Slg. 1991, I-1027, Rn. 22 – Marchandise u. a.; EuGH v. 17. 11. 1993 – Rs. C-185/91, Slg. 1993, I-5801, Leitsätze 1 bis 3 – Bundesan-

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schen Union obliegenden Loyalitätspflicht – insbesondere gegenüber öffentlichen Unternehmen – keine Maßnahmen296 anordnen oder beibehalten,297 die gegen das Unionskartellrecht verstoßen.298 b) Unverfälschter Wettbewerb und Offenhaltung der Märkte Das System unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt zeichnet sich durch das konstituierende Merkmal offener Märkte aus. Darin unterscheidet es sich von den vor Schaffung der EWG im Jahr 1957 bestehenden getrennten nationalen Märkten.299 Mit Recht wird im Schrifttum auf dessen Gefährdung durch eine Praxis verschiedener Marktakteure300 hingewiesen, welche die freie Entfaltung der Marktkräfte, d. h. von Angebot und Nachfrage, aus Gründen nationaler Interessen oder wegen Partikularinteressen verhindern oder zumindest einschränken wollen.301 Dies zu verhindern ist zunächst die Aufgabe der Grundfreiheiten des AEUV, also der Regeln über die Warenverkehrs-, Dienstleistungs-, und Niederlassungsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit und des freien Kapitalverkehrs.

stalt für den Güterfernverkehr/Reiff; EuGH v. 17. 11. 1993 – Rs. C-2/91, Slg. 1993, I-5751, Leitsätze 1 und 2 sowie Rn. 14 – Meng; EuGH v. 2. 6. 1994 – Rs. C-401/92, Slg. 1994, I-2199 Rn. 16 – t’ Heukske und Boermans; EuGH v. 9. 6. 1994 – Rs. C-153/93, Slg. 1993, I-2517, Leitsätze 1 und 2 sowie Rn. 14 – Deutschland/Delta Schiffahrts- und Speditionsgesellschaft; EuGH v. 5. 10. 1995 – Rs. C-96/94, Slg. 1995, I-2883, Leitsatz 1 und Rn. 20 – Centro Servizi Spediporto/Spedizioni Marittima del Golfo; EuGH v. 17. 6. 1997 – Rs. C-70/95, Slg. 1997, I3395 Rn. 41 ff. – Sodemare u. a./Regione Lombardia; EuGH v. 21. 9. 1999 – Rs. C-67/96, Slg. 1999, 5751 Rn. 65 – Albany; EuGH v. 21. 9. 1999 – Rs. C-115/97 bis C-117/97, Slg. 1999, I-6025 Rn. 65 – Brentjens’; EuGH v. 21. 9. 1999 – Rs. C-219/97 –, Slg. 1999, I6121 Rn. 55 – Drijvende Bokken; s. auch Mestmäcker/Schweitzer, in: Ulrich Immenga/ErnstJoachim Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 106 Abs. 1 AEUV Rn. 30 ff. 296 Zum Maßnahmenbegriff s. Jürgen Kühling, in: Streinz, EUV/EGV, Kommentar, 2. Aufl. 2012, Art. 106 Rn. 24 (jedes rechtliche oder tatsächliche Einwirken eines Mitgliedstaats); s. ferner Philipp Voet van Vormizeele, in: Schwarze (Hrsg.): EU-Kommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 106 AEUV Rn. 29 (Rechtssetzungsakte und Verwaltungsmaßnahmen, ausschließlich staatliche Maßnahmen). 297 Genauer: Die Mitgliedstaaten dürfen Wettbewerbsverstöße weder vorschreiben noch erleichtern oder verstärken, s. EuGH v. 21. 9. 1988 – Rs. 267, Slg. 1988, 4769 Rn. 16 – Van Eicke/NV ASPA, st. Rspr; ebenso z. B. EuGH v. 17. 11. 1993 – Rs. C-2/91, Slg. 1993, I-5751 Rn. 14 – Meng; s. ferner Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 295), in: Immenga/Mestmäcker, Einl. Art. 106 AEUV Rn. 36 m. w. N.; zur Kritik an der Formel des EuGH s. Dreher, Die einzelstaatliche Regulierung des Wettbewerbs und das europäische Recht, in: WuW 1994, S. 193 ff. (202 f.). 298 S. z. B. EuGH v. 23. 4. 1991 – Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979 Rn. 26 f. – Höfner und Elser/Macrotron. 299 Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 7. 300 Z. B. der Mitgliedstaaten selbst, von Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften usw. 301 Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 2 Rn. 8.

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2. Der Rang des Wettbewerbs im Vergleich zu den nichtwettbewerblichen Schutzzielen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union a) Der Rang des Wettbewerbsprinzips – von der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ zur „sozialen Marktwirtschaft“ Fraglich ist, welche Stellung dem Wettbewerbsprinzip innerhalb des Europäischen Primärrechts zukommt. Bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch die Römischen Verträge im Jahr 1957 war der Primat des Wettbewerbsprinzips evident; die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war zunächst – wie der Name zum Ausdruck bringt – vor allem eine Wirtschaftsunion, die vornehmlich einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet war. Diese marktwirtschaftlich-wettbewerbsorientierte Wirtschaftsverfassung blieb über Jahrzehnte unangefochten. Es handelt sich um eine „Systementscheidung zugunsten eines Vorrangs der wirtschaftlichen Freiheit, offener Märkte, des Wettbewerbs und damit zugunsten der Privatautonomie“.302 Durch den Vertrag von Maastricht von 1992 wurden erstmals verschiedene nichtwirtschaftliche Zielsetzungen in Form sog. Querschnittsklauseln im Vertrag verankert,303 die an dem „Vorrang freiheitlich-wettbewerblicher Grundsätze“ (noch) nichts änderten.304 Das betraf u. a. die Unionsziele Umweltschutz305, Gesundheitsschutz306, Verbraucherschutz307 und die Gleichstellung von Männern und Frauen308. Zumindest gewisse weitere „Akzentverschiebungen“309 sind durch den Vertrag von Lissabon im Jahr 2007 eingetreten.310 Insbesondere wird in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 2 EUV formuliert, die Union wirke auf „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft hin“. Damit ist die „soziale Marktwirtschaft“ nunmehr erstmals zu einem europäischen Rechtsbegriff,311 302

Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, S. 161 ff. (163). Zur Entwicklung seit dem Maastrichter Vertrag s. insbesondere das Lissabon-Urteil des BVerfG, NJW 2009, 2267, 2293 Rn. 394 f. 304 Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, S. 161 ff. (164); s. auch Gösta C. Makowski, Kartellrechtliche Grenzen der Selbstregulierung, 2007, S. 84 f. (kein abstrakter Vorrang des Gemeinschaftsziels einer offenen Marktwirtschaft, aber Markt als „Regeltatbestand“ im System der Gemeinschaftsziele); ders., a. a. O., S. 89 (herausragende Stellung“ des Gemeinschaftsziels offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb). 305 Art. 11 AEUV, ex Art. 6 EG. 306 Art. 169 AEUV, ex Art. 153 EG. 307 Art. 168 AEUV, ex Art. 152 EG. 308 Art. 157 AEUV, ex Art. 141 EG. 309 Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (186 f.). 310 S. dazu BVerfG, NJW 2009, 2267, 2293 Rn. 396. 311 Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (187); ausführlich dazu Matthias Schmidt-Preuß, Die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, in: Hartmut Oetker/Detlev Joost/Marian Paschke (Hrsg.), Festschrift für Franz J. Säcker, 2011, S. 969 ff. 303

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sogar zu einem „wirtschaftspolitischen Fundamentalbegriff“312 geworden, der freilich unionsrechtlich-autonom auszulegen ist.313 Die frühere Festlegung auf eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“314 (ex Art. 4 Abs. 1 EG) im Vertrag von Amsterdam aus dem Jahr 1999 findet sich nicht mit in dem allgemeinen Ziele- und Aufgabenkatalog des Art. 3 EUV, sondern nur noch in spezielleren Regelungen des AEUV wieder.315 Die genannte Änderung legt die Schlussfolgerung nahe, dass „eine stärkere Betonung der sozialen Komponente in den grundlegenden Zielbestimmungen der Europäischen Union beabsichtigt war“.316 Fraglich ist daher, ob die europäische Wirtschaftsverfassung nach dem Vertrag von Lissabon neu zu bewerten ist.317 b) Die umstrittene Bedeutung des Wertewandels In der Literatur wird zum Teil vertreten, dass „das Wettbewerbsprinzip durch die beständige Erweiterung der Ziele und komplementären Kompetenzen der EG einen relativen Bedeutungsverlust erlitten“ habe,318 so dass heute ein genereller Primat des Wettbewerbsprinzips nicht mehr angenommen werden könne.319 Die Ergebnisse des Wandlungsprozesses in Gestalt der Ausweitung des Aufgabenkatalogs durch die Vertragsreformen von Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2001) und Lissabon (2007) kann man von dieser Warte aus „als Wandel des Integrationsziels der EU von einem in erster Linie wirtschaftlichen zu einem wirtschaftlichen und zugleich sozialstaatlichen Konzept bezeichnen“.320 Der Unionsgesetzgeber sieht sich infolge dieser Zielvorgaben bei der Schaffung neuen europäischen Rechts einem Zielepluralismus ausgesetzt, innerhalb dessen dem Schutzziel Wettbewerb zwar eine bedeutende, aber keine Alleinstellung (mehr) zukommt.

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Schmidt-Preuß (Anm. 311), Festschrift für Säcker, S. 969. Schmidt-Preuß (Anm. 311), Festschrift für Säcker, S. 969 ff. (970); Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, 2010, S. 161 ff. (168). 314 S. dazu auch Makowski (Anm. 304), S. 145 ff. 315 S. Art. 119 Abs. 1 AEUV: „(…) dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist (…)“; Art. 120 Abs. 1 Satz 2 AEUV: „Die Mitgliedstaaten und die Union handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (…)“; ähnlich auch Art. 170 Abs. 2 Satz 1 und Art. 173 Abs. 1 Satz 2 AEUV: „offene und wettbewerbsorientierte Märkte“. 316 Zutreffend Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, S. 161 ff. (168). 317 Ausführlich dazu Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, S. 161 ff. (164 ff.). 318 Peukert (Anm. 27), ZHR 173 (2009), S. 536 ff. (554). 319 Peukert (Anm. 27), ZHR 173 (2009), S. 536 ff. (555); Immenga, Wettbewerbspolitik contra Industriepolitik nach Maastricht, in: EuZW 1994, S. 14 ff. (17); Rittner (Anm. 279), WuW 2007, S. 967; a. A. Öhlinger (Anm. 27), in: Griller, S. 269 ff. (280). 320 So Öhlinger (Anm. 27), in: Griller, S. 269 ff. (274), in Übernahme des Standpunkts von Heinrich Wilms, in: Kay Hailbronner/Heinrich Wilms, Kommentar zum Recht der Europäischen Union, Band II, 2005, Art. 2 EGV Rn. 6. 313

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c) Die Folgen für das Kartellrecht Die Bedeutung des aufgezeigten Wertewandels ist für das Europäische Kartellrecht letztlich äußerst gering:321 Innerhalb der seit Jahrzehnten unverändert gebliebenen lex lata der Wettbewerbsregeln der Art. 101 ff. AEUV spielt die Verfolgung nichtwettbewerblicher Ziele seit jeher eine völlig untergeordnete Rolle, und daran hat sich in jüngerer Zeit nichts geändert. Man kann darüber streiten, ob der Freiheitsschutz oder die ökonomische Effizienz im Vordergrund der Kartellrechtsanwendung stehen soll. Da das wohlfahrtsorientierte Verbraucherschutzkonzept der Europäischen Kommission322 nicht auf die Endverbraucher beschränkt ist,323 sondern die in der „Lieferkette“ stehenden Unternehmen ebenso erfasst, kann jedenfalls von einer Aufgabe des elementaren Freiheitsschutzes der Unternehmen zugunsten des Verbraucherschutzes nicht die Rede sein. Im eigentlichen Sinn wettbewerbsfremde Aspekte wie der Umweltschutz, der Gesundheitsschutz, die Gleichstellung der Frau, der Arbeitnehmerschutz, etc. spielen im Kartellrecht weiterhin eine völlig untergeordnete Rolle und sind dort letztlich schwerlich sinnvoll zu verorten.324 Außerdem verwirklicht sowohl das Kartellverbot des Art. 101 AEUVals auch das Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV mehrere Grundanliegen der sozialen Marktwirtschaft, 321

S. Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, S. 161 ff. (169 f.). Die Europäische Kommission vertritt – im Gegensatz zum traditionellen (neoliberalen) freiheitlichen Ansatz – einen consumer welfare-Ansatz US-amerikanischer Prägung, den sog. more economic approach. Die Literatur dazu ist unübersehbar, s. dazu monographisch Johannes Hertfelder, Die consumer welfare im europäischen Wettbewerbsrecht. Eine Analyse der Rechtspraxis der Kommission und der europäischen Gerichte, Baden-Baden 2010, passim; kritisch zum more economic approach der Kommission z. B. Kling/Thomas (Anm. 29), § 1 Rn. 40; Rittner/Dreher/Kulka (Anm. 24), Rn. 610 ff.; Emmerich (Anm. 34), Kartellrecht, § 1 Rn. 35 f.; Möschel (Anm. 6), NZKart 2014, S. 42 ff. (45); ders. (Anm. 25), Festschrift für Mestmäcker, S. 355 ff. (362 ff.). 323 Mitteilung der Kommission „Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen“ v. 9. 2. 2009, S. 9 Fn. 15. 324 Zum Teil kann das Problem dadurch gelöst werden, dass die Kartellverbote des Art. 101 AEUV und des § 1 GWB im Wege der teleologischen Reduktion für nicht anwendbar erklärt werden, so z. B. geschehen für Einrichtungen aus dem Sozialbereich (EuGH v. 16. 3. 2004 – verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01, C-355/01, Slg. 2004, I-2493 Rn. 57 – AOK Bundesverband u. a./Ichthyol u. a.; EuGH v. 11. 7. 2006 – Rs. C-205/03 P, Slg. 2006, I-6295 Rn. 26 – FENIN/Kommission) oder den Abschluss von Tarifverträgen (EuGH v. 21. 9. 1999 – Rs. C67/96, Slg. 1999, I-5751 Rn. 52 ff. – Albany); für die Anerkennung einer „sozial- und allgemeinwohlorientierten rule of reason“ im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 AEUV W.-H. Roth, Zur Berücksichtigung nichtwettbewerblicher Ziele – eine Skizze, in: Engel/Möschel (Hrsg.), Recht und spontane Ordnung. Festschrift für Mestmäcker zum 80. Geburtstag, 2006, S. 411 ff. (429 ff., 433 f.). Innerhalb der Kartellverbote bieten weiter die Ausnahmebestimmungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV und des § 2 GWB einen Ansatzpunkt für die Berücksichtigung nichtwettbewerblicher Aspekte; aber auch dort treten mitunter erhebliche Schwierigkeiten auf, weil die vier Kriterien dieser Vorschrift dem Effizienzprinzip Rechnung tragen, also im engeren Sinn ökonomischen Charakter haben; s. zum Problem auch Makowski (Anm. 304), S. 78 ff., 90 ff., 154 ff., 165 ff.; W.-H. Roth (a. a. O.), Festschrift für Mestmäcker, S. 411 ff. (429 ff., 433 f.); Peukert (Anm. 27), in: ZHR 173 (2009), S. 536 ff. (555 m. w. N.). 322

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indem sie bestimmte sozialschädliche Verhaltensweisen (scil. die Aneignung der „Konsumentenrente“ durch Kartellanten, die Ausbeutung der Marktpartner, die Behinderung von Konkurrenten, etc.) verhindern.325 Der Schutz des Wettbewerbs ist letztlich auch sozial betrachtet nützlich und wünschenswert. Adam Smith hat das in dem eingangs zitierten Motto aus The Wealth of Nations326 überzeugend zum Ausdruck gebracht: Es liegt immer im Interesse der Händler, den Markt zu erweitern und den Wettbewerb einzuschränken. Die Erweiterung des Marktes entspricht dem öffentlichen Interesse, aber die Beschränkung des Wettbewerbs ist diesem schädlich, denn sie kann nur dazu dienen, den Händlern größere Gewinne zu verschaffen, als sie naturgemäß hätten, und sie dadurch instand zu setzen, zu ihren Gunsten ihren Mitbürgern eine absurde (sinnlose) Abgabe (“an absurd tax”) aufzuerlegen.327 Nach alldem kommt es auf die Frage, inwieweit die Querschnittsklauseln des AEUV den Rang des Wettbewerbsprinzips im Gesamtgefüge des Vertrags gemindert haben, letztlich nicht an, solange die nichtwettbewerblichen Zielsetzungen keinen Niederschlag im Normtext der Art. 101, 102 und 106 AEUV gefunden haben. Man kann also festhalten, dass zumindest innerhalb des Europäischen Wettbewerbsrechts (d. h. bei isolierter Betrachtung der Art. 101 bis 106 AEUV) der Primat des Wettbewerbsprinzips weiterhin ungebrochen ist.328 d) Zwischenergebnis und Ausblick Nach hier vertretener Auffassung folgt aus dem Umstand, dass die Europäische Union eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, vor allem, wie Öhlinger es ausdrückt, dass „der Wirtschaft im Sinne von Markt und Wettbewerb per definitionem ein Primat zukommt. Eine Sozialgemeinschaft ist die EU dagegen nicht“.329 Man kann vielleicht ergänzen: Sie ist es noch nicht. Die Europäische Union wird in naher Zukunft vermutlich „sozialer“ werden, und ggf. auch praeter und contra legem. Denn was auf der Ebene der Rechtsetzung nicht erreicht werden kann, wird der EuGH mit Hilfe des Art. 45 AEUV (ex Art. 39 EG) zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer, den Regeln über die Unionsbürgerschaft (Art. 21 AEUV, ex Art. 18 EG) und über das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV, ex Art. 12 EG) notfalls zu „korrigieren“ wissen, wie er das z. B. zuletzt in seiner Rechtsprechung zur Gewährung von Überbrückungsgeld330 oder früher schon in Bezug auf die Gewährung von Studienbeihilfen 325 S. dazu auch Schmidt-Preuß (Anm. 311), in: Festschrift für Säcker, S. 969 ff. (977); Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, S. 161 ff. (170). 326 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776, 2009, Buch I, Kapitel 11 a. E. (Die zitierte Stelle findet sich im letzten Absatz unmittelbar vor der Tabelle betreffend die Weizenpreise in England nach Fleetwood). 327 Zu Smith’ Konzeption der „freien Konkurrenz“ s. auch die Einführung von Ernst Heuß, Allgemeine Markttheorie, 1965, S. 1 ff. 328 So schon Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, S. 161 ff. (169 f.). 329 So Öhlinger (Anm. 27), in: Griller, S. 269 ff. (280). 330 EuGH v. 25. 10. 2012 – Rs. C-367/11, NZS 2013, 224 – Prete.

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(„BaföG“)331 mehrfach getan hat. Die Europäische Kommission hat unlängst gleichfalls Vorstöße in diese Richtung unternommen, nämlich hinsichtlich eines von ihr angenommenen Anspruchs auf Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) für Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien in Deutschland.332 Diese Frage wurde vom EuGH am 11. November 2014 in seinem Urteil in der Rs. Dano glücklicherweise negativ entschieden.333 Danach sind die streitgegenständlichen Vorschriften des europäischen Sekundärrechts dahin auszulegen, „dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter ,besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen‘ (…) ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht (…) zusteht“.334 3. Die Gewährleistung des Binnenmarktes durch die Wettbewerbsregeln und die europäischen Grundfreiheiten Die Grundfreiheiten der Art. 34 ff. AEUV (ex-Art. 28 ff. EG) richten sich primär an die Mitgliedstaaten und betreffen daher grundsätzlich das Verhältnis Staat – Bürger, mithin staatliche oder jedenfalls staatlich veranlasste Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen. Die unternehmensbezogenen Wettbewerbsregeln der Art. 101 ff. AEUV betreffen demgegenüber vor allem das Verhältnis der Unternehmen zueinander.335 Ihr Zweck besteht – neben dem Schutz der Wettbewerbsfreiheit der Unternehmen (Individualschutz)336 vor allem darin, die vom EU-Vertrag angestrebte Marktund Wettbewerbsstruktur zu schützen und damit zugleich auch den Wettbewerb

331 EuGH v. 18. 11. 2008 – Rs. C-158/07, Slg. 2008, I-8507 – Förster; EuGH v. 5. 3. 2005 – Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119 – Bidar. 332 S. Zeit online v. 10. 1. 2014, „EU-Kommission fordert Hartz-IV für arbeitslose Ausländer. Die EU-Kommission bemängelt, dass Immigranten in Deutschland schwer Zugang zu Sozialleistungen bekommen. Das sei mit europäischem Recht nicht vereinbar.“, abrufbar unter der Adresse: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014 – 01/eu-kommission-zuwanderunghartzIV. Um das Problem der Armutseinwanderung zu bekämpfen, plant die Bundesregierung, das Aufenthaltsrecht von EU-Ausländern zum Zweck der Arbeitssuche auf drei Monate zu beschränken, s. dazu auch Corinna Budras, „Arbeitslose EU-Bürger sollen nach drei Monaten gehen“, FAZ vom 22. 3. 2014, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/armutsein wanderung-arbeitslose-eu-buerger-sollen-nach-drei-monaten-gehen-12858074.html. 333 EuGH v. 11. 11. 2014 – Rs. C-333/Elisabeta Dano, Florin Dano/Jobcenter Leipzig. Die Entscheidung erging auf Vorlage des SG Leipzig v. 3. 6. 2013 – S 17 AS 2198/12, juris; s. dazu auch Eva Steffen, Freizügigkeitsrecht und „Hartz IV“. Ist der Leistungsausschluss von Unionsbürgern im SGB II noch zu rechtfertigen?, AsylMagazin 1 – 2 2014, S. 12 ff. 334 So der Leitsatz der in der vorigen Fußnote zitierten EuGH-Entscheidung in der Rs. Dano. 335 Zum Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Wettbewerbsregeln s. Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 745, 748 ff. 336 Kling/Thomas (Anm. 29), § 14 Rn. 12.

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als Institution (Institutionenschutz).337 Beide Materien dienen der Verwirklichung des Binnenmarkts – als einer stetigen, nie abgeschlossenen Zielsetzung des Vertrages (vgl. Art. 26 Abs. 1, 2 AEUV). Somit besteht zwischen den europäischen Wettbewerbsregeln und den europäischen Grundfreiheiten ein elementarer wirtschaftsverfassungsrechtlicher Zusammenhang auf der unionsprimärrechtlichen Ebene.338 Es handelt sich gleichsam um zwei Seiten derselben Medaille. Ein Zielkonflikt besteht folglich nicht. IV. Schlussbetrachtung 1. Die Leistungen des Wettbewerbsprinzips in einem Europa als Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft Sowohl die freiheitsorientierte Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft der Europäischen Union als auch ein liberaler Rechtsstaat wie Deutschland sind ohne einen effektiven Wettbewerbsschutz undenkbar. Der Schutz der unternehmerischen Freiheit führt zu mehr Wettbewerb, der seinerseits ein wesentliches Fundament des wirtschaftlichen Wohlstands ist. Diese grundlegende „neoliberale“ Erkenntnis droht langsam aber sicher in Vergessenheit zu geraten. Lehnte man diese Auffassung ab, dann müsste der Staat die Wirtschaft konsequenterweise viel umfassender regulieren, als das gegenwärtig der Fall ist,339 um den jeweils als zentral eingeschätzten Allgemeinwohlinteressen der Bürger und nicht zuletzt wegen des Interesses an möglichst hohen Steuereinnahmen Rechnung zu tragen. Eine umfassend regulierte Wirtschaft dürfte dann aber nicht mehr als eine (soziale oder freie) Marktwirtschaft tituliert, sondern könnte bestenfalls – dem Beispiel Chinas folgend – als „sozialistische Marktwirtschaft“ bezeichnet werden. Richtig ist jedoch das Gegenteil: Die zentralen Normen des europäischen und deutschen Kartellrechts sind – obgleich Früchte des neoliberalen Wirtschaftsdenkens der Vor- und Nachkriegszeit – heute keinesfalls überholt, sondern wichtiger denn je. Nicht ohne Grund hat v. Hayek den „Sozialisten aller Parteien“340 – gemeint war seinerzeit die „sozialistische Intelligenz Englands“341 – bereits 1944 den alternativen Weg gewiesen, den diese konsequent zu beschreiten gedachten, nämlich den Weg

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Mestmäcker/Schweitzer (Anm. 24), § 4 Rn. 25; zur Relevanz von Marktstrukturkriterien im Rahmen des funktionsfähigen Wettbewerbs siehe Herdzina (Anm. 38), Wettbewerbspolitik, S. 67 ff. 338 Körber (Anm. 335), S. 746 ff. 339 S. Rittner (Anm. 177), in: Meine Universitäten, S. 97: „Denn die Alternative kann nur jenseits der Grenze gesucht werden, also in der unmittelbaren Regelung durch den Staat selbst.“ 340 Dem Buch ist die Widmung vorangestellt: „To the Socialists of all Parties“. 341 v. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Neuauflage 2003, darin: Vorbemerkung des Verfassers zur Neu-Herausgabe 1971, S. 15.

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in die Diktatur342, the Road to Serfdom.343 Es wäre ein Schritt in die durch die Planwirtschaft verursachte Unfreiheit gewesen, ein Weg, wie er sodann im „real existierenden Sozialismus“ der DDR fatalerweise 40 Jahre lang beschritten wurde. Die Marktwirtschaft ist demgegenüber „die unentbehrliche Grundlage eines so hohen überwirtschaftlichen Wertes wie der Freiheit“.344 Sie ist „von allen Wirtschaftsformen als einzige modellfähig“, weil sich „nur von ihr auf Grund des Automatismus der Marktgesetze ein Modell machen läßt, an dem sich Wirkung und Gegenwirkung im Voraus klarstellen und infolgedessen Folgerungen für die Praxis der Wirtschaftspolitik ziehen lassen“.345 Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland dürfen sich vor diesem Hintergrund glücklich schätzen, dass ihr liberaler Rechtsstaat ihnen die Privatautonomie und die Unternehmerfreiheit über 65 Jahre hinweg verfassungsrechtlich garantiert hat.346 Vertrag und Wettbewerb sind zwei komplementäre Größen, die in der sozialen Marktwirtschaft maßgeblich zum Wohlstand des deut-

342 S. Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, in: Rede und Antwort, 1963, S. 76 ff. (78): „Es hat sich erwiesen, und es läßt sich auch grundsätzlich nachweisen, daß die Planwirtschaft mit Notwendigkeit in dem Maße, wie sie sich entwickelt, mit totalitärer Diktatur gekoppelt ist. Eine totale Planwirtschaft läßt sich anders als mit totalitärer Diktatur überhaupt nicht durchführen und ist nie anders durchgeführt worden.“; ebenso ders., Wirtschaftsordnung und Staatsform (Vortrag auf dem Bundestag des Freiwirtschaftsbundes „Magna Charta der Sozialen Marktwirtschaft“ am 9. 11. 1951 in Heidelberg), in: Rede und Antwort, 1963, S. 230, 233; ders., Wirtschaftliche Sicherheit, in: Die Religion der Marktwirtschaft, 3. Aufl. 2009, Anhang, S. 129, 141; W. Röpke (Anm. 5), S. 275 Anm. 7; s. ferner Schumpeter, der – obgleich selbst Sozialist – im Juli 1942 verfassten Nachwort zu seinem Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl. 1952, S. 485 die Prognose wagte, dass es wenig Grund zu glauben gäbe, „daß dieser Sozialismus die Heraufkunft jener Zivilisation bedeuten wird, von der orthodoxe Sozialisten träumen. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß sie faschistische Züge tragen wird“; s. ferner die eindrucksvolle Warnung vor einer „autoritären Zwangsordnung“ als Konsequenz nach Scheitern einer „leistungsfähigen und sozial gerechten freien Wirtschaftsordnung“ bei Böhm, Das Reichsgericht und die Kartelle, ORDO Bd. 1 (1948), S. 197 ff. (213) a. E.: „(…) dann nützen uns keine demokratische Staatsform, kein Wahlrecht, kein Landtag, kein Staatsgerichtshof und keine noch so feierlich verbürgten Grundrechte, sondern dann gnade uns Gott!“; moderat lediglich von „Bevormundung“ durch Sozialismus sprechend Bohl, Der Sozialismus in den Parteiprogrammen von SPD und PDS, in: Abschied von einer Illusion, 1990, S. 202, 204. 343 v. Hayek, The Road to Serfdom, 1944, 50th anniversary edition 1994, deutsche Fassung von 1945 unter dem Titel „Der Weg zur Knechtschaft“. v. Hayek verdankt diesen Titel einem Ausspruch von Alexis de Tocqeville (1805 – 1859), der den Sozialismus als „une nouvelle formule de la servitude“ bezeichnet hatte, s. v. Hayek, ORDO, Bd. 1 (1948), S. 19 ff. (53 mit Anm. 15). 344 Rüstow (Anm. 342), Rede und Antwort, S. 76 ff. (78). 345 Rüstow (Anm. 342), Rede und Antwort, S. 76 ff. (78 f.). 346 Zu dem Zusammenhang zwischen der Einführung des marktwirtschaftlichen Systems 1948 und dem „Deutschen Wirtschaftswunder“ s. insbesondere W. Röpke (Anm. 5), S. 320 ff. (unter „3. Das deutsche Experiment in Marktwirtschaft und monetärer Disziplin und seine Lehren“); Rüstow, Rede und Antwort, 1963, S. 9 ff. (20 f.).

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schen Volkes beigetragen haben;347 keine Zentralverwaltungswirtschaft der Welt hat jemals etwas Vergleichbares vermocht, und dass dies keineswegs zufällig so ist, haben die „Neoliberalen“, und zwar unter Einschluss der politisch vergleichsweise „links“ stehenden Vertreter (z. B. Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke), theoretisch eindrucksvoll begründet.348 Der „Altliberale“ Friedrich A. v. Hayek hat plausibel dargelegt, dass der „entscheidende Grund, weshalb die Marktwirtschaft mehr leistet als irgendeine andere Wirtschaftsform“, darin bestehe, dass „in die Ordnung einer Marktwirtschaft viel mehr Wissen von Tatsachen eingeht, als irgendein einzelner Mensch oder selbst irgendeine Organisation wissen kann“.349 Joseph A. Schumpeters Prognosen aus dem Jahr 1942, „daß eine sozialistische Gesellschaftsordnung unvermeidlich aus einer ebenso unvermeidlichen Auflösung der kapitalistischen Gesellschaft entstehen wird“ sowie, dass der Kapitalismus „durch seine eigenen Errungenschaften umgebracht“ werden wird,350 dürften jedenfalls, so steht zu hoffen, einstweilen als widerlegt gelten. Der Jubilar hat das Versagen der sozialistischen Staats- und Wirtschaftsordnung bereits im Jahr nach der „Wende“, 1990, zu Recht als „ganz offensichtlich“ bezeichnet.351 2. Die Grenzen des Wettbewerbsprinzips bei der Verfolgung gemeinwohlbezogener Zielsetzungen a) Die unzureichende Verwirklichung von nichtwettbewerblichen Belangen Die Grenzen des Wettbewerbsprinzips liegen vor allem im Bereich der Herstellung der „sozialen Gerechtigkeit“, deren Fehlen die „sozialliberal“ denkenden Neoliberalen um Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack, Alexander Rüstow, und andere352 – z. B. auch Walter Eucken –353 von Anfang an moniert haben, und dies im Ge347 Zur Entwicklung in Deutschland in Bezug auf das Arbeitsrecht s. Horst Konzen, Vom „Neuen Kurs“ zur sozialen Marktwirtschaft. Kontinuität und Wandel in der deutschen Arbeitsrechtsentwicklung, ZfA 1991, 379 ff. 348 S. z. B. die Nachweise in Fn. 206. 349 v. Hayek (Anm. 214), in: Freiburger Studien, S. 1 ff. (11). 350 Schumpeter (Anm. 43), S. 13 (im Vorwort, das auf den März 1942 datiert ist). A.a.O., S. 105 gibt der Verf. auf die von ihm selbst aufgeworfene Frage: „Kann der Kapitalismus weiterleben?“ (engl. „Can capitalism survive?“, p. 61) die eindeutige Antwort: „Nein, meines Erachtens nicht.“ („No. I do not think it can.“). Das Gegenstück findet sich auf S. 267. Der Verf. fragt dort: „Kann der Sozialismus funktionieren?“ (engl. „Can socialism work?“, p. 167)?. Erwartungsgemäß lautet die Antwort: „Selbstverständlich kann er es.“ („Of course it can.“). 351 Bohl (Hrsg.), Abschied von einer Illusion. Die Überwindung des Sozialismus in Deutschland, 1990, S. 7 (Vorwort); von einem „totalen“ Scheitern des „real existierenden“ Sozialismus der DDR spricht ders., Der Sozialismus in den Parteiprogrammen von SPD und PDS, in: Abschied von einer Illusion, 1990, S. 202. 352 S. z. B. Hoppmann (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 ff. (150). 353 Eucken (Anm. 20), S. 315: „Das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit kann nicht ernst genug genommen werden. Es hat die verantwortlich Denkenden in den letzten Jahrzehnten

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gensatz etwa zu Friedrich A. v. Hayek, der die „soziale Gerechtigkeit“ für einen „quasi-religiösen Aberglauben“ erachtete.354 Wettbewerb und Marktwirtschaft sind zwar nicht für sich gesehen „ungerecht“ oder „unsozial“, weil nur eine marktwirtschaftliche Ordnung den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand gewährleisten kann.355 Die „soziale Frage“ lässt sich aber allein mit dem Schutz des Wettbewerbs durch das Kartellrecht offensichtlich nicht beantworten. Insbesondere der offenbar stärker werdende Wunsch nach „distributiver Gerechtigkeit“ kann hierdurch nicht erfüllt werden.356 Es gibt einen großen und bunten Strauß verschiedener – sowohl legitimer als auch äußerst fragwürdiger357 – sozialer bzw. sozialstaatlicher Zielsetzungen, die durch Wahrung eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems allein entweder gar nicht oder nicht ausreichend verwirklicht werden können. Diese Erkenntnis ist natürlich nicht neu. Walter Eucken hat sie folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Bei aller Bedeutung, die der Wettbewerbspolitik zukommt, sie reicht nicht aus, um der Problematik des sozialen Lebens gerecht zu werden.“358 Das gilt im Übrigen auch für die in den Querschnittsklauseln des AEUV niedergelegten nichtwettbewerblichen Ziele Umweltschutz, Gesundheitsschutz, Gleichstellung von Mann und Frau, etc., die im Rahmen der Anwendung des Europäischen Kartellrechts ebenso wenig sinnvoll verwirklicht werden können. Das evoziert die Frage nach einer entsprechenden Vertragskorrektur de lege ferenda.

erneut bewegt und sie an der gegebenen Ordnung zweifeln lassen. (…)“. Euckens Fazit lautet (a. a. O., S. 317): „Soziale Gerechtigkeit sollte man also durch Schaffung einer funktionsfähigen Gesamtordnung und insbesondere dadurch herzustellen suchen, daß man die Einkommensbildung den strengen Regeln des Wettbewerbs, des Risikos und der Haftung unterwirft. Man sollte sie nicht in der Abschaffung des Privateigentums suchen.“ 354 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, 1981, S. 98; s. außerdem die umfassenden Nachweise bei Gerd Habermann (Hrsg.), Philosophie der Freiheit. Ein FriedrichAugust-von Hayek-Brevier“, 2005, S. 33 ff. 355 S. Böhm (Anm. 19), ORDO, Bd. 22 (1971), S. 11 ff. (21); s. ferner Müller-Armack (Anm. 13), ORDO Bd. 1 (1948), S. 125 ff. (146 ff., 150 ff.); Eucken (Anm. 20), S. 365 f. (Abschnitt „Die Wettbewerbsordnung“, 370). 356 Treffend v. Hayek (Anm. 116), Die Verfassung der Freiheit, S. 318: „Innerhalb der von der Herrschaft des Gesetzes gezogenen Grenzen kann viel getan werden, um den Markt wirksamer und reibungsloser arbeiten zu lassen; aber was die Menschen jetzt als distributive Gerechtigkeit ansehen, kann innerhalb dieser Grenzen nie erreicht werden.“ 357 Nur ein Beispiel: Die gegenwärtige Diskussion um die Einführung staatlicher Begrenzungen der Miethöhe in bestimmten Großstädten berührt ein uraltes Problem; gegen Maßnahmen dieser Art wandte sich ganz entschieden v. Hayek (Anm. 116), Die Verfassung der Freiheit, S. 458 ff.; s. zur aktuellen Diskussion Alexander Demling, Mietpreisbremse verstärkt Schweinezyklus, DER SPIEGEL v. 9. 4. 2014, im Internet abrufbar unter: http://www.spiegel.de/ wirtschaft/soziales/miete-preisbremse-schadet-mietern-in-berlin-muenchen-hamburg-a-963104. html; Norbert Schwaldt, Mietpreisbremse bringt mehr Schaden als Nutzen, Die Welt v. 9. 4. 2014, im Internet abrufbar unter: http://www.welt.de/finanzen/immobilien/article126766055/ Mietpreisbremse-bringt-mehr-Schaden-als-Nutzen.html. 358 Eucken (Anm. 20), S. 318 (Abschnitt: „Spezielle Sozialpolitik“).

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b) Der Vergleich mit den vergabefremden Aspekten im Kartellvergaberecht In diesem Zusammenhang bietet sich ein Vergleich mit den Entwicklungen im europäischen Vergaberecht in den vergangenen 15 Jahren an (d. h. seit der Etablierung des Kartellvergaberechts der §§ 97 ff. GWB zum 1. Januar 1999). Dort wurde die Idee verfolgt, wettbewerbliche und nichtwettbewerbliche Anliegen miteinander zu verbinden und gleichsam „zwei Fliegen mit einer Klappe“ im Wege der Vergabe öffentlicher Aufträge zu schlagen. Leider führt dies in den meisten Fällen zu Fehlschlägen.359 Innerhalb des Kartellvergaberechts ist es wohl nur das Ziel des Umweltschutzes, das ohne größere logische Brüche, wenngleich mit zahlreichen problematischen Einzelfragen bei der praktischen Anwendung verbunden, im Rahmen wettbewerblicher Vergabeverfahren sinnvoll umgesetzt werden kann. Die Verfolgung sozialer Belange innerhalb des Vergaberechts bereitet hingegen sehr große Schwierigkeiten.360 Als Beispiel sei die Tariftreueproblematik genannt. Das scheinbar legitime Ziel „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ verstößt auf unionsrechtlicher Ebene gegen die Vorgaben der Art. 56 f. AEUV zur Dienstleistungsfreiheit361, bzw. gegen die dessen Vorgaben konkretisierende EU-Entsenderichtlinie 96/71/EG, wenn in Bezug auf EUausländische Arbeitnehmer die Zahlung der vergleichsweise hohen deutschen Tariflöhne362 durch ihren EU-ausländischen Unternehmer verlangt werden.363 Die Vermengung nichtwettbewerblicher, sog. vergabefremder, Aspekte mit wettbewerblichen Aspekten gefährdet daher den Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot ebenso wie die Wahrung der zentralen Prinzipien Wettbewerb, Transparenz und Gleichbehandlung. Die Inkorporierung vergabefremder Ziele in das Europäische Vergaberecht hat sich letztlich nicht als nachahmungswürdiges „Erfolgsmodell“ erwiesen.

359

S. dazu auch Kling, Die Zulässigkeit vergabefremder Regelungen, 2000, passim. Dreher/Hoffmann/Kling, in: Enzyklopädie Europarecht, 2014, Band 4, § 17. Das sekundäre europäische Vergaberecht, Rn. 162. 361 Kling, Tariftreue und Dienstleistungsfreiheit, in: EuZW 2002, S. 229; Konzen, NZA 2002, 781; OLG Celle v. 3. 8. 2006 – 13 U 72/06, NZBau 2006, 660 (661 f.). 362 Die Frage der Bindung an Mindestlöhne nach der Arbeitnehmer-Entsenderichtlinie bzw. des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ist davon grundsätzlich zu unterscheiden. 363 Vgl. EuGH v. 3. 4. 2008 – Rs. C-346/06, Slg. 2008, I-1989 – Rüffert. Die Entsenderichtlinie 96/71/EG verbietet es den Mitgliedstaaten, bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags die Erbringer von grenzüberschreitenden Dienstleistungen zu verpflichten, ihrem entsendeten Personal einen tarifvertraglich vorgesehenen Lohnsatz zu zahlen, wenn dieser Lohnsatz nicht für allgemein verbindlich erklärt wurde, obwohl eine solche Erklärung in dem Mitgliedstaat rechtstechnisch möglich war. Daher darf Tariftreue nur dann verlangt werden, wenn diese allgemein, also diskriminierungsfrei, gilt. Inländischen Erbringern von Dienstleistungen kann aber weiterhin diese Verpflichtung auch ohne eine Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit auferlegt werden, s. dazu Walter Obwexer/Sinziana Ianc, in: Enzyklopädie Europarecht, 2014, Band 4, § 7. Das binnenmarktliche Recht der Dienstleistungsfreiheit, Rn. 132. 360

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c) Folgerungen Die Erfahrungen aus dem Vergaberecht sprechen somit gegen eine „Aufladung“ des Kartellrechts mit nichtwettbewerblichen, nichtökonomischen Zielsetzungen. Derartige – für sich besehen gesamtgesellschaftlich durchaus wünschenswerte – Ziele im Wege einer Vertragsrevision in die kartellrechtlichen Normtexte der Art. 101, 102 AEUV aufzunehmen, wäre demnach nicht der richtige Weg, den der Unionsgesetzgeber künftig beschreiten sollte. Zielgenauer und besser werden legitime nichtwettbewerbliche Zielsetzungen durch eigenständige Regelungen verwirklicht.364 Die „neoliberalen“ Wettbewerbsregeln sollten künftig aber keine „Modernisierung“ in dieser Hinsicht erfahren. 3. Fazit 1. Dem Bundespräsidenten ist zunächst uneingeschränkt beizupflichten: Die Freiheiten der Gesellschaft und die Freiheit in der Wirtschaft gehören zusammen.365 Eine generelle Beschränkung des wirtschaftlichen Wettbewerbs hätte – jenseits von Monopolbildung und bestimmten Oligopolen, die freiheitsbedrohend wirken –366 grobe Ungerechtigkeiten zur Folge, die den Grundpfeilern der deutschen Wirtschaftsordnung und den verbindlichen Vorgaben des europäischen Primärrechts diametral widersprechen würden. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union ist nach der Vertragsreform von Lissabon nicht (mehr) „neutral“.367 Die unbestreitbar vorhandenen sozialen Akzente und sonstigen allgemeinwohlbezogenen Elemente im AEUV 364

Insoweit ist die gegenwärtige Überzeugung der deutschen Bevölkerung, dass die Herstellung des sozialen Ausgleichs die Aufgabe der Politik sei, nicht im Kern falsch. Fraglich ist aber, ob die Gefahren der gigantischen sozialen Umverteilung gesehen werden. Gegenwärtig sind 73 % der gesamten Bevölkerung davon überzeugt, dass die Politik viel tun kann, um den sozialen Ausgleich und die Gerechtigkeit in der Gesellschaft voranzubringen. 65 % der Bürger sind überzeugt, dass vor allem die Politik einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit leisten kann. Mit großem Abstand folgen die Wirtschaft (32 %), die Bürger (28 %) und die Gewerkschaften (21 %), s. die Allensbach-Studie (Fn. 12), S. 22 f. Zugleich wird gegenüber der Politik der Vorwurf erhoben, dass sie die soziale Ungerechtigkeit eher vergrößere als reduziere. 64 % sehen Politik als einen Motor der wachsenden Ungleichheit, lediglich 20 % attestieren ihr, dass sie dafür sorge, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht zu groß werden (Allensbach-Studie, a. a. O., S. 24). 365 Treffend dazu Hoppmann (Anm. 34), Festgabe für Wessels, S. 145 ff. (150): „Wirtschaftliche Freiheit ist nur ein Aspekt der individuellen Freiheit im gesamten Wirtschaftlichen Bereich. Wirtschaftliche Freiheit ist also Mittel zur Verwirklichung einer freien, demokratischen Gesellschaft als einem ,ultimate social goal‘“; s. ferner Lenel, Über zwei Richtungen des Sozialismus, in: ORDO, Bd. 1 (1948), S. 304 ff. (320). 366 S. Böhm, in: Kartelle und Monopole im modernen Recht, Bd. I, 1961, S. 1, 6: „Nicht der ökonomische Nutz- und Lenkungseffekt war es, den man durch die Monopole für bedroht hielt, sondern die soziale Gerechtigkeit und die bürgerliche Freiheit.“ 367 S. Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (187 f.); Schmidt-Preuß (Anm. 311), in: Festschrift für Säcker, S. 969 ff. (981 ff.); anders für die deutsche Wirtschaftsverfassung noch BVerfGE 50, 290 Rn. 120 = NJW 1979, 833 (Zitat nach juris), wo das BVerfG die Auffassung vertreten hat, dass das Grundgesetz „wirtschaftspolitisch neutral“ sei.

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sind jedoch (noch) nicht so dominant, dass man schon jetzt erneut einen „Dritten Weg“ beschreiten und eine neue wirtschaftsverfassungsrechtliche Kategorie jenseits von Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft benennen müsste.368 Vielmehr ist auch die „soziale Marktwirtschaft“ innerhalb der Europäischen Union eindeutig wettbewerbsorientiert.369 Die Mitgliedstaaten sind auf das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft unionsrechtlich verpflichtet und könnten ihre nationale Wirtschaftsverfassung daher nicht mehr einseitig ändern.370 2. Der wirtschaftliche Wettbewerb ist ein Gegenstück zur Privatautonomie und zugleich ein überaus bedeutsames, die Gesamtwohlfahrt gewährleistendes Rechtsprinzip. Er ist Teil der auf Freiheit und Gleichheit aller Rechtspersonen gerichteten verfassungsrechtlichen Ordnung.371 Hoppmann bezeichnet die marktwirtschaftliche Ordnung mit Recht als „das ökonomische Äquivalent einer liberalen Demokratie“.372 3. Der Begriff „Neoliberalismus“ darf keinesfalls mit Marktradikalismus, Manchesterkapitalismus oder ähnlichem verwechselt werden, war es doch gerade ein zentrales Anliegen der ordoliberalen Nationalökonomen und Rechtswissenschaftler, dass solche Abarten des wirtschaftlichen Verhaltens wirksam bekämpft werden.373 4. Der wirtschaftliche Wettbewerb ist für sich besehen weder „unsozial“ noch „ungerecht“. Das Wettbewerbsprinzip ist freilich insofern in seiner Leistungsfähigkeit beschränkt, als es zur Erreichung einer ganzen Reihe von legitimen sozialen Zielen374 und sonstigen nichtwettbewerblichen Belangen des Allgemeinwohls (z. B. Umweltschutz) entweder überhaupt nichts oder nur sehr wenig beitragen kann. Bei dem „späten“ Franz Böhm kann man lesen, dass eine rational ablaufende Marktwirtschaft nicht etwa schon dadurch zustande komme, „daß man durch Gesetz die Gewerbefreiheit einführt und sodann die Dinge laufen läßt, wie sie laufen. Vielmehr fordert dieses sich selbst steuerende System das Vorhandensein und die dauernde Pflege und Verbesserung einer ganzen Reihe von politischen, rechtlichen, sozialen, zivilisatorischen Vorbedingungen, zum Beispiel das Vorhandensein einer ziemlich

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Vgl. auch Öhlinger (Anm. 27), in: Griller, S. 269 ff. (279). Wie hier Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (189): „Bezogen auf die Wirtschaftsverfassung bildet die Wettbewerbsordnung die tragende Säule. Sie ist zugleich der wichtigste Teil des Wirtschaftsrechts.“ 370 Schmidt-Preuß (Anm. 311), in: Oetker/Joost/Paschke, Festschrift für Säcker, S. 969 ff. (982); Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (189). 371 S. dazu auch Rittner/Dreher (Anm. 27), § 14 Rn. 39. 372 Hoppmann (Anm. 34), S. 235 ff. (251). 373 Der Bundespräsident findet es zu Recht „höchst merkwürdig“, dass der Begriff „neoliberal“ heute so negativ besetzt ist, obgleich „Eucken und seine Mitstreiter“ selbst als sog. „Neoliberale“ sich gegen dieses reine „Laissez-faire“, das dem heutigen Neoliberalismus so häufig unterstellt werde, gewandt hätten, s. die Rede des Bundespräsidenten Gauck vom 16. 1. 2014 (Fn. 3), S. 3; s. zur Wirtschaftspolitik des Laissez-faire Eucken (Anm. 20), S. 27 ff. 374 S. z. B. Eucken (Anm. 20), S. 185, der die „soziale Frage“ als ein „gewaltiges Problem“ und „riesenhaftes Gebirge“ bezeichnet; s. dazu insbesondere noch Eucken, a.a.O., S. 313. 369

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hochgezüchteten sozialen Parklandschaft.“375 Hier – aber nur hier – ist also die ordnende Hand des Gesetzgebers gefragt. Bundespräsident Joachim Gauck hat eine schöne Metapher für die – wie er sie bezeichnet – „aktivierende Sozialpolitik“ gefunden. Er stellt sie sich vor „wie ein Sprungtuch, das denjenigen, die es brauchen, dazu verhilft, wieder aufzustehen und für sich selbst einzustehen“.376 Ein Sprungtuch – keine Hängematte!377 5. Die gewachsene Bedeutung der Sozialpolitik innerhalb der Europäischen Wirtschaftsverfassung378 lässt den hohen Rang des Wettbewerbsprinzips de iure unverändert.379 Die Einführung des Prinzips der „sozialen Marktwirtschaft“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EUV an Stelle des Prinzips der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (ex Art. 4 Abs. 2 EG-Vertrag) hat keine grundlegenden materiellrechtlichen Änderungen zur Folge gehabt,380 zumal das zuletzt genannte Prinzip an verschiedenen Stellen im AEUV weiterhin verankert ist. Das Gleiche gilt für die Transferierung aus Art. 3 Abs. 1 lit. g EG in das Protokoll Nr. 27 zum EUV und AEUV im Rahmen der Vertragsreform von Lissabon, welches am Rang der Verträge teilhat.381 Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union ist im Kern nach wie vor eine „wettbewerbsverfasste Marktwirtschaft“.382 Der AEUV baut – wie das Grundgesetz – auf dem Vorrang der privatautonomen Rechtsgestaltung der Einzelnen vor der staatlichen Gestaltung auf.383 Daran sollte bei künftigen Revisionen der Europäischen Verträge nicht gerüttelt werden, denn das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft ist, wie der Bundespräsident zur Recht festgestellt hat, „ein lernfähiges System, das zwar nicht alle Ziele vorgibt, aber beständig zukunftsfähig ist.“384 Ein wesentlicher Teil dieses lernfähigen Systems ist der funktionsfähige Wettbewerb, das Schutzgut des Kartellrechts.

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S. Böhm (Anm. 19), ORDO, Bd. 22 (1971), S. 11 ff. (17). Rede des Bundespräsidenten Gauck vom 16. 1. 2014 (Fn. 3), S. 6. 377 Rüstow hätte dem wohl beipflichten können, denn auch er forderte eine Sozialpolitik, die auf Eigenverantwortung des Bürgers baut und bei der gemäß dem Subsidiaritätsprinzip die staatliche Hilfe an letzter Stelle steht, s. Tönnies, Die liberale Kritik des Liberalismus. Zur Aktualität Rüstows, in: Rüstow, Die Religion der Marktwirtschaft, 3. Aufl. 2009, S. 159, 174. 378 S. dazu Öhlinger (Anm. 27), in: Griller, S. 269 ff. (277 f.). 379 S. Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (188): „Der berühmte Tropfen sozialen Öls im Sinne von Bismarck bzw. sozialistischen Öls im Sinne von Otto von Gierke ist hier in Löffelquantitäten verwendet worden.“ 380 Dreher/Lange (Anm. 279), Festschrift 50 Jahre FIW, S. 161 ff. (173); Dreher (Anm. 26), JZ 2014, S. 185 ff. (188). 381 S. dazu die Nachweise in Rn. 279. 382 Öhlinger (Anm. 27), in: Griller, S. 269 ff. (274). 383 Vgl. zum Vorrang der privatautonomen Rechtsgestaltung noch Rittner, Die wirtschaftsrechtliche Ordnung der EG und das Privatrecht, in: Meine Universitäten und das Wirtschaftsrecht 1939 – 2002, 2003, S. 115, 124 (seinerzeit den EWG-Vertrag betreffend). 384 Rede des Bundespräsidenten Gauck vom 16. 1. 2014 (Fn. 3), S. 8. 376

Die Problematik der Staatenimmunität bei transnationalen Investitionstätigkeiten – Eine internationale Perspektive1 Von Philipp Stompfe I. Einleitung Die zunehmende Verflechtung und Internationalisierung des Wirtschaftsverkehrs ist insbesondere durch den grenzüberschreitenden Handel und Auslandsinvestitionen geprägt. Auslandsinvestitionen lassen sich in Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionen unterteilen.2 Portfolioinvestitionen erfolgen in der Regel über den Kapitalmarkt, wobei die Dividende im Vordergrund des Interesses steht.3 Demgegenüber werden Direktinvestitionen als „solche Kapitalanlagen (bezeichnet), die vom Investor in der Absicht vorgenommen werden, einen unmittelbaren Einfluss auf die Geschäftstätigkeit des kapitalnehmenden Unternehmens zu gewinnen oder einem Unternehmen, an dem der Investor bereits maßgeblich beteiligt ist, neue Mittel zuzuführen“.4 International liegt der Schwerpunkt von Direktinvestitionen auf dem Erwerb von unmittelbarem Einfluss auf die Gesellschaftstätigkeit.5 Zentrale Akteure der internationalen Investitionspraxis sind dabei Staaten, Staatsgesellschaften, Staatsunternehmen und staatliche Investitionsfonds. Dies betrifft gleichermaßen Staaten der wesentlichen Hemisphäre sowie Staaten in Asien, Afrika, Lateinamerika und der arabischen Welt.6 Zu berücksichtigen hierbei ist, dass Inves1

Bundesminister a. D. Friedrich Bohl ist eine faszinierende und herausragende Persönlichkeit. Der Autor ist stolz und dankbar Friedrich Bohl als engen Freund, Gesprächspartner und Unterstützer zu haben. 2 Hugo J. Hahn/Ludwig Gramlich, Regelungstypen internationaler Investitionen, in: ArchVR 1983, S. 145 ff. (149). 3 Morris Besch, Schutz von Auslandsinvestitionen, 2008, S. 2; Madura Sornarajah, The International Law on Foreign Investment, 2004, S. 7. 4 Deutsche Direktinvestitionen im Ausland, in: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, 12/1965, S. 19. 5 Jiri Nemec, Ausländische Direktinvestitionen in der Tschechischen Republik, 1997, S. 5; Carsten Ebenroth, Code of Conduct, 1987, Rn. 97 ff.; Hahn/Gramlich (Anm. 2), ArchVR 1983, S. 145 ff. (149); Ludwig Gramlich, Rechtsgestalt, Regelungstypen und Rechtsschutz bei grenzüberschreitenden Investitionen, 1984, S. 125 ff.; Markus Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht, 2009, S. 168, Rn. 531. 6 Julian Lew/Loukas Mistelis/Stefan Kröll, Comparative International Commercial Arbitration, 2003, S. 733.

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titionen keinesfalls ausschließlich durch westliche multinationale Unternehmen vorgenommen werden, sondern zunehmend auch durch Staatsunternehmen und Staatsfonds in Schwellenländern und den finanzstarken Ländern der arabischen Golfstaaten, lokal und international, getätigt werden. Deutlich wird dies am Beispiel Katars. Allein der von der katarischen Regierung beschlossene Entwicklungsplan Qatar National Vision 2030 sieht lokale Infrastrukturinvestitionen mit einem Finanzvolumen von mehr als 100 Milliarden Euro vor.7 Darüber hinaus sind die strategischen Investitionen und Beteiligungen der Qatar Investment Authority, inter alia bei Volkswagen, Porsche, Hochtief und neuerdings bei der Deutschen Bank hervorzuheben. Im Zuge der Verdichtung der vertragsrechtlichen Ordnungsrahmen für transnationale Wirtschafts- und Investitionsbeziehungen8 ist die Komplexität der Gestaltung von Investor-Staat-Verträgen zunehmend gestiegen. Internationale Investitionsprojekte finden allgemein ihre rechtliche Grundlage in Investor-Staat-Verträgen. Dabei handelt es sich um „Verträge zwischen einem Staat bzw. einer dem Staat nach dem allgemeinen Völkerrecht zurechenbaren Institution und einer ausländischen natürlichen oder juristischen Person über die Vornahme einer Investition auf dem Territorium des Staates“9.10 Zur Erzielung einer größtmöglichen Neutralität und Effektivität bei der Streitbeilegung werden regelmäßig Schiedsvereinbarungen in Investor-Staat-Verträge aufgenommen. Eine solche Schiedsvereinbarung entfaltet jedoch nur dann ihre beabsichtigte Wirkung, wenn der staatliche Vertragspartner auch im Falle des Eintritts von Streitigkeiten an die Schiedsvereinbarung gebunden und damit zur Durchführung des Schiedsverfahrens verpflichtet ist.11 Zur Umgehung ihrer vertraglichen Verpflichtung aus der Schiedsvereinbarung und zur Verhinderung, dass die Schiedsrichter eine endgültige und bindende Ent7

Philipp Stompfe, Das katarische Beschäftigungsrecht, in: RIW 2013, S. 210 ff. (211). Matthias Herdegen, Völkerrecht, 12. Aufl., 2013, S. 390, Rn. 1. 9 Burkhard Schöbener/Jochen Herbst/Markus Perkams, Internationales Wirtschaftsrecht, 2010, Rn. 4/81, S. 242. 10 Die Rolle von Staatsunternehmen ist dabei zunehmend in den Vordergrund getreten. Zur Steigerung der Effektivität tendieren die Gastgeberstaaten dazu, von Regierungsbehörden unabhängige Unternehmen für die Projektdurchführung zu gründen. Rechtsdogmatisch ist zu berücksichtigen, dass trotz der Einschaltung eines Staatsunternehmens etwaige Vertragsabschlüsse mit ausländischen Investoren als Verträge mit dem Gastgeberstaat angesehen werden, wenn dieser das Staatsunternehmen unmittelbar kontrolliert, Uwe Kischel, State Contracts, 1992, S. 47; differenzierend Karl-Heinz Böckstiegel, Der Staat als Vertragspartner ausländischer Privatunternehmen, 1971 S. 23 ff., 52 ff.; kursorisch: Jutta Stoll, Vereinbarungen zwischen Staat und ausländischem Investor, 1982, S. 8; Carsten Ebenroth/Tom Bader, Wirksame Staatenbindung in internationalen Investitionsverträgen, in: WM 1991, S. 661 ff. (663); grundlegend aus der internationalen Rechtsprechung Sapphire International Petroleums Ltd. v. National Iranian Oil Company, in: ILR 1967, S. 136 ff. Zur Problematik der Immunität bei Staatsunternehmen, vgl. Andrew Dickinson, in: Clifford Chance (Hrsg.), State Immunity and State-Owned Enterprises, 2008, S. 1 ff. 11 Besch (Anm. 3), Schutz von Auslandsinvestitionen, S. 23. 8

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scheidung in der Hauptsache treffen, berufen sich Staaten entweder zu Beginn des Schiedsverfahrens oder in Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung eines Schiedsspruches vor staatlichen Gerichten auf ihre Immunität.12 Im engen sachlichen Zusammenhang zum Einwand der Staatenimmunität steht zudem der Einwand der staatlichen Souveränität.13 Die Souveränitätseinrede ist vergleichbar mit der Struktur und Intention der Staatenimmunität; sie basiert ebenfalls auf einem besonderen Status der Staaten und ist im Ergebnis ebenfalls darauf gerichtet, die Zuständigkeit des Schiedsgerichts bzw. des ordentlichen Gerichts zu bestreiten.14/15 Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die analytische Darstellung der Grundprinzipien, Komplexität und Herausforderung der Staatenimmunität für transnationale Investor-Staat-Verträge unter Berücksichtigung der internationalen Rechtsprechung und der Rechtslage in den Vereinigten Staaten von Amerika, England, Frankreich und der Schweiz als wichtigste Belegenheitsstaaten ausländischen Vermögens. Der zentrale Schwerpunkt dabei liegt auf dem Bereich der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. II. Staatenimmunität im Kontext des internationalen Investitionsrechts Die Problematik der Staatenimmunität wird in diesem Beitrag weniger als Teil des Völkerrechts, sondern mehr als Element des internationalen Investitionsrechts und damit als integraler Bestandteil des internationalen Wirtschaftsrechts verstanden. Schanze betrachtet die internationale Investitionspraxis in ihren rechtlichen Aspekten richtigerweise als Komponente des internationalen Wirtschaftsrechts, welches er zutreffend als „Summe derjenigen Rechtsnormen, die die Abwicklung grenzüberschreitender Wirtschaftstransaktionen gestalten und durch institutionelle Vorgaben 12

Ibid. Vgl. Societé de Grands Travaux de Marseille (S.G.T.M.) v. East Pakistan Industrial Development Corporation (E.P.I.D.C.), ICC-Schiedsspruch Nr. 1803/1972, YCA 1980, S. 179 ff.; Solel Boneh International v. The Republic of Uganda, ICC-Schiedsspruch Nr. 2321/ 1974, in: YCA 1976, S. 133 ff.; Framatome v. Atomic Energy Organization of Iran (AEOI), Clunet 1984, S. 58 ff.; Elf Aquitaine Iran v. National Iranian Oil Company (NIOC), in: YCA 1986, S. 98 ff.; AmcoAsia v. Indonesia (ICSID Case No. ARB/81/1, Decision on Jurisdiction, 25. 9. 1983), in: ILM 1984, S. 351 ff.; Sapphire International Petroleums Ltd. v. National Iranian Oil Company, in: ILR 1967, S. 136 ff. Charakteristisch für die libyschen Nationalisierungsfälle ist der Versuch, durch den Verweis auf die staatliche Immunität bzw. Souveränität, die Streitigkeit ausschließlich vor nationalen Gerichten auszutragen, BP Exploration Company (Libya) v. Libya, in: ILR 1979, S. 297 ff.; Texaco Overseas Petroleum Company, California Asiatic Oil Company v. Libya, in: ILM 1978, S. 1 ff.; Libyan American Oil Company v. Libya, in: ILM 1981, S. 1 ff. 14 Heleni Theodorou, Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, 2001, S. 98. 15 Die internationale Rechtsprechung hat unter Anwendung der internationalen Grundsätze „pacta sunt servanda“, „venire contra factum proprium“, „deni de justice“ und „bona fides“ im Falle der ausdrücklichen Vereinbarung einer Schiedsvereinbarung, übereinstimmend die Souveränitätseinwende als unzulässig abgelehnt. 13

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beeinflussen“ definiert.16 Folglich kann sich die Nachhaltigkeit und Effektivität internationaler Vertragsgestaltungen ausschließlich durch die Kenntnis internationaler Rechtszusammenhänge und materiell-rechtlicher Grundlagen divergierender nationaler Rechtssysteme ergeben. Die isolierte Betrachtung aus einer strikten nationalen Perspektive führt zwangsläufig zu einer juristischen Pathologie. Die essentielle Bedeutung der Internationalität wird sich aktuell, insbesondere bei den Vollstreckungsversuchen im Yukos-Fall zeigen.17/18 Ferner ist zu beachten, dass die juristische Sicherung etwaiger Ansprüche gegen staatliche Vertragspartner nicht erst mit der Anspruchsentstehung im Streitfall beginnen darf, sondern bereits im Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen und der finalen Vertragsgestaltung von essentieller Bedeutung ist. Ausgangspunkt dabei ist der kautelarjuristische Ansatz, Recht und insbesondere Vertragsrecht im Sinne der Lehre der Gestaltungselemente nicht als Reaktion auf existierende Streitigkeiten, sondern als kautelarische Gestaltung risikoträchtiger Transaktionen zu verstehen.19 III. Begriff und Grundstrukturen der Staatenimmunität Völkerrechtlich wird die Immunität von Staaten dahingehend qualifiziert, dass ein Staat der Entscheidungsgewalt eines anderen Staates grundsätzlich nur beschränkt unterworfen ist.20 Als zentraler Rechtsgedanke steht hinter der Staatenim16

Erich Schanze, Investitionsverträge im internationalen Wirtschaftsrecht, 1986, S. 11. Vgl. hierzu Interview mit Loukas Mistelis in Radio Free Europe Radio Liberty, Experts Says Yukos Ruling Could Take Years To Enforce, 4. 8. 2014, abrufbar unter: http://www.rferl. org/content/russia-interview-yukos-ruling-mistelis/25473248.html; kursorisch hierzu Corinna Budras, So kommen die Yukos-Aktionäre an Putins Milliarden, in: Ernest K. Bankas, FAS vom 3. 8. 2014, S. 20. Zur Urteilszusammenfassung siehe Alison Ross/Kyriaki Karadelis, Yukos Investors Win Record Sum Against Russia, in: Global Arbitration Review vom 28. 7. 2014. 18 Zu berücksichtigen ist, dass der Anspruch von Yukos nicht auf der Grundlage eines Investor-Staat-Vertrages basiert, sondern primäre Rechtsgrundlage ist der Energy Charter Treaty (ECT). Die für die Entscheidungsfindung relevanten Vorschriften sind Artikel 10, 13, 21 und 26 ECT. Siehe hierzu Hulley Enterprises Limited (Cyprus) v. The Russian Federation, PCA Case No. AA 226, Final Award v. 18. 7. 2014; Yukos Universal Limited v. The Russian Federation, PCA Case No. AA 227, Final Award vom 18. 7. 2014; Veteran Petroleum Limited (Cyprus) v. The Russian Federation, PCA Case No. AA 228, Final Award vom 18. 7. 2014. Allgemein zum ECT Norah Gallagher, Energy Dispute Resolution: Investment Protection, Transit and the Energy Charter Treaty, World Arbitration Reporter 04/2010, ECT-1 ff.; Justin D’Agostino/Oliver Jones, Energy Charter Treaty: a Step towards Consistency in International Investment Arbitration?, in: Journal of Energy & Natural Resources Law 2007, S. 225 ff.; Christoph Schreuer, The Concept of Expropriation under the ECT and other Investment Protection Treaties, in: Clarisse Ribeiro (Hrsg.), Investment Arbitration and the Energy Charter Treaty, 2006, S. 108 ff. (145 ff.). 19 Schanze (Anm. 16), Investitionsverträge im internationalen Wirtschaftsrecht, S. 15, siehe auch S. 19, 173 ff., 187. 20 Jochen Langkeit, Staatenimmunität und Schiedsgerichtsbarkeit, 1989, S. 30; Julia Schaarschmidt, Reichweite des völkerrechtlichen Immunitätsschutzes, 2010, S. 9; Ian 17

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munität eine Ausprägung des Grundsatzes der Gleichheit aller Staaten, nämlich die Maxime „par in parem non habet imperium“.21 Zu berücksichtigen ist, dass Immunität (Souveränität)22 und Gleichheit untrennbar miteinander verbunden sind.23 Der Gleichheitsgrundsatz verpflichtet die Staaten im formellen Sinne, Gleiches gleich zu behandeln.24 Von Bedeutung ist dabei die Befreiung von der Hoheitsgewalt, insbesondere von der Gerichtsbarkeit anderer Staaten.25 Hervorzuheben ist die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen der Immunität im Erkenntnisverfahren (immunity from jurisdiction) und der Immunität im Vollstreckungsverfahren (immunity from execution).26 Weiterhin wird die Unabhängigkeit und Würde aller Staaten als Grundlage der Staatenimmunität angeführt.27 Entscheidend hierbei ist die Verletzung der staatlichen Unabhängigkeit, wenn seine Handlungen der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterworfen würden.28 Darüber hinaus besteht der Sinn und Zweck der Staatenimmunität in der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit von Regierungen durch die ungestörte Ausübung von Hoheitsaufgaben.29

Brownlie, Principles of Public International Law, 8. Aufl., 2012, S. 487; Ignaz Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 9. Aufl., 1997, Rn. 1462; Noah Rubins/N. Stephan Kinsella, International Investment, Political Risk and Dispute Resolution, 2005, S. 144. 21 Herdegen (Anm. 8), Völkerrecht, S. 273, § 37, Rn. 1; Alfred Verdross/Bruno Simma, Völkerrecht, 3 Aufl., 1992, § 1168; Ernest K. Bankas, The State Immunity Controversy in International Law, 2005, S. 43. 22 Maßgeblich hierbei ist die äußere Souveränität, welche die Unabhängigkeit eines Staates von anderen Staaten garantiert, Verdross/Simma (Anm. 21), Völkerrecht, § 35. 23 Schaarschmidt (Anm. 20), Reichweite des völkerrechtlichen Immunitätsschutzes, S. 12. 24 Ibid. S. 11. 25 Siehe hierzu die Beschreibung der Rechtsnatur der Staatenimmunität bei Dickinson (Anm. 10), in: Clifford Chance, S. 2: „State immunity is a doctrine of public international law. It operates to prevent the courts of one State (the forum State) from exercising jurisdiction against a foreign State. It is not a defense in the sense that it removes liability. The Defendant State can still be held responsible for its actions if it submits to the jurisdiction of the foreign court or if an exception to immunity applies in the circumstances of a particular case. NonState parties may also take steps to enforce the obligations of a foreign State in ways (e. g. by exercising a right of set-off) which do not require recourse to judicial proceedings. Equally, if the State’s actions constitute a breach of its obligations under international law, it will remain responsible on the international plane.“ 26 Statt aller Dhisadee Chamlongrasdr (Anm. 26), Foreign State Immunity and Arbitration, 2007, S. 206 ff. 27 Vgl. Pierre-Marie Dupuy, Droit international public, 6. Aufl., 2002, Rn. 112; SeidlHohenveldern (Anm. 20), Völkerrecht, Rn. 633; Langkeit (Anm. 20), Staatenimmunität und Schiedsgerichtsbarkeit, S. 30; Hazel Fox/Philippa Webb, The Law of State Immunity, 3. Aufl., 2013, S. 26. 28 Insbesondere Seidl-Hohenveldern (Anm. 20), Völkerrecht, Rn. 633. 29 Julian D. M. Lew/Loukas A. Mistelis/Stefan Kröll, Comparative International Commercial Arbitration, 2003, S. 733; Brownlie (Anm. 20), Principles of Public International Law, S. 487; Malcolm N. Shaw, International Law, 4. Aufl., 1997, S. 496. Siehe auch Georg Dahm/

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Zu beachten ist jedoch, dass die Staatenimmunität keine unabdingbare Einrede in Bezug auf die Staatshaftung darstellt. Vielmehr kann sich eine Staatenverantwortlichkeit dadurch ergeben, dass sich Staaten der Zuständigkeit von Schiedsgerichten oder ordentlichen Gerichten unterwerfen, durch ausdrücklichen Verzicht der Immunität oder des Eingreifens von Ausnahmetatbeständen der einschlägigen nationalen Rechtsordnung. Unabhängig von der Anerkennung des Grundsatzes der Staatenimmunität als Völkergewohnheitsrecht im Sinne von Art. 38 I b IGH-Statut existieren mit dem Europäischen Übereinkommen über die Staatenimmunität von 1972 und der United Nations Convention on Jurisdictional Immunities of States and their Property von 2004 positivrechtliche Normierungen der Staatenimmunität auf internationaler Ebene.30 Sinn und Zweck der UN Konvention ist die Etablierung von festen Konturen und regulativen Rahmenbedingungen für die Bereiche, in denen fremde Staaten unter Anwendung gewohnheitsrechtlicher Grundsätze einer fremden Gerichtsbarkeit unterworfen sind.31 Kennzeichnend für die Bestimmungen der Staatenimmunität in nationalen Rechtsordnungen ist eine starke Heterogenität. Während in den USA mit dem United States Foreign Sovereign Immunities Act 197632 und in England mit dem United Kingdom Immunity Act 197833 ausdrückliche rechtliche Regelungen zur Staatenimmunität existieren, wird in Frankreich und der Schweiz die Konkretisierung des Rechts der Staatenimmunität der Rechtsprechung überlassen. In der Bundesrepublik Deutschland wird gemäß § 20 Abs. 2 GVG auf die gewohnheitsrechtlichen Grundsätze der Staatenimmunität Bezug genommen.34 IV. Internationale Entwicklung Vorherrschend war für eine lange Zeit die Annahme einer „absoluten Immunität“, wonach ausländischen Staaten uneingeschränkte Immunität für ihre Handlungen gewährt wurde.35 Im Ergebnis waren sowohl hoheitliche als auch privatrechtliche Handlungen fremder Staaten der nationalen Gerichtsbarkeit eines anderen Staates entzogen. Gerichtliches Vorgehen gegen staatliche Vertragspartner konnte lediglich Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht, 2. Aufl., 1989, S. 216; Fox/Webb (Anm. 27), The Law of State Immunity, S. 36 – 37. 30 Schaarschmidt (Anm. 20), Reichweite des völkerrechtlichen Immunitätsschutzes, S. 13. Vgl. auch Claudia Annacker/Robert T. Greig, State Immunity and Arbitration, in: ICC Bulletin 2004, S. 70 ff.; Dickinson (Anm. 10), in: Clifford Chance, S. 12 ff. 31 Herdegen (Anm. 8), Völkerrecht, S. 273, Rn. 2. 32 Im Folgenden US FSIA. 33 Im Folgenden UK SIA. 34 Grundlegend zur deutschen Rechtsprechung siehe BVerfGE 46, 342 ff.; 64, 1 ff. 35 Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 99; siehe auch Brownlie (Anm. 20), Principles of Public International Law, S. 329 ff.; Kaj Hobér, Enforcing Foreign Arbitral Awards, in: Arb. Int. 1994, S. 17 ff. (45 ff.).

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unter der Voraussetzung vorgenommen werden, dass dieser ausdrücklich in die Zuständigkeit staatlicher Gerichte und in etwaige Vollstreckungsmaßnahmen eingewilligt hatte.36 Dies galt unabhängig von den jeweiligen Begleitumständen, dem Sinn und Zweck sowie der Rechtsnatur der fraglichen Handlung.37 Aufgrund der stark gestiegenen Zunahme staatlicher Wirtschaftstätigkeiten hat sich international eine Abkehr von der absoluten hin zur restriktiven Immunitätslehre durchgesetzt.38 In diesem Zusammenhang hat der Schweizer Bundesgerichtshof in Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya vs. Libyan American Oil Company festgestellt, dass die Lehre von der restriktiven Immunität als transnationaler Handelsbrauch zu qualifizieren ist.39 Weiterhin hat Lord Mustill in Kuwait Airways v. Iraqi Airways grundlegend ausgeführt, dass, sobald ein Staat wie eine Privatperson im Handels- und Wirtschaftsverkehr agiert, keine Rechtfertigung mehr besteht, diesem die rechtliche Möglichkeit zu gewähren sich durch die Berufung auf die Einrede der Staatenimmunität den wirtschaftlichen Konsequenzen zu entziehen.40 Darüber hinaus stellt die völkerrechtliche Praxis einerseits zutreffend fest, dass eine strenge Anerkennung der absoluten Immunität sich als ernstes wirtschaftliches Hemmnis im Handels- und Wirtschaftsverkehr mit Staaten und Staatsunternehmen auswirkt.41 Andererseits verstößt ein privatrechtlich handelnder Staat gegen Treu und Glauben, wenn dieser zwar etwaige Vorteile aus einem von ihm geschlossenen Vertrag in Anspruch nimmt, sich der Erfüllung der von ihm eingegangenen Obliegenheiten jedoch durch die Berufung auf seine Souveränität zu entziehen versucht.42 36

Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 744. 37 Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 99. 38 Rosalyn Higgins, Problems and Process: International Law and How We Use It, 1995, S. 79; Rubins/Kinsella (Anm. 20), International Investment, Political Risk and Dispute Resolution, S. 144; Brownlie (Anm. 20), Principles of Public International Law, S. 329 ff.; Hazel Fox, States and the Undertaking to Arbitrate, in: Julian Lew/Loukas Mistelis (Hrsg.), Arbitration Insights, 2007, S. 13 ff. (24); Sornarajah (Anm. 3), The Settlement of Foreign Investment Disputes, S. 86. 39 Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya v. Libyan American Oil Company, in: YBCA 1981, S. 151 ff. (152). 40 Kuwait Airways v. Iraqi Airways, in: WLR 1995, S. 1147 ff. (1171): „(…) where a sovereign chooses to doff his robes and descend into the market place he must take the rough with the smooth, and having condescended to engage in mundane commercial activities he must also condescend to submit himself to an adjudication in a foreign court on whether he has in the course of those activities undertaken obligations which he has failed to fulfil.“ 41 Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 100. 42 Für die internationale Rechtsprechung siehe Trendtex Trading v. Central Bank of Nigeria, in: QB 1977, S. 529 ff. (576); Alfred Dunhill of London v. Cuba, U.S. Supreme Court Reports 1975, S. 682, 702; Solel Boneh International v. The Republic of Uganda, ICCSchiedsspruch Nr. 2321/1974, in: YCA 1976, S. 133 ff. (135); Societé de Grands Travaux de Marseille (S.G.T.M.) v. East Pakistan Industrial Development Corporation (E.P.I.D.C.), in: YCA 1980, S. 179 ff. (183). Für die internationale Literatur siehe Pierre Lalive, Quelques observations sur l’immunité d’exécution des Etats et l’arbitrage international, in: Yoram Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 369 ff. (370); Ignaz Seidl-

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Die Annahme einer restriktiven Staatenimmunität hat zunächst unmittelbare Auswirkungen auf das Prinzip der immanenten Verzichtserklärung staatlicher Immunität. Danach bedarf es nicht länger des expliziten Verzichts staatlicher Vertragspartner nach dem Entstehen einer Streitigkeit, sondern dieser ist bereits mit Abschluss des Investor-Staat-Vertrages zulässig.43 Folglich ist sowohl die Vereinbarung von Schiedsklauseln als auch von Schiedsabreden ohne zusätzliche Beschränkungen rechtlich gestattet. Als rechtsdogmatische Konsequenz dieser internationalen Entwicklung ist ferner zwischen rein privatrechtlichen Handlungen (acta iure gestionis) und hoheitlichen Handlungen (acta iure imperii) eines Staates zu unterscheiden.44/45 Im Kontext der Lehre von der restriktiven Immunität führt diese Differenzierung dazu, dass ein Staat sich nur dann auf seine Immunität berufen kann, wenn er hoheitliche Tätigkeiten ausübt. Im Umkehrschluss ist diesem eine Berufung auf die Immunitätseinrede dann versagt, sofern dieser ausschließlich kommerzielle Zwecke verfolgt. Das Bundesverfassungsgericht stellt hierzu in seiner Grundsatzentscheidung vom 30. April 1963 fest: „(…) Maßgebend für die Unterscheidung zwischen Akten iure imperii und iure gestionis kann vielmehr nur die Natur der staatlichen Handlung oder des entstandenen Rechtsverhältnisses sein, nicht aber Motiv oder Zweck der Staatstätigkeit. Es kommt also darauf an, ob der ausländische Staat in Ausübung der ihm zustehenden Hoheitsgewalt, also öffentlich-rechtlich, oder wie eine Privatperson, also privatrechtlich, tätig geworden ist (…). Die Qualifikation der Staatstätigkeit als hoheitlich oder nicht-hoheitlich wird grundsätzlich nach nationalem Recht vorHohenveldern, International Economic Law, 2. Aufl., 1992, S. 21; Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 100; Langkeit (Anm. 20), Staatenimmunität und Schiedsgerichtsbarkeit, S. 32; W. Michael Reisman, International Arbitration and Sovereignty, in: Arb. Int. 2002, S. 231 ff.; International Law Commission, Draft Articles on Jurisdictional Immunities of States and Their Property, in: YBILC 1991, S. 13, insb. 36 – 42; Hazel Fox, States and the Undertaking to Arbitrate, in: ICLQ 1988, S. 1 ff. 43 Brownlie (Anm. 20), Principles of Public International Law, S. 343; Chamlongrasdr (Anm. 26), Foreign State Immunity and Arbitration, S. 203; Kaj Hobér, International Commercial Arbitration in Sweden, 2011, S. 26; Fox/Webb (Anm. 29), The Law of State Immunity, S. 35. 44 Vgl. Alan Redfern/Martin Hunter, Redfern and Hunter on International Arbitration, 2009, S. 667; Herdegen (Anm. 8), Völkerrecht, S. 276, Rn. 5; Sandrine Giroud, Enforcement against State Assets and Execution of ICSID Awards in Switzerland: How Swiss Courts Deal with Immunity Defences, in: ASA Bulletin 2012, S. 758 ff. (759); Bankas (Anm. 21), The State Immunity Controversy in International Law, S. 74 – 75. Kritisch zu dieser Unterscheidung in Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit Giorgio Bernini/Albert Jan van den Berg, The Enforcement of Arbitral Awards against a State: the Problem of Immunity from Execution, in: Julian D. M. Lew (Hrsg.), Contemporary Problems, 1986, S. 359 ff. (363); Fox/Webb (Anm. 27), The Law of State Immunity, S. 35 – 38. 45 „Ein actum iure gestionis liegt dann vor, wenn die fragliche Handlung in gleicher Weise von einer Privatperson hätte vorgenommen werden können, dagegen handelt es sich um einen actum iure imperii, wenn die Ausführung und Handlung staatliche Hoheitsmacht erfordert“, Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 100 – 101 (unter Bezugnahme auf BVerfGE 16, 27, 61, 62; 46, 342, 393).

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genommen werden müssen, da das Völkerrecht, jedenfalls in der Regel, Kriterien für diese Abgrenzung nicht enthält.“46 Der oberste schwedische Gerichtshof hat in seinem Beschluss vom 1. Juli 2011 in diesem Zusammenhang ausgeführt: „Die erhöhte Restriktivität hinsichtlich der Immunität gegenüber dem Urteilsrecht hat dazu geführt, dass man nunmehr der Ansicht ist, dass sie lediglich die Immunität für staatliche Hoheitsaktivitäten enthält, d. h. Staatsakte im eigentlichen Sinne. Das kommerzielle oder sonst wie privatrechtliche Handeln eines Staates wird nach der restriktiven Immunitätstheorie von dem Recht auf Immunität vor den Gerichten eines anderen Staates ausgenommen.“47 Entscheidendes Abgrenzungskriterium im Recht der Vereinigten Staaten und Großbritanniens ist das Vorliegen einer wirtschaftlichen Aktivität (commercial activity bzw. commercial transaction).48 Nach § 1605 (a)(2) US FSIA gilt die Berufung auf die Immunitätseinrede für nichthoheitliches, kommerzielles Handeln als unzulässig.49 Der Begriff des kommerziellen Handelns umfasst sowohl regelmäßige wirtschaftliche Tätigkeiten als auch singuläre Wirtschaftstransaktionen.50 Gesetzesimmanent wird explizit hervorgehoben, dass für die Annahme eines kommerziellen Handelns ausschließlich die Art der Tätigkeit und nicht ihr Zweck maßgeblich ist.51 Die Lehre der restriktiven Immunität ist ebenfalls ausdrücklich im britischen State Immunity Act von 1978 kodifiziert.52 Gemäß § 3 (1) UK SIA ist einem Staat oder 46

BVerfG, Beschluss vom 30. 4. 1963, BVerfGE 17, 27, 61, 62. Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, Beschluss des obersten Schwedischen Gerichtshofes vom 1. 7. 2011, Nr. Ö 170 – 10, abrufbar unter: http://www.italaw. com/sites/ default/files/case-documents/ita0767.pdf (inoffizielle deutsche Übersetzung). 48 Siehe hierzu auch die Ausführungen unten V. I. 2. a) aa). 49 § 1605 (a)(2) US FSIA: „A foreign state shall not be immune from the jurisdiction of courts of the United States or of the States in any case, in which the action is based upon a commercial activity carried on in the United States by the foreign state; or upon an act performed in the United States in connection with a commercial activity of the foreign state elsewhere; or upon an act outside the territory of the United States in connection with a commercial activity of the foreign state elsewhere and that act causes a direct effect in the United States.“ 50 Georges R. Delaume, Economic Development and Sovereign Immunity, in: AJIL 1985, S. 319 ff. (339). 51 § 1603 (d) US FSIA: „A ,commercial activity‘ means either a regular course of commercial conduct or a particular commercial transaction or act. The commercial character of an activity shall be determined by reference to the nature of the course of conduct or particular transaction or act, rather than by reference to its purpose.“ Siehe hierzu Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 121; Christoph Schreuer, Das US-Gesetz über die Immunität ausländischer Staaten in der Praxis der Gerichte, in: RIW 1985, S. 173 ff. (175). 52 Vgl. Robert K. Reed, A Comparative Analysis of the British State Immunity Act of 1978, in: Boston College Int. Comp. L. Rev. 1979, S. 175 ff.; Georges R. Delaume, The State Immunity Act of the United Kingdom, in: AJIL 1979, S. 185 ff.; Fox (Anm. 42), ICLQ 1988, S. 1 ff.; F. A. Mann, The State Immunity Act, in: BYIL 1979, S. 43 ff.; Dickinson (Anm. 10), in: Clifford Chance, S. 8 – 12. 47

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einem Staatsunternehmen die Berufung auf die Immunitätseinrede dann verwehrt, wenn diese rein wirtschaftliche Aktivitäten ausüben53, oder es sich um eine vertragliche Verpflichtung handelt, die ganz oder teilweise in Großbritannien zu erfüllen ist54.55 Kennzeichnend dabei ist eine extensive Auslegung des Begriffes der wirtschaftlichen Aktivität. Diese umfasst jede Tätigkeit, die der Staat nicht auf Grundlage hoheitlicher Gewalt ausübt, unabhängig der jeweiligen Rechtsnatur.56 Richtigerweise weist Pierre Lalive jedoch darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen acta iure imperii und acta iure gestionis zwar formal klare Konturen aufweist, in der praktischen Anwendung allerdings als höchst problematisch zu charakterisieren ist.57 Dies folgt zum einem aus dem Umstand, dass trotz der überwiegenden Anerkennung der restriktiven Immunitätslehre einige Staaten bis heute der absoluten Immunitätslehre folgen.58 Zum anderen existieren beachtliche Unterschiede in der Rechtsanwendung in Bezug auf den Geltungsbereich und Umfang der Ausnahmen der Immunitätseinrede.59 Diese Besonderheiten werden im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen.

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§ 3 (1)(a) UK SIA. Siehe hierzu auch die Ausführungen unten, V. 2. a) bb). § 3 (1)(b) UK SIA. 55 § 3 (1) UK SIA: „A State is not immune as respects proceedings relating to (a) a commercial transaction entered into by the State; or (b) an obligation of the State which by virtue of a contract (whether a commercial transaction or not) falls to be performed wholly or partly in the United Kingdom.“ 56 Vgl. hierzu § 3 (3) UK SIA. 57 Lalive (Anm. 42), in: Dinstein, S. 369: „On connaît d’autre part la distinction célèbre, assez ancienne, entre les actes accomplis par l’Etat jure imperii et les actes jure giostionis. (…) Il est inutile d’insister sur cette distinction classique, qui a fait couler des flots d’encre et qui est admise dans de nombreux pays. Très claire en théorie, elle suscite bien souvent des difficultés lorsqu’il s’agit de l’appliquer dans la pratique.“ (Hervorhebung hinzugefügt). 58 Insbesondere Hong Kong, siehe hierzu FG Hemisphere Associates v. Democratic Republic of Congo, Court of Final Appeal of the Hong Kong Special Administrative Region, Final Appeal Nos. 5, 6 & 7 of 2010 (Civil), [on Appeal from CACV Nos. 373 of 2008 and 43 of 2009] abrufbar unter: http://arbitrationlaw.com/files/free_pdfs/congo_et_al_v_fg_hemisphe re_associates_llc_facv_no_5 – 7_of_2010.pdf; ausführliche Darstellung der internationalen Anwendung der absoluten Immunität bei Brownlie (Anm. 20), Principles of Public International Law, S. 489 – 491; Hobér (Anm. 43), International Commercial Arbitration in Sweden, S. 11 – 16. 59 Zum divergierenden Geltungsbereich der Immunitätseinrede siehe insbesondere Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, Beschluss des obersten Schwedischen Gerichtshofes vom 1. 7. 2011, Nr. Ö 170 – 10, abrufbar unter: http://www.italaw.com/sites/default/files/casedocuments/ita0767.pdf (inoffizielle deutsche Übersetzung); OLG Köln, Entscheidung vom 6. 10. 2003, in: SchiedsVZ 2004, S. 99; Kammergericht Berlin, Entscheidung vom 3. 12. 2003, in: SchiedsVZ 2004, S. 102. 54

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V. Die Immunitätseinrede in der praktischen Anwendung Allgemein gilt, dass der Grundsatz der Staatenimmunität weder Staaten noch Staatsunternehmen den Abschluss von Schiedsvereinbarungen rechtlich untersagt. Vielmehr ist es ein fest etablierter Grundsatz des internationalen Rechts, dass der Abschluss von Schiedsvereinbarungen auch bzw. erst recht von Staaten und Staatsunternehmen einzuhalten ist. Dieser Umstand ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass diese regelmäßig versuchen, sich der Erfüllung der von ihnen übernommenen Verpflichtungen durch Erhebung der Immunitätseinrede zu entziehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Problematik der Staatenimmunität auf zwei divergierenden Ebenen ihre rechtliche Wirkung entfalten kann. Zum einen auf der Ebene der Zuständigkeit des Schiedsgerichtes, zum anderen auf der Ebene der Anerkennung und Vollstreckung von Schiedssprüchen.60 1. Immunität im Erkenntnisverfahren Die Berufung auf die Einrede der Staatenimmunität war Gegenstand zahlreicher Gerichts- und Schiedsgerichtsverfahren.61 Im Erkenntnisverfahren erwächst die rechtliche Frage, ob die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts hinsichtlich etwaiger Klagen gegen einen anderen ausländischen Staat besteht oder ob diese aufgrund der Immunitätseinrede ausgeschlossen ist.62 Folglich geht es im Erkenntnisverfahren um die Beantwortung der Fragestellung, ob ausländische Staaten von der Rechtsprechungsgewalt nationaler Gerichte befreit sind.63 Konkret in Bezug auf Schiedsverfahren tendieren Staaten dazu, die Jurisdiktion des Schiedsgerichtes anzugreifen64, um sich somit bereits im Vorfeld des judiziellen Rechts ihrer rechtlichen Verpflichtungen zu entziehen.65

60 Jonathan Hill, International Commercial Disputes, 2010, Rn. 2 – 13; Herdegen (Anm. 8), Völkerrecht, S. 275 – 281, Rn. 4 – 9. 61 Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 745. 62 Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 102. 63 Ibid. 64 Vgl. insbesondere Solel Boneh International v. The Republic of Uganda, ICC-Schiedsspruch Nr. 2321/1974, in: YCA 1976, S. 133 ff.; Société de Grands Travaux de Marseille (S.G.T.M.) v. East Pakistan Industrial Development Corporation (E.P.I.D.C.), YCA 1980, S. 179 ff.; Southern Pacific Properties (Middle East) Ltd. v. The Arab Republic of Egypt (The Egyptian General Company for Tourism and Hotels, EGOTH), ICC-Schiedsspruch Nr. 3493/ 1983, in: ILM 1983, S. 752 ff.; Westland Helicopters Ltd. v. Arab Organization for Industrialization, Clunet 1985, S. 232 ff. 65 Allgemein zur essentiellen Bedeutung der Feststellung der Zuständigkeit der Schiedsgerichtes John Y. Gotanda, An Efficient Method of Determining Jurisdictions in International Arbitrations, in: Columbia J. Transnat’l. L. 2001, S. 11 ff. (15); Alan Redfern/Martin Hunter, Law and Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl., 2004, S. 295 ff.

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a) Haltung der internationalen Rechtsprechung Entscheidend in diesem Zusammenhang ist jedoch die internationale Anerkennung, dass der Abschluss einer Schiedsvereinbarung von Seiten des staatlichen Vertragspartners mindestens als konkludenter Verzicht seiner Immunität zu qualifizieren ist.66 Ausdrücklich bestätigt wird diese Auffassung aktuell in Blue Ridge Investments v. Republic of Argentina.67 Unter Anwendung des US-amerikanischen Foreign Sovereign Immunities Act hat das Gericht (Second Circuit of the Southern District of New York) festgestellt, dass zum einen die gesetzesimmanenten Ausnahmen von der Immunitätseinrede vorliegen68 und zum anderen, dass die Ratifizierung der ICSID-Konvention als stillschweigender Verzicht auf die Möglichkeit der Erhebung der Einrede der Immunität zu bewerten ist.69 Explizit wurde hierbei hervorgehoben, dass die allgemeine Zustimmung zur Durchführung von Schiedsverfahren auf Grundlage von ICSID zeitlich unbefristet gilt und zwangsläufig die sachliche Zuständigkeit von Schiedsgerichten begründet.70 Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung internationaler Schiedsgerichte.71 b) Nationale Rechtsgrundlagen aa) Rechtslage in den Vereinigten Staaten Die Haltung der internationalen Rechtsprechung entspricht überwiegend der Rechtslage nationaler Rechtsordnungen. Im US-amerikanischen Recht bestimmt § 1605 (a)(6) US FSIA, dass einem ausländischen Staat die Berufung auf die Immunitätseinrede vor Gerichten der Vereinigten Staaten oder eines Bundesstaates dann verwehrt ist, wenn die Durchsetzung einer von dem ausländischen Staat mit oder zugunsten einer privaten Partei getroffenen Vereinbarung beantragt wird, nach der die 66 Langkeit (Anm. 20), Staatenimmunität und Schiedsgerichtsbarkeit, S. 63; siehe auch National Iranian Oil Co v. Israel, in: ASA Bulletin 1996, S. 319 ff.; Boulois v. UNESCO, Rev. Arb. 1997, S. 575 ff. Zurückhaltend bezüglich der Reichweite eines solchen Verzichts, insbesondere hinsichtlich der Erstreckung auf Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes im Schiedsverfahren, Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 747. 67 Blue Ridge Invs., LLC v. Republic of Argentina, Nr. 10 Civ. 153, 2012 U.S. Dist. Lexis 142016 (S.D.N.Y. Sept. 30, 2012). 68 §§ 1605 (a)(1), 1605 (a)(6) US FSIA. 69 David Zaslowsky/Grant Hanessian, in: Baker & McKenzie (Hrsg.), Blue Ridge Invs., LLC v. Republic of Argentina, abrufbar unter: http://www.lexology.com/library/detail.as px?g=dd0b1dea-8195 – 4c28-b843-f6d8bf027ad5. 70 Ibid. 71 Siehe Continental Casualty Company v. The Argentine Republic, ICSID Case No. ARB/ 03/9, Urteil vom 5. 9. 2008, abrufbar unter: http://italaw.com/documents/ContinentalCasualtyA ward.pdf; Funnekotter v. Republic of Zimbabwe, ICSID Case No. ARB/05/6, Urteil vom 22. 4. 2009, abrufbar unter: http://www.italaw.com/sites/default/files/case-documents/ita0349.pdf; Siag v. The Arab Republic of Egypt, ICSID Case ARB/05/15, Urteil vom 1. 6. 2009, abrufbar unter: http://www.italaw.com/sites/default/files/case-documents/ita0786_0.pdf.

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Parteien sämtliche Streitigkeiten, die hinsichtlich eines konkret bestimmten vertraglichen oder nicht vertraglichen Rechtsverhältnisses entstanden sind oder entstehen werden, einem Schiedsverfahren vorlegen.72 Als gesetzesimmanente Beschränkung wird jedoch vorausgesetzt, dass das Schiedsverfahren in den Vereinigten Staaten stattfindet, die Schiedsvereinbarung oder der Schiedsspruch von einem von den Vereinigten Staaten ratifizierten internationalen Abkommen erfasst wird und der Streitgegenstand in den sachlichen Anwendungsbereich der nationalen Rechtsprechungsgewalt fällt.73 Fraglich ist hierbei, ob die Anwendbarkeit dieser Norm das Vorliegen einer wesentlichen Rechtsbindung (substantial connection) zu den Vereinigten Staaten erfordert.74 Die ältere Rechtsprechung hat übereinstimmend einen Verzicht der Immunitätseinrede dann abgelehnt, wenn keine substantielle Bindungsbeziehung zum Recht der Vereinigten Staaten gegeben ist.75 Diese Auffassung wird von der modernen Rechtsprechung bestätigt. In Agrocomplect AD v. Republic of Iraq76 hat das Gericht (DC Circuit) seine sachliche Zuständigkeit über die Entscheidung eines vermeintlichen Vertragsbruches gegen die Republik Irak auf Grundlage von § 1605 (a)(6) US FSIA verneint, da neben der Existenz einer Schiedsvereinbarung der Vertrag die ausschließliche Zuständigkeit der irakischen Gerichte vorsah. Darüber hinaus hat das Gericht hervorgehoben, dass der Irak kein Vertragsstaat eines internationalen Abkommens sei, welches die Anerkennung und Vollstreckung von Schiedsurteilen vorsieht. In Suraleb v. Minsk Tractor Works, Republic of Belarus77 hat der District Court for the Northern District of Illinois zwar das Recht des Klägers, einen in seinen Gunsten ergangenen Schiedsspruch durch die Pfändung von Immobilienwerten gegen ein 72 § 1605 (a)(6) US FSIA: „(…) in which the action is brought, either to enforce an agreement made by the foreign state with or for the benefit of a private party to submit to arbitration all or any differences which have arisen or which may arise between the parties with respect to a defined legal relationship, whether contractual or not, concerning a subject matter capable of settlement by arbitration under the laws of the United States, or to confirm an award made pursuant to such an agreement to arbitrate (…).“ Deutsche Übersetzung übernommen von Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 121. Siehe hierzu auch Dahm/Delbrück/Wolfrum (Anm. 29), Völkerrecht, S. 464 ff.; Langkeit (Anm. 20), Staatenimmunität und Schiedsgerichtsbarkeit, S. 131 ff. 73 § 1605 (a)(6) (A-C) US FSIA. 74 Die Frage des Erfordernisses eines jurisdiktionellen Nexus (Konnexität) zwischen Streitgegenstand, Ort des Schiedsverfahren oder dem anwendbaren Recht und dem zuständigen Gerichtsstandes wird ferner ausführlich unter dem Gliederungspunkt ,Immunität im Vollstreckungsverfahren‘ behandelt. 75 Verlinden BV v. Central Bank of Nigeria, 461 U.S. 480 (103 S. Ct. 1962, 76 L.Ed.2d 81); Ohntrup v. Firearms Center, Inc., United States Court of Appeals, Third Circuit. – 760 F.2d 259, 3/26/85. 76 Agrocomplect AD v. Republic of Iraq, 247 F.R.D. 213 (D. C. Cir. 2008). 77 Suraleb, Inc. v. Production Ass’n „Minsk Tractor Works“, Republic of Belarus, No. 06C3496, 2008 WL 294839, (N. D. Ill. Jan. 31, 2008).

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weißrussisches Staatsunternehmen zu vollstrecken, grundsätzlich bejaht. Dennoch wurde die Vollstreckung im Ergebnis untersagt, da Suraleb die relevanten Immobilienwerte im Zuständigkeitsbereich des Gerichts nicht konkret spezifizieren konnte. Anders hingegen die Schlussfolgerung des Gerichts in Libyan American Oil Company v. Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya, wonach die sachliche Zuständigkeit auch dann bejaht wird, wenn die Vertragsparteien es den Schiedsrichtern überlassen den Schiedsort zu bestimmen.78 bb) Rechtslage in Großbritannien79 Als weniger restriktiv ist die entsprechende Vorschrift im britischen State Immunity Act zu charakterisieren. Grundsätzlich kann der Abschluss eines Schiedsvertrages bzw. einer Gerichtsstandsvereinbarung die Grundlage für die Unterwerfung unter die britische Gerichtsbarkeit im Sinne von § 2 (1) UK SIA bilden.80 Konkret in Bezug auf Schiedsvereinbarungen bestimmt § 9 (1) UK SIA, dass ein ausländischer Staat, der ausdrücklich einem Schiedsverfahren zugestimmt hat, vor den britischen Gerichten keine Immunitätseinrede erheben kann, die unmittelbar auf das schiedsgerichtliche Verfahren und den Schiedsspruch abzielt.81 Besonders hervorzuheben ist für die rechtliche Situation in Großbritannien, dass unabhängig davon, in welchem Land das Schiedsverfahren begonnen wird, die Erhebung der Immunitätseinrede vor britischen Gerichten generell ausgeschlossen ist.82 In Abgrenzung zum US-amerikanischen Recht gilt dies auch dann, wenn keine rechtliche Beziehung zwischen dem Schiedsverfahren und Großbritannien besteht.83 78

Libyan American Oil Company v. Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya, in: ILM 1981, S. 1 ff. Ausdrücklich hervorgehoben von Redfern/Hunter (Anm. 44), Redfern and Hunter on International Arbitration, S. 668; Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 747. Allgemein zu den libyschen Nationalisierungsfällen Robert B. von Mehren/Nicholas Kourides, International Arbitrations Between States and Foreign Private Parties: The Libyan Nationalization Cases, in: AJIL 1981, S. 477 ff. 79 Grundlegend zur Rechtslage in Großbritannien Trendtex Trading v. Central Bank of Nigeria, in: QB 1977, S. 529 ff. 80 Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 123. 81 § 9 (1) UK SIA: „Where a State has agreed in writing to submit a dispute which has arisen, or may arise, to arbitration, the State is not immune as respects proceedings in the courts of the United Kingdom which relate to the arbitration.“ Deutsche Übersetzung übernommen von Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 124. Ausführlich hierzu Fox (Anm. 37), in: Lew/Mistelis, S. 13 ff. (24 ff.). 82 Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 748. 83 Mann (Anm. 52), BYIL 1979, S. 43 ff. (58). Kritisch gegenüber dieser weiten Auslegung Richard Oparil, Waiver of Sovereign Immunity in the United States and Great Britain by an Arbitration Agreement, in: J. Int. Arb. 1986, S. 61 ff. (72). Oparil fordert in diesem Zusammenhang „at least some sort of connection between England and the arbitration, e. g., the place of arbitration, chosen law or some other factor“. Im Sinne einer restriktiven Auslegung auch

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cc) Rechtslage in Frankreich und der Schweiz Eine mit dem britischen Rechtssystem vergleichbare Situation beinhaltet das französische Recht. Charakteristisch dabei ist eine strenge Unterscheidung zwischen der Immunität im Erkenntnisverfahren und solcher im Vollstreckungsverfahren.84 Nach ganz überwiegender Ansicht in Rechtsprechung und Literatur ist der Abschluss einer Schiedsvereinbarung als konkludenter Verzicht der staatlichen Immunität im Erkenntnisverfahren zu werten.85 Identisch mit dem britischen Recht wird keine Sonderbeziehung zwischen Schiedsverfahren und französischem Recht verlangt. Einschränkend ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Verzicht auf die staatliche Immunität nur für Verfahren auf unmittelbarer Grundlage der Schiedsvereinbarung angenommen wird.86 Als investitionsschutzrechtlich problematisch ist die Rechtslage in der Schweiz zu qualifizieren. Kennzeichnend dabei ist eine Praxis der strengen Anwendung und Respektierung des Grundsatzes der Staatenimmunität.87 Der Schweizer Oberste Bundesgerichtshof versteht das Prinzip der Staatenimmunität als einheitlichen Grundsatz.88 Als Konsequenz findet im Gegensatz zum französischen Recht lediglich eine geringfügige Unterscheidung zwischen der Immunität im Erkenntnisund Vollstreckungsverfahren statt.89

Fox (Anm. 42), ICLQ 1988, S. 1 ff. (14). Siehe hierzu auch die Ausführungen von Lew/Mistelis/Kröll, die im Ergebnis zutreffend einen möglichen rechtlichen Mittelweg beschreiben, Comparative International Commercial Arbitration, S. 748: „In the majority of cases a certain connection will be required by the ordinary rules on jurisdiction in England to establish personal jurisdiction over the state party since the State Immunity Act only deals with the issue of immunity. However, there may be cases where no such connection exists and the state which agreed to arbitrate in a third country may under a wide interpretation of section 9 nevertheless be considered to have waived its sovereign immunity before the English courts.“ 84 Georges R. Delaume, Le Centre International pour le Règlement des Differends Relatifs aux Investisements, Clunet 1982, S. 775 ff. (809 ff.). So hat die französische Rechtsprechung den Verzicht auf staatliche Immunität auch in solchen Fällen bejaht, in denen das Schiedsgerichtsverfahren in der Schweiz stattgefunden hatte, Société Européene d’Etudes et d’Enterprises v. Yugoslavia, Cour de Cassation, Entscheidung vom 18. 11. 1986, in: ILM 1987, S. 377 – 378; Jean-Louis Delvolvé, Anmerkung zu Tribunal de Grande Instance de Paris, Entscheidung vom 8. 7. 1970, und Cour d’Appel de Paris, Entscheidung vom 29. 1. 1975, in: Rev. Arb. 1975, S. 334 ff. (337 ff.); siehe auch Clunet 1971, S. 131, 132 ff.; Clunet 1987, S. 120 ff. (122 ff.) (zitiert nach Theodorou [Anm. 14], Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 125, Fn. 126, 127). 85 Ibid. 86 Ibid. 87 Jolanta Kren Kostkiewicz, Staatimmunität im Erkenntnis- und im Vollstreckungsverfahren nach schweizerischem Recht, 1998. 88 Chamlongrasdr (Anm. 26), Foreign State Immunity and Arbitration, S. 210 ff.; Giroud (Anm. 44), ASA Bulletin 2012, S. 758 ff. (760). 89 Ibid.

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Während die Rechtsprechung90 des Schweizer Bundesgerichtshofes die Frage, ob der Abschluss einer Schiedsvereinbarung die Grundlage für die Annahme eines Verzichts der Staatenimmunität darstellt, bewusst unbeantwortet lässt, nimmt die herrschende Literatur einen solchen Immunitätsverzicht im Erkenntnisverfahren an91.92 Bereits an dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die Wirksamkeit des Immunitätsverzichts zwingend von der Existenz einer Binnenbeziehung zum Schweizer Recht abhängt.93 c) Die Problematik des Exequaturverfahrens Besondere Relevanz besitzt die rechtliche Einordnung der Vollstreckbarerklärung von Schiedssprüchen. Die internationale Praxis zeigt, dass Staaten regelmäßig versuchen, bereits die Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche mit dem Argument anzugreifen, dass diese Maßnahme originärer Bestandteil der Vollstreckung ist, und somit nicht von dem Immunitätsverzicht im Erkenntnisverfahren gedeckt ist. Zu berücksichtigen hierbei ist, dass im Stadium der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche zwingend zwischen der Vollstreckbarerklärung (Exequaturverfahren) und dem anschließenden Zugriff auf das Schuldnervermögen (Zwangsvollstreckungsverfahren) zu differenzieren ist.94 Allgemein ist hervorzuheben, dass unter Berücksichtigung relevanter internationaler Konventionen und nationaler Rechtslagen die Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche dem Immunitätsverzicht im Erkenntnisverfahren und nicht im Vollstreckungsverfahren unterliegt.95 90 Insbesondere Schweizer Bundesgericht, Entscheidung vom 19. 6. 1980, BGE 106 (1980), Ia, 142, Libyan American Oil Company v. Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya, abgedruckt in: Rev. Arb. 1983, S. 113 ff. 91 Statt aller Bernini/van den Berg (Anm. 44), in: Lew, Contemporary Problems, S. 359 ff. (364). 92 Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 127. 93 Siehe hierzu die Ausführungen zum Schweizer Recht bzgl. der Immunität im Vollstreckungsverfahren. Vgl. allgemein Chamlongrasdr (Anm. 26), Foreign State Immunity and Arbitration, S. 108 ff.; Bankas (Anm. 21), The State Immunity Controversy in International Law, S. 210 – 215. 94 Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 115. 95 Grundlegend aus der internationalen Rechtsprechung ist auf das Urteil des französischen Cour de Cassation in SOABI v. Senegal hinzuweisen. Hierbei hat der Cour de Cassation das Urteil des Paris Court of Appeal dahingehend aufgehoben, dass es explizit festgestellt hat, dass Staaten, die einem Schiedsverfahren zugestimmt haben damit konkludent auch ihren Immunitätsverzicht für die Vollstreckbarerklärung von Schiedssprüchen erklärt haben, SOABI v. Senegal, in: ILM 1991, S. 1167 ff. (1169): „A foreign State which has consented to arbitration has thereby agreed that the award may be rendered enforceable which, as such, does not constitute a measure of execution that might raise issues pertaining to the immunity from execution of the State concerned.“ Ausdrücklich ausgeführt in UNCTAD (Hrsg.), Dispute

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Deutlich wird dies insbesondere im Hinblick auf die ICSID-Konvention und die klare Unterscheidung in Artikel 54 und 55 zwischen der Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche und eigentlichen Maßnahmen der Zwangsvollstreckung.96 Nach Artikel 54 ICSID-Konvention gilt die Existenz einer Schiedsvereinbarung als Immunitätsverzicht in Bezug auf das Exequaturverfahren. Konkret bestimmt Artikel 54 Abs. 1 Satz 1 ICSID-Konvention: „Jeder Vertragsstaat erkennt jeden im Rahmen dieses Übereinkommens erlassenen Schiedsspruch als bindend an und sorgt für die Vollstreckung der darin auferlegten finanziellen Verpflichtungen in seinem Hoheitsgebiet, als handle es sich um ein rechtskräftiges Urteil eines seiner innerstaatlichen Gerichte.“ Staaten können sich nach Artikel 55 ICSID-Konvention nur im Vollstreckungsverfahren auf ihre Immunität berufen.97 Im US-amerikanischen Recht folgt dies aus der dogmatischen Unterscheidung zwischen allgemeinen Ausnahmen der Staatenimmunität in § 1605 US FSIA und besonderen Ausnahmen der Staatenimmunität im Vollstreckungsverfahren in § 1610 US FSIA. Während Vollstreckungsmaßnahmen nach § 1610 US FSIA nur in bestimmten Situationen und unter strengen Voraussetzungen zulässig sind, wird die Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche von § 1605 (a)(6) US FSIA reguliert, wonach die Existenz einer Schiedsvereinbarung die Einrede der Staatenimmunität ausschließt.98 Problematisch für den Investitionsschutz ist hierbei jedoch, dass Zwangsvollstreckungsmaßnahmen erst dann vorgenommen werden können, wenn das Schiedsurteil von US-amerikanischen Gerichten offiziell anerkannt ist.99 Diese sich daraus ergebende zeitliche Lücke zwischen Schiedsspruch und Beginn der Vollstreckung erSettlement, International Centre for Settlement of Investment Disputes, 2.9 Binding Force and Enforcement, 2003, S. 20 – 21. 96 Vgl. Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 750; Redfern/Hunter (Anm. 44), Redfern and Hunter on International Arbitration, S. 668; UNCTAD (Hrsg.), Dispute Settlement, International Centre for Settlement of Investment Disputes, 2.9 Binding Force and Enforcement, S. 17 – 18; Christoph Schreuer, The ICSID Convention: A Commentary, 2. Aufl., 2009, S. 1115 ff.; Lucy Reed/Jan Paulsson/Nigel Blackaby, Guide to ICSID Arbitration, 2. Aufl., 2011, S. 182 – 190, insb. S. 186 ff. 97 Art. 55 ICSID-Konvention: „Artikel 54 darf nicht so ausgelegt werden, als schaffe er eine Ausnahme von dem in einem Vertragsstaat geltenden Recht über die Immunität dieses Staates oder eines fremden Staates von der Vollstreckung.“ 98 Bernini/van den Berg (Anm. 44), in: Lew, Contemporary Problems, S. 359; Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 750; Annacker/ Greig (Anm. 30), ICC Bulletin 2004, S. 70 ff. (75). 99 Ausdrücklich hervorgehoben in Libancell S.A.L. v. Republic of Lebanon, 2006 U.S. Dist. LEXIS 29442 (S.D.N.Y. May 16, 2006). Siehe hierzu Daina Yanos/Cassandra Marshall/ Alexander Bray, Getting the Money: When can a Sovereign’s Assets be attached before a judgment has been obtained on a successful arbitral award, in: TMD 12/2006, S. 1 ff.; Federal Judge, Lebanon is Immune from Prejudgement Attachment, in: Mealey’s Int’l Arb. Rep. 2006, S. 1 ff. Vgl. weiterhin aus der amerikanischen Rechtsprechung Concord Reinsurance Co., Ltd. v. Caja Nacional de Ahorro y Seguro, 1994 U.S. Dist. LEXIS 2964, 1994 WL 86401 (S.D.N.Y. 1994).

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möglicht der staatlichen Partei etwaige vollstreckungsfähige Vermögenswerte außer Landes zu schaffen.100 Dieses Risiko ist insbesondere bei dem Vorliegen sensibler politischer Sachverhalte gegeben. Unter juristischen Gesichtspunkten ist anzumerken, dass die Rechtspraxis der Vereinigten Staaten sowohl dem eindeutigen Wortlaut von Artikel 54, 55 ICSID-Konvention als auch dem Regelungsinhalt der New Yorker Konvention widerspricht.101 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die formale Rechtslage in Bezug auf die Anerkennung von ausländischen Schiedsurteilen in der internationalen Rechtsprechung und im kodifizierten Recht nationaler Staaten eindeutig pro Immunitätsverzicht und folglich pro privatem Investor auszulegen ist. Einschränkend ist allerdings zu beachten, dass die Rechtsanwendung in den Vereinigten Staaten als kontraproduktiv für den internationalen Investitionsschutz zu qualifizieren ist. Zur Umgehung dieser Problematik kommt der kautelarjuristischen Vertragsgestaltung eine Schlüsselrolle zu. 2. Immunität im Vollstreckungsverfahren Identisch mit der rechtlichen Situation im Erkenntnisverfahren gilt auch im Vollstreckungsverfahren der Grundsatz einer funktionalen Beschränkung der Immunität.102 Entscheidend zu berücksichtigen ist dabei, dass die ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung im Erkenntnisverfahren grundsätzlich keine Auswirkungen auf die staatliche Immunität im Vollstreckungsverfahren hat.103 Dies gründet sich zum einen darin, dass Maßnahmen der Vollstreckung allgemein als stärkerer Eingriff in Rechte anderer Staaten gewertet werden, als die Einwilligung in die Zuständigkeit nationaler Gerichte oder internationaler Schiedsgerichte.104/105 Darüber 100 Allgemein zur Zahlungsunwilligkeit von Staaten in Bezug auf die Erfüllung von für diese negativ entschiedenen Schiedsurteilen Michael Bobelian, A Win in Name only: Enforcing Arbitration Awards Against Foreign Entities Is a Long-Term Endeavor, in: N.Y.L.J. 2005, S. 5. 101 Yanos/Marshall/Bray (Anm. 99), TMD 12/2006, S. 1. 102 Herdegen (Anm. 8), Völkerrecht, S. 280, Rn. 8, unter Bezugnahme auf BVerfGE 64, 1, 23 ff. 103 Vgl. hierzu die Ausführungen in BVerfGE 46, 342: „Die Zwangsvollstreckung durch den Gerichtsstaat aus einem gerichtlichen Vollstreckungstitel gegen einen fremden Staat, der über ein nicht-hoheitliches Verhalten (acta iure gestionis) dieses Staates ergangen ist, in Gegenstände dieses Staates, die sich im Hoheitsbereich des Gerichtsstaats befinden oder dort belegen sind, ist, soweit diese Gegenstände im Zeitpunkt des Beginns der Vollstreckungsmaßnahme hoheitlichen Zwecken des fremden Staates dienen, ohne Zustimmung des fremden Staates unzulässig.“ 104 BVerfGE 46, 342 (367), vgl. auch Leitsatz 5: „Daß das allgemeine Völkergewohnheitsrecht für das Erkenntnisverfahren die Mindestverpflichtung enthält, in bezug auf hoheitliches Verhalten (acta iure imperii) Immunität zu gewähren, bedeutet nicht schon, daß es auch für die Zwangsvollstreckung nur begrenzte Immunität geböte.“; siehe auch Karl-Heinz Böckstiegel, Arbitration and State Enterprises, 1984, S. 50; Bernini/van den Berg (Anm. 44), in: Lew, Contemporary Problems, S. 359 ff. (360 ff.); James Crawford, Execution of Judgements and Foreign Sovereign Immunity, in: AJIL 1981, S. 820 ff. (854, 860).

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hinaus wird von der herrschenden Meinung angenommen, dass der Abschluss einer Schiedsvereinbarung nicht als automatischer Verzicht der staatlichen Immunität im Vollstreckungsverfahren zu qualifizieren ist.106 Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Kontext jedoch die Entscheidung des französischen Cour de Cassation in Creighton v. Qatar.107 Kennzeichnend für die105

In diesem Zusammenhang soll auf folgenden Sonderprobleme im Vollstreckungsverfahren hingewiesen werden: 1. Immunitätsschutz von Botschaften: essentiell ist, dass etwaige Vollstreckungsmaßnahmen die Funktionsfähigkeit der diplomatischen Mission und die Deckung der Botschaftsaufgaben nicht gefährden, Herdegen (Anm. 8), Völkerrecht, S. 280, Rn. 8; Christoph Schreuer, State Immunity: Some Recent Developments, 1988, S. 153 ff.; BVerfGE 46, 342, 394; Alcom Ltd. v. Republic of Columbia, AC 1994, S. 580 ff.; Österreichischer Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 30. 4. 1986, in: ILR 1988, S. 489 ff.; Benamar v. Embassy of the Democratic and Popular Republic of Algeria, Corte di cassazione, 4 and 25 May 1989, AJIL 1990, S. 573 ff.; LETCO v. Liberia, Award, 31 March 1986, 2 ICSID Reports, S. 343 ff.; zudem besteht ein besonderer Schutz in nationalen Rechtsordnungen § 1611 (b)(2) US FSIA, § 16 (1)(2) UK SIA; § 11 (3) Canadian State Immunity Act. 2. Staatsunternehmen: diesen ist die Berufung auf staatliche Immunität nur bei Ausübung originär hoheitlichen Funktionen gestattet, Herdegen, Völkerrecht, 12. Aufl., S. 280, Rn. 8; zur Vollstreckbarkeit von Bankkonten von Staatsunternehmen BVerfG, Beschluss v. 12 April 1983, ILM 1983, S. 1279, 1305. 3. Militärisches Eigentum: dieses wird grundsätzlich von einer absoluten Immunität gesichert, Schreuer (Anm. 105), State Immunity, S. 146, und besitzt zudem besonderen Schutz in nationalen Rechtsordnungen § 1611 (b)(2) US FSIA, § 11 (3) Canadian State Immunity Act, kursorisch § 16 (2) UK SIA. Vgl. auch Chamlongrasdr (Anm. 26), Foreign State Immunity and Arbitration, S. 302 – 303. 4. Bankkonten: problematisch ist in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen hoheitlichen und kommerziellen Vermögen. Vermögen, welches zur Wahrnehmung genuin hoheitlicher Funktionen bestimmt ist, ist für eine etwaige Vollstreckung unzugänglich, insbesondere bei Botschaftskonten, Schreuer (Anm. 105), State Immunity: Some Recent Developments, S. 149 ff.; BVerfGE 46, 342 (364). In Bezug auf Konten und Eigentum von Nationalbanken besteht in Common Law-Staaten die gesetzesimannente Möglichkeit für dieses ausdrücklich den Verzicht der Immunität zu erklären, § 1611 (b)(1) US FSIA, § 14 (4) UK SIA, § 11 (4)(5) Canadian State Immunity Act, § 35 (1) Australian State Immunity Act. Explizit in Bezug auf das Recht der Vereinigten Staaten und Großbritanniens Chamlongrasdr (Anm. 26), Foreign State Immunity and Arbitration, S. 303 ff. Vgl. auch Bankas (Anm. 21), The State Immunity Controversy in International Law, S. 234 ff. 106 Redfern/Hunter (Anm. 44), Redfern and Hunter on International Arbitration, S. 668; a. A. Langkeit (Anm. 20), Staatenimmunität und Schiedsgerichtsbarkeit, S. 220 ff. Kritisch auch Bernini/van den Berg (Anm. 44), in: Lew, Contemporary Problems, S. 359 ff, (363). 107 Creighton Ltd (Cayman Islands) v Minister of Finance and Minister of Internal Affairs and Agriculture of the Government of the State of Qatar, Ybk. Comm. Arb. 2000, S. 458 ff.: Cour de Cassation, Entscheidung v. 6 Juli 2000, Rev. Arb. 2001, S. 114. Ausführlich hierzu auch Redfern/Hunter (Anm. 44), Redfern and Hunter on International Arbitration, S. 669; Jeremy Ostrander, The Last Bastion of Sovereign Immunity: A Comparative Look at Immunity from Execution of Judgements, in: Berkeley J. Int’l Law. 2004, S. 541 ff. (552); Lew/ Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 752; Nathalie Meyer-Fabre, Enforcement of Arbitral Awards against Sovereign States, a New Milestone: Signing ICC Arbitration Clause Entails Waiver of Immunity from Execution Held French Court of Cassation, in: Creighton v. Qatar, July 6, 2000, in: MEALEY’S Intl. Arb. Rep. 2000, S. 13.

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ses Urteil ist die Annahme einer doppelten Verzichtserklärung der staatlichen Immunität auf Grundlage des Vorliegens einer Schiedsvereinbarung. Kausal für die Urteilsfindung war die Vereinbarung der Vertragsparteien das Schiedsgerichtsverfahren unter Anwendung der Schiedsordnung der Internationalen Handelskammer in Paris (ICC) durchzuführen. Der Cour de Cassation hat seine Entscheidung maßgeblich auf Artikel 24 ICC-Schiedsgerichtsordnung in der Fassung von 1998 (aktuell: Artikel 34 Abs. 6108) gegründet, wonach die Vertragsparteien dazu verpflichtet sind, jeden Schiedsspruch unverzüglich zu erfüllen und auf ihr Recht zur Geltendmachung jedweder Rechtsbehelfe zu verzichten. Dieser Regelungsinhalt wurde als ausreichend erachtet, um einen konkludenten Verzicht der Staatenimmunität auch im Vollstreckungsverfahren anzunehmen. Ob und inwieweit diese Rechtsauffassung des Cour de Cassation zu substantiellen Änderungen der internationalen Rechtsprechung und nationalen Rechtslagen führen wird, bleibt weiterhin abzuwarten. Festzustellen ist zumindest, dass eine zeitnahe Abkehr von der international vorherrschenden restriktiven Haltung nicht zu erwarten ist. a) Nationale Rechtsgrundlagen aa) Rechtslage in den Vereinigten Staaten In Bezug auf die Immunität im Vollstreckungsverfahren ist zunächst festzuhalten, dass das amerikanische Recht eine restriktive Anwendung des Immunitätsverzichts gesetzlich statuiert. Nach § 1609 US FSIA ist Eigentum ausländischer Staaten grundsätzlich durch die staatliche Immunität geschützt.109 Als gesetzesimmanente Ausnahme bestimmt jedoch § 1610 (a)(2) US FSIA, dass nicht-hoheitlich genutztes staatliches Vermögen dem Zwangsvollstreckungsverfahren zugänglich ist.110 Zentrales Kriterium für die Vollstreckung ist somit der Verwendungszweck der relevanten staatlichen Vermögenswerte. Explizit hervorzuheben ist, dass diese nur dann zulässig ist, wenn es sich um nicht-hoheitliche, kommerzielle Vermögensgegenstände han-

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Artikel 34 Abs. 6 ICC-Schiedsgerichtsordnung (2012): „Jeder Schiedsspruch ist für die Parteien verbindlich. Durch Inanspruchnahme der Schiedsgerichtsbarkeit gemäß der Schiedsgerichtsordnung verpflichten sich die Parteien, jeden Schiedsspruch unverzüglich zu erfüllen; soweit rechtlich zulässig, gilt diese Inanspruchnahme als Verzicht der Parteien auf ihr Recht zur Geltendmachung jedweder Rechtsbehelfe.“ 109 § 1609 US FSIA: „Subject to existing international agreements to which the United States is a party at the time of enactment of this Act the property in the United States of a foreign state shall be immune from attachment arrest and execution except as provided in sections 1610 and 1611 of this chapter.“ 110 § 1610 (a)(2) US FSIA: „The property in the United States of a foreign state, as defined in section 1603 (a) of this chapter, used for a commercial activity in the United States, shall not be immune from attachment in aid of execution, or from execution, upon a judgment entered by a court of the United States or of a State after the effective date of this Act, if (…) (2) the property is or was used for the commercial activity upon which the claim is based (…).“

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delt.111 Dieser Voraussetzung wird im amerikanischen Recht eine überragende Bedeutung beigemessen.112 Entscheidend ist, dass ausländische Staaten für kommerzielles Eigentum wirksam auf ihre Vollstreckungsimmunität durch eine entsprechend formulierte Schiedsvereinbarung verzichten können.113 Ferner ist die Vollstreckung in ausländische Vermögenswerte unter Anwendung US-amerikanischen Rechts durch die Novellierung des US Foreign State Immunity Act in 1988 erheblich erleichtert worden. Die bis dahin allgemein erforderliche Konnexität zwischen dem in den Vereinigten Staaten belegenen Vollstreckungsgegenstand und dem zugrundeliegenden Rechtsverhältnis ist durch die Aufnahme von § 1610 (a)(6) US FSIA für die Vollstreckung von Schiedssprüchen weggefallen.114/115 Darüber hinaus folgt aus dieser Bestimmung, dass das zugrundeliegende Rechtsverhältnis nicht von kommerzieller Rechtsnatur sein

111 Zur Definition der kommerziellen Tätigkeit siehe § 1603 (d) US FSIA: „A ,commercial activity‘ means either a regular course of commercial conduct or a particular commercial transaction or act. The commercial character of an activity shall be determined by reference to the nature of the course of conduct or particular transaction or act, rather than by reference to its purpose.“ Zur Klarstellung in der Rechtsprechung siehe Republic of Argentina v. Weltover, U.S. 1992, S. 607 ff. 112 Louis Henkin/Richard Pugh/Oscar Schachter/Hans Smit, International Law, Cases and Materials, 3. Aufl., 1993, S. 1178; Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 754; Bankas (Anm. 21), The State Immunity Controversy in International Law, S. 80 – 81; Rubins/Kinsella (Anm. 20), International Investment, Political Risk and Dispute Resolution, S. 145 – 146; Fox/Webb (Anm. 27), The Law of State Immunity, S. 259 ff.; Ostrander (Anm. 107), Berkeley J. Int’l Law. 2004, S. 541 ff. (558); Annacker/ Greig (Anm. 30), ICC Bulletin 2004, S. 70 ff. (75 – 76). Aus der Rechtsprechung siehe insbesondere Letelier v. Republic of Chile, 748 F.2d 790 (2d Cir. 1984); Siderman de Blake v. Republic of Argentina, 965 F.2d 699 (9th Cir. 1992). Aktuell zeichnet sich jedoch eine weite Auslegung des Erfordernisses der kommerziellen Tätigkeit im amerikanischen Recht ab, siehe hierzu Sachs v. Republic of Austria, F.3d, No. 11 – 15468 (9th Cir. Dec. 6, 2013). 113 § 1610 (a)(1) US FSIA; Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 122; Fox/Webb (Anm. 29), The Law of State Immunity, S. 255; Rubins/Kinsella (Anm. 20), International Investment, Political Risk and Dispute Resolution, S. 144; Georges R. Delaume, Sovereign Immunity and Transnational Arbitration, in: Int. Arb. 1987, S. 28 ff. (34 ff.). 114 § 1610 (a)(6) US FSIA: „The property in the United States of a foreign state, as defined in section 1603 (a) of this chapter, used for a commercial activity in the United States, shall not be immune from attachment in aid of execution, or from execution, upon a judgment entered by a court of the United States or of a State after the effective date of this Act, if (…) (6) the judgment is based on an order confirming an arbitral award rendered against the foreign state, provided that attachment in aid of execution, or execution, would not be inconsistent with any provision in the arbitral agreement.“ Vgl. hierzu aus der Literatur Ostrander (Anm. 107), Berkeley J. Int’l Law. 2004, S. 541 ff. (558); Annacker/Greig (Anm. 30), ICC Bulletin 2004, S. 70 ff. (73, 75 – 76); Chamlongrasdr (Anm. 26), Foreign State Immunity and Arbitration, S. 321. 115 Identische Normen sind in § 13 (4) Australian FSIA und § 32 Canadian State Immunity Act enthalten.

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muss.116 Kausal für die Vollstreckbarkeit ist jedoch weiterhin, dass das Vollstreckungsobjekt ausschließlich für kommerzielle Zwecke verwendet wird und die Vollstreckung dem Regelungsinhalt der Schiedsvereinbarung nicht widerspricht. Abschließend ist zu berücksichtigen, dass das Konnexitätserfordernis für die Vollstreckung von Gerichtsentscheidung jedoch weiterhin Bestand hat. bb) Rechtslage in Großbritannien Das britische Recht bestimmt zunächst in § 13 (2) UK SIA, dass Vermögensobjekte ausländischer Staaten aufgrund der staatlichen Immunität grundsätzlich nicht vollstreckungsfähig sind. Darüber hinaus wird gesetzesimmanent klargestellt, dass ein Verzicht der staatlichen Immunität im Erkenntnisverfahren keinerlei Auswirkungen auf die solche im Vollstreckungsverfahren hat.117 Hervorzuheben ist jedoch, dass gemäß § 13 (4) UK SIA die Zwangsvollstreckung dann betrieben werden kann, wenn es sich um kommerzielle, nicht-hoheitliche Vollstreckungsobjekte handelt.118 Im Gegensatz zum Recht der Vereinigten Staaten und insbesondere anders als die Rechtsordnungen Frankreichs und der Schweiz wird dabei keine Konnexität zwischen Vollstreckungsobjekt und dem zugrundeliegenden Rechtsverhältnis verlangt.119 Besonders problematisch und kontraproduktiv für den Investitionsschutz ist allerdings § 13 (5) UK SIA zu qualifizieren. Danach kann die Vermutung, dass etwaige Vollstreckungsobjekte ausschließlich für kommerzielle Zwecke genutzt werden, durch eine Bescheinigung des Botschafters, in welcher die116 UNCTAD (Hrsg.), Dispute Settlement, International Centre for Settlement of Investment Disputes, 2.9 Binding Force and Enforcement, S. 19. 117 § 13 (3) UK SIA: „Subsection (2) above does not prevent the giving of any relief or the issue of any process with the written consent of the State concerned; and any such consent (which may be contained in a prior agreement) may be expressed so as to apply to a limited extent or generally; but a provision merely submitting to the jurisdiction of the courts is not to be regarded as a consent for the purposes of this subsection.“ 118 § 13 (4) UK SIA: „Subsection (2)(b) above does not prevent the issue of any process in respect of property which is for the time being in use or intended for use for commercial purposes; but, in a case not falling within section 10 above, this subsection applies to property of a State party to the European Convention on State Immunity only if – (a) the process is for enforcing a judgment which is final within the meaning of section 18(1)(b) below and the State has made a declaration under Article 24 of the Convention; or (b) the process is for enforcing an arbitration award.“ Siehe zur Legaldefinition der kommerziellen Tätigkeit § 3 (3) UK SIA: „In this section ,commercial transaction‘ means – (a) any contract for the supply of goods or services; (b) any loan or other transaction for the provision of finance and any guarantee or indemnity in respect of any such transaction or of any other financial obligation; and (c) any other transaction or activity (whether of a commercial, industrial, financial, professional or other similar character) into which a State enters or in which it engages otherwise than in the exercise of sovereign authority; but neither paragraph of subsection (1) above applies to a contract of employment between a State and an individual.“ Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 124; Bankas (Anm. 21), The State Immunity Controversy in International Law, S. 89. 119 Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 756.

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ser offiziell versichert, dass die Vollstreckungsobjekte hoheitlichen Aufgaben dienen, vereitelt werden.120 cc) Rechtslage in der Schweiz121 Charakteristisch für die Vollstreckung von Schiedssprüchen in der Schweiz ist die zwingende Voraussetzung des Vorliegens einer rechtlichen Binnenbeziehung (rattachement suffisant) zum schweizerischen Recht.122 Diese nicht-dispositive Bedingung wurde vom Schweizer Bundesgerichtshof in Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya v. Libyan American Oil Company etabliert.123 Danach müssen Umstände vorliegen, die das zugrundeliegende Rechtsverhältnis so stark an die Schweizer Rechtsordnung binden, dass eine Rechtfertigung besteht, einen ausländischen Staat im Zwangsvollstreckungsverfahren zur Verantwortung zu ziehen.124 Hervorzuheben ist, dass das Vorliegen einer rechtlichen Binnenbeziehung von der Rechtsprechung restriktiv ausgelegt wird. Nach den in Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya v. Libyan American Oil Company aufgestellten Grundsätzen reicht selbst die Schweiz als Ort des Schiedsgerichtsverfahrens125 sowie die alleinige Existenz von Vermögenswerten des Schuldners nicht aus, um eine solche rechtliche Binnen-

120 Dieses Problem wird ausdrücklich hervorgehoben von Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 124; Ostrander (Anm. 107), Berkeley J. Int’l Law. 2004, S. 541 ff. (559). 121 Zur aktuellen Schweizer Rechtsprechung in Bezug auf die Problematik der Immunität im Vollstreckungsverfahren siehe Schweizer Bundesgerichtshof, Beschluss v. 12. 7. 2010, ATF 136 III 379, 5 A_360/2010, ASA Bull 4/2012, S. 825; Schweizer Bundesgerichtshof, Beschluss v. 22. 11. 2011, ATF 137 I 371, 2C_764/2011; Schweizer Bundesgerichtshof, Beschluss v. 23. 11. 2011, 5 A_681/2011, ASA Bull 4/2012, S. 816, 819; Fédération de Russie v. BNP Paribas (Suisse) SA Compagnie NOGA d’Importation et d’Exportation SA., Schweizer Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10. 1. 2008, 5 A_618/2007; alle abrufbar unter: http:// www.bger.ch/index/juridiction/jurisdiction-inherit-template/jurisdiction-recht.htm. 122 Giroud (Anm. 44), ASA Bulletin 2012, S. 758 ff. (759); Peter Schlosser, Das Recht der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit, Rd. 350; Christoph Hermann, Disputes between States and Foreign Companies, in: Julian Lew (Hrsg.), Contemporary Problems in International Arbitration, 1987, S. 250, 262; Michael Schneider/Joachim Knoll, Enforcement of Foreign Awards against Sovereigns – Switzerland, in: Doak Bishop (Hrsg.), Enforcement of Arbitral Awards against Sovereigns, 2009, S. 344. 123 Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya v. Libyan American Oil Company, ATF (BGE) 106 Ia, S. 142; ILM 1981, S. 151. Giroud (Anm. 44), ASA Bulletin 2012, S. 758 ff. (759); Schneider/Knoll (Anm. 122), in: Bishop, S. 344. 124 Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 128. 125 Anders als im Recht der Vereinigten Staaten begründet der Umstand, dass sich der Sitz des Schiedsgerichts in der Schweiz befunden hat, dann keine ausreichende rechtliche Binnenbeziehung (ausreichenden territorialen Bezug), wenn der Schiedsort nicht durch die Vertragsparteien, sondern wie in Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya v. Libyan American Oil Company durch das Schiedsgericht festgelegt wurde, Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 128; Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 756.

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beziehung zu begründen.126 Erforderlich ist vielmehr, dass der Anspruch aufgrund schweizerischen Rechts entstanden ist oder die Schweiz als originärer Erfüllungsort rechtliche Relevanz besitzt.127 Sofern diese rechtliche Schwelle überschritten wird, ist für das Schweizer Recht jedoch eine liberale Haltung in Bezug auf den Verzicht der Immunität im Vollstreckungsverfahren charakteristisch. In Folge der mangelnden Differenzierung zwischen staatlicher Immunität im Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren wird allgemein angenommen, dass eine entsprechend eindeutig formulierte Schiedsvereinbarung auch als Verzicht auf die Vollstreckungsimmunität qualifiziert wird.128 Voraussetzung ist allerdings die Vollstreckungsabsicht in kommerzielle Vermögenswerte. dd) Rechtslage in Frankreich Die Möglichkeit des Verzichts staatlicher Immunität im Vollstreckungsverfahren ist in der französischen Rechtsprechung ausdrücklich anerkannt.129 Anders als der Cour de Cassation in Creighton v. Qatar unterscheidet die herrschende Rechtsansicht in Frankreich streng zwischen der Verzichtserklärung im Erkenntnis- und solcher im Vollstreckungsverfahren. Die Theorie der doppelten Verzichtserklärung kann somit nicht als allgemeiner, französischer Rechtsgrundsatz qualifiziert werden. Übereinstimmung besteht jedoch dahingehend, dass bei einer eindeutigen Verzichtserklärung, welche insbesondere in dem Abschluss einer Schiedsvereinbarung begründet sein kann und bei Angreifen eines kommerziellen Vermögensgegenstandes, die Vollstreckung nicht wegen dem Einwand staatlicher Immunität untersagt werden kann.130 Einschränkend ist jedoch zu berücksichtigen, dass das französische Recht, vergleichbar mit der Rechtslage in der Schweiz, eine Konnexität zwischen dem Vollstreckungsobjekt und der wirtschaftlichen Tätigkeit, auf die sich der durch126 Socialist People’s Libyan Arab Republic Jamahiriya v. Libyan American Oil Company, ATF (BGE) 106 Ia, S. 142; ILM 1981, S. 151. Bestätigt in ATF (BGE) 5 A.261/2009, Beschluss vom 1. 9. 2009. 127 Giroud (Anm. 44), ASA Bulletin 2012, S. 758 ff. (759). 128 Bernini/van den Berg (Anm. 44), in: Lew, Contemporary Problems, S. 359 ff. (362, 364); Pierre Lalive, Note sur la jurisprudence suisse en matière d’immunités des Etats, Clunet 1987, S. 1000 ff. (1004). 129 Ausführliche Rechtsprechungsübersicht bei Gregory Travaini, State 1 – Investor 0: Recent French Decisions regarding Sovereign Immunity from Execution, Kluwer Arbitration Blog, 27. 8. 2013, abrufbar unter: http://kluwerarbitrationblog.com/blog/2013/08/27/state-1-in vestor-0-recent-french-decisions-regardingsovereign-immunity-from-execution/. Zum französischen Recht auch Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 126 – 127. 130 Islamic Republic of Iran v. Société Eurodif and Others, Cour de Cassation, Beschluss v. 14. 3. 1984, in: ILR 1988, S. 513 ff. (515): „Foreign States enjoy immunity from execution as a matter of principle. Nevertheless this immunity can be set aside in exceptional cases such as where the assets attached have been allocated for an economic or commercial activity of a private law nature, which has given rise to the claim at issue“; identische Feststellung in Société Sonatrach v. Migeon, Cour de Cassation, 1. 10. 1985, ILR 1988, S. 525 ff. (527).

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zusetzende Anspruch stützt, erfordert.131/132 Darüber hinaus findet die Vollstreckbarkeit, ohne ausdrückliche Verzichtserklärung, ihre Grenzen im diplomatischen Eigentum.133 Besondere Aufmerksamkeit verdient zudem das Urteil in NML Ltd et al. v the Republic Argentina.134 Zum ausdrücklichen Nachteil der privaten Partei hat der Cour de Cassation ausgeführt, dass es nicht nur einer ausdrücklichen Verzichtserklärung von der Immunität im Vollstreckungsverfahren, sondern auch einer konkreten Benennung solcher Vermögensobjekte von Seiten des Klägers bedarf, die Gegenstand der Verzichtserklärung gewesen sind.135 Diese extensive Übertragung der Beweislast auf den privaten Kläger ist als deutlicher Rückschritt für den internationalen Investitionsschutz zu bewerten. ee) Rechtsvergleichende Würdigung Die wesentliche Gemeinsamkeit der in diesem Beitrag dargestellten nationalen Rechtslagen besteht in einer identischen formellen Behandlung der Staatenimmunität. Übereinstimmend ist streng zwischen der Immunität im Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren zu unterscheiden. Dabei zeigt sich auch die mangelnde Reichweite der Effektivität der Schiedsvereinbarung. Während allgemein angenommen wird, dass die Schiedsvereinbarung als Verzicht der Immunität im Erkenntnisverfahren zu werten ist, besteht ebenfalls Konsens darüber, dass ohne ausdrückliche Zusatzvereinbarung diese nicht zum Verzicht der Immunität im Vollstreckungsverfahren führt. Folglich bedarf es zur wirksamen Vollstreckung von Ansprüchen sowohl einer ausdrücklichen Verzichtserklärung im Erkenntnisverfahren als auch im Vollstreckungsverfahren. Ferner verlangen die nationalen Rechtsordnungen einheitlich, dass es sich zwingend um kommerzielle Vollstreckungsgegenstände handeln muss. 131

Chamlongrasdr (Anm. 26), Foreign State Immunity and Arbitration, S. 322 – 324, siehe insbesondere S. 322: „(…) From this holding, the mere fact that the property sought to be attached is commercial property of a foreign State is not sufficient to provide for the French courts to order attachment against such property; it is essential that the property in question is also the subject matter of the claim“; Lew/Mistelis/Kröll (Anm. 29), Comparative International Commercial Arbitration, S. 755; Hazel Fox, Enforcement Jurisdiction, Foreign State Property and Diplomatic Immunity, in: ICLQ 1985, S. 115 ff. (139). 132 Fraglich ist hierbei, ob der Abschluss einer Schiedsvereinbarung als konkludenter Verzicht auf das Konnexitätserfordernis zu charakterisieren ist, hierzu Theodorou (Anm. 14), Investitionsschutzverträge vor Schiedsgerichten, S. 127, unter Bezugnahme auf Cour d’Appel de Paris, Beschluss v. 9. 7. 1992, Société Norbert Beyrard France v. République de Cote d’Ivoire, in: Rev. Arb. 1994, S. 133 ff. (135). 133 So explizit Russian Federation v. Compagnie NOGA d’Importation et d’Exportation, Cour d’appel de Paris, Beschluss v. 10. 8. 2000, in: ILR 2005, S. 156 ff. (160). 134 Société NML Capital (Iles Caïmans) v. Etat d’Argentine, Cour de Cassation, Beschluss v. 28. 3. 2013, Nr. 10 – 25.938, 11 – 10.450 und 11 – 13.323. 135 Travaini, State 1 – Investor 0: Recent French Decisions regarding Sovereign Immunity from Execution, Kluwer Arbitration Blog, 27. 8. 2013, abrufbar unter: http://kluwerarbitrationb log.com/blog/2013/08/27/state-1-investor-0-recent-french-decisions-regarding-sovereign-immu nity-from-execution/.

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Nachteilig für den internationalen Investitionsschutz wirkt sich jedoch die allgemeine Rechtsunsicherheit bei der Rechtsanwendung, insbesondere im Recht der Vereinigten Staaten und Frankreichs aus. Im US-amerikanischen Recht gilt dies insbesondere für die Bestimmung des kommerziellen Zweckes des Vollstreckungsobjektes.136 Kennzeichnend für das französische Recht ist aktuell eine Tendenz der extensiven Anwendung der Staatenimmunität und somit eine Haltung zugunsten des staatlichen Partei.137 Ferner existieren gravierende Unterschiede hinsichtlich der Rechtswirkungen von Schiedsvereinbarungen, wobei eine Konsenslösung im Sinne der privaten Vertragspartei nicht absehbar ist.138 Charakteristisch ist weiterhin eine stark ausgeprägte Heterogenität in Bezug auf das Erfordernis der Existenz einer rechtlichen Binnenbeziehung zwischen Vollstreckungsobjekt und dem zugrundeliegenden Rechtsgeschäft. Hierbei zeigen sich zudem strukturelle Divergenzen zwischen Common Law- und Civil Law-Staaten. Während die Rechtsordnungen der Vereinigten Staaten139 und Großbritanniens keinen jurisdiktionellen Nexus zu ihrer Rechtsordnung verlangen, ist dieses ein prägendes Element der schweizerischen und französischen Rechtsordnung. Inwieweit das Konnexitätserfordernis als allgemeines Hindernis für das Eingehen von Wirtschafts- und Investitionsbeziehungen mit Staaten zu werten ist, mag der Autor nicht abschließend beurteilen. Festzuhalten ist jedoch, dass das Konnexitätserfordernis die Vollstreckung von Schiedssprüchen gegen Staaten erheblich erschwert. Insbesondere die diesbezügliche strenge Anwendung in der Schweiz und in Frankreich schränkt den internationalen Investitionsschutz bedeutend ein. b) Aktuelle Rechtsprechung Weiterhin ist die Frage der Beweislast als besonders problematisch zu qualifizieren. Allgemein besteht die Verpflichtung der privaten Partei substantiiert darzulegen, dass die für die Vollstreckung relevanten Immobilien, kommerziellen und nicht hoheitlichen Zwecken dienen. Dabei zeigt sich zudem die von Pierre Lalive zutreffend thematisierte Abgrenzungsproblematik zwischen Theorie und Praxis. Flankiert wird 136 Restriktive Anwendung in Letelier v. Republic of Chile, 748 F.2d 790 (2d Cir. 1984), konstruktive Anwendung im Sinne eines weiten Investitionsschutzes Sachs v. Republic of Austria, F.3d, No. 11 – 15468 (9th Cir. Dec. 6, 2013). 137 Vgl. Société NML Capital (Iles Caïmans) v. Etat d’Argentine, Cour de Cassation, Beschluss v. 28. 3. 2013, Nr. 10 – 25.938, 11 – 10.450 und 11 – 13.323; Russian Federation v. Compagnie NOGA d’Importation et d’Exportation, Cour d’appel de Paris, Beschluss vom 10. 8. 2000, in: ILR 2005, S. 156 ff. (160). 138 Insbesondere Islamic Republic of Iran v. Société Eurodif and Others, Cour de Cassation, Beschluss v. 14. 3. 1984, in: ILR 1988, S. 513 ff. (515) und Creighton Ltd. (Cayman Islands) v. Minister of Finance and Minister of Internal Affairs and Agriculture of the Government of the State of Qatar, in: Ybk Comm Arb. 2000, S. 458 ff. Cour de Cassation, Entscheidung vom 6. 7. 2000, in: Rev. Arb. 2001, S. 114. 139 Aufgehoben seit der Novellierung des FSIA in 1988.

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dieses Problem mit einer zum Teil stark ausgeprägten Heterogenität nationaler Rechtsprechungen. Im Folgenden werden diese rechtlichen Herausforderungen an Leitentscheidungen internationaler Gerichte demonstriert140, welche eine herausragende Bedeutung für die rechtliche Erfassung der Immunitätsproblematik bei internationalen InvestorStaat-Verträgen besitzen. aa) Democratic Republic of the Congo and Others v. FG Hemisphere Associates LLC Primärer Gegenstand in Democratic Republic of the Congo and Others v. FG Hemisphere Associates LLC141/142 ist die konkrete Auseinandersetzung mit der Anwendungskonkurrenz von absoluter und restriktiver Staatenimmunität. Grundlage ist die Vollstreckung von zwei ICC-Schiedssprüchen, ergangen in Paris und Zürich im Jahre 2003, in Höhe von insgesamt US$ 30 Millionen gegen die Republik Kongo direkt und gegen ein kongolesisches Staatsunternehmen. Ursprünglicher Anspruchsinhaber war das bosnische Unternehmen Energoinvest, welches im Jahre 2004 seine Ansprüche an FG Hemisphere Assiociates143 (FG) abgetreten hat. Nach den entsprechenden Berechnungen von FG betrug der Wert der Ansprüche im November 2010 inklusive Zinsen US$125 Millionen. Entscheidend für das weitere prozessuale Vorgehen war die Ankündigung an der Hongkonger Börse im April 2008 über eine bevorstehende Investition in die kongolesische Bergbauindustrie, welche eine „Marktzugangsabgabe“ in Höhe von US$221 Millionen an die kongolesische Regierung beinhaltete. Darauf basierend erwirkte FG einen Pfändungsbeschluss in Höhe von US$ 104 Millionen. Unmittelbar daran anschließend beantragte FG die Vollstreckung der ICC-Schiedssprüche in Hongkong. 140 Neben in dieser Arbeit ausführlich dargestellten Urteilen soll ferner auf das Urteil des US Supreme Courts vom 16. 6. 2014 in Republic of Argentina v. NML Capital, Ltd., Nr. 13 – 990 hingewiesen werden. Dabei hat der Supreme Court die allgmeine Zuständigkeit von amerikanischen Gerichten zur Auffindung von weltweiten Vermögenswerten ausländischer Staaten bejaht. Siehe hierzu Clifford Chance (Hrsg.), U.S. Supreme Court Rules that Sovereign States Are Not Immune from U.S. Court Discovery into their Worldwide Assets, Client Memorandum, Juni 2014. Dieses Urteil ist insbesondere für die Vollstreckung der YukosEntscheidung von essentieller Bedeutung. 141 Democratic Republic of the Congo and Others v. FG Hemisphere Associates LLC, FACV Nr. 5, 6 & 7 – 2010, Beschluss vom 8. 6. 2011 und 8. 9. 2011, wiedergegeben in HKCFAR 2011, S. 95 ff., S. 395 ff. (Basic Law Bulletin 2012, S. 12 ff.) abrufbar unter: http://www. doj.gov.hk/eng/public/basiclaw/basic14_3.pdf. 142 Als primäre Grundlage der folgenden Ausführungen dient Teresa Cheng/Adrian Lai, Lessons learned from the FG Hemisphere vs DRC and Huatianlong Case, abrufbar unter: http://www.arbitration-icca.org/media/1/13234276446270/6-lessons_learned_from_the_fg_he misphere_vs_drc_and_huatianlong_case.pdf. 143 FG Hemisphere Assiociates ist ein Hedgefunds, der sich auf die Durchsetzung von gefährdeten Kreditpositionen gegen vertragsbrüchige Staaten spezialisiert hat.

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Das erstinstanzliche Gericht untersagte im Dezember 2008 die Vollstreckung der Schiedssprüche mit der Begründung, dass die zu zahlende „Marktzugangsabgabe“ ausschließlich hoheitlichen Zwecken144 dient und folglich von der von der Republik Kongo erhobenen Immunitätseinrede erfasst wird. Anders hingegen die Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, welches zum einen ausdrücklich ausgeführt hat, dass die Immunitätseinrede auf die restriktive Immunität begrenzt ist. Zum anderen hat das Berufungsgericht die „Marktzugangsabgabe“ als rein wirtschaftliche, kommerzielle Transaktion qualifiziert und das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts damit aufgehoben. Gegen diese Entscheidung hat die Republik Kongo als Beklagte Revision eingelegt. Das finale Berufungsgericht (Hong Kong Court of Final Appeal ,CFA‘) hat in einer Mehrheitsentscheidung (3:2) vom 8. Juni 2011 auf einer vorläufigen Rechtsbasis entschieden, dass Hongkong aus rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Prinzipien dazu verpflichtet ist, die Grundsätze der Staatenimmunität analog der Rechtspraxis in der Volksrepublik China anzuwenden. Die geltende Rechtslage in China sieht die strikte Anwendung der absoluten Immunitätslehre vor. In diesem Kontext hob die Mehrheit der Richter hervor, dass die von Hongkong ausgeübte rechtspolitische Autonomie, basierend auf dem Grundsatz „one country, two systems“, sich nicht auf Rechtsfragen der Staatenimmunität erstreckt, da diese unmittelbarer Bestandteil der chinesischen Außenpolitik sind und daher dem ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der chinesischen Regierung unterliegen. Die vom chinesischen Außenministerium in diesem Fall verfasste Stellungnahme betont explizit die zwingende Anwendung des Prinzips der absoluten Immunität: „(…) the consistent and principled position of China is that a state and its property shall, in foreign courts, enjoy absolute immunity, including absolute immunity from jurisdiction and from execution, and has never applied the so-called principle or theory of ,restrictive immunity‘.“ Explizit hervorzuheben ist jedoch, dass in diesem Fall erstmalig ein Gericht in Hongkong das sog. Standing Committee of the National People’s Congress (SCNPC) mit der Erstellung einer Einschätzung zu den relevanten rechtlichen Fragestellungen beauftragt hat. Nicht überraschend hat das SCNPC die Rechtsauffassung des chinesischen Außenministeriums bestätigt. In Bezug auf die Rechtswirkungen einer Verzichtserklärung hat das CFA klargestellt, dass der Verzicht der Immunität sowohl im Erkenntnisverfahren als auch im Vollstreckungsverfahren ausdrücklich erklärt werden muss. Im Ergebnis führt diese Rechtsansicht dazu, dass es für Wirtschafts- und Investor-Staat-Verträge in China und Hongkong zwingend einer doppelten Verzichtserklärung bedarf. Einerseits in Bezug auf die Zuständigkeit der Schiedsgerichte sowie sich daran anschließend, hinsichtlich der notwendigen Vollstreckbarerklärung, und andererseits bezüglich der Vollstreckung in staatliche Vermögenspositionen außerhalb des originär hoheitlichen Tätigkeitsbereiches. 144

Das Gericht spricht hierbei von „economic benefit and well-being of its citizens“.

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Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Urteil jedoch, neben Fakten des Falles, die Auswirkungen auf die internationale Rechtspraxis. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass Hongkong gemeinsam mit Singapur den wichtigsten Standort für internationale Schiedsverfahren in Asien darstellt. Insbesondere im Vergleich zur Volksrepublik China wird Hongkong ein erhöhtes Maß an Neutralität und rechtlicher Effizienz zugesprochen. Die Entscheidung in Democratic Republic of the Congo and Others v. FG Hemisphere Associates LLC festigt jedoch die Lehre der absoluten Immunität als herrschende Rechtsauffassung in China und Hongkong. In der Konsequenz führt dies zu einem Effektivitätshindernis der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit in Hongkong im Verfahren gegen Staaten und Staatsunternehmen. Im Ergebnis muss das Urteil des CFA als nachhaltige Schwäche für die Wahl Hongkongs als Ort des Schiedsverfahrens gewertet werden. Darüber hinaus verdeutlicht diese Entscheidung die Bedeutung einer eindeutig und individuell gestalteten Schiedsvereinbarung. Hervorzuheben sind dabei die Ausführungen des Gerichts, dass selbst eindeutige Verzichtserklärungen als Bestandteil der privatrechtlichen Schiedsvereinbarung als rechtlich nicht ausreichend erachtet werden, um eine Zwangsvollstreckung erfolgreich zu betreiben. Unabhängig von der Tatsache, dass diese in casu aufgestellten Grundsätze primar nur für Vollstreckungsmaßnehmen gegen ausländische Staaten in Honkgong Geltungswirkung besitzen, wird dadurch die Bedeutung einer doppelten, eigenständigen Verzichtserklärung unterstrichen. bb) Franz Sedelmayer v. The Russian Federation Gegenstand der Investitionsstreitigkeit in Franz Sedelmayer v. The Russian Federation145 ist die Vollstreckung eines Schiedsspruches aufgrund einer von Russland begangenen Enteignung. Grundlage der Streitigkeit ist das Rechtsverhältnis zwischen Sedelmayer Group of Companies International Inc., dessen alleiniger Eigentümer der deutsche Staatsbürger Franz Sedelmayer war und dem Polizeipräsidium von St. Petersburg (GUVD) über die Lieferung von Sicherheitsausrüstungen und der Bereitstellung von Sicherheitstraining. Die Enteignung bestand in der Anordnung des Russischen Präsidenten, die von GUVD in die mit dem Kläger gegründete Aktiengesellschaft eingebrachten Gebäude und beweglichen Gegenstände zwangsweise an eine Staatsgesellschaft zu übertragen. Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers war Art. 4 des Deutsch-Russischen Investitionsschutzabkommens von 1989. 145 Siehe hierzu Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, Stockholm Chamber of Commerce, Arbitration Award vom 7. 7. 1998; Oberlandesgericht Köln, Beschluss vom 6. 10. 2003; Kammergericht Berlin, Beschluss vom 3. 12. 2003; Schwedischer Bundesgerichtshof, Beschluss vom 1. 7. 2011, alle abrufbar unter: http://www.italaw.com/cases/982. Zum Sachverhalt siehe auch Sergey Ripinsky/Kevin Williams, Damages in International Investment Law, Case Summary, Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, BIICL 2008, S. 2 – 3, abrufbar unter: http://www.biicl.org/files/3932_ 1998_sedelmayer_v_russia.pdf.

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In Bezug auf die Problematik der Staatenimmunität hat das in diesem Fall beauftragte Schiedsgericht der Stockholm Chamber of Commerce entschieden, dass Russland grundsätzlich die Berufung auf ihre staatliche Immunitätseinrede untersagt ist, da die Ratifizierung des Deutsch-Russischen Investitionsschutzabkommens richtigerweise als Verzichtserklärung der staatlichen Immunität qualifiziert wurde. Zum Nachteil von Sedelmayer wurde jedoch festgestellt, dass dieser Verzicht nicht gleichermaßen Maßnahmen der finalen Vollstreckung umfasst. Daraufhin schlossen sich zahlreiche juristische Versuche des Klägers an, vollstreckungsfähige Eigentumswerte der Russischen Föderation aufzutun. Zunächst beantragte der Kläger die Pfändung von Ansprüchen Russlands gegen die Deutsche Lufthansa. Das Oberlandesgericht Köln entschied jedoch, dass die Forderungen Russlands für die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben bestimmt und somit von dessen staatlicher Immunität geschützt waren. Grundlegend für die Entscheidung des Oberlandesgerichts war die Feststellung, dass die Ansprüche der Russischen Föderation unmittelbar zur Finanzierung des Staatshaushaltes bestimmt und daher als hoheitlich zu qualifizieren seien.146 Weiterhin erklärte das Oberlandesgericht in Bezug auf die Immunitätsproblematik: „(…) Die Luftverkehrsverwaltung ist entgegen der Meinung, die in dem von dem Gläubiger vorgelegten Rechtsgutachten vertreten wird, jedenfalls nach deutschem Recht öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Die der Luftverkehrsverwaltung im LuftVG übertragenen Aufgaben und Eingriffsbefugnisse sind hoheitlicher Art und entsprechend geregelt. Die für ihre Tätigkeit zu erhebenden Entgelte sind aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Ermächtigungsgrundlage (§32 Abs. 1, Abs. 13 LuftVG) öffentlich-rechtlich in der Kostenverordnung der Luftfahrtverwaltung (LuftKostV) normiert und stellen ein Entgelt für die Inanspruchnahme der öffentlichen Verwaltung dar (…), stehen also mit der Ausübung hoheitlicher Tätigkeit in einem Gegenseitigkeitsverhältnis. (…)“.147 Daraufhin strebte der Kläger die Vollstreckung in Vermögenswerte der russischen Botschaft in Berlin an, in casu Umsatzsteuerrückerstattungen. Diese Klage wurde allerdings vom Kammergericht Berlin wiederum abgewiesen. Zur Begründung führte das Kammergericht Berlin aus, dass: „die Zwangsvollstreckung nach dem Völkerrecht unzulässig sei, da in Vermögensgegenstände vollstreckt werde, die dem besonderen Schutz der diplomatischen Mission dienen würden. Die Umsatzsteuerrückerstattung werde von der Botschaft der R. F. (Russische Föderation) für ihre laufende Tätigkeit verwendet und sei fester Bestandteil ihres Budgets. Ein Verzicht auf Immunität hinsichtlich der Vollstreckung in Gegenstände, welche hoheitlichen Zwecken dienen würden, sei nicht erklärt worden“.148

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Oberlandesgericht Köln, Beschluss vom 6. 10. 2003, Rn. 34. Ibid. 148 Kammergericht Berlin, Beschluss vom 3. 12. 2003, Rn. 15. 147

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Erfolgreich waren jedoch die rechtlichen Bemühungen vor dem obersten Schwedischen Bundesgericht am 1. Juli 2011 hinsichtlich der Pfändung von Grundstücksbzw. Wohnungseigentum der Russischen Botschaft in Stockholm.149/150 Gegenstand der Pfändung war ein von der Russischen Botschaft unterhaltenes Gebäude, welches einerseits Wohnungen für russische Diplomaten und andererseits normale Mietwohnungen zur Verfügung stellte. Diese Entscheidung reflektiert anschaulich die praktische Anwendung der restriktiven Immunitätslehre. Der schwedische Bundesgerichtshof nahm in Bezug auf die Immunität des von der russischen Botschaft unterhaltenen Gebäudes eine Unterscheidung zwischen diplomatischen und privaten Wohnungen vor. Während nach Ansicht des Gerichts die von Diplomaten bezogenen Wohnungen dem Anwendungsbereich der Staatenimmunität unterliegen, stellte es für die sonstige Verwendung des Grundstücks fest, dass dieses für Zwecke genutzt wurde, „die privatrechtlicher, aber nicht-kommerzieller Art waren und die ebenfalls keinen offiziellen Charakter hatten“.151 Hinsichtlich dieser Unterscheidung erklärte der schwedische Bundesgerichtshof weiterhin: „Unter Berücksichtigung der vorstehend angeführten Ausführungen muss als klargelegt angesehen werden, dass das Grundstück Kostern 5 in Lidingö nicht zu einem bedeutenden Teil für die offizielle Tätigkeit der Russischen Föderation zur Anwendung gekommen ist. Der Zweck war ebenfalls nicht von ausreichend qualifizierter Natur, um das Grundstück vor einer Pfändung in der vorliegenden Angelegenheit des Vollzugs schützen zu können.“152 „Eine Mietforderung ist ein Ertrag, der durch eine Handlung zustande gekommen ist, der ihrer Natur nach nur als privatrechtlich zu bezeichnen ist und begründet ein typisch kommerzielles Eigentum. Dem Umstand, dass die Miete dafür bestimmt ist, die Kosten der Verwaltung des Grundstücks zu decken oder zu diesen einen Beitrag zu leisten, fehlt in sich jede Bedeutung.“153 cc) Fazit Die in diesem Beitrag dargestellten Urteile offenbaren die Schwerfälligkeit sowie die Zeit- und Kostenintensität der Vollstreckung von Schiedssprüchen gegen Staaten und Staatsunternehmen, sofern diese sich auf die Einrede der Staatenimmunität berufen. Als besonders problematisch ist die Beweislast der privaten Partei bezüglich der Auffindung von kommerziellen Vollstreckungsobjekten zu charakterisieren, wie insbesondere der Fall Franz Sedelmayer v. The Russian Federation gezeigt hat. 149

Schwedischer Bundesgerichtshof, Beschluss vom 1. 7. 2011. Zu den Grundlagen des schwedischen Rechts in Bezug auf die Staatenimmunität Hobér (Anm. 43), International Commercial Arbitration in Sweden, S. 20 – 26, S. 29 – 31. 151 Schwedischer Bundesgerichtshof, Beschluss vom 1. 7. 2011, Ibid. Rn. 22. 152 Ibid. Rn. 23. 153 Ibid. Rn. 24. 150

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Zudem ist festzustellen, dass der extensive Trend einer vollumfänglichen Standardisierung relevanter Regelungsbereiche des internationalen Investitionsrechts spätestens bei der Problematik der Staatenimmunität an seine Grenzen stößt. Weder die New Yorker Konvention über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche noch die ICSID-Konvention tragen in diesem Zusammenhang zu einer nachhaltigen Lösung bei. Als Konsequenz ist der aktuelle Status quo in der internationalen Rechtsprechung als klares und eindeutiges Plädoyer zugunsten der kautelarjuristischen Vertragsgestaltung zu werten. VI. Schlussbemerkung und Lösungsansätze Trotz aller Bemühungen einer Rechtsvereinheitlichung und einer vermeintlichen universellen Existenz der Lehre der restriktiven Immunität verdeutlicht die internationale Rechtspraxis die rechtlichen und faktischen Herausforderungen der Staatenimmunität bei internationalen Investor-Staat-Verträgen. Darüber hinaus hat dieser Beitrag versucht zu demonstrieren, dass es sich bei der Einrede der Staatenimmunität um kein rein akademisches Problem des internationalen Wirtschafts- und Investitionsrechts handelt, sondern dass dieses von enormer praktischer Relevanz ist. In diesem Kontext bleibt insbesondere abzuwarten, welche Auswirkungen die Entscheidungen in Sachs v. Republic of Austria und Republic of Argentina v. NML Capital auf die Rechtspraxis der Vereinigten Staaten haben werden. Die entscheidende Frage für den internationalen Investitionsschutz ist, welche kautelarjuristischen Vorkehrungen kann die private Partei im Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen treffen, um die Vollstreckung etwaiger Schiedssprüche zu seinen Gunsten vertragsimmanent abzusichern.154 Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es zunächst einer Zusammenfassung der wesentlichen Problemstellungen. 1. Selbst in Staaten, die der restriktiven Immunitätslehre folgen, bestehen gravierende Unterschiede in der Rechtsanwendung für den Bereich des Immunitätsverzichts im Vollstreckungsverfahren. Wesentliche Schwäche dabei ist der fehlende internationale Konsens über die Reichweite der Rechtswirkungen von Schiedsvereinbarungen. Darüber hinaus erweisen sich das Konnexitätserfordernis zwischen Vollstreckungsobjekt und dem zugrundeliegenden Rechtsgeschäft sowie mangelnde rechtliche Konturen in Bezug auf die Anforderungen an eine kommerzielle Tätigkeit als ernste Hindernisse für internationale Investitionstätigkeiten. 2. Zur wirksamen Begegnung dieser eingeschränkten Effektivität nationale Rechtsgrundlagen und der internationalen Rechtsprechung kann auch der Investitionsschutz auf internationaler Ebene in Form von Bilateralen Investitionsschutzabkommen (BIT) keine Abhilfe schaffen. Die Ratifizierung von BIT’s wird von internationalen Gerichten, wie insbesondere die zahlreichen Vollstreckungsversu154 Entscheidend dabei, quasi als conditio sine qua non ist eine detaillierte Kenntnis nationaler Rechtslagen und die jeweiligen zwingenden Voraussetzungen zur Anerkennung eines Immunitätsverzichts.

Die Problematik der Staatenimmunität bei transnationalen Investitionstätigkeiten 523

che in Franz Sedelmayer v. The Russian Federation gezeigt haben, nicht als Verzicht der staatlichen Immunität im Vollstreckungsverfahren qualifiziert werden. Zudem widerspricht die eindeutige dogmatische Unterscheidung zwischen Jurisdiktions- und Vollstreckungsimmunität in Artikel 54 und 55 ICSID-Konvention dem eigentlichen Sinn und Zweck von ICSID, nämlich die Förderung von Investitionen und wirtschaftlicher Entwicklung durch einen effektiven Investitionsschutz zu betreiben. Unter Berücksichtigung dieser Schwächen des judiziellen Rechts bedarf es zur kautelarjuristischen Erfassung des Problems der Staatenimmunität folgender Maßnahmen: - die ausdrückliche individualvertragliche Vereinbarung des Verzichts der Immunität im Vollstreckungsverfahren durch den Rückgriff auf ICSID-Modellklausel 19 „Waiver of Sovereign Immunity from Execution“155 ; - die Verwendung von Treuhandkonten, Dokumentenakkreditiven und Bankgarantien, ausgestellt von internationalen Finanzinstituten; - die Sequenzierung der Investition, d. h. die Unterteilung in zeitlich aufeinanderfolgende Investitionsabschnitte156 ; - der Abschluss von Investitionsversicherungen157. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine detaillierte und möglichst umfassende kautelarjuristische Vertragsgestaltung im Allgemeinen und eine auf die Wirksamkeit der Vollstreckung abzielende Formulierung der Schiedsvereinbarung im Konkreten, zu einer verlässlichen und effizienten Durchsetzung von Ansprüchen gegen Staaten führt. Der Investitionsschutz kann zudem durch die Inanspruchnahme externer Sicherungsmechanismen, wie dem Abschluss von Investitionsversicherungen, erhöht bzw. verdichtet werden.

155 Clause XIX: „The (name of Contracting State) hereby irrevocably waives any claim to immunity in regard to any proceedings to enforce any arbitral award rendered by a Tribunal constituted pursuant to this Agreement, including, without limitation, immunity from service of process, immunity from jurisdiction of any court, and immunity of any of its property from execution.“ (Hervorhebung hinzugefügt). 156 Schanze (Anm. 16), Investitionsverträge im internationalen Wirtschaftsrecht, S. 175. 157 Exzellente Darstellung zur Absicherung von Investitionen über Garantien/Versicherungen bei Jörn Griebel, Internationales Investitionsrecht, 2008, S. 112 – 113.

VI. Zivilrecht

Wenn Gesetzestitel unwahrhaftig werden Von Volker Beuthien I. Persönliche Vorbemerkung Ich kenne den Jubilar seit dem Herbst 1970. Damals bin ich ihm in der Bibliothek des Instituts für Handels- und Wirtschaftsrecht der Philipps-Universität Marburg begegnet. Die hinzutretende Institutssekretärin erklärte mir, der blonde junge Mann sei die letzte wissenschaftliche Hilfskraft meines Amtsvorgängers Rudolf Reinhardt. Wir haben uns dann zwar kurz, aber angeregt unterhalten. Seitdem habe ich die politische Laufbahn Friedrich Bohls mit Achtung und Sympathie verfolgt. Wer einen so langen politischen Weg in hoher Verantwortung gegangen ist, hat viel anhören und lesen müssen. Er mag daher langer Ausführungen überdrüssig sein. Deshalb hoffe ich, das Interesse des mit dieser Festgabe zu Ehrenden am besten und schonendsten mit einer kleinen rechtspolitischen Skizze treffen zu können. II. Sinn und Zweck eines Gesetzestitels 1. Gesetzestitel sollen möglichst kurz und präzise über den wesentlichen Gegenstand und den Zweck der nachstehenden gesetzlichen Regelung unterrichten. Das gelingt um so leichter, je sachlich einheitlicher der Regelungsbereich ist, der mit dem betreffenden Gesetz erfasst werden soll. So zeigt der Gesetzestitel „Bürgerliches Gesetzbuch“ allgemein verständlich an, dass darin die typischerweise unter Bürgern entstehenden Rechtsbeziehungen geordnet werden sollen. Die Gesetzesbezeichnung „Tarifvertragsgesetz“ lässt eindeutig erkennen, dass es darum geht, wer Tarifverträge abschließen darf und was durch solche Verträge geregelt werden kann. Je vielfältiger freilich die Regelungsmaterie ist, desto schwerer fällt es, einen sich auf den Gesamtinhalt erstreckenden Gesetzesnamen zu finden. Es kommt dann häufig entweder zu langatmigen Mammutüberschriften oder zu irreführenden Kurzbezeichnungen. Beides ist unschön und kann beim Umgang mit dem Gesetz stören. Aber jeweils geht davon keinerlei Gefahr für die Rechtsordnung aus. III. Gefahr unrichtiger Gesetzestitel Das ändert sich jedoch, sobald der Gesetzestitel nicht mehr mit dem wesentlichen Inhalt oder dem Zweck des Gesetzes übereinstimmt und damit irreführt.

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Volker Beuthien

Ein schlimmes Beispiel aus jüngster Zeit ist dafür ist das „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz)“ vom 11. August 2014.1 In dessen Artikel 1 wird allen Arbeitgebern durch § 1 Abs. 1 und 2 des Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz – MiLoG) ab 1. Januar 2015 zwingend ein Mindeststundenlohn von brutto 8,50 Euro vorgeschrieben. Das geschieht zum Teil gegen geltende Tarifverträge, in denen niedrigere Stundensätze vereinbart wurden. Nach § 4 Abs. 1 MiLoG errichtet die Bundesregierung eine ständige Mindestlohnkommission, die über die Anpassung der Höhe des Mindestlohn befindet und deren Vorschlag die Bundesregierung durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich machen kann. Die Kommissionsmitglieder werden nicht von den Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer entsandt, sondern (obschon auf deren Vorschlag) von der Bundesregierung ernannt (§§ 5 Abs. 1, 7 Abs. 1 MiLoG). Vor Erlass einer neuen Mindestlohnregelung seitens der Bundesregierung erhalten die Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer lediglich Gelegenheit, dazu binnen dreier Wochen schriftlich Stellung zu nehmen (§ 11 Abs. 2 MiLoG). Auf diese Weise wird tief in das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht der Koalitionen eingegriffen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in gesellschaftlicher Eigenverantwortung (d. h. staatsfrei) regeln zu dürfen. Außerdem darf nach Art. 5 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes ein Tarifvertrag immer schon dann gem. § 5 Abs. 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn das „im öffentlichen Interesse geboten erscheint“. Das trifft gem. § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TVG „in der Regel schon immer dann zu, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat“.2 Damit wird das Recht, einem Arbeitgeberverband und dessen Tarifpolitik fernzubleiben, erheblich beschnitten. Schließlich ist ein für allgemein verbindlich erklärter Tarifvertrag fortan nach § 5 Abs. 4 S. 2 TVG sogar dann einzuhalten, wenn der Arbeitgeber an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist. Dieser auf freiwillige Tarifgebundenheit gegründete Tarifvertrag wird also insoweit durch eine staatliche Lenkungsmaßnahme außer Funktion gesetzt. Jeweils wird die Tarifautonomie daher nicht gestärkt, sondern im Gegenteil mehrfach geschwächt. Es handelt sich deshalb um ein Tarifautonomiebegrenzungsgesetz. Auch die Artikel 2 (Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes), Artikel 3 (Änderung des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes), Artikel 3a (Änderung des Nachweisgesetzes), Artikel 4 (Änderung des Verdienststatistikgesetzes), Artikel 6 (Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes), Artikel 7 (Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes), Artikel 8 – 10 (Änderungen des Sozialgesetzbuches), Artikel 11 (Änderung der Gewerbeordnung), Artikel 12 (Änderung der Vergabeordnung Vertei1

BGBl. 2014 I, S. 1348 ff. Dass „die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt“ (so § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 TVG), wird für diesen Fall, wie das zwischen § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 TVG stehende Wort „oder“ zeigt, nicht mehr gefordert. 2

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digung und Sicherheit), Artikel 13 (Änderung der Beitragsverfahrensordnung) sowie Artikel 14 (Aufhebung des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes) stärken (soweit ersichtlich) die Tarifautonomie nicht. Auch sie rechtfertigen es daher nicht, das gesamte Artikelgesetz als „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ zu überschreiben. IV. Schlussfolgerung Ein solches Gesetz so zu betiteln, ist daher unwahrhaftig. Auf diese Weise werden das Parlament und die Öffentlichkeit über die wahren politischen Ziele des Gesetzes getäuscht. Die bewusste Verwirrung der Begriffe aber missachtet, ja verhöhnt das Recht3 und ist daher das Schlimmste, was man einer auf Verlässlichkeit und Vertrauen bauenden Rechtsordnung antun kann. Deshalb gilt es allen Anfängen eines derart vernebelnden Politikstils entschieden zu wehren. Denn in einem Rechtsstaat hat als oberste Leitschnur zu gelten: Die Würde des Rechts ist unantastbar. Nur dann können die Bürger dieses als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft achten.

3 In der Tagespresse hat das schon Heike Göbel (in: FAZ vom 3. 6. 2014, S. 15) nicht von ungefähr als „zynisch“ bezeichnet.

Der „Fremdgeschäftsführer“ als Arbeitnehmer oder wie Europa die Diskussion um den nationalen Arbeitnehmerbegriff belebt Von Friedhelm Rost Einleitung Obwohl der Begriff des Arbeitnehmers ein zentraler Begriff des Arbeitsrechts ist, fehlt es bis heute an einer inhaltlich aussagekräftigen Legaldefinition. Wenn es etwa in § 5 ArbGG oder in § 2 BUrlG heißt: „Arbeitnehmer im Sinne des Gesetzes sind Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten“, hilft das nicht wirklich weiter. Auch für den Begriff des Arbeiters und des Angestellten, auf den verwiesen wird, fehlt es an einer abstrakten gesetzlichen Definition. Abgesehen davon ist die Unterscheidung im Arbeitsrecht heute weitgehend obsolet geworden, nachdem alle relevanten Unterscheidungen zwischen diesen Arbeitnehmergruppen – man denke etwa an die früher unterschiedlichen Kündigungsfristen – dem Gleichheitssatz „zum Opfer“ gefallen sind.1 Wiederholte Anläufe, im Rahmen von Entwürfen eines Arbeitsvertragsgesetzes auch den Arbeitnehmerbegriff konkreter zu umschreiben, sind an der Regelungsunwilligkeit oder auch Regelungsunfähigkeit des Gesetzgebers gescheitert.2 Wenn in der derzeitigen Koalitionsvereinbarung angekündigt wird, man wolle zur besseren Abgrenzung von Arbeitsverhältnissen und Werkverträgen eine entsprechende Klarstellung treffen, erscheint das vor diesem Hintergrund mehr als optimistisch. Es gehört nicht viel Mut für die Prognose, dass der Gesetzgeber, der es bis heute nicht geschafft hat, den wegen Verstoßes gegen Unionsrecht unanwendbaren § 622 Abs. 2 S. 2 BGB wenigstens formal zu streichen3, am – zugegeben auch nicht einfachen – Versuch einer trennscharfen Umschreibung des Arbeitnehmerbegriffs zur Abgrenzung von anderen Formen der Dienstleistung scheitern wird. Wie bisher wird es Aufgabe der Rechtsprechung insbesondere des Bundesarbeitsgerichts bleiben, den Be-

1 Vgl. zu den Kündigungsfristen BVerfG 30. 3. 1990 AP § 622 BGB Nr. 28; Andreas Michael Spilger, KR-Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 10. Aufl., 2013, § 622 BGB Rn. 22. 2 Zuletzt Martin Henssler/Ulrich Preis, Entwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes, in: NZA 2007, Beilage 1, s. dort §§ 1 – 3 des Entwurfs. 3 EuGH 19. 1. 2010 – C-555/07 – Kücükdeveci AP Richtlinie 2000/78 EG Nr. 14; BAG 9. 9. 2010 NZA 2011, 343.

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griff des Arbeitnehmers weiter zu entwickeln und den wechselnden tatsächlichen Gegebenheiten der Arbeitswelt anzupassen. Bei allem Streit darüber, wer denn Arbeitnehmer im Sinne der jeweiligen gesetzlichen Vorschrift ist, bestand doch bisher im Wesentlichen Einigkeit darüber, wer denn jedenfalls kein Arbeitnehmer sei, nämlich die gleichfalls auf Grund eines Dienstvertrages tätigen sogenannten Organvertreter, also die zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen.4 Diese Ansicht fand ihren Niederschlag wiederum teilweise in gesetzlichen Regelungen wie in § 5 Abs. 1 S. 3 ArbGG, § 14 Abs. 1 KSchG oder§ 5 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG. Sie stützte und stützt sich – vereinfacht gesagt – generell auf die Überlegung, dass nicht Arbeitnehmer sein kann, wer selbst Arbeitgeber ist, indem er diesen als juristische Person repräsentiert und für ihn handelt. Auch diese – vor allem von der Rechtsprechung des BGH verteidigte5 – Front war aber schon seit längerem ins Wanken geraten. Dies galt vor allem für den sogenannten Fremdgeschäftsführer der GmbH, also den überhaupt nicht oder nur mit einer Minderheit am Kapital beteiligten Geschäftsführer.6 Wie in vielen anderen Bereichen des Arbeitsrechts – man denke nur an den Betriebsübergang, an die Befristung von Arbeitsverhältnissen, an den Urlaub – kam für nicht wenige durchaus überraschend Bewegung in die Frage der Arbeitnehmereigenschaft von Organmitgliedern von einer Seite, die mehr und mehr das nationale Arbeitsrecht beeinflusst, nämlich dem Europarecht. Der EuGH unterstellte nämlich ein Organmitglied den für Arbeitnehmerinnen bestehenden Schutzrechten bei Schwangerschaft.7 Er betrachtete sie also als Arbeitnehmerin (im unionsrechtlichen Sinne). Damit gab er nicht nur den Vertretern der Auffassung, die schon nach nationalem Verständnis des Arbeitnehmerbegriffs auch Organvertreter(-vertreterinnen) unter entsprechenden Voraussetzungen einbezogen, Auftrieb, sondern löste erhebliche Unruhe aus, welche Auswirkungen diese Entscheidung generell auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff hat. Diese Entwicklung nachzuvollziehen und einen Überblick über die so entstandene neue Situation zu geben, soll im Rahmen dieses Beitrages versucht werden.

I. Der nationale Arbeitnehmerbegriff Gemeinhin wird als Arbeitnehmer angesehen, wer auf Grund eines Dienstvertrages oder eines ihm gleichgestellten Rechtsverhältnisses in persönlicher Abhängig4 S. nur Friedhelm Rost (Anm. 1), KR, § 14 KSchG Rn. 3; s. die Übersicht über den aktuellen Diskussionsstand bei Gerhard Reinecke, Fremdgeschäftsführer und Vorstandsmitglieder – Rechtsweg und Status, in: ZIP 2014, S. 1057 ff. 5 Vgl. etwa BGH 9. 2. 1978 AP § 38 GmbHG Nr. 1; BGH 16. 5. 2010, ZIP 2010, S. 1288; Reinecke (Anm. 4), ZIP 2014, S. 1057 ff. (1059). 6 S. nur BAG 26. 5. 1999 AP GmbHG Nr. 10; Rolf Wank, Fremdgeschäftsführer einer GmbH als Verbraucher, in: RdA 2011, S. 178. 7 EuGH 11. 11. 2010 – C-232/09 – Danosa NZA 2011, 143.

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keit vom Dienstberechtigten Dienstleistungen erbringt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist Arbeitnehmer, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Letztlich kommt es für die Beantwortung der Frage, ob im konkreten Fall ein Arbeitsverhältnis oder ein freies Dienstverhältnis vorliegt, auf eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls an. Der objektive Geschäftsinhalt ist den ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen und der praktischen Durchführung des Vertrags zu entnehmen. Widersprechen sich beide, ist die tatsächliche Durchführung entscheidend.8 Einen gesetzlichen Anhaltspunkt für diese Unterscheidung bietet nach wie vor die Abgrenzung zwischen dem Handelsvertreter als selbständigem Gewerbetreibenden und dem nicht selbständigen Angestellten gemäß § 84 Abs. 1 und 2 HGB. Selbständig ist danach nur, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Hierin liegt eine über den unmittelbaren Anwendungsbereich hinausgehende allgemeine gesetzliche Wertung für die Abgrenzung von Dienstvertrag und Arbeitsvertrag. Kern der Prüfung ist also immer die persönliche Weisungsgebundenheit des Dienstleistenden.9 II. Die rechtliche Stellung des GmbH-Geschäftsführers 1. Auch der GmbH-Geschäftsführer ist regelmäßig auf Grund eines Dienstvertrages angestellt. Allerdings ist bei ihm wie bei allen Vertretern juristischer Personen zu unterscheiden zwischen der Organstellung und dem Anstellungsverhältnis. Die Bestellung als gesetzliches Vertretungsorgan im Sinne von §§ 44, 35, 37 GmbHG und die Abberufung als Vertretungsorgan sind ausschließlich körperschaftliche Rechtsakte. Durch sie werden gesetzliche Kompetenzen übertragen und entzogen. Die Anstellung zum Zwecke des Tätigwerdens ist hingegen in der Regel ein schuldrechtlicher gegenseitiger Vertrag, und zwar regelmäßig ein Dienstvertrag.10 Ob dieser Dienstvertrag zu einer persönlichen Abhängigkeit im Sinne einer Arbeitnehmerabhängigkeit führen kann, ist seit langem umstritten.11 Überwiegend wurde und wird aber angenommen, das Anstellungsverhältnis sei ein freies Dienstverhältnis, da 8 BAG in ständiger Rspr. s. zuletzt etwa BAG 25. 9. 2013 NZA 2013, 1348; BAG 17. 4. 2013 AP § 611 BGB Abhängigkeit Nr. 125; BAG 9. 6. 2010 AP § 611 BGB Abhängigkeit Nr. 121. 9 BAG (Anm. 8). 10 BAG 25. 10. 2007 NZA 2008, 169. 11 S. etwa Ulrich Preis/Adam Sagan, Der GmbH-Geschäftsführer in der arbeits- und diskriminierungsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH, BGH und BAG, in: ZGR 2013, S. 26 ff. (27 ff.); Reinecke (Anm. 4), ZIP 2014, S. 1057; Kerstin Reiserer, Arbeitnehmerschutz für Geschäftsführer? – Die Danosa-Entscheidung des EuGH und ihre Auswirkungen, in: DB 2011, S. 2262 ff.

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mit der Organstellung eine Arbeitnehmereigenschaft prinzipiell unvereinbar sei. Der Inhalt der geschuldeten Dienste schließe eine Weisungsabhängigkeit im arbeitsrechtlichen Sinne aus. Der Geschäftsführer repräsentiere die Gesellschaft, die durch ihn erst handlungsfähig werde. Dieser Status stehe einer arbeitsrechtlichen Weisungsabhängigkeit zwingend entgegen. Der Geschäftsführer sei im arbeitsrechtlichen Sinne selbst Arbeitgeber und könne nicht gleichzeitig Arbeitnehmer sein.12 2. Demgegenüber wird auch die Auffassung vertreten, Organstellung und Arbeitsverhältnis schlössen sich nicht grundsätzlich aus. Bestehe die Geschäftsführung etwa aus mehreren Personen, sei die Repräsentation der Gesellschaft, die unternehmerische Willensbildung und die Wahrnehmung von Arbeitgeberfunktionen auch dann möglich, wenn einzelne Mitglieder wegen weisungsrechtlicher Abhängigkeit als Arbeitnehmer anzusehen seien.13 Die Möglichkeit einer solchen arbeitnehmertypischen Weisungsabhängigkeit wird insbesondere für den sog. Fremdgeschäftsführer, der nicht am Gesellschaftskapital beteiligt ist, wie auch für den nur mit einem Minderheitsanteil beteiligten Geschäftsführer erwogen. Ihm wird eine dem Arbeitnehmer vergleichbare Schutzbedürftigkeit zugesprochen, da er sich auch gegen gesellschaftsrechtliche wie dienstrechtliche Weisungen mangels Einflusses in der Gesellschafterversammlung praktisch nicht wehren kann.14 Unabhängig von der jeweiligen dogmatischen Grundposition erkennen auch die Befürworter einer denkbaren Arbeitnehmereigenschaft des Fremdgeschäftsführers einerseits an, dass mit der Bejahung der Frage nicht ohne weiteres der gesamte Schutzbereich des Arbeitsrechts eröffnet ist.15 Andererseits sehen auch die Vertreter der „gesellschaftsrechtlichen“ Linie, dass die soziale Schutzbedürftigkeit des Geschäftsführers die zumindest analoge Anwendung arbeitsrechtlicher Bestimmungen gebietet. So wird etwa für die Kündigungsfristen des § 622 BGB die Auffassung vertreten, dass diese jedenfalls auf die Dienstverhältnisse von wirtschaftlich abhängigen Fremdgeschäftsführern anzuwenden sind.16 Dies entspricht auch schon der früher zu den Fristen des AngKSchG vertretenen Auffassung für Geschäftsführer, die an der Gesellschaft nicht beteiligt sind und deshalb in ihrer Geschäftsführung von den Weisungen der Gesellschafter abhängig sind. Der Fremdgeschäftsführer wird auch sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wie des Bundesgerichtshofs17 als Verbraucher im Sinne des § 13 12

BGH 10. 5. 2010, ZIP 2010, 1288; Burkhard Boemke, Das Dienstverhältnis des GmbHGeschäftsführers zwischen Gesellschafts- und Arbeitsrecht, in: ZfA 1998, S. 209 ff. (212 ff.); Nathalie Oberthür, Unionsrechtliche Impulse für den Kündigungsschutz von Organvertretern und Arbeitnehmerbegriff, in: NZA 2011, S. 253 ff. (255); Reinecke (Anm. 4), ZIP 2014, S. 1057. 13 BAG 26. 5. 1999 AP GmbHG § 35 Nr. 10 mit kritischer Anmerkung Burkhard Boemke; Wank (Anm. 6), RdA 2011, S. 178 m. w. N. 14 BAG 26. 5. 1999 (Anm. 13); Wank (Anm. 6), RdA 2011, S. 178. 15 Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (28). 16 Spilger (Anm. 1), KR, § 622 BGB Rn. 66 m. w. N. 17 S. nur Palandt/Jürgen Ellenberger, 72. Aufl. § 13 BGB Rn. 3 m. w. N.

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BGB angesehen mit einer Begründung, die für seine Einordnung als Arbeitnehmer spricht. Er handelt in fremdem Interesse und nimmt die unternehmerischen Chancen für die Gesellschaft wahr und nicht für sich persönlich.18 Wenn § 14 KSchG, § 5 BetrVG, § 5 ArbGG Organvertreter ausnahmslos von ihrem Anwendungsbereich ausnehmen, kann man das durchaus dahin interpretieren, dass auch der Gesetzgeber von der grundsätzlichen Möglichkeit ausging, dass ein Organvertreter dienstrechtlich in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt wird. Andernfalls wäre die hier gewählte negative Fiktion überflüssig gewesen.19 Aus der gesetzestechnischen Ausgestaltung etwa des § 14 Abs. 1 KSchG folgt also nur, dass die Herausnahme dieses Personenkreises aus dem allgemeinen Kündigungsschutz ohne Rücksicht darauf zu erfolgen hat, ob das der organschaftlichen Stellung zu Grunde liegende Vertragsverhältnis als unentgeltlicher Auftrag, als freier Dienstvertrag oder als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist.20 Anerkannt ist inzwischen auch, dass die Anwendung des KSchG im Geschäftsführerdienstvertrag vereinbart werden kann, ohne dass es auf die vertragsrechtliche Einordnung ankommt.21 3. Auch sozialversicherungsrechtlich sind Geschäftsführer und Arbeitnehmer teilweise gleichgestellt. § 7 Abs. 1 SGB IV definiert den Begriff des Beschäftigten im Sinne der Sozialversicherung. Beschäftigung ist danach die nicht selbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Hier scheint die Parallele zum vorstehend dargelegten Arbeitnehmerbegriff auf.22 Auch wenn zwischen Arbeitsrecht und Sozialrecht zu trennen ist, bestätigt dies den von der Rechtsprechung entwickelten Arbeitnehmerbegriff. § 7 SGB IV geht aber davon aus, dass eine nichtselbständige Tätigkeit nicht nur in einem Arbeitsverhältnis erbracht werden kann, wie sich aus der Wendung „insbesondere“ ergibt. Als vergleichbare sonstige nichtselbständige Beschäftigte werden – neben anderen – gerade auch die Fremdgeschäftsführer bzw. die nur mit einem Minderanteil am Kapital beteiligten Geschäftsführer angesehen, wenn und weil sie keinen bestimmenden Einfluss auf die Gesellschaft ausüben können.23 Diese sind im Hinblick auf ihre persönliche Lage und ihre soziale Stellung eben vergleichbar einem Arbeitnehmer auch sozialversicherungsrechtlich schutzbedürftig. Der Beschäftigtenbegriff des Sozialversicherungsrechts kann zwar nicht deckungsgleich auf das Arbeitsrecht übertragen werden. Die gemeinsame Zielsetzung beider Rechts18 Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (31 ff.); Wank (Anm. 6), RdA 2011, S. 178 ff. (180). 19 Rost (Anm. 4), KR, § 14 KSchG Rn. 2. 20 BAG 25. 10. 2007 NZA 2008, 168. 21 BGH 10. 5. 2010 NZA 2010, 889. 22 Ulrich Fischer, Die Fremdgeschäftsführerin und andere Organvertreter auf dem Weg zur Arbeitnehmereigenschaft, in: NJW 2011, S. 2329 ff. (2330). 23 Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (41); Oberthür (Anm. 12), NZA 2011, S. 253 ff. (254) beide m. w. N.

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gebiete, nämlich abhängig Beschäftigten einen sozialen Schutz zu gewähren, rechtfertigt aber schon eine gegenseitige Angleichung der verwandten Begriffe. Zusammenfassend bleibt also insoweit festzuhalten, dass unabhängig vom jeweiligen Ausgangspunkt – prinzipieller Ausschluss der Arbeitnehmereigenschaft oder Bejahung jedenfalls für den „arbeitnehmerähnlichen“ Fremdgeschäftsführer – beide Meinungen sich im Ergebnis näher stehen, als der „dogmatische Graben“ vermuten lassen könnte.24 III. Der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff und die Entscheidung „Danosa“ 1. In diese zuletzt eher ruhende Auseinandersetzung – alle wesentlichen Argumente waren ausgetauscht, die Rechtsprechung des BAG und des BGH hatten tragende Divergenzen vermieden – ist erhebliche Bewegung gekommen25 durch die immer stärker werdende Einbindung des nationalen Rechts in das Europäische Recht, hier insbesondere durch einen dem nationalen Arbeitnehmerbegriff nicht kongruenten unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff. Mit seiner Entscheidung vom 11. November 2010 – Danosa26 – hat der EuGH den unionsrechtlichen Arbeitnehmerstatus der Vertreterin einer Kapitalgesellschaft bei Vorliegen entsprechender Voraussetzungen für möglich gehalten. In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es um die alleinige Geschäftsführerin einer Gesellschaft nach lettischem Recht, welche mit der deutschen GmbH in der Differenzierung zwischen gesellschaftsrechtlicher Bestellung und dienstvertraglicher Anstellung vergleichbar ist. Das lettische Recht sieht auch – vergleichbar insoweit § 38 GmbHG – die Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs der Bestellung vor. Die Geschäftsführerin, Frau Danosa, wurde während einer bestehenden Schwangerschaft durch Beschluss der Gesellschafterversammlung abberufen. Hiergegen wandte sie sich unter Berufung auf die Richtlinie 92/85 EWG (Mutterschutz-Richtlinie). In dem darauf von dem lettischen Gericht eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV hat der EuGH angenommen, dass die Arbeitnehmereigenschaft eines Mitglieds der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft, das dieser gegenüber Leistungen erbringt und in sie eingegliedert ist, dann zu bejahen ist, wenn es seine Tätigkeit nach der Weisung oder unter der Aufsicht eines anderen Organs dieser Gesellschaft ausübt und als Gegenleistung für die Tätigkeit ein Entgelt erhält. Dabei ist der EuGH ausgegangen von dem eigenständigen unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff, der nicht je nach nationalem Recht unterschiedlich ausgelegt 24

Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (28). Oder um es mit Abbo Junker, Auswirkungen der neueren EuGH-Rechtsprechung auf das deutsche Arbeitsrecht, in: NZA 2011, S. 950 ff. (951), auszudrücken: „Wasser auf die Mühlen“ derjenigen, die grundsätzlich die Arbeitnehmereigenschaft von Fremdgeschäftsführern bejahen. 26 EuGH 11. 11. 2010 – C-232/09 – Danosa – NZA 2011, 143. 25

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werden könne. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses bestehe darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringe, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhalte. Für die Arbeitnehmereigenschaft im unionsrechtlichen Sinne ist es dabei ohne Bedeutung, dass das Rechtsverhältnis nach nationalem Recht ein solches sui generis ist. Auch die formale Einstufung als Selbständiger nach innerstaatlichem Recht schließe nicht aus, dass eine Person im Sinne der Richtlinie 92/85/EWG als Arbeitnehmerin einzustufen sei, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorlägen. Die Eigenschaft als Mitglied der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft stehe der Annahme eines arbeitsrechtlichen Unterordnungsverhältnisses gleichfalls nicht entgegen. Zu prüfen seien nämlich die Bedingungen, unter denen das Mitglied der Unternehmensleitung bestellt wurde, die Art der ihm übertragenen Aufgaben, der Rahmen, in dem diese Aufgaben ausgeführt werden, der Umfang der Befugnisse des Betroffenen und die Kontrolle, der es innerhalb der Gesellschaft unterliege, sowie die Umstände, unter denen es abberufen werden könne.27 Hiervon ausgehend hat der EuGH angenommen, dass die Richtlinie 92/85/EWG einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der die Abberufung eines Mitglieds der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft ohne Einschränkung zulässig ist, wenn eine schwangere „Arbeitnehmerin“ im Sinne dieser Richtlinie betroffen sei und die Abberufung im Wesentlichen auf ihrer Schwangerschaft beruhe. In einem weiteren Begründungsansatz hat das Gericht ausgeführt, selbst wenn das betroffene Mitglied der Unternehmensleitung nicht als „Arbeitnehmerin“ im Sinne der Richtlinie angesehen werde, könne gleichwohl die Abberufung gegen die Richtlinie 76/207/EWG verstoßen, weil eine Abberufung wegen Schwangerschaft oder aus einem Grund, der wesentlich auf einer Schwangerschaft beruhe, nur Frauen treffen könne und daher eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts darstelle. 2. Diese Entscheidung hat große „Unruhe“ in der arbeitsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Literatur hervorgerufen28, zu einer intensiveren Auseinandersetzung der Rechtsprechung29 mit der „neuen“ Lage ist es bisher aber – soweit ersichtlich – noch nicht gekommen. Unklarheit besteht insbesondere über die Reichweite des so verstandenen unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs, also ob und inwieweit 27

EuGH 11. 11. 2010 (Anm. 26). Vgl. nur Fischer (Anm. 22), NJW 2011, S. 2329; Gerrit Forst, Unterliegen Geschäftsführer dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG)?, in: GmbHR 2012, S. 821; Junker (Anm. 25), NZA 2011, S. 950; Stefan Lunk/Vincent Rodenbusch, Der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff und seine Auswirkung auf das deutsche Recht, in: GmbHR 2012, S. 188; Oberthür (Anm. 12), NZA 2011, S. 253; Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26; Reiserer (Anm. 11), DB 2011, S. 2262; Martin Reufels/Karl Molle, Diskriminierungsschutz von Organmitgliedern, in: NZA-RR 2011, S. 281; Claudia Schubert, Arbeitnehmerschutz für GmbH-Geschäftsführer, in: ZESAR 2013, S. 5; Wank (Anm. 6), RdA 2011, S. 178. 29 Vgl. aber BGH 23. 4. 2012 NZA 2012, 797 – kritisch insbesondere zur Begründung Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (59 ff.); s. dazu auch unten unter IV. 2. 28

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arbeitsrechtliche Schutzvorschriften über den Mutterschutz hinaus nunmehr auch auf „Arbeitnehmer-Geschäftsführer“ anzuwenden sind, ob die derzeitigen nationalen Gesetze einer entsprechenden richtlinienkonformen Auslegung zugängig sind und ob nicht überhaupt der nationale Arbeitnehmerbegriff von dem weiteren unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff insgesamt abgelöst wird. Unklarheit besteht darüber hinaus über die Frage, ob etwaige arbeitsrechtliche Schutzvorschriften nur das dienstrechtliche Vertragsverhältnis oder auch das gesellschaftsrechtliche Bestellungsverhältnis – und wenn ja, mit welchen Folgen – erfassen. Letztere Frage kann allerdings im Rahmen dieses arbeitsrechtlich bestimmten Beitrags nur angerissen werden.30 Weitgehend Einigkeit besteht inzwischen, dass jedenfalls nicht am Kapital beteiligte Fremdgeschäftsführer einer GmbH in der Regel den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff erfüllen. Sie sind zu Leistungen verpflichtet, hinsichtlich derer sie Weisungen unterliegen. Dass diese Weisungen (auch oder vorwiegend) gesellschaftsrechtlicher Art sind, steht der Annahme des (unionsrechtlichen) Arbeitnehmerstatus nach der Auffassung des EuGH gerade nicht entgegen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der Geschäftsführer jedenfalls faktisch an die Weisungen der Gesellschafterversammlung gebunden ist, auf die er mangels eigener Kapitalbeteiligung keinen rechtlichen Einfluss hat. Dies folgt schon aus der jederzeitigen Möglichkeit, ihn gemäß § 38 GmbH – vorbehaltlich abweichender Satzungsbestimmungen – aus der Geschäftsführung abzuberufen. Insofern ist er auch in einer ungleich schwächeren Position als der Vorstand einer Aktiengesellschaft, der seine Tätigkeit gemäß § 78 AktG weisungsfrei ausüben kann und gemäß § 84 Abs. 3 AktG nur aus wichtigem Grund abberufen werden kann. Während dieser also allenfalls im Ausnahmefall dem unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff unterfallen dürfte31, wird man umgekehrt für den Fremdgeschäftsführer der GmbH regelmäßig zur Bejahung des unionsrechtlichen Status kommen.32 Vergleicht man den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff mit der schon bisher zum nationalen Arbeitnehmerbegriff teilweise vertretenen Einbeziehung des Fremdgeschäftsführers wird deutlich, dass die Argumente durchaus Parallelen aufweisen. Hier wie dort geht es letztlich um die persönliche Abhängigkeit wegen zumindest faktisch weitgehend eingeschränkter Weisungsfreiheit und vergleichbarer Schutzbedürftigkeit der Betroffenen. Gleiches gilt für die Parallele zum Beschäftigtenbegriff des Sozialversicherungsrechts, der „arbeitnehmerähnliche“ Selbständige schon nach seinem Wortlaut nicht ausschließt.33 30

S. dazu unten V. Junker (Anm. 25), NZA 2011, S. 950 ff. (951); Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (190); Oberthür (Anm. 12), NZA 2011, S. 253 ff. (254); Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 5 ff. (8); a. A. Fischer (Anm. 22), NJW 2011, S. 2329 ff. (2331). 32 Vgl. Junker (Anm. 25), NZA 2011, S. 950 ff. (951); Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (190); Reiserer (Anm. 11), DB 2011, S. 2262. 33 Vgl. schon oben unter II. 3. 31

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3. Der Arbeitnehmerbegriff des Unionsrechts findet nicht uneingeschränkt Anwendung auf das nationale Recht, er ersetzt also nicht ohne weiteres den nationalen Arbeitnehmerbegriff. Zu unterscheiden ist vielmehr danach, ob das anzuwendende nationale Recht vom Unionsrecht unmittelbar beeinflusst ist, weil es der Umsetzung europäischen Rechts dient. Dann tritt nämlich der Gedanke der einheitlichen Anwendung entsprechender Vorschriften unabhängig von unterschiedlichen nationalen Arbeitnehmerbegriffen in den Vordergrund. Soweit es um die Anwendung von Primärrecht geht (Grundrechte und Grundfreiheiten nach der Grundrechte-Charta), ist die Abgrenzung eher unproblematisch. Zu differenzieren ist aber im Bereich des Sekundärrechts, also bei der Umsetzung von Richtlinien durch den nationalen Gesetzgeber. Soweit nicht in der Richtlinie selbst ausdrücklich auf den Arbeitnehmerbegriff des Mitgliedstaates verwiesen wird,34 ist durch Auslegung der jeweiligen Richtlinie zu ermitteln, ob sie vom unionsrechtlichen oder vom nationalen Arbeitnehmerbegriff ausgeht.35 Ergibt die Auslegung, dass die Richtlinie – auch ungeschrieben – nicht vom nationalen Begriff ausgeht, gilt dann der in allen Mitgliedstaaten einheitlich anzuwendende unionsrechtliche Begriff. Dabei legt der EuGH in der Regel ausgehend vom Richtlinienzweck und unter Berücksichtigung des Harmonisierungsgedankens den unionsrechtlichen Begriff zu Grunde.36 Dies zeigt beispielhaft die Entscheidung im Fall „Danosa“, wo der EuGH ohne vertiefte Auseinandersetzung für die Richtlinie 92/85/EWG vom unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff ausgeht. IV. Arbeitnehmerschutz für den Fremdgeschäftsführer? Es bleibt also zu prüfen, welche Folgen der unionsrechtliche Arbeitnehmerstatus des Fremdgeschäftsführers hinsichtlich der Anwendung nationaler arbeitsrechtlicher Bestimmungen hat. Dabei soll der Schwerpunkt des Beitrags auf der Prüfung liegen, ob und inwieweit das MuSchG, das AGG, das BurlG, das SGB IX und das KSchG ganz oder teilweise anzuwenden sind. 1. Mutterschutz für die Fremdgeschäftsführerin nach dem Mutterschutzgesetz? Nach § 1 Nr. 1 MuSchG gilt dieses Gesetz für „Frauen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen“. Nach der bisher überwiegend vertretenen Auffassung zum nationalen Arbeitnehmerbegriff würde die Fremdgeschäftsführerin nicht vom Geltungsbe34 Vgl. die Übersicht zu Richtlinien, die vom nationalen Arbeitnehmerbegriff ausgehen, bei Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (190); Reiserer (Anm. 11), DB 2011, S. 2262 ff. (2265). 35 Fischer (Anm. 22), NJW 2011, S. 2329 ff. (2330); Forst (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 821 ff. (823); Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (190); Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 5 ff. (7). 36 Kritisch dazu Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (190); Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (47).

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reich des Gesetzes erfasst.37 Wie aber aus der Entscheidung Danosa deutlich geworden ist, geht die Richtlinie 92/85/EWG vom unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff aus. Das Mutterschutzgesetz dient zumindest auch der Umsetzung der Richtlinie, es ist im Hinblick darauf mehrfach angepasst worden.38 Der Mitgliedstaat ist verpflichtet, eine Richtlinie vollständig umzusetzen. Geht man davon aus, dass das MuSchG eine Arbeitnehmergruppe – nämlich die Fremdgeschäftsführerinnen – , die nach unionsrechtlichem Verständnis wie alle anderen Arbeitnehmerinnen schutzbedürftig sind, ausgenommen hat, würde insoweit ein Umsetzungsdefizit vorliegen. In einem solchen Fall ist jedoch zunächst zu prüfen, ob nicht die nationale Vorschrift richtlinienkonform ausgelegt werden kann.39 Das ist hier zu bejahen. § 1 Nr. 1 MuSchG spricht lediglich von einem „Arbeitsverhältnis“. Der Wortlaut des Gesetzes schließt also die Annahme eines Arbeitsverhältnisses mit einer Fremdgeschäftsführerin nicht aus. Anders als etwa in § 5 Abs. 1 S. 3 ArbGG fehlt es an einer ausdrücklichen Bestimmung, dass Organe juristischer Personen nicht als Arbeitnehmer gelten. Anders als in § 14 Abs. 1 KSchG nimmt das Mutterschutzgesetz auch nicht derartige Organe ausdrücklich von seinem Geltungsbereich aus. Da die unionsrechtlich verbindliche Umsetzung gesetzgeberisches Ziel war, ist die richtlinienkonforme Auslegung nicht nur möglich, sondern auch geboten. Fremdgeschäftsführerinnen, die den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff erfüllen, stehen also in einem Arbeitsverhältnis im Sinne des § 1 Nr. 1 MuSchG.40 Sie genießen damit den vollen Schutz dieses Gesetzes, insbesondere den besonderen Kündigungsschutz gemäß § 9 MuSchG, aber auch die Beschäftigungsverbote gemäß §§ 3 ff. Die Auslegung des § 1 Nr. 1 MuSchG im unionsrechtlichen Sinn kann nicht beschränkt werden auf die Teile, die der Richtlinie entsprechen. Soweit das Mutterschutzgesetz darüber hinausgehende, weitere Rechte einräumt, werden sie von dem einheitlichen Begriff erfasst. 2. Die Anwendung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes § 6 AGG bestimmt den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes. Nach § 6 Abs. 1 AGG sind Beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Nr. 1 sowie die Nr. 2 und Nr. 3 näher genannten Personen. In § 6 Abs. 3 AGG finden ausdrücklich die Organvertreter Erwähnung. Soweit es nämlich die Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit sowie den beruflichen Aufstieg betrifft, gelten die Vorschriften dieses Abschnitts (Schutz der Beschäftigten vor Benachteiligung) für Selb37

Vgl. dazu Oberthür (Anm. 12), NZA 2011, S. 253 ff. (256); s. auch oben unter II. 1. Oberthür (Anm. 12), NZA 2011, S. 253 ff. (256). 39 Oberthür (Anm. 12), NZA 2011, S. 253 ff. (256) m. w. N. 40 Jetzt überwiegende Auffassung, s. Monika Schlachter, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 14. Aufl. 2014, §1 MuSchG Rn. 3; Peter Bader/Inken Gallner, in: KR, § 9 MuSchG Rn. 13; Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (192); Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (53); Reiserer (Anm. 11), DB 2011, S. 2262 ff. (2266); Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 5 ff. (11). 38

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ständige und Organmitglieder, insbesondere Geschäftsführer und Geschäftsführerinnen und Vorstände entsprechend. Das Gesetz erstreckt also – anders als etwa § 5 Abs.1 S. 3 ArbGG oder §14 Abs. 1 KSchG, wonach Organvertreter vom Geltungsbereich ausgenommen werden – seinen Regelungsbereich ausdrücklich über den Arbeitnehmerbereich hinaus. Dies gilt allerdings nur für einen Teilbereich der Dienstverhältnisse von Organvertretern, nämlich Zugang und beruflichen Aufstieg. Danach hätte zwar auch der Fremdgeschäftsführer einen gewissen Diskriminierungsschutz, der aber deutlich hinter dem des Arbeitnehmers zurückblieb. Er bezöge sich etwa nicht auf den Inhalt des Dienstvertrages und insbesondere auch nicht auf die Beendigung. Dies gilt jedenfalls, wenn man vom überwiegend vertretenen nationalen Arbeitnehmerbegriff ausgeht. Es stellt sich also wiederum die Frage, ob für die Bestimmungen des AGG der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zu Grunde zu legen ist. Ist dies der Fall, verstieße der Ausschluss von als Arbeitnehmern einzuordnenden Fremdgeschäftsführern gegen Unionsrecht. Das AGG dient insgesamt der Umsetzung der sogenannten Diskriminierungsrichtlinien.41 Diese verweisen aber nicht auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff, sondern gehen ohne Zweifel nach den oben genannten Kriterien vom erweiterten unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff aus.42 Versteht man also § 6 Abs. 3 AGG in dem Sinne, dass er Organvertreter auch dann nur beschränkt dem Anwendungsbereich des Gesetzes unterstellen will, wenn sie den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff erfüllen, wären die entsprechenden Diskriminierungsrichtlinien nicht ordnungsgemäß umgesetzt.43 Wie schon beim Mutterschutzgesetz ist jedoch auch hier zu prüfen, ob § 6 AGG nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann. Das ist auch in diesem Fall zu bejahen. § 6 AGG enthält keine eigenständige Definition des Arbeitnehmerbegriffs. Organvertreter werden auch – anders wiederum als in § 5 Abs.1 S. 3 ArbGG – nicht aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen. § 6 Abs. 3 AGG enthält keine negative Fiktion in diesem Sinne. Die Vorschrift lässt sich vielmehr durchaus im Sinne einer Erweiterung des Anwendungsbereichs auf Dienstleistende verstehen, die – auch nach dem unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff – nicht als Arbeitnehmer angesehen werden können. Sowohl nach Wortlaut, Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung lässt sich also der Fremdgeschäftsführer als Arbeitnehmer im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 AGG verstehen. Damit kommt man zu einer richtlinienkonformen Auslegung des Gesetzes und einem Ergebnis, welches dem Ziel des Gesetzgebers, die Richtlinien voll umzusetzen, entspricht. Richtiger Auffassung nach ist daher das AGG in vollem Umfang auf Fremdgeschäftsführer anzuwenden, welche nach den Kriterien der Danosa-Entscheidung 41

Aino Schleusener/Jens Suckow/Burkhard Voigt, AGG-Kommentar, 4. Aufl. 2013, § 6 Rn. 19; Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (48). 42 Vgl. schon oben III. 3. 43 Junker (Anm. 25), NZA 2011, S. 950 ff. (951); Oberthür (Anm. 12), NZA 2011, S. 253 ff. (257).

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als Arbeitnehmer anzusehen sind.44 Zur Anwendung kommt dann auch die Beweislastregelung des § 22 AGG.45 Für alle anderen Organvertreter bleibt es bei der partiellen Anwendung gemäß § 6 Abs. 3 AGG.46 Die Rechtsprechung hat diesen Schritt noch nicht vollzogen, möglicherweise auch mangels einer entsprechenden „passenden“ Fallgestaltung. Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 23. April 201247 , in dem es um die Frage ging, ob einem Geschäftsführer die Verlängerung des wegen Befristung auslaufenden Dienstvertrages in altersdiskriminierender Weise versagt wurde, zwar angenommen, dass die Kriterien des unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffes erfüllt waren. Er hat aber die Frage der erweiternden Auslegung von § 6 Abs. 1 AGG offen gelassen.48 Dies konnte er, weil er die Auswahlentscheidung für die (Weiter-)Beschäftigung als von § 6 Abs. 3 AGG erfasste Maßnahme des Zugangs zur Erwerbstätigkeit angesehen hat49. Die Verweigerung der Verlängerung des Anstellungsvertrages wurde hiervon ausgehend als diskriminierend angesehen mit der Folge einer entsprechenden Entschädigungspflicht. Nach dieser Auffassung kam es also nicht auf die Anwendung von § 6 Abs. 1 AGG an. Zu einer andernfalls eventuell zu erwägenden Vorlage an den EuGH gemäß § 267 AEUV sah der BGH – insoweit konsequent – keinen Anlass.50 3. Die Anwendung des Bundesurlaubsgesetzes Dass auch das Urlaubsrecht unionsrechtlich begründet ist, hat sich spätestens seit der Entscheidung Schultz-Hoff,51 mit der die Urlaubsrechtsprechung des BAG „umgestürzt“52 wurde, ins arbeitsrechtliche Bewusstsein zurückgebracht. Der Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub von vier Wochen ist in der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG geregelt. Dabei geht die Richtlinie – nach den obigen Kriterien wiederum ohne Zweifel – vom unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff aus. Das Bun44 Schlachter (Anm. 40), in: Erfurter Kommentar, § 6 AGG Rn. 5; Schleusener/Suckow/ Voigt (Anm. 41), § 6 AGG Rn. 19; Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (49); Reiserer (Anm. 11), DB 2011, S. 2262; Reufels/Molle (Anm. 28), NZA-RR 2011, S. 281 ff. (283); Rolf Wank, Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 11. 11. 2010, C-232/09, ZIP, 2010, 2414 – Zur Arbeitnehmereigenschaft des GmbH-Fremdgeschäftsführers, in: EWiR 2011, S. 27; Bedenken bei Jobst-Hubertus Bauer/Burkard Göpfert/Steffen Krieger, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), 3. Aufl. 2011, § 6 AGG Rn. 35a. 45 Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (66); im Ergebnis auch BGH 23. 4. 2012 NZA 2012, 797. 46 Schleusener/Suckow/Voigt (Anm. 41), § 6 AGG Rn 19. 47 NZA 2012, 797. 48 Kritisch dazu Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (61 ff.). 49 Auch insoweit Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. 50 Zum Problem der Altersdiskriminierung von Organmitgliedern s. auch Jobst-Hubertus Bauer/Christian Arnold, Altersdiskriminierung von Organmitgliedern, in: ZIP 2012, S. 597 ff. 51 EuGH 20. 1. 2009 NZA 2009, 135; s. zum Ganzen Inken Gallner, in: Erfurter Kommentar, § 1 BUrlG Rn. 6 ff. 52 Bzw. – richtiger – vom Kopf wieder auf die Füße gestellt wurde.

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desurlaubsgesetzes, das zumindest auch die Arbeitszeitrichtlinie bezüglich des nicht abdingbaren Mindesturlaubs umsetzen will, erstreckt seinen Geltungsbereich auf Arbeitnehmer, worunter im Sinne des Gesetzes Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten zu verstehen sind, § 2 S. 1 BUrlG. Es stellt sich damit wiederum die Frage, ob Fremdgeschäftsführer, die den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff erfüllen, hierunter in richtlinienkonformer Auslegung subsumiert werden können. Dies ist hier umso eher zu bejahen, als die Organvertreter überhaupt nicht erwähnt werden, also weder ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgeschlossen werden – wie in § 5 Abs. 1 S. 3 ArbGG – noch (sei es auch nur partiell) einbezogen werden – wie in § 6 Abs. 3 AGG. Auch Fremdgeschäftsführer haben also einen Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen, soweit sie im unionsrechtlichen Sinne Arbeitnehmer sind.53 Dies mag in der Praxis weniger Bedeutung haben, weil ihnen in der Regel im Anstellungsvertrag ein höherer Urlaubsanspruch eingeräumt sein wird. Geht man von der Anwendung des BUrlG insgesamt aus, ist aber auch zu berücksichtigen, dass die gleichfalls europarechtlich bestimmten Regelungen über Verfall und Abgeltung von Urlaubsansprüchen, wie sie jetzt von der Rechtsprechung des BAG entwickelt wurden, anzuwenden sind.54 4. Die Anwendung des Sozialgesetzbuches IX Zweifelhaft ist, inwieweit die Bestimmungen des SGB IX zum Schwerbehindertenschutz anzuwenden sind. Dies gilt insbesondere für den besonderen Kündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX. Die insoweit einschlägige Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG verlangt keinen besonderen Kündigungsschutz als positive Maßnahme zugunsten behinderter Arbeitnehmer. Dies lässt sich dahin verstehen, dass der deutsche Gesetzgeber – was ihm unbenommen bleibt – mit dem Kündigungsschutz jedenfalls in der formalen Ausgestaltung der §§ 85 ff. über die europäischen Vorgaben hinausgegangen ist.55 Insoweit ist also nicht der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zu Grunde zu legen. Es bliebe dann allerdings noch die Frage der Anwendung der §§ 85 ff. SGB IX auf Organvertreter, die entgegen der herrschenden Auffassung auch nach nationalem Recht ausnahmsweise als Arbeitnehmer angesehen werden. Sie dürfte wohl zu bejahen sein. Auch wenn man also den besonderen Kündigungsschutz der §§ 85 ff. als nicht anwendbar sieht, bleibt es bei der Geltung der Diskriminierungsverbote des AGG, darunter eben auch das Verbot einer Diskriminierung wegen Behinderung. Trifft es zu, dass für Arbeitnehmer-Fremdgeschäftsführer im unionsrechtlichen Sinn nicht die 53 Gallner (Anm. 51), Erfurter Kommentar, § 1 BUrlG Rn. 15; ausführlich Forst (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 821 ff. 54 Forst (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 821 ff. – zugleich mit Vorschlägen für die Vertragsgestaltung. 55 Christian Rolfs, in: Erfurter Kommentar, § 73 SGB IX Rn. 2; Gerhard Etzel/Inken Gallner, in: KR, Vor §§ 85 – 92 SGB IX – dürfte nicht anwendbar sein.

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nur beschränkte Anwendung des § 6 Abs. 3 AGG gilt, sondern gemäß § 6 Abs. 1 AGG der volle Anwendungsbereich des AGG eröffnet ist,56 genießen sie dann auch den Diskriminierungsschutz wegen Behinderung. Eine Kündigung wegen einer Behinderung kann aber eine unmittelbare Diskriminierung darstellen, die dann nach § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG unwirksam ist. § 2 Abs. 4 AGG, wonach für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten, steht dem nicht entgegen. Dies hat das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 19. Dezember 201357 in überzeugender Weise dargelegt und die Kündigung eines Arbeitnehmers, der – wegen Nichterfüllung der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG noch – keinen Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz genoss, für unwirksam befunden. § 2 Abs. 4 AGG regelt für Kündigungen nur das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und dem Kündigungsschutzgesetz sowie den speziell auf Kündigungen zugeschnittenen Bestimmungen. Der Vorschrift ist nicht zu entnehmen, dass das AGG für Kündigungen überhaupt keine Anwendung findet. Ein solches Verständnis wäre unvereinbar mit Europarecht. Das Bundesarbeitsgericht hat daher schon mit seiner Entscheidung vom 6. November 200858 in richtlinienkonformer Auslegung von § 2 Abs. 4 AGG für Kündigungen, die dem KSchG unterfallen, angenommen, dass bei Prüfung der Wirksamkeit solcher Kündigungen die Diskriminierungsverbote des AGG und die darin vorgesehenen Rechtfertigungsgründe für unterschiedliche Behandlungen als Konkretisierungen der Sozialwidrigkeit zu beachten sind. Findet das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung, kommt es nicht zu einer Prüfung am Maßstab der Sozialwidrigkeit. Die Antidiskriminierungsrichtlinien verlangen aber einen Schutz vor diskriminierenden Kündigungen auch für Arbeitnehmer, die nicht vom (nationalen) Kündigungsschutzgesetz erfasst sind. Dieser Schutz kann sich über die Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB ergeben. Die zivilrechtlichen Generalklauseln werden von § 2 Abs. 4 AGG nicht erfasst. Der Diskriminierungsschutz des AGG füllt seinerseits aber die Generalklauseln aus und verdrängt diese insoweit. Ordentliche Kündigungen außerhalb des Anwendungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes sind deshalb unmittelbar am Maßstab des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zu messen und nicht am Maßstab der Sozialwidrigkeit. Dies ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 2 Abs.4 AGG unter Berücksichtigung der Gesetzesgeschichte und des mit der Regelung verfolgten Zwecks. Das AGG regelt allerdings nicht, welche Rechtsfolgen eine nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG unzulässige Benachteiligung wegen Diskriminierung bei einer Entlassung hat. Diese ergibt sich dann aus § 134 BGB, nämlich die Unwirksamkeit wegen Gesetzesverstoßes.59 56

S. dazu oben IV. 2. BAG 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12. 58 BAG 6. 11. 2008 NZA 2009, 361. 59 BAG 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12 –; so im Ergebnis auch Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 6 ff. (12). 57

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Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 19. Dezember 2013, der insoweit in vollem Umfang zuzustimmen ist, führt zwar als Beispiele für vom Kündigungsschutzgesetz nicht erfasste Arbeitnehmer diejenigen auf, die die Wartezeit noch nicht erfüllt haben oder die in einem Kleinbetrieb im Sinne des § 23 KSchG beschäftigt sind. Beide Fallgestaltungen spielen beim Fremdgeschäftsführer an sich keine Rolle. Für Organvertreter ist die Anwendung des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes vielmehr generell ausgeschlossen gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG. Geht man also einmal davon aus, dass dieser Ausschluss auch für den Fremdgeschäftsführer gilt, der den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff erfüllt,60 bleibt für diesen dann aber nur noch der allgemeine Diskriminierungsschutz. Dieser steht ihm zu, weil die Bestimmungen des AGG bei richtlinienkonformer Auslegung der § 6 Abs. 3 und Abs. 1 AGG in vollem Umfang auf ihn anwendbar sind. Insoweit ist seine Situation nicht anders als die eines „unstreitigen“ Arbeitnehmers, der – wegen nicht erfüllter Wartezeit – noch keinen oder – im Kleinbetrieb – unter Umständen auf Dauer keinen Kündigungsschutz im Sinne des § 1 KSchG genießt. Im Ergebnis hat also der Arbeitnehmer-Fremdgeschäftsführer danach gleichfalls einen Diskriminierungsschutz gegen Kündigungen, wenn man davon ausgeht, dass die Sonderkündigungsschutzbestimmungen der § 85 ff. SGB IX keine Anwendung finden. Die Rechtsfolgen einer in diesem Sinne diskriminierenden Kündigung sind dann nach Maßgabe des AGG zu beurteilen. Dass sie teils ungünstiger sind, weil es kein formalisiertes Zustimmungsverfahren gibt, teils günstiger, weil der Grad der Behinderung nicht an die Grenzen des SGB IX gebunden ist oder weil dem Behinderten die Beweiserleichterung des § 22 AGG zu Gute kommt, ist hinzunehmen. Keinen Unterschied gibt es insoweit hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs nach § 15 Abs. 2 AGG, der auch bei Kündigungen, die unter das Kündigungsschutzgesetz fallen, Anwendung findet. § 2 Abs. 4 AGG steht dem nicht entgegen.61 5. Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes auf Fremdgeschäftsführer? Die Einbeziehung des Arbeitnehmer-Fremdgeschäftsführers unter partielle arbeitsrechtliche Schutzvorschriften wirft natürlich auch die Frage auf, ob nicht das Kündigungsschutzgesetz insgesamt anwendbar ist. Dass dies wegen der Ähnlichkeit der sozialen Stellung insbesondere mit den vom Kündigungsschutzgesetz erfassten leitenden Angestellten rechtspolitisch erwünscht und geboten wäre, ist eine schon vor der durch die Danosa-Entscheidung ausgelösten Diskussion wiederholt gestellte Forderung.62 Die derzeitige Gesetzeslage lässt dies aber wohl nicht zu.63

60

Vgl. dazu aber sogleich unter IV. 5. So jetzt zu Recht BAG 19. 12. 2013. 6 AZR 190/12 –, s. auch Reufels/Molle (Anm. 28), NZA-RR 2011, S. 281 ff. (285). 62 Vgl. nur Rost (Anm. 4), in: KR, § 14 Rn. 4. 61

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Der Fremdgeschäftsführer könnte zwar als „Arbeitnehmer“ im Sinne des § 1 KSchG angesehen werden.64 § 14 Abs. 1 KSchG nimmt aber Organvertreter ohne Ausnahme vom Anwendungsbereich des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes aus. Anknüpfungspunkt für die im Sinne einer negativen Fiktion ausgestalteten Regelung ist allein die Organstellung des dort genannten Personenkreises. Dies kann nur so verstanden werden, dass die Herausnahme aus dem allgemeinen Kündigungsschutz ohne Rücksicht darauf zu erfolgen hat, ob das der organschaftlichen Stellung zu Grunde liegende Vertragsverhältnis als (freier) Dienstvertrag oder als Arbeitsvertrag zu qualifizieren ist. Die Annahme eines Arbeitsvertrages wollte der Gesetzgeber offensichtlich nicht grundsätzlich ausschließen, sonst hätte es nicht der negativen Fiktion bedurft.65 Europarechtliche Überlegungen können diese Gesetzeslage hier wohl nicht überwinden. Der mit dem Kündigungsschutzgesetz eingeräumte allgemeine Kündigungsschutz setzt keine entsprechenden Richtlinien um. Es ist also nicht vom unionsrechtlichen, sondern vom nationalen Arbeitnehmerbegriff auszugehen.66 Nach Art. 30 GRCh hat zwar jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung. Daraus lässt sich aber kein unmittelbares Recht auf einen § 1 KSchG entsprechenden Schutz ableiten. Die Ausgestaltung des Kündigungsschutzes bleibt den einzelstaatlichen Regelungen überlassen.67 Die Charta der Grundrechte gilt nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Ein solches Recht auf einen in bestimmter Weise ausgestalteten Kündigungsschutz – also eine Richtlinie entsprechend etwa der Mutterschutz-Richtlinie wie im Fall Danosa – gibt es aber (noch) nicht. Man kann zwar aus Art. 30 GR-Charta folgern, dass der Mitgliedstaat einen Mindestschutz gegen Entlassungen von Arbeitnehmern vorsehen muss68. Dieser Mindestschutz – der sich im Übrigen auch aus der Schutzpflicht des Gesetzgebers aus Art. 12 GG ableiten lässt – wäre hier aber einerseits gewährleistet dadurch, dass in jedem Fall zu überprüfen ist, ob die Kündigung gegen die guten Sitten verstößt (§ 138 BGB) oder ob sie Treu und Glauben (§ 242 BGB) verletzt aus Gründen, die allerdings nicht von § 1 KSchG erfasst sind. Hinzu kommt ein beachtlicher Kün63

Vgl. auch Manfred Löwisch/Günther Spinner/Frank Wertheimer, KSchG, 10. Aufl. 2013, § 14 KSchG Rn. 1 – die Bereichsausnahme habe weiterhin Bestand; vorsichtiger Gerrick v. Hoyningen-Huene/Rüdiger Linck, KSchG, 15. Aufl. 2013, Rn. 2 – die Auswirkungen der Danosa-Entscheidung bleiben abzuwarten. 64 Gallner (Anm. 51), in: Erfurter Kommentar, § 1 BUrlG Rn. 15 – ohne aber Konsequenzen für das Kündigungsschutzgesetz daraus zu ziehen. 65 BAG 25. 10. 2007 NZA 2008, 168. 66 Anders wohl für §§ 17 ff. KSchG – s. dazu jetzt die EuGH-Vorlage ArbG Verden 6. 5. 2014 – 1Ca35/13-AuR2014, 343. 67 Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (194). 68 Fischer (Anm. 22), NJW 2011, S. 2329 ff. (2332).

Der „Fremdgeschäftsführer“ als Arbeitnehmer

547

digungsschutz, der sich aus den vorstehend erörterten Regelungen ergibt, für die der unionsrechtliche. Arbeitnehmerbegriff gilt – also insbesondere der volle Schutz gegen diskriminierende Kündigungen.69 Will man dies als nicht ausreichenden Mindestschutz im Sinne von Art. 30 GRCh ansehen, stellte sich dann allerdings die Frage einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 14 Abs. 1 KSchG in der Weise einer teleologischen Reduktion dahin, dass sich die Bereichsausnahme nicht auf Arbeitnehmer-Fremdgeschäftsführer erstreckt. Damit genössen im Ergebnis Fremdgeschäftsführer wohl generell Kündigungsschutz im Sinne des § 1 KSchG. Wollte man so weit gehen, bliebe dann allerdings zu erwägen, ob nicht die Regelung für leitende Angestellte analog § 14 Abs. 2 KSchG angewandt werden sollte. Dass dies zu einer an sich wünschenswerten Lösung führte, soll noch einmal wiederholt werden. Eine derartige Beschränkung der Bereichsausnahme des § 14 Abs. 1 KSchG überschreitet aber wohl angesichts der vom Gesetzgeber ausdrücklich gewählten negativen Fiktion die Grenzen zulässiger Auslegung.70 Nachzudenken wäre allerdings noch über die Frage, ob nicht dieser Ausschluss der „arbeitnehmerähnlichen Fremdgeschäftsführer“ angesichts ihrer Nähe zum „normalen“ Arbeitnehmer – insbesondere den leitenden Angestellten – gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.71 Dies kann hier aber nicht vertieft werden. V. Diskriminierungsschutz auch im Organverhältnis? Abschließend soll noch ein kurzer Blick darauf geworfen werden, ob der unionsrechtlich geprägte Diskriminierungsschutz auch das Bestellungsverhältnis des Fremdgeschäftsführers erfasst. Dies wird aus der Danosa-Entscheidung gefolgert72, die nicht deutlich zwischen Anstellungsverhältnis und Bestellungsverhältnis unterscheidet, sondern generell die „Abberufung“ der schwangeren Fremdgeschäftsführerin als gegen die Mutterschutzrichtlinie verstoßend ansieht. Hieraus wird teilweise geschlossen, es könne kein Zweifel bestehen, dass sich der Schutz nicht nur auf die Kündigung des Anstellungsverhältnisses, sondern auch die Abberufung aus der Organstellung beziehe.73 Danach bliebe die unwirksam gekündigte Geschäftsführerin 69

S. vorstehend unter IV.4; s. auch Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 5 ff. (12). Gegen die Möglichkeit einer solchen Auslegung auch Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (194). 71 Vgl. grundsätzlich dazu etwa BVerfG 30. 3. 1990 AP § 622 BGB Nr. 28. 72 EuGH 11. 11. 2010 –C-232/09 – NZA 2011, 143. 73 Oberthür (Anm. 12), NZA 2011, S. 253 ff. (254); Reiserer (Anm. 11), DB 2011, S. 2262 ff. (2266); Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 5 ff. (9); Lunk/Rodenbusch (Anm. 28), GmbHR 2012, S. 188 ff. (193), sehen das zwar kritisch, wollen aber nicht ausschließen, dass der EuGH die Organisationsfreiheit der Gesellschaft nicht „für allzu bedeutend“ hält; Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff., sehen es als zweifelhaft an, ob der Danosa-Entscheidung die Erstreckung auf das Bestellungsverhältnis überhaupt entnommen werden kann. 70

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Friedhelm Rost

vertretungsberechtigt. Auch der BGH geht offenbar davon aus, dass der Diskriminierungsschutz des § 6 Abs. 3 AGG sich sowohl auf das Anstellungsverhältnis als auch auf das Bestellungsverhältnis bezieht;74 das gilt dann allerdings nur für den Zugang zur Erwerbstätigkeit und den beruflichen Aufstieg, Kündigungen und entsprechend Abberufungen aus dem Organverhältnis sind von §6 Abs. 3 AGG nicht erfasst. Die Frage kann im Rahmen dieses Beitrages, in dem vorrangig die Erweiterung des Arbeitnehmerbegriffs dargestellt werden sollte, nicht abschließend beantwortet werden. Es wird aber gegen ein „Durchschlagen“ des Diskriminierungsschutzes mit beachtlichen Argumenten etwa eingewandt, ein solches Ergebnis kollidiere mit der Organisationsfreiheit der GmbH als juristischer Person.75 Bliebe bei Behauptung einer diskriminierenden Abberufung der Geschäftsführer zunächst im Amt, ergäbe sich eine Phase der Unsicherheit für den Geschäftsverkehr.76 Teilweise wird auch angenommen, das europäische Recht zwinge nicht zur Gewährung von Diskriminierungsschutz im Bestellungsverhältnis77 – was der EuGH in der Entscheidung Danosa aber wohl anders sieht. Darauf hingewiesen wird auch, dass § 38 GmbHG, der eine Abberufung ohne Gründe vorsieht, keine richtlinienkonforme Auslegung ermögliche78 – was dann allerdings zu einem Umsetzungsdefizit führte. Erwogen wird auch, den Konflikt zwischen Organisationshoheit der Gesellschaft und Kapitalverkehrsfreiheit einerseits und Diskriminierungsschutz andererseits durch eine teleologische Reduktion des § 7 Abs. 1 AGG in der Weise aufzulösen, dass die Abberufung wirksam bleibt, aber der Geschäftsführer einen Anspruch auf Schadensersatz und Entschädigung gemäß § 15 AGG hat.79 Diese Lösung hat einen gewissen „Charme“ insoweit, als sie sich im Ergebnis der Regelung des § 14 Abs. 2 KSchG annähert, wonach leitende Angestellte, denen die Arbeitnehmer-Fremdgeschäftsführer nach ihrem Sozialbild ja ohne weiteres vergleichbar sind, letztlich gleichfalls nur auf einen finanziellen Ausgleich in Form einer Abfindung verwiesen werden.80

74

BGH 23. 4. 2012 NZA 2012, 797. Holger Altmeppen/Günther H. Roth, GmbHG, 7. Aufl. § 38 GmbHG Rn. 31a – schwerer Eingriff in die Privatautonomie; Wolfgang Zöllner/Ulrich Noack, in: Adolf Baumbach/Alfred Hueck (Hrsg.), GmbHG, 20. Aufl., 2013, § 38 GmbHG Rn. 31a – sachlich verfehlt. 76 Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 5 ff. (12); Zweifel insoweit auch bei Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (38). 77 Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (38). 78 Junker (Anm. 25), NZA 2011, S. 950 ff. (951), – mit dem Hinweis, dass der Abberufungsschutz unter Umständen stärker wäre als der Kündigungsschutz, weil es an der Möglichkeit einer Genehmigung entsprechend § 9 Abs. 3 MuSchG fehle. 79 Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 5 ff. (13); vgl. auch Reufels/Molle (Anm. 28), NZA-RR 2011, S. 281 ff., wonach § 7 Abs. 2 AGG Unwirksamkeit nur für Bestimmungen in Vereinbarungen anordne, Beschlüsse von Gesellschaftsorgane aber nicht erfasse. 80 Schubert (Anm. 28), ZESAR 2013, S. 5 ff. (8), weist zu Recht auf die Vergleichbarkeit mit leitenden Angestellten hin, die ebenfalls Arbeitgeberfunktionen übernehmen; s. auch Wank (Anm. 6), RdA 2011, S. 178 ff.; ders. (Anm. 44), EWiR 2011, S. 27. 75

Der „Fremdgeschäftsführer“ als Arbeitnehmer

549

Auch hier wird es zu einer endgültigen Klärung wohl erst durch eine Vorlage nach Art. 267 AEUV an den EuGH kommen.81 Ausblick Es konnten in diesem Beitrag nicht alle Probleme angesprochen und schon gar nicht gelöst werden, die durch die Entscheidung Danosa aufgeworfen worden sind. Deutlich gemacht werden sollte aber, wie das Unionsrecht, an dessen Entstehen der Jubilar über lange Jahre an politisch prominenter Stelle beteiligt war, das nationale Recht mehr und mehr überlagert. Der Streit über den Arbeitnehmerstatus von Fremdgeschäftsführern ist durch den EuGH wieder in Bewegung geraten. Die Anwendung des unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs führt zur Bejahung des Status jedenfalls in den vom Unionsrecht gestalteten Bereichen des nationalen Arbeitsrechts – das gilt vor allem für die Diskriminierungstatbestände. Die geltenden Gesetze sind weitgehend einer richtlinienkonformen Auslegung zugängig. Ob der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff generell den nationalen Begriff ablöst82, bleibt abzuwarten. Da gesetzliche Klarstellungen nicht zu erwarten sind, wird die „zwielichtige Gestalt“ des GmbH-Geschäftsführers83 der Wissenschaft und der Rechtsprechung noch reichlich Anlass zu vertiefter Erörterung bieten.

81

Für eine solche plädieren auch Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (39). Wank (Anm. 44), EWiR 2011, S. 27. 83 Preis/Sagan (Anm. 11), ZGR 2013, S. 26 ff. (74).

82

Der Vergleich bei Gericht in der Politik Von Christoph Ullrich I. Vergleich bei Gericht 1. Vergleich statt Urteil Gerichte entscheiden üblicherweise durch Urteil. Dies entspricht ihrer staatlichen Aufgabe. Beteiligte, die im Streit um ihre Rechte und Pflichten sind, können staatliche Hilfe zur Regelung ihrer Angelegenheiten in Anspruch nehmen. Aufgabe der Justiz ist es, den Sachverhalt aufzuklären und Kraft staatlicher Machtbefugnis zu entscheiden. Letztlich ist dies nur ultima ratio, wenn eine eigenverantwortliche Lösung nicht möglich ist. Vom Urteil wird erwartet: Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden. Diese Grundlagen der Rechtsprechung können allerdings nicht in jedem Fall erreicht werden. Beweisaufnahme und Beweiswürdigung ermöglichen nicht immer die Ermittlung der Wahrheit. Rechtsnormen und Verträge haben Lücken, die verschiedene Ergebnisse ermöglichen, und oftmals folgen auf eine gerichtliche Entscheidung mehrere neue Verfahren. Das Urteil entscheidet nur über den Streitgegenstand, der im Verfahren behandelt wird und auch oftmals nur behandelt werden kann. Insbesondere bei komplexen Auseinandersetzungen trifft das gerichtliche Verfahren nur einen engen Teilbereich und lässt eine Vielzahl von Fragen – bedingt durch die Struktur der Rechtsordnung – offen. Hinzu kommt, dass nach einem rechtskräftigem Titel noch eine Zwangsvollstreckung folgen kann mit der Möglichkeit zu weiteren Auseinandersetzungen und insbesondere dem Scheitern der Bemühungen von der Gegenseite, den ausgeurteilten Betrag, die Leistung, zu erhalten. Urteile bieten oft nur die Möglichkeit einer „Alles oder Nichts“-Lösung und nicht eines den jeweiligen Risiken und Situationen angepassten Mittelwegs. Die Zivilprozessordnung1 sieht dieses Problem und verpflichtet das Gericht in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits hinzuwirken. Die eigenverantwortliche Entscheidung der Beteiligten geht einem staatlichen 1 § 278 Abs. 1 ZPO: „Das Gericht soll in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits oder einzelner Streitpunkte bedacht sein.“ Für die Freiwillige Gerichtsbarkeit vgl. § 113 FamFG i. V. m. § 278 ZPO.

552

Christoph Ullrich

Machtspruch vor und ist grundsätzlich ein milderes Mittel2. Der Vergleich bietet gegenüber dem Urteil in mehrfacher Hinsicht Vorteile. Er ermöglicht beiden Parteien das Gesicht zu wahren und die Frage des „Verlierens“ bzw. „Gewinnens“ durch ein Urteil zu entschärfen. Ein Vergleich wird zwischen den Beteiligten ausgehandelt und dadurch können wesentlich mehr und ganz andere Kriterien maßgeblich sein als bei einer streitigen Entscheidung. Die Parteien streiten nicht nur miteinander, sie reden und verhandeln miteinander. Das Verhandlungsergebnis ist ihr eigenes Werk und nicht die Entscheidung eines Dritten. Der Vergleich kann sich über den Streitgegenstand hinaus erstrecken, und die Wünsche der Parteien können eingearbeitet werden. So kann Zahlungsaufschub oder Ratenzahlung gewährt werden. Rücktritt oder Minderung können durch Reparatur ersetzt werden. Andere Streitpunkte oder Prozesse werden miterledigt und dritte Personen können sich an der Lösung des Konflikts beteiligen. Ein umfassender Vergleich kann Rechtsfrieden stiften und die zerstrittenen Parteien versöhnen. Durch diese über die engen Begrenzungen einer streitigen Entscheidung hinausgehenden Merkmale unterscheidet sich der Vergleich wesentlich vom Urteil und bietet den Parteien mehr Möglichkeiten. Konflikt/Urteil/Vergleich Konflikt

Konflikt

Urteil

Konfliktbeteiligte

Kläger/ Beklagter

Kläger und Beklagter (Streitgenossen) (Zeugen)

Konfliktstoff

Komplexer Sachverhalt, laufende Geschäfts-/Rechts-beziehungen, drohende Streitpunkte, Sach- und Beziehungsebene

Entscheidung nach rechtlichen „Anspruchsgrundlagen“ und „Streitgegenstand“

Konfliktverlauf

Dynamischer Verlauf

Der Streitgegenstand des Prozesses

Konfliktstrategie

psychischer Druck, Kommunikation, Resignation, Beteiligung Dritter, Gewalt

Ermittlung des Sachverhalts zu den Anspruchsgrundlagen, Beweiserhebung, Beweislast, rechtliche, nicht wirtschaftliche Lösung

2

Vgl. BVerfG, NJW-RR 2007, 1073, 1074.

Vergleich

Der Vergleich bei Gericht in der Politik Konflikt

Konflikt

Konfliktbeendigung Konsens, Dauerstreit, Trennung, Eskalation Grundstruktur hohe Komplexität, regellos

Urteil

553 Vergleich

„Urteil“ durch das Gericht! Beendigung ungewiss reduziert auf Anspruchsgrundlage, fremdbestimmt

Erweiterung der Komplexität, autonom, eigenverantwortlich

In der Tabelle ist die Spalte zum Vergleich bewusst offen gelassen. Die Vorteile einer eigenverantwortlichen Lösung sind evident. Bei allen Vorteilen des Vergleiches dürfen die Qualitäten der Prozessförderung und des Urteils nicht außer Acht gelassen werden. Die streitige Entscheidung ist besonders gefordert, wenn im Hinblick auf ein Ungleichgewicht der Beteiligten einer zu unterliegen droht. Er muss dann die Möglichkeit haben, staatliche Hilfe zu erhalten. Bei allzu intensiven Vergleichs- bzw. Mediationsbemühungen, die nicht das Recht als Leitlinie haben, kann dies zu rechtsferner Konfliktlösung führen und so eine Erosion der Rechtsordnung verursachen3. Einen Zwang zum Vergleich darf es nicht geben4. Das Gericht ist an Recht und Gesetz gebunden. Im Rahmen eines Vergleiches geht es allein um interessenorientierte Lösungen. Hieraus können Konflikte entstehen; nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Frage der gerichtsinternen Mediation bzw. des Güterichtermodelles wurden diese diskutiert5. Die grundsätzliche Frage der gerichtsinternen Mediation, des Güterichters und der staatlichen Aufgaben in diesem Bereich6 soll hier nicht erörtert werden. Im Vordergrund des Beitrages steht die staatliche Aufgabe der Rechtsprechung und des im Rahmen des Verfahrens7 anzustrebenden Vergleiches. Der Vergleich darf das Urteil nicht aus dem Prozess drängen. Die Rechtsordnung benötigt die bindende Entscheidung. Die Rechtsordnung benötigt das Urteil, denn 3 Vgl. Bernd Hirtz, Plädoyer für den Prozess, in: NJW 2012, S. 1686; Wolfgang Ewer, Wenn nur der Konsens zählt – was bleibt für den Prozess?, in: AnwBl. 2012, S. 18. 4 Wirksame Vergleichsanfechtung: BAG, NZA, 2010, 1250; Helen Brugger/Katharina Ziegler, Die Grenze von Vergleichsbemühungen bei einem Prozessvergleich, in: NJW-Spezial 2011, S. 114; Alexander Knauss, Der „Zwang“ zur gütlichen Einigung – Für eine Reform des § 278 ZPO, in: ZRP 2009, S. 206. 5 Thomas Aumüller, Festschrift für das Studienzentrum der Finanzverwaltung und Justiz, 2010, S. 33 ff.; Hirtz (Anm. 3), NJW 2012, S. 1686; Ewer, AnwBl. 2012, S. 18; Georg Steinberg, Richterliche Gewalt und Mediation, in: DRiZ 2012, S. 19. 6 Kritisch: Aumüller (Anm. 5), Festschrift für Studienzentrum der Finanzverwaltung und Justiz, S. 33, 48; befürwortend: Roland Fritz/Hans-Patrick Schroeder, Der Güterichter als Konfliktmanager im staatlichen Gerichtssystem, in: NJW 2014, S. 1910. 7 § 278 ZPO.

554

Christoph Ullrich

nur dadurch kann das Recht weiter entwickelt und fortgebildet werden. Das Grundgesetz spricht von Rechtsprechung, nicht von Schlichtung8. Der an Recht und Gesetz gebundene Richter darf seine Autorität bei den Vergleichsverhandlungen nicht dazu missbrauchen, einer Partei ein Urteil zu verweigern. Auch wenn es unvernünftige Gründe für die Verweigerung eines Vergleiches gibt, kann ein solcher nur bei Zustimmung beider Parteien zustande kommen. Es lohnt sich in geeigneten Fällen mit Engagement den Parteien die Vorteile einer einvernehmlichen Lösung aufzuzeigen und damit dem § 278 ZPO Rechnung zu tragen, wonach in jeder Lage des Verfahrens auf eine einvernehmliche Lösung zum Wohl der Parteien hinzuarbeiten ist. 2. Technik bzw. Praxis des Vergleichs a) Voraussetzungen aa) Sachkunde des Richters Nur ein Richter, der qualifiziert und engagiert Vergleichsverhandlungen vorbereitet und führt, wird einen guten Vergleich erarbeiten können. Unbedingte Voraussetzung für eine gute Vergleichsverhandlung ist umfangreiche Aktenkenntnis. Der Richter muss mindestens so gut wie die Parteivertreter die Akten kennen und wissen, was zwischen den Beteiligten umstritten ist. Gerne wird die Arbeitsersparnis für den Richter erwähnt, die durch einen Vergleich entsteht. Eine gut vorbereitete und engagiert geführte Verhandlung mit dem Ziel einer umfassenden Regelung trägt nicht unbedingt zur Arbeitsersparnis bei, führt aber zu einem besseren Ergebnis für die Parteien. Der schnelle lieblose Versuch: „Alles ganz schwierig und offen, vergleichen Sie sich auf der Hälfte“ ist mit diesem Beitrag nicht gemeint! Er verdient nicht den Namen einer „Einigung“. bb) Anwesenheit der Beteiligten Die persönliche Anwesenheit der Parteien in der Verhandlung ist sehr wichtig. Trotz der Vertretung durch Rechtsanwälte besitzen sie selbst die beste Sachkenntnis und letztlich die alleinige Entscheidungsbefugnis. Ein noch so gut informierter und mit allen Vollmachten9 ausgestatteter Vertreter verfügt in der Regel nicht über ein so umfassendes Detailwissen wie die Partei bzw. deren sachkundiger Vertreter10. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens11 sollte in geeigneten Fällen erfolgen, aber nicht generell12. 8

Artikel 92 GG. Vgl. § 141 Abs. 3 S. 2 ZPO. 10 Bei größeren Unternehmen bzw. organschaftlichen Vertretern bei juristischen Personen. 11 § 141 Abs. 1 S.1 ZPO.

9

Der Vergleich bei Gericht in der Politik

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cc) Einbeziehung Dritter In geeigneten Fällen bietet es sich an, Dritte mit in die Verhandlungen einzubeziehen, wenn sie nicht Verfahrensbeteiligte sind. Dies können z. B. hinter den Beteiligten stehende Vorlieferanten oder Subunternehmer sein. Gelegentlich werden Verfahren auch nicht zwischen den unmittelbar Beteiligten geführt, da die eigentlich Agierenden aus verschiedenen Gründen nicht die juristisch Zuständigen sind. Sofern sich dies im Vorfeld einer Verhandlung abzeichnet, kann es sinnvoll sein, diese Frage mit den Parteien des Rechtsstreits zu erörtern. Im allseitigen Einvernehmen können diesen Personen in der mündlichen Verhandlung ein Anwesenheits- und insbesondere auch ein Rederecht zustehen. Sofern sie tatsächlich im rechtlichen Sinne Beteiligte des Vergleiches werden, können sie diesem förmlich beitreten. dd) Umfassende Information über eventuelle weitere Streitigkeiten Der Vergleich im Zivilprozess ermöglicht sämtliche zwischen den Parteien im weitesten Sinne streitigen Fragen zu bearbeiten und zu lösen. Deshalb sollte bereits im Vorfeld, soweit dies absehbar ist, versucht werden, entsprechende Informationen über weitere Diskussionspunkte, die bislang nicht Verfahrensgegenstand sind, zu bekommen. Gelegentlich gibt es eine Vielzahl von Verfahren, die bei diversen Gerichten und Instanzen anhängig ist. Die singuläre Bearbeitung des einzelnen Rechtsproblems, das gerade Streitgegenstand ist, kann dann nur begrenzt sinnvoll durch einen isolierten Vergleich geregelt werden. Eigentlich ist immer eine umfassende Regelung sämtlicher, zwischen den Beteiligten streitigen Fragen anzustreben. ee) Alternativen zur Einigung Mit den Beteiligten ist schon in einem frühen Verhandlungsstadium über die Alternativen zur Einigung zu reden. Neben den bereits umfassend beschriebenen Vorteilen des Vergleichs sind hier die Kosten des weiteren Verfahrens mit teuren Gutachten und der Zeitfaktor zu erwähnen. Beweiserhebung dauert und dazu kommt noch das Instanzenrisiko. Nach weiteren Monaten bzw. Jahren kommt die nächste Instanz eventuell zu anderen Erkenntnissen als das Eingangsgericht. Zeit, Kosten und fehlende Planbarkeit sind für rational und wirtschaftlich denkende Parteien wichtige Gesichtspunkte. Bei hoch emotionalen Beteiligten kann der Appell an die eigenen Kräfte helfen: Wollen Sie die nervlichen Belastungen des Verfahrens noch so lange mit sich herumtragen? b) Führung der Verhandlung Nur ein strukturiertes Vorgehen führt zum Erfolg. Der Richter als Lenker der Verhandlungen hat es in der Hand, durch systematische Bearbeitung der verschiedenen

12 Zum Missbrauch der Anordnung: Friedrich Engelke, Partei-„Erpressung“ oder sinnvolle prozessuale Maßnahmen?, in: AnwBl. 2010, S. 116.

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Fragen, die Beteiligten auf ihrem Weg zur Einigung zu unterstützen und ihnen den Weg auch aufzuzeigen. Einen Überblick gibt die nachfolgende Tabelle: Phasenschema der Verhandlung Phase

Ziel

Eröffnungsphase Begrüßung

Wichtig für Gesamtatmosphäre den Parteien die Angst nehmen „Wir-Gefühl“ schaffen

prozessuale Vorfragen Werden gerne von Parteien als Dominanzgeste ein(z. B. Zuständigkeit, Verspätung etc.) gesetzt Neutralisieren durch schnelles Klären oder Ausklammern und Zurückstellen Gesprächsphase Sammlung zusätzlicher Informationen

Präzisierung des Konflikts

allgemeine Erörterung mit den Beteiligten

Rede- und Präsentationsbedürfnis der Parteien und Anwälte bedienen

Ankündigungsphase Darstellung von: Risiken (rechtlich und tatsächlich) Nachteilen eines Urteils Vorteile einer einvernehmlichen Regelung

Klärung eines realistischen Umfeldes, Annäherung in der Sache, Interesse an Kooperation wecken, Ziel: Wille zur Einigung

Lösungsphase Konsens suchen (unstreitig stellen von Einzelpunkten)

gute Stimmung machen und Einigkeit hervorheben

„fast“ Unstreitiges feststellen

nicht zu Ende diskutieren, da zu viel Streitpotential, besser „mit Fragezeichen“ stehen lassen

„echte“ Streitpunkte ermitteln vorläufige Einschätzung der Sachund Rechtslage durch Gericht

Aufklärung des echten Streitpotenzials

Erarbeiten alternativer Lösungen. umfassende Einigung, Einbeziehen von Themen jenseits des Vergrößerung des Spielraumes, der VerhandlungsProzesses masse Vorteile der Einigung immer wieder schon erzielten Konsens loben und Motivation zur darstellen Lösung noch offener „Reste“ fördern Teilkonsens betonen Beratungspause(n) anbieten/ermöglichen Formulierungsphase Präzise rechtliche Formulierung des Besprochenen

klare Regelung und gegebenenfalls Vollstreckungstitel schaffen

Der Vergleich bei Gericht in der Politik

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Phase

Ziel

Achtung Kostenfrage

nach Obsiegen und Unterliegen (wenn klar feststellbar), Kostenaufhebung (weil „umfassender“ Vergleich), Ausklammern und Entscheidung durch Gericht, § 91 a ZPO Zustimmung der Partei zur Einigung ausdrücklich einfordern und §§ 160 Abs. 3 Ziff. 1, 162 Abs. 1 ZPO

vorspielen und genehmigen

Beendigungsphase Rückblick auf Verhandlung

Lob des Ergebnisses, Dank an Beteiligte

Verabschiedung

menschlicher Abschluss der schwierigen Verhandlungen

Ausblick

Warnung vor Besserwissern, Blick in die Zukunft

aa) Eröffnungsphase In der Anfangsphase sollte der Verhandlungsführer zunächst, ohne die streitigen Punkte anzusprechen, für eine gute Verhandlungsatmosphäre sorgen. Viele Parteien sind nicht gerichtserfahren und dementsprechend sehr nervös. Eine Aufwärmphase mit der Erörterung unproblematischer Vorfragen schafft eine erste Beruhigung und stellt eine sachliche Verhandlungsatmosphäre her. bb) Einführung in den Sach- und Streitstand Der Richter sollte in den Sach- und Streitstand einführen. Er teilt den Parteien im Haupttermin offen seine Auffassung über den Fall mit und lässt sie nicht im Unklaren über seine Einschätzung der Rechtslage13. Auf Vergleichsverhandlungen bereitet sich der Richter genauso gründlich vor, wie auf ein Urteil. Die Verhandlungsführung ist an der Sach- und Rechtslage auszurichten. Die Parteien erwarten eine plausible Begründung. Dafür muss der Richter den Fall beherrschen und ihn sowohl im Tatsächlichen als auch im Juristischen in vollem Umfang erfasst haben. Wenn die Parteien merken, dass der Richter ihren Fall gründlich im Griff hat, sind sie eher bereit, seinen Vorschlägen zu folgen. Die Parteien sind darauf angewiesen, die Meinung des Richters zu hören, wenn sie vernünftig über einen Vergleich verhandeln wollen. Dies gehört auch zur Fairness im Verfahren. Das schließt nicht aus, bei komplizierten, ungeklärten Rechtsfragen diese 13 Anders im klassischen Ansatz der Mediation. Der Mediator hat aber anders als der Richter auch nichts zu entscheiden, wenn der Vergleich nicht zustande kommt.

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offen anzusprechen und den Parteien zu sagen, dass man an dieser Stelle noch keine abgeschlossene Meinung habe und es im Übrigen noch das Risiko einer anderen Einschätzung durch die nächste Instanz gebe. cc) Anhörung von Parteien und Rechtsanwälten Es hat sich in der Praxis sehr bewährt, wenn die Parteien selbst zu Beginn der Verhandlung die Gelegenheit zur Äußerung erhalten. Sie kommen zum Termin mit dem Wunsch, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Hierzu muss man ihnen Gelegenheit geben. Wenn eine Partei in dieser Phase der Verhandlung aus juristischer Sicht völlig Absurdes sagt, hält sie es für wichtig für den Ausgang des Verfahrens. Eine Partei, die an dieser Stelle nicht zu Wort kommt, wird sich nicht ernst genommen fühlen und sich nicht so leicht zu einer sinnvollen Einigung bewegen lassen. Hier ist Großzügigkeit in der Verhandlungsleitung zwingend erforderlich. Einzuschreiten ist allerdings bei Beleidigungen und sonstigen ungebührlichen Äußerungen sowie bei weit ausgedehnten, neben dem Thema liegenden Ausführungen. Nachdem beide Parteien sich äußern konnten, empfiehlt es sich, den Anwälten Gelegenheit zu geben, ihre Sicht der Dinge darzustellen und auch im Hinblick auf den eigenen Mandanten ihrer Arbeit nachgehen zu lassen. Der Prozessbevollmächtigte verspürt ebenfalls den dringenden Wunsch bzw. die Notwendigkeit, seine Sicht der Situation in Anwesenheit des Mandanten darzustellen. dd) Streitstoff sammeln In der nächsten Phase sollte der Richter den Streitstoff, der zur Verhandlung steht, zusammenfassen und gegebenenfalls ergänzende Fragen stellen. Er hat zu klären, welche weiteren Probleme mit bereits vorhandenem oder zu erwartendem Streit bestehen. Danach sollte aufgezeigt werden, welche rechtlichen und tatsächlichen Risiken in dem Verfahren liegen und aus welchen Gründen eine einvernehmliche Lösung für die Parteien sinnvoller wäre. Eine rechtliche und tatsächliche Würdigung sowie das Aufzeigen der Grenzen einer formellen Entscheidung sind an dieser Stelle sinnvoll. ee) Interessen der Parteien erkunden Dem schließt sich eine Erkundung der Interessen der Parteien an. Ziel muss eine Verhandlung auf der Basis von Interessen und nicht von Positionen sein14. Was wollen die Parteien eigentlich im Rahmen des Verfahrens und darüber hinausgehend erreichen? Was wäre aus der Sicht der jeweiligen Partei eine „sinnvolle“ Lösung, mit der aus ihrer Sicht eigentlich beide Seiten einverstanden sein müssten? Auch hier ist

14 Vgl. Roger Fisher/William Ury/Bruce Patton, Das Harvard-Konzept – Der Klassiker der Verhandlungstechnik, 23. Aufl. 2009, S. 25 ff.

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es sinnvoll, die Parteien reden zu lassen, um hinter dem Rechtsstreit stehende Motive zu erkennen und dann mit einbeziehen zu können. Diese Ausführungen der Parteien geben dann eine erneute Gelegenheit, um auf den Vorteil einer Vereinbarung gegenüber einer streitigen Lösung hinzuweisen. Die Wünsche der Parteien lassen sich in der Regel nicht allein mit einem wie auch immer gearteten Urteil in der Sache erreichen. An dieser Stelle sollte man die Zustimmung der Parteien für die Bemühungen zum Erreichen einer einvernehmlichen Lösung einholen. Insgesamt ist es aus psychologischen Gründen sinnvoll, die Parteien immer wieder um Zustimmung zum weiteren Fortschreiten der Erörterungen zu bitten. Irritationen von einzelnen Beteiligten können auf diese Weise frühzeitig erkannt und auch beseitigt werden. Hinzu kommt, dass diese Verhandlungsweise den Konsens betont und nicht allein die Differenzen der Beteiligten in den Vordergrund stellt. (1) Dahinterstehende Dritte berücksichtigen In der Phase der Interessensbekundung sollten auch dahinterstehende Dritte Berücksichtigung finden. (2) Alternativen zum Vergleich Verschiedene denkbare Wege und Alternativen können angesprochen werden, ohne dass bereits eine formelle Wertung bzw. ein Ausschluss dieser Variante erfolgt. ff) Weg gemeinsam gehen (1) Unstreitiges klären – Einigkeit hervorheben Sofern alle Beteiligten gemeinsam erklären, dass sie versuchen, den Weg in Richtung Vergleich gemeinsam gehen zu wollen, bietet es sich an, Unstreitiges zu klären und die Einigkeit hervorzuheben. Den Parteien kann damit vor Augen geführt werden, dass es nicht nur Differenzen, sondern auch Übersteinstimmung zwischen ihnen gibt. In einem konsensualen Klima lassen sich streitige Positionen besser verhandeln als in einem Klima, in dem sofort die Streitpunkte im Mittelpunkt stehen. (2) Einzelne Positionen abklären bzw. mit Fragezeichen „stehen lassen“ Im Rahmen einer geschickten Verhandlungsführung sollten die einzelnen Streitpunkte, die herausgearbeitet wurden, mit den Parteien detailliert erörtert werden. Was aufgeklärt bzw. unstreitig gestellt wurde, ist als erledigt zu betrachten. Offene Positionen sind anzusprechen, und sofern gemeinsam kein Ergebnis erarbeitet werden kann, sind mehr oder weniger offene Position zu kennzeichnen und „stehen zu lassen“. Es empfiehlt sich nicht, jede einzelne Position im Detail zu diskutieren und mit Streit zu belasten. Wenn eine Einigung nicht möglich ist, sind diese Fragen auszuklammern und andere Positionen zu erörtern.

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Es ergeben sich am Ende letztlich drei Gruppen von Fragen: - klar gelöste Fragen, - weitgehend, aber nicht bis in alle Einzelheiten geklärte Fragen, - völlig offene Themen. In der Zusammenfassung zeigt sich oftmals, dass die letzte Gruppe die kleinste Gruppe ist. Es kann dann mit den Parteien darüber gesprochen werden, inwieweit sich offene Fragen auf die übrigen, bereits geklärten Positionen insbesondere auf das Endergebnis auswirken. An vielen Stellen zeigt sich, dass hochstreitige Einzelfragen nur eine geringe Auswirkung auf das Gesamtergebnis haben. Durch geschickte Verhandlungsführung kann immer wieder das Verbindende und Gemeinsame hervorgehoben werden, um eine positive Atmosphäre zu schaffen und zu unterstützen. (3) „Good will“-Erklärungen Vielfach stehen hinter den Auseinandersetzungen Probleme auf der Beziehungsebene. Hier bietet es sich an, diese Probleme herauszuarbeiten und zu versuchen mit psychologischen Hilfsmitteln Irritationen auszuräumen. Wichtig können in solchen Situationen auch „Ehrenerklärungen“ von Beteiligten in den Vergleichsverhandlungen sein. Es geht nicht immer nur um Geld, sondern oftmals um Kränkungen und das Vermeiden eines Ansehensverlustes. (4) Zwischenkonsens / Gemeinsamkeiten betonen Insgesamt muss Sinn und Zweck der Vergleichsverhandlungen sein, für beide Parteien eine gesichtswahrende Lösung zu finden. Kleinigkeiten können dabei häufig sehr wirkungsvoll sein. Beispielsweise kann eine Erklärung beider Parteien, dass sie die Vorfälle der Vergangenheit bedauern, hilfreich sein. Eine solche Formulierung ist für jede Seite in ihrer Richtung auslegungsfähig. Gleichzeitig enthält sie eine positive Botschaft in Richtung Zukunft. Insgesamt sollte die Zukunft und deren Gestaltung immer wieder in den Vordergrund gestellt werden. Die Angelegenheiten der Vergangenheit sind abgeschlossen und können in der Regel nicht rückgängig gemacht werden. Gestaltung ist nur für die Zukunft möglich. Für den Richter ist es gelegentlich eine sehr mühsame Angelegenheit. Immer wieder tauchen vermeintlich unüberwindbare Hürden auf und es wird aus mehr oder weniger rationalen Gründen ein Konsens verweigert. Hier gilt es hartnäckig zu bleiben und nicht bei der ersten Verweigerung weitere Verhandlungen abzubrechen. Schon oft konnten mit Beharrlichkeit und Überzeugungskraft vermeintlich gescheiterte Vergleichsverhandlungen weitergeführt und zu einem guten Ende gebracht werden. Dabei darf nicht der Eindruck entstehen, dass das Gericht einem „Basar“ gleicht.

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Eine solche Situation lässt sich zwar nicht immer vermeiden, erstrebenswert ist sie aber nicht15. (5) Parteien „führen“ Es ist Aufgabe des Richters die Parteien und ihre Anwälte zu führen und im Rahmen eines positiven Verhandlungsklimas die Gemeinsamkeiten zu betonen und weitere Gemeinsamkeiten zu erarbeiten. Ziel ist es, die Parteien zu einer sinnvollen Lösung zu führen. Er darf ihnen keinesfalls einen Vergleich überstülpen und sie auch nicht in einen Zwangsvergleich drängen. gg) Zwischenberatungen ermöglichen Eine faire und rechtsstaatliche Verhandlungsführung gebietet es, den Parteien zu ermöglichen, sich außerhalb des Verhandlungssaales mit ihren Rechtsanwälten bzw. mit Dritten zu beraten. Entsprechenden Wünschen einer Partei ist unbedingt nachzukommen. Selbst wenn niemand diesen Wunsch äußert, ist es in komplexen Verhandlungen erforderlich, dass das Gericht Unterbrechungen anbietet. Nicht jede Partei wagt es, einen solchen Wunsch zu äußern. Es darf nicht der Eindruck entstehen, durch die Dynamik einer Verhandlung werde jemand „über den Tisch gezogen“. Spätestens vor der endgültigen Formulierung und Protokollierung des Vergleiches ist eine Zwischenberatung notwendig. c) Vergleichstext formulieren Es ist zunächst die Aufgabe des Richters, eine präzise verrechtlichte Formulierung der einzelnen Vergleichspunkte zu erreichen. Der Teufel steckt oftmals im Detail und die konkrete Formulierung soll nicht Anlass für neue Diskussionspunkte geben. Man sollte sich nie entmutigen lassen und gegebenenfalls einzelne Positionen ausklammern. Wer die grundsätzliche Zustimmung zum Vergleich gegeben hat, wird und muss dann auch noch die letzten Hürden überwinden. Mit gutem Zureden durch den Richter lassen sich auch diese Fragen klären. Ein Appell an die Rationalität der Beteiligten im Hinblick auf die großen Linien des Vergleiches, die schon geklärt sind, ermöglicht meistens die Überwindung der letzten Probleme. aa) Verpflichtungen vollstreckbar formulieren Im Vergleichstext sind nicht nur die rechtlich notwendigen Erklärungen enthalten, sondern gegebenenfalls zusätzlich „Good Will“-Erklärungen und Absichtsbekundungen. Auch in Kenntnis der fehlenden Vollstreckbarkeit solcher Klauseln sind diese für die Seele der Parteien und ihrer Ehepartner, Angehörigen oder dahinterstehenden Dritten wichtig. 15 Vgl. Baumbach/Wolfgang Lauterbach/Jan Albers/Peter Hartmann, Zivilprozessordnung. Kommentar, 72. Aufl. 2014, § 278 ZPO, Rn. 46.

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Im Praxisfall werden Verzugszinsen häufig nicht mehr problematisiert und bleiben bei der Zahlungsverpflichtung unberücksichtigt. Im Hinblick auf die Höhe der Verzugszinsen16 kommen bei längerem Streit bzw. Rechtsstreit erhebliche Summen zustande. Zumindest auf Seiten des Anspruchstellers sollte dieser Gesichtspunkt Berücksichtigung finden. Aus psychologischen Gründen kann es sinnvoll sein, um den titulierten Hauptbetrag niedrig zu halten, diesen um Zinsen, die im Betrag nicht ausgerechnet werden, zu ergänzen bzw. die bereits aufgelaufenen Zinsen in dem zu titulierenden Betrag als Summe aufzunehmen, um die Vergleichssumme größer erscheinen zu lassen. bb) Umfassende Erledigungsklausel Bei allen Detailregelungen darf nicht vergessen werden, das eigentliche Verfahren in vollem Umfang für erledigt zu erklären und möglichst sämtliche Streitigkeiten zwischen den Parteien zu erledigen. Ohne diese Klausel können verhandelte und nicht durch vollstreckbare Formulierungen berücksichtigte Punkte noch einmal aufgegriffen werden. Durch eine mehr oder weniger umfassende Abfindungsklausel kann dies aber ausgeschlossen werden. cc) Kosten des Verfahrens regeln Ein beliebter Streitpunkt ist die Kostenregelung zum Vergleich. Sofern in dem Text dazu nichts enthalten ist, gilt die gesetzliche Regelung17. Dies ist für den einen oder anderen Verfahrensbeteiligten überraschend und auch nicht immer sinnvoll und gewollt. Deshalb muss seitens des Gerichts das Thema der Kosten angesprochen und einer Lösung zugeführt werden. Aus psychologischen Gründen ist oftmals bei entsprechendem Nachgeben beider Seiten eine Kostenaufhebung18 angezeigt. Es ist einfacher, seine eigenen Kosten zu bezahlen als, in welcher Quote auch immer, Kosten des Gegners zu übernehmen, selbst wenn dieser einen Teil der eigenen Kosten trägt. Wenn die Parteien in der Lage waren, die Hauptsache zu klären, lassen sich auch meistens im entsprechenden Verhältnis die Kosten regeln. Sofern dies nicht möglich ist, sollte der Richter immer im Bewusstsein haben, dass die Kostenentscheidung dem Gericht überlassen werden kann und nach einer Erledigung in der Hauptsache dann eine gerichtliche Kostenentscheidung19 ergeht.

16

§ 288 BGB: Verzugszinssatz: 5 %-Punkte über dem Basiszinssatz. § 98 ZPO: „Die Kosten eines abgeschlossenen Vergleichs sind als gegeneinander aufgehoben anzusehen, wenn nicht die Parteien eine Anderes vereinbart haben. Das Gleiche gilt von den Kosten des durch Vergleich erledigten Rechtsstreits, soweit nicht über sie bereits rechtskräftig erkannt ist.“ 18 § 92 ZPO, jede Partei trägt ihre Rechtsanwalts- und sonstige Kosten selbst, die Gerichtskosten werden hälftig geteilt. 19 § 91 a ZPO, das Gericht entscheidet über die Kosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen durch Beschluss. 17

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dd) Grundlagen der Vereinbarung dokumentieren Bei der Formulierung von Vergleichen wird regelmäßig übersehen, dass bei Regelungen, die für eine lange Zeit gelten und bei denen sich in der Zukunft noch Veränderungen ergeben können, eine Dokumentation der Grundlagen sinnvoll ist. Bei familienrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen ist dies üblich. In vielen anderen ähnlichen Bereichen gibt es oft keine Aufnahme von Grundlagen. Dies führt im Falle der Abänderung20 zu Problemen. Gleiches gilt bei Teilanfechtungen oder Teilunwirksamkeiten des Vergleiches. Die Grundlagen können dann nicht mehr für eine entsprechende Anpassung ermittelt werden. d) Abschluss der Beratungen Nach Vorspielen und Genehmigen21 des Vergleichstextes ist für den qualifizierten Verhandlungsführer das Gespräch noch nicht zu Ende. Ein sofortiger Abbruch der Verhandlungen hinterließe nämlich einen negativen Eindruck. Wenn zuvor mit den Beteiligten intensiv über eine vergleichsweise Regelung gesprochen wurde, kann nach Erledigung der prozessualen Formalitäten die Verhandlung nicht plötzlich abgebrochen werden. Die Partei sollte vielmehr nur in dem Bewusstsein, vom Gericht und den anderen Beteiligten gut behandelt worden zu sein, den Gerichtssaal verlassen. Es bietet sich daher an, die Einigung der Parteien zu loben und herauszustellen, dass nur dank der Mithilfe aller Beteiligten ein Kompromiss erarbeitet werden konnte. In geeigneten Fällen ist ein Dank an die Beteiligten für die Verhandlungsatmosphäre und die Mitwirkung an der sinnvollen Lösung angebracht. Manchmal können zusätzliche Hinweise an die Beteiligten im Hinblick auf anschließend auftauchende besserwisserische und nicht dabei gewesene Dritte förderlich sein. Diese Gefahr sollte vorab erkannt werden und den Parteien mit auf den Weg gegeben werden, dass sie selbst verhandelt und gemeinsam mit ihrem Anwalt eine Lösung erarbeitet haben. Wer aus der Ferne kritisiert, war nicht dabei und hat nicht die Sachkenntnis. II. Die Einigung in der Politik In einer Demokratie entscheidet die Mehrheit der Bürger bzw. der Parlamentarier über Gesetze und sonstige Regelungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wer eine Mehrheit der Stimmen bzw. Mandatsträger hinter sich hat, muss grundsätzlich keine Einigung anstreben.

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§§ 323 ZPO, 313 BGB bzw. §§ 238, 239 FamFG. §§ 160 Abs. 3 Ziff. 1, 162 Abs. 1 S. 1 ZPO.

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In der Praxis22 sind allerdings in vielen Bereichen Einigungen innerhalb der Mehrheitsfraktionen bzw. Parteien notwendig. Wenn eine Gruppierung nicht über die notwendigen Stimmenzahlen verfügt, sind Koalitionen zu bilden oder Kompromisse mit anderen politischen Gruppierungen zu erarbeiten. Die Notwendigkeit zum Kompromiss ist daher in der Politik allgegenwärtig. 1. Unterschiede zu Gericht Der wesentliche Unterschied zur gerichtlichen Situation ist, dass es zum einen im Falle des Unterbleibens einer Einigung kein „Urteil“ durch eine übergeordnete Einrichtung gibt und zum anderen in der Regel kein neutraler Dritter als Verhandlungsführer existiert. Bei den nicht rechtlichen Gesichtspunkten ist die Bedeutung Dritter, also der Wähler, Parteimitglieder bzw. der Gremien wesentlich größer, als die Bedeutung Dritter in einem Rechtsstreit. Dies verlangt eine größere Transparenz des Entscheidungsprozesses und eine größere Akzeptanz der Einigung bei nicht anwesenden Beteiligten. In der Grundstruktur sind dennoch die Verhältnisse vergleichbar. Während einer von allen Beteiligten engagiert geführten Diskussion über eine einvernehmliche Lösung steht das Urteil als ultima ratio ohnehin sehr weit im Hintergrund. Wer sich auf Vergleichsverhandlungen einlässt, hat die Vorstellung, dass durch eine einvernehmliche Lösung ein besseres Ziel als durch ein Urteil erreicht werden kann. Der Druck zur Einigung wird noch dadurch erhöht, dass innerhalb von Fraktionen bzw. Koalitionen in der Zukunft zahlreiche weitere Entscheidungen anstehen und durch einen „unnötigen“ Streit das zukünftige Verhandlungsklima erheblich beeinträchtigt werden könnte. Dieser Gesichtspunkt ermöglicht allerdings auch noch umfassendere Regelungen, da ein Nachgeben der einen Seite in der aktuellen Vergleichs- bzw. Einigungsverhandlung mit einem Nachgeben der anderen Seite bei einer zukünftig anstehenden Frage gekoppelt werden kann. 2. Verhandlungsführer Die Verhandlungsführer sind anders als die Richter oftmals Beteiligte und können nur begrenzt eine neutrale Position übernehmen. Das Hinzuziehen eines Dritten könnte hier an einigen Stellen hilfreich sein. In der Praxis erfolgt dies aber leider selten.

22 Der Autor ist seit Jahrzehnten kommunalpolitisch aktiv, war Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten und über seine Tätigkeit in der hessischen Landesvertretung in Berlin mit der Politik verbunden.

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3. Alternativen zur Einigung Die Alternativen zur Einigung in der Politik sind Mehrheitsentscheidungen oder das Scheitern der Gespräche. Eine gerichtliche Entscheidung ist nicht vorgesehen23. 4. Darstellung nach Außen Einen größeren Stellenwert als bei einem gerichtlichen Vergleich nimmt die Beteiligung außenstehender Dritter ein. Fraktionskollegen, Vorstände, Delegierte und die Wähler müssen darüber informiert werden, warum man von früheren Forderungen abgekommen ist. Dabei kommt es anders als in gerichtlichen Verfahren, bei denen es oftmals lediglich um die wirtschaftlichen Interessen der unmittelbar Beteiligten geht, in weitaus stärkerem Maße auf die psychologische Komponente an. Am Ende von Beratungen und Koalitionsverhandlungen müssen beide „gewonnen“ haben. Es ist nicht allein ausreichend, ein „richtiges“ Ergebnis zu erzielen, sondern auch eines, das Dritten als eigener Erfolg und zwar von jeder Seite angepriesen werden kann. Aus diesem Grunde ist es regelmäßig sinnvoll, nicht lediglich eine alleinstehende Sachfrage zwischen den Beteiligten zu klären, sondern mehrere streitige Punkte zusammenzufassen, um am Ende für jeden ein „Gewinnen“ in einigen Positionen propagieren zu können. 5. Bindungswirkung der Vereinbarung Ein weiterer Unterschied zur gerichtlichen Einigungen ist die fehlende Vollstreckbarkeit der gefundenen politischen Lösung. Wer sich an einen ausgehandelten Kompromiss nicht halten will, kann nicht dazu gezwungen werden. In der Praxis zivilprozessualer und familienrechtlicher Vergleiche kommt es allerdings nur selten zu einer Vollstreckung. Ein gut ausgehandelter und von allen Beteiligten akzeptierter Vergleich wird auch ohne den Druck einer Vollstreckung akzeptiert und erfüllt. III. Abschluss In Anlehnung an § 278 ZPO ist in jeder Lage des Verfahrens und der politischen Diskussion auf eine gütliche Einigung des Streits oder einzelner Streitpunkte hinzuwirken. Die ultima ratio einer gerichtlichen Entscheidung bzw. einer Mehrheitsentscheidung kann in geeigneten Fällen sinnvoll sein. In der Regel führt eine Einigung zu einem selbstbestimmten und von den Beteiligten mitgestalteten besseren Ergebnis.

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Ausnahme: Verfassungsrecht, Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

VII. Strafrecht

Angemessener Lebensschutz vor voreiligen Sterbehelfern? Überlegungen zur lex lata und de lege ferenda Von Georg Freund* I. Das Problem einer Reform der gesetzlichen Regelungen zur sog. Sterbehilfe Die Diskussion um die sog. Sterbehilfe entflammt immer wieder neu. Einen Versuch, diese für das Leben eines jeden Menschen potenziell wichtige Problematik durch eine gesetzgeberische Entscheidung in den Griff zu bekommen, hat unlängst das Bundesministerium der Justiz unternommen. Es hat am 5. April 2012 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung (Bearbeitungsstand: 9. März 2012) an den Autor dieses Beitrags als den Koordinator von Stellungnahmen der Strafrechtslehrer und Leiter der „Marburger Strafrechtsgespräche“ verschickt und eine Stellungnahme von Seiten der Strafrechtswissenschaft bis zum 31. Mai 2012 erbeten. Der Entwurf, der – wie in solchen Fällen üblich – an die grundsätzlich interessierten Kolleginnen und Kollegen weitergeleitet wurde, schlug einen neuen § 217 StGB vor. Danach sollte strafbar sein, „wer in der Absicht, die Selbsttötung eines Menschen zu fördern, diesem hierzu gewerbsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt.“ Trotz der grundsätzlichen Bedeutung der Problematik kam es leider nicht zur Stellungnahme eines größeren Arbeitskreises der Strafrechtswissenschaft. Allerdings gab es gegenüber dem Bundesministerium der Justiz nicht nur eine ausführliche Einzelstellungnahme von Gunnar Duttge sowie einige kritische Anmerkungen von Henning Rosenau. Auch Frauke Rostalski (geb. Timm) und der Autor dieses Beitrags haben sich mit dem vorgelegten Entwurf näher auseinandergesetzt und einen Alternativvorschlag unterbreitet.1 Diese gemeinsame Stellungnahme zum Referentenentwurf 2012 bildet die Grundlage für den vorliegenden Beitrag. Er dient der Vertiefung und Weiterführung.

*

Für die kritische Durchsicht des Textes und wertvolle Anregungen danke ich sehr herzlich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie einigen freundlichen Kolleginnen und Kollegen. 1 S. dazu und zum Folgenden bereits Georg Freund/Frauke Timm, Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJ zu einem Gesetz zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung, in: GA 2012, S. 491 ff.

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Im Grundsatz gilt: Das bisherige Regelungskonzept des deutschen (Straf-)Rechts hat sich bewährt.2 Berücksichtigt man die Konkretisierungen der dazu mittlerweile ergangenen Rechtsprechung, besteht kein Bedarf nach einer umfassenden Reform der strafrechtlichen Regelungen.3 Vielmehr genügt die in diesem Beitrag erneut vorgeschlagene punktuelle Ergänzung der vorhandenen Strafgesetze, die nötig ist, um eine problematische Strafbarkeitslücke zu schließen. Im Übrigen ist es allein erforderlich, präzise Informationen über die gegenwärtige Rechtslage zu geben. Nach wie vor dringend nötig ist eine korrekte Aufklärung über das bereits geltende Recht. Leider finden sich noch immer irreführende Formulierungen wie etwa: In Deutschland sei „aktive Sterbehilfe verboten und strafbar“ – erlaubt sei nur die „passive Sterbehilfe“.4 Solche Formulierungen suggerieren eine gänzlich verfehlte Grenzlinie zwischen dem, was tatsächlich rechtlich erlaubt und was bei Androhung von Strafe verboten ist.5 Es entsteht zumindest der Anschein, als käme es darauf an, ob ein bestimmtes Verhalten als (aktives) Tun oder als (passives) Unterlassen „eingeordnet“ werden kann. Indessen ist diese Einordnungsfrage für das letztlich allein entscheidende Ergebnis irrelevant – jedenfalls bei korrekter normativer Bewertung des empirischen Befundes. Es ist deshalb auch nicht ratsam, aus einem Tun ein (normatives) Unterlassen oder umgekehrt aus einem Unterlassen ein (normatives) Tun zu machen.6 Derartige Vorgehensweisen sind nicht selten anzutreffen, jedoch eine insge2 Im Sinne eines solchen positiven Befundes bereits Georg Freund, Recht als Weg zu Gerechtigkeit am Beginn und am Ende des Lebens? – Gedanken zu (Spät-)Abtreibung und Sterbehilfe, in: Peter Janich (Hrsg.), Humane Orientierungswissenschaft – Was leisten verschiedene Wissenschaftskulturen für das Verständnis menschlicher Lebenswelt?, 2008, S. 149 ff. (152 ff., 161). 3 Zu Reformentwürfen aus jüngerer Zeit vgl. etwa den Alternativ-Entwurf Leben (AELeben) von Günter Heine u. a., Alternativ-Entwurf Leben – Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis AE), in: GA 2008, S. 193 ff.; Heinz Schöch/Torsten Verrel, Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE-StB), in: GA 2005, S. 553 ff.; ferner etwa Mirja Feldmann, Neue Perspektiven in der Sterbehilfediskussion durch Inkriminierung der Suizidteilnahme im Allgemeinen?, in: GA 2012, S. 498 ff. 4 Vgl. zu diesen Aussagen etwa Klaus Kutzer, Strafrechtliche Grenzen der Sterbehilfe, in: NStZ 1994, S. 110 ff.; Rudolf Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 15. Aufl. 2014, § 7 Rn. 1, 5 f.; Kristian Kühl, in: Karl Lackner/Kristian Kühl, Strafgesetzbuch (StGB), Kommentar, 27. Aufl. 2011, Vor § 211 Rn. 7, 8; Albin Eser/Detlev Sternberg-Lieben, in: Adolf Schönke/ Horst Schröder, Kommentar zum StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 211 ff. Rn. 24 f., 27. 5 Mit Recht kritisch zur bisher geläufigen Begrifflichkeit etwa auch Michael Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 182, 213, 225; Torsten Verrel, Gutachten C für den 66. Deutschen Juristentag, 2006, C S. 56 (60 ff.) – Dass die geläufige Begrifflichkeit sehr oft zu Missverständnissen führt, zeigen z. B. die von Frank Czerner (Das Abstellen des Respirators an der Schnittstelle zwischen Tun und Unterlassen bei der Sterbehilfe, in: JR 2005, S. 94) mitgeteilten Umfrageergebnisse; vgl. dazu auch Gunnar Duttge u. a., Preis der Freiheit – Zum Abschlußbericht der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“, 2004, S. 3 f. 6 Dagegen inzwischen mit Recht auch der BGH; vgl. BGHSt 55, 191, 202 f. (Sterbehilfe durch aktiven Behandlungsabbruch); vgl. zu dieser Grundsatzentscheidung etwa Eser/Stern-

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heime Vorwegnahme eines bestimmten gewünschten Ergebnisses und daher geeignet, die entscheidenden normativen Probleme zu verdunkeln. Zur weiteren Verunsicherung und Verzeichnung der tatsächlichen Rechtslage tragen mittlerweile standesrechtliche Regelungen der Ärzte in einigen Bundesländern bei. Zu nennen ist hier insbesondere § 16 der Musterberufsordnung für Ärzte sowie etwa § 16 Abs. 3 der Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen. Solche Regelungen überschreiten den verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzrahmen ärztlicher Selbstverwaltungsorganisation.7 Sie zielen darauf ab, ausgerechnet den Personenkreis zwangsweise aus der Verantwortung zu ziehen, der am ehesten dazu berufen ist, die Autonomie seiner Patienten in einer besonders schwierigen Lebenslage zu wahren und angemessenen Lebensschutz vor voreiligen Sterbehelfern zu bieten. In Deutschland ist mit Recht schon de lege lata allein die Ermöglichung, Förderung oder Veranlassung einer nichtfreiverantwortlichen Selbsttötung – als fahrlässige oder vorsätzliche Fremdtötung (in mittelbarer Täterschaft) – strafbar. Es besteht kein legitimes Bedürfnis, die Unterstützung einer freiverantwortlichen Selbsttötung rechtlich zu missbilligen oder gar für strafbar zu erklären.8 Auch der Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung (sei es durch aktives Tun oder Unterlassen) und die Schmerzlinderung mit unvermeidbar lebensverkürzender (Neben-)Wirkung sind rechtlich durchaus einwandfrei, wenn das Verhalten dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des betroffenen Patienten entspricht. Das von der Verfassung gewährleistete Selbstbestimmungsrecht der Person verbietet es, ihr lebenserhaltende Maßnahmen oder gar das Erdulden von Schmerzen aufzuzwingen.9 Andererseits erberg-Lieben (Anm. 4), in: Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 211 ff. Rn. 28a m. w. N. 7 Die jeweiligen landesrechtlichen Heilberufsgesetze enthalten keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den infrage stehenden Grundrechtseingriff; vgl. dazu etwa §§ 22 ff. des hessischen Gesetzes über die Berufsvertretungen, die Berufsausübung, die Weiterbildung und die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Heilberufsgesetz) in der Fassung vom 7. 2. 2003, GVBl. I 2003, 66; ferner noch unten II. 5. 8 Problematisch sind daher Strafvorschriften in einigen ausländischen Rechtsordnungen, die undifferenziert die Beihilfe zu jeder Selbsttötung unter Strafe stellen; vgl. etwa § 202 des japanischen Strafgesetzbuchs, Art. 113 des peruanischen Strafgesetzbuchs und Art. 143.2 des spanischen Strafgesetzbuchs; weitere Beispiele bei Claus Roxin, Tötung auf Verlangen und Suizidteilnahme, in: GA 2013, S. 313 (320). – Zur Rechtslage in Deutschland vgl. nur BGHSt 32, 367, 371; 46, 279 ff., 284 f. (= JZ 2002, 150 m. Anm. Sternberg-Lieben); Klaus Kutzer, Strafrechtliche Rechtsprechung des BGH zur Beteiligung an einem freiverantwortlichen Suizid, in: ZRP 2012, S. 135 ff. 9 Näher dazu auch schon Freund (Anm. 2), in: Janich, Humane Orientierungswissenschaft, S. 149 ff. (152 ff.); aus der Rechtsprechung s. dazu etwa BGHSt 40, 257 ff.; BGHSt 42, 301, 305; BGHSt 55, 191 ff. (Sterbehilfe durch aktiven Behandlungsabbruch); vgl. etwa auch Lutz Eidam, Wider die Bevormundung eines selbstbestimmten Sterbens, in: GA 2011, S. 232 ff.; Karsten Gaede, Durchbruch ohne Dammbruch – Rechtssichere Neuvermessung der Grenzen strafloser Sterbehilfe, in: NJW 2010, S. 2925 ff.; Michael Kubiciel, Zur Strafbarkeit der passiven Sterbehilfe, in: ZJS 2010, S. 656 ff.; ferner StA München, MedR 2011, S. 291 ff. (Einschränkung der Garantenpflicht bei freiverantwortlicher Selbsttötung).

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gibt es einen guten Sinn, am Verbot und der Strafbarkeit der Fremdtötung auf Verlangen (§ 216 StGB) festzuhalten.10 Das strafbewehrte Verbot soll das Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen in einem besonders heiklen Bereich wahren. Es dient der zusätzlichen Absicherung und Kontrolle der Ernsthaftigkeit des Sterbewunsches, ist funktional vergleichbar mit besonderen Formerfordernissen bei wichtigen Rechtsgeschäften und wegen der als Schutzinstanz genutzten natürlichen Selbsttötungshemmung sogar besonders wirkungsvoll.11 Da die Rechtsprechung mit dem vorhandenen gesetzlichen Instrumentarium inzwischen regelmäßig gut zurecht kommt, liefen nicht ausreichend durchdachte gesetzgeberische Eingriffe Gefahr, als Signale in die falsche Richtung missverstanden zu werden und am Ende großen Schaden anzurichten.12 II. Das berechtigte Anliegen und die Kritik am Referentenentwurf 2012 1. Schutz vor nichtfreiverantwortlicher Selbsttötung als berechtigtes Anliegen Im Rahmen des im Grundsatz bewährten Regelungskonzepts verfolgt der Entwurf 2012 in einem ganz bestimmten Punkt ein durchaus berechtigtes Anliegen: Es geht sachlich darum, eine Strafbarkeitslücke zu schließen, die in Fällen auftreten kann, in denen der „Helfer“ im Zeitpunkt seines Sterbehilfeverhaltens hätte erkennen können und rechtlich beachten müssen, dass es der Entscheidung des „Sterbewilligen“ mög10 Zur – im Detail allerdings umstrittenen – ratio des § 216 StGB s. etwa Rolf Dietrich Herzberg, Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, NJW 1996, S. 3043 (3046 f.); Ralph Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots – Das Menschenleben als Schutzobjekt des Strafrechts, 2004, S. 166 ff., 214 ff.; Günther Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Fritjof Haft/Wilfried Hassemer/Ulfrid Neumann/Wolfgang Schild/Ulrich Schroth (Hrsg.), Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 459 ff.; Claudia Kempf, Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung, in: JR 2013, S. 11 ff. (12 f.); Ines Matthes-Wegfraß, Der Konflikt zwischen Eigenverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, 2013, S. 113 ff.; Uwe Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 488 ff., 514 ff.; Roxin (Anm. 8), GA 2013, S. 313 ff. (318 f.); Friedrich-Christian Schroeder, Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen, in: ZStW 106 (1994), S. 565 ff.; weiterführend dazu Kubiciel (Anm. 5), Die Wissenschaft vom Besonderen Teil, S. 182 ff., 194 ff.; vgl. auch Michael Kubiciel, Gott, Vernunft, Paternalismus – Die Grundlagen des Sterbehilfeverbots, in: JA 2011, S. 86 ff. (89 ff.). 11 S. ergänzend zur ratio des strafbewehrten Verbots der Tötung auf Verlangen Freund (Anm. 2), in: Janich, Humane Orientierungswissenschaft, S. 149 ff. (158 f.); Günther Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, 2012, S. 34 ff. – Allerdings möchte Jakobs in den Fällen der Tötung auf Verlangen spezifisches Tötungsunrecht verneinen und § 216 StGB als reine Formvorschrift begreifen. Dabei beachtet er jedoch nicht gebührend, dass die unerlaubte Art und Weise der Todesherbeiführung das materielle Tötungsunrecht mitbestimmen kann. – Vgl. dazu auch noch unten III. 12 In diesem Sinne bereits Freund (Anm. 2), in: Janich, Humane Orientierungswissenschaft, S. 149 ff. (161).

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licherweise an der Freiverantwortlichkeit fehlt. Eine strafrechtliche Erfassung solcher Konstellationen ist nach der gegenwärtigen Gesetzeslage ausschließlich dann möglich, wenn sich im Nachhinein sicher feststellen lässt, dass die Entscheidung des „Sterbewilligen“ tatsächlich nicht freiverantwortlich war. Unter dieser Voraussetzung kommt nämlich eine Strafbarkeit nach § 222 StGB in Betracht. Sofern dieser Nachweis aber nicht gelingt, bleibt der Verhaltensnormverstoß des „fahrlässigen Helfers“ ungeahndet.13 Trotz Straflosigkeit besteht durchaus Anlass zur Verhaltensmissbilligung, wenn nicht hinreichend sicher ist, dass sich die Handlung, die eine Selbsttötung veranlasst oder fördert, auf eine freiverantwortliche Selbsttötung bezieht – also auf eine Selbsttötung, bei der der Wille des Suizidenten rechtlich beachtlich ist, weil keine wesentlichen Willensmängel in Rechnung zu stellen sind. Steht das Fehlen wesentlicher Willensmängel nach der Sachlage, die sich dem Betreffenden darbietet, nicht ausreichend fest (etwa wenn der die Selbsttötung Veranlassende oder Fördernde den Suizidenten gar nicht gut genug kennt), besteht die große Gefahr, dass Personen zu nicht freiverantwortlichen Entscheidungen mit letalen Folgen verleitet oder bei deren Umsetzung in die Tat jedenfalls unterstützt werden. Im Sinne eines angemessenen Lebensschutzes lässt sich ein entsprechendes Verhalten aus gutem Grund verbieten. Diese dem Strafrecht vorgelagerte Frage der rechtlichen Verhaltensordnung ist anhand der Kriterien der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit einer Freiheitsbeschränkung zur Erreichung eines legitimen (Rechtsgüter-)Schutzzwecks zu entscheiden.14 Am Vorrang des Lebensschutzes bei in Rechnung zu stellender Nichtfreiverantwortlichkeit des „Sterbewilligen“ besteht kein ernstlicher Zweifel. Von dieser Verhaltensnormfrage streng zu unterscheiden ist die Frage der Sanktionierung von Verhaltensnormverstößen. Das Strafrecht ist eine sekundäre oder genauer: eine akzessorische Normenordnung, die auf ganz bestimmte Verhaltensnormverstöße – unter Umständen bei Erfüllung weiterer Sanktionserfordernisse – angemessen missbilligend reagiert. Auch dabei geht es um die Verfolgung eines legitimen Zwecks: Der Zweck der Strafe liegt allein in der geltungssichernden ausgleichenden Ahndung des begangenen Verstoßes gegen eine rechtlich legitimierte Verhaltensnorm.15 In dem Verstoß gegen die rechtlich legitimierte Verhaltensnorm seitens einer verantwortlichen Person liegt eine Infragestellung der Verhaltensnormgel-

13 Zu dem im Grundsatz berechtigten Anliegen des Entwurfs s. auch bereits Freund/Timm (Anm. 1), GA 2012, S. 491 ff. (492). 14 Näher zu dieser Problematik der Legitimation von Verhaltensnormen Georg Freund, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 133 ff., 152 ff. 15 S. zu dieser spezifischen Aufgabe der Strafe Frauke Timm, Gesinnung und Straftat – Besinnung auf ein rechtsstaatliches Strafrecht, 2012, S. 52 ff. Es handelt sich dabei um eine expressive Straftheorie, die sämtliche präventiven Elemente ausschließt. Strafe ist danach gesellschaftliche Antwort auf die Infragestellung des Rechts durch den Täter und dient auf diese Weise dem Schutz der Normgeltung.

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tung.16 Genau auf diesen Verstoß muss die Rechtsordnung angemessen missbilligend reagieren, um den durch die begangene Tat gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen. Im Hinblick auf die besondere Schärfe des Instruments strafrechtlicher Missbilligung muss der Verhaltensnormverstoß – also das personale Verhaltensunrecht des Täters – dafür auch hinreichend gewichtig sein. Nur dann ist den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Genüge getan.17 Indessen bestehen im Grundsatz keine Bedenken, Verhaltensnormverstöße der hier interessierenden Art unter eine Strafdrohung zu stellen. Wenn für die Freiverantwortlichkeit der in Frage stehenden Selbsttötung zu wenig spricht oder sogar deutliche Anhaltspunkte vorliegen, die dagegen sprechen, geht es um den Schutz des hochrangigen Rechtsguts Leben. Es ist im Grundsatz nicht unangemessen, für die Geltungssicherung solcher das Leben schützender Verhaltensnormen das spezielle Mittel des Strafrechts einzusetzen. Tatsächlich stehen schon de lege lata derartige Verhaltensnormverstöße unter einer Strafdrohung, und zwar der des § 222 StGB. Denn für den Fall, dass sich im Nachhinein die Nichtfreiverantwortlichkeit des sich selbst Tötenden erweisen lässt, sieht diese Strafvorschrift die definitive Strafbarkeit vor. Diese Strafbarkeitsanordnung für den Fall spezifischer Fehlverhaltensfolgen impliziert indessen zwingend bereits eine Strafdrohung in Bezug auf das Verhalten. Deren Realisierung hängt allein noch davon ab, ob sich spezifische Folgen des rechtlichen Fehlverhaltens ereignen – und genau darauf hat der Verhaltensnormbrüchige nach seinem Verhaltensnormverstoß regelmäßig keinen Einfluss mehr. Beispiel: Wer in der Nähe anderer Menschen unachtsam mit einer Pistole hantiert, sodass sich ein Schuss löst, kann nicht mehr beeinflussen, ob jemand von der Kugel tödlich getroffen wird. Der Verstoß gegen eine das Leben anderer schützende Verhaltensnorm liegt unabhängig davon vor, ob dadurch tatsächlich eine andere Person getötet wird. Zwar ordnet § 222 StGB eine Strafbarkeit nur unter der weiteren Bedingung an, dass ein Mensch als spezifische Folge des Verhaltensnormverstoßes zu Tode kommt. Jedoch liegt das unter der entsprechenden Strafdrohung stehende tatbestandsspezifisch missbilligte Fehlverhalten auch dann vor, wenn eine solche Folge zufällig ausbleibt. Im Hinblick auf den hohen Rang des Rechtsguts Leben sprechen keine durchgreifenden Einwände dagegen, bereits den schlichten Verstoß gegen eine fremdes Menschenleben schützende Verhaltensnorm unter Strafe zu stellen. Entsprechende Strafvorschriften gibt es gegenwärtig nicht nur im Vorsatzfall der versuchten Tötung, sondern auch schon in manchen Fällen des fahrlässigen Verstoßes – wie etwa bei der Trunkenheit im Straßenverkehr nach § 316 StGB. Dementsprechend lässt sich auch eine Sanktionsnorm legitimieren, die die Veranlassung oder Förderung einer Selbsttötung unter Strafe stellt, sofern nicht davon ausgegangen werden darf, dass 16 Zur Normgeltung als Strafrechtsgut vgl. auch Jakobs (Anm. 11), Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, S. 19 ff. 17 Näher zum allgemeinen Straftatkriterium des hinreichenden Gewichts des personalen Fehlverhaltens Georg Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 2 Rn. 37 f., § 4 Rn. 6 ff., 18 ff., § 5 Rn. 9 ff.

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es sich um eine freiverantwortliche Selbsttötung handelt. Wenngleich also der 2012 vorgelegte Referentenentwurf eine prinzipiell berechtigte Zielsetzung aufweist, ist er in mehrfacher Hinsicht zu kritisieren. Er setzt insbesondere an der falschen Stelle an und leistet damit dem berechtigten Anliegen sogar einen Bärendienst. 2. Zur Bedeutung des freien Willens des Suizidenten für das geschützte Rechtsgut Die Bedenken gegen den Referentenentwurf resultieren im Kern aus dessen fehlender Ausrichtung an dem eigentlich durch das Verbot geschützten Rechtsgut. Hieraus ergeben sich Folgeprobleme, die im Anschluss aufgezeigt werden sollen. Nach dem eingangs Gesagten ist das Rechtsgut des Verbots einer Suizidbeihilfe allein unter Rekurs auf die (nicht einwandfrei gewährleistete) Willensfreiheit des Suizidenten angemessen bestimmbar: Der rechtlich legitimierbare Schutz des Lebens von Suizidenten durch ein Förderungs- oder Veranlassungsverbot hängt entscheidend davon ab, dass der Fördernde oder Veranlassende nach den Umständen nicht von einem freiverantwortlichen Handeln des Suizidenten ausgehen darf. Nach allgemeinen Regeln kommt zwar eine Strafbarkeit in solchen Fällen immer dann in Betracht, wenn sich später herausstellt, dass der Suizident nicht frei von Willensmängeln gehandelt hat. Dann kann sich der die Selbsttötung Unterstützende oder Veranlassende jedenfalls wegen fahrlässiger Tötung strafbar machen. Indessen ergeben sich Probleme der strafrechtlichen Erfassung, wenn später nicht gesagt werden kann, dass mit Sicherheit ein Willensmangel vorlag. Der bloß möglicherweise vorhandene Willensmangel reicht zwar ex ante für ein Verbot der Veranlassung oder Förderung einer Selbsttötung aus, aber nicht, um die für die Vollendungstat der fahrlässigen Tötung erforderliche spezifische Fehlverhaltensfolge anzunehmen. Und eine „versuchte fahrlässige Tötung“ sieht das Gesetz nicht vor. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die nach wie vor umstrittene Problematik der Kriterien einer „freiverantwortlichen“ Selbsttötung.18 Vereinfacht kann man sagen: Während sich manche an den Exkulpationsregeln orientieren19, setzen andere auf die sinngemäße Anwendung der Einwilligungsregeln20. Um berechtigte Lebensschutzinteressen nicht zu vernachlässigen, ist im Ergebnis die Orientierung an den Einwilligungsregeln sachgerecht. Die Gegenauffassung verkennt, dass es 18 S. auch zu diesem Aspekt der Problematik bereits Freund/Timm (Anm. 1), GA 2012, S. 491 ff. (493). 19 Im Sinne einer solchen Lösung etwa Hartmut Schneider, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2012, Vor §§ 211 ff. Rn. 38, 43 ff., 54 ff. m. w. N. 20 S. zu dieser Lösung etwa Wolfgang Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 162 ff.; Freund (Anm. 17), Strafrecht AT, § 5 Rn. 75; Tonio Walter, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 113. – Im Sinne einer vermittelnden Konzeption etwa Christoph Safferling, in: Holger Matt/Joachim Renzikowski, Kommentar zum StGB, 2013, § 212 Rn. 25 f. – Näher zum Ganzen auch Matthes-Wegfraß (Anm. 10), Der Konflikt zwischen Eigenverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, S. 209 ff.

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im hier interessierenden Kontext nicht – wie bei den Exkulpationsregeln – darum geht, ob jemand für eine Fremdschädigung zumindest noch in eingeschränktem Maße verantwortlich gemacht werden kann. An dieser Stelle geht es um die ganz andere – der Einwilligungsproblematik vergleichbare – Fragestellung, wann genau jegliche Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit in Bezug auf eine geförderte Selbstschädigung zu verneinen ist. An einer Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit des Suizidenten fehlt es aber nur dann, wenn er mit seiner Selbsttötung eine in jeder Hinsicht willensmangelfreie Entscheidung umsetzt. Nur unter dieser strengen Voraussetzung darf die Förderung der Selbsttötungstat rechtlich erlaubt werden. Wenn dagegen nach den Umständen der Selbsttötung von deren Freiverantwortlichkeit in diesem Sinne nicht ausgegangen werden darf, verstößt deren Förderung gegen geltendes Recht. Dafür spielt es auch keine Rolle, ob diese Förderung gewerbsmäßig oder nicht gewerbsmäßig, ob sie berufsmäßig, geschäftsmäßig oder sonst organisiert oder aber von einem „Laien“ im Einzelfall spontan vorgenommen wird. Das in solchen Fällen vollumfänglich verwirklichte Verhaltensunrecht wird durch die bereits erwähnte Strafbarkeitslücke (unter dem Blickwinkel der fahrlässigen Tötung als Vollendungstat) nicht in Frage gestellt. Im Hinblick auf den inzident angelegten Verantwortlichkeitsmaßstab in hohem Maße bedenklich ist die Entscheidung des BGH im „Pistolenfall“.21 Dabei ging es um folgenden – hier etwas vereinfachten – Sachverhalt: A hatte mit Frau B, zu der er in engen Beziehungen stand und von der er wusste, dass sie – vor allem nach vorangegangenem Alkoholgenuss – häufig bedrückt und schwermütig wurde, eine Gaststätte aufgesucht, in der B kräftig dem Alkohol zusprach. Ins Auto zurückgekommen, legte A seine geladene Dienstpistole auf das Armaturenbrett. Diese Pistole nahm B während einer Fahrtunterbrechung, als A gerade nicht aufpasste, an sich und erschoss sich. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Blutalkoholgehalt von Frau B 1,45 %. Der BGH nahm – ohne diese Frage ausdrücklich zu thematisieren – eine freiverantwortliche Selbsttötung an und kam zu einem Freispruch. Indessen kann im Hinblick auf den Gemütszustand von Frau B sowie ihren erheblichen Alkoholisierungsgrad nicht mehr ernsthaft von einer freiverantwortlichen Selbsttötung mit der Waffe ausgegangen werden. Auch und gerade bei Zugrundelegung der maßgeblichen Situation und Perspektive des A war vielmehr mit der Möglichkeit einer nichtfreiverantwortlichen Selbsttötung zu rechnen. Deren Förderung war folglich fahrlässig i.S. des § 222 StGB – sie verstieß gegen eine das Leben von Frau B schützende Verhaltensnorm, auf die die Sanktionsnorm des § 222 StGB Bezug nimmt. Da es tatsächlich zu einer nichtfreiverantwortlichen Selbsttötung gekommen ist, hat sich A wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht. Das anderslautende Ergebnis des BGH ist verfehlt. Der Referentenentwurf 2012 setzt berechtigterweise bei der Reaktion auf Verhaltensweisen an, die den möglicherweise nichtfreiverantwortlichen Suizid eines ande21 BGHSt 24, 342 ff. – Näher zur Kritik an dieser Entscheidung Freund (Anm. 17), Strafrecht AT, § 5 Rn. 70 ff.

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ren fördern. Es ergibt mit Blick auf einen angemessenen Lebensschutz einen guten Sinn, bereits solche Verhaltensweisen zu inkriminieren. Indessen beachtet der Referentenentwurf nicht in der gebotenen Weise den Stellenwert der Willensfreiheit des Suizidenten für das geschützte Rechtsgut. Das Ergebnis sind Friktionen, die sowohl den Inhalt als auch die Reichweite der in dem Entwurf 2012 vorgeschlagenen Strafvorschrift betreffen. 3. Blickverengung auf das Kriterium der „Gewerbsmäßigkeit“ So erfolgt in dem Gesetzentwurf die Begrenzung der Strafbarkeit zu Unrecht auf solche Förderungshandlungen der Selbsttötung, die gewerbsmäßig vorgenommen werden.22 Diese Fallgruppe bildet nur einen Ausschnitt der in diesem Zusammenhang relevanten Verhaltensweisen. Eine zu erwartende Gegenleistung kann einen Anreiz bieten, den potenziellen Suizidenten in seiner Entscheidung zu beeinflussen. Es besteht die Gefahr, dass die letztendlich getroffene Entscheidung zur Selbsttötung gerade nicht frei von Willensmängeln ist. Denkbar ist etwa, dass subtiler Druck ausgeübt wird. Auch kann die Kommerzialisierung der Hilfeleistung mitunter eine Normalität des Vorgangs suggerieren, die der Bedeutung und Tragweite der Entscheidung nicht gerecht wird. Indessen lauern Gefahren für die Autonomie der Entscheidung des vielleicht nur vermeintlich Sterbewilligen auch sonst in großer Anzahl und Vielfalt. In der Fallgruppe der Gewerbsmäßigkeit sind sie noch nicht einmal annähernd abschließend erfasst. Zu denken ist etwa an die Suizidhilfe des hoch verschuldeten Sohnes der lebensmüden wohlhabenden Mutter. Gleichgelagert ist die Gefahr immer dann, wenn die Freiheit der Entscheidung von Willensmängeln durch den „Sterbehelfer“ nicht angemessen überprüft wird. Vor diesem Hintergrund ist die Begrenzung des Entwurfs auf gewerbsmäßiges Handeln sachlich nicht berechtigt. Die darin liegende Blickverengung vernachlässigt gleichermaßen relevante Verhaltensweisen. Entsprechendes würde für eine Orientierung an dem mehr oder weniger großen „Organisationsgrad“ der Sterbehilfe gelten. 4. „Absicht“ als ungeeignetes Kriterium zum Schutz vor möglicherweise nichtfreiverantwortlicher Selbsttötung Auf Kritik stößt der Referentenentwurf weiter im Hinblick auf das darin enthaltende Absichtsmerkmal.23 Die „Absicht“ des Handelnden, „die Selbsttötung eines Menschen zu fördern“, ist für die Gefährlichkeit seines Verhaltens in Bezug auf die für den Lebensschutz bedeutsame Willensbildung des Suizidenten vollkommen irrelevant. Wenn Suizidbeihilfe geleistet wird, ohne dass sich der Helfende der Ernsthaftigkeit des Todeswunsches des Betreffenden umfassend vergewissert, besteht die Gefahr, dass die Suizidentscheidung nicht freiverantwortlich ist, ohne dass es auf 22 23

S. dazu und zum Folgenden bereits Freund/Timm (Anm. 1), GA 2012, S. 491 ff. (492 f.). S. auch dazu bereits Freund/Timm (Anm. 1), GA 2012, S. 491 ff. (494).

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eine spezifische Absicht des Helfers ankommt. Darf dagegen nach den Umständen von einer freiverantwortlichen Selbsttötung ausgegangen werden, vermögen etwaige (böse) Hintergedanken für sich genommen keine unerlaubte Gefährlichkeit des Verhaltens zu schaffen.24 Hätten allerdings nach den Umständen mögliche Willensmängel des Suizidenten in Rechnung gestellt werden müssen, spielt es für die unerlaubte Gefährlichkeit des Verhaltens keine Rolle, ob der Betreffende „nur“ mit dolus eventualis in Bezug auf die Förderung einer Selbsttötung gehandelt hat. Für den intendierten Lebensschutz ist es ohne Belang, ob der „Helfer“ die Gefahr einer nicht willensmangelfreien Entscheidung des potenziellen Suizidenten absichtlich herbeiführt oder dies etwa aus völliger Gleichgültigkeit tut. Das Absichtskriterium führt daher zu willkürlichen Differenzierungen bei der Strafbarkeit. 5. Zur Aufgabe und Verantwortung der Ärzte Besonders zu kritisieren ist außerdem das Bild, das der Referentenentwurf von Ärzten im Umfeld der Suizidbeihilfe zeichnet.25 Der Entwurf geht unhinterfragt von der Verbindlichkeit des in einigen – bei Weitem nicht in allen – Berufsordnungen anzutreffenden Verbots der Mitwirkung eines Arztes bei einer Selbsttötung aus.26 Indessen ist hier Folgendes zu beachten: Ein solches berufsrechtliches Verbot besitzt keine legitimierende Basis, weil sich eine abweichende Bewertung des Verhaltens eines Angehörigen dieser Berufsgruppe gegenüber dem Verhalten eines Normalbürgers nicht begründen lässt. Was dem Letzteren in diesem Kontext erlaubt ist, gilt ohne 24

Auch für die rechtlich erlaubte und sogar gebotene Umsetzung des mangelfreien Patientenwillens im Bereich der Schmerzlinderung mit unvermeidbar lebensverkürzender (Neben-)Wirkung spielt es keine Rolle, welche speziellen subjektiven Absichten oder „bösen“ Hintergedanken etwa der als Erbe eingesetzte Arzt hat. Wenn und soweit die Schmerzlinderung mit der unvermeidbar (!) lebensverkürzenden Wirkung genau dem entspricht, was der Patient will, um nicht unnötig leiden zu müssen, spielt es für die rechtliche Verhaltensbewertung keine Rolle, ob sich der Arzt hauptsächlich über den bald zu erwartenden Erbfall freut. Vielmehr hat der Patient auch dann das Recht auf angemessene Schmerzlinderung. Der Arzt würde sich rechtswidrig verhalten und wegen Körperverletzung durch begehungsgleiches Unterlassen strafbar machen, wenn er seinen Patienten leiden ließe. 25 S. auch zu diesem Kritikpunkt bereits Freund/Timm (Anm. 1), GA 2012, S. 491 ff. (494 f.). 26 Relevant ist im hier interessierenden Zusammenhang § 16 der Musterberufsordnung für Ärzte; vgl. etwa auch § 16 III der Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen; § 16 der Berufsordnung für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte v. 14. 11. 1998 i. d. F. v. 10. 11. 2012 lautet beispielsweise: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden … beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ – Es wirkt etwas gekünstelt und in der Sache zirkulär, wenn der Referentenentwurf dem ärztlichen Handeln seine Gewerbsmäßigkeit absprechen will, da „nur medizinisch notwendige Leistungen liquidiert werden können, die der ärztlichen Kunst entsprechen“ und die „Hilfe zum Suizid“ „nicht zu diesen Leistungen“ gehöre: Ärztliche Kunst ist nicht Selbstzweck, sondern dient dem Patienten und muss dessen Selbstbestimmungsrecht Rechnung tragen. Daran kommt auch das Standesrecht nicht vorbei. Insofern ist durchaus eine Liquidierung entsprechender ärztlicher Dienste möglich, so dass auch Ärzte „gewerbsmäßig“ handeln.

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Einschränkung auch für den Arzt. Standesrechtliche Regelungen der Ärzte sind nicht geeignet, Umfang und Reichweite des verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts festzulegen. Auch das in diesem Zusammenhang bisweilen formelhaft heraufbeschworene „ärztliche Ethos“27 ist nicht geeignet, eine Beschränkung der ärztlichen Berufsausübungsfreiheit zu legitimieren, für die keine ausreichenden sachlichen Gründe benannt werden können. Wenn der Arzt seinen freiverantwortlich handelnden Patienten bei dessen letztem Schritt begleitet und unterstützt und ihm dadurch z. B. erspart, sich von einer Brücke stürzen zu müssen, um sterben zu können, ist das in keiner Weise anstößig und auch berufsrechtlich nicht zu missbilligen.28 Die Arzteigenschaft rechtfertigt also kein Verbot der Unterstützung eines freiverantwortlichen Suizids, die jedem anderen Bürger rechtlich erlaubt ist. Indessen ist die Übernahme von Verantwortung durch dazu berufene Ärzte nicht nur rechtlich gestattet, sondern sogar mehr als wünschenswert.29 Wer sollte für diesen nicht einfachen Dienst besser geeignet sein? Ohne ärztlichen Beistand kann eine menschenwürdige Umsetzung des freiverantwortlich gefassten Suizidentschlusses nur schwer gelingen. Das wird vom Referentenentwurf verkannt, wenn er den potenziellen Suizidenten auf die Hilfe seiner Angehörigen verweist: Auch die Angehörigen bedürfen dringend ärztlicher Unterstützung, wenn der Sterbewunsch in Orientierung am Gebot der Humanität verwirklicht werden soll. Man denke insofern nur an den Zugang zu entsprechenden (verschreibungspflichtigen) Medikamenten. Eine evidente Ungleichbehandlung in der Möglichkeit zur Umsetzung des Suizidwunsches kann nicht ernstlich gewollt sein. Vor diesem Hintergrund bedarf es dringend der Einbeziehung der Ärzteschaft in eine Lösung des Problems, dass gegenwärtig nicht wenige durchaus freiverantwortlich handelnde Suizidenten faktisch dazu gezwungen sind, zweifelhafte „Hilfe“ in Anspruch zu nehmen, ins Ausland zu reisen oder sich im schlimmsten Fall in ihrer Not z. B. vor einen Zug zu werfen. Mit der gebotenen Übernahme von entsprechender Verantwortung durch die Ärzte wäre fragwürdigen kommerziellen Sterbehelfern faktisch wohl weitgehend das Betätigungsfeld genommen.

27 Darauf berufen sich – wie viele andere – etwa Fuat S. Oduncu/Gerrit Hohendorf, Assistierter Suizid: Die ethische Verantwortung des Arztes, in: DÄBl. 2011, A 1362, 1364; Roland Kipke, Suizidassistenz: Ein gerechtfertigtes Verbot, in: DÄBl. 2013, A 2315. – Indessen gibt es kein der ärztlichen Ethik zu entnehmendes eindeutiges absolutes Verbot der ärztlichen Beihilfe zum Suizid; zutreffend dazu etwa VG Berlin v. 30. 3. 2012 – VG 14 A 34.08, BeckRS 2012, 52019. 28 Instruktiv zur Bedeutung der Freiheit der Berufsausübung (Art. 12 I 2 GG) und der Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) des Arztes für die berufsrechtliche Bewertung der Beihilfe zum Suizid VG Berlin v. 30. 3. 2012 – VG 14 A 34.08, BeckRS 2012, 52019. – Zur Problematik der Verfassungswidrigkeit von Berufsrecht bei Kollision mit höherrangigem (Verfassungs-)Recht vgl. auch BVerfG v. 14. 12. 1999 — 1 BvR 1327/98 (BVerfGE 101, 312) (zum anwaltlichen Standesrecht). 29 Gegen einen Rückzug der Ärzteschaft mit Recht etwa auch Roxin (Anm. 8), GA 2013, S. 313 ff. (323 f.).

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Selbstverständlich ist ein Arzt – wie jeder andere – gehalten, das Fehlen von Willensmängeln in der Suizidentscheidung des Betreffenden zu überprüfen. Fördernd tätig werden darf auch ein Arzt nur dann, wenn er nach der Sachlage, die sich ihm nach sorgfältiger Prüfung darbietet, davon ausgehen darf, dass eine freiverantwortliche Entscheidung des Patienten vorliegt und von diesem umgesetzt wird. Zur Beurteilung der Freiverantwortlichkeit dürfte kaum jemand besser geeignet sein als der Arzt, der seinen Patienten über einen langen Zeitraum hinweg betreut hat. Er kann dem Betreffenden noch am ehesten Alternativen zur Selbsttötung und neue Lebensperspektiven aufzeigen sowie ganz allgemein das Für und Wider einer Selbsttötung unvoreingenommen mit dem Patienten besprechen. Auch kann das gewerbsmäßig-finanzielle Interesse des Arztes in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, weil er mit der abrechenbaren sonstigen ärztlichen Behandlung wohl kaum weniger verdienen wird. Außerdem schafft die Unterstellung unter ein angemessen konzipiertes Standesrecht eine wünschenswerte weitere Instanz zur Kontrolle der rechtlichen Korrektheit des ärztlichen Handelns. Auf diese Weise gelingt eine zusätzliche Absicherung im Interesse angemessenen Lebensschutzes, die z. B. bei nichtärztlichen „ehrenamtlichen Sterbehelfern“ fehlt. Gerade bei nicht professionell handelnden Personen, die es bei ihrer Sterbehilfe nur „gut meinen“, ist vor allem im Hinblick auf die fehlenden Fachkenntnisse sogar mit einem nicht zu unterschätzenden Gefahrenpotenzial zu rechnen. Auch hieran zeigt sich, dass das Kriterium der Gewerbsmäßigkeit die relevanten Gefahren nicht angemessen erfasst und der Referentenentwurf 2012 damit ebenso in die falsche Richtung geht wie etwa die Versuche, die an der mehr oder weniger ausgeprägten Organisation von Sterbehilfe ansetzen. III. Alternativvorschlag zum Schutz vor nichtfreiverantwortlicher Selbsttötung Dem Gesetzentwurf 2012 stehen folglich massive Bedenken entgegen. Geboten ist daher eine abweichende Fassung des geplanten § 217 StGB, die die erhobene Kritik aufgreift und sinnvoll umsetzt. Die im Bereich von Gefahren für die Freiverantwortlichkeit von Selbsttötungsentscheidungen vorhandene Strafbarkeitslücke muss geschlossen werden. Dies gelingt durch eine gesetzliche Regelung, die unmittelbar auf das Bezug nimmt, was unter dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes legitimerweise verboten und unter Strafe gestellt werden darf. Der neue Straftatbestand könnte folgendermaßen lauten:30 § 217 (neu). Unerlaubte Veranlassung oder Förderung einer Selbsttötung. Wer die Selbsttötung eines anderen oder deren Versuch veranlasst oder fördert, obwohl er nach den Umständen nicht davon ausgehen darf, dass die Entscheidung zur Selbsttötung unter keinen wesentlichen Willensmängeln leidet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 30 Dieser Vorschlag wurde erstmals unterbreitet von Freund/Timm (Anm. 1), GA 2012, S. 491 ff. (495 f.).

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Bei der hier vorgeschlagenen Strafvorschrift handelt es sich um ein Gefährdungsdelikt, das auf einer Linie mit § 216 StGB liegt. Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen ergibt sich aus der berechtigten Erwägung, dass selbst wenn nach den Umständen alles für einen freiverantwortlichen Sterbewunsch spricht, die Umsetzung in die Tat jedenfalls grundsätzlich durch den Sterbewilligen selbst vorzunehmen ist. Dies schafft eine zusätzliche Absicherung der Ernsthaftigkeit und Willensmangelfreiheit der getroffenen Entscheidung. So soll das strafbewehrte Verbot der Tötung auf Verlangen gewährleisten, dass der Suizident die Ernsthaftigkeit und Willensmangelfreiheit seiner Entscheidung durch die eigenhändige Vornahme des todbringenden Verhaltens manifestiert, damit keine voreilige, nicht hinreichend überlegte Veranlassung der Umsetzung des Sterbewunsches durch einen anderen denkbar ist. Ausgeschlossen ist diese spezielle Möglichkeit nur, wenn der Sterbewillige durch sein eigenes Verhalten, die vor der Selbsttötung liegende Hemmschwelle tatsächlich überwindet – also selbst die „Feuerprobe“ besteht. Worte sind leicht gesprochen – was schwer fällt, sind die Taten! Die Vorschrift trägt der genannten abstrakten Gefahr generalisierend Rechnung. Sie greift auch dann ein, wenn der Sterbewillige frei von näher konkretisierbaren Willensmängeln handelt, und selbstverständlich auch dann, wenn nach den Umständen für den, der eine Fremdtötung auf Verlangen vornimmt, keinerlei Willensmängel ersichtlich sind, er also nach allgemeinen Regeln durchaus von einer willensmängelfreien Entscheidung ausgehen darf. Da bei dem Verbot der Tötung auf Verlangen die auch in concreto niemals mit absoluter Sicherheit auszuschließende Gefahr der Verfehlung des normativ maßgeblichen („wahren“) Willens des Sterbewilligen den Verbotsgrund bildet, liegt im Verhältnis zu dem die Tötung Verlangenden materielles Tötungsunrecht vor. Es handelt sich zwar um Tötungsunrecht, das im Verhältnis zur Tötung ohne Gestattung abgeschwächt ist, weil immerhin eine – wenngleich defizitäre – Gestattung vorliegt. Aber das Verbot legitimiert sich durch das aufweisbare Lebensschutzinteresse des konkreten Opfers, vor einer solchen Tötung bewahrt zu werden. Es besteht nicht etwa bloß in einem überindividuellen Interesse der Gemeinschaft. Dieses Lebensschutzinteresse des konkreten Opfers liegt auch und gerade dann noch vor, wenn eine Selbsttötung als freiverantwortlich anzusehen und deren Unterstützung erlaubt wäre. Die entsprechende Differenzierung des deutschen Rechtssystems, nach der eine Tötung auf Verlangen auch dann rechtlich verboten und strafbar ist, wenn die Unterstützung einer Selbsttötung wegen der anzunehmenden Freiverantwortlichkeit des Suizidenten rechtlich keinen Bedenken unterliegt, ist ausgesprochen sachgerecht und darf einer „Gesetzesreform“ keinesfalls zum Opfer fallen.31 Der dadurch erreichte angemessene Lebensschutz rechtfertigt die damit verbundene Freiheitsbeschränkung jedenfalls immer dann, wenn statt der Fremdtötung auf Verlangen eine unterstützte Selbsttötung möglich wäre. Dem Sterbewilligen wird dann nämlich gar nicht die Möglichkeit entzogen, aus dem Leben zu scheiden. Vielmehr geht es nur um eine aus gutem Grund vorgenommene – angemessene – Be31

Sachlich übereinstimmend insofern etwa Roxin (Anm. 8), GA 2013, S. 313 ff. (324 ff.).

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schränkung auf bestimmte Formen der Realisierung dieses Wunsches: Anstatt sich von einem anderen töten zu lassen, wird von dem Betreffenden verlangt, sich – bei Bedarf mit fremder Hilfe – selbst das Leben zu nehmen. Da die Unterstützung der Selbsttötung sehr weit gehen kann und es nur darauf ankommt, dass der Sterbewillige das todbringende Verhalten selbst „eigenhändig“ vornimmt, sind das – von freilich denkbaren Extremfällen abgesehen32 – die praktisch bedeutsamen Konstellationen. Wenn statt der erlaubten Suizidbeihilfe eine verbotene Tötung auf Verlangen vorgenommen wird, ist der entsprechende „Verfahrensfehler“ materiellrechtlich relevant – also nicht etwa ein bloßer „Formfehler“.33 Er begründet unter dem Blickwinkel angemessenen Lebensschutzes Tötungsunrecht im Verhältnis zu dem konkreten Opfer. Dieses ist zwar geringer als bei einer Tötung gegen oder ohne den entsprechenden geäußerten Willen – aber es ist Tötungsunrecht dem Betroffenen gegenüber, weil diese Tötung in seinem Lebensschutzinteresse nicht sein durfte. Dass derselbe „Enderfolg“ über eine unterstützte Selbsttötung hätte herbeigeführt werden dürfen, ist wie sonst auch als bloß hypothetischer Verlauf irrelevant, weil die spezifische Verhaltensmissbilligung davon unberührt bleibt. Das Verbot der Tötung auf Verlangen dient daher dem legitimen Lebensschutz vor voreiligen Sterbehelfern. Daher sollte 32

Zu deren „Lösbarkeit“ auch auf der Basis des geltenden Rechts vgl. etwa Roxin (Anm. 8), GA 2013, S. 313 ff. (326 f.). – Auch wenn eine teleologische Reduktion des strafbewehrten Verbots der Tötung auf Verlangen nicht in Betracht kommt, sondern die ratio an sich immer trägt, kann seine Legitimation schon auf Tatbestandsebene an gewichtigeren Gegeninteressen scheitern; vgl. dazu Freund (Anm. 2), in: Janich, Humane Orientierungswissenschaft, S. 149 ff. (159) (zu Fällen, in denen bei einer Aufrechterhaltung des Verbots die Realisierung des Sterbewunsches vereitelt oder über Gebühr erschwert würde); Georg Freund, Tatbestandsverwirklichungen durch Tun und Unterlassen – Zur gesetzlichen Regelung begehungsgleichen Unterlassens und anderer Fälle der Tatbestandsverwirklichung im Allgemeinen Teil des StGB, in: Holm Putzke/Bernhard Hardtung/Tatjana Hörnle u. a. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, 2008, S. 225 ff. (237 f.). – Im Sinne einer möglichen teleologischen Reduktion des strafbewehrten Verbots der Tötung auf Verlangen allerdings wohl Kubiciel (Anm. 5), Die Wissenschaft vom Besonderen Teil, S. 206 ff., 219 ff. Zustimmungswürdig ist freilich dessen Ergebnis des Tatbestandsausschlusses in den Fällen des (aktiven) Behandlungsabbruchs und der unvermeidbar lebensverkürzenden Schmerzlinderung gemäß dem Willen des Betroffenen. Nicht gebührend berücksichtigt wird dabei von Kubiciel lediglich das Fehlen zumutbarer(!) Möglichkeiten des assistierten Suizids als Voraussetzung der Tatbestandslosigkeit des lebensverkürzenden Verhaltens anderer. Nicht zumutbar ist es selbstverständlich, von einem Leidenden zu verlangen, er solle sich selbst die unvermeidbar lebensverkürzende Spritze geben, die seine Leiden lindern soll, und bei Bedarf die entsprechende Tätigkeit erlernen. Das Kriterium des Fehlens zumutbarer Möglichkeiten des assistierten Suizids als Voraussetzung der Tatbestandslosigkeit des lebensverkürzenden Verhaltens führt nicht etwa zu einem verfehlten Naturalismus. Es handelt sich dabei nur um die Konsequenz der normativen Relevanz eines empirischen Konstrukts: der Differenz zwischen einer Selbsttötungshandlung und dem bloßen Verlangen (als Aufforderungshandlung), von einem anderen getötet zu werden. 33 So aber Jakobs (Anm. 11), Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, S. 35, der ein Unrecht an der ihre Tötung verlangenden Person mit der Überlegung ablehnt, diese Person werde wegen ihres Verlangens „nicht überwältigt“. Indessen greift das zu kurz, weil – wie Jakobs selbst darlegt – der normativ maßgebliche („wahre“) Wille der Person auch in anderer Weise als durch Überwältigung verfehlt werden kann.

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die entsprechende Strafvorschrift des § 216 StGB bei einer etwaigen Reform der Tötungstatbestände nicht angetastet werden. Nach dem Gesagten ist es auch unter keinen Umständen möglich, das strafbewehrte Verbot der Tötung auf Verlangen teleologisch zu reduzieren. Gleichermaßen effektive alternative verfahrenstechnische Lebensschutzmaßnahmen gibt es nicht. Im Gegensatz zu § 216 StGB erfasst der hier vorgeschlagene Straftatbestand des § 217 (neu) StGB speziell solche Konstellationen, in denen der „Sterbehelfer“ (bzw. der eine Selbsttötung Veranlassende) nach den Umständen nicht von einer Suizidentscheidung ausgehen darf, die frei von Willensmängeln ist. Er erfasst sachlich bereits das Verhaltensunrecht einer fahrlässigen Tötung als Straftat, sofern es in der Folge zu einer geförderten oder veranlassten Selbsttötung oder deren Versuch kommt. Für die spezifische Strafbarkeit spielt es keine Rolle, ob die Selbsttötung oder deren Versuch tatsächlich freiverantwortlich oder (möglicherweise) nicht freiverantwortlich geschieht. Ein dahingehender Nachweis muss somit nicht geführt werden. Entscheidend ist für die Tatbestandsverwirklichung allein, dass unter den gegebenen Umständen mit einem nichtfreiverantwortlichen Handeln des potenziellen Suizidenten gerechnet werden musste und daher eine Förderung (oder Veranlassung) verhaltensnormwidrig war. Damit gelingt ein angemessener Schutz der Willensfreiheit von Personen, die sich für den eigenen Tod entscheiden, auch auf der Ebene der Sanktionsnorm. Selbstverständlich greift – wie schon bisher – eine weitergehende Strafbarkeit nach § 222 StGB ein, wenn im Strafverfahren die Nichtfreiverantwortlichkeit des Suizidenten positiv festgestellt werden kann. Im entsprechenden Vorsatzfall besteht sogar eine Strafbarkeit jedenfalls nach § 212 I StGB. Spezielle Konkretisierungsprobleme wirft die vorgeschlagene neue Strafvorschrift nicht auf. Die zu beantwortenden Fragen unterscheiden sich in keiner Weise von denen, die nach der gegenwärtigen Gesetzeslage etwa unter dem Blickwinkel der Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB auftauchen. Im Verhaltensnormbereich ist dort ebenfalls zu prüfen, ob die Voraussetzungen eines entsprechenden (fahrlässigen) Verhaltens gegeben sind. Zu klären ist gleichermaßen, ob der Täter (bei gegebener Sonderverantwortlichkeit34) gegen eine Verhaltensnorm verstoßen hat, die im Interesse des Schutzes fremden Menschenlebens legitimiert werden konnte. Das erfordert zunächst: Die entsprechende Schädigungsmöglichkeit muss für den Täter erkennbar und vermeidbar gewesen sein. Überdies muss im Wege einer Güter- und Interessenabwägung ein rechtliches VermeidenMüssen dieser Schädigungsmöglichkeit begründet werden können. Nach der von mir andernorts vorgeschlagenen Fahrlässigkeitsdefinition verhält sich fahrlässig, wer angesichts der vorgefundenen Sachlage die nach seinen individuellen Verhältnissen vorhersehbare, vermeidbare und von Rechts wegen zu vermeidende Möglichkeit der nicht gerechtfertigten Tatbestandsverwirklichung schafft oder nicht abwen34 Zur – abgesehen von den Fällen der §§ 138, 323c StGB – regelmäßig erforderlichen Sonderverantwortlichkeit für die Tatbestandsverwirklichung näher Freund (Anm. 14), in: Münchener Kommentar zum StGB, Vor § 13 Rn. 171 ff., § 13 Rn. 19 ff., 76 ff., 84 ff.

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det.35 Die Bedenken, die bisweilen unter dem Aspekt des Grundsatzes der gesetzlichen Bestimmung der Strafbarkeit (Art. 103 Abs. 2 GG) ganz allgemein gegen die Strafbarkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten erhoben werden,36 sind unbegründet.37 Die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeitsanordnung leidet nicht darunter, dass es im Einzelfall schwierig sein mag, einen tatbestandsspezifischen Verhaltensnormverstoß zu begründen. Gelingt diese Begründung im Rahmen des Strafverfahrens nicht, ist eben freizusprechen. Gelingt es dagegen zu begründen, dass jemand (bei gegebener Sonderverantwortlichkeit) gegen eine Verhaltensnorm verstoßen hat, die fremdes Menschenleben schützen sollte, und ist es deshalb zum Tod eines Menschen gekommen, ergibt sich aus § 222 StGB unmissverständlich klar und eindeutig bestimmt die entsprechende Strafbarkeitsanordnung. Zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist dann lediglich noch strafbarkeitseinschränkend zu beachten, dass das tatbestandsspezifische personale Fehlverhalten für die einschneidende Rechtsfolge der Bestrafung auch hinreichend gewichtig sein muss.38 Ein Unterschied zwischen § 217 (neu) StGB und § 222 StGB besteht allerdings bei den speziellen Anforderungen der jeweiligen Sanktionsnorm an die tatbestandsspezifischen Fehlverhaltensfolgen: Während bei § 222 StGB feststehen muss, dass es sich bei der Selbsttötung um eine nichtfreiverantwortliche gehandelt hat, genügt es bei § 217 (neu) StGB, dass es als spezifische Folge des Fehlverhaltens überhaupt zu einer Selbsttötung oder jedenfalls zum Versuch einer solchen gekommen ist, die oder der nicht veranlasst oder gefördert werden durfte. Im Verhältnis zur fahrlässigen Tötung ist daher der Erfolgsunwert des § 217 (neu) StGB geringer. Dementsprechend ist die Strafe niedriger anzusetzen.

35 S. zu dieser Definition bereits Georg Freund, Die Definitionen von Vorsatz und Fahrlässigkeit – Zur Funktion gesetzlicher Begriffe und ihrer Definition bei der Rechtskonkretisierung, in: Michael Hettinger/Thomas Hillenkamp/Michael Köhler u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper, 2007, S. 63 ff. (78); Freund (Anm. 17), Strafrecht AT, § 5 Rn. 87c. 36 Unlängst erneut etwa von Gunnar Duttge, Wider die Palmströmsche Logik: Die Fahrlässigkeit im Lichte des Bestimmtheitsgebotes, in: JZ 2014, S. 261 ff. (266 ff.). 37 Näher dazu etwa Freund (Anm. 35), in: Hettinger/Hillenkamp/Köhler u. a, Festschrift für Wilfried Küper, S. 63 ff. (64 f.); vgl. auch Georg Freund, Anmerkung zu BGH Urt. v. 18. 9. 2013 – 2 StR 365/12 (LG Bonn): Zur Blankettstrafnorm des § 95 Abs. 1 Nr. 2a i. V. mit § 6a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AMG (strafbewehrtes Dopingverbot), in: JZ 2014, S. 362 ff. (363). 38 Zu diesem allgemeinen Straftatkriterium näher Freund (Anm. 17), Strafrecht AT, § 2 Rn. 37 f., § 4 Rn. 6 ff., 18 ff., § 5 Rn. 9 ff. – Gegenwärtig versuchen viele die Lösung noch immer über die strafprozessualen Einstellungsvorschriften der §§ 153 ff. StPO zu erreichen.

Franz von Liszt im geteilten Deutschland – Eine rechtsvergleichende Vergewisserung über Determinanten von Rechtsstaatlichkeit und Wirksamkeit bei der Straftatenprävention Von Mirko Schulte I. Vorbemerkung und Gang der Darstellung Bei dem im Jahr 1945 geborenen Jubilar darf die Annahme als gesichert gelten, dass er das Schicksal Deutschlands in den Facetten des Mauerbaus und der Wiedervereinigung aus unterschiedlicher Warte und Funktion intensiv erlebt und begleitet hat und ihren rechtlichen Ausprägungen – aus individueller Biografie, aber auch gerade als Jurist – weiterhin besonderes Interesse schenkt. Auch hat Friedrich Bohl als Mitglied unterschiedlichster Organe der Gesetzgebung jahrzehntelang Gelegenheit besessen, neben der pragmatisch-politischen Seite bei der Schaffung von Gesetzen auch die technischen Besonderheiten und Grenzen gesetzlicher Programmierung kennen zu lernen. Die Wiedervereinigung brachte für den Bereich des Rechtes eine unerschöpflich anmutende Menge an Anschauungsmaterial und Aufgabenvielfalt hervor, bei deren Betrachtung die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts1 in einem zentralen Fokus der Öffentlichkeit stand. In den Hintergrund geriet dabei – die bei einem untergehenden Staat durchaus in der Natur der Sache liegende – rechtsvergleichende Betrachtung des materiellen Strafrechts der DDR, soweit dieses nicht zu Aufarbeitungszwecken benötigt wurde. Wie immer bei der Freilegung der Funktionsbedingungen untergegangener Systeme scheinen sich indes auch bei der Betrachtung der Rechtswirklichkeit des Strafrechts der DDR 25 Jahre später Gelegenheiten zu lohnenswerten Reflexionen auf den heutigen Zustand unseres geltenden Rechts zu bieten. Dem will sich dieser Beitrag mit einem Blick auf die Besonderheiten der rechtlichen Organisation von gerichtlicher Straftatenprävention widmen. Denn dieser Bereich besitzt in der Diskussion um die Leistungsfähigkeit unseres geltenden Strafrechts unverändert hohe Aktualität. Das Interesse eines rückblickenden Vergleiches gilt dabei weniger der Erkenntnis, dass die politische Wende des Jahres 1989 das Strafrecht eines totalitären Staates als Mittel des Machterhalts und als Ursache viel1 Z.B. Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze, Verfahren gegen MfS-Mitglieder, Wahlfälschungen, Verschleppungen und Rechtsbeugung.

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seitigen menschlichen Leids beerdigt hat. Vielmehr soll am Beispiel unbestimmter Rechtsbegriffe in dem auf den ersten Blick eher unpolitisch anmutenden Bereich der Straftatvermeidung aufgezeigt werden, unter welchen Bedingungen wirksame Straftatvermeidung gelingt und sich Rechts- und Unrechtsstaat bei einem durchaus ähnlichen formalen Gesetzesrahmen unterscheiden. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind seit jeher ein Lehrstück zur Vermessung rechtsstaatlicher Bedingungen und bieten gleichsam einem Prisma ihre Zerlegung in Einzelbetrachtungen an. Der staatliche Rechtsgüterschutz durch die präventiven Bestandteile des Strafrechts scheint dafür eine gelungene Projektionsfläche zu bieten. Konturen der dabei sichtbar werdenden Erkenntnisse deuten sich bereits auf den ersten Blick an: Es wird neben einem Vergleich der Organisation der Spezialprävention im Strafrecht in beiden deutschen Staaten um den Umgang mit juristisch-hermeneutischer Methode und deren Grenzen bei dem Transfer erfahrungswissenschaftlicher Wirksamkeitserkenntnisse in die Praxis gehen, um Verfassungskraft, aber auch um Ethik und Dienstpflicht des Richters. Im Brennglas betrachtet steht am Schluss das geschuldete Fazit: Wo genau stecken Rechtsstaat und Wirksamkeit im Recht der strafrechtlichen Spezialprävention? Die Begründung für eine derartige Betrachtung ist bereits genannt und lediglich hinsichtlich ihrer fortbestehenden Aktualität um geschichtliche Überlegungen zu ergänzen. Ein Beitrag, der die Frage des Rechtsstaats und damit die täglichen Lebensbedingungen von 20 Millionen deutschen Menschen in der ehemaligen DDR berührt, fügt sich ein in die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der gerechten und objektiven „Aufarbeitung der jüngeren Geschichte unseres Landes“.2 Sie hat trotz des wohl am gründlichsten erforschten Teils deutscher Vergangenheit weiterhin dauerhafter Auftrag zu sein;3 stets auch um dem Vorwurf zu entgehen, Gesellschaft, Justiz und Wissenschaft hätten erneut Strafrecht als eine bloße Episode ad acta gelegt.4 Das Recht und seine Verwirklichung hatten in der DDR keine selbstverständliche Öffentlichkeit.5 Sie nachträglich herzustellen erscheint fortdauernd geboten – gerade 2

Vgl. zu diesem Anliegen den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien CDU, CSU und SPD 2013, S. 91, der „das historische Gedächtnis und insbesondere die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte unseres Landes als dauerhafte Aufgaben“ erklärt und davon ausgeht, dass „unser Bewusstsein für Freiheit, Recht und Demokratie geprägt ist durch die Erinnerung an NS-Terrorherrschaft, an Stalinismus und SED-Diktatur, aber auch durch die positiven Erfahrungen deutscher Demokratiegeschichte“. 3 Zu verschiedenen aktuellen Aspekten der Aufarbeitung Richard Schröder, Wie es wirklich war. Warum ist die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte unseres Landes eine „dauerhafte Aufgabe“?, in: FAZ vom 6. 1. 2014, S. 7. 4 So auch Jörg Arnold, Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit, 2000, S. 57. 5 Als Beispiel für die Verwirklichung von Öffentlichkeit führen Roger Engelmann/Clemens Vollnhals, Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, 1999, S. 15 ff. (20 f.), den Prozess gegen Robert Havemann an. Havemann habe als Angeklagter in seinem Verfahren wegen angeblicher Devisenvergehen vor dem Bezirksgericht Fürstenwalde am 14. 6. 1979 um 8.00 Uhr den mit zwölf Zuschauerplätzen seit 7.30 Uhr bereits voll besetzten Sitzungssaal

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für diejenigen, die sie betrafen und mit Respekt vor ihnen; ohne kopfschüttelnde Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit eines privilegierten Zuschauers vor einer historischen und allein deshalb stets fragmentreichen Kulisse.6 II. Spezialprävention: Franz von Liszt und das Marburger Programm von 1882 Sicherheitsgewährleistung des Staates als Sorge um die effektive Herstellung von Schutz, Sicherheit und Frieden für seine Bürger ist Staatsfundamentalzweck eines jeden demokratischen Rechtsstaats.7 Dieser Auftrag ist einfachgesetzlich für den Bereich des materiellen Strafrechts als sog. Spezialprävention u. a. in den §§ 46 Abs. 1 Satz 2, 56, 56c, 57, 59, 59a StGB, §§ 10, 15 JGG verwirklicht, die mit analoger Behandlungsausrichtung durch die Bestimmungen des Strafvollzugs- und Maßregelvollzugsrechtes ergänzt werden. Die wegweisenden Wurzeln für den Strafzweck der Spezialprävention finden sich in dem sog. „Marburger Programm“ von Franz von Liszt aus dem Jahr 1882.8 Spezialprävention9 und Resozialisierung als Methode zur Rückfallvermeidung sind – neben dem ebenso unverzichtbaren Prinzip gerechten Schuldausgleiches stehend – verfassungsrechtlich selbständig gebotenes Strafziel und beinhalten insbesondere aus dem Menschenwürdeprinzip abgeleitet eine individualpräventive Ausprägung der Strafe als ein Stück unverrückbarer Humanität und Rationalität des Schuldstrafrechtes10 mit der Betonung einer fortbestehenden Chance des Straffälligen als Teil der Rechtsgemeinschaft.11 Die Alternativlosigkeit dieses Ansatzes als wirksamste Form zur Verhinderung künftigen Opferleids durch potenzielle künftige Straftaten in einem modernen utilibetreten. Bei den Zuschauern habe es sich nach Punkt 2 eines Ablaufplanes des MfS ausschließlich um Mitarbeiter des MfS gehandelt. 6 Vgl. zu Gedanken zu einem angemessenen Umgang bei Berichten und Bewertungen in einer nachträglichen Begegnung von West und Ost u. a. Inga Markovits, Die Abwicklung – Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz, 1993, S. 9 ff. 7 BVerfGE 35, 202 ff.; vgl. auch Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 22 ff. In dieser klaren Benennung als Staatsauftrag erstmals bei Thomas Hobbes, Leviathan, Chapter 17, S. 131 f., der in einer souveränen Gewalt den von der Vernunft gebotenen Weg sieht, die Bürger vor den „injuries of one other“ zu schützen. 8 Franz v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ders. (Hrsg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band I, 1882, S. 126 ff. 9 Und der Zweck sog. „negativer“ Generalprävention als Abschreckung der Rechtsgemeinschaft gegenüber der positiven Generalprävention als erstrebte Versicherung des Funktionierens des Rechtes. 10 Walter Stree/Jörg Kinzig, in: Adolf Schönke/Horst Schröder, StGB, Vorbem. §§ 38 ff., Rn. 7 ff.; Winfried Hassemer, Strafrecht, Prävention, Vergeltung. Eine Beipflichtung, in: Andreas Hoyer/Henning E. Müller/Michael Pawlik (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder, 2006, S. 51 ff. (65): „Prävention ist eine konkurrenzlose Zielbestimmung des Strafrechts“. 11 BVerfGE 35, 202 ff.

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taristischen Zweckstrafrecht wird rechtlich und fachlich ernsthaft nicht mehr in Frage gestellt.12 Im Vordergrund steht heute vielmehr die den gesamten Bereich der Kriminalprävention beherrschende intensive Suche nach evidenzbasierten Kriterien der Eignung und Wirksamkeit von strafrechtlichen Interventionen zur Straftatvermeidung und deren Implementierung in die praktische Strafrechtspflege. III. Komplexität und Kontingenz wirksamer Straftatenprävention – Theoretische Grundannahmen bei der Verwirklichung des Rechts Dort beginnt allerdings das Problem. Wie kommt unter der Geltung von Gesetzesvorbehalt und richterlicher Unabhängigkeit die wissenschaftliche Erfahrung darüber, welches Mittel gegen Straftaten am besten wirkt, dorthin, wo sie gebraucht wird – in die richterliche Anwendungspraxis? Die Ausdifferenzierung der sozialen Wirklichkeit durch den Staat in Form steuernder Prämissen begegnet zunächst dem Befund, dass die Wirklichkeit aufgrund Komplexität und Kontingenz ein Konstrukt ist. Im Verfassungsstaat der Gewaltenteilung hat deshalb eigentlich nur der Gesetzgeber das für richtig befundene Programm zu liefern. Tut er das nicht, ist dies im Rechtsstaat allerdings nichts Ungewöhnliches, sondern eher die Regel.13 Der Gesetzgeber darf ohne Verstoß gegen Bestimmtheits- und Wesentlichkeitsgrundsatz die Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen dem Richter überlassen.14 Dieser darf in den Grenzen zulässiger Methode ausgiebig verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung betreiben.15 Schwierig wird es indes dann, wenn es nicht um mit juristisch-hermeneutischer Methode erreichbare, sondern um erfahrungswissenschaftliche Prämissen geht. Die zur Straftatprävention notwendige präzise Identifikation von individuellen kriminogenen Ursachen, eine verlässliche Gefährlichkeitsprognose und spezifische Interventionen setzen bei kriminologisch-psychologischen Erfahrungen an, nicht aber normativ aus dem Gesetz oder sonstigen Maßstäben herzuleitenden Wertungen. 12

Winfried Hassemer, Warum Strafe sein muss, 2009, S. 67 ff.; Claus Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl., 2006, § 3 Rn. 37 ff.; Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie, 6. Aufl. 2011, § 29 Rdnr. 2. Regelmäßig auftretende Stimmen der Resignation oder der Verlockungen von Symbolpolitik, stimmungslatenten Strafschärfungsforderungen oder den fiskal-ökonomisch beeinflussten Hervorhebungen eines behandlungskostengünstigen „nothing works“ Ansatzes gehören zu einem fortwährenden rechtspolitischen Diskurs dazu. 13 Vgl. nur Hans Huber, Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaats, 1953, S. 66, der von Steuerungskrise des Rechts spricht; Gunnar-Folke Schuppert, Governance und Rechtsetzung, 2011, S. 161, spricht von Steuerungsschwäche. 14 Zuletzt im Urteil zur Verfassungsgemäßheit des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG), BVerfG, Beschluss vom 11. 7. 2013 – 2 BvR 2302/11, 2 BvR 1279/12 –, juris, Rn. 66 ff. 15 Siehe zu einem ausführlichen Überblick der hierfür angeführten Argumente Eric Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 430 ff.

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IV. Strukturelle Bedingungen wirksamer Spezialprävention in der Bundesrepublik Deutschland Bei der Betrachtung der Organisation wirksamer Einwirkung auf Straffällige zur Rückfallvermeidung ist zwischen der gesetzlichen Steuerungsleistung des StGB und der methodischen Ausrichtung der Praxis zu unterscheiden. Der historische Gesetzgeber des Reichsstrafgesetzbuches hat die hinter dem Präventionsauftrag stehenden empirischen Fragen und Probleme trotz aller wissenschaftsgläubigen Aufbruchseuphorie seiner Zeit anfangs – zeitgenössisch entschuldbar – nicht erkannt und deshalb nicht gesetzgeberisch präzise verarbeitet. Er hat sie später zwar erkannt, aber bisher mit wenigen Ausnahmen16 an die Rechtsprechung auf dem üblichen gesetzestechnischen Weg mittels zweckprogrammatischer Generalklauseln und unbestimmter Rechtsbegriffe durchgereicht. Im StGB hat er dies zum Beispiel bei der in der Praxis überaus relevanten Bewährungsaussetzung bei Freiheitsstrafen in §§ 56, 56c StGB mit weniger als zehn Wörtern durch zwei Formeln (Erwartens- und Hilfeklausel) getan. Die Bereitstellung einer differenzierten gesetzlich-textlichen Programmatik darüber, wie der Strafrichter fachlich effektiv etwa eine Gefährlichkeitsprognose durchzuführen oder wirksame Interventionen auszumachen hat, fehlt bis heute. Die Folge ist eine Fülle überwiegend auf der juristisch-hermeneutischen Ebene verbleibender Kasuistik in Rechtsprechung und Literatur.17 Zu beklagen ist deshalb das Fehlen eines methodisch angeleiteten Transfers wirklichkeitswissenschaftlicher Erfahrung vor allem der Psychiatrie und Kriminologie in die Strafrechtspraxis und deren bisherige Abschottung in einem traditionellen Verständnis der unabhängigen Rechtsprechung als Rechtskontrolle im Unterschied zu einer – dem Gefahrenabwehrgedanken eigentlich näher liegenden – aktiven und gestaltenden Rechtsanwendung. Es macht für die Einhegung von Rückfallfaktoren aber etwas aus, ob ein Richter oder Staatsanwalt aufgrund suchtmedizinischer und psychiatrischer Grundkenntnisse fachlich in der Lage ist, einen Wohnungseinbruchsdiebstahl bereits bei früher Delinquenz präzise als betäubungsmittelsuchtspezifisches Beschaffungsdelikt von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung zu unterscheiden oder häusliche Gewalt auf dem Boden einer Alkoholsucht zu identifizieren. Genauso bedeutsam ist es, beide kriminogene Faktoren mit empirisch belegt wirksamen Interventionen konsequent zu beeinflussen – etwa durch Anordnung ambulanter oder stationärer Therapie, Abstinenzkontrolle mittels Langzeithaaranalyse und gegebenenfalls sogar elektronischer Aufenthaltsüberwachung, Tagesstrukturierung mit gleichzeitiger psycho-sozialer Begleitung18 oder gar kombinierter kontinuierlicher transdermaler Alkoholüberwachung.19 16

Vgl. z. B. § 68b StGB. Vgl. nur Michael Bock, Das Elend der klinischen Kriminalprognose, in: StV 2007, S. 269 ff. (273); Denis Köhler, Vorwort und Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Neue Entwicklungen in der forensischen Diagnostik in Psychologie, Psychiatrie und sozialer Arbeit, 2010, S. 11. 18 Vgl. zu einem aktuellen Überblick über elektronische Unterstützung von Weisungen Helmut Fünfsinn, Die elektronische Fußfessel in Hessen – Sicherheitsmaßnahme oder päd17

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Das bedeutet allerdings einen gehörigen Schritt aus dem Haus der Jurisprudenz in das Zuhause von Nachbarwissenschaften. Notwendig ist die Auswertung und das Verstehen umfangreichster empirischer kriminologischer, soziologischer und psychiatrischer Forschung. Qualitativ hochwertig und unabhängig gewonnene erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse über die Ursachen strafbaren Verhaltens und deren Beeinflussung auf der einen und deren systematische Auswertung und Transformation in die Praxis auf der anderen Seite sind als wesentliche Qualitätsmerkmale eines dem Sicherheitsgewährleistungsauftrag verpflichteten Gemeinwesens zu betrachten. Derartiges empirisch gesichertes Wissen über die Vorhersage von Straftaten20 und wirksame Methoden zur Rückfallvermeidung liegt inzwischen vor – überwiegend stammt es aber aus der angloamerikanischen Wissenschaft und ist unzureichend aufgearbeitet.21 Darin, in der Komplexität der Forschung, der als lästig empfundenen Unverbindlichkeit22 ihrer Ergebnisse und einer unkomfortablen Integration und Präsentation der Erkenntnisse der Wirkungsforschung dürften die Hauptprobleme der unzureichenden Evidenzvermittlung an Gesetz und Praxis zu erblicken sein. Das in der Kriminologie verfügbare Wissen wird allgemein für notorisch unzulänglich gehalten.23 Eingeschränkte Forschungsressourcen oder auch fehlende Sensibilität oder Engagement in der Kriminologie werden ergänzend dafür verantwortlich geagogisches Hilfsmittel, in: Henning Ernst Müller/Günther M. Sander/Helena Válková (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Eisenberg, 2009, S. 692 – 704. 19 Vgl. zu dieser noch entfernten „Zukunftsmusik“ in der deutschen Prävention, die auf der Messbarkeit der geringfügigen Transpiration des Alkohols durch die Haut mittels eines am Fußgelenk getragenen Messgerätes mit Sender beruht, den Überblick über vorläufige Erkenntnisse aus dem U.S.-amerikanischen Strafvollzug bei Benjamin Beck, Elektronische Fußfessel – Fluch oder Segen der Kriminalpolitik, in: Schriftenreihe der Stiftung der Hessischen Rechtsanwaltschaft (Hrsg.), Elektronische Fußfessel – Fluch oder Segen der Kriminalpolitik, S. 65 ff. (80 ff.). 20 Vgl. die hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit zur Umsetzung empirischer Erkenntnisse in der forensisch-psychiatrischen Praxis anerkannten Prognosemanuale wie LSI-R (Donald Andrews und James Bonta, in der deutschen Fassung von Klaus-Peter Dahle/Franziska Harwardt/Vera Schneider-Njepel, Inventar zur Einschätzung des Rückfallrisikos und des Betreuungs- und Behandlungsbedarfs von Straftätern. Deutsche Version des Level of Service-Inventory-Revised, 2012), HCR-20 (Webster und Hart) oder PCL-R (Hare) zur Bestimmung des Grades von ausgeprägter Dissozialität. 21 Vgl. nur die metastudienbasierten Arbeiten von Donald Andrews und James Bonta, The Psychology of Crimininal Conduct, fifth edition, 2010, denen auch im europäischen Raum ein hohes Maß an Evidenz zugeschrieben wird, vgl. dazu z. B. Joachim Behnke/Johann Endres, Behandlung im Strafvollzug, in: Volker Dittmann/Jörg-Martin Jehle (Hrsg.), Kriminologie zwischen Grundlagenwissenschaften und Praxis, 2003, S. 107 ff. (109). 22 Vgl. die Schwierigkeiten bei der Herstellung universeller Annahmen Helmut Thome, Überlegungen zum Allgemeinheitsgrad und der Überprüfbarkeit (kriminal-)soziologischer Theorien, in: MschrKrim 2011, S. 383 ff. (398). 23 Rainer Wolf, Die Risiken des Risikorechts, in: Alfons Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement Form, Funktion und Leistungsfähigkeit des Rechts in der Risikogesellschaft, 1999, S. 80. Vgl. zu einem kritischen Überblick Ulrich Eisenberg, Kriminologie, 5. Aufl., 2006, § 21 Rn. 14 ff.

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macht.24 Der Richter – der kraft Gesetzlichkeitsprinzip und richterlicher Unabhängigkeit nur dem Gesetz und seiner daraus abgeleiteten eigenen Organisationsleistung verpflichtet ist – geht bei den evidenzarmen Prämissen des Strafrechtes schnell „leer aus“. Im Anwendungsbereich der §§ 56, 56c, 59 StGB ist deshalb ein Befund zu erwägen, der im Verwaltungsrecht – insbesondere bei der strukturell mit der Spezialprävention des Strafrechtes verwandten Gefahrenabwehr und sonstigen Risikokontexten – seit längerer Zeit diskutiert wird: Der Steuerungsschwäche des Rechtes mit dem Desiderat einer methodischen Neuausrichtung im Sinne eines wirkungsorientierten Steuerungsansatzes – weg von einer normtextorientierten Interpretation hin zu einer problemlösungsorientierten Handlungs- und Entscheidungsherstellung in der Hand des Entscheidungsträgers.25 Das weitere Nachdenken über eine Pflicht des Richters zu verbesserter Methode und des Gesetzgebers zu zeitgemäßer Reform strafrichterlicher Prävention soll unter Verzicht auf weitere Vertiefung in diesem Beitrag dennoch Ermunterung erfahren. Dazu und zur Frage des Gelingens von Ersatzwegen im Gesetzesstaat soll der versprochene rechtshistorische Blick auf die rechtliche und tatsächliche Organisation spezialpräventiver Aspekte in der DDR seinen Beitrag leisten. Als Zwischenbefund ist festzuhalten: In der Bundesrepublik macht die programmatische Schwäche des Gesetzes den Richter zum „Ersatzgesetzgeber“ mit der Folge, dass der Evidenzbezug wirksamer Spezialprävention bei ihm personalisiert ist. Empirische Prämissen einer freien Wissenschaft sind umfänglich und international vorhanden, grundsätzlich erreichbar, aber schlecht präsentiert. V. Strafzwecke, strukturelle Bedingungen und Evidenzbezug von Spezialprävention in der DDR Die für den Verfassungsstaat der Bundesrepublik auf breiter Ebene diskutierte Grenze der Steuerungsleistung des formellen Rechtes ist als rechtssoziologischer Betrachtungsrahmen auf die DDR trotz der dortigen untergeordneten Bedeutung des Gesetzes mit Einschränkungen übertragbar. Denn das förmliche Gesetz wurde als 24 Dieter Rössner, Evidenzbasierte Kriminalprävention als Grundlage zweckrationaler Legitimation der Strafe, in: René Bloy/Martin/Thomas Hillenkamp u. a. (Hrsg.), Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht. Festschrift für Manfred Maiwald, 2010, S. 701. 25 Wolfgang Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: Wolfgang HoffmannRiem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, S. 677 ff. (707); Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, S. 1 ff. (21), die ihre inhaltlichorganisatorischen Überlegungen unter dem Begriff „Neue Verwaltungsrechtslehre“ bündeln. Roman Herzog, Staat und Recht im Wandel, 1994, S. 207, fordert, neben dem Gesetz nach einer zweiten Legalitätsquelle Ausschau zu halten, die dem Defizit „rasch und unbürokratisch“ abhelfe.

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zentrales und primäres Artikulations-, Steuerungs- und Organisationsinstrument genutzt, ohne aber im Unterschied zu dem in Art. 20 GG verankerten Prinzip von Gesetzlichkeit und Gewaltenteilung zur Suspendierung anderer Steuerungsmechanismen nach dem Vorbild des kontinentaleuropäischen Rechtsstaates26 Bedeutung zu besitzen. In der Rechtswirklichkeit der DDR – deren Verfassungstext im Buchhandel nicht erhältlich gewesen ist27 – war entweder eine gesetzesbezogene Steuerungsschwäche als wesentlicher Bestandteil des Rechts zur Ermöglichung anderer Steuerungsmechanismen fest eingebaut oder aber der SED-Staat steuerte gleich mit klaren gesetzlichen Prämissen den Vollzug seines Willens. In der DDR existierte – trotz ihrer Ausrufung zum „wahren deutschen Rechtsstaat“ in der Präambel des StGBDDR von 196128 – eine Gewaltenteilung weder verfassungstextlich noch verfassungswirklich. Spätestens seit Walter Ulbricht zusammen mit handverlesenen Staatsfunktionären rund 200 Vertretern aller juristischen Fakultäten der DDR 1958 auf der sog. „Babelsberger Konferenz“ nach einem auch unter Juristen aufgekommenem Reformhunger die Leviten las, hatte „das Recht den Staat nicht zu überwachen, sondern ihm als Instrument und Waffe der Partei zu dienen.“ (Walter Ulbricht).29 Die sich anschließende devote Selbstkritik und autonome Selbstbeschränkung der Wissenschaft entsprach den Erwartungen.30 Die politische Führung der DDR – in erster Linie das Zentralkomitee – konnte aufgrund der Machtverhältnisse Gesetze nach jeweiligem Zielkalkül erlassen, hat davon auch intensiv Gebrauch gemacht und durfte sich selbst bei textlich-programmatischen Schwächen der Befolgung außergesetzlicher Steuerung sicher sein. Nur auf den allerersten Blick erscheinen die Bestimmungen des StGB-DDR zur spezialpräventiven Beeinflussung Straffälliger mit den bundesdeutschen Bestimmungen konform. So sah § 45 Abs. 1 StGB-DDR einerseits eine Aussetzung einer zeitigen Freiheitsstrafe unter Berücksichtigung der Umstände der Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten sowie seiner positiven Entwicklung vor. Zur Erhöhung der erzieherischen Wirkung der Strafaussetzung konnte das Gericht verschiedene Weisungen anordnen, darunter die Beibehaltung eines innegehabten Arbeitsplatzes, Schadenswiedergutmachung, Berücksichtigung von Unterhaltspflichten, das Unterlassen des Kontakts zu deliktfördernden Personen oder Orten oder Gegenständen, ge-

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Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, S. 351. Vgl. zum Publikationswesen juristischer Literatur in der DDR Michael Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit, 2009, S. 63 ff. 28 Diese Bezeichnung wurde in späteren Fassungen vermutlich wegen offenkundiger Parallelen zur Diktion der Nazi-Diktatur nicht mehr verwandt. 29 Inga Markovitz, Die Rechtswissenschaft der Anderen. Zu Michael Stolleis’ Sozialistische Gesetzlichkeit, in: NJ 2010, S. 371 ff. (372), zur Babelsberger Konferenz als angenommenem Schlüsselereignis und Beginn der „Niedergangsjurisprudenz“ der DDR. 30 Christian Rode, Kriminologie in der DDR, 1996, S. 288 f., zu den gesellschaftlichen und individuellen Hintergründen einer engen und abhängigen Verzahnung zwischen Wissenschaft und Politik. 27

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meinnützige Arbeit und auch die Unterziehung einer fachärztlichen Behandlung zur Straftatverhütung. Anderseits erlaubte § 45 StGB-DDR ein Maß an sozialer Kontrolle, das den Hinweis auf einen weit über die Beseitigung von individuellen Kriminalitätsfaktoren hinausgehenden Zweck von Spezialprävention offen legt: Die vollständige Kontrolle und Bekanntmachung31 des als gesellschaftlich-politisch devianten Straffälligen durch ein enges Geflecht maximaler sozialer Kontrolle.32 Dazu gehörte das Informationssystem über die soziale und kriminelle Gefährdung im örtlichen Bereich,33 die vom Rat der Stadt über die Betriebe,34 Wohnungsgesellschaften, Polizei bis zu den politischen Organisationen35 mittels „Rückkoppelungsinformationen aus dem territorialen Teilsystem“36 koordiniert waren.37 Eine strafgerichtliche Sanktion löste dabei regelmäßig das Tätigwerden einer komplexen Struktur von staatlichen und gesellschaftlichen Stellen aus.38 Dieser system-ideologisch hypertrophierte Präventionszweck der Strafe gelangte bereits gesetzlich in der Präambel zum StGB-DDR und § 1 StGB-DDR zum Ausdruck: Ziel war die Reduzierung einer dem Beweis des Funktionierens des sozialistischen Systems abträglichen Existenz von Kriminalität um jeden Preis.39

31 Heinz Blüthner, Die soziale und kriminelle Gefährdung sowie die darin eingeschlossenen asozialen Verhaltensweisen und ihre Überwindung im Prozeß der Kriminalitätsbekämpfung und -vorbeugung 1970, S. 161. 32 Die neben der mit hoher gesetzlicher Programmierung im StGB-DDR offen betriebenen Kontrolle auch mit den aus sämtlichen Bereichen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens bekannten Formen informeller Überwachung und enger Verzahnung der staatlichen Organe verwirklicht wurde. Vgl. auch Zeitzeugenbericht von Marlis Hübner, von 1980 bis 1989 Assistentin für Strafrecht u. a. an der Humboldt-Universität Berlin in Gilbert Furian, Der Richter und sein Lenker, 1992, S. 75: „Größte Bedenken hegte ich gegen die so genannten Maßnahmen zur Wiedereingliederung (nach §§ 47, 48 StGB), die die Strafentlassenen einer ständigen Kontrolle und Bevormundung aussetzten (…).“ 33 Blüthner (Anm. 31), S. 151 ff. 34 Mit der Pflicht zur regelmäßigen „Aussprache vor einem verantwortlichen Gremium“, vgl. Blüthner (Anm. 31), S. 176. 35 Z.B. „FDGB“, „Aktiv für Sicherheit und Ordnung“, „Nationale Front“, „FDJ“, vgl. Blüthner (Anm. 31), S. 155. 36 Blüthner (Anm. 31), S. 157, 188 f. 37 Vgl. Art. 3 StGB, § 46 StGB-DDR: Pflichten der staatlichen Organe, Betriebe und gesellschaftlichen Organisationen bei der Wiedereingliederung; § 18 StPO-DDR: Zusammenarbeit mit anderen Staatsorganen, Ausschüssen der nationalen Front und gesellschaftlichen Organisationen. 38 Vgl. nur die Modelle und Diagramme bei Blüthner (Anm. 31), S. 206, sowie Ministerium des Inneren (Hrsg.), Die Wiedereingliederung Strafentlassener in das gesellschaftliche Leben und die Erziehung kriminell gefährdeter Bürger, 1970, S. 123, 125. 39 Vgl. Heinz Blüthner/Gerhard Feix/Gerhard Paersch, Wesen und Ursachen der Kriminalität und das Wesen der Kriminalitätsvorbeugung sowie der Wiedereingliederung Strafentlassener und die Erziehung kriminell gefährdeter Bürger, 1975, S. 5: „Seit dem Bestehen unseres sozialistischen Staates ist die Kriminalität auf ein Viertel reduziert worden.“

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Nach § 45 Abs. 1 StGB-DDR durfte die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung auch von der Berücksichtigung „insbesondere seiner Disziplin und Arbeitsleistung“ abhängig gemacht werden und konnte damit gleichzeitig als Mittel zur Repression nicht ideologiekonformer Bürger eingesetzt werden. Dazu konnte – dogmatisch regelmäßig als Wiedergutmachung des der sozialistischen Gemeinschaft durch die Tat angetanen Schadens eingeordnet – gemäß §§ 45 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. 34 StGBDDR die Verpflichtung zur „Bewährung am Arbeitsplatz“ durch „Einwirkung des Kollektivs zu einer verantwortungsbewussten Einstellung und Erziehung zur sozialistischen Arbeit40 und seinen anderen Pflichten41“ angeordnet werden. Diese Ausprägung von Spezialprävention durch eine unspezifische und unabhängig vom individuellen kriminogenen Faktor ansetzende soziale Kontrolle fand ihre Grundlage in einem universaltheoretischen Verständnis des Wesens von Kriminalität in der sozialistischen Kriminologie.42 Eine solche von einer internationalen Forschung bewusst abgekoppelte kriminologische Deutung diente der beständigen Systemerläuterung.43 Sie erblickte in drei zeitlich einander folgenden Formulierungen mit gleicher Grundannahme44 die Ursache von Kriminalität als „Widerspiegelung“ gesellschaftlicher Probleme auf der Basis des dialektischen und historischen Materialismus im Sinne Engels45 sowie marxistisch-leninistischer Philosophien.46 Die Existenz von materialistisch-ökonomischem Denken und privatem Eigentum insbesondere an Produktionsmitteln erklärte mit den hieraus folgenden antagonistischen Verhältnissen zwischen den Klassen, den Individuen, der Gesellschaft sowie den

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In der DDR bestand nach Art. 24 der Verfassung DDR nicht nur ein Recht auf Vollbeschäftigung, sondern gleichzeitig eine Pflicht, deren Vernachlässigung vielfältige Konsequenzen auslöste, vgl. auch § 3 Abs. 1 der VO vom 15. 8. 1968, der konkrete Maßnahmen zur Erziehung arbeitsscheuer Bürger festlegte. 41 Was diese „anderen Pflichten“ sind, sagt nicht einmal der Kommentar des Ministeriums der Justiz (Hrsg.) in der 5. Aufl., 1987. 42 Vgl. zu den in der DDR herrschenden Kriminalitätsursachentheorien u. a. zu individuellen und mikrosozialen Erklärungsansätzen Sven Korzilius, Asoziale und Parasiten im Recht der SBZ/DDR, 2005, S. 478 ff. 43 Vgl. zu dem bis in die 80er Jahre überdauernden Versuch, selbst zwingend sich aufdrängende gesellschaftliche und individuelle Kriminalitätsphänomene in einem ideologischen Modell zu qualifizieren, Rode (Anm. 30), S. 115 ff. 44 Klassenkampftheorie, Rudimentetheorie und Widerspruchsansatz, vgl. zu einem Überblick und der Entwicklung von Kriminalitätstheorien in der DDR: Rode (Anm. 30), S. 25 ff. 45 Rode (Anm. 30), S. 281; vgl. im Übrigen: Blüthner (Anm. 31), S. 39. Danach sei der soziale, politische und geistige Lebensprozess der Menschheit durch ihre Produktionsweise bestimmt. Kriminalität sei danach nicht nur individuell, sondern historisch-konkret durch eine bestimmte Gesellschaftsform determiniert, bei der eine am Individuum ansetzende bürgerlichkapitalistische „Resozialisierung“ gegenüber einer Überwindung der kapitalistischen Überreste nicht wirksam sein könne. 46 Gerhard Schmelz, Sozialistische Kriminalistik und Kriminologie in der DDR, Bd. I, 2010, S. 38, 40; vgl. Blüthner (Anm. 31), S. 17.

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Menschen untereinander deviantes Verhalten.47 Kriminelle Gefährdung wurde in der ursprünglichen „Klassenkampftheorie“ bis ca. 196248 als eine gesellschaftliche und nicht individuelle Erscheinung beschrieben49, „westliche Einflüsse“ wurden mit einem Prozentsatz von 28,5 % als gesellschaftsbezogener kriminogener Faktor Nummer 1 angenommen.50 Westliche Forschungsliteratur galt als grundsätzlich unzulässige wissenschaftliche Quelle51 mit der in der Kriminologie der DDR herrschenden Maßgabe, die dem Imperialismus geschuldeten „bürgerlichen“ Kriminalitätstheorien als unwissenschaftlich52, überflüssig53 und den Straffälligen gezielt isolierend54 oder aber als „Äußerungen des Mitleids oder caritative Aktionen“55 zu entlarven und zu bekämpfen. Verbliebene Kriminalitätsphänomene56 in der DDR wurden seit 1962 bis in die 1980er Jahre als unmittelbar ursächliche „Rudimente der Ausbeuterordnungen“57 einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft58 und „Muttermale oder Nachwehen der alten Gesellschaft“59 betrachtet, die sich insbesondere auf die charakterlich noch nicht ausreichend im Sinne des Kampfes der Arbeiterklasse um die Erreichung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft gefestigten Jugendlichen der DDR auswirkten.60 Als Mittel zur Bekämpfung einer auf diese Weise monokausal andere Ursachen im Wesentlichen ausblendenden Jugendkriminalität wurde die Verbesserung der politisch-weltanschaulichen Bildung,61 die Ent47 Gerhard Schüßler, in: Gerhard Schüßler/Heinrich Scheel (Hrsg.), Kriminalitätsursachen und Probleme der Kriminalitätsforschung in der DDR. Materialien des Arbeitskreises „Kriminalitätsbekämpfung“ im Rat für staats- und rechtswissenschaftliche Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1976; Schmelz (Anm. 46), Bd. I, S. 42. 48 Rode (Anm. 30), S. 38. 49 So ausdrücklich Blüthner/Feix/Paersch (Anm. 39), S. 67. 50 Rode (Anm. 30), S. 149. Unter den individuellen kriminogenen Faktoren entfielen gar 55 % auf „rudimentäre Denk- und Verhaltensweisen“, vgl. Rode (Anm. 30), S. 143. 51 Rode (Anm. 30), S. 203. 52 Rode (Anm. 30), S. 203 f. 53 Siehe Blüthner (Anm. 31), S. 33 ff.: „Da ja die herrschenden kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse täglich aufs Neue die gleiche Erscheinung produzieren.“ 54 Blüthner (Anm. 31), S. 38. 55 Blüthner (Anm. 31), S. 33, der als Kronzeugen einer Tätertypologie bürgerlicher Kriminologie des Westens gar den Nationalsozialisten Josef Göbbels zu Wort kommen lässt (S. 35). 56 Selbst Alkoholismus, vgl. Blüthner (Anm. 31), S. 83, 92, unter (einziger) Berufung auf einen sowjetischen Kriminologen namens A. B. Sacharow, der sich mit den Ursachen des Alkoholismus in der UdSSR befasst habe. 57 Blüthner (Anm. 31), S. 15, 83, unter Bezug auf Ausführungen Lenins in „Staat und Revolution“, Werke, Bd. 25, S. 478, ausführlich S. 92: „historische Wurzel in den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen“ und „Produkt der Verrohung und Demoralisierung der ausgebeuteten Massen“ (ders., S. 99); Blüthner/Feix/Paersch (Anm. 39), S. 16. 58 Blüthner (Anm. 31), S. 9; Blüthner/Feix/Paersch (Anm. 39), S. 7. 59 Korzilius (Anm. 42), S. 479. 60 Blüthner (Anm. 31), S. 16. 61 Blüthner (Anm. 31), S. 93; Blüthner/Feix/Paersch (Anm. 39), S. 40 f.

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wicklung eines sozialistischen Arbeitsethos und bewusst sozialistischen Verhältnisses zu den Mitmenschen gesehen62 – unter Verbesserung der Abschottung von Einflüssen kapitalistischer Gesellschaftsordnungen. Die abschließende Formel zur vollkommenen Beseitigung krimineller Gefährdung durch Systemaustausch lautete regelmäßig im Sinne einer Art gesellschaftlicher Generalresozialisierung:63 „Die Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in Form allseitig gebildeter und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten in der sozialistischen Menschengemeinschaft schließt damit die Beseitigung aller Gefährdungserscheinungen in sich ein“.64 Aus diesen „kriminologischen“ Grundannahmen ließen sich sämtliche gewünschten Implikationen ableiten: „Negative Gruppenbeziehungen“, tätertypologische und in einen Ätiologiekontext gestellte Attribute wie „arbeitsscheu“65 oder „asozial“66 sowie „parasitäre Lebensweise“, die ihre ideologische Herkunft regelmäßig der Darstellung einer fehlenden gereiften gesellschaftskonformen sozialistischen Einstellung verdankten.67 Solche Eigenschaften wurden als Missachtung und „Negierung der Klassenehre der in der DDR hervorragende Produktionstaten vollbringenden Arbeiterklasse“68 zum Beispiel nach § 249 Abs. 1 StGB-DDR (Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch asoziales Verhalten),69 § 214 Abs. 1 (Aufforderung zur Missachtung der Gesetze), § 215 (Rowdytum) oder § 217 (Zusammenrottung) strafbares Verhalten. Aber auch jenseits einer besonderen gesetzli62 Institut für Strafrecht der Humboldt-Universität zu Berlin, Jugendkriminalität und ihre Bekämpfung in der sozialistischen Gesellschaft, 1965, S. 30; vgl. auch Schmelz (Anm. 46), Bd. I, S. 45. 63 Vgl. auch Blüthner/Feix/Paersch (Anm. 39), S. 9. 64 Blüthner (Anm. 31), S. 18 (Anm.: Im Originaltext ist diese Stelle unterstrichen). Der nicht näher quantifizierte Zeitpunkt des Eintritts einer „Überwindungsreife“ wurde an der Entwicklung der Produktionsverhältnisse, der politischen Organisation der Werktätigen und ihres Bewusstseins festgemacht (Blüthner [Anm. 31], S. 108). 65 Wobei eine Umkehrung von Ursache und Wirkung vorprogrammiert ist: Mögliches täterindividuelles eingeschränktes Durchhaltevermögen wird über die ideologische Aufladung des ultimativen Wertes „sozialistischer Arbeit“ kriminalisiert, vgl. so Blüthner (Anm. 31), S. 67, der vor dem geschilderten Maßstab von einer Gefährdung durch „Gelegenheitsarbeiter“ ausgeht. 66 Darunter wurde eine auf dauerhafte Ablehnung von geregelter Arbeit, mitmenschlicher Bindungen und Perspektiven gerichtete Denkweise verstanden, die meist in der kapitalistischen Ordnung ihre Wurzeln habe und als höchste Form der sozialen und kriminellen Gefährdung zu gelten habe, vgl. Blüthner (Anm. 31), S. 77 (79, 81). 67 Diese wurde auch – mit durchaus begrifflichem Überredungswert – kriminalitätsätiologisch als „geringes Kulturniveau“ deklariert, wobei unter Kulturniveau die Gesamtheit der materiellen, geistigen und überlieferungswerten Güter und Werte gemeint waren, die Zeugnis von der Leistung der sozialistischen Gesellschaft ablegten, vgl. dazu Erich Buchholz et. al., Sozialistische Kriminologie, 1971, S. 210, 214; Schmelz (Anm. 46), Bd. I, S. 44. 68 Blüthner (Anm. 31), S. 72. 69 Die Bestimmung sah ausschließlich „Bewährungsstrafe, Haftstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren“ vor.

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chen Kodifikation wurde bereits auf der Ebene der Steuerung empirisch-kriminologischer Grundannahmen die Möglichkeit eines sog. Feindstrafrechtes mit der Möglichkeit einer rigiden Behandlung auf Rechtsfolgenseite installiert – das nicht einmal vor Fahrlässigkeitstaten halt machte.70 Mit einer solchen Deutung sozialschädlichen Verhaltens ließ sich über die vielfältig in zentralen Strafbarkeits- und Rechtsfolgenbestimmungen enthaltenen extrem weiten unbestimmten Rechtsbegriffe effektiv eine Verschleierung des Phänomens Kriminalität, der ihm zugrunde liegenden gesellschaftlichen Ursachen mit dem zusätzlichen Nutzen einer für die Gesellschaft identitätsstiftenden Ausgrenzung vorgeblich politisch unzuverlässiger Bürger zum Machterhalt des Systems betreiben.71 Über die Infusionsstelle unbestimmter Rechtsbegriffe geriet solchermaßen eine empirisch-kriminologisch verbrämte Staatsideologie wirksam steuernd in den Richterspruch – ohne den eigentlichen kriminogenen Faktor überhaupt auch nur untersucht oder bewertet zu haben.72 Politische Unzuverlässigkeit erlaubte mit geringen Voraussetzungen strafrechtliche Behandlung. Die ideologische Überhöhung der Erklärung von Kriminalität und der Durchführung der Strafrechtspflege konnte dabei kaum übertroffen werden. Sie wurde als „fester Bestandteil der gesamtgesellschaftlichen Leitung bei der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus unter Einbettung in die weltweite Klassenauseinandersetzung mit dem imperialistischen Herrschaftssystem als einem nicht unwesentlichen Kriterium für die Überlegenheit des sozialistischen Systems“73 etikettiert. Es finden sich aber auch in der strafrechtlichen und kriminologischen Literatur der DDR durchaus unter Prognose- und Wirksamkeitsbetrachtungen brauchbare Ansätze für Interventionserwägungen zur Wiedereingliederung.74 Sie waren indes bis zur Wende niemals vollständig und strukturell abgelöst von der Engführung ideologisch durchfärbter Kriminalitätstheorien und Maximierung sozialer Kontrolle, sondern meist einzelfallbezogene, intuitiv-lebensnahe und dem Verfahrensbetroffenen individuell moralisch zugewandte Befassungen durch den jeweiligen Strafrichter. 70 Vgl. aus der Zeit der Geltung der sog. Klassenkampftheorie Leschkas, NJ 1952, S. 351: „Ist das Verbrechen ein Stück Klassenkampf, so ist dies nicht weniger die vom Verbrechen ausgelöste Gegenwirkung, nämlich die staatliche Verbrechensbekämpfung und deren wichtigstes Moment: die Strafe.“ (…) „Auch die Fahrlässigkeit offenbart eine feindliche Einstellung gegenüber unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung und den Interessen des werktätigen Volkes und seiner Verbündeten.“ (S. 355) (…) „Ein Jurist, der sich scheut, dem fahrlässig handelnden Täter ins Gesicht zu sagen, dass er durch sein Verhalten ein bestimmtes Maß an feindlicher Einstellung bewiesen hat, hat den Klassencharakter des Verbrechens nicht begriffen und wird seine Funktion nur mangelhaft erfüllen“ (S. 356). 71 Zu den weiteren Mitteln einer Instrumentalisierung des Strafrechts für den Machterhalt und Disziplinierung von Bürgern und Staatsbediensteten vgl. Andrea Herz, Nicht – Im Namen des Volkes, Politisches Strafrecht in der DDR 1949 – 1961, 2008, S. 13. 72 Vgl. zu dem allgemeinen Befund einer fehlenden Reflektion der Divergenz zwischen konkreten Befunden und sozialistischen Theorien Rode (Anm. 30), S. 283 f. 73 Blüthner (Anm. 31), S. 20, 125. 74 Vgl. selbst bei Blüthner/Feix/Paersch (Anm. 39), S. 60 ff.

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Nach heutigem Verständnis ausmachbare objektive Wirksamkeitsbezüge, beispielsweise im Kontext multimodal eingesetzter sozialer Kontrolle, waren stets dem unbedingten Glauben der Möglichkeiten einer Erziehung durch Kollektivierung verhaftet und ausgerichtet auf Disziplinierung und soziale Kontrolle im Sinne einer Nützlichkeit als sozialistischer Volksgenosse.75 Für das Recht der DDR gilt damit als hinzuzufügender weiterer Zwischenbefund: Die Verwendung von Generalklauseln personalisierte die Entscheidung über die Herstellung von objektiv-empirischen Wirksamkeitsbezügen auch in der DDR ebenfalls in der Institution Richter. Allerdings waren empirische Prämissen für ihn kaum erreichbar, durch ideologische ersetzt und diese wiederum unterhalb der Gesetzesebene staatlich-organisatorisch durch unterschiedliche Steuerungen abgesichert. Die näheren Hintergründe verdienen weitere Beleuchtung. VI. Die strukturellen Determinanten von Rechtsstaatlichkeit und Wirksamkeit Selbst das Gebiet der Straftatenprävention erscheint im Rechtsvergleich klar durch die unterschiedliche strukturelle Ausrichtung des Staatswesens in den Kategorien Demokratischer Rechtsstaat und Diktatur ausgerichtet. Neben den Prinzipien der Gesetzesbindung und Gewaltenteilung scheint der für den Inhalt und die Verwirklichung wirksamer Interventionen maßgebliche Transfer empirischen Wissens über die Vorhersage und Beeinflussung durch Bedingungen bestimmt, denen die praktische Tätigkeit von Wissenschaft und Richtern unterliegen. 1. Qualität empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse und Freiheit von Forschung und Lehre in der DDR Vor dem Hintergrund des beständigen Kräftefeldes „Wissenschaft und Macht“76 galt für die kriminologische Wissenschaft in der DDR: Sie erfolgte jenseits einer Freiheit von Forschung und Lehre, mit gesteuerter ideologischer Einfärbung empirischer Erfahrungen und ohne sichtbare Methode. Erkenntnisse zur Kriminalitätsentstehung waren Folge staatlich verordneten Sollens und nicht empirischen Seins. Empirische Befunde wurden zwar erhoben, blieben als Forschungsergebnisse jedoch in der Regel Verschlusssache und spielten eine völlig untergeordnete Rolle im fachlichen Diskurs.77 Im Vordergrund stand vielmehr die einem Denkverbot für die Wissenschaft gleichkommende bedingungslose theoretische Deduktion aus der Staats75 Vgl. zu insgesamt fehlenden Zweifeln gegenüber einer Intensivierung der Sozialkontrolle Rode (Anm. 30), S. 285. 76 Vgl. dazu bezogen auf Kriminalpolitik Hans-Jürgen Kerner, Wissenschaftstransfer in der Kriminalpolitik, in: Heinz Schöch/Jörg-Martin Jehle (Hrsg.), Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit, 2004, S. 523 – 551. 77 Rode (Anm. 30), S. 120.

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doktrin78 und eine ideologische, nicht evidenzbasierte Konstruktion der Wirklichkeit, bei der Kritischem oder Lästigem die thematische Existenz durch Anordnung institutionalisierten Schweigens entzogen wurde. Genauso wie es wegen der fehlenden Justiziabilität des Staats- und Verwaltungshandeln dieses Rechtsgebiet nicht gab, existierte das empirisch belegbare Wesen von Kriminalität nur als ideologisch gezielt abgeformtes Konstrukt. Als Fall staatlicher Deutung von Kriminalität79 wurde der Wirklichkeitsbereich ihrer Ursachen zur Begründung politisch-strategischer Ziele bei dem Einsatz des Strafrechtes als Machtfaktor verfügbar gemacht.80 Der Marxismus-Leninismus als Staatsdoktrin wirkte sich als Evidenzersatz – trotz zaghafter Formulierung von Zurückhaltungen seit 198381 – inhaltsbestimmend wie in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen aus. Diese ideologische Konstruktion wurde organisatorisch in vielfältiger Weise im Wissenschaftsbetrieb abgesichert. Die wissenschaftliche Abstimmung in allen Fakultäten koordinierten die „Sektionen für Marxismus-Leninismus“, die es an allen Hochschulen der DDR gab.82 Zudem formulierten der Rat für staats- und rechtswissenschaftliche Forschung bei der Akademie der Wissenschaften und der Beirat für Kriminalitätsbekämpfung verbindliche Leitlinien (Zentraler Forschungsplan) für Forschungsinhalte und deren Geheimhaltung.83 Die Akzeptanz der kriminologischen Wissenschaft gegenüber den politischen Erwartungen folgte analog der richterlichen Einbindung und Steuerung der engen institutionellen Verbindung der Akteure der Hochschulen mit der Staats- und Parteimacht.84 Wissenschaftliche Kriminologie konnte in der DDR nur von hauptamtlichen Wissenschaftlern nach einem einheitlichen Plan und unter Verwendung einheitlicher Methoden unter Aufsicht zuverlässiger Hochschullehrer85 betrieben werden, wodurch die ideologisch-staatlichen Einflussmöglichkeiten als nahezu unbegrenzt zu bewerten sind.86 Strafrechtswissenschaften waren demnach Bedarfswissenschaften zur Lieferung erwünschter Empirie für den Machterhalt der staatssozialistischen Parteidiktatur. Ihre Leistungskraft und Bereitschaft zu Kritik wurde zudem vollständig absorbiert – von der beständigen 78 So auch Rode (Anm. 30), S. 120, mit einem Zitat aus der Rede Ulbrichts auf der Babelsberg-Konferenz 1958: „(…) die Parteitagsbeschlüsse sind als Ausgangs- und Endpunkt rechtswissenschaftlichen Nachdenkens zu nehmen und als Kriterium für die Wissenschaftlichkeit allein ihr Nutzen bei der Verwirklichung von Parteitagsbeschlüssen anzusehen.“ 79 Zu sog. Etikettierungsansätzen im Sinne gesellschaftlicher sozialer Festlegungen vgl. umfassend Hans Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, S. 158 ff. 80 So auch Schmelz (Anm. 46), Bd. I, S. 38. 81 Vgl. Rode (Anm. 30), S. 118 ff., zu dem neuen Kriminologie-Lehrbuch von Leschkas/ Haarland/Hartmann/Lehmann und der Befassung mit sozialer Wirklichkeit im Rahmen des sog. Widerspruchsmodells. 82 Schmelz (Anm. 46), Bd. I, S. 31. 83 Rode (Anm. 30), S. 287. 84 Rode (Anm. 30), S. 286 f. 85 Zu der Besetzung an den einzelnen Universitäten der DDR vgl. ausführlich Stolleis (Anm. 27), S. 83 ff. 86 Schmelz (Anm. 46), Bd. I, S. 38.

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Auseinandersetzung mit westlicher Kriminologie und der eigenen theoretisch-deduktiven Entwicklung und Verteidigung sozialistischer Kriminalitätstheorien zur Erklärung einer erwartungswidrigen, letztlich aber nicht zu leugnenden Kriminalität87 in den eigentlich von westlichen Einflüssen abgeschotteten sozialistischen Staaten.88 2. Präsentation von empirischem und rechtswissenschaftlichem Wissen Entsprechend ist die strafrechtswissenschaftliche Literatur der DDR – nicht nur unter heutigen Maßstäben – erschreckender Beleg ideologischer Steuerung und daraus folgender selbstreferentieller gedanklicher Armut in einem hochkomplexen Wissenschaftsbereich. Gesetzeskommentare wurden nicht von unabhängigen Wissenschaftlern, sondern von dem Justizministerium gleichsam eines erweiterten Gesetzestextes aus der Hand der Staatsführung herausgegeben.89 Jeder Satz zeichnete das staatlich vorgegebene System nach, ohne selbständig Teilbereiche zu hinterfragen.90 Dissertationen und Habilitationen – insbesondere solche zu kriminologischen Fragen – waren Verschlusssache und wurden ohnehin meist nicht gedruckt und veröffentlicht.91 Die rechtswissenschaftlichen Zeitschriften beschränkten sich im Wesentlichen auf „Neue Justiz“ und „Staat und Recht“. Letztere wurde herausgegeben von der „Deutschen Verwaltungsakademie Walter Ulbricht“92, deren Erstausgabe den Auftrag der Wissenschaft u. a. mit einer Stalinrede und Vorschlägen für ein „DDR-Staatsdienerrecht“ klar formulierte93 und sich nach der Babelsberger Konferenz ausgiebig den Möglichkeiten widmete, wie man der durch Ulbricht zugewiesenen Richtung am besten gerecht werden könnte.94 Die Notwendigkeit von wissenschaftlichem Diskurs durch Meinungsstreitigkeiten ergab sich vor diesem Hintergrund nicht und war in sämtlicher Fachliteratur unbekannt oder auf Alibis und Floskeln beschränkt.95 3. Unabhängigkeit des Richters und Ausbildung Aber selbst die Kenntnis und Bereitschaft eines anderen Zugangs zu Kriminalität und ihrer Beeinflussbarkeit hätte dem Richter in der DDR wenig genutzt. Denn eine 87

Göppinger (Anm. 79), S. 18. Rode (Anm. 30), S. 206, 282. 89 Vgl. „Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik – Kommentar zum Strafgesetzbuch“, Staatsverlag der DDR, 5. Aufl., 1987. 90 Stolleis (Anm. 27), S. 64. 91 Stolleis (Anm. 27), S. 76 ff. 92 Stolleis (Anm. 27), S. 64 f. 93 Zu den lesenswerten Einzelheiten der Erstausgabe vgl. Stolleis (Anm. 27), S. 65. 94 Stolleis (Anm. 27), S. 66. 95 Zu einem Überblick und fehlenden durchgreifenden Ansätzen zu Paradigmenwechseln Rode (Anm. 30), S. 206 ff. 88

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systematische ideologie-inopportune Evidenzbasierung seines Handelns wäre bemerkt und sanktioniert worden. Bei einem politisch relevanten Einzelfall oder sich offenbarender Hinweise auf „strukturelles Versagen“ des Richters drohten ihm existentielle Konsequenzen. Neben erzieherischen Maßnahmen – etwa einem halbjährigen Arbeitseinsatz des Richters zur körperlichen Ertüchtigung als Hilfsarbeiter bei der Errichtung eines Rinderoffenstalles96 – drohte die Entfernung aus dem Richterdienst.97 Der Strafrichter in der DDR war nicht unabhängig. Nach § 5 Abs. 1 GVG-DDR, Art. 7 StGB-DDR wurden Richter gewählt. Ergänzend zu der in § 5 Abs. 2 GVGDDR beschriebenen Unabhängigkeit der Richter und Bindung nur an Verfassung und Gesetz waren Richter ganz offen – ebenfalls qua Verfassung und Gesetz – über das u. a. in der gleichen Vorschrift des Art. 7 StGB-DDR verwirklichte Konstrukt der „regierenden Arbeiterklasse vertreten durch die sozialistischen Volksvertretungen“98 fest in Kontrolle und Repression des Systems eingebunden,99 indem „sie der Volksvertretung für die Erfüllung der mit ihrer Wahl übernommenen Verpflichtungen verantwortlich“100 waren und „der demokratischen Kontrolle der Rechtsprechung durch die Volkskammer und den Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik“101 sowie der „Leitung der Rechtsprechung allein durch das gewählte überge96 Zeitzeugenbericht von Horst Williamowski, von 1956 bis 1963 Richter an Kreis- und Bezirksgerichten, und Auszug aus dessen Beurteilung vom 21. 4. 1960 aus Anlass eines Freispruches: „(…) scheint nicht klar zu sein, dass die Arbeiterklasse das Vorwärtstreibende ist. Diese progressiven Kräfte (gemeint ist der Arbeitseinsatz) sollten W. helfen, unklare Vorstellungen zu überwinden. Über seinen Produktionseinsatz ist eine ausführliche Stellungnahme zu geben. (Gezeichnet durch den Kaderleiter der damaligen Justizverwaltungsstelle Potsdam). Über die Wirkung der Maßnahme darf spekuliert werden. Vier Jahre später war Williamowski von 1964 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ministerium für Justiz der DDR (aus: Furian [Anm. 32], S. 184 ff.). 97 Vgl. ein Beispiel bei Furian (Anm. 32), S. 185. 98 Vgl. Blüthner (Anm. 31), S. 127. 99 Vgl. den Zeitzeugenbericht „N.N.“, von 1975 bis 1989 hauptamtlicher Mitarbeiter im MfS, Hauptabteilung Untersuchung, in Furian (Anm. 32), S. 147: „Deshalb können Sie den Punkt, dass wir (als Vernehmer) drin gesessen haben, damit die Richterin das richtig macht, vergessen. Wenn sie was falsch macht, ist das ihre letzte Verhandlung. Zumindest in so einer Sache. Da verhandelt sie dann eben Karnickeldiebstähle.“ 100 Vgl. Zeitzeugenbericht des ehemaligen Oberrichters am Obersten Gericht von 1971 bis 1990, Rudi Beckert in Furian (Anm. 32), S. 29: „Aber wer hat uns denn an der Universität oder zu Beginn der Tätigkeit oder all die Jahre danach jemals erklärt, was richterliche Unabhängigkeit ist und wie der Richter dafür sein eigenes Kreuz der Umwelt zum Trotz beweisen muss? Es wurde doch die einheitliche Staatsgewalt propagiert und die Justiz zum Anhängsel des Staates gemacht, der Volksvertretung untergeordnet und damit die Unabhängigkeit der Richter beseitigt. (…) Für diese Entscheidungen schäme ich mich seit langem schon abscheulich. Wie wir sie abschrieben von anderen Entscheidungen, die uns vorgegeben waren, wie wir sie begründet haben (…)“. 101 Vgl. auch ein Glückwunschschreiben des Direktors des Stadtgerichtes Berlin, Dr. Hugot, aus Anlass der Ernennung der stellvertretenden Direktorin des Stadtbezirksgerichts Lichtenberg vom 15. 8. 1985: „Ich erwarte von Ihnen, dass Sie verantwortungsbewusst und ideenreich in enger Zusammenarbeit mit dem Direktor und den Mitarbeitern mithelfen, die

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ordnete Gericht“ unterlagen. Die Ausbildung des Richters erfolgte in stark zugangsreglementierten und politisch-ideologisch ausgerichteten Studiengängen. Bei diesem Ausmaß von fachlicher und sogar persönlicher Kontrolle erscheint es nicht verwunderlich, sondern konsequent, dass der Richter stets auch gleich Parteifunktionär war. Unabhängigkeit des Richters war im Verfassungsverständnis der DDR nichts anderes als eine institutionelle programmatische Anbindung an den in den unterschiedlichen Steuerungsformen artikulierten Willen der SED: „Unabhängigkeit des Richters ist in der sozialistischen Strafrechtspflege die strikte und ausschließliche Bindung ihrer Rechtsprechung an den im sozialistischen Recht für jedermann verbindlich zum Ausdruck gebrachten einheitlichen politischen Willen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, dem sie mit jedem Einzelverfahren wirksam Geltung zu verschaffen haben.“102 „Die Hauptverhandlung muss eine politische Lehrstunde sein.“103 Mit der gesteuerten Abwesenheit von freiem intersubjektivem Diskurs und Konsens in Rechtswissenschaft und -praxis wurde in der DDR die Wirklichkeit konstruktiv verändert. Richterliche Entscheidungen und ihre Begründungen spielten sich deshalb auch bei strafrechtlicher Spezialprävention häufig im Bereich der Alibisierung und Darstellungsfunktion des Gesetzes ab und waren – wie stets in echten oder vermeintlichen Zwangskontexten – vollständig von einzelfallbezogenem persönlichem Engagement und Überzeugung des Richters abhängig. VII. Fazit Eine Einschränkung der Evidenzbasierung strafrichterlicher Praxis bei der Spezialprävention ist – projeziert auf einen historischen, aber in die Gegenwart hinein reichenden Vergleichszeitpunkt – Merkmal beider Rechtssysteme gewesen. Der für wirksame Prognose und Interventionen notwendige Transfer empirischer Erkenntnisse unterlag auf gesetzlicher Ebene in beiden Staaten einer Steuerungsschwäche durch die Verwendung prämissenarmer Generalklauseln. Ein Evidenzbezug war in beiden Systemen akteurszentriert auf den Richter ausgerichtet und traf dort auf eine kaum rationalitätsoptimierte Methode, ein Evidenzbezug erfolgte zufällig und personenabhängig. Hier enden die Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede geben Auskunft über die Hintergründe. Informationszugang und Evidenzbasierung richterlichen Handelns erweist sich als Systemmerkmal. In der Bundesrepublik ist die Erschwernis des Emisich aus den Beschlüssen unserer Partei-und Staatsführung ableitenden Aufgaben des Stadtbezirksgerichts beispielhaft zu lösen.“ (aus: Furian [Anm. 32], S. 165 f.). 102 Kommentar des Ministeriums der Justiz zum StGB-DDR, 5. Aufl., 1987, Art. 7 (Garantien der Gerechtigkeit und der Gesetzlichkeit in der Strafrechtsprechung), Ziff. 3. 103 So wörtlich der Gerichtsdirektor Kubasch in einem Vortrag zum Staatsratsbeschluss vom 30. 1. 1961 auf einer Richterdienstbesprechung vom 18. 3. 1961 im Bezirksgericht Erfurt (aus: Herz [Anm. 71], S. 180).

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pirietransfers und die eingeschränkte gesetzliche Steuerung der Preis demokratischverfassungsrechtlicher Kerngarantien der Gewaltenteilung. Ausgangspunkt ist die hohe Komplexität und Kontingenz wissenschaftlichen Wissens über menschliches Verhalten mit der Folge unpräziser Ergebnisse und ihrer Präsentation. Die Gesetzesbindung und die dieses Prinzip zentral schützende richterliche Unabhängigkeit erlauben eine Evidenzvorgabe außerhalb des Gesetzes nicht. Eigentlich als Abwehrgarantien gedacht, erweisen sie sich als Effektivitätshemmnis. Die Konfrontation mit der Komplexität der Wirklichkeit und die Überforderung des Richters mit ihr ist damit paradox zentrales Merkmal funktionierender Demokratie. In der DDR waren die Nichtsteuerung von objektiven empirischen Erkenntnissen und deren gesteuerte Ersetzung durch Ideologie Teil des Programms zum Macht- und Systemerhalt. Im Unterschied zur Bundesrepublik erfolgte gerade keine Überforderung mit der Komplexität empirischer Erkenntnisse und Zufälligkeit der Evidenzbasierung, sondern umgekehrt waren fachliche Unterforderung und gezielte Verbindung von Wissenschaft und Richter staatliches Programm – das bis in das Recht der strafrichterlichen Spezialprävention reichte. In der DDR war systembedingt keine Weiterentwicklung denkbar mit der Folge einer Stagnation wie in vielen Gebieten. Im Unterschied dazu sind in der Bundesrepublik die Grundbedingungen für einen wirksamen Wissenstransfer wegen unabhängiger Lehre und unabhängiger Justiz gegeben. Da Evidenzherstellung in der Bundesrepublik unter der Geltung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln nicht abschließend gesteuert ist, ist sie dem Richter nicht verboten, sondern geboten. Eine gesetzesausfüllende unabhängige richterliche Methode eines evidenzbasierten Interventionsmanagements zur Rationalitätsoptimierung scheint nicht nur inhaltlich möglich. Sie dürfte zur Verhinderung darstellungsbezogener Entscheidungen ohne Wirksamkeitsbezug im wichtigen Bereich strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes verfassungsrechtlich gefordert sein. Demokratietypischer Diskurs erweist sich als wahrheits- und effektivitätsgarantierend und kann damit – im Kontext von rationaler evidenzbasierter Spezialprävention – Leib und Leben schützen. „Strafe gewinnt durch den Zweckgedanken Maß und Ziel. (…) Aufgabe der Zukunft ist es, die begonnene Entwicklung weiter zu führen im gleichen Sinn; die blinde Reaktion konsequent umzugestalten in zielbewussten Rechtsgüterschutz.“104 Franz von Liszt und sein immer noch tagesaktuelles Vermächtnis einer Rationalität des Strafrechts im Marburger Programm von 1882 ist mit Mauerfall und Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 in die fünf neuen Bundesländer zurückgekehrt. Seiner beständigen Verwirklichung ist bald 25 Jahre danach weitere intensive Beachtung und gemeinsame methodische Anstrengung zu wünschen.

104

Franz von Liszt (Anm. 8), S. 126, 132.

VIII. Medizin

Patientensicherheit und Patientenrechte-Gesetz Von Matthias Rothmund Der Begriff „Patientensicherheit“ wurde in Deutschland erst im Jahr 2005 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. In diesem Jahr entschloss sich die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, Patientensicherheit zum Leitthema ihres Jahreskongresses zu machen. Das Medienecho war groß, aber von Unverständnis geprägt, genauso wie die Reaktion der verfassten Ärzteschaft und der Gesundheitspolitiker.1 Wenige Wochen später wurde das Aktionsbündnis Patientensicherheit gegründet, dessen Vorstand sich aus Patientenvertretern, Ärzten, Pflegepersonen und Vertretern der Krankenkassen zusammensetzte. Das Bündnis ist bis heute aktiv und führend in der Förderung von Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit.2 Ihm sind zahlreiche Fortschritte auf dem Feld der Sicherheit in der Gesundheitsversorgung zu verdanken. Eigentlich ist das Thema nicht neu. Dem griechischen Arzt Äskulap wird der Satz „primum nil nocere“ zugeschrieben, frei übersetzt: „vor allem nicht schaden“. Seit mehr als 2000 Jahren bemühen sich gewissenhafte Ärzte, diese Forderung zu erfüllen. Dass unser modernes, stets anspruchsvolleres und komplexeres Gesundheitssystem dem nicht immer nachkommt, wurde in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmende Gewissheit3,4 und im Jahr 1999 vom Institut of Medicine der USA in dem Aufsehen erregenden Bericht „To err is human“ publiziert.5 Der Kernsatz des umfangreichen Reports lautet: „In den Krankenhäusern der USA sterben jährlich zwischen 48.000 und 96.000 Patienten infolge von Fehlern durch Personal. Das sind mehr als durch Brustkrebs, AIDS oder Verkehrsunfälle ums Leben kommen.“ 1

Kunstfehler töten mehr Deutsche als Verkehrsunfälle, in: Die Welt, 5. 4. 2005. Heike E. Krüger-Brand/Eva Richter-Kuhlmann, Patientensicherheit: Viel erreicht – viel zu tun, in: Ärzteblatt 111 (2014), S. 236 – 239. 3 Troyen A. Brennan/Lucian L. Leape/Nan Laird et al., Incidence of Adverse Events and Negligence in Hospitalized Patients: Results from the Harvard Medical Practice Study I, in: N.Engl.J.Med. 324 (1991), p. 370 – 376. 4 Lucian L. Leape/Troyen A. Brennan/Nan Laird et al., The Nature of Adverse Events in Hospitalized Patients: Results from the Harvard Medical Practice Study II, in: N.Engl.J.Med. 324 (1991), p. 377 – 384. 5 Linda T. Kohn/Janet M. Corrigan/Molla S. Donaldson (Hrsg.), To Err is Human: Building a Safer Health Care System, National Academy Press, 1999. 2

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Die dort genannten Zahlen führten zu einer intensiven Debatte in den angelsächsischen Ländern und zu Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit, wie z. B. zur Einführung von Checklisten vor Operationen oder sogenannten Critical Incident Reporting Systems, Warnsystemen, die Mitarbeitern in Krankenhäusern und Praxen die Möglichkeit eröffneten, fehlerträchtige Situationen zu erkennen und zu melden, bevor ernsthafte Konsequenzen entstehen.6,7 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legte mehrere Programme zu einer internationalen Initiative auf, mit dem Ziel, Komplikationsraten und Sterblichkeit nach operativen Eingriffen zu verbessern.8 In Deutschland blieb der Bericht bis 2005 weitgehend unbekannt und ohne Konsequenzen. Als er auf dem obengenannten Kongress erstmals öffentlich zitiert wurde, gab es einen Aufschrei in den Medien und die Frage, ob das bei uns auch möglich sein könnte.9 Autoren aus dem Aktionsbündnis Patientensicherheit gaben sich große Mühe, die Frage zu beantworten. Im Jahr 2007 publizierten sie auf einer gründlichen Literaturrecherche beruhende Schätzungen.10 Danach ist damit zu rechnen, dass in Deutschland bei etwa 10 % der Patienten, die in einem Krankenhaus behandelt werden, ein „unerwünschtes Ereignis“ geschieht, also ein negatives Vorkommnis, z. B. eine Medikamentenverwechslung, das aber keine Folgen hat. Bei 1 % der Patienten muss dieses unerwünschte Ereignis als „schwer“ klassifiziert werden, d. h. es führt z. B. zu einem verlängerten Aufenthalt oder zu einer nicht geplanten Nachoperation. Bei etwa 0,1 % der Patienten in Krankenhäusern ist das unerwünschte Ereignis so schwerwiegend, dass sie an seinen Folgen sterben. Das betrifft in Deutschland schätzungsweise 17.000 Patienten jährlich. Im Januar 2014 wurden die Zahlen durch die Spitzenverbände der Krankenkassen aktualisiert. Basierend auf den Schätzungen aus 2007 wurden sie anhand der Steigerung der Behandlungszahlen hochgerechnet und mit 19.000 angegeben. Die neue Schätzung, ausgehend von einer früheren Schätzung, stieß auf Seiten der Ärztefunktionäre und der Gesundheitspolitiker auf Unverständnis und Widerspruch.11 Der Arzt und SPD-Landtagsabgeordnete Thomas Hartung aus Thüringen wurde zitiert: „Ich möchte gleich die Frage stellen, ob die Zahlen vom ADAC erho6 National Quality Forum. Safe Practices for Better Health Care: A Consensus Report, Washington, D. C. National Quality Forum, 2003. 7 Lucian L. Leape/Donald M. Berwick, Five years after to Err is Human: What have we learned?, in: JAMA 239 (2005), p. 2384 – 2390. 8 World Alliance of Patient Safety. Safe Surgery Safes Lives. The Second Global Patient Safety Challenge. www.who.int/patientsafety/safesurgery/en. 9 Mehr Tote durch Ärztepfusch als im Straßenverkehr, in: Süddeutsche Zeitung, 4. 4. 2005. 10 Mitteilungen Aktionsbündnis Patientensicherheit, 2007. 11 Patientensicherheit, Gefährliche Zahlenspiele, in: Deutsches Ärzteblatt 111 (2014), S. 123.

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ben worden sind.“12 Der Präsident der Bundesärztekammer sagte, den Schlichtungsstellen der Landesärztekammern seien nur 400 Fälle jährlich bekannt. Wiederholt werden muss, dass es sich schon bei den US-amerikanischen Zahlen, aber auch bei den deutschen um Schätzungen handelt. Andererseits gibt es keine besseren Zahlen. Die Ärztekammern haben Daten, die Gerichte, auch die Krankenkassen und andere. Alle werden separat erhoben und nicht miteinander abgeglichen. Weiterhin gibt es den seit Langem in der Literatur beschriebenen „litigation gap“ von etwa 20 %, d. h. die robuste Schätzung, dass nur etwa ein Fünftel der Schädigungen durch Fehler im Krankenhaus den unterschiedlichen Institutionen bekannt werden. Die Dunkelziffer ist groß. Weiterhelfen würde schon ein zentrales, alle gemeldeten Fälle erfassendes Register. Leider wurde die Einrichtung eines solchen Registers nicht in das 2013 verabschiedete Patientenrechtegesetz aufgenommen. Es ist auch nicht wichtig, ob es 17.000 oder 19.000 Fälle pro Jahr sind. Auch wenn es nur 10.000 oder 1000 Patienten jährlich sein sollten, es wären zu viele. Für den Beobachter ist die Parallele zu den Verkehrstoten evident. In den 70er Jahren waren in Deutschland (West) etwa 20.000 Tote pro Jahr zu beklagen. Heute sind es nach sicherheitsrelevanten Verbesserungen an den Fahrzeugen, den Straßen und den Autobahnen und anderen Maßnahmen in ganz Deutschland weniger als 4000. Warum sollte eine ähnliche Entwicklung nicht auch im Gesundheitswesen möglich sein? Wenn man über Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit nachdenkt wird rasch klar, dass die üblich Reaktion auf ein von einer Person verursachtes unerwünschtes Ereignis selten weiterhilft. Die Anweisung, beim nächsten Mal besser aufzupassen, die Rüge, Abmahnung oder gar Entlassung der oder des „Schuldigen“ ist selten sinnvoll. Die verantwortliche Person wird sich meist selbst genügend Vorwürfe machen. Nur gelegentlich mag im Wiederholungsfall oder wenn grobe Fahrlässigkeit offensichtlich ist, eine solche Maßnahme angebracht sein. Die amerikanischen Autoren Wachter und Provonost schreiben 2009 im angesehenen New England Journal of Medicine: „Die meisten Fehler werden durch gute und fleißige Ärzte und Schwestern gemacht, die das Beste für den Patienten wollen.“13 Das ist auch sicher richtig, sodass der von Journalisten gerne verwendete Begriff „Ärztepfusch“ fast immer ungerechtfertigt ist. Der britische Psychologe James Reason hat sich mit Fehleranalysen beschäftigt und festgestellt, dass ein Fehler meist eine Folge einer ganzen Reihe von nicht richtigen Entscheidungen und Einschätzungen ist. Er kommt nur dann zustande, wenn in der Entscheidungskette an jeder Stelle falsch entschieden wird. In seinem „Schweizer-Käse-Modell“ kommt es nur zum Fehler, wenn bei jeder der hintereinander ge12

Deutsches Ärzteblatt 111 (2014), S. 125. Robert M. Wachter/Peter J. Provonost, Balancing „No Blame“ with Accountability in Patient Safety, in: N.Engl.J.Med. 361 (2009), p. 1401 – 1406. 13

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stellten Käsescheiben ein Loch an der gleichen Stelle ist, und ein Pfeil ungehindert durchgeschossen werden kann. Reason unterscheidet auch zwischen latenten Bedingungen, in der Medizin z. B. Personalmangel oder nicht gut funktionierende Apparate oder Systeme, und aktiven Fehlern durch Personen. Da jeder Mensch Fehler macht, müssen nach seiner Ansicht die latenten Bedingungen und Systeme so sein, dass ein individueller Fehler nicht zur Katastrophe führen kann.14 In der Sicherheitsdebatte der Mediziner werden immer wieder Vergleiche zur Luftfahrt herangezogen. Genauso wie ein Flugzeug heute ein komplexes Gerät ist, ist ein modernes Krankenhaus ein kompliziertes Gebilde, in dem viele Berufsgruppen miteinander harmonieren müssen, häufig „high-tech“-Geräte eingesetzt werden und damit viele potenziell fehlerproduzierende Bedingungen vorliegen. Wie für den Piloten das Wetter eine gelegentlich schwierig einzuschätzende Variable ist, ist es der häufig alte und von mehreren Krankheiten geplagte Patient im Krankenhaus. Warum ist aber die Fehlerrate in der zivilen Luftfahrt im Vergleich zur Medizin so gering? In der Luftfahrt ist das Individuum, auch der erfahrenste Flugkapitän, hinter klaren Regeln zweitrangig, während in der Medizin auch heute noch Reste des von wenig Selbstzweifeln beeindruckten Arztes des letzten Jahrhunderts beobachtet werden können. Kein Pilot würde starten und kein Copilot dem Start zustimmen (was die Regeln verlangen), ohne dass die vorgeschrieben Checklisten abgearbeitet wurden. In der Medizin werden auch schwierige Prozeduren und Operationen ohne den Einsatz von Checklisten begonnen. Erst seit wenigen Jahren empfehlen die medizinischen Fachgesellschaften und das Aktionsbündnis für Patientensicherheit Checklisten zu verwenden, die der besseren Sicherheit der Patienten dienen.15,16 Wie häufig und wie konsequent sie benutzt werden, ist nicht bekannt. Es ist allerdings belegt, dass nach Einführung der auch von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie empfohlenen Checkliste der WHO in acht Krankenhäusern weltweit Morbidität und Mortalität nach Operationen signifikant zurückging.17 Die Sicherheit von Patienten ist im Krankenhaus vielfältig bedroht. An erster Stelle müssen die Infektionen durch schwer behandelbare Bakterien oder Viren genannt

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James Reason, The Contribution of Latent Human Failures to the Breakdown of Complex Systems, in: Philos.Trans.R.Soc.B.Biol.Sci. (Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences) 327 (1990), p. 475 – 484. 15 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 2005. 16 Alexandra Busemann/Claus-Dieter Heidecke, Checklisten zur Fehlervermeidung im Operationssaal, in: Deutsches Ärzteblatt 109 (2012), S. 693 – 701. 17 Alex B. Haynes/Thomas G. Weiser/William R. Berry et al., A Surgical Safety Checklist to Reduce Morbidity and Mortality in a Global Population, in: N.Engl.J.Med. 360 (2009), p. 491 – 499.

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werden. Solche Keime überleben im Krankenhaus durch Selektion nach Einsatz von Antibiotika und der Elimination von harmloseren Keimen. Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) hat die Aktion „Saubere Hände“ propagiert.18 Es wird zu einer einfachen Maßnahme zur Infektionsprävention aufgerufen, nämlich dass sich Schwestern und Ärzte die Hände waschen und desinfizieren, nachdem sie einen Patienten angefasst oder mit Körperflüssigkeiten in Kontakt gekommen sind, bevor sie sich mit dem nächsten Patienten befassen. Es handelt sich eigentlich um einen selbstverständlichen Vorgang, der jedoch in der Eile, wenn eine Pflegeperson für viele Patienten verantwortlich ist, vergessen oder unterlassen werden kann. Medikamentenverwechslungen, Verwechslung von Patienten, Fehler bei Operationen, Kommunikationsstörungen, Ablenkung oder Zeitdruck sind weitere Gefahrenquellen in Krankenhaus und Praxis. Identifikationsarmbänder für Patienten, Checklisten, sogenannte standard operating procedures (SOP) oder die oben schon genannten critical incident reporting-Systeme (CIRS) sind geeignet, die meisten Gefahrenquellen auszuschalten (2). CIRS stammt wie auch SOP aus der Industrie und der Luftfahrt. Meldungen, die darauf hinweisen, dass etwas nicht in Ordnung ist und ein Risiko darstellt, sind ideale Fundgruben der Fehlerprävention. In der Luftfahrt kommen auf einen Flugzeugabsturz etwa 1 000 beobachtete kleine Handlungsfehler oder 100 „Beinahe-Fehler“, so genannte near misses. Sie bilden einen Erfahrungsschatz, der dort gehoben wird, um einen „crash“ zu vermeiden. Durch Fehlermeldung im Krankenhaus, anonym und ohne Desavouierung von Kollegen, wird genauso gehandelt. Voraussetzung ist ein offener Umgang mit Fehlern und die Erkenntnis, dass sie auch dem Erfahrensten passieren können. In der angelsächsischen Krankenhauskultur gibt es seit Jahrzehnten die Einrichtung einer Morbiditäts- und Mortalitäts (M&M)-Konferenz, die meist wöchentlich stattfindet. Hier wird über Patienten gesprochen, deren Aufenthalt im Krankenhaus nicht erwartungsgemäß verlaufen ist und die Schaden genommen haben oder gar gestorben sind. Ziel der Konferenz ist, dass Analysen – ohne persönliche Schuldzuweisung – vorgenommen werden, um zu eruieren, ob ein Fehler vorlag und wenn ja, wie er in Zukunft vermieden werden kann. Wichtig ist, dass jeder, auch der Klinikdirektor oder Abteilungsleiter, die von ihm behandelten Patienten zur Diskussion stellt. Die „Kultur“, über Fehler intern zu sprechen und über systematische Fehlerprävention nachzudenken, ist in vielen Ländern, auch in Deutschland, noch unzureichend entwickelt.

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www.who.int/entity/mediacentre/events/meetings/2010/clean_hands_campaign/en/.

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In etwa der Hälfte der operativen Klinken gibt es nach einer Umfrage des Berufsverbandes Deutscher Chirurgen eine M&M-Konferenz, in der konservativen Medizin findet man sie kaum.19 Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat eine Broschüre publiziert, um die interne Diskussion über Fehler zu erleichtern. In „Aus Fehlern lernen“ schildern prominente Ärzte eigene Fehler, um Vorbild zu sein für alle Ärzte und Pflegende. Über den Umgang mit Patienten und ihren Angehörigen nach Schädigung durch einen Fehler unterrichtet eine weitere Publikation „Reden ist Gold“ des Aktionsbündnisses. In ihr wird betont, dass es wichtig ist, das Gespräch mit Patienten und/oder Angehörigen über den eingetretenen Fehler zu suchen, ihn sachlich darzustellen und sein Bedauern auszudrücken.20,21 Viele Ärzte wissen nicht, dass sie das tun können und nur dann ihren Versicherungsschutz riskieren, wenn sie ein Schuldeingeständnis äußern. Geschädigte Patienten erklären oft, dass es für sie das Schlimmste war, dass keiner offen mit ihnen gesprochen hat. Das 2013 in Kraft getreten Patientenrechtegesetz hat zweifellos die Position von geschädigten Patienten gestärkt. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber er ist noch nicht weitgehend genug.22 Vorteilhaft bezüglich der Patientensicherheit wirkt sich die Verpflichtung zur Einrichtung eines Beschwerdemanagements für jedes Krankenhaus aus. Das gilt auch für die Unterstützung der Patienten durch die Krankenkassen, wenn ein Behandlungsfehler vermutet wird oder vorliegt, vor allem aber für die Möglichkeit der Beweislastumkehr. Die Beweislast, die üblicherweise beim Patienten liegt, kann umgekehrt werden, wenn nachweislich kein Facharztstandard bei einer Behandlung gegeben war oder wenn ein grober Behandlungsfehler vorliegt. Es ist unverständlich, dass das oben erwähnte nationale Fehlermelderegister nicht in das Gesetz aufgenommen wurde. Ein solches Register würde erlauben, der tatsächlichen Zahl von Behandlungsfehlern näher zu kommen und systematische Fehleranalysen zu veranlassen. Auch eine verschuldensunabhängige Haftung bei Behandlungsfehlern fehlt ebenso wie die Einrichtung eines Patienten-Entschädigungsfonds. Zu begrüßen ist die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom Januar 2014, jedes Krankenhaus zu verpflichten, CIRS einzuführen.23 Gut wäre es, die Qualität dieser Maßnahme wenigsten durch Stichproben zu überprüfen. 19 J. Ansorg/I. Hassan/V. Fendrich et al., Qualität der chirurgischen Weiterbildung in Deutschland, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 2005, 130, S. 508 – 513. 20 Aus Fehlern lernen, Aktionsbündnis Patientensicherheit (Hrsg.), 2008. 21 Reden ist Gold. Aktionsbündnis Patientensicherheit (Hrsg.), 2009. 22 www.patienten-rechte-gesetz.de. 23 Fehlermeldesysteme sind künftig Pflicht, in: Deutsches Ärzteblatt 111 (2014), S. 5.

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Was weiterhin seit Jahren aussteht, ist die zeitliche Begrenzung der Facharztanerkennung durch die Ärztekammern. Üblicherweise legt ein junger Arzt zu Anfang seines dritten Lebensjahrzehnts eine Facharztprüfung ab. Es ist die letzte verpflichtende Prüfung seines Berufslebens. Sich auf dem zeitgemäßen Stand des Wissens in seinem Fachgebiet zu halten, beruht auf freiwilliger Basis. In vielen Ländern in Europa und Nordamerika wird die „Lizenz“ als Facharzt tätig zu sein, für begrenzte Zeit vergeben, meistens für 5 Jahre. Dann muss sie durch erneute Überprüfung des speziellen Wissens verlängert werden (recertification). Aus der Perspektive der Verbesserung der Patientensicherheit ist das eine überfällige Maßnahme in Deutschland. Was die Verbesserung der Patientensicherheit zur Zeit am meisten beeinträchtigt, ist der ökonomische Druck auf die Krankenhäuser als Folge der fixen Pauschalvergütung für Leistungen und der gleichzeitig steigenden Kosten, vor allem der Personalausgaben. Die Krankenhäuser müssen durch Mengenausweitung der Leistungen mit dem Risiko unnötiger Behandlungen oder mit Personaleinsparungen reagieren. Untersuchungen aus den USA belegen jedoch einen Zusammenhang zwischen Personalausstattung, vor allem in der Pflege, und dem Grad von Patientensicherheit.24 Zusammenfassend sind in Deutschland den letzten zehn Jahren deutliche Verbesserungen der Patientensicherheit zu erkennen. Es gibt allerdings noch viel mehr zu tun. Es ist eigentlich unverständlich, dass die Verantwortlichen in Politik und Selbstverwaltung keine größeren Anstrengungen unternehmen. Wenn die oben genannte Zahl von 17.000 Todesfällen in deutschen Krankenhäusern ungefähr stimmt, entspräche das einem Flugzeugabsturz mit ca. 300 Passagieren wöchentlich. Wie groß wäre das Entsetzen darüber, wenn es auch nur monatlich oder zweimal im Jahr dazu kommen würde. Im Jahr 2015 werden hoffentlich Gesetzgebungsverfahren eingeleitet, die eine Reduktion der zu hohen Zahl der Krankenhäuser in Deutschland zur Folge haben, den verbleibenden eine bessere Finanzierung garantieren und damit ermöglichen, die Personalausstattung und Patientensicherheit weiter zu verbessern.

24 Linda H. Aiken/Douglas M. Sloane/Jeannie P. Cimiotti et al., Implications of the California Nurse Staffing Mandate for Other States, Health Services Research, 2009.

„Dr. House“ in der Medizin – Lernen von und mit Hollywood Von Jürgen R. Schäfer Einleitung Vorab für alle, die Dr. House nicht kennen. Sie haben nichts versäumt – oder aber vielleicht doch? Es handelt sich hier um den Titelhelden der gleichnamigen Fernsehserie „Dr. House“. Die Serie lief mit insgesamt 177 Episoden vom 9. Mai 2006 bis zum 4. Dezember 2012 beim Fernsehsender RTL und erreichte zeitweise mehr als 6 Millionen Fernsehzuschauer alleine in Deutschland. Problematisch ist diese Sendung insofern, als da der Titelheld rein fachlich zwar brillant ist, menschlich allerdings – gelinde gesagt – schwierig. Dr. House ist zeitweise schmerzmittelabhängig, fast immer sarkastisch und alles andere als nett. Für ihn steht nicht die Heilung des Patienten im Vordergrund sondern vielmehr die Herausforderung das Rätsel zu lösen: „Welche Krankheit hat dieser Patient?“. Lediglich die Tatsache, dass die Lösung dieses Rätsels in aller Regel auch für den Patienten und dessen Heilungsverlauf von Vorteil ist, macht Dr. House zu einem begnadeten Diagnostiker und erfolgreichen Arzt. In der Medizin ist für eine erfolgreiche Heilung nun mal eine genaue Diagnose unerlässlich – und das schafft Dr. House so gut wie kein anderer. Somit arbeitet die fast schon zwanghafte Sucht von Dr. House, die wahre Krankheitsursache herauszufinden, einer erfolgreichen Behandlung zu. Fachliche Exzellenz gepaart mit sozialer Inkompetenz, das ist die Mischung, die Dr. House ausmacht. Man kann nun sagen, dass Dr. House eine reine Kunstfigur ist und es solche Ärzte im wahren Leben (Gott sei Dank – oder Leider Gottes) nicht wirklich gibt. Andererseits kennt doch jeder von uns auch Ärzte im wahren Leben, die einem Dr. House in abgeschwächter Form durchaus entsprechen. Ärzte von denen man sich jederzeit bedenkenlos den Blinddarm operieren ließe, mit denen man aber nur äußerst ungern in die Kneipe ginge. So ein Typ ist Dr. House, – und dann fragt man sich zu Recht, was mit dem vielsagenden Titel: „Dr. House in der Medizin – Lernen von und mit Hollywood?!“ für diesen kleinen Beitrag eigentlich gemeint ist. Was können wir von solch einem Misantrophen eigentlich lernen, was kann uns Hollywood vermitteln? Mehr noch: Welchen Einfluss kann ein kleines, unscheinbares Seminar mit dem Titel „Dr. House revisited – oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt“, das ich seit 2008 in Marburg unseren Medizinstudenten anbiete, auf die Versorgungsstruktur der fast 500 jährigen Universitätsklinik Marburg entwickeln?

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Immerhin, durch dies Dr. House-Seminar wurden zunächst die Medien auf uns und unser Interesse an komplexen Krankheitsbildern aufmerksam. Der Medizinische Fakultätentag (MFT) sowie der Deutsche Stifterverband verliehen mir 2010 den „Ars Legendi“-Preis als besten Hochschullehrer Deutschlands. Dies wiederum beflügelte die Berichterstattung zu unseren Aktivitäten. Die intensive Berichterstattung durch nahezu alle Medien (eine Google Anfrage Dr. House & Dr. Schäfer & Marburg ergibt immerhin knapp 20.000 Hits) führte dann dazu, dass sich immer mehr Patienten bei uns meldeten, denen wir zum Teil auch sehr gut helfen konnten. Hierdurch kam es zu der Verleihung des „Pulsus Award“ mit der Wahl zum „besten Arzt des Jahres 2013“. Dies wiederum löste einen weiteren Ansturm auf unsere Klinik aus, da nunmehr zweifelsfrei feststand, wer denn der „beste Arzt“ Deutschlands sei, was so – ganz im Vertrauen und unter uns gesagt – wahrlich nicht stimmt; ich bin nur ein ganz normaler Arzt und mit Dr. House hat das alles nur wenig zu tun. Doch all diese Aussagen wurden wohl nicht ernst genommen oder gar als Bescheidenheit interpretiert, so dass wir täglich (bis heute ungebrochen) 30 bis 50 unaufgeforderte Zusendungen von Patientenunterlagen mit der Bitte um Mitbehandlung erhalten. Vor die Wahl gestellt, wegen völliger Überlastung die zahlreichen Hilfeersuchen unbeantwortet zurückzusenden oder aber eine Struktur aufzubauen, mit der wir zumindest versuchen können, dem Ansturm Herr zu werden, entschied sich unsere Geschäftsführung erfreulicherweise für letzteres. Somit wurde im Dezember 2013 das deutschlandweit einmalige „Zentrum für unerkannte Krankheiten“ gegründet, – letztendlich eine Folge des ungeahnten Erfolges eines kleinen Seminars auf dem Boden einer Hollywood TV Serie. Die Rationale und Geschichte dieser Entwicklung, aber auch die Schlussfolgerungen, die wir für unser Gesundheitssystem hieraus ziehen können, möchte ich im Folgenden näher erklären. Wichtig erscheint mir an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass unser Jubilar Friedrich Bohl, dem dieser kleine Beitrag gewidmet ist, einen ganz maßgeblichen Anteil am Erfolg dieses Projektes hat. Ohne ihn, das kann ich so sagen, wäre ich entweder Chefarzt in einer Bremer Klinik oder aber in Bayern geworden, aber gewiss nicht als Stiftungsprofessor der Dr. Reinfried Pohl Stiftung in Marburg geblieben. Denn er war es, der als Vertreter der „Dr. Reinfried Pohl Stiftung“ in der Berufungskommission sich dafür einsetzte, dass mir diese ehrenwerte Stiftungsprofessur überhaupt anvertraut wurde. Ohne die stete Unterstützung durch unseren Ehrenbürger und Ehrensenator Professor Dr. Reinfried Pohl, der leider Gottes am 12. Juni 2014 überraschend verstarb, und unserem geehrten Jubilar wäre dieses Projekt, das ich Ihnen hier im Folgenden vorstellen möchte, nie zustande gekommen. Arztserien im deutschen Fernsehen In den letzten Jahren wurden zahlreiche Arzt- und Krankenhausserien sowohl im öffentlich rechtlichen als auch bei privaten Fernsehsendern ausgestrahlt. Dies ist insofern verständlich, da rein inhaltlich Medizin mindestens so spannend sein kann wie ein Krimi. Ein Verbrechen und dessen Aufklärung zeigen durchaus Parallelen zu

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einer Krankheit und deren Diagnose. Hier wie dort sind die Aufklärer darauf angewiesen, dass sie Spuren sichern und korrekt zuordnen können. Hier wie dort sind Aussagen, im einen Fall die Zeugenaussage, im anderen Fall die Anamnese, ganz wesentliche Elemente, die zur Wahrheitsfindung führen. Im einen Fall suchen die „Kriminalermittler“ nach Fingerabdrücken und Blutspuren, im anderen Fall suchen „Krankheitsermittler“ nach spezifischen Symptomen und Blutwerten. Beide Berufsgruppen müssen am Schluss eine Vielzahl von Spuren zusammenbringen, um ein umfassendes und passendes Bild der Geschehnisse zu bekommen. Dies alles führt dann zur Lösung eines Verbrechens, oder aber im Bereich der Medizin zur Diagnosefindung einer schwerwiegenden Erkrankung. Sie sehen, Medizin und Kriminalistik haben einiges gemeinsam. Dies erklärt auch, warum beides durchaus einen medialen Unterhaltungswert haben kann, den geschickte Filmproduzenten zu nutzen verstehen. Aufgrund der Tatsache, dass – im Gegensatz zu Gewaltverbrechen und Diebstahl – Krankheit und Medizin zwangsweise alle von uns irgendwann einmal treffen wird, kann man davon ausgehen, dass beim Zuschauer durchaus ein gewisses Eigeninteresse bestehen mag, hinter die Kulissen des Medizinbetriebs schauen zu können. Dies erklärt auch warum kaum ein Fernsehsender auf die Präsentation eines solchen Sendeformates verzichtet. Wie im wahren Leben änderten sich dabei die Arzt- und Krankenhausserien, sowohl was die technischen Aspekte angeht als auch inhaltlich. Die erste erfolgreiche Krankenhausserie „Schwarzwaldklinik“ rund um den charmanten Chefarzt „Prof. Brinkmann“ (gespielt von Klausjürgen Wussow) hat nur noch wenig gemein mit der überaus erfolgreichen Serie „In aller Freundschaft“, die mit dem nicht weniger charmanten Chefarzt „Dr. Heilmann“ (gespielt von Thomas Rühmann) in der Leipziger „Sachsenklinik“ spielt. Die „Schwarzwaldklinik“ und die Serie „Dr. House“ mit dem miesepetrigen Chefarzt Dr. House (gespielt von Hugh Laurie) trennen jedoch Welten, viel unterschiedlicher könnte Fernsehen kaum sein. Immerhin war die „Schwarzwaldklinik“ eine der erfolgreichsten deutschen Fernsehserien. Es wurden insgesamt sechs Staffeln mit 70 Episoden produziert, und die deutsche Erstausstrahlung erfolgte am 22. Oktober 1985 im ZDF. Die „Schwarzwaldklinik“ lief von 1985 bis 1989 und erreichte bei einer Episode bis zu 15 Millionen Zuschauer. Immerhin wurde diese Serie bislang auch elfmal wiederholt! Auch die in Leipzig von der Saxonia Media Filmproduktion GmbH produzierte Krankenhausserie „In aller Freundschaft“ zählt mit zu den erfolgreichsten deutschen Fernsehserien und wurde am 26. Oktober 1998 erstmals bei der ARD ausgestrahlt. Mittlerweile gibt es von dieser Serie mit der „Sachsenklinik“ 17 Staffeln mit mehr als 650 Episoden. Derzeit erreicht diese Serie mehr als 6,3 Millionen Fernsehzuschauer, – und das Woche für Woche! Die Serie „Dr. House“ wurde in Deutschland im Sendezeitraum vom 9. Mai 2006 bis 4. Dezember 2012 gesendet und ist eine der erfolgreichsten Fernsehserien des RTL. Es gibt acht Staffeln mit 177 Episoden. Die Sendung erreicht zu seinen besten

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Zeiten bis zu sechs Millionen Zuschauer, wobei der Hauptdarsteller Hugh Laurie den etwas schrulligen Chef der Diagnostik-Abteilung Dr. Gregory House spielt. Als recht aufwändig produzierte, englischsprachige Serie erreicht Dr. House ein ungleich größeres Publikum weltweit. So erreichte alleine die Serie „Dr. House“ nach Angaben von „Eurodata TV Worldwide“ bei einer Ausstrahlung in 66 Ländern mehr als 80 Millionen Fernsehzuschauer. Damit ist Dr. House eine der erfolgreichsten Arztserien weltweit1. Bei dem Phänomen „Arztserien“ können wir also feststellen, dass diese Sendeformate ein mehr oder weniger Medizin-interessiertes Millionenpublikum erreichen. Zuschauer von Unterhaltungsformaten wollen an erster Stelle sicherlich nur unterhalten werden, – zum Lernen würden sie wohl eher in Volkshochschulkurse gehen. Dennoch wissen wir, dass hier ein enormes Lernpotential steckt, denn namhafte Kommunikationswissenschaftler wie Professor Peter Vorderer (Kommunikationswissenschaften, Uni Mannheim) weisen darauf hin, dass: „Anspruchsvolle Unterhaltung von uns verlangt, abzuwägen, zu prüfen und zu entscheiden, kurz: zu denken“ oder wie Professor Louis Bosshart (Kommunikationswissenschaften Fribourg, Schweiz) sagt: „Unterhaltung und Bildung stehen in einer engen Beziehung zueinander“. Somit stellt für Gesundheitspolitiker und Mediziner der Erfolg solcher Arztserien eine ungeahnte Chance dar, die wir eigentlich weitaus intensiver nutzen sollten, als wir dies heutzutage tun. Hier werden gesundheitsverbessernde Chancen verspielt, – eine Tatsache, die eigentlich nicht so recht nachvollziehbar ist. Immerhin konnte unter anderem die Münchener Kommunikationswissenschaftlerin Constanze Rossmann nachweisen, dass sogar nicht medizinspezifische Fernsehserien genutzt werden können, um die Gesundheitsaufklärung der breiten Bevölkerung voran zu bringen.2 Frau Rossmann fand heraus, dass junge Zuschauer der Fernsehserie „Lindenstraße“ sich bei einem speziellen Themenschwerpunkt innerhalb einer Episode, der sich um HIV und AIDS drehte, deutlich mehr Inhalte merkten als durch Plakataktionen und klassische Gesundheitsappelle. Leider stellt diese Art der subtilen Wissensvermittlung in Form von „Infotainment“ oder „Education-Entertainment“ eine kaum genutzte Möglichkeit der gesundheitlichen Aufklärung dar.3 In der „ZEIT Wissen“ vom April/Mai 2011 schreibt der Chefredakteur und Arzt Jan Schweitzer den Beitrag mit dem Titel „Doktor spielen“, in dem er darauf hinweist, dass Medienwissenschaftler sich seit längerem mit gesundheitsverbessernden Aspekten von Arztserien auseinandersetzen. Da sich die Zuschauer von Arztsendun1

Ian Jackman, Dr. House. Das offizielle Handbuch zur Serie, 2011, S. 415. Olaf Jandura/Constanze Rossmann, Gesundes Fernsehen. Die Bedeutung von Boulevardmagazinen für die Gesundheitskommunikation, in: Peter J. Schulz/Uwe Hartung/Simone Keller (Hrsg), Identität und Vielfalt der Kommunikationswissenschaft, 2009, S. 149 – 164. 3 Zu Education-Entertainment durch Arztserien siehe auch den Buchbeitrag: Jürgen R. Schäfer, Fernsehserien als Lernvorlage: Was können wir von Dr. House lernen? in: Dieter Nittel/Astrid Seltrecht (Hrsg.), Krankheit: Lernen im Ausnahmezustand, 2013, Kapitel 33, S. 411 – 418. 2

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gen dabei automatisch auch emotional mit dem Thema Gesundheit beschäftigen, dürften diese für Gesundheitsaspekte offener sein als Zuschauer von Formel-1 Rennen.4 Zuschauer von Arztserien sind somit die ideale Zielgruppe für gesundheitsfördernde Maßnahmen und Länder wie die USA nutzen diesen Effekt seit langem ganz bewusst aus. Claudia Lampert vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg wird von Schweitzer mit dem Hinweis zitiert, dass in den USA fiktionale Unterhaltungsangebote ganz gezielt, professionell und offensiv genutzt werden, um gesundheitsfördernde oder präventive Botschaften zu verbreiten. Das US-amerikanische „Center for Disease Control and Prevention“ (CDC, oberste Seuchenschutzbehörde der USA) in Atlanta, GA, sowie die US-amerikanische Bundesregierung stellen hierfür sogar Ressourcen zur Verfügung und bieten mit einem Programm namens „Hollywood, Health & Society“ eine Informationsplattform für Drehbuchautoren5 an. Diese finden dort wichtige Fakten zu Erkrankungen und Internet-Links für persönliche Beratungen zu gesundheitsrelevanten Fragen.6 Wie bereits erwähnt konnte die Münchener Kommunikationswissenschaftlerin Constanze Rossmann nachweisen, dass sich TV-Serien zur Gesundheitsaufklärung der breiten Bevölkerung eignen.7 Arztserien mag hier eine noch exponiertere Stellung zukommen, als den üblichen Fernsehserien, da hier spezielle medizinische (Pseudo-)Informationen präsentiert werden, mit denen es sich zu beschäftigen gilt. Diese Sensibilisierung kann für ganz bestimmte Krankheiten und Verhaltensweisen genutzt werden, was in den USA auch ganz gezielt durch TV-Serien versucht wird. Sensibilisierung gegenüber Geschlechtserkrankungen durch „Dr. House“ So wird zum Beispiel in der ersten Staffel der Serie „Dr. House“ in der achten Episode (Originaltitel: „Poison“, deutscher Titel: „Geiz ist Gift“) die Problematik von Geschlechtserkrankungen thematisiert. Es werden Probleme wie die Syphilis, aber auch die Zunahme von Infektionen durch Chlamydia trachomatis durch ungeschützten Geschlechtsverkehr diskutiert. Infektionen durch Chlamydia trachomatis sind in der Tat ein gesundheitspolitisches Problem und stellen einen der häufigsten Erreger sexuell übertragbarer Erkrankungen dar. Man schätzt, dass in Deutschland bis zu 10 % der jungen Menschen bereits mit diesem Erreger infiziert sind, der vor allem bei jungen Frauen zur Infertilität führen kann. Daher lancierte die US-amerikanische Gesundheitsbehörde „CDC“ die Aufarbeitung dieses gesundheitspolitisch relevanten Themas in die TV-Serie „Dr. House“. Es erfolgten ausführliche Beratungsgesprä4 Zeit Wissen, Nr. 3, April/Mai 2011, S. 55 – 57 bzw. http://www.zeit.de/zeit-wissen/2011/ 03/Aerzte-am-Filmset?page=all. 5 Adresse: www.cdc.gov/healthmarketing/entertainment_education/tip_sheets.htm. 6 Zur Wirkung von TV-Serien auf potenzielle Patienten siehe auch: Jürgen R. Schäfer, „Housemedizin“ – Die Diagnosen des Dr. House“, 2012. 7 Jandura/Rossmann (Anm. 2), in: Schulz/Keller, Identität und Vielfalt der Kommunikationswissenschaft, 2009, S. 149 – 164.

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che mit den Drehbuchautoren von „Dr. House“. Letztendlich entstand so eine Episode, bei der humorvoll aber doch recht eindrücklich auf die Gefährdung durch Chlamydien bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr hingewiesen wird. Sensibilisierung gegenüber systemischen Lupus durch „Dr. House“ David Shore, der eigentliche Erfinder der Serie „Dr. House“, wurde von der USamerikanischen Lupus-Stiftung mit dem „Loop Award“ ausgezeichnet. Damit wurde die Tatsache anerkannt, dass Shore in zahlreichen Episoden immer wieder den Lupus erythematodes als denkbare Differentialdiagnose ins Spiel brachte. Dass es dann bis zur vierten Staffel in der achten Episode dauert, bis dann endlich ein Patient auch einen Lupus erythematodes hat (Originaltitel: „You don’t want to know“. Deutscher Titel: „Blut und Spiele“), spielt dabei keine Rolle. Das ständige Thematisieren eines in Frage kommenden Lupus sorgt dafür, dass diese recht seltene Erkrankung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebrannt wird. In Deutschland dürften etwa 40.000 Menschen an einem systemischen Lupus erythematodes leiden. Beim systemischen Lupus erythematodes handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, die vor allem junge Frauen im gebärfähigen Alter befällt und häufig mit eher unspezifischen Beschwerden wie Fieber und Abgeschlagenheit beginnt. Selbst ein Hausmeister schlägt bei „Dr. House“ die Erkrankung Lupus als denkbare Diagnose vor (Originaltitel: „Alone“; deutscher Titel: „Allein“). Sensibilisierung für seltene Erkrankungen durch Dr. House Dr. House beschäftigt sich – wie im Falle Lupus – vor allem mit sehr seltenen Erkrankungen, die, wenngleich auch selten, so doch vorkommen können. Der Begriff „seltene Erkrankung“ ist so definiert, dass diese Erkrankung bei weniger als fünf Personen bei 10.000 Einwohnern vorkommt. Da es allerdings 7.000 unterschiedliche, seltene Erkrankungen gibt, ist die Zahl der von einer seltenen Erkrankung Betroffenen recht groß. Man geht von vier Millionen Menschen in Deutschland aus, die an einer „seltenen Erkrankung“ leiden. Im Grunde genommen gibt es mehr Menschen mit „seltenen Erkrankungen“ als derzeit FDP-Wähler. Um an diese seltenen Erkrankungen zu denken, stimuliert Dr. House sein Team zum „um die Ecke“ denken. Also auch Diagnosen, die man zunächst für recht unwahrscheinlich halten würde, können am Ende doch stimmig sein. Anders als bei den früheren Arztserien vom Typ „Schwarzwaldklinik“, bei der Professor Brinkmann stets sofort mit dem Eintreten ins Zimmer auch gleich die richtige Diagnose wusste, wird bei „Dr. House“ die Diagnosefindung als ein dynamischer und recht komplexer Prozess vermittelt. Hierdurch wird aber auch dem Zuschauer klar, dass es - häufig keine einfachen und schnell zu lösenden Diagnosen gibt,

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- das Bild von einem Halbgott in Weiß, der gottgegeben auch alles weiß, nicht mehr stimmt bzw. noch nie gestimmt hat und - bei fehlendem Heilerfolg der Wechsel zu einem kompetenteren Arzt unter Umständen sinnvoll sein kann, bevor man sich als Psychopath abstempeln lässt. Dieses Potenzial wird in Deutschland derzeit leider kaum genutzt, wobei neue Sendeformate wie z. B. die Sendung „Abenteuer Diagnose“ beim NDR vielversprechende Wege in Richtung „medizinisches Infotainment“ gehen.8 Letztendlich wäre zu wünschen, dass – ähnlich wie in den USA – eine engere, frei von Profit- und Profilierungsinteresse gelebte Zusammenarbeit zwischen Kunstschaffenden und Ärzteschaft stattfindet. Dies wäre zum Vorteil aller, weil Medizin allemal so spannend wie ein Krimi sein kann. Umgekehrt steht nirgendwo geschrieben, dass ein unterhaltsames Sendeformat nicht auch lehrreich sein kann.9 Meine ursprüngliche Idee war einzig und allein durch den Einsatz der Fernsehserie „Dr. House“ unsere Studenten/innen für seltene Erkrankungen zu begeistern. Die Serie lief mit großem Erfolg beim RTL und war bei unseren Studierenden sehr beliebt. Somit diente mir diese Fernsehserie quasi als Türöffner, um ein bis dahin eher wenig attraktives Gebiet der Inneren Medizin unserem Nachwuchs nahe zu bringen. Unter lernökonomischen Aspekten kann man das überschaubare Interesse an seltenen Erkrankungen unseren Studenten/innen nicht übel nehmen, – es ist nun einmal wenig sinnvoll, endlos viele „seltene Erkrankungen“ zu lernen, die beim Staatsexamen so gut wie nie abgeprüft werden. Da lohnt es sich eher, den Herzinfarkt und die Gallenkolik zu kennen, was ja auch für die spätere Arbeit sinnvoll ist. Doch dank dem – freiwilligen – Dr. House-Seminar haben wir nunmehr die Möglichkeit, die Studierenden auf recht unterhaltsame Art und Weise an das Problem der seltenen Erkrankungen heranzuführen. Wir können so Lösungsstrategien, die Nutzung moderner IT-Systeme und Internetprogramme, neue Labormöglichkeiten und die Notwendigkeit von Team-Arbeit zur Lösung komplexer Krankheitsbilder vermitteln. Die am Beispiel einer Dr. House Episode besprochene Krankheit wird somit zum Schlüssel für viele vergleichbar komplexe Erkrankungen und die dann zu nutzenden Lösungsansätze. Wie bereits erwähnt fand dieses Seminar recht großen Zuspruch bei unseren Studierenden, – aber eben auch bei den Medien. Durch die ungewöhnlich breite Berichterstattung wurde dieses Seminar, und in der Folge auch ich als der verantwortliche Dozent, über die Marburger Stadtgrenzen hinaus bekannt. Ich hatte schnell den etwas zweifelhaften Ruf bei den deutschen Medien, der „deutsche Dr. House“ zu sein. Schlimmer noch, als wir einen recht ungewöhnlichen Fall einer Schwermetallvergiftung bei defekter Hüftkopfprothese lösten und darüber in einem renommierten Fachjournal publizierten, kam es zu einem Me8

http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/visite/abenteuerdiagnose114.html. Wie Hollywood die Versorgungsstrukturen einer 500 Jahre alten Universitätsklinik ändert, siehe auch: FOCUS Gesundheit. Sonderheft: Beste Kliniken Deutschlands, Oktober 2014. 9

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dienansturm, den wir so in Marburg noch nie erlebt hatten. Jetzt wurde ich sogar international in den CBS-News, der Washington Post, New York Times und vielen anderen als der „German Dr. House“ bezeichnet. All dies führte dazu, dass sich mehr und mehr verzweifelte Patienten bei uns meldeten, – in der Hoffnung, dass der „deutsche Dr. House“ ihnen helfen möge. Dies gelang uns bei dem einen oder anderen Fall auch recht gut, und wir konnten solch ungewöhnliche Krankheiten wie Skorbut, Metallvergiftung, Bilharziose, Morbus Whipple, Morbus Addison, Conn-Syndrom, unterschiedliche Natrium/Kalium-Kanalerkrankungen sowie einige sehr seltene Syndrome aufklären. Obgleich wir immer wieder darauf hinweisen, dass wir nur ganz normale Ärzte sind und die – zugegebenermaßen – recht interessante Diagnosefindung allein der Tatsache geschuldet ist, dass wir eben eine gute Universitätsklinik sind, nahm die Zahl der Hilfeersuchen von Tag zu Tag zu. Es sprach sich offenbar herum, dass uns komplizierte Erkrankungen interessieren; und dies führte wiederum zu einem weiteren Zulauf von Patienten, was wir letztendlich nur durch die Gründung eines Zentrums für unerkannte Krankheiten (ZuK) auffangen konnten. Dank der Unterstützung durch die Marburger Geschäftsführung und den ärztlichen Direktor Prof. J. Werner wurde in kürzester Zeit ein Zentrum geschaffen, das mit zwei Sekretariatsstellen, zwei Arztstellen, fünf Patientenbetten und einem Beraterstab von zehn Fachärzten sich der Probleme von Patienten mit unklaren Krankheiten widmet. Das Zentrum wird durch die lokale IT-Abteilung sowie durch ein molekularbiologisches Forschungslabor unterstützt. Das Zentrum wurde am 1. Dezember 2013 offiziell eröffnet und dessen Leitung wurde mir anvertraut. Das Prinzip des Zentrums sieht vor, dass wir die zugesandten Anfragen zunächst sichten und nach Dringlichkeit und Hilfsmöglichkeit sortieren. Nach Sichtung der Unterlagen werden Empfehlungen bezüglich einer weiterführenden Diagnostik an die Kollegen geschickt, die dann oftmals eine direkte PatientenVorstellung hier überflüssig macht. Komplizierte Fälle werden in den Team-Besprechungen ausführlich besprochen, wobei in der Regel pro Fall etwa 15 Minuten (manchmal aber auch mehr) veranschlagt werden. Da insgesamt etwa zehn erfahrene Ärzte sich gemeinsam Gedanken zu dem Fall machen, kommt so pro Fall eine zweieinhalbstündige Arzt/Patienten-Zeit zusammen, was einen Großteil des Erfolges unseres ZuK-Ansatzes erklärt. Im Rahmen der Team-Besprechungen werden die offenen Fragen, die Beschwerden, die bislang durchgeführten Untersuchungen und Ideen lebhaft und teilweise auch kontrovers aber stets offen und engagiert diskutiert. Die Ergebnisse werden protokolliert und die Empfehlungen der Teambesprechung dem Hausarzt zugeschickt. Sollten technisch anspruchsvolle Untersuchungen erforderlich sein, wird angeboten, dass dies „in-house“ entweder ambulant oder aber im Rahmen eines kurzen stationären Aufenthaltes abgearbeitet wird. Insgesamt ist es das Anliegen, die Diagnostik heimatnah voran zu bringen. Sobald die Diagnose steht, wird ein entsprechendes Schwerpunktzentrum zur Therapiedurchführung gesucht. Unser ZuK-Ansatz ähnelt ansatzweise dem eines Tumor-Boards, wo ebenfalls im Rahmen von interdisziplinären Besprechungen das therapeutische Vorgehen bei Krebspatienten festgelegt wird. Hierbei wird – im Unterschied zu uns – die bestmög-

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liche Therapie bei einer bereits diagnostisch gesicherten Krebserkrankung festgelegt, – in aller Regel ist die Diagnostik bereits schon abgeschlossen. Letztendlich ist das ZuK bislang bundesweit die einzige universitäre Einrichtung, die sich dezidiert mit der Lösung unerkannter Krankheitsbilder beschäftigt. Die Zentren für seltene Erkrankungen, deren Auftrag die Auflösung seltener Krankheiten ist, kommen unserem Konzept insofern nahe, als da seltene Erkrankungen häufig auch schwer zu diagnostizieren sind und daher „selten“ oftmals auch „unerkannt“ bedeutet. Allerdings sind zahlreiche Krankheitsbilder, die wir erfolgreich aufklären konnten, im Grunde genommen gar nicht so selten, sondern eben nur schwer zu diagnostizieren,– wie eine Metallvergiftung, Borreliose, nicht erkannte Bilharziose etc. und wären somit nicht primär für ein Zentrum für seltene Erkrankungen gedacht. Die Tatsache, dass dieses Zentrum aufgrund eines „Dr. House“-Seminars ins Leben gerufen wurde, dürfte in der fast 500-jährigen Geschichte unserer Universitätsklinik einmalig sein. Man kann somit sagen, dass Hollywood mit der Dr. House-Serie die Versorgungsstrukturen einer gestandenen Universitätsklinik nachhaltig verändert hat, – eine Entwicklung, die für sich betrachtet fast schon „hollywoodreif“ wäre. Die Tatsache, dass ein kleines Seminar die Versorgungsstrukturen beeinflussen kann, unterstreicht aber auch die Kenntnis, dass gute Lehre einer guten Klinik bedarf, aber auch umgekehrt, dass eine gute Lehre durch eine gute Klinik ermöglicht wird.10 Trotz vieler Probleme haben wir in Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Wer immer einige Jahre im Ausland gelebt hat, wird bestätigen, wie wichtig ein gut funktionierendes Sozialsystem ist und wie gut es uns hier in Deutschland geht. Als interventioneller Kardiologe mit tausenden Herzkathetern und Herzinfarktbehandlungen weiß ich es zu schätzen, wie schnell und effektiv unsere Patienten mit einem akuten Herzinfarkt in Deutschland versorgt werden. Für die meisten Herzinfarktpatienten steht eine optimale 24 Stunden/7 Tage Versorgung zur Verfügung, was sich in einem Rückgang der herzinfarktbedingten Todesfälle wiederspiegelt. Auch für die Versorgung von Schlaganfallpatienten oder Unfallopfern sind wir sehr gut gerüstet und haben klare Ablaufprozesse und Strukturen. Anders sieht es jedoch bei den Patienten mit seltenen oder unerkannten Krankheiten aus. Durch die de facto Abschaffung von allgemein internistischen Lehrstühlen sowie medizinischen Polikliniken bei den meisten Universitätskliniken gibt es kaum mehr allgemeininternistische Versorgungsstrukturen. Das heißt, dass die Patienten mit unklaren (nicht unbedingt seltenen) Beschwerden heutzutage bei der Aufnahme in eine Uniklinik schon genau wissen müssen, was ihnen eigentlich fehlt. Kommt ein Patient mit Oberbauchbeschwerden in die gastroenterologische Notaufnahme, dann wird er sehr wahrscheinlich einen Ultraschall-Abdomen sowie eine Magenspiegelung erhalten, kommt er mit den gleichen Beschwerden in die kardiologische Notaufnahme, dann wird gewiss ein Herzultraschall, TNI-Kontrolle und sehr wahrscheinlich 10 Zu Versorgungsprobleme für Patienten mit seltenen Erkrankungen in unserem Land siehe auch in: http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?p=15104.

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auch noch ein Links-Herzkatheter durchgeführt. Solche Abläufe machen dann den Pförtner zum wichtigsten Mitarbeiter des Hauses, da er in schlecht organisierten Häusern häufig das weitere Schicksal eines Patienten maßgeblich mitbestimmt, indem er sagt: „Am besten melden Sie sich bei unserem Kardiologen“ oder aber er sagt „Gehen Sie doch gleich zum Gastroenterologen“. Dass dies wenig sinnvoll ist, dürfte jedem einleuchten, – und hier muss sich etwas ändern. Hier haben bereits viele Kliniken reagiert und haben interdisziplinäre Notaufnahmen eingerichtet. Es wären jedoch auch allgemein internistische Aufnahme- sowie allgemein internistische Versorgungsstationen erforderlich, wobei dann allerdings eine rasche Weiterleitung in die jeweiligen Schwerpunkt-Kliniken wichtig wäre. Ein spezielles Problem haben aber die Patienten, bei denen völlig unklar ist, was sie eigentlich haben, die also beim obigen Beispiel weder für den Kardiologen noch für den Gastroenterologen die richtigen Patienten wären. Wo sollen sich all die Patienten hinwenden, die an einem völlig unklaren Krankheitsbild leiden. Hier wäre die allgemein internistische Station sinnvoll, die es leider immer weniger gibt, – oder aber eben ein Zentrum für unerkannte Krankheiten, wie wir es in Marburg gerade eröffnet haben. Problematisch für diese Zentren ist allerdings das DRG-getriebene Abrechnungssystem. Dieses als „Diagnosis Related Groups“ (= DRG) bezeichnete Abrechnungssystem treibt seit mehr als zehn Jahren sein Unwesen und dient den Krankenhäusern zur Leistungsabrechnung gegenüber den Kostenträgern. Die Grundidee ist nachvollziehbar, – die Honorierung von Krankenhausleistungen sollte nicht mehr pauschal nach Liegedauer bezahlt werden, sondern unabhängig von der Liegezeit anhand der erbrachten (technischen) Leistungen. Letzteres führte dazu, dass die apparativ-technischen Eingriffe in den letzten Jahren zu und die Liegezeit der Patienten abnahmen. Mehr noch, kleine Krankenhäuser spezialisierten sich auf lukrative Eingriffe (Hüftprothetik, Herzklappen etc.), wohingegen große Krankenhäuser als Maximalversorger durch weniger lukrative Eingriffe in eine finanzielle Schieflage gerieten, die so nie intendiert war und das gesamte System gefährdet. In letztendlicher Konsequenz führt so ein stupides Abrechnungssystem zu Strukturveränderungen im gesamten Medizinbetrieb, – ein Mechanismus, der so weder gewollt noch akzeptabel ist und im Grunde genommen den politisch Verantwortlichen überlassen werden sollte. Das DRG-System geht im Grunde genommen davon aus, dass Diagnosen immer recht rasch und unproblematisch gestellt werden können. Ein längerer stationärer Aufenthalt nur um herauszubekommen, was der Patient wirklich hat, ist bei dem DRG-System nicht vorgesehen. Werden apparative Maßnahme durchgeführt, Herzklappen oder Hüftprothesen eingebaut, dann werden diese Maßnahmen finanziell sehr gut honoriert. Wenn allerdings ein oder zwei Tage nachgedacht wird, Experten kontaktiert oder eine Internet Datensuche durchgeführt werden muss, dann wird dies alles nicht honoriert. Ein Patient mit einer seltenen oder schwer zu diagnostizierenden Krankheit rechnet sich im DRG-System nicht. Bei fast allen oben aufgeführten Patienten, die wir zum Teil in mühseliger Kleinarbeit diagnostiziert und geheilt bekamen, lagen unsere eigenen Kosten deutlich über dem DRG-gemäßen Zuweisungs-

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betrag. Wir haben die Patienten zwar geheilt, für die Klinik ist es dennoch ein MinusGeschäft. Dass unglaublich viele Menschen an unklaren Krankheiten leiden, können wir anhand der uns täglich erreichenden Zusendungen erkennen. Seit der Eröffnung unseres Zentrums haben uns mittlerweile mehr als 3.000 verzweifelte Patientenanschreiben in dicken Couverts erreicht, die allesamt mit dem Satz beginnen: „Sehr geehrter Herr Prof. Schäfer, bitte helfen Sie mir, Sie sind meine letzte Hoffnung…“. Die Zusendungen erreichen uns dabei aus ganz Deutschland. Letztendlich ist dies gesundheitspolitisch betrachtet ein Armutszeugnis für unser Land. Hier sind gesundheitspolitische Maßnahmen erforderlich, um die Situation der Patienten mit seltenen oder unerkannten Krankheiten besser zu behandeln. Dies sollte durch die flächendeckende Einrichtung von Zentren für unerkannte/seltene Erkrankungen (ZusE) an allen Universitätskliniken möglich sein. Um diese jedoch auch finanziell am Leben zu erhalten, ist eine Nachbesserung des DRG-Systems erforderlich, – hier sollten zum Beispiel 3 % der Zuführungsbeträge an die Universitätskliniken für Patienten mit unerkannten bzw. seltenen Erkrankungen reserviert bleiben. Mehr noch, – es sollte eine Art nationale Taskforce eingerichtet werden. Diese Taskforce sollte aus den besten Klinikern und Wissenschaftlern unseres Landes bestehen und sich mit all den Patienten beschäftigen, die völlig ohne Diagnose leben. Dafür sollte jede Universitätsklinik ein oder zwei der schwierigsten Patienten der Taskforce vorstellen können, die dann ohne Rücksicht auf eventuelle Kosten eine Diagnose erarbeiten. In den USA gibt es in Form der National Institutes of Health (= NIH) im dortigen Clinical Center, Building 10, solch eine Einrichtung „im Großformat“, von dem wir an der einen oder anderen Stelle durchaus etwas lernen könnten. Zusammenfassung Gut gemachte TV-Serien haben durchaus ein Potenzial, um gesundheitliche Aspekte unserer Bevölkerung näher zu bringen, ein Potenzial, das in den USA genutzt wird, bei uns allerdings noch keinerlei Wertschätzung, geschweige denn eine Unterstützung erfährt. Zudem eignen sich bestimmte Fernsehserien wie Dr. House als Lernvorlage im Unterricht und sollten gezielt genutzt werden. Zweifelsohne haben wir eines der besten medizinischen Versorgungssysteme weltweit. Dennoch ist die Versorgung von Patienten mit unerkannten bzw. seltenen Erkrankungen katastrophal und bedarf dringender Verbesserungen. Hierfür wäre eine Anpassung des DRG-Systems für Universitätskliniken notwendig. Zudem sollte eine nationale Taskforce (im Sinne eines Mini-NIH) aufgebaut werden, um so den Patienten mit unklaren Krankheitsbildern zu helfen. Dies wäre auch mit einem Erkenntnisgewinn verbunden, der uns wissenschaftlich weiterhilft.

Autorenverzeichnis Backhaus, Ralph Professor Dr. iur. Ralph Backhaus, geboren 1950, studierte von 1969 bis 1974 Rechtswissenschaften an der Universität Heidelberg. Im Jahr 1979 wurde er mit der Schrift „Casus perplexus. Die Lösung in sich widersprüchlicher Rechtsfälle durch die klassische römische Jurisprudenz“ in Heidelberg promoviert. Von 1987 bis 2007 war er an verschiedenen Gerichten tätig (Landgericht Köln, Oberlandesgericht Düsseldorf, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht, Oberlandesgericht Frankfurt). Im Jahr 1996 erhielt er einen Ruf an die Philipps-Universität Marburg auf eine Professur für Römisches Recht und Bürgerliches Recht. Interessensschwerpunkte sind im Bereich der Rechtsgeschichte die Einflüsse der griechischen Philosophie auf das Römische Recht und im Bereich des geltenden Rechts der Schutz des geistigen Eigentums. Benkner, Axel-Günter Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und Musik an der Universität Gießen mit den Abschlüssen Diplom-Oeconom und Diplom-Kaufmann begann Axel-Günter Benkner 1980 seine berufliche Laufbahn als Fondsmanager bei der DWS Investments in Frankfurt. 1990 stieg er in die Geschäftsführung auf und führte das Unternehmen seit 2002 als Sprecher der Geschäftsführung. Im Herbst 2002 wurde er von den Mitgliedsgesellschaften des Bundesverbands Investment und Asset Management zum Vorstandssprecher gewählt. Dieses Amt übte er bis 2005 aus. Danach wurde er von der Deutschen Bank zum Global CEO DWS-Group und zum Europa-Chef des Geschäftsbereichs Asset Management berufen. Neben seinen Tätigkeiten innerhalb der Deutsche Bank Gruppe lehrte Benkner als Dozent an mehreren Universitäten und berufsständigen Vereinigungen und schrieb Bücher zu Themen aus den Bereichen Börse und Asset Management. Ende 2006 beendete er seine Tätigkeit für die Deutsche Bank Gruppe, um sich intensiv Charity- und Musikprojekten widmen zu können, bleibt aber der Finanzbranche durch mehrere Aufsichtsratspositionen und Beratertätigkeiten weiter verbunden. Beuthien, Volker Professor Dr. iur. Volker Beuthien, geboren 22. August 1934 in Lübeck, leitete von 1970 bis 2002 das Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht der Philipps-Universität Marburg und war von 1988 bis Ende 2012 geschäftsführender Direktor des Instituts für Genossenschaftswesen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen neben dem Bürgerlichen Vermögensrecht und Persönlichkeitsschutz im Gesellschaftsrecht (insbesondere Grundbegriffe und Systemzusammenhänge), im Kartellrecht (Recht der Unternehmenskooperation und Gemeinschaftsunternehmen) sowie im Kollektiven Arbeitsrecht (Zusammenwirken von Betriebs-, Tarif- und Unternehmensautonomie). Blüm, Norbert Dr. Norbert Blüm, 1949 bis 1953 Lehre bei Opel Rüsselsheim, 1952 bis 1956 Vorsitzender der Betriebsjugendvertretung, 1961 Abitur Abendgymnasium Mainz, 1961 bis 1967 Studium

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der Philosophie, Germanistik und Theologie in Köln und Bonn, 1967 Promotion, 1968 bis 1975 Hauptgeschäftsführer der CDA, 1977 bis 1987 Bundesvorsitzender, 1972 bis Oktober 2002 Mitglied des Bundestags, ab 1980 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, 1981 bis 2000 stellvertretender CDU-Vorsitzender, 1981 bis 82 Senator für Bundesangelegenheiten des Landes Berlin, 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1987 bis 1999 Vorsitzender der CDU Nordrhein-Westfalen. Bouffier, Volker Volker Bouffier, 1970 Abitur in Gießen, 1970 bis 1975 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Gießen, Erste Juristische Staatsprüfung, 1975 bis 1977 Referendariat, Zweite (Große) Juristische Staatsprüfung, 1975 bis 1978 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht III, Universität Gießen, 1978 bis 1987 und seit 1991 Rechtsanwalt und (seit 1984) Notar in Gießen, seit 1978 Mitglied im Landesvorstand der CDU Hessen, 1979 bis 1993 Stadtverordneter in Gießen, 1979 bis 1999 Mitglied im Kreistag des Landkreises Gießen, 1982 bis 1987 und seit 1991 Mitglied des Hessischen Landtags für den Wahlkreis 19 (Gießen II), 1987 bis 1991 Staatssekretär im Hessischen Ministerium der Justiz, 1991 bis Juni 2010 stellvertretender Landesvorsitzender der CDU Hessen, 1999 bis 2010 Hessischer Minister des Innern und für Sport, seit Juni 2010 Landesvorsitzender der CDU Hessen, seit August 2010 Hessischer Ministerpräsident, seit November 2010 stellvertretender Vorsitzender der CDU Deutschlands, seit November 2014 Bundesratspräsident. Brok, Elmar Elmar Brok wurde am 14. Mai 1946 in Verl, Nordrhein-Westfalen, geboren. Er ist seit 1980 Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten (AFET). Er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aktiv in den Prozess der europäischen Integration eingebracht, indem er das Europäische Parlament bei den Regierungskonferenzen fast aller EU-Verträge vertrat und Hauptberichterstatter des Europäischen Parlaments zu den EU-Ost-Erweiterungen war. Darüber hinaus hat er mehrere Führungspositionen in der europäischen und deutschen Politik inne, darunter den Vorsitz des CDU-Bundesausschusses für Europapolitik, den Vorsitz des Vorstandes des European Endowment for Democracy (EED), als Präsident der Europäischen Union Christlich-Demokratischer Arbeitnehmer (EUCDA) sowie als Präsident der Union Europäischer Föderalisten (UEF). Corts, Udo Udo Corts, geboren 1955 in Hannover, 1974 Abitur, Wehrdienst (Major d. R.), anschließend Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Gießen, Bonn, Amsterdam, London; Referendariat, Assessor jur. 1985, anschließend Bundespresseamt bis 1995 (zuletzt Unterabteilungsleiter und Ministerialrat), 1995 – 1999 Stadtrat (Dezernent) in Frankfurt am Main, 1999 – 2003 Staatssekretär Hessisches Innenministerium, 2003 – 2008 Staatsminister Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, 2008 Dr. h. c. (Hanoi Law University), seit 2008 Mitglied des Vorstands der Deutschen Vermögensberatung AG. Detterbeck, Steffen Prof. Dr. Steffen Detterbeck, geboren 26. April 1956 in Traunreut/Oberbayern; Studium der Rechtswissenschaften in Passau; 1983 Erste Juristische Staatsprüfung; 1987 Zweite Juristische Staatsprüfung; 1989 Promotion (Dr. iur.); 1993 Habilitation (Dr. iur. habil.), Lehrbefugnis für Staats- und Verwaltungsrecht; seit 1995 Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Philipps-Uni-

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versität Marburg; seit 1998 Gastprofessur an der Bundesakademie für Öffentliche Verwaltung im Bundesministerium des Innern; seit 2004 Richter am Staatsgerichtshof des Landes Hessen; Autor von vier Lehrbüchern zum Öffentlichen Recht und eines Kommentars zum Handwerksrecht. Freund, Georg Professor Dr. Dr. h. c. Georg Freund, geboren am 1. März 1956, Studium der Rechtswissenschaften, Erstes und Zweites juristisches Staatsexamen 1980 bzw. 1983, Promotion zum Dr. iur. 1986 (Mannheim), Habilitation für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie 1990 (Mannheim), seit 1992 Inhaber der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Philipps-Universität Marburg, seit Oktober 1993 Mitglied der Ethikkommission am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg, Professor Honorario und Dr. h. c. der Universidad San Pedro in Chimbote (Perú), außerdem Ehrenmitglied des Colegio de Abogados del Santa in Chimbote (Perú). Genscher, Hans-Dietrich Hans-Dietrich Genscher wurde am 21. März 1927 in Reideburg bei Halle geboren. 1946 bis 1949 studierte er in Halle und Leipzig Rechtswissenschaften. Er übersiedelte 1952 nach Westdeutschland. Im selben Jahr trat er der FDP bei. 1954 wurde er Rechtsanwalt in Bremen. Von 1959 bis 1965 nahm er das Amt des Bundesgeschäftsführers seiner Partei wahr. Hans-Dietrich Genscher war 33 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages (1965 bis 1998). 1965 bis 1969 war er Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion. 1969 wurde er zum Bundesinnenminister ernannt. 1974 wurde er Bundesaußenminister und Vizekanzler, eine Position, die er bis zu seinem Rücktritt auf eigenen Wunsch im Jahre 1992 innehatte. Von 1974 bis 1985 war er zudem Bundesvorsitzender der FDP. Seit 1992 ist er Ehrenvorsitzender der FDP. Gornig, Gilbert H. Professor Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert Gornig, geboren 1950 in Deggendorf, Studium der Rechtswissenschaften und politischen Wissenschaften; Erstes Juristisches Staatsexamen 1976, Zweites Juristisches Staatsexamen 1979; Promotion (Dr. iur. utriusque) 1984, Habilitation (Dr. iur. utriusque habil.) 1986, Lehrstuhlvertretungen in Mainz, Bayreuth und Göttingen 1986 bis 1990. Professor an der Universität Göttingen 1990, dort Direktor des Instituts für Völkerrecht, Dekan 1994. Seit 1995 Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Marburg und geschäftsführender Direktor des Instituts für öffentliches Recht; Dekan 2006 bis 2012, daneben Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof im Hauptamt 1996 bis 2004. Ehrendoktorwürden aus Pécs (Ungarn), Sibiu (Rumänien) und Temuco (Chile). Gastprofessuren in Pécs und Sibiu, ferner Wuhan, Nanjing, Harbin (Volksrepublik China) und Kaohsiung (Taiwan). Präsident der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, des Göttinger Arbeitskreises und der Marburger Juristischen Gesellschaft. Griebel, Jörn Dr. Jörn Griebel studierte Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln, dem University College London und dem Institut universitaire de hautes études internationales in Genf. Juniorprofessor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Internationales Investitionsrecht und Geschäftsführer des International Investment Law Centre Cologne der Universität zu Köln.

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Herzog, Roman Professor Dr. Roman Herzog, Bundespräsident a. D., geboren in Landshut am 5. April 1934, 1957 Erste juristische Staatsprüfung nach dem Studium der Rechtswissenschaften in München, 1958 Promotion in München, 1958 bis 1964 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität München, 1961 Zweite juristische Staatsprüfung, 1964 bis 1966 Privatdozent an der Universität München, 1966 bis 1969 Professor an der Freien Universität Berlin für Staatsrecht und Politik, 1969 bis 1973 Professor für Staatslehre und Politik an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, 1971 bis 1972 Rektor, 1971 bis 1980 Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche Deutschlands, seit 1972 Ordentliches Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands, 1973 bis 1978 Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz am Sitz der Bundesregierung, 1978 bis 1980 Minister für Kultur und Sport des Landes Baden-Württemberg, 1978 bis 1983 Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU, 1980 bis 1983 Mitglied des Landtages und Innenminister von Baden-Württemberg, 1983 bis 1987 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, 1987 bis 1994 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, 1994 bis 1999 Bundespräsident. Seit dem Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident ist Roman Herzog wissenschaftlich und publizistisch tätig. Im Jahr 2000 leitete er den Konvent zur Erarbeitung der EU-Grundrechte-Charta und legte die Empfehlungen der Herzog-Kommission für die zukünftige Parteienfinanzierung vor. Seit dem 3. Oktober 2003 leitet er den „Konvent für Deutschland“, dessen Hauptthema die Verbesserung der Reformfähigkeit Deutschlands ist. Zudem ist er Kuratoriumsvorsitzender diverser Stiftungen in Deutschland. Horn, Hans-Detlef Professor Dr. Hans-Detlef Horn, geboren 1960. 1980 bis 1982 Ausbildung zum Bankkaufmann; 1982 bis 1987 Studium der Rechtswissenschaften; 1987 Erste Juristische Staatsprüfung; 1989 Promotion (Dr. iur.); 1992 Zweite Juristische Staatsprüfung; 1992 bis 1998 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bayreuth; 1998 Habilitation (Dr iur. habil.), Lehrbefugnis für Öffentliches Recht; 1998 bis 1999 Lehrstuhlvertretung an der Ludwig-Maximilians-Universität München; seit 1999 Professor für Öffentliches Recht an der Philipps-Universität Marburg; ständige Gastvorlesungen an Immanuel Kant Baltische Föderale Universität Kaliningrad, Russland (Königsberg i. Ostpreußen); Gastprofessuren an der Wuhan University sowie an der Nanjing University of Finance and Economics, Volksrepublik China; 2003 bis 2010 Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof; 2010 bis 2014 zunächst Prodekan, sodann Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Juncker, Jean-Claude Jean-Claude Juncker, 1974 Beitritt zur Christlich Sozialen Volkspartei (CSV), 1982 bis 1984 Staatssekretär für Arbeit und soziale Sicherheit, 1984 – 1989 Arbeitsminister, beigeordneter Minister mit Zuständigkeit für den Haushalt, 1989 bis 1994 Finanzminister und Arbeitsminister, 1994 bis 1995 Finanzminister und Arbeitsminister, 1995 bis 1999 Premierminister, Staatsminister, Finanzminister, Minister für Arbeit und Beschäftigung, 1999 bis 2009 Premierminister, Staatsminister, Finanzminister, Juli 2009 bis 2013 Premierminister, Staatsminister, Schatzamtsminister, 1995 bis 2013 Premierminister von Luxemburg, 2004 bis 2013 Vorsitzender der Euro-Gruppe, 2014 bis heute Präsident der Europäischen Kommission.

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Kauder, Volker Volker Kauder wurde 1949 in Hoffenheim geboren. Er studierte Rechts- und Staatswissenschaft an der Universität Freiburg und wurde 1990 erstmals für den Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen in den Deutschen Bundestag gewählt. Seit 2005 ist Volker Kauder Vorsitzender der CDU/ CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Kauder ist evangelisch und verheiratet. Kling, Michael Michael Kling, geboren 1972; Studium an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, Erstes Juristisches Staatsexamen 1998, Promotion 2000, Zweites Juristisches Staatsexamen 2001, Habilitation 2008. Seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Rechts, Handelsund Wirtschaftsrecht, Europarecht sowie Gewerblichen Rechtsschutzes an der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Wettbewerbs- und Kartellrecht, Internationales Wirtschaftsrecht, Vergaberecht. Mitherausgeber der Schriften zum Handels- und Wirtschaftsrecht im Peter Lang Verlag, Mitglied des Vorstands des Instituts für Genossenschaftswesen (ifG) in Marburg, Mitverfasser mehrerer Lehrbücher zum Wettbewerbs- und Kartellrecht. Lammert, Norbert Professor Dr. Norbert Lammert, geboren am 16. November 1948 in Bochum, katholisch, verheiratet, vier Kinder. Studium der Sozialwissenschaften, Diplom 1972, Promotion 1975. Mitglied der CDU seit 1966; seit 1986 Mitglied des Landesvorstandes der CDU NordrheinWestfalen, 1986 bis 2008 Vorsitzender des CDU-Bezirksverbandes Ruhr. Mitglied des Bundestages seit 1980. Von 1989 bis 1998 Parlamentarischer Staatssekretär. Von 2002 bis 2005 Vizepräsident, seit dem 18. Oktober 2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Lindsay, Denise Denise Lindsay, Jahrgang 1964, 1983 bis 1990 Studium der Geschichte, der Politikwissenschaft, der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn; 1990 Abschluss Magister Artium, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung Menkhaus, Heinrich Geboren 1955. 1974 bis 1979 Studium der Rechtswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 1980 Erstes Juristisches Staatsexamen. 1980 bis 1983 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Internationales Wirtschaftsrecht der Universität Münster, 1984 dort Promotion zum Doktor der Rechte. 1983 bis 1986 Rechtsreferendarzeit im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf, 1986 Zweites Juristisches Staatsexamen. 1987 bis 1989 Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung aus dem Japan Society for the Promotion of Science (JSPS)-Programm im Nihon Hikakuhô Kenkyûjo (Japanisches Institut für Rechtsvergleichung), Universität Chûô, Tôkyô. 1989 bis 1993 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Forschung gehörenden Deutschen Institut für Japanstudien, Tôkyô. 1994 bis 1995 (Gründungs-)Geschäftsführer des Ständigen Büros (Director, Permanent Office) der Europäischen Gesellschaft für Japanforschung (European Association for Japanese Studies [EAJS]), Leiden, Niederlande. 1995 bis 2001 Leiter der Abteilung Recht und Steuern der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Japan, Tôkyô. 2001 bis 2008 Professor für Japanisches Recht am Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Uni-

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versität Marburg. Seit April 2008 Lehrstuhl für Deutsches Recht am Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Meiji, Tôkyô, seit April 2009 auch an der Rechtsgraduiertenschule der Universität Meiji. Merkel, Angela Dr. Angela Merkel ist seit November 2005 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. 1990 wurde sie Mitglied der CDU Deutschlands und erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt. Von 1991 bis 1994 war die promovierte Physikerin Bundesministerin für Frauen und Jugend und von 1994 bis 1998 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. 1998 wurde sie Generalsekretärin der CDU Deutschlands, seit 2000 ist sie deren Vorsitzende. Das Amt der Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nahm sie von 2002 bis zu ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin wahr. Müller-Franken, Sebastian Sebastian Müller-Franken, geb. am 5. 12. 1963. Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg; Promotion zum Dr. iur. (Mainz 1996) und Habilitation für die Fächer Staats-, Verwaltungs-, Finanz- und Steuerrecht (Passau 2002). 2005 bis 2006 Universitätsprofessor in Münster, seit 2006 o. Professor in Marburg. Pohl, Reinfried Professor Dr. Reinfried Pohl, geboren am 26. April 1928 im nordböhmischen Zwickau (heute Cvikov), gehörte zu den herausragenden Unternehmerpersönlichkeiten Deutschlands. Mit seinem Allfinanz-Konzept hat er den Markt der privaten Vorsorge revolutioniert und Millionen von Menschen den Weg zur privaten Vermögensbildung und Vorsorge erleichtert. Mit der von ihm 1975 gegründeten und 39 Jahre lang geführten „Deutsche Vermögensberatung Aktiengesellschaft DVAG“, dem mit Abstand größten eigenständigen Finanzvertrieb, hat er Finanzgeschichte geschrieben. Der 2014 im Alter von 86 Jahren verstorbene Sudentendeutsche hatte Marburg nach seiner Flucht 1948 aus der DDR zu seiner Wahlheimat gemacht, dort studiert und eine Familie gegründet. Im April 1953 beendete er sein Studium der Rechtswissenschaften und wurde im Dezember desselben Jahres zum Dr. jur. promoviert. Seine Verbundenheit zu Universität und Stadt hat der Ehrensenator und zweifache Ehrendoktor der Philipps-Universität als großzügiger Förderer von Wissenschaft, Medizin, sozialen Einrichtungen und des Sports immer wieder unter Beweis gestellt. Der „Finanzpapst“ Pohl ist im In- und Ausland mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt worden. Besonders stolz war er auf eine: die Ehrenbürgerwürde Marburgs. Rhein, Boris Boris Rhein (CDU) ist Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst. 2009 wechselte er als Stadtrat seiner Geburtsstadt Frankfurt in das Amt des hessischen Innenstaatssekretärs. 2010 wurde er Minister des Innern und für Sport, bevor er 2014 das Wissenschaftsressort übernahm. Die politischen Schwerpunkte des 43-jährigen Juristen liegen auf der Stärkung des Wissenschafts- und Forschungsstandortes Hessen. Dazu gehören insbesondere die Hochschulmedizin sowie der Ausbau der medizinischen Forschung an den Universitäten und Unikliniken des Landes. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender des Universitätsklinikums Frankfurt. Als Wissenschaftsminister hat er sich beispielsweise dafür eingesetzt, dass Mediziner in Marburg voraussichtlich ab Ende 2015 schwerstkranke Patienten mit der neuen Methode der Ionenstrahltherapie behan-

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deln können. Zugleich haben die Wissenschaftler der Philipps-Universität Marburg die einmalige Gelegenheit, diese innovative Behandlungsmethode intensiv zu erforschen. Riesenhuber, Heinz Dr. Heinz Riesenhuber MdB vertritt seit 1976 erfolgreich die Interessen der Region Frankfurt/Main-Taunus im Deutschen Bundestag. Als Bundesforschungsminister prägte er 1982 bis 1993 die Forschungs- und Innovationspolitik des Standorts Deutschland. Im Wirtschaftsausschuss des Bundestages setzt er sich seit 1993 besonders für die Förderung junger Technologieunternehmen und des innovativen Mittelstands ein. Seit 2006 ist er Präsident der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft und seit 2009 Alterspräsident des Deutschen Bundestages. Er ist zudem Vorstands- und Präsidiumsmitglied der CDU Hessen, Honorarprofessor der GoetheUniversität Frankfurt, und hat zahlreiche Unternehmen in ihren Aufsichtsgremien begleitet. Dr. Riesenhuber ist verheiratet und hat zwei Söhne und zwei Töchter. Rost, Friedhelm Professor Dr. iur. Friedhelm Rost, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht a. D., 1944 geboren in Korbach/Waldeck, 1963 bis 1968 Studium der Rechtswissenschaften in Marburg und Göttingen, 1972 Promotion an der Philipps-Universität Marburg, 1973 Zweites Staatsexamen, 1973 bis 1975 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesarbeitsgericht, 1975 bis 1986 Richter/Direktor des Arbeitsgerichts Marburg, 1986 bis 1991 Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Frankfurt, 1991 Richter am Bundesarbeitsgericht, 2000 Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht/Zweiter Senat, 2009 Eintritt in den Ruhestand. Seit 2001 Honorarprofessor an der Philipps-Universität Marburg. Rothmund, Matthias Professor Dr. med. Matthias Rothmund, ehemaliger Professor für Chirurgie und Direktor der Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie des Klinikums der Philipps-Universität Marburg (1987 bis 2008), ehemaliger Dekan des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität (2007 bis 2013), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 2004/2005, Gründungsmitglied des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, Mitglied des Medizinausschusses des Wissenschaftsrates (2000 bis 2007), Ehrenmitglied der Société Française de Chirurgie, des Royal College of Surgeons (Edinburgh) und der Association of Surgeons of Great Britain and Ireland, Fellow des American College of Surgeons, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften „Leopoldina“. Schäfer, Jürgen R. Professor. Dr. med. Jürgen R. Schäfer ist Internist, Kardiologe, Endokrinologe und Intensivmediziner. Jürgen Schäfer ist mit der Internistin und Gastroenterologin Dr. med. Isabel Restrepo-Schäfer verheiratet und gemeinsam haben sie zwei Kinder. Er ist seit 2005 Stiftungsprofessor der „Dr. Reinfried Pohl Stiftung“ und seit 2013 Direktor des „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (ZusE) am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Marburg. Jürgen Schäfer wurde 1956 in Karlsruhe geboren, wo er auch seine Jugend- und Schulzeit verbrachte. Er studierte zunächst Biochemie in Tübingen, wechselte 1978 zum Studium der Medizin an die Universitäten Marburg und Frankfurt. Seit 1984 ist Jürgen Schäfer Arzt. Er war mehr als vier Jahre Wissenschaftler an den „National Institutes of Health“ (NIH), Molecular Disease Branch, in Bethesda MD, USA. Dort entwickelte er ein neuartiges Diagnostikverfahren, mit dessen Hilfe seltene Erkrankungen aufgeklärt werden konnten. Dort lernte er auch das

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US-amerikanische Gesundheits- und Ausbildungssystem intensiv kennen. Schäfer ist Autor von mehr als 100 wissenschaftlichen Fachbeiträgen sowie Herausgeber mehrerer Bücher. Bekannt wurde Schäfer durch sein Interesse an komplizierten, seltenen Erkrankungen und durch sein innovatives „Infotainment“-Lehrkonzept, bei dem er populäre TV-Serien, wie die Serie „Dr. House“, im Unterricht für seine Medizinstudenten nutzt. Dieser Lehransatz in Verbindung mit ungewöhnlichen klinischen Leistungen brachte ihm den Spitznamen „deutscher Dr. House“ (Deutsches Ärzteblatt, Die Welt) ein. Jürgen Schäfer erhielt 2010 den „Ars legendi“ als herausragenden bundesdeutschen Lehrpreis der Hochschulmedizin und 2013 den „Pulsus Award“ als bester Arzt des Jahres. Schanze, Erich Professor Dr. Dr. h. c. Erich Schanze LL.M. (Harv.), Jahrgang 1942, bis 2008 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Rechtsvergleichung in Marburg und gewähltes Mitglied des Universitätssenats; gleichzeitig von 2002 bis 2013 in St. Gallen und Bergen/Norwegen Gastprofessor für Law and Economics; lehrt noch in Bergen. Jurastudium in Frankfurt 1962 bis 1966, postgraduales Studium in Edinburgh 1967 und Harvard 1968 bis 1969, dort LL.M. In Frankfurt Promotion im Gesellschaftsrecht, Habilitation über internationale Investitionsverträge. 1972 bis 1986 Rechtsanwalt in Frankfurt. Vor Marburg Professuren in Heidelberg und Oldenburg. Gastforscher in Harvard, Stanford und Berkeley; Gastprofessor u. a. in Chicago, Columbia und Virginia, St. Petersburg und Bond, Australien. 1986 bis 1988 im Harvard-Projekt Hauptberater bei der Schaffung des russischen GmbH-Rechts. 2006 Ehrenpromotion in St. Gallen. Schöbener, Burkhard Prof. Dr. Burkhard Schöbener (*1961) studierte Rechtswissenschaften in Marburg und Gießen. Die beiden Staatsexamina absolvierte er 1987 und 1992 in Hessen. 1990 wurde er von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg zum Dr. iur. utr. promoviert. Im Rahmen seiner Assistentenzeit in Würzburg habilitierte er sich 1998. Seit 2002 ist er Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität zu Köln, seit 2008 auch einer der Gründungsdirektoren des International Investment Law Centre Cologne (IILCC). Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen im Völkerrecht- und Europarecht, im Internationalen Wirtschaftsrecht sowie in der Allgemeinen Staatslehre. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter. Schulte, Mirko Mirko Schulte, geboren 1966 in Bünde (Westfalen), verheiratet und zwei Kinder, Abitur 1985, Wehrdienst von 1985 bis 1987 in Flensburg, Studium der Rechtswissenschaften in Marburg von 1987 bis 1993, Rechtsreferendariat in Marburg, Gießen und Frankfurt von 1994 bis 1996, Ernennung zum Richter am 1. Dezember 1996, Tätigkeit an verschiedenen Land- und Amtsgerichten, u. a. von 2002 bis 2009 Vorsitzender des Schöffengerichtes in Marburg. Seit 1. November 2009 Direktor des Amtsgerichts Biedenkopf. Ehrenamtlich seit 2007 als Vorsitzender des Fliednervereins Butzbach e.V., als Zweiter Vorsitzender des Deutsch-Polnischen Juristenvereins Walbrzych Marburg e.V. und als Vorstandsmitglied der Eingliederungshilfe Marburg tätig.

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Schüssel, Wolfgang Dr. Wolfgang Schüssel, Österreichischer Bundeskanzler a. D., Jahrgang 1945, war von 2000 bis 2007 österreichischer Bundeskanzler und in dieser Funktion im 1. Halbjahr 2006 EU-Ratsvorsitzender. In den Jahren 1989 bis 2000 war er als Wirtschaftsminister und Außenminister maßgeblich am Beitritt Österreichs zur Europäischen Union verantwortlich. Von 1979 bis 2011 war Wolfgang Schüssel Abgeordneter zum Nationalrat. Heute widmet er sich als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen (ÖGAVN) den österreichischen Außenbeziehungen, insbesondere der Europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik. Er ist Mitglied der Bertelsmann-Stiftung sowie des Aufsichtsrates des deutschen Energiekonzerns RWE AG. Schwarz-Schilling, Christian Dr. Christian Schwarz-Schilling, geboren 1930, studierte ostasiatische Kultur und Sprachwissenschaften und Geschichte in München, 1956 Promotion zum Dr. phil., danach Banklehre in Hamburg, 1957 bis 1982 Geschäftsführer in Büdingen der Accumulatorenfabrik Sonnenschein GmbH, 1993 bis 2002 Geschäftsführer der Dr. Schwarz-Schilling und Partner GmbH, Telekommunikationsberatungsunternehmen. Mitglied der CDU seit 1960, Landesvorstand Hessen ab 1964, Mitglied des Hessischen Landtags 1966 bis 1976, Generalsekretär 1967 bis 1980, erster stellvertretender Landesvorsitzender 1967 bis 1996, stellvertretender Fraktionsvorsitzender 1970 bis 1976, Vorsitzender des Koordinierungsausschusses für Medienpolitik der CDU/CSU 1975 bis 1983, Mitglied des Deutschen Bundestags 1976 bis 2002, stellvertretender Bundesvorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU 1977 bis 1997, Präsident des Exekutivbüros der Europäischen Mittelstands-Union 1979 bis 1982. Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen bzw. für Post- und Telekommunikation 1982 bis 1992. Ernennung zum Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina 2006 bis 2007. Seiters, Rudolf Rudolf Seiters wurde geboren am 13. Oktober 1937 in Osnabrück, ist verheiratet mit Ehefrau Brigitte, hat drei Töchter und wohnt in Papenburg/Ems. Nach dem Abitur in Osnabrück studierte er Rechts- und Staatswissenschaften in Münster und wurde nach der Ersten und Zweiten Juristischen Staatsprüfung Regierungsassessor beim Regierungspräsidenten in Osnabrück. Seit 1958 Mitglied der CDU wurde er 1969 erstmalig in den Deutschen Bundestag gewählt und in acht weiteren Bundestagswahlen als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter bestätigt. 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Kanzleramtes, 1991 Bundesminister des Innern (Rücktritt am 4. Juli 1993), danach stellvertretender Fraktionsvorsitzender und von 1998 bis 2002 Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Seit 2003 ist Rudolf Seiters Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Stoiber, Edmund Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident a. D., promovierter Jurist, wurde 1974 im Alter von 33 Jahren erstmals als Abgeordneter in den bayerischen Landtag gewählt, dem er bis 2008 angehörte. 1978 berief ihn Franz Josef Strauß zum Generalsekretär der Christlich-Sozialen Union. Er war 25 Jahre lang Mitglied der bayerischen Staatsregierung, seit 1982 als Leiter der Staatskanzlei, ab 1988 als Innenminister und von 1993 bis 2007 als Ministerpräsident. Nach sieben Jahren als Leiter der High Level Group zum Bürokratieabbau in Europa wurde er 2014 zum ehrenamtlichen Sonderberater des EU-Kommissionspräsidenten für bessere Rechtsetzung be-

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rufen. Stoiber ist Ehrenvorsitzender der Christlich-Sozialen Union in Bayern, deren Parteichef er von 1999 bis 2007 war. Stompfe, Philipp Philipp Stompfe, LL.M. (London), Studium der Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität in Marburg. Arabicum am Landesspracheninstitut Nordrhein-Westfalen. Masterstudiengang an der Queen Mary University in London/Großbritannien im International Business Law & International Dispute Resolution. Seit 2011 Promotion an der Universität zu Köln. Schwerpunkt seiner Promotion ist die Gestaltung und Sicherung internationaler InvestorStaat-Verträge in der arabischen Welt am Beispiel Libyens und Katars. Seit 2013 Präsident der Marburger Gesellschaft für wissenschaftliche Zusammenarbeit mit arabischen Staaten e.V. Seit 2006 Mitglied der Marburger Stadtverordnetenversammlung. Von 2007 bis 2013 CDU Fraktionsvorsitzender in der Marburger Stadtverordnetenversammlung und von 2009 bis 2013 Parteivorsitzender der CDU Marburg. Tauber, Peter Dr. Peter Tauber MdB, Jahrgang 1974, ist seit Dezember 2013 Generalsekretär der CDU Deutschlands. Er trat 1992 in die CDU ein, war von 2003 bis 2009 Landesvorsitzender der Jungen Union Hessen und ist seit Oktober 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er war Pressesprecher der Deutschen Vermögensberatung AG in Frankfurt am Main und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ullrich, Christoph Dr. Christoph Ullrich, geboren 1960, studierte Rechtswissenschaft an der Justus Liebig-Universität in Gießen. Seit 1989 ist er als Richter im hessischen Justizdienst und war dann an den Amtsgerichten Wiesbaden, Hadamar und Weilburg tätig. 1999 bis 2001 wirkte er für das Justizministerium an der hessischen Landesvertretung in Berlin. Danach arbeitete er im Justizministerium in Wiesbaden als Pressesprecher. Von 2002 bis 2006 war er Direktor des Amtsgerichts Dillenburg. Danach am Landgericht Marburg Vizepräsident und seit 1. März 2008 Präsident. Seit 2014 ist er Präsident des Landgerichts Limburg. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Familienrichter ist er als Autor von Fachliteratur und als Referent in der Fortbildung von Rechtsanwälten aktiv. Seit seiner Jugend ist er politisch aktiv und war während des Referendariats Referent eines Bundestagsabgeordneten sowie viele Jahre Mitglied der Gemeindevertretung und des Kreistages. Vaupel, Egon Seit 2005 ist Egon Vaupel direkt gewählter Oberbürgermeister der Universitätsstadt Marburg. Er gehört dem Hauptausschuss des Deutschen Städtetags an. Zuvor war er von 1997 bis Juni 2005 bereits Bürgermeister in Marburg an der Lahn. Vaupel wurde 1950 in Schlierbach im Landkreis Marburg-Biedenkopf geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann und war in diesem Beruf bis 1974 in der Industrie tätig. Nach Abschluss der Laufbahnprüfung zum Steueranwärter im mittleren Dienst arbeitete Egon Vaupel bis 1997 in der Finanzverwaltung Hessen. Zu seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten gehören seine Positionen als Schöffe beim Jugendschöffengericht und als Schiedsmann.

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Vogel, Bernhard Professor Dr. Dr. h. c. mult. Bernhard Vogel, geboren 1932 in Göttingen, Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte, Soziologie und Volkswirtschaft in Heidelberg und München. 1965 bis 1967 Mitglied des Bundestages. 1967 bis 1976 Kultusminister und 1976 bis 1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, 1971 bis 1988 Mitglied des Landtages Rheinland-Pfalz. 1972 bis 1976 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1992 bis 2003 Ministerpräsident von Thüringen. 1994 bis 2004 Mitglied des Landtages Thüringen. 1989 bis 1995 und 2001 bis 2009 Vorsitzender und seit 2010 Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Waigel, Theo Dr. Theo Waigel, geboren am 22. April 1939 in Oberrohr (Schwaben); katholisch; verheiratet, drei Kinder. 1959 Abitur in Krumbach. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in München und Würzburg, 1963 Erstes juristisches Staatsexamen, 1967 Promotion und Zweites juristisches Staatsexamen. Gerichtsassessor bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht München I. 1969 bis 1970 persönlicher Referent von Anton Jaumann im Bayerischen Staatsministerium der Finanzen und 1970 bis 1972 im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr. 1961 bis 1970 Kreisvorsitzender der Jungen Union Krumbach, 1967 bis 1971 Bezirksvorsitzender der Jungen Union Schwaben, 1971 bis 1975 Landesvorsitzender der Jungen Union Bayern. 1973 bis 1988 Vorsitzender der Grundsatzkommission der CSU, 1987 bis 1988 Bezirksvorsitzender der CSU Schwaben. November 1988 bis Januar 1999 Vorsitzender der CSU. 1966 bis 1972 Mitglied des Kreistages Krumbach. Mitglied des Bundestages von 1972 bis 2002. Oktober 1982 bis April 1989 Vorsitzender der CSU-Landesgruppe und Erster stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion; 21. April 1989 bis 26. Oktober 1998 Bundesminister der Finanzen. Seit März 1999 Rechtsanwalt in München und von 2009 bis 2013 Compliance Monitor bei Siemens. Werner, Jochen Alfred Professor Dr. Jochen Alfred Werner studierte Humanmedizin in Kiel und legte 1987 die ärztliche Prüfung ab. Er habilitierte sich für das Gebiet der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde im Jahre 1993. Im Jahr 1998 nahm er den Ruf auf den Lehrstuhl für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde an die Philipps-Universität Marburg an. Seitdem leitet er die HNO-Klinik der Marburger Universität. Während seiner Tätigkeit als Studiendekan der Medizinischen Fakultät von 2004 bis 2006 begleitete er den Prozess der Fusionierung und Privatisierung der Universitätsklinika Gießen und Marburg. Seit 2011 ist Werner Ärztlicher Geschäftsführer des Marburger Universitätsklinikums, seit 2013 führt er diese Tätigkeit hauptamtlich aus, zudem ist er seit 2014 Sprecher des Medical Board der Rhön-Klinikum AG. Ebenfalls 2011 wurde er in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina (Nationale Akademie der Wissenschaften) aufgenommen.