Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 6. Band (1965) [1 ed.] 9783428423521, 9783428023523

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 6. Band (1965) [1 ed.]
 9783428423521, 9783428023523

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N KUNISCH

NEUE FOLGE / SECHSTER BAND 1965

Das »Literaturwissenschaftlidie Jahrbuch' wird im Auftrage der Görresgesellschaft herausgegeben von Professor Dr. Hermann Kunisch, 8 München 19, NürnbergerStraße 63. Schriftleitung: Dr. Schwalbenstr. 4a.

Wolf gang Frühwald,

8901 Stadtbergen

über Augsburg,

Das .Literaturwissenschaftliche Jahrbuch' erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an den Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Den Verfassern wird ein Merkblatt für die typographische Gestaltung übermittelt. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Schriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot, 1 Berlin 41 (Steglitz), Dietrich-Schäfer-Weg 9.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH SECHSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN

KUNISCH

N E U E F O L G E / SECHSTER B A N D

1965

DUNCKER

& HÜMB L OT /

BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks der photomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, vorbehalten. © 1966 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1966 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

H A N S PETERS f Diesem 6. Band des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs sollte ein Gruß w o r t zum 70. Geburtstag von Professor D r . D r . h. c. Hans Peters, dem Präsidenten der Görres-Gesellschaft, vorangestellt werden. N u n müssen es Worte des Gedenkens sein, denn Hans Peters hat seinen 70. Geburtstag, den zu feiern die Görres-Gesellschaft in diesem Jahr ihre Generalversammlung in K ö l n abhalten wollte, nicht mehr erlebt. I n der Nacht v o m 15. zum 16. Januar 1966 ist er unerwartet einem vielschichtigen, mit Energie, klugem Uberblick und einem unbesiegbaren Optimismus betriebenen Werk entrissen worden. Freunde und Kollegen stehen aufs tiefste betroffen vor der Tatsache, daß eine Fülle von wissenschaftlichen und organisatorischen Aufgaben von ihm nicht mehr vollendet werden können. M a g das auch zum Wesen menschlichen Daseins gehören, daß unsere Gedanken nicht Gottes Gedanken sind, und mag beim Tode jedes in der Öffentlichkeit Wirkenden bedauert werden, wievieles nun ungetan bleiben muß: in diesem Fall ist diese Feststellung mehr als eine beiläufige Erinnerung. Begabung und Energie gibt es auch sonst; hier aber war jemand so genau und m i t solcher Sicherheit auf ein nur von ihm leistbares Werk bezogen, wie es selten der Fall ist. Gut, er w i r d ersetzt werden, auch i n unserer Gesellschaft, aber sein wissenschaftlicher und organisatorischer Stil kann nicht wiederholt oder nachgeahmt werden, und manche der von ihm geplanten Aufgaben werden für immer liegen bleiben müssen. Dafür werden andere, einem anderen menschlichen, charakterlichen und wissenschaftlichen Zuschnitt gemäßere Aufgaben von seinen Nachfolgern geleistet werden. Z u m Besonderen von Hans Peters gehört es, und das macht seinen Fortgang für alle Betroffenen äußerst schmerzlich, daß über alles Sachliche hinaus der Mensch Hans Peters unersetzbar bleibt. Wie souverän auch immer seine Arbeitsleistung im großen und im kleinen gewesen sein mag, der fühlbarste Verlust ist doch der, daß seine liebenswürdige, nach außen geöffnete Persönlichkeit dem Wirken entzogen ist. Was den besten Reiz seines Wesens ausmacht, scheint m i r dieses zu sein, daß bei aller scheinbaren Leichtigkeit und optimistischen Zuversicht seines Wirkens ein tief verborgenes, nur selten sich zu erkennen gebendes Wissen um die Tiefen, Brüche und Abgründigkeiten des Daseins, Lebensführung, Handeln und Reden bestimmte. Wer er in der Tiefe wirklich gewesen ist, das wissen w o h l nur die, die täglich mit ihm umgehen durften.

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Hans Peters f

Der Herausgeber der Neuen Folge des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs hat dem Verstorbenen viel zu danken, und er tut es hier in aller Öffentlichkeit mit großer Bewegung. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, als Hans Peters und ich an der Humboldt-Universität in Berlin lehrten, haben w i r die ersten Gespräche über die Weiterführung der Arbeit in der literaturwissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft besprochen. Wenn das Jahrbuch wiedererstehen konnte, so ist es zu einem guten Teil der Initiative, der stetigen Ermunterung und der Zustimmung von Hans Peters zu danken. N i e ist mir in jenen schweren Jahren, während des Krieges und nach dem Kriege, so viel Aufmunterung und so viel förderndes Verständnis entgegengebracht worden, wie von Hans Peters, obwohl doch unsere wissenschaftlichen Gebiete so weit auseinanderlagen. Er konnte auf eine A r t zustimmen und für Gehörtes oder Gelesenes danken, die dem, der es erfahren durfte, unvergeßlich bleibt. V o n dieser seiner anerkennenden, fördernden Zustimmung getragen war auch unsere letzte Begegnung gegen Ende der Mannheimer Görres-Tagung, als w i r beide, später kam auch sein Bruder K a r l Peters dazu, nach einem Bruckner-Konzert von Eugen Jochum beim Wein miteinander saßen. Die wissenschaftliche und organisatorische Leistung von Peters zu würdigen, entzieht sich meinen Möglichkeiten. H i e r sollte nur aus der Erinnerung gedankt werden für persönliche Förderung u n d für die sachliche Unterstützung der A r b e i t dieses Jahrbuchs. Hermann

Kunisch

INHALT AUFSÄTZE Gottfried Weber (Frankfurt am Main), Die Grundidee in Wolframs 'Willehad 1 Barbara Könneker (Frankfurt am Main), Die Stellung der Titurelfragmente im Gesamtwerk Wolframs von Eschenbach 23 Hermann Kunisch (München), Die mittelalterliche Mystik und die deutsche Sprache. Ein Grundriß 37 Hans Rheinfeider (München), Gedichte um Christi Himmelfahrt 91 Egbert Krispyn (Philadelphia), Kleist und Goethe 109 Brentano-Studien zusammengestellt von Siegfried Sudhof (Frankfurt am Main): 121 I. Klaus-Dieter Krabiel (Frankfurt am Main), Die beiden Fassungen von Brentanos 'Lureley* 122 I I . Hansjörg Holzamer (Frankfurt am Main), Clemens Brentano: 'Der Epheu' 133 I I I . Christa Holst (Frankfurt am Main) und Siegfried Sudhof (Frankfurt am Main), Die Lithographien zur ersten Ausgabe von Brentanos Märchen 'Gockel, Hinkel, Gakeleja' (1838) 140 Friedrich Carl Scheibe (Wolfenbüttel), Symbolik der Geschichte in Eichendorffs Dichtung 155 Reinhold Wesemeier (Hildesheim), Zur Gestaltung von Eichendorffs satirischer Novelle 'Audi ich war in Arkadien' 179 Gerald Gillespie (Binghamton, New York), Zum Aufbau von Eichendorffs 'Eine Meerfahrt' 193 Johannes Kleinstück (Hamburg), Don Cäsar und die Ordnung. Zu Grillparzers 'Ein Bruderzwist in Habsburg' 207 Margarete Kupper (Würzburg), Wiederentdeckte Texte Else Lasker-Schülers I I 227 John Hennig (Basel), Zu Rilkes Gedicht 'Todes-Erfahrung' 235 John M. Spalek (Los Angeles, Calif.), Der Nachlaß Ernst Tollers. Ein Bericht 251 John M. Spalek (Los Angeles, Calif.) und Wolf gang Frühwald (Bochum), Ernst Tollers amerikanische Vortragsreise 1936/37. Mit bisher unveröffentlichten Texten und einem Anhang 267 BUCHBESPRECHUNGEN Clemens Brentano , Werke . Dritter Band. Hrsg. von Friedhelm Kemp. (Von Wolf gang Frühwald) 313 Kurt Reichenberger (Kassel), Baudelaire und die Dichtung Edgar Allan Poes. Kritische Bemerkungen zur Methodik eines Deutungsversuchs 321 Namen- und Sachregister

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DIE GRUNDIDEE I N WOLFRAMS

'WILLEHALM'*

V o n Gottfried Weber

Was muß man tun, um die Grundidee der Willehalmdichtung W o l f rams von Eschenbach herauszukristallisieren? Es ist dies eine Frage, die aufs engste mit der anderen, in der Forschung bereits berühmt gewordenen Frage zusammenhängt: Wie hat in der Phantasie des Dichters der Schluß seines Wortkunstwerks ausgesehen? M a n w i r d also gut tun, m i t einer kursorischen Skizzierung der erhaltenen Schlußszene einzusetzen, etwa mit der Versgruppe 461 ff. Der Dichter bringt ganz klar zum Ausdruck, daß der Markgraf Willehalm den außerordentlichen Sieg, den er in der zweiten Alischanzschlacht errungen hat, subjektiv und für seine Person als eine Niederlage ansieht. Der Dichter zeigt ihn uns als einen Menschen, der, obwohl in der Situation des Siegers, schlechterdings nicht zu trösten ist, der ein über das andere M a l in bewegte Klagen ausbricht, und den die Vorwürfe seiner Brüder, er sei kein echter Heimerichsohn, sondern weichlich und weibisch, nicht davon abhalten können, i n dieser Stimmung scheinbar unüberwindlicher Klage zu verharren. I n eben dieser Geistesverfassung werden jetzt die heidnischen Gefangenen, das heißt die berühmten fürstlichen Persönlichkeiten unter ihnen, vor den Sieger Willehalm gebracht, und es ergibt sich nun in der erhaltenen Schlußszene die Begegnung zwischen dem Markgrafen und dem großen Heiden Matribleiz, dem K ö n i g von Skandinavien. E i n ganz besonders ausgezeichneter Mann, hochbedeutend in jeder Hinsicht ist der skandinavische Verbündete des Heidenkaisers Terramer — hervorragend gleichermaßen nach seinem Äußeren wie nach seinem Inneren. V o n diesem Fürsten läßt sich der Markgraf in ritterlich-höfischer Weise Sicherheit geloben. Die anderen Gefangenen werden, wie w i r sagen würden, schwer eingekerkert — * Vortrag, gehalten in der Universität Lyon (März 1964). Der Druck wahrt bewußt die Vortragsform und verzichtet fast ganz auf Belege. Er ist als skizzenhafte Vorstufe eines Buches über Wolframs 'Willehalm' anzusehen, das im Steiner-Verlag in Wiesbaden voraussichtlich 1967 erscheinen soll. Die gesamte Beweisführung für die Gedanken des Vortrags wird erst in der Ausarbeitung des Buches vorgelegt werden. 1 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 6. Bd.

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fünfundzwanzig Fürsten der Gegenseite sind dies, die bei der Flucht nach dem Meer ergriffen wurden. U n d nun spricht Willehalm m i t höchster Formvollendung, mit höfischer Zucht den Gefangenen Matribleiz an. Das Erste, was er sagt, ist schon das Entscheidende: Ich weiß sehr genau, daß I h r m i t Gyburg verwandt seid (461,24)! U m ihretwillen! Das ist der Schlüssel! U m Gyburgs willen, eben weil er ihr Verwandter ist, w i r d Matribleiz aufs höchste geehrt und seine Tapferkeit freimütig anerkannt (462). Willehalm eröffnet ihm, er solle v o n den Gefangenen eine große Menge an sich nehmen und m i t ihnen zu den heidnischen Heerführern zurückkehren. Die toten Feinde aber soll man aufsuchen und ehrenvoll aufbahren, damit sie nicht Wölfen und Raben zum Fräße werden. I n kostbarer Weise soll man sie einbalsamieren — so, als wenn jeder v o n ihnen in seinem eigenen Reiche gestorben wäre. Matribleiz ist ergriffen von dieser großmütigen Gesinnung des Siegers; tief verneigt er sich, ja, er wirft sich Willehalm zu Füßen, aber sehr rasch w i r d er v o n diesem aufgehoben. Dann ergibt sich alsbald vollkommenes Einvernehmen zwischen den Beiden. Matribleiz muß die Niederlage eingestehen, aber er legt Wert darauf, vor dem Sieger festzustellen, daß er bis zum Äußersten Widerstand geleistet hat, auch nicht auf der Flucht im Flusse Larkant ergriffen wurde, sondern daß er durchaus mit dem Gesicht nach vorne in die Gefangenschaft geraten ist. Willehalm bestätigt ihm die Wahrheit seiner Aussage. U n d nun folgt eine Szene von tiefer Eindringlichkeit (464): Willehalm selbst nimmt das W o r t und erzählt dem K ö n i g von einem ihn höchstbewegenden Fund, den er auf dem Schlachtfeld gemacht hat. Als nämlich der heidnische Oberbefehlshaber, also Kaiser Terramer, überwunden war, zwar besiegt von Willehalm, aber nicht ohne daß auch der Markgraf von dem Schwert seines Gegners eine gefährliche Wunde empfangen hatte, die ihn aufs äußerste zu schwächen drohte, da hat der christliche Heerführer blutend zu einem preimerün, einem Zelt, hingefunden. Erholung suchen wollte der Ermattete und ein H e i l m i t t e l für seine Verletzung beschaffen. So t r i t t er i n jenes Zelt ein. Was er dort findet, sind 23 Sarkophage unter der Obhut einer hohen priesterlichen Persönlichkeit der Heiden — 23 Särge: M a n horcht auf: diese Z a h l ist aus der ersten Alischanzschlacht wohlbekannt; es w i r d sich zeigen, welche Bewandtnis es damit hat. Willehalm ist tief beeindruckt v o n der kostbaren Leichenaufbahrung, die er hier vorfindet. A u f seine Frage weist der Priester auf Terramer hin, der diese hohe Totenehrung veranlaßt hat. Der Markgraf möchte die Ruhe der Toten nicht stören; ihm ist feierlich, auch unheimlich zumute! Seinem Banner gibt er kurz darauf Befehl, dieses Zelt in besonders sorgfältiger Weise zu beschützen. Aber zunächst findet er an dieser Stätte, was er sucht, Balsam, den ihm der Priester gibt — einen Balsam von großer H e i l k r a f t , mit dem er nun seine Wunde stillen kann,

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so, daß er also nicht verblutet (465). D a n n gibt er Befehl, daß die aufgebahrten 23 Fürsten von der getauften Erde i n ihre eigene Heimat zurückgeführt und dort nach den Gesetzen heidnischer religiöser Sitte bestattet werden sollen. Matribleiz, dem er dies alles erzählt, möge die Überführung selbst leiten! Aber noch mehr geschieht. Eben jetzt schenkt Willehalm seinem erlauchten Gefangenen die Freiheit wieder, er entläßt ihn aus der Gefangenschaft; v o l l und ganz erkennt er ihn als gleichberechtigt an. Z u Terramer soll Matribleiz zurückkehren und ihm sagen, daß er, Willehalm, keine Schuld daran trage, daß der Heidenkaiser ein so gigantisches Heer ausgerüstet und übers Meer gebracht hat. Die besondere Würde und H o heit des heidnischen Oberbefehlshabers erkennt Willehalm an, obwohl dieser gleichzeitig der weltliche A r m des Baruc in Baldac, also des geistlichen Oberhauptes der Sarazenen ist. D a m i t beginnen sich weitverzweigte, sehr tiefe Zusammenhänge zu enthüllen: Gerne, so erklärt Willehalm dem M a tribleiz, würde er, der Markgraf, seinem kaiserlichen Gegner seine H u l d i gung darbringen — allerdings mit einigen Einschränkungen: dem christlichen Gotte wolle er auf keine Weise abschwören, vielmehr seinem christlichen Glauben i n jeder Situation treu bleiben — das Mysterium der Taufe möchte er allezeit bewahren, und dazu noch eines: sein Weib, also GyburgArabella, die Konvertitin, w i l l Willehalm um keinen Preis zurückgeben. Er habe ja nun unter überzeugenden Beweis gestellt, was man von ihm zu erwarten habe, wenn Solches und Ähnliches v o n ihm gefordert würde! Nicht aus Furcht sende er jetzt durch Matribleiz lebende und tote Gefangene an seinen großen Gegner zurück, sondern er tue dies, weil er ihn und seine A r t ehren wolle. Ehren aber w i l l er ihn, so erklärt Willehalm dem Matribleiz weiter, weil er ja Terramers Tochter, Gyburg, als Gattin sein eigen nenne. Schmerz und Freude in reicher Fülle sei ihm von ihr zugeflossen. Als Vater seiner geliebten Gyburg ehre er Terramer! N u r eine Grenze seiner Huldigung muß er setzen, und diese scharfe Grenze w i r d bleiben; er selbst, Willehalm, ist Christ, sein Gegner ist es nicht — im Gegenteil, schärfster Gegner des Christentums ist dieser. M i t ihm, Terramer, fertig zu werden, war überaus schwer; m i t T y b a l t allein wäre er schnell fertig geworden! U n d nun befiehlt Willehalm den K ö n i g Matribleiz zum Abschied in die Obhut des wahren Gottes, also in Christi Obhut! Noch einmal preist er hoch Matribleiz und überantwortet ihm die toten Könige. Danach räumt der das L a n d der Provenzalen. Willehalm aber verharrt weiter in seiner Klage — kaum vermag er an Klagegebärden Genüge zu finden! D a m i t sind w i r zu dem vielleicht schwierigsten Problem der hochmittelalterlichen deutschen Literaturwissenschaft gekommen. I m wesentlichen ist es heute klar und v o n der überwiegenden Z a h l der Forscher gegen Julius

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Schwietering und seine Schule anerkannt, daß die Willehalmdichtung so, wie sie in den erhaltenen Handschriften schließt, nicht vollendet ist und nicht vollendet sein kann. Der Altmeister Schwietering hatte gemeint, mit dem Aufblick zum Erbarmen Gottes sei schon die gewiß sichtliche Wandlung Willehalms, die innere Versöhnung der Kampfpartner gegeben, da ja Willehalm seine früheren Rachegedanken aufgegeben habe. Es w i r d sich zeigen, daß diese Forschungsmeinung deswegen unhaltbar ist, weil sie nur die Hälfte der wissenschaftlichen Wahrheit besagt. Ohne Zweifel ist eine tiefgreifende Wandlung Willehalms in den von Wolfram von Eschenbach selbst noch abgefaßten Schlußszenen unverkennbar, aber ebenso unbezweifelbar ist, daß dies nur die Einleitung zu viel tiefergreifenden Wandlungen und Erkenntnissen sein sollte. Ganz gewiß also ist die vorhandene M a t r i bleizszene nicht der v o m Dichter beabsichtigte Schluß des ganzen Werks! Wie aber — das ist nun die nächste Frage — würde w o h l der tatsächliche Schluß ausgesehen haben? Hierzu muß man nunmehr zu allererst feststellen, daß heute die Vorstellungen des Marburger Germanisten L u d w i g Wolff als gänzlich abwegig und vollends unhaltbar erkannt worden sind. L u d w i g Wolff hatte höchst simpel für den Willehalmschluß eine Parzivalanalogie konstruiert: er stellte sich auch für den 'Willehalm' einen optimistisch-lichthaften Schluß v o r : der vermißte Rennewart kehre zurück, er und die Königstochter Alyze würden ein Paar; und durch Matribleiz' Vermittlung ergebe sich eine Aussöhnung zwischen Terramer und Willehalm. M i t solchen Vorstellungen ist die Wesensart und der Zentralnerv der Willehalmdichtung von Grund auf verkannt, ja geradezu in sein Gegenteil verkehrt! Ich stelle nun zunächst demgegenüber eine These auf, die ich dann beweisen möchte: Der tatsächliche psychologische Urgrund der gesamten Willehalmdichtung ist der künstlerische Wille und die künstlerische Fähigkeit Wolframs, i n seinem höchst tiefgründigen Werk zunächst eine spezifisch tragische 1 Dichtung zu schaffen, also ein Wortkunstwerk m i t einem dunklen disharmonischen Ausgang, dann aber eine christlich gültige A n t wort auf das breit entfaltete tragisch-disharmonische Geschehen zu finden. 2 1 Der Begriff »tragischer« Gestalten und »tragischer« Dichtung im Mittelalter ist hier nur als eine vorläufige Hilfskonstruktion gedacht. Mein künftiges Willehalmbuch wird eine grundsätzliche Stellungnahme zu den Arbeiten Hans Ehrenbergs, Florestan Christian Rangs, Franz Rosenzweigs, Walter Benjamins u. a. bringen. 2 Es muß betont werden, daß dies zunächst nur eine Hypothese ist in der Annahme, daß sich Wolfram zu Beginn seines Schaffens am 'Willehalm' den Schluß in dieser Weise vorstellte und der Dichter diesen Weg mit ungebrochener Konsequenz verfolgte. Man muß aber immerhin die Frage stellen, warum d;e Dichtung gerade an der Stelle abbricht, wo ein im christlichen Sinne gefährlich erschütterter Willchalm von der Sinnlosigkeit der beiden großen Schlachten überzeugt scheint. Außerdem gilt seine tiefste Trauer einem Heiden.

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Warum aber eine solche, wie man unschwer sieht, überaus bedeutsame Wendung in Wolframs dichterischer Seele? Es gibt für diese Wandlung des einstigen Parzivaldichters i m 'Willehalm' die gewichtigsten Ursachen. Der Kern ist der, daß sich Wolfram mit seiner Parzivallösung, das heißt mit dem optimistischen Gott-Mensch-Weltbild seiner früheren Dichtung offenbar alsbald vereinsamt sah in dem Konzert der zeitgenössischen deutschen Dichtung. Die große Gott-Mensch-Weltharmonie aus dem Parzivalschluß 827, 19—24 war einsam stehen geblieben! Inzwischen waren zwei gewaltige tragische Dichtungen unterschiedlicher A r t erschienen: das Nibelungenlied und Gottfrieds von Straßburg 'Tristan'. Ich habe in meinen beiden Büchern über 'Gottfried von Straßburg und die Krise des hochmittelalterlichen Weltbilds* von 1953 und in meinem 'Nibelungen'-Buch von 1963 die tragische Grundstruktur dieser beiden Dichtungen analysiert. D a z u kommt, daß in Wolframs eigener Zeit auch Walther v o n der Vogelweide gerade aus der christlichen Perspektive die Möglichkeit einer Harmonie der Werte, die Gott und Welt umspannen, in seinem ersten berühmten Reichstonspruch (8, 4) skeptisch verneint hatte. Durch alles das sah sich also Wolfram von Eschenbach mit seiner lichthaften Parzivaldeutung in Frage gestellt! N u n w i l l der also isolierte Dichter auf diese weithin um sich greifende, aus ganz verschiedenen Quellen gespeiste Grundposition in seiner eigenen Zeit eine A n t w o r t darbieten. So erklären sich — was bisher rein sachlich nie beachtet worden ist — die zahlreichen Anspielungen im Willehalmtext auf den Tristan und auf die Nibelungen! Er, Wolfram von Eschenbach, w i l l also antworten — eben er, der Dichter des T a r z i v a l ' . Daß Wolfram übrigens zu einer tragischen Dichtungsschöpfung durchaus imstande war, zeigen weiterhin auch seine beiden Fragmente von Sigune und Schionatulander sehr sinnfällig. M a n muß sich nun zunächst die Elemente des tragischen Geschehens in der Willehalmdichtung vor Augen führen. Das ist die erste und grundlegende Aufgabe. Der rechten Ausdeutung bedarf zumal die Gestalt Rennewarts, sowohl allein für sich gesehen, wie auch im Zusammenhang m i t Alyze, der er sich in noch halb unausgesprochener Liebe verbunden weiß. Rennewart w i r d nach dem großen Siege vermißt. Daß er nicht aufzufinden ist, ergibt einen Hauptgrund zur Klage des ihm in Treue verbundenen Willehalm, der ihn als den eigentlichen Sieger der Schlacht bezeichnen möchte. Was kann m i t Rennewart geschehen sein? Vielleicht ist er i n Gefangenschaft geraten; er kann auch gefallen sein — getötet möglicherweise nicht unbedingt von seinen heidnischen Gegnern, sondern vielleicht auch von seinen eigenen Scharen, m i t denen er in tiefe Konflikte verstrickt worden war. Das und noch manches andere kann man einen Augenblick erwägen. Eine Sicherheit w i r d darüber i n der Forschung niemals zu ge-

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winnen sein. Aber das eine sollte nach der Grundanlage der Persönlichkeit Rennewarts und nach der Grundkonzeption seines bisherigen Schicksals im Sinne des Dichters klar sein: nämlich das, daß er nicht wiederkommt — ob man ihn nun tot aufgefunden hätte oder ob man aus seiner Gefangenschaft etwas von ihm gehört haben würde — vielleicht durch eine Botschaft, die Matribleiz oder Terramer durch Matribleiz an Willehalm geschickt hätte. Unter Umständen hätte es sich dann bestätigt, daß Rennewart, so wie schon vorher, Heide bleiben wollte. Überaus tragisch wäre es in diesem Falle gewesen, daß er dann zu Alyze, die er doch liebt, und von der er geliebt w i r d , nicht endgültig hinfinden kann. Das alles sind H y p o thesen. Vielleicht — um die Reihe solcher Hypothesen damit abzuschließen — sollte auch weiter nichts geschehen als das indes schlechthin Furchtbarste: daß nämlich niemals jemand eine Nachricht von ihm bringt, daß er schlechthin als vermißt gelten muß und daß nun die Unsicherheit, was mit ihm geschehen sei, zeitlebens an Willehalm und an Gyburg und nicht zuletzt an Alyze zermürbend genagt hätte. Gerade auch für Gyburg würde solches dauernde Vermißtsein Rennewarts eine schwere depressive Belastung bedeutet haben, hatte sich doch in Gyburg das schwesterliche Grundempfinden zu diesem seltenen und seltsamen Manne in der vorhandenen Dichtung fast schon ganz durchgesetzt. E i n ganz kleines Stück fehlte noch, dann wäre es vollends klar geworden, daß Rennewart ihr Bruder ist. Es gehört zur besonderen Kunst der hochmittelalterlichen deutschen Dichter und gerade auch Wolframs, in einem solchen Falle der Phantasie der Hörer und Leser der Dichtung einen weiten Spielraum zu lassen. I n alledem aber sollte das eine aus dem Geiste Wolframs feststehen, daß Rennewart von vornherein als eine tragische Gestalt angelegt war. Diese ins Tragische hineinreichende Dreierkonstellation RennewartAlyze-Gyburg sei als Vorklang der Fixierung der gesamten Willehalmdichtung als einer tragischen Dichtungsschöpfung gewertet. V o n da aus versuchen w i r nunmehr zu den Kernpositionen des Dichters vorzustoßen. Praktisch heißt das, es soll nunmehr, natürlich mit aller gebotenen wissenschaftlichen Vorsicht, eine Rekonstruktion des Schlusses i m Geiste des Dichters versucht werden. Diese muß begreiflicherweise i m einzelnen variabel bleiben. Der Urgrund aber ist dieser: Zunächst einmal ist der K o n f l i k t zwischen den Heiden und den Christen und dementsprechend der K o n f l i k t zwischen Willehalm und Terramer i m Grundansatz unlösbar. Dieser Fundamentalkonflikt gestaltet die Dichtung zu einer welthistorischen Tragödie. Ein echtes Dilemma ist es, was sich in Willehalms Seele zunehmend fühlbar macht: Wenn der christliche Heerführer im Endstadium der erhaltenen Dichtung mit größter Hochachtung von dem Heiden Terramer spricht — und ebenso auch von Matribleiz — , so ist er dabei, wie schon gezeigt,

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emotional geleitet durch seine Liebe zu Gyburg. Aufs nachhaltigste hat der Markgraf verspürt, wie unsäglich seine Gyburg darunter leidet, daß die Heiden wie Vieh abgeschlachtet worden sind. Auch er selbst, Willehalm, hat bisher nicht viel anders gehandelt! So hat er an Arofei Rache genommen durchaus im Widerspruch zu seinen christlich-ritterlichen Verpflichtungen; Arofei aber ist der Oheim seiner Gattin! Aber erst der Jammer der Gyburg vor der zweiten Schlacht, ihr erschütternder A p p e l l an H e i merich und seine Söhne, auch der gotes bantgetdt zu gedenken, die auch die Heiden gleichermaßen seien, vermag ihn umzuwandeln. Erst jetzt dämmert ihm auf, daß diejenigen, die niemals etwas v o m Christentum gehört haben, schuldlos daran sind, daß sie der Taufgnade entbehren. Ebensolche Erkenntnisse sind tiefster Ansporn für Willehalm, seine H a l t u n g den Gegnern gegenüber von G r u n d aus zu ändern. Gyburg, die überzeugte Christin, die alle Versuche ihres Vaters, sie dem Heidentum zurückzugewinnen, abweist, hatte gleichwohl an der menschlichen Treue zu ihren ungläubigen Verwandten festgehalten. Die höchstaktive Mitstreiterin des Markgrafen wahrt ihren Verwandten auf der anderen Seite durchaus im Sinne hochmittelalterlichen Sippengefühls und der Sippenzugehörigkeit die menschliche Treue. V o n diesem Dilemma der Gyburg w i r d in Kürze noch die Rede sein. Was aber Willehalm anlangt, so muß man sich einmal ganz klar gemacht haben: je mehr der Markgraf vor der Leistung der Sarazenen, ihren ritterlichen Fähigkeiten, ihrer Minnevorstellung, ihren ungeheuren Anstrengungen aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus Hochachtung gewinnt, je mehr i n ihm der Respekt vor Terramer wächst, um so problematischer, um so fragwürdiger muß ihm seine eigene, frühere, im christlichen wie im ritterlichen Sinne der G o t i k überaus unvollkommene H a l t u n g erscheinen! — Aber erst einmal weiter — zu Terramer, dem Heidenführer: nach der dichterischen Grundkonzeption Wolframs steht auch er in einem ungeheuren Konflikt. Sein väterliches Herz w i l l seine Arabella-Gyburg erhalten sehen; für sich und seinen Glauben möchte er sie zurückgewinnen; der Baruc in Baldac aber hat ihn durch seine Priester beauftragen lassen, seine abtrünnige Tochter zu töten! Zwischen den Impulsen des Vaterherzens und der Vollstreckungsnotwendigkeit des religiösen Auftrags schwankt der zerrissene Terramer fortwährend hin und her. Erschütternd, daß er zu einem Zeitpunkt, als er noch siegen zu können glaubt, vermeint: ja, wenn er siege, dann werde K ö n i g L u d w i g sein K i n d aus Rache töten lassen! M a n sieht, auch Terramer steht i n einem unlöslichen Dilemma; auch er ist eine tragische Gestalt. — U n d nun zu dem Verhältnis Willehalm und Terramer: Je mehr Willehalm den Heiden menschliche A n erkennung zollt, um so tiefer muß ihm die weltanschauliche K l u f t , die ihn von den Heiden unüberbrückbar trennt, schmerzhaft bewußt werden. Z w a r

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möchte er Terramer ehren, aber weiter kann er nicht gehen, nicht weil er nicht w i l l , sondern weil er nicht kann, weil er innerlich gebunden ist — menschlich durch seine Liebe zu Gyburg, religiös aus christlichem Verantwortungsbewußtsein! Immer mehr erweist sich i m Verlauf der Dichtung, daß Wolfram den welthistorischen K o n f l i k t der beiden Religionsanschauungen, der christlichen und der mohammedanischen, als die größte weltgeschichtliche Tragödie in sich erfahren hat, die nur denkbar war. Keine Lösung, keine Versöhnung ist möglich — von beiden Seiten aus nicht! Nach Wolframs Darstellung, anders als nach der 'bataille d >Aliscance\ ist Terramer militärisch vernichtet; er vermag Arabella nicht zurückzuführen; Orange vermochte er nicht zu erstürmen. Restlos geschlagen endet er in einem durchaus tragisch zu nennenden Schicksal. Willehalms schließliche hohe Wertschätzung für seinen Gegner, entzündet durch die Liebe zu G y burg, eröffnet diesem (dem Markgrafen) gewiß ein erhöhtes Verständnis für Terramer als Vater wie als heidnischer Heerführer. Aber das Be-. wußtsein der schlechterdings absoluten religiösen K l u f t w i r d dadurch in dem Markgrafen nur noch verstärkt! So sollte es einmal über die vollkommene Unlösbarkeit des religiösweltanschaulichen Grundkonflikts i n Wolframs Willehalmdichtung heutzutage in der wissenschaftlichen Forschung keine Meinungsverschiedenheit mehr geben. D a m i t aber sollte zweitens auch der Grundcharakter der Dichtung als einer Tragödie nicht länger zweifelhaft sein. Früher, vom Standort des 18. Jahrhunderts aus, vom Standpunkt des Liberalismus des 19. Jahrhunderts, da waren alle Religionen gleich viel wert. O b man das wirklich annimmt oder nicht, das muß jeder mit sich ausmachen. V o n der Fundamentalposition des Mittelalters aber — und diese ist hier der einzige objektiv-wissenschaftliche Ausgangsort — gibt es eine sogenannte »Toleranzidee« nicht. Der Toleranzbegriff gehört keinesfalls hierher. Für den mittelalterlichen Menschen, auch für den der G o t i k des Zeitalters Wolframs von Eschenbach, handelt es sich wesensmäßig um einen welthistorischen K o n flikt, der aus ethischen wie aus metaphysischen Gründen unauflösbar ist. Je mehr Willehalm auch die Heiden als werthafte Geschöpfe Gottes anerkennt, um so mehr muß er unter dem ihm zugefallenen Auftrag leiden, daß er diese Gottesgeschöpfe als christlicher Feldherr zu vernichten gezwungen ist, und daß er anerkennen muß, daß diese von ihrem heidnischen Standort aus ihn selbst aus dem gleichen Anlaß nach Möglichkeit vernichten müssen, daß es für beide Seiten keine andere Lösung geben kann. V o n hier aus ergibt sich nun mehr und mehr die ganz allgemeine Erkenntnis, daß nach der Grundkonzeption Wolframs in seinem Willehalmkunstwerk schlechthin nichts positiv-harmonisch aufgeht. Nichts läßt sich

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lösen. Alles verharrt und verhärtet sich in absoluter Disharmonie — also genau das Umgekehrte vollzieht sich wie i n der Parzivaldichtung des gleichen Wolfram von Eschenbach! — W i r sehen alles das in noch breiterem Umfang bei erneuter Hinwendung zu Rennewart wie zu Alyze. Auch Alyze war v o m Dichter gewiß als tragische Gestalt angelegt. V o n Anfang an war sie mit ihrer Liebe allein gelassen. Ohne helfen zu können, mußte sie die Demütigungen Rennewarts als Küchenjunge mit ansehen. Belastend miterfahren aber mußte sie deren Anlaß, nämlich Rennewarts Weigerung, sich taufen zu lassen — auch hier ohnmächtig in ihrer Liebe. Wieder erweist sich die Glaubenskluft als absolute Trennung liebender Menschen 3 . Rennewart bekannte sich zu der Meinung, für eine Konversion sei er nicht geschaffen; Christ werden sei seine Sache nicht; er wolle es nicht und er tue es nicht. Ganz objektiv stellt Wolfram Rennewarts psychologische Situation dar. Er nimmt sie nicht etwa zum Anlaß, eine Unbegnadetheit Rennewarts herauszustellen. I m Gegenteil, er läßt Rennewart an dem Glauben seiner Verwandten treulich festhalten, obwohl dieser — wiederum tragischerweise zu Unrecht — denkt, seine mächtigen heidnischen Verwandten hätten ihn vergessen, hätten sich nicht um seine Auslösung bemüht, als er als kleines K i n d von Seeräubern entführt wurde. Überall also Konflikte, die sich ihrer innersten Anlage nach nicht lösen lassen. Das Entscheidende aber ist, wie selbstverständlich, der innere K o n flikt Gyburgs, ihre heillose Zerrissenheit, die sich nun nach dem Siege i n der zweiten Schlacht geradezu verewigen muß, die v o m Dichter m i t größter Kunst als unaufhebbar verewigt w i r d . N u r ein kurzes W o r t über ihren Sohn Ehmereiz, der auf alle Fälle für Gyburg verloren bleibt. Höchst ritterlich hatte er sich seiner Mutter gegenüber verhalten und seines Großvaters Terramer Einstellung gegenüber Gyburg verurteilt. D a n n gehört auch er zu den Besiegten der großen Schlacht. M i t Sinagun, der einst Willehalm gefangengenommen hatte, und anderen Verwandten war er auf die Schiffe entkommen. Für Gyburg ist er damit endgültig verloren. Auch dies muß man einen Augenblick bedenken, daß ja Gyburg kein anderes K i n d mehr hat; v o n Willehalm hat sie keine Kinder. Alles das muß auf Gyburg lasten — um so tiefer, als sie sich selbst die Schuld an dem gesamten unheilvollen Geschehen geben muß. Es ist nicht etwa der Dichter, der sie anklagt. Sie selbst aber hatte sich aufs allerbitterste angegeklagt — eben deswegen und darüber, daß sie zunächst einmal objektiv die Ursache gewesen ist für die furchtbaren Kämpfe, die so ungeheure Verluste auf beiden Seiten hervorgerufen haben. Hellsichtig weiß Gyburg: 3

vorerst und im Sinne des äußeren Geschehens.

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für die Christen, insbesondere für K ö n i g L u d w i g und seine Frau, bedeutet sie das Element unaufhörlicher Unruhe, ist sie die Triebkraft, derentwegen kein Friede w i r d mit den Heiden, und auch für ihre heidnischen Verwandten wiederum ist sie gleichfalls die Triebfeder ewiger Unruhe, denn diese wollen sie wiederhaben, sie wollen die Schande ihrer Konversion ausgelöscht wissen. D a r u m gerade hatte sich ja Terramer in den verschiedenen Religionsgesprächen m i t seiner Tochter, wenn auch gänzlich vergeblich, bemüht. Auch hier wieder w i r d tragisches Geschehen vielfältig transparent. Ihren Vater kann Gyburg v o n der Wahrheit des christlichen Glaubens nicht überzeugen. Immer mehr verhärten sich die Positionen. U n d darum ist es alsdann der Tod, erneut der T o d einer Fülle ihrer Verwandten, darunter einiger ihrer Brüder, der unvermeidlich wird. Das alles ist für Gyburg i m Allermeisten ihrer Seele belastend und erschütternd. M i t großer Kunst hat Wolfram von Eschenbach die seelische Lage der Gyburggestalt zu verdeutlichen gewußt. I n einem Dilemma steht sie, das sich, rein menschlich gesehen, gleichfalls niemals lösen w i r d . Dazu kommt nun noch ein Weiteres, das ebenfalls v o n entscheidendem Gewicht für die Fügung des beabsichtigten Schlusses gewesen wäre: A m Hofe K ö n i g Ludwigs hat Willehalm über seine Heldentaten i n der ersten Alischanzschlacht berichtet. 23 Fürsten sind es, die er bezwungen hat — darunter Arofei, Terramers Bruder, den Perserkönig. Wie er ihn, den schon wehrlos gewordenen, i n gemütsmäßiger A u f w a l l u n g dennoch tötete, zeigte Willehalm noch in erheblicher christlicher Unvollkommenheit. A m Ende der zweiten Schlacht war dann Willehalms schicksalhafte Konfrontierung m i t den 23 Sarkophagen der A u f t a k t zu einer ruckartigen Selbstbesinnung gewesen. Ja, wer hatte denn eben diese 23 Fürsten getötet, und warum war ihre von Terramer veranlaßte feierliche Aufbahrung für den schwer verwundeten Willehalm so ganz besonders erschütternd? Er selbst ist es gewesen, der diese heidnischen Könige erschlagen hat, sie, die Verwandten und Freunde Arabella-Gyburgs! Noch weiß Gyburg diese Zusammenhänge nicht. Sie w i r d sie erfahren. Dies würde dann zwar keine unverwindbare K l u f t zwischen Gyburg und Willehalm aufreißen, aber die sich anbahnende Lösung der Gesamtdichtung würde auf solche Weise beschleunigt worden sein! A u f der anderen Seite aber war es ja gerade das sich immer mehr auftürmende Leid der Gyburg, das die innere Verwandlung Willehalms in Bewegung setzte. Dieses unermeßliche Leid Gyburgs erweist sich nach Wolframs Vision als ein höchst schöpferisches Leid, eben weil es Willehalms Reifung und Umwandlung bewirkt. Einst hatte in einem unlöslichen Ineinander v o n himmlischer und irdischer Liebe, von begnadeter christlicher Gotteserkenntnis und liebesmäßigem Beeindrucktsein v o n dem

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heldischen Ritter Willehalm Gyburg zur inneren Erneuerung ihres Seins aus dem Geiste des Mysteriums der Taufe hingefunden. N u n sind nicht minder innig ineinander gewoben Willehalms immer weiter wachsende Liebe zu Gyburg und seine innere ethische Erhöhung aus dieser Liebe zu Gyburg, und zwar spezifisch aus Gyburgs Leiderfahrung. Wieder erweist sich das Phänomen hochmittelalterlicher Minne, wahrhaft gotischer Liebe, als ein höchst produktives inneres Geschehen. Gyburgs unversiegbares Leid lehrt Willehalm, ex altero zu erfahren und zu denken. Es ist aufs höchste tragisch zu nennen, daß der zunehmend m i t seiner Gyburg mitleidende Willehalm selbst der Hauptanlaß zur immer weiteren Aktivierung ihres Leides ist, was nämlich gerade Gyburgs gefallene heidnische Verwandten anlangt. W e i l dem aber so ist, so ist nunmehr völlig durchsichtig, was Wolfram in der Tiefe sagen w i l l , wenn er den Markgrafen aussprechen läßt, der Sieg in der großen Schlacht sei für ihn eine Niederlage! Eine Niederlage nämlich alles dessen, was ihm zur Lebensfreude, zu einer positiven Einstellung zum irdischen Dasein als Fürst und als Mensch verhelfen könnte. Er hat keine Lebensfreude mehr; dieser große, aber tief tragische Sieger — um so weniger kann er jemals wieder wirkliche Lebensfreude und irdische Daseinszugewandtheit gewinnen, als er, wie er sagt, Gyburg zwar immer lieben w i r d , ohne daß freilich selbst die leidende Gyburg ihm über sein eigenes Leid und damit auch über ihrer beider Leid hinweghelfen könnte (vgl. 456). Willehalms Brüder, die m i t ihm über seine nicht endenwollende Klage hadern, glauben leichthin, über das Vermißtsein Rennewarts hinwegkommen zu können. Aber für den Feldherrn ist sein junger »Freund Rennewart«, wie er ihn nennt, — er möchte ihn als den eigentlichen Sieger ansprechen — einmal etwas unendlich Kostbares, das andere M a l aber etwas unendlich Belastendes. I n der ersten Schlacht hatte er den vielleicht verfrüht in das bittere Kampfgeschehen geworfenen jugendlichen Vivianz verloren. N u n droht in einer andersartigen, aber nicht unähnlichen Situation der Verlust Rennewarts. Willehalm, anders als seine Brüder, w i r d darüber nicht hinwegkommen — eben deswegen nicht hinwegkommen, weil er, er ganz allein, die Verantwortung trägt — er, der nun zunehmend spürt, daß er solche Verantwortung nicht länger tragen kann. Auch hier wieder zeigt sich, daß nicht allein Gyburgs Leid, sondern eben auch Willehalms Leid v o m Dichter als schlechterdings unverwundbar angelegt ist! ! ! '; 1 | ' I n dieser tief bedrückenden Stimmung der Trauer aber würde nun nach der anzunehmenden Konzeption des Dichters die neue Begegnung zwischen Willehalm und Gyburg, den Ehegatten, nach dem gewonnenen militärischen Siege die innere, die seelische Entscheidung über ihrer beider zukünftiges Dasein gebracht haben. Für diese alles entscheidende Wieder-

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begegnung der beiden Liebenden und gleichzeitig nun beiderseits mit übergroßem Leid Beladenen kann, ja muß neben vielen anderen Faktoren 4 Wolframs Eingangswort zum I X . Buch seiner Dichtung leitmotivisch bedeutsam werden: Ei Giburc, heilec vrouwe y din saelde mir die schouwe noch viiege, daz ich dich gesehe aldä min sele ruowe jehe. Dieses W o r t von geheimnisvoller Tiefe bezeichnet zunächst des Dichters eigene Haltung, aber man darf w o h l sagen: diese H a l t u n g Wolframs v o l l ziehe sich ganz und gar aus dem Geiste seiner Willehalmgestalt. 5 Wolframs eigenes Ruhebedürfnis, sein eigener Wunsch nach tiefem Seelenfrieden läßt ihn Analoges in Willehalms Seele vollziehen. H i e r sind Wolfram und seine Kunstschöpfung des Markgrafen Willehalm eins! 6 Daher darf jenes W o r t als maßgeblich für die Schlußrekonstruktion, i m besonderen für die Wiederbegegnung zwischen Willehalm und Gyburg angesehen werden. Für W o l f ram selbst kann mit diesem Worte natürlich nur die Transzendenz gemeint gewesen sein — für die Willehalmgestalt indes meinte der Dichter einen irdischen Endstatus — einen Standort, in dem Willehalm m i t G y burg zusammen nun zu innerer Ruhe hinfindet. Denn eben um dieses Hinfinden zu der inneren Gelöstheit und der innerlich begründeten Ruhe, zum Frieden der Seele geht es. Erinnern Sie sich bitte: Die ganze Dichtung hindurch sehen w i r einen gehetzten Mann, einen nervösen, zerschlagenen, einen ewig getriebenen, einen auch Unrechtes tuenden, zumal seiner königlichen Schwester gegenüber, einen dann durch die Einzigartigkeit Alyzes im Augenblick Hergestellten und schließlich einen sich aus neuer Position heraus zwangsläufig erneut in unsägliche Leiden Verstrickenden. U n d nun zum Abschluß der Dichtung erhebt sich die alles entscheidende, die innere Befreiung in sich bergende Frage: Wie wäre der seelische Frieden für Gyburg und für Willehalm, der dem Dichter vorschwebt, denn zu verwirklichen, wahrhaft zu gewinnen gewesen? Wenn man dieses fundamentale Problem einer gültigen Lösung zuführen w i l l , dann muß man vorerst einen Blick auf die Wesensart, auf die spezifische Eigenart der Liebe zwischen Willehalm und Gyburg werfen. Dieser Blick aber w i r d uns erneut die Grundideen Wolframs, die für das Gesamt seiner Dichtung maßgebend sein sollten, erhellen und enthüllen: Was sich in Gyburg und Willehalm entfaltet, ist eine allseitig umfassende, eine bis i n die letzten Tiefen des Menschseins 4

die ich in meinem künftigen Willehalmbuch ausführlich darlegen werde. Auch darüber soll später eindringlich gehandelt werden. Auch dies ist vorerst nur eine Hypothese. Ob und wieweit sie haltbar ist, soll in dem angekündigten Buche eindringlich geprüft werden. 5 6

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reichende Liebe. Diese Willehalm-Gyburg-Liebe, aufkeimend in der Gefangenschaft, alsdann den Impuls gebend für alles weitere Geschehen in der Dichtung, ist so geistig wie sinnlich-körperhaft, aber — und das erst ist das Entscheidende — die Lenkung, die innere Führung, hat in diesem Liebesgeschehen beständig und völlig ungefährdet der Geist, das heißt, die seelische Zugehörigkeit. Gerade auch darum bin ich davon durchdrungen, daß Wolfram von Eschenbach m i t eben dieser Liebesdarstellung eine A n t w o r t geben wollte auf Gottfrieds von Straßburg 'Tristan' und dessen so völlig andere Liebeskonzeption. Daher auch die überraschende Fülle von Anspielungen auf den 'Tristan' und auch auf die 'Nibelungen' im Text des 'Willehalm'! 7 Antworten wollte Wolfram zuerst einmal auf die D ä monieverfallenheit, auf die Sinnenbetontheit und Sinnengelenktheit der Tristanmenschen, von denen diese ungeachtet aller auch fundamentalen geistig-seelischen Verbundenheit beherrscht werden, — und A n t w o r t geben wollte Wolfram andererseits auf die ganz andersartige, aber nicht geringere Dämonieverfallenheit der nibelungischen Gestalten, zumal auf die Racheideologie der durch geraubte Liebe zerstörten Kriemhild. Weil solches A n t wortgeben auf die diametral von ihm selbst verschiedenen Kräfte seines Zeitalters zur innersten Absicht des gereiften Wolfram von Eschenbach gehörte, gerade auch deswegen hat dieser nun seinerseits in seiner Willehalmdichtung tragisches Geschehen, zumal Liebesgeschehen, unaufgelöste und unauflösbare Konflikte aufgehäuft, ja aufgetürmt! Er, der auf den Tristandichter und auf den Nibelungenautor hinschaut, schafft in seinem Spätwerk seinerseits eine ganz andere, höchst erhabene Liebe, an die keine dämonische Getriebenheit, sei es v o n welcher Seite auch immer, heranreicht. Der Dichter, der das Willehalmkunstwerk schafft, er ist eben der, der im Eingangsgebet gekündet hatte, daß er zwivels erlost sei. Aus diesem Bekenntnis ersieht man vorerst einmal — man konnte es sich ja nach dem Parzival-Eingang schon denken — , daß Wolfram früher einmal selbst in tiefe Glaubenszweifel verstrickt gewesen war. Denn selbstverständlich ist Parzival hier Wolfram. Daß der tiefgründige Dichter nun im 'Willehalm' v o m Zweifel erlöst ist, daß er jetzt fest im Glauben steht, daß er sich nunmehr wirklich in aller Tiefe und Klarheit als K i n d Gottes fühlt, das eben ist der gewaltige Unterschied zum 'Parzival'; eben das ist der entscheidende Fortschritt, aus dem v o m ersten Anfang an bis zum endgültigen Abschluß der Handlung die Willehalmdichtung lebt und zehrt 8 . Eben 7

Darüber besonders ausführlich in dem angekündigten Buche. Indessen muß man auch bedenken, daß sich im 'Parzival' eine Linie aus der Dunkelheit eines tumben in die absolute Helle und Klarheit eines Bewußten und Wissenden verfolgen läßt, während im 'Willehalm' eine umgekehrte Richtung zu finden ist. 8

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aus der Kraft restlos überwundenen Zweifels wollte nun Wolfram im A b schluß seines Willehalm-Kunstwerkes zeigen, wie man auf die zeitgenössische Problematik, das heißt, wie man auf Konflikte, auf Leid, auf getürmtes Dilemma reagiert, ohne sich den Dämonen anheimzugeben. Wie aber hätte das nach der Intention Wolframs von Eschenbach geschehen sollen? D a müssen w i r vorerst noch einen weiteren Gedanken erwägen: Zunehmend erweist es sich i n der Willehalmdichtung, daß die Opfer, insbesondere die Blutopfer, die die dauernde Verwirklichung der Liebe z w i schen Gyburg und Willehalm zur Folge hatten, unermeßliche waren. Das ist es ja, was m i t steigendem Entsetzen Gyburg erfährt, daß nämlich nicht zuletzt um ihretwillen sozusagen zwei Welten gegeneinander mobilisiert wurden. Immer deutlicher w i r d es in Gyburgs und auch i n Willehalms Seele, daß die Opfer, die die Verwirklichung dieser Liebe und dann ihre Weiterführung ermöglichen, nicht nur ungeheure sind, sondern daß sie selbst aus der Perspektive des Glaubenskampfes kaum noch als vertretbar angesehen werden können. I n eben diese seelische Entwicklung der H a u p t gestalten hinein aber fällt Wolframs W o r t vom heiligen Willehalm! Ich merke hier nur kurz an, daß das historische U r b i l d von Wolframs Willehalm i m 9. Jahrhundert, daß der Heerführer Karls des Großen, Guillaume de Provence, der Gründer des Klosters Gelone ist und daß er selbst gegen 812 i m Klosterleben starb. Auch die altfranzösische Dichtung, die 'bataille d'Aliscance* kennt ihn ja als einen, der sich ins Kloster zurückgezogen hatte. Uber die dichterische Freiheit des deutschen Willehalmschöpfers um 1215 sagt dies alles freilich noch nichts Entscheidendes aus. Aber ganz gewiß muß sich die Forschung mit dieser Frage aufs ernsteste befassen. Ganz und gar nicht braucht man dabei der Meinung H u g o Kuhns zu sein, daß einfach zwangsläufig, nämlich weil der Stoff es so wollte, W o l f ram seinen Willehalm hätte ins Kloster gehen lassen. Vielmehr ist ausschließlich zu fragen nach den inneren Gründen des Dichters: wie der Willehalmautor auf alle jene gigantischen Konflikte geantwortet haben würde, welche Rolle dabei unter Umständen eine Wendung zu einem dem Klosterleben ähnlichen Dasein gespielt haben könnte und was der Dichter unter der Heiligkeit Gyburgs und Willehalms verstanden wissen wollte. Julius Schwietering war, wie vorhin bereits angedeutet, der festen Meinung, daß in dem bloßen Ertragen des Leidens schon der Status der H e i ligkeit beschlossen liege. Aber dies reicht bei weitem nicht aus; es ist in der T a t nur die Hälfte. Der andere, noch viel gewichtigere Teil ist das Aushalten jener zermürbenden Disparitäten, die noch gar nicht in der Sicht des Forschers Schwietering aufgetaucht waren. Was ist denn nun wirklich heilig an Gyburg und an Willehalm? Was ist wirklich vollkommen und vorbildlich? Gewiß empfindet Willehalm seine leidende Gyburg, der Intention des

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Dichters entsprechend, als eine unantastbar vorbildliche Frau. U n d er selbst, Willehalm, ist zwar nicht offiziell kanonisiert worden, weil es ein subtil durchgearbeitetes kanonisches Recht im 9. Jahrhundert noch gar nicht gab; indessen wurde er i n einer sehr beliebten Tradition des 12. Jahrhunderts tatsächlich als heilig verehrt. Als Freund, als lauterer Diener Gottes w i r d er sehr bald zur Nachahmung hingestellt, und so ruft auch Wolfram von Eschenbach im Eingangsgebet seines Spätwerkes die Fürbitte eben des heiligen Willehalm an. M i t diesen Erwägungen sind w i r schon etwas näher an das herangerückt, was sich mutmaßlich i m beabsichtigten Schlüsse der Wolframschen Dichtung vollzogen haben würde. Natürlich ist es undenkbar, mit dem Schwieteringschüler Mergell etwa anzunehmen, daß der deutsche Dichter i m Unterschied zur 'bataille d'Aliscance' auf die Wiederbegegnung zwischen Gyburg und Willehalm nach dem Siege verzichtet hätte. Selbstverständlich sollten sich nach der zweiten Schlacht Gyburg und Willehalm in der nun äußerlich gewandelten, neuen Situation wieder begegnen, und eben aus dieser neuen Situation wäre nunmehr die große, alles weitere entscheidende Erkenntnis über sie gekommen. N u n , nachdem die äußere Ruhe durch den militärischen Sieg wieder hergestellt war und damit auch die politische Situation des Reiches ein neues sicheres Fundament gewonnen hatte, vermochte sich, psychologisch gesehen, jetzt das volle Offenbarwerden des ungeheuren Leides für Gyburg wie für Willehalm und ihrer beider Anerkenntnis der Unlösbarkeit des welthistorischen Konfliktes m i t allen seinen Konsequenzen zu erschließen. I n dieser Situation nämlich vollzieht sich jetzt das schlechthin Erschütterndste für Willehalm und für Gyburg; eben dies hatte ja W o l f ram v o n Eschenbach noch i m vorhandenen Text der Dichtung deutlich gemacht, nämlich kurz vor der Stelle, mit der ich heute einsetzte:

456: miner vlust mahtü dich schämen, der megede kint, in dinem namen was mm verch> min habe geveilet. diu lücke ist ungeheilet, die mir jdmer durchez herze schoz. stet din tugent vor wanke bloz, du solt an mir niht wenken und mine vlust bedenken, Sit entwarf din selbes hant, daz der vriunt vriundinne vant an dem arme sin durch minne. reht manliche sinne dienent üf wiplichen Ion. manegen sperkraches don

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Gottfried Weber han ich gehört umh ein wip , diu nü leider minen lip mac dirre vlust ergetzen niht: min herze iedoch ir minne giht. wan din helfe und ir trost , ich waere immer unerlost von jämers gehende: aller künege hende möhten mit ir richeit niht er wenden mir min leit.

Bis ins Letzte deutlich w i r d aus dieser und den vorangegangenen Versgruppen Willehalms Seelenzustand: Gottesbeziehung und Gyburg-Liebe — wiederum stehen sie in innigstem Zusammenhang. Gefahrdrohend ist in diesem Augenblick Willehalms Situation: Ganz klar erkennbar ist der aufbrechende Zweifel, die Erschütterung der Gottesvorstellung in Willehalm. Seine Freude ist tot, hatte er schon vorher (455, 18) verkündet: was hat das noch für einen Zweck, daß ich Fürst bin, so sagte er. Es ist evident, daß er es nicht länger sein w i l l . Auch die Gesamtheit seines Lebensgefühls ist eindeutig bezeichnet: min totiu vreude , niht diu lame. Seine Lebensfreude ist also nicht nur vorübergehend gelähmt, vielmehr: sie ist erstorben! Wie aber soll er mit der aufgebrochenen religiös-weltbildlichen Unsicherheit, m i t seiner Gottesverwirrung fertig werden?! Noch einmal erweist es sich hier völlig unwiderleglich, daß die Dichtung nicht so abgeschlossen sein k a n n ! 9 Wenn dennoch Julius Schwietering, dem die deutsche Literaturwissenschaft des Mittelalters so viel verdankt, sich sogar so weit verstiegen hatte, daß er sagt: der bloße Gedanke eines Klosterlebens Willehalms dürfe überhaupt gar nicht erst erwogen werden, so war er damit nicht völlig objektiv! Denn für ihn wie für zahlreiche andere deutsche Forscher, die v o m nachmittelalterlichen Weltbild des Protestantismus herkommen, war das Kloster auf keinen Fall positiv zu werten, sondern als Lebensform eine seit dem 16. Jahrhundert scheinbar überwundene Angelegenheit, war Leerlauf, wäre dementsprechend für Willehalm gleichbedeutend mit einem Zusammenbruch, wäre ritterunwürdig, wäre Verleugnung des großen K u l turideals der staufischen Epoche gewesen! Heute erweist sich dies alles nicht allein als ein spezifisch neuzeitlicher, sondern fast noch mehr als ein liberalistischer I r r t u m ! Denn wie sieht es nun in Wolframs Dichtung in W i r k lichkeit aus? Das Problem ist dieses: wie konnte Gott die Furchtbarkeiten solcher Verluste zulassen? Wie vermochte Christus, der die Liebe ist, der 0 Die bloße Existenz der 'Titurel'-Fragmente scheint dies bereits zu erweisen. Vgl. hierzu auch Barbara Könnekers einschlägige Abhandlung in dem vorliegenden Band des Jahrbuchs.

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auch, das ist ja ganz klar gesagt, die Liebe zwischen Gyburg und Willehalm i n der Seele dieser beiden Menschen geschaffen hat — diese beiderseits im Tiefsten schöpferische Liebe — , wie also vermochte die christliche Gottheit auf der anderen Seite Zerstörungen und Konflikte so ungeheuren Ausmaßes zuzulassen? Das ist also der Problemkreis, der offen bleibt, der sich auch i m geplanten Schluß nicht einfachhin gelöst hätte. Daher aber ist es forschungsmäßig völlig evident, daß der Gott der Willehalmdichtung nicht wie der Gott des Parzivalkunstwerks von menschlichem Verstand erkennbar und auch nicht durch einen Menschen wie Trevrizent irgendwie lehrbar ist. Dieser Gott des < Willehalm > ist irrational-erfahrbar, und zwar als der ungeheure, unbegreifliche Gott, als der deus absconditus, der unvorstellbare Geschicke zuläßt, der die Zerrissenheit des Menschengeschlechtes nicht hindert — eine Zerrissenheit letzten Endes als Folge des Sündenfalls, der Kainstat, des Bruderzwistes und damit auch der Glaubensspaltung — eben der Verdunkelung des metaphysischen Sinnes i m Menschen auf G r u n d der Erbsünde! Es ist das tremendum Gottes, das spürbar w i r d ! U n d nun fragen w i r weiter: W i r d nun angesichts jener Erfahrung, die Willehalm und Gyburg machen, daß also der Gottessohn, wie sich Willehalm emphatisch ausdrückt, »sich eigentlich schämen müßte« ob jener ungeheuren Blutopfer des Sippenmords, des Verwandtenmords hin und her — w i r d nun jetzt angesichts solcher höchst belastenden Empfindungen etwa zersetzender und zerstörender Zweifel die Oberhand gewinnen und die von ihm befallenen Menschen i n den Abgrund der Verzweiflung stürzen? Es ist ganz klar, daß dieses keineswegs der Fall sein sollte! H i n t e r Willehalm und Gyburg steht ja der gereifte Dichter Wolfram, der bekannt hatte, daß er von allem Zweifel erlöst sei. Eben daher aber hätte er selbstverständlich auch seine Willehalmgestalt von jenem kurzen verzweifelnden Niederbruch erlöst werden lassen — sonst hätte ja das berühmte Eingangsgebet der Dichtung schlechterdings keinen Sinn! Was ist also nun als tatsächlich vollziehbar für Wolframs dichterische Phantasie anzunehmen? Die Verzweiflung gewiß nicht; um so sicherer aber der Weltverzicht der beiden Hauptgestalten des Kunstwerks. Willehalms Schmerz w i r d unüberwindbar bleiben, Gyburgs Trauer sich nicht heben. Beider Erfahrungen sind zu gewaltig, zu leidvoll, als daß sie ihre bisherige Lebensform hätten beibehalten können. Immer wieder werden die beiden Liebenden damit ringen müssen, warum Gott so Furchtbares zulasse. A n der bloßen Notwendigkeit des Heidenkampfes kann der Markgraf nicht einen Augenblick zweifeln. K l a r muß man sich vor Augen halten, welche welthistorischen Perspektiven die Dichtung eröffnet hatte: Terramer, der Heidenkaiser, wollte nach Aachen, um dort das abendländische Kaisertum zu vernichten; dann strebte er nach Rom, dort das Christentum an der Wurzel auszurotten. Der Dichter 2 Literatur-wissenschaftliches Jahrbuch, 6. Bd.

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Wolfram läßt sein Kunstwerk als eine für seine eigene Zeit innerlich v o l l gegenwärtige Dichtung erleben; es ist ja eine Kreuzzugdichtung! Nichts Geringeres als eine abendländische Entscheidungsstunde spielt sich in W o l f rams 'Willehalm' vor unseren Augen ab. Dieses gewaltige, in der Tiefe aber eben dunkle Ereignis war es, dessen Erfahrung und dessen M i t v o l l z u g Willehalm und Gyburg zu bewältigen hatten. W e i l aber für ihre menschliche Einsicht ein solches Bewältigen schlechterdings unmöglich war, eben deswegen konnte der Glaube Willehalms kein Glaube von der A r t sein, wie ihn Parzival errang. Der Glaube der Willehalmdichtung vielmehr konnte nur ein >Dennochglauben (2. H ä l f t e des 12. Jahrhunderts?) und bei Schönbach vorkommenden gotes trüt (für die Heiligen), trütkint, trütsun (für Jesus) trutvrouwe (Tristan, K o n r a d von Würzburg), trütmuoter (für Maria) haben nur im W o r t Berührung m i t der weltlichen Sphäre. Die wäre minnc (Schönbach I , 148,13: ir sult vor alle dink die wäre minne haben under ein ander, wane die wäre minne bedecket die manichvaldigen suonden, nach 1. Petr. 4,8) ist w o h l nur allgemein als Gegensatz zu weltlicher Liebe gemeint, ohne auf das Minnewesen bezogen zu sein. I m merhin ist bemerkenswert, daß der deutsche Text gegenüber der lateinischen Caritas den Zusatz wäre macht. Auch die Minneverse ( I , 58,8 ff. Hohel. 5,8) sind aus dem Geistlichen ganz zu verstehen; brütbette y briutegome, brütloft, brütsang, gemahele usw. gehen seit den Hohelied-Übertragungen auf das alttestamentliche Buch zurück; sie werden erst in der Vermittlung durch Bernhard von Clairvaux m i t höfischer Empfindung durchtränkt. A n sätze dazu finden sich etwa i m 'St. Trudperter Hohenlied', im 'St. Georgener Prediger'; deutlicher w i r d dieser Vorgang bei Seuse. Auch bei D a v i d von Augsburg (der das 'St. Trudperter Hohe Lied* benutzt hat [vgl. Gerhard Bauer, Euphorion 56 (1962), S. 410 ff.] und in mancher Hinsicht mystischer Frömmigkeit nahesteht) w i r d v o n geistlicher Ritterschaft gesprochen. Der gute Mensch soll in seinem Wandel diemuot an sich tragen, als ein riter, des schilt ist an allem sinen wäfengeziuge gemalet unde gesniten (Pfeiffer, Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Band 1 (1845), S. 319,20 ff.). H i e r ist eindeutig christliches Leben als K a m p f umschrieben. Die Vorstellung geht also auf die oben genannten biblischen Bezeugungen zurück. Die Berufung auf ritterliches Leben ist hier und an anderen Stellen bei D a v i d nur Veranschaulichung und Hinweis und darin der H a l t u n g Bertholds von Regensburg verwandt. Bei Berthold von Regensburg, der vor 1270 predigt, ist der Bezug auf das Rittertum unmittelbar gegeben. Das erklärt sich aus der Predigt-

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Situation. Die unter seinem Namen gefundenen deutschen Predigten 4 0 sind an ein genau erkennbares Publikum gerichtet, das er in seinen verschiedenen Schichten v o m Bauer, dem bürgerlichen Handwerker und Kaufmann bis zum Ritter und Fürsten anredet ( I , 562,10 ff.; 2,178.6) und dessen für sein moralisches Anliegen (oder din wirt niemer rät) wichtiges böses oder falsches Verhalten er ausdrücklich benennt. So kommen also bei ihm ritterliche Einzelzüge, Kleidung, Benehmen entweder i n ausführlicher Anspielung oder nur in der Übernahme einzelner Vokabeln vor. Das ist bei seiner A r t oft ins Grobe und Handgreifliche übersetzt. Sein ablehnendes U r t e i l über höfische Verweltlichung spricht sich auch in diesem bewußt desillusionierenden T o n aus: ir frouwen, ir get mit der aller groesten torheit umbe, diu von torheit ie wart mit iteler hohvart. Und ir get mit tüechelinen umbe: daz zwicket ir hin, daz zwicket ir her, daz gilwet ir hin, daz gilwet ir her, unde leget allen iuwern fliz dar an und iuwer wile (1, 253,13 ff.). Wenig später w i r d von herren gesprochen, die sich hohvertent... mit schoenen rossen unde mit bürgen unde mit liuten. Oder: Daz sint ir spilnden ougen und ir valschez gen und ir trügenlichez smieren und ir kluogen gebdorde (1, 286,37 ff. = 'St. Georgener Prediger', 3,29). Vielfach ist seine Umschreibung von der werlte süeze und von des tiuveles raeten. Die Verbindung dieser zwei Dinge läßt seine Wertung deutlich erkennen. V o n dem aus ritterlichem Gebrauch entlehnten Wortschatz seien hier noch angeführt: neben ritter und ritterschafl, tornier, schiltknecht, schiltgeverte, houbetman; banier, hervane, reise (Kriegszug), schilt, wapen, zerhouwen gewant (doppeltüchiges Gewand), gebende; lecker, durchedel; summerwunne, seitenklanc und vieles andere. Der sprachliche Zusammenhang Bertholds mit der höfischen Welt zeigt sich dort am deutlichsten, wo er ein ritterliches W o r t als Mißbrauch kennzeichnet und ihm den vor Gott allein vertretbaren Sinn sichert. I n solchen Fällen setzt er zur Abhebung vom weltlichen Gebrauch ein unterscheidendes A t t r i b u t hinzu, so wenn er die von ihm gemeinte tugent der ritterlichen Gesinnung und Gesittung als rehtiu tugent bezeichnet (2, 176,36) 4 1 . Diese rechte Tugend heißt Gott lieben: Amate Deum. Ir sult iuwer herzen üf tugent binden. Der unmittelbare Bezug auf die ritterliche Tugend ist in folgendem Beispiel erkennbar: Nu waz weit ir herren für tugent haben? 40 Das Überlieferungsproblem muß hier außer acht bleiben. Dazu die großen Wiener Akademieabhandlungen von A. E. Schönbach, Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt, Wien 1900 ff. Zur Predigtsituation vgl. Irmgard Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, Tübingen 1961, Bd. 1, S. 14 ff. Im 2. Band Nachweise über die Zusammensetzung seiner Zuhörerschaft. 41 Vgl. meinen Artikel 'Tugend* im DWb 11, 2, Spalte 1573 fr., bs. 1579 und 1596 ff. Verwandte Züge zeigt der in der moralisierenden Haltung Berthold nahestehende 'Jüngere Titurel*. Darüber Hinweise im 'Späten Mittelalter', S. 217.

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So einer trinket, so soi der ander ein tüechelin für in heben, ein hauttwehelen, oder so einer die hende für sich hebet, so sprich et einer: cWeh, wie tugenthaft der man ist!* V i , seht, ¿¿z ist rehte ein torheit. Waenet ir daz rehte tugent si? Ez ist ein nihtesniht. Mir weere disiu tugent vil lieber an dir y danne daz dû mir ein tüechelin hebest, so ich trinke... Swer zuo den ewigen freuden welle, der soi die tugent loben und soi sich dés an nemen, daz er strite wider untugent (2, 179,5 ff.) 4 2 . E i n nur flüchtiger Blick in die mittelalterliche deutsche Mystik zeigt, daß das Verhältnis höfischer Gesinnung und Sprache zu den Ausdrucksformen der M y s t i k ein wesentlicheres und innigeres ist, als in den bisher behandelten geistlichen Texten. I m allgemeinen war davon zu Eingang dieses Abschnittes bereits die Rede. Es wurde auch schon darauf hingewiesen, daß die höfische Färbung auch dort noch wahrnehmbar ist, wo die eigentlich mystische Haltung, wie das Höfische an Adel und Auserwähltheit gebunden, einer moralisierenden Absicht und seelsorgerischen Anteilnahme gewichen ist, wie bei dem Fraterherrn Johannes Veghe und den späteren Franziskanertheologen. Es bleibt noch übrig der Nachweis, wie die Berührung m i t der höfischen Welt bei einigen großen Mystikern sich auswirkt, und wie sie zu beurteilen i s t 4 3 .

Zuster

Hadewi)ch

Die flämische Mystikerin Zuster Hadewijch, vermutlich um die M i t t e des 13. Jahrhunderts schreibend, hat ihre 'Strophischen Gedichte' nach minnesingerischem V o r b i l d geschrieben, weltliche Minne und deren Einkleidung i n Naturszenerien ins Geistliche wendend 4 4 . Sie stammt vermut42 Vgl. dazu die sinnverwandte Stelle 1, 96, 24 ff., wo höfisches Benehmen — eine botschaft hovelichen gewerben, eine schüzzel tragen oder einen becher hövelichen gebieten unde die hende gezogenliche gehaben ein gespötte vor gote genannt wird: Sich, der tugende ahtet got niht, wan also leret man einen hunt wol. 43 Die bei Hugo Kuhn, Rittertum und Mystik (Münchener Universitätsreden, N F 33), München 1962, S. 11, geäußerten Zweifel an der wechselseitigen Beeinflussung von Mystik und höfischer Dichtung bedürften genauer Begründung. Der Hinweis auf die, übrigens von niemandem ernstlich bestrittene, aber bei weitem nicht alles erklärende Abhängigkeit der deutschen mystischen Begriffe von »lateinischer Begriffs-Systematik« ist kein Einwand gegen die hier vertretene Wechselbeziehung. Das folgende soll einen, wenn auch vorläufigen Beitrag zu diesem Thema liefern. Die von Kuhn geäußerte Auffassung, das Gemeinsame zwischen Mystik und höfischer Welt läge in dem, was über den scholastischen Grundansatz hinausführe, müßte auf breiterer Ebene erörtert werden, als es in diesem, im Wesentlichen der Sprache gewidmeten Grundriß möglich ist. 44 Die aus dem Kloster Groenendal, dem auch die Standardhandschriften Ruusbroecs entstammen, nach Brüssel gelangten Handschriften der Briefe, Visionen

5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 6. Bd.

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lieh aus brabantischem Adel, was ihre Abhängigkeit von der provenzalischen Literatur erklärt. Daß daneben eine Einwirkung Veldekes anzunehmen ist, darf jetzt als gesichert gelten, wenn auch manches Deutsche seinerseits Umbildung und Fortsetzung des Provenzalischen i s t 4 5 . Theologisch ist sie, wie Jan van Mierlo gezeigt hat, von Bernhard von Clairvaux und den Victorinern beeinflußt. Der kulturelle Zusammenhang mit höfischer Welt ist selten so greifbar wie hier; ganz gleich, ob man dem romanischen oder deutschen Einfluß den Vorrang zuerkennt. Die Gedichte beginnen durchwegs mit einem dem Minnesang entlehnten N a t u r b i l d in der A r t , wie es später Seuse, nur vielgliedriger und preziöser, in seine Minnedarstellung aufnimmt. V o n dort, je nachdem es sich um die kalte, freudlose Winterzeit oder den beginnenden Frühling und Sommer handelt, geht die Dichterin auf ihre innere Lage über, Liebesklage oder Liebesfreude. Auch der menschliche Zusammenhang ist dem des Minnesangs sehr ähnlich: die Seele, van fieren moede, bekennt sich zu ihrer Minne (ic was ie op die minne stout), auch wenn sie ihr von der Umgebung verargt wird. Die merkaere kommen hier als Feinde des minniglidien Verhältnisses wieder. Z u dem Natureingang gehören die gleichen stereotypen Requisiten, wie sie im Minnesang begegnen: winter, zomer, dit nuwe jaer, di corten daghe, des somers ker; das Aufsteigen des Saftes aus den W u r zeln, bloemen fine, crude menichfout, voghele ende dier, die voghele singhen clare, voghele hoghen hären sanc, rose, dauwe; soete nature, storm, berch ende tal. Wieweit Einzelnes selbständige Erfindung ist, realistischere Umbildung der formelhaften Vorstellungen: der kalte Winter, neue Freude im Frühling für Pflanzen und Menschen, das kann hier nicht untersucht werden. Auch im Inneren der Gedichte finden sich Beziehungen zwischen äußerem und innerem Leben. Daß sich hier, wo alles Dingliche und Gegenständliche der Vergegenwärtigung geistlicher Zustände zu dienen hat, ein intellektuelleres Verfügen über das Weltliche zeigt, ist selbstverständlich. Die natürlichen Ereignisse werden indirekt cen teken openbare angeführt. Das ist im Minnesang mehr zur Einheit verschmolzen als ausdrücklich als Gleichnis bezeichnet und benützt. Die Minne ist wie i m Minnesang beglückend und quälend, Auszeichnung und Last. Die ganze Skala und Gedichte Hadewijchs, seit 1853 herausgegeben, sind neuerdings ediert von Jan van Mierlo, dem verdienten Erforscher der niederländischen Mystik in Leuvense Studien en Tekstuitgaven; die hier zu behandelnden 'Strophischen Gedichte' in zwei Bänden, Antwerpen 1942. Wichtige Hinweise verdanke ich einer von mir angeregten Münchener Staatsarbeit von Maria Assumpta Schenkl, S. O. Cist., Die strophischen Gedichte der Zuster Hadewijch und der Minnesang (1960). 45 Siehe dazu die Arbeit von M. A. Schenkl, S. 108. Dort auch eine Übersicht über die bisherigen Deutungsversuche.

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v o m Leiden bis zur Beseligung findet hier Verwendung: hoghe, vrie, soete, edele, fijne, groote, rike minne; avonture, hulde, gellte, moet (boghe, fier), troest, truwe, ere, joghet; claghen, swighen, werten; onghenade; smerten, bitter, suer pine, ellendlich; blide, Stade, vri, edel, bloede; lief ende laet; zoet en zuur. Minne regiert den ganzen Bezirk innerer Zustände; alle Differenzierungen des Fühlens sind von ihr bestimmt. Natürlich hat das seinen letzten Ursprung in geistlicher Erfahrung der Trockenheit und des Blühens der v o n G o t t verlassenen oder berührten Seele (wovon noch zu reden sein w i r d ) ; aber ihre Verlautbarung geschieht über einen im Weltlichen auf ein Grundschema hin stilisierten Vorstellungs- und Empfindungsbereich. Das »große Abenteuer« der Seele ist, der minnen natuere zu smaken. Daß die Hingabe an Gott als geistliches Abenteuer, die Minne als von hogher natuere begriffen w i r d , die den herten end nederen sinnen verborgen bleibt, Minne also als Ausnahme und Auszeichnung, wonder und grote last, ausgehalten w i r d , das ist über die geistliche Erfahrung hinaus Zugabe der weltlichen Minne-Dichtung. Die Minne-Hymnen, etwa N r . 5 und 36, lassen die Gestaltwerdung des Geistlichen im Sinnlichen als Einheit erkennen. Das ist die höchste Form, zu der diese Dichtung fähig ist. Sie faßt sich schön zusammen i n der mystischen Minneformel: minne, ic ben al dijn ... ay, edele minne, sidi al mijn (3,61); Ay ic ben al di; lief, wes al mi, alset di behaghe (25,9). Wenn in den inneren Vorgängen Geistliches und Weltliches nicht immer mit Sicherheit geschieden werden können, so machen gelegentliche wörtliche und sachliche Anklänge an die ritterliche Welt den weltlichen Überbau über ein geistliches Geschehen k l a r : want mi es die seilt so sere dorehouwen hine can intoe niet mer slagbe ontfaen

(3,26)

Mechthild Der Eindruck, daß die M y s t i k Zusammenhang mit der höfischen K u l t u r und ihrem Empfindungs- und Ausdrucksstil hat, verdichtet sich nach der Seite des Kolorits, einer minniglichen Empfindsamkeit, leidenschaftlichen Unmittelbarkeit der Bildwelt bei Mechthild v o n Magdeburg, deren adelige Herkunft als einigermaßen sicher angenommen werden kann. Unnötig zu wiederholen, daß die minnigliche Gefühlswelt aus »Hochgemutheit« der ritterlichen Welt und Unmißverständlichkeit alttestamentlicher Sinnenhaftigkeit unauflösbar gemischt ist. Aber i n einzelnen Bildelementen läßt sich das Gut seiner Herkunft nach dennoch unterscheiden. Die Vorstellungen der Heimlichkeit und Innigkeit der Liebeswerbung auf dem Minnebett gehen auf das 'Hohe Lied' zurück, wie die sich von dem gemeinen V o l k sondernde Auserwähltheit der Minnegemeinschaft ritterlicher Herkunft ist. *

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Wenn die Seele zu Gott geht, so geht sie ze hove, sie ist dort wise und wolgezogen. Gott spricht m i t ihr die hovesprache, die man in dirre kuchin nit vernimet und kleidet si mit kleidern, die man ze dem palaste tragen sol. Die Gottesminne Mechthilds erscheint als höfische Frau, edele keyserin, adellich gebildet an irme libe, wis unde rot in blueiender jugent (261,23). Vrö helikeit soll den munt der sele küssen und in ihres herzen grünt wonen (263,11). Auch wenn dahinter geistliche Vorstellungen stehen, die Formulierung ist Gut weltlichen Minnesangs. Das bräutliche Verhalten Jesu zur minnenden Seele hat seine Empfindungskraft aus dem 'Hohen Lied', ist aber vielfach in höfische Szenerie und die Form höfischer Gesittung eingekleidet. Dabei kann das N a t u r b i l d seine ländliche Färbung sowohl dem 'Hohen Lied' wie der höfischen Dichtung verdanken. A n verschiedenen Stellen finden sich höfisch gefaßte Begegnungs- und Tanzszenen (5,34 ff.; 60,7 ff.; 252 f.; besonders S. 18—22). Die Begegnung von Bräutigam und Braut (geistlich und weltlich vorgebildet) geschieht i m süßen Morgentau; ihr folgt die festliche Bekleidung, der lobetanz (auch bei Seuse), das Ruhen in der Kühle am Brunnen. Die berühmten Zeilen: Ich bin ein vollewahsen brüt, Ich wil gan nach minem trüt (21,25) zeigen die völlige Verschmelzung der Hohenlied-Minne mit höfischer Empfindung. Die Brautminne des A l t e n Testamentes w i r d als höfische Minne gefaßt und umgekehrt. Das i m 'Fließenden Licht der Gottheit' dargestellte geistliche Leben hebt sich entweder ausdrücklich oder unausgesprochen von weltlicher Minne ab. Die Minne dieses Buches (oft auch im Ausdruck von der zu überwindenden valschen minne als gottes minne, ungevelschte gottesminne abgehoben) heißt Absage an die Welt und ihre Formen: Do ich zuo geistlichem leben kam / Und zuo der weite urlop nam (94,17). Die geistliche Minne ist W i derruf der weltlichen Minne; auf diesem Grunde muß das Ganze, wie manche einzelne Anspielung gelesen werden. Die neue, adelige vrö minne, der gegenüber sich die Seele als doerperinne empfindet, die gefunden zu haben aber ihre Seligkeit ist, hat sie alles dessen beraubt, was das bisherige Leben ihr gewährt hatte. Dieses Bisherige aber ist deutlich höfisch umschrieben: jugent, guot frunde und mage, weltlich ere und allen weltlichen richtuom. A n Einzelnem in Wortschatz und sprachlichen Bildern, an direkten A n spielungen auf Realien ritterlicher K u l t u r , wäre vieles anzuführen, das den Zusammenhang Mechthilds mit Empfindung und H a l t u n g der höfischen Welt belegt 4 6 . Eine umfassende Darstellung dieses Verhältnisses, das Jo40 Die Auffassung, daß in Mechthilds geistlicher Minne geistliche und weltliche Motive in- und nebeneinander die Ausdruckswelt prägen, ist von Wilhelm Preger bis Grete Lüers, Joseph Bernhart und Walter Muschg verschiedentlich ver-

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seph Bernhart m i t der Formel umschrieben hat, Mechthild sei »die V o l l streckerin des Testaments« Walthers von der Vogelweide (Cyperwein S. 29) muß trotz Grete Lüers' verdienstvollem ersten Versuch noch unternommen werden. Dabei wären auch die einschränkenden Äußerungen Schwieterings (Dichtung des Mittelalters, S. 302 f.) genau zu bedenken. Eine solche Gesamtdeutung hätte w o h l darin zu gipfeln, daß, während Hadewijch die Minne als Abenteuer erlebt, Mechthild die Minne als Q u a l und Seligkeit des Erkennens und Verlierens erfährt. Die äußeren Formen sind die höfischer Begegnung und schweren Abschieds. Die Tageliedsituation (209,10 ff.) ist eine der Stationen dieser geistlichen Minne; auch hier wieder kehrt ursprünglich geistliches Gut in höfischer Umstilisierung ins Geistliche zurück 4 7 . Die Verhältnisse in Mechthilds 'Fließendem Licht der Gottheit' bekommen eine ungeahnte Aufhellung, wenn man sie von Seuses späterer Minnemystik her betrachtet. Bei ihm stehen w i r , schon infolge des breiteren M a terials und einer ungehemmteren Ausdrucksweise auf Grund eines redseligen Temperaments, auf gesicherterem Boden 4 8 . Die Kennzeichnung als »geistlicher Minnesänger« (seit W . Scherer) läßt die andersgeartete Lage erkennen. W i r werden aber sehen, i n welcher Richtung diese Formel abgewandelt werden m u ß 4 9 . Heinrich Seuse Der Grundton der M y s t i k Heinrich Seuses ist der der Minne. Es gibt ganze Kapitel oder längere Abschnitte i n seinen Büchern und Briefen, i n treten worden. Sie ist einleuchtend einfach deswegen, weil es kaum anders sein kann, als daß jemand nach 1200 seine Erfahrungen gefühlsmäßig und bildmäßig mit den Mitteln weltlicher Minnedarstellung umschreibt, so wie die spekulativen Mystiker ihre theologischen Grundlagen der Theologie ihrer Zeit, der Scholastik, entnehmen mußten; oder moderne Mystiker, wie Madeleine Semer, sich sprachlich in der Empfindungs- und Vorstellungswelt Nietzsches oder Bergsons bewegen. 47 Vgl. dazu Theodor Kochs, Das deutsche geistliche Tagelied, in: Forschungen und Funde 22, Münster 1928, S. 1; 25 f., und Grete LüerSy S. 76 f. 48 Wichtige Nachweise gibt die Arbeit von J.-A. Bizet, Suso et le Minnesang, ou la morale de l'amour courtois, Paris, Aubier 1947. Bizet stellt vor allem stoffliche Parallelen, nicht nur direkte Ubernahmen, sondern auch Anklänge zusammen, nach verschiedenen sachlichen Gesichtspunkten geordnet. Bizet spricht von einer emprunte à la litêrature courtoise (S. 25), wodurch Seuse évoque la manière du Minnesang, und nennt ihn einen miroire profane. Er transponiere sur un mode romanesque (den Minnedienst) ses relations avec la divinité (30). Darin enthüllte sich eine affinité de tendance ..die einen Aspekt der sensibilité médiévale enthüllte. — Die nachfolgende Darstellung ruht im wesentlichen auf eigenen Sammlungen. 49 Seuses Werke werden nach der Ausgabe von Bihlmeyer (1908) zitiert: Vita; BdW = Büchlein der Wahrheit; BdeW = Büchlein der ewigen Weisheit; Horol. = Horologium Sapientiae (ed. Jos. Strange 1861).

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denen weltliche Minnevorstellungen ins Geistliche umgesetzt werden, oder besser: geistliche Liebe i n den Farben weltlicher Liebeshuldigung und -hingenommenheit erscheint. Das sind vor allem Kapitel I I I der 'Vita* (wie er kam in die geistlichen gemahelschaft der ewigen wisheit) y in welchem das 1. Kapitel des 'Horlogium' benutzt worden ist; Kapitel V I I I der ' V i t a ' (wie er begie das ingend jor), w o r i n ein geistliches Minnegedicht (mit dem Hinweis auf einen schwäbischen Neujahrsbrauch, in dem die Burschen Lieder singen und die Geliebte um ein schapel bitten) dem ewigen liep huldigt (27,1—14); das minnesingerisch gefärbte Kapitel X X X V I der 'Vita*, das sich, auf Maria übertragen, in den Kapiteln X V I und X V I I wiederholt. I n weiterem Abstand gehören hierher die Kapitel X I I , X X I X und X L I der 'Vita'. Endlich die Kapitel I , I I I und X I des 'Großen Briefbuches' über die wahre und falsche Minne, in denen der Bezug auf die weltliche Weise sich ähnlich wie bei Mechthild in dieser Entgegensetzung andeutet. Seuse selbst sieht sich als Minnenden, der das Zeichen seiner Geliebten als ewiges minnezeichen auf seiner Brust trägt, wie der Ritter das Zeichen seiner vrouwe (Vita, K a p . I V ; dazu die lateinische Fassung, H o r o l . 221,14 ff.: sue sponse vanum nomen in veste seculari). Sein einigez liep ist die Ewige Weisheit, das bedeutet, daß die leidenschaftliche Auslegung der ihm gewordenen Einheitserfahrung unter dem Bilde der Liebe und des Liebesvorgangs geschieht, in sinnlicher, an heimisches Gut angelehnter Vergegenwärtigung, wie sonst nur noch bei Mechthild, und gefühlsmäßiger Üppigkeit, darin von der elementaren und herben Kraft Mechthilds abweichend, ein Zeuge einer ins Empfindsame und Reizbare gewandelten Zeit. Der Eindruck des Differenzierten, Bewußten, Unnaiven, der ihm gelegentlich als Unechtheit und literarische Mache vorgeworfen wurden i s t 5 0 , verstärkt sich noch dadurch, daß eine hohe dialektische und spekulative Begabung sich m i t der Sinnlichkeit des Sehens und Empfindens mischt. Seine lehrhaften Kapitel in der 'Vita', vor allem das 'Büchlein der Wahrheit', sind von außergewöhnlicher Fähigkeit zu subtiler Unterscheidung und geistiger Gliederung getragen. Aber selbst in ihnen dringt die minnigliche Grundlage seiner Fühlweise durch, auch wenn sie sich weniger i m Stofflichen als i n der Temperatur äußert und sich in stilistischer Intensität, Bewegung, Übertreibung kundtut, w o v o n oben die Rede gewesen ist. Die Wortsippe minne beherrscht in vielfacher Aufgliederung den W o r t schatz Seuses. Das bedeutet im Sachlichen Abhängigkeit sowohl v o m Alten Testament, insbesondere dem 'Hohen Lied', wie von der christlichen Gottes- und Menschenlehre überhaupt, für die die Liebe Gottes zum Menschen 50 Am entschiedensten von Walter Muschg, Die Mystik in der Schweiz, Frauenfeld u. Leipzig 1935. Siehe dazu meine Besprechung im Anzeiger f. deutsches Altertum, Bd. 56 (1937), S. 165—173, bes. S. 169 f.

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und umgekehrt wesentlich ist. Die sprachliche Formung, auch wenn minne, gelegentlich auch liebe, Übersetzung von Caritas, dilectio, amor sein können (wie überall i n geistlicher deutscher Prosa und Dichtung), geschieht bei Seuse aus deutschem Sprachempfinden, i n genauerem Sinne aus ritterlicher Gesinnung. Ein Vergleich paralleler Stellen i m 'Büchlein der ewigen Weisheit', der ' V i t a ' und dem 'Horologium sapientiae' läßt mit aller Deutlichkeit erkennen, wie die deutsche Fassung in den meisten Fällen sich unabhängig v o m lateinischen Text aus deutschem Sprachgefühl entfaltet; wie auch das Lateinische sich nach eigenem Gesetz formt. Einander entsprechende Stellen stehen zueinander nicht i m Verhältnis der Übersetzung. Der deutsche Sprachton führt Seuse andere Wege; m i t der deutschen Sprache w i r d eine andere Empfindungswelt lebendig 5 1 . Die Verwendung des Wortes minne, seiner Ableitungen und Zusammensetzungen stimmt weithin m i t der in der weltlichen Minnedichtung überein: minne, minnend, minneclich, minnelos, minnerieb, minnesam, minneböte, -brief, -dieb, -luder, -spil, -vackel, -wort, -zeichen, -zil; minnesied), 61 Eine deutliche Stelle ist bereits oben angeführt: BdeW 234, 13; Horol. 80, 24. Vgl. weiter BdeW 198, 3, und Horol. 10, 24: in der minnenden sele bilde — in persona alieuius qui affectuose Christum diligit. Die deutsche Formel ist unabhängig vom lateinischen Wortlaut. Oder Seuses Diktion im Verhältnis zu Bernhard von Clairvaux: ein minnerichen Zungen ein unminneriches herze enkan als wenig verstan, als ein tütscher einen walhen (199, 24). Dazu Bernhard Sermo 79 in Cant. n. 1, Nachweis bei Bihlmeyer: omnino non potest capere ignitum eloquium frigidum pectus. Im Deutschen trotz der inhaltlich genauen Entsprechung ein aus späthöfischem Sprachempfinden lebendes preziöses Wortspiel, Gegensatzfügung und Wortneuprägung. Ähnlich Vita 19, 26 ff.; Horol. 20, 17—20 (Sirach-Zitat). Aufschlußreich ist BdeW 213, 26: Horol. 40, 9 (minnerich und rosenvarw ursprünglich gegenüber dem Horol.). Ein genauer stilistischer und gehaltlicher Vergleich bedürfte einer eigenen Darstellung. Hier müssen einige Hinweise genügen. Die Frage der zeitlichen Folge von BdeW und Horol. kann ebenfalls außer acht bleiben; sie ist auch für die angedeutete Frage ohne Bedeutung. Viele von mir unternommenen, in dieser Arbeit nicht verwertbaren stilistischen Einzelbeobachtungen stützen die von K. Bihlmeyer und D. Planzer O. P. vertretene Ansicht, daß das BdeW vor dem 'Horologium* geschrieben worden ist. Wie immer auch die Reihenfolge gewesen ist, in keinem Fall kann es sich um eine »Übersetzung« gehandelt haben. Die zweite Fassung war eine freie Bearbeitung der ursprünglichen. Beide Texte, auch wenn sie voneinander abhängig sind, prägen ihren sprachlichen Ausdruck aus der Besonderheit ihrer jeweiligen Sprache. Dies um so mehr, als Seuse beide Sprachen in gleicher Weise sicher beherrscht. Es mag noch einmal mit Nachdruck betont werden, daß die Feststellung einer im Deutschen begründeten Stilform bei Seuse kein Rückfall in überwundene Anschauungen einer primär »deutschen« Mystik als eines Beginnes einer deutschen Metaphysik bedeutet. Daß die theologischen Wurzeln in einer christlichen Erfahrung liegen und das Begriffs- und Vorstellungsmaterial das der Scholastik ist, braucht nicht mehr bewiesen zu werden. Damit ist auch gesagt, daß die von Friedrich Neumann gegen die Arbeiten von A. Gebhard und C. Heyer vorgebrachten Einwände (N. Jahrb. f. d. Klass. Altertum 25 [1922]; AfdA 60 [1923]) bis heute gelten.

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-wunt. Die häufig vorkommenden minner und minnerin (seit dem 'St. Trudperter Hohen Lied') lassen den direkten Bezug zum weltlichen Bereich erkennen, wenn sie entweder die dortigen Vorstellungen unmittelbar übertragen (hohü minnerin) oder in ausdrücklichem Gegensatz zu den weltlichen Liebhabern stehen, als wäre minner v o n den valschen (211,22; H o r o l . : falsi amatores) getrennt werden. Weit verbreitet bei Seuse ist liep, n. (lieplich), das in vielfacher Verbindung vorkommt: min einges liep, daz einig liep, userweites liep; minnekliches, liebes, schönes, zartes, süsses liep; liep ob allem liebe. Die Verbindungen einiges liep und userweites liep sind geläufige Formeln im späten Minnesang und dem Volkslied; ihnen verwandt sind min einic ein und einger userweiter trost, beide als Liebesformeln. Die Kompliziertheit der Lage zeigt sich darin, daß einic ein geistlich auch unabhängig von der Liebesdichtung möglich ist, etwa bei Eckhart: (dem edlen mentschen) begnueget nit dan an dem ainigen ain, d. h. an dem einvaltigen, glichen, nicht geteilten oder unterschiedenen Sein Gottes; oder bei Tauler 176,9: und werdent die zwei abgründe ein einig ein, ein luter gcetlich wesen (im Anschluß an Ps. 44,8); ebenso bei Seuse daz einig ein, daz got ist (106,35; vgl. auch 177,27 ein einiges ein ... in ainvaltiger blossheit). Erst bei Seuse w i r d diese Formel ins Minnigliche übertragen für die Liebeseinheit von G o t t und Seele. I m Anschluß an diesen Gebrauch bildet sich die Anrede an den Geliebten, min einiges ein (313,1), die vermutlich v o n hier ins weltliche Liebeslied übergeht (mein liebstes ain, Hätzlerin I , 39,15). Christus spricht v o n den lidenden menschen: ich wil sü als inneklich durküssen und als minneklich umbvahen, daz ich sü und sü ich, und wir zwei ein einiges ein iemer me eweklich sülin bliben (Vita 93,18 f f . ) 5 2 . Es sind also zwei Vorstellungen zu scheiden: das einfache ungeteilte Sein Gottes oder der Seele und die Ungeteiltheit der Liebeseinung. Der Zusammenhang und der Verlauf der Beziehungen zwischen geistlichem und weltlichem Bereich ist schwer zu beurteilen. Vermutlich, wie auch sonst, ist der doppelte Weg, von dem zusammenfassend noch zu sprechen sein w i r d , anzunehmen: erste Ausprägung als theologischer Begriff, Entlehnung ins Weltliche, Neuaufnahme aus dem Weltlichen ins Geistliche. Das gilt w o h l auch von der den eben angeführten Beispielen verwandten Minneformel: ich bin din, du bist mintt. Vermittelnd war das Hohe Lied (6,2: ego dilecto meo et dilectus 52 S. weiter: D W V , S. 114 ff. und die in der Anmerkung zu D W I , S. 251,15 von Quint verzeichneten Parallelen, einigez ein ist hier so viel wie einvaltigez ein, D W I , 93, 8; auch vom Seelengrund, der wie Gott einvaltic ist, gesagt. Vgl. noch Seuse 225, 16; 294, 23; Lüers, S. 175 ff.; Ph. Strauch zu Margarete Ebner 69. 27. 53 Lüers, S. 27 f., S. 309 f.; Schwietering, Tristan, S. 15; Jan von Ruusbroec, Leven, Werken. Onder de Redactie van het Ruusbroec-Genootschap Antwerpen (Amsterdam 1931), S. 323, Anm. 1; Ph. Strauch zu Adelheid Langmann 47, 9 ff.

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meus mihi; i m Offertorium des Missale v o m 7. Dezember auf Maria bezogen; vgl. etwa Seuse 267,4 ff.). I n der oben angeführten Stelle Seuse 93,20 werden beide Formeln, einic ein und ich bin din, miteinander verbunden. Neben den Grundwörtern minne, liep und ein findet sich eine reiche Skala von Wörtern und Formeln, mit denen A r t und Weise der geistlichen Liebesbeziehung in den Farben weltlicher Minne umschrieben wird. Minnigliches w i r d sogar auf die Gestalt des Schmerzensmannes und der Mater dolorosa übertragen: I h r Leid trägt das Gewand höfischer Minneund Weltklage. Aus dem Gesamtbestand minniglicher Vokabeln seien angeführt: ho flieh, hoher muot; trut, herzenstrut; zart, zarten, Zartheit, zärtlich, zartsuochend; umbvahen, umbhalsen; elend, eilenden, senen, senlich, seneder jamer, versenede sei, jameric, süezez we; tuot minem herzen we (dem späten Minnesang, etwa Neifen, und Lied geläufig); fin, sich finlich ufmachen; süez (in vielfachen Abwandlungen) inbrünstic, durchliuhtic (Tristan, K o n r a d von Würzburg, Neifen); tanz, springen, harphen, gigen, singen, summerwunne, mai, vogelin, beide, tal, rosen, lylien usw. H e r v o r gehoben aus der Fülle allgemein die höfische Welt charakterisierender, auf den »geistlichen Mai« (auch hier wieder die ausdrückliche Entgegensetzung) übertragener Ausdrücke seien noch die beiden Formeln: greessü wunder beeren sagen (12,14) und Wunsches gewalt (93,15; 242,14; zitliches [ ! ] Wunsches gewalt (378,7). Dem letzteren, sich bis ins Volkslied fortsetzend, entspricht das lateinische delectabilium copia, optabilium affluentia (Horol. 97,7), das wie eine etwas mühselige Anlehnung an die deutsche Formel aussieht. Abgesehen von den bereits aus dem Wortschatz erkennbaren Inhalten ist die Seusesche Minne vor allem durch zwei Züge gekennzeichnet, durch Zu den geistlichen Parallelen bei Lüers seien hinzugefügt: Hadewijch, Stroph. Ged. 3, 61; 12, 67; 27, 46; 36, 92; 38, 44. Die minnende Seele 189 f. bei K. Bartsch, Erlösung. (Veghe), Wyngaerden der sele (Hrsg. von Rademacher, Hiltrup 1940) 86, 9, 15; 94, 26 (im Anschluß an Cant. 6, 2). Ruusbroec, Werken (Amsterdam 1932) 3, 267, 11; 4, 5, 5. Brun von Schonebeck, Das hohe Lied, 691. Im St. Trudperter Hohen Lied wird die Stelle C. c. 6, 2 merwürdigerweise übergangen. Die weltlichen Parallelen seit MF 3, 1 (siehe Belege bei Vogt MF [19201) bei C.v. Kraus, MF. Untersuchungen S. 1. Hier wird die Frage der geistlichen Herkunft umgangen. Ich verzeichne noch: Tristan 183, 42 ff.; Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich 7032 f., 7046 f. Tannhäuser I I I , 55 (Siebert). Vielleicht steckt auch hinter dem Bild vom verlorenen Schlüssel des anonymen Liedes aus Tegernsee (MF 3, 1) eine geistliche Erinnerung: der Schlüssel Davids (Apoc. 3,7). Vgl. etwa (Veghe), Wyngaerden der sele 92, 65 ff. und 93, 20 ff., wo diese Stelle auf das Kommen Gottes in das verschlossene Herz des Menschen bezogen wird. C. v. Kraus weist in den 'Untersuchungen' auf S. Singer hin, der die Verbindung der Identitätsformel mit dem Bild vom Schlüssel auch in einem italienischen Volkslied gefunden hat. Bei Veghe folgt die Einheitsformel kurz nach den eben genannten Stellen.

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die Verbindung von minne und leit und durch eine bewußte Abhebung von der valschen minne der Weltleute. I n der Verbindung von minne und leit w i r d die der weltlichen Dichtung geläufige Erfahrung, daß liep âne leit mac niht gesin ( M F 39,24), oder wie liebe mit leide ze jungest Ionen kan (Nibel. 17,3) ins Geistliche übertragen. Wenn mit der weltlichen Formel auch der Wechselbezug zwischen Freude und Leid gemeint ist, so steht sie doch in einem geheimen Zusammenhang mit der dem Minnesang und der Epik eigenen Auffassung, daß Liebe und Leid einander antworten. Die Stelle ist schwer zu bestimmen, wo liep bereits Liebe bedeutet. Der zu polarer Spannung (s. den Prolog) in Wertung und Stil neigende G o t t fried von Straßburg hat Formel und Gesinnung besonders ausgebildet 54 . Seuse übernimmt sie aus geistlicher Erfahrung von dem Paradox des Besitzens auf Grund des Verlustes und der Selbstpreisgabe und kleidet sie in die sprachliche Form der Gottfried-Nachfolge. I n einer ganz ins Höfische stilisierten Vision erfährt er, daß das Jesuskind auf dem A r m der Mutter allein das zart herzenstrut sei, in dem man liep ane leit heti ( V i t a Kap. X L I , S. 140,10). Das ist die sinngerechte Übertragung der weltlichen Formel ins Geistliche, und zwar in der Form, daß die Beziehung zum weltlichen V o r b i l d durchfühlbar ist. Eine erweiternde Umschreibung der gleichen Formel findet sich im 'Großen Briefbuch' (431,23 ff.: git er leit , er git och liep ,.. . und: du bist allein daz guot , in dem man stete froede , gantzen fride, und liep ane leit findet .) Diese Auffassung, daß in der Liebe, außer in der zu Gott, Freude und Leid zueinander gehören, verdichtet sich bei Seuse, indem er sich auf alte Tradition beruft, zu der seinigen, daß Liebe nicht ohne Leiden sei, wobei er auch die geistliche Liebe einschließt. Eine gestufte und spannungsreiche Weise, von der schwer zu sagen ist, wann die Verquickung von liep âne leit und minne, lieb und lîden geschehen ist. Sicher war Seuse nicht der Erste. Nach seiner Meinung gehört zur minne von altem recht liden (13,15 ff.); deswegen ist doch enkein werber , er sie ein Uder , noch kein minner , er si ein martrer. I n diesem Gedankengang verweist er auf die weltminner und gebraucht die alte Formel es si in lieb ald leid (13,19), die in der entsprechenden Stelle im H o r o l . 18,8 fehlt. Woraus wieder hervorgeht, daß sich der deutsche Text aus eigenem W o r t - und Stimmungsgehalt herleitet. Der allgemein religiöse U n tergrund w i r d erkennbar, wenn Seuse das Nebeneinander von Freude und Leid als zum Dasein überhaupt gehörig erklärt: So bist du in dem eilenden jamertaly in dem liep mit leide , lachen mit weinenne, vroed mit trurkeit vermischet ist ... hüt liebes vil , morne leides ein herze vol s sich , daz ist dis zites spil (237,14 ff.). Die variierende Form, durch Reimspiel verstärkt, 54

Vgl. dazu H.de Boor, DVS 18 (1940), S. 273 f.

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verweist wieder auf den Sprachstil der nachhöfischen Zeit. Oder, wieder in deutlicher Parallele zu weltlicher Sprache: owe, kurtzes liep und langes leit (449,13; ferner 399,32; 30,23 f.; vgl. Tristan 1409). Manche der bisher angeführten Beispiele ließen eine bewußte Abhebung der geistlichen Minne von der höfischen erkennen, wie es bereits, aber weniger ausgeprägt, bei Mechthild der Fall war. Das zeigt sich wiederum bereits im Wortgebrauch. Attribute verweisen darauf, daß bestimmte W ö r ter aus ihrem ursprünglichen Bereich in einen entgegengesetzten versetzt werden: zerganclich minne, zitlich minne, zerganclich liep, zitlich liep, liep diser weit, valsche minner. U n d im Gegensatz dazu: geischlich minne, rehter minner. I m Horologium: divinus amator y terrenus amator y amatores huius mundi. Seuse siedelt seine minnigliche H a l t u n g als die einer edelen sele y eines edelen herzens in der Nähe der ritterlichen edelen sele an, wogegen Eckharts edelez herze unmittelbar aus der theologischen Anschauung der Ebenbildlichkeit des Seelengrundes, der nach Gottes B i l d geprägt ist (ieinvaltic, bloz, lüter usw.) abgeleitet ist. Seuse bezieht sich auf die Tatsache natürlichen Adels in Herkunft und Gesinnung, wenn er v o m natürlichen adel (137,28; 408,3) im Gegensatz zum ewigen adel spricht, oder vom natürlichen edeln hertzen (408,6) im Gegensatz zum minneklichen y edeln herzen der Gottesminner (137,27). I m X I . Brief des 'Großen Briefbuches' (teilweise übereinstimmend m i t dem 'Kleinen Briefbuch' S. 366,7 ff.) w i r d gesagt, daß sich die wahren Liebhaber von den Kreaturen zu dem wahren hertzentrut wenden, der allein die sele edelt (438,28). Das ist ein deutlicher Bezug auf die edele sele Gottfrieds und dessen Minnetheorie; wobei Gottfried hier mehr einen T y p als eben den genannten einzelnen Dichter bezeichnen soll. Die Gesinnung des Minneadels w i r d durch die geistliche Liebe ersetzt. Das besagt nicht, daß nicht Gottfried seinerseits von der Mystik abhängig sei. (Darüber weiter unten Zusammenfassendes.) Solche Absage an die weltliche Minne findet sich auch bei Dichtern, sobald ihnen das Minnewesen verdächtig geworden ist. H a r t m a n n hat vermutlich als erster werltminne y M F 2 1 8,5—2 8 5 5 . Walther (67,20 ff.) bekennt, daß seine Seele des libes minne für der sele leit erklärt, und daß sie der waren minne ganzer stsetekeit giht. Das Neue bei Seuse besteht darin, daß die ganze Minnewelt aus ihrem bisherigen O r t ins Geistliche übertragen w i r d , oder anders, daß seine Gottesliebe dadurch, daß sie in den Bildern und der Stimmung der weltlichen Liebe erscheint, diese aufhebt und ungültig macht. Was bei den Minnesängern 55 Vgl. Deutsche Wortgeschichte, hrsg. v. F. Maurer u. F. Stroh, Bd. 1 (1959), S. 168. Ferner die Anmerkungen in MF (Kraus) zur Stelle und 'Untersuchungen', S. 433 ff.

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vereinzelte Klage ist, w i r d hier Umdeutung einer als falsch gewerteten Welt in ihr Gegenteil. Seuse selbst hat diesen Vorgang im Ganzen und im Einzelnen gedeutet. Er w i l l geistlichen sin in liplichen Worten geben (224,2); dicebat verbis mentalibus ad sponsam suam (Horol. 24,10). Eine überholte Welt w i r d unter Beibehaltung ihrer Ausdrucksformen durch eine wahrere, höhere ersetzt. Das bedeutet für das einzelne Bild, daß die Worte nicht mehr eigentlich, sondern metaphorisch aufgefaßt werden müssen. I m Prolog zum 'Horologium* spricht er von figurata locutio (10,33), im Prolog zur 'Vita* von bildgebender wise (3,3), i m Schlußkapitel von bildgebender glichnus (191,1). Den gleichen Vorgang bezeichnet er im Prolog zum 'Büchlein der ewigen Weisheit' als usgeleitü bischaft (197,23), agnicio quedam ineffabilis (Horol. 20,31). Die in der Minne ergriffene ewige Weisheit w i r d mit den inren ogen gesehen (14,9); das innere Gesicht bedient sich aber der in der H l . Schrift und in der Zeit überlieferten Empfindungen, Formen und Vorstellungen, wie es i m 3. Kapitel der ' V i t a ' beschrieben w i r d . I n dem den deutschen Schriften korrespondierenden 'Plorologium' heißt es zusammenfassend: que omnia non quidem ad litter am, sed secundum sua signata vera fuerunt (11,6). Wie in der höfischen Dichtung ist bei Seuse die Minnevorstellung mit dem Rittertum verbunden. Der die Ewige Weisheit Minnende ist ein riter und trägt seine Aufgabe und sein A m t als geischlichü ritterschaft (56,3); ritterlichü uebung (64,15) befähigt ihn zu seinem Dienst. Er ist ein frumer riter des keiserlichen herren (91,34). Vielfache Äußerungen Seuses bekunden seine Kenntnis höfischen Wesens. Aus 'Horologium' und 'Vita* geht hervor, daß diese Welt ihm v o m Lesen und H ö r e n bekannt gewesen ist. I n der 'Vita* beruft sich Seuse einfach, um das Leiden des geistlichen minners zu rechtfertigen, auf das, was die weltminner um ihrer Liebe willen erdulden müssen (nim her für alles daz ungelük und Verdrossenheit, daz di weltminner muessen erliden 13,18). I m 'Horologium' steht an der entsprechenden Stelle (18,7): Revolve nunc innumera et stupenda que le gisti et audivisti, que prochpudor huius mundi amatores ex amore vanissimo sustinuerunt. Mag das aus einer Rolle (nämlich des der Minne Dienenden) heraus gesagt sein, also nicht unbedingt, wenn auch wahrscheinlich, besagen müssen, daß er, Seuse, von weltlichem Minnedienst gelesen und gehört hat, so ist doch als sicher anzunehmen, daß er um das Lesen und H ö r e n von Minnedichtung in der höfischen Gesellschaft wußte. Die übrigen Stellen, vor allem der Schluß des 3. Kapitels der ' V i t a ' lassen kaum einen Zweifel, daß er selbst loblieder horte singen oder suezzü seitenspil erklingen oder von zitlichem lieb hört sagen ald singen (15,3; vgl. auch 135,10 oder 56,5: die verruemten helden, von der kechen riterschaft dü weit pfliget ze singen und ze sagen). I m 'Horologium' w i r d gesagt, daß er

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cantbilenas amorosas gehört habe (23,16). Singen und Sagen 56 ist eine mehrfach wiederkehrende Formel bei Seuse, die zusammen mit der stilistischen Form solcher Hinweise (man beachte die Reime in dem eben angeführten Beispiel) Seuses Vertrautheit mit dichterischer Übung i n der weltlichen Gesellschaft bezeugen. Es mag in diesem Zusammenhang nicht ohne Interesse sein, daß Seuse die Vagantenpoesie gekannt hat. Paul Lehmann 5 7 hat einige Verse aus den 'Carmina Burana' (Schmeller N r . 82) i m ' H o r o logium' (93,9—10) nachgewiesen. Darüber hinaus wäre nachzuprüfen, ob die poetisch gefärbten, z . T . gereimten Stellen 224,15 ff.; 235,7 f.; 238,6 f. im 'Büchlein der ewigen Weisheit' Zusammenhang mit der Vagantendichtung haben. Auffällig ist auch, daß die Weltklagen, zu denen sich die Minneklagen erweitern können, i m Wortschatz und stilistisch sich mit den späteren, etwa i m 'Ackermann aus Böhmen', berühren (BdeW 5,6 u. 11. Kapitel, 1. und 2. Brief im 'Briefbüchlein'). Vielleicht liegt hier gemeinsame H e r k u n f t aus meistersingerischer Tradition vor, wie sie A r t h u r H ü b ner für den 'Ackermann' nachgewiesen hat. Es ist nicht zu überhören, daß etwa die Klage der Verdammten i m 11. Kapitel des 'Büchleins der ewigen Weisheit' v o m T o n der Höllendarstellung Mechthilds verschieden ist. A l l e diese Bemerkungen lassen es als sicher erscheinen, daß Seuse Kenntnis der höfischen, nachhöfischen und volkstümlichen Literatur und ihrer Gesittung besaß, und daß er ihrem Reiz, ihrer besonderen Stimmung hingegeben war. Seuses Vorstellung von Ritter und Ritterdienst hat, wie nach dem V o r ausgehenden selbstverständlich ist, zwei Wurzeln: eine geistliche, die religiöse Existenz als königlichen, mühseligen Dienst begreift (Altes Testament, vor allem Job und Hohes Lied, und Paulus. Vgl. etwa auch Bernhard von Clairvaux, Serm. in Cant. 1 n. 9), und eine weltliche. Der I n h a l t : Kampf, Mühe, Härte w i r d v o m Religiösen her bestimmt; die oft eigenartig damit kontrastierende zierliche, empfindsame Einkleidung und Gesinnung w i r d aus dem Höfischen übernommen. Der Stand des Knappen trägt asketische Züge; die Ritterschaft, durch den Ritterschlag, den er in einer gesiht empfängt, erworben, ist eine hohe Schule der Gelassenheit ( V i t a Kap. X I X ) . Die Nachfolge des Leidens Christi kann nicht in Zartheit geübt werden; sie erfordert ritterliche vestekeit und ein wajenkleit (205,8 ff. I m H o r o l . ist die Stelle unter Hinweis auf D a v i d erweitert, 29,9 f.). Es ist ein weiche riter, der von Überkraft dez her es einest hinder sich gewichet, der 56 Die alliterierende Formel geht ins Westgermanische zurück; nach A. Heusler stammt sie aus der »geistlichen Sprache Englands« als Nachbildung lateinischer Wendungen wie cantare — narrare; Altgermanische Dichtung, 21941, S. 39. Im Mittelhochdeutschen ist sie vor allem in der Spielmannsdichtung heimisch. Näheres s. DWb 8, 1659; 10 I, 1048 f. Dort weitere Literatur. 57 Historisches Jahrbuch 1938, S. 128 f.

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dar umbe aber nit kechlich hin wider tringet (Briefbüchl. 365,15). Der geistliche Ritter muß so streiten, wie der, der an die beiden vihtet (246,5 f.). Diese Erfahrung w i r d nun, nicht nur von der Gestalt der Ewigen Weisheit her, in rührende, empfindsame, minnigliche Züge gekleidet. Dem in allem Weltlichen so reht grossen gebresten erleidenden jrumen riter w i r d in einer gesiht göttliche Labung und Trost versprochen. Maria erscheint ihm mit dem siebenjährigen Jesusknaben, der einen K r u g trägt, und reicht ihm den Trank. Überhaupt ist die Gestalt Mariens, sofern sie nicht die Schmerzensmutter ist, mit minniglicher Zartheit umgeben. U m der Gottesmutter willen bietet er den Frauen zuht und ere (49,18); ritterliche Züchtigkeit verbindet sich mit der Verehrung Mariens; geburschheit (123,13), selbst einer Unwürdigen gegenüber, lehnt er ab. Er w i l l sogar an der Verleumderin aller reinen frowen namen eren (123,10). Leiden bedeutet Rosen tragen (Vita Kap. X X I I ) ; darin schließt sich Geistliches und Ritterliches zusammen. M a n hat versucht, die Visionen Seuses, oder seiner geistlichen Töchter, als spätere Zutaten aus der 'Vita* auszuscheiden. Das bedeutet aber doch, den eigentlichen Seuseschen T o n um des Ärgernisses willen verkennen, den solche Mischung erregen kann. Das Ritterkapitel ( X X . ) und das Rosenkapitel ( X X I I . ) gehören zusammen und bilden i n ihrer Einheit erst den ganzen Seuse 58 . Seuses ritterliche und minnigliche H a l t u n g konzentriert sich in seinem Dienst an der Ewigen Weisheit. Seine Christusliebe und Nachfolge kleidet sich in die Verehrung für sein ewigez liep, also für eine weibliche Gestalt, die m i t allen Zügen minniglicher Schönheit ausgestattet w i r d . Das wäre bei Eckhart und Tauler undenkbar. Wie bei der Auffassung Seuses von der geistlichen Ritterschaft liegt der Ursprung in biblischen Vorstellungen, vor allem der Sapientia des Alten Testaments. I m dritten K a p i t e l der 'Vita' (Wie er kam in die geistlichen gemahelschaft der ewigen wisheit) hat Seuse die Entstehung seines Bildes der Ewigen Weisheit dargestellt. Dabei verweist er auf sein büchlin der wisheit in tütsch und in latin, also 'Büchlein der ewigen Weisheit* und 'Horologium Sapientiae' 59 . Als Quelle gibt er 58 Über die Echtheit der Vita Seuses und manche Fragen der Deutung vgl. neben der zahlreichen älteren Literatur zu diesem Problem Jul. Schwietering, Zur Autorschaft von Seuses Vita, zuerst 1953, jetzt in: Mystik und höfische Dichtung im Hochmittelalter, 1960, S. 107 ff. Unsere Darstellung ist unabhängig davon seit etwa 1943 entstanden. 59 In dem ersten Minnekapitel der 'Vita* (Kap. I I I ) ist das 1. Kapitel des Horol. benutzt und abgewandelt. Der Anteil der deutschen Minnesprache läßt sich an den Abweichungen beider Texte ablesen. Zu beachten ist, daß die Minnetheorie der 'Vita* eine spätere Stufe darstellt und erst später Erkanntes auf die Jugendzeit überträgt. Über die Art dieser Liebe als jugendliche Liebe gibt das 'Horologium* Auskunft: puerulus et novicius y necdum amoris aptus 15, 26; animus puerilis 16, 13; dilectio adhuc puerilis erat 16, 15. Zwischen dem ersten Kapitel

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die alttestamentlichen Weisheitsbücher an; in der 'Vita* und dem ' H o r o logium' verweist er auf die Tischlesungen aus den buechern, du da heissent der wisheit buecher (12,8 f . ) 6 0 . Occurerunt inter alia quedam verba (in biblia) ad amorem sapiencie invitancia (15,27); post hec dum frequencius leccioni mense inter esset, audivit ibidem qualiter divina sapiencia velut delicata sponsa et dilecta amiea se omnibus exbibet ad amandum (15,31 ff.). Die danach folgende Zusammenstellung der Zitate läßt den Wert und die Bedeutung der Weisheit erkennen, zeigt sie aber weniger als Gestalt oder Geliebte. A n diesem Lobpreis entzündet sich dann seine Liebe; sie als Braut zu erwählen fordert ihn dann auch die weitere Tischlesung auf (altera die 16,27). Es folgen darauf weitere Sprüche aus den 'Sprichwörtern' und dem 'Buch der Weisheit*. I n der 'Vita* sind diese beiden Textsammlungen nicht in genauer Übersetzung 61 gegeben, sondern an einer Stelle zusammengefaßt in einer A r t freier Umschreibung. D a r i n ist bedeutsam, daß die deutsche Fassung in ihrer freieren Form Züge aus der Dichtung aufnimmt (jugent und mugent; edli und richtuom; ere und gefuer; minneklich, hoflich). Es mischen sich höfische Züge mit den christlichen. Christus in der weiblichen Gestalt der Ewigen Weisheit ist lütselige minnerin, hohü minnerin ( H o r o l . : amica); sie redet zärtlich. Die Ewige Weisheit gibt selbst an, in welcher Gestalt sie zu erkennen sei. Eigenlich kann sie weder gewcertet noh gesprochen werden (223,26). Sie gibt sich jeder Kreatur nach deren Fassungsvermögen zu erkennen. I n der Beschreibung ihrer eigenen Gestalt vermischt sich das Gedankengut der Scholastik mit Bildern der Hymnendichtung (vgl. die Anmerkungen von Bihlmeyer S. 225), des Hohen Liedes und der deutschen Dichtung. Sie ist der wünne thron, der seiden krön. Als frowelichez bilde ist sie fin (häufig!), finlich geziert; macht sich finlich uf nah Wunsches gewalt; sie hat ögen klar, einen munt zart; ir wengel sind liehtvar und so rosenrot; ihre Gestalt ist so schoene und so wünklich und als dur wol gestalt. Sie ist wünklich gezieret mit liehter wat. Sie übertrifft die gebluemte missevarw der lebenden bluomen (Rosen, Lilien, Veilchen), so daß aller meien schcenü bluost... ihrer gezierde gegenüber wie eine ruhe tistil ist (224). Sie spielt in der Gottheit der vrceden spil. I h r Umgang mit dem diener ist minnespil, vrcedentanz in himelscher wunne an irer siten, an irer schcenen hant (!), in vrcelicher Sicherheit des BdeW und dem ersten Kapitel des 'Horologium' finden sich nur geringe Entsprechungen. Zur Entstehung des Bildes der Ewigen Weisheit vgl. Bihlmeyer, Seuse 73; D.Planier, Das Horologium Sapientiae und die Echtheit der Vita des Sei. H. Seuse O. P., Archivum Fratrum Praedicatorum (1931), S. 197 ff. 60 Proverbia, Ecclesiastes (der Prediger), Liber Sapientiae, Ecclesiasticus (Jesus Sirach). Vgl. die Stellensammlung Horol. 16, 32—17, 10; ferner die Nachweise zu Kap. I I I der 'Vita* bei Bihlmeyer (S. 12) und H . S. Denifle, Die deutschen Schriften des Sei. Heinrich Seuse, München 1880, S. 22 ff. 6 1 Das 'Horologium* führt den Vulgatatext an.

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(225,1 ff.). Die Darstellung geht gelegentlich in Verse über (211,224 f., 237). Entsprechend ist Seuses Dienst der eines ritterlichen Verehrers: von Jugend an trägt er eine minneriches herz (11,27); in bluender jugent hat er sie zur Geliebten erkoren und läßt sie auf Pergament malen, später an die Wand seiner Zelle (103,19 ff.). Sie ist sein einiger uzerwelter trost (223,17), einges uzerweltes liep, zartes userweites liep. er neig ir uf die fuesse (14,23; 26,17; 29,23; 36,28; vgl. Iwein, Winterstetten); er sagt grcessü wunder von ihr (12,14). Den Namenszug Jesu (EW) trägt er in seine Brust eingeritzt, wie der Ritter das Zeichen seiner Dame auf seinem Gewand (16,33. Dazu Bihlmeyer 76*). Er leidet um der Geliebten willen, wie die weltlichen Minner ihrer Frau zu Liebe (Horol. 81). Die Zartheit, die er seinem Leibe gegenüber überwindet, gewinnt eine neue Form in der Liebe zur Ewigen Weisheit 6 2 . Seine natürliche H a l t u n g des minnerichen herzens findet ihre Erfüllung in dem Dienst der wisheit; dieser entspricht seinem jungen muot. I h r B i l d ist bestimmt von Vorstellungen des Alten Testaments, der Jungfrau Maria (die in der Liturgie mit den Weisheitsbüchern verbunden wird) und der Minnedichtung, diese aber in der preziösen Form der späthöfischen Z e i t 6 3 . Höfisches K o l o r i t , i n den sprachlichen Formen des Minnesangs und Meistersangs, zeigt sich bei Seuse endlich in den zahlreichen Naturbildern. Schon daß geistliche Aussage in Schilderung natürlicher Vorgänge eingeschlossen w i r d , ist bezeichnend. Wieder ist Entsprechendes nicht bei Eckhart und Tauler, w o h l aber, wenn auch vereinzelter und weniger geziert, bei Mechthild zu finden. Gewiß haben hier geistliche Anschauungen, etwa vom Paradiese, v o m ewigen Jerusalem vorgearbeitet; die sprachliche und bildhafte Ausprägung aber ist bei Seuse weithin von der weltlichen Dichtung bestimmt. Parallelen finden sich bei K o n r a d von Würzburg, Winterstetten, Neifen, Neithart. Die Seuseschen Landschaftsbilder haben Verwandtschaft zu den N a t u r eingängen in den Minnereden und Spaziergangsgedichten. A r t h u r Hübner wies in seinem Mystik-Kolleg auf Parallelen zu den Spaziergangsgedichten in den Nonnenviten hin, die ja i n vielfacher Beziehung oder gar Nachfolge zu Seuse stehen. Wieweit hier von einem besonderen Naturgefühl gesprochen werden kann, muß dahingestellt bleiben. Zunächst kann nur festgestellt werden, daß Seuse zur Veranschaulichung seiner Gedanken Gegebenheiten der Landschaft und N a t u r verwendet. Die W a h l seiner Gegen62

Vgl. das 1. Kapitel des BdeW, S. 200 ff.; Kap. I I I der Vita. R. Senn und D. Planzer nehmen für die Erscheinung der Ewigen Weisheit Einfluß von Boethius, De consolatione Philosophiae an, wo im 1. Kap. dem trauernden Boethius die Philosophie erscheint. Da Übereinstimmung im Stilistischen kaum vorhanden ist, scheint mir dieser Hinweis wenig überzeugend. 63

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stände (Rosen!) und Wörter läßt erkennen, daß ein besonderes Gefühl für das Poetische, das Schöne bei ihm vorhanden ist; ein Gottfried verwandtes Daseinsgefühl 04 . Der geistliche Seelenzustand, also auch die Stufen des geistlichen Lebens (anvahend, zuonemend, volkomen leben) w i r d als Landschaft gesehen. Soweit er gotterfüllt ist, erscheint er als M a i oder Sommer und als sommerliche Geselligkeit und Freude in dem geläufigen Vokabular weltlicher Dichtung: meiy meien töw, beide, sumerwunne, wunneklicbe zit, vroeden tal y gebluemter anger, sunne, morgenstern; schal, seitenspil, reien, krenzli, springen, singen. Gottferne ist Erkaltung der sommerlichen N a t u r zum Winter (406,13); Tugendleben ist sumerzit (425,27). Die sommerliche Szenerie w i r d im Stil der Spaziergangsgedichte ausgefüllt. Selbst Frau Venus und Frau Saelde begegnen dem geistlichen Menschen; nur daß sie hier v o m rechten Wege abzulenken versuchen (434,13). Kennzeichnend für die besondere Färbung dieser Naturempfindung ist das Wuchern der Gleichsetzung geistlichen Lebens mit den Rosen. Aufs Ganze gesehen begegnen w i r hier wieder der Durchdringung des Geistlichen von dem Weltlichen, und darin der Überwindung und Überhöhung des Hiesigen im Ewigen. N u r so ist eine solche sprachliche Formel, die i n verschiedensten Variationen wiederkehrt, zu verstehen, wie diese: die scbcene beide eines gebluemeten volkomen lebens (434,13). Der Minnesang setzt den Naturvorgang (Winterwerden: Liebesleid; Sommerwonne: Liebesfreude) in Parallele zum Liebesleben. Aber noch ist das Liebesleben nicht als Naturvorgang gesehen. Seuses Leistung ist die Vergegenwärtigung geistlichen Seins im Naturbild. Die Hingabe der minnenden Seele an Gott ist das Sichöffnen der Rose gegen den suezen meientöwe, die vollkommenen Seelen sind rosen. Das ist nicht nur Stimmung vermittelndes Inbeziehungsetzen, sondern Überführung höfischer Werte ins Geistliche und damit A u f hebung, Überhöhung und Überwindung derselben. Der umgekehrte V o r gang also wie bei Gottfried, der Geistliches, die tinio der Liebe, im Weltlichen aufhebt. Das Höfische, Minnigliche, Naturhafte ist bei Seuse nicht Schmuck, sondern Ersetzen eines Lebensvorganges durch einen anderen. Das greift tiefer als nur Schmuck der Rede mit höfischen Formeln. Es ist A n griff auf ein Lebensgefühl, das man überwindet, indem man seinen sinnlichen Reiz übernimmt. 64 Zu der Naturdarstellung im Mittelalter und ihrer Bewertung vgl. die Arbeiten von Jul. Böheim, Das Landschaftsgefühl des ausgehenden Mittelalters, Berlin und Leipzig 1934. S. dazu meine Rezension AfdA 57 (1938); Johanne Messerscbmidt-ScbulZy Zur Darstellung der Landschaft in der deutschen Dichtung des ausgehenden Mittelalters, Breslau 1938; Ludwig Schneider, Die Naturdirkt-im.g des deutschen Minnesangs, Berlin 1938. Dazu meine Rezension, AfdA 58 (1939), S. 125—131.

6 Llteraturwissenschaftliches Jahrbuch, 6. Bd.

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Was die stofflichen Elemente aus der höfischen Welt, vor allem aber ihre sprachliche Formulierung angeht, so ist verschiedentlich im Voraufgehenden angedeutet worden, daß es sich bei Seuse weniger um die staufische Dichtung handelt, als vielmehr um die späthöfische in der Nachfolge Gottfrieds von Straßburg: um Konrad von Würzburg, Rudolf von Ems, die schwäbischen Minnesänger Neifen und Winterstetten. Das sprachliche, gezierte Spiel mit fin, zart (und Ableitungen), süez, vor allem m i t rot, rosenrot, rosenvarw, roscleht (die Vorstellung überhaupt der blühenden Rosen, die Rosenvisionen) bildet eine dem geblümten Stil verwandte Stillage aus 6 5 . Das zeigt sich besonders in den Passionsdarstellungen Jesu und Märiens 166 . Dem O vernalis rosula entspricht o jines sumerliches rceseli (111,27). Seuse knüpft nicht an die persönlich bekenntnishafte A r t Wolframs an, sondern an die späthöfische Formkunst mit ihrer Auflösung ins Formelhafte, Preziöse, an das in einen empfindsamen Spiritualismus Gesteigerte, das sich mit einem oft bizarren Realismus verbindet, der das Grausame, A b schreckende betont. Die Nennung der höfischen adeligen Welt bei Seuse und ihr Vergleich m i t den geistlichen Werten bedeutet Anerkennung der sich in den natürlichen edelen seien bekundenden Haltung. Aber diese Anerkennung ist gleichzeitig Festlegung ihrer Grenzen und Rückführung an ihren »echten« O r t . Das ist auch sonst A m t und Aufgabe mittelalterlicher Predigt. Das Seuse Eigene ist, daß er die Gottesliebe als Minne darstellt, Solche Übertragung vom Weltlichen ins Geistliche ist zugleich Achtung und Überwindung, denn Minne ist nur noch Gottesliebe. Daher stammt der Zauber, der sich bei Seuse um die ritterliche Sphäre legt, aus der Absage an diese heimlich geliebte Welt. Der Grundsinn von Seuses geistlicher Lehre und Erziehung ist ein Hinführen zur wahren Schönheit eines der Sinnlichkeit entrückten Lebens einer trügerischen Schönheit. Das neue geistliche, gottgeeinte Leben ist Überwindung und Überhöhung des Lebens weltlicher Schönheit, Minne und N a t u r . Seuse w i l l die Seelen aus den Lachen ihrer Sünden an die schceni bringen (385,26), zu einer geistlichen Schönheit (432,4) führen. D a m i t ist aber nicht eine unbestimmte Gefühlshaltung gemeint, sondern eine genaue theologische Gegebenheit, die er oft mit Eckhartischer Präzision benennt: das Überbildetwerden der Seele durch Gott. Seusesch daran ist das besondere Bewußtwerden und damit das Wortwerden dieses Vorgangs der unio als minnigliche Schönheit. Das ist der Beziehungspunkt Seuses zur höfischen Welt und Sprache. D a r i n liegt seine Besonderheit, auch seine Gefahr. Er gehörte der überwundenen höfischen Welt nur noch der Artung, 65 Vgl. dazu die ausführliche Darlegung in meinem 'Späten Mittelalter', S. 234 ff.; 256 ff. 66 Spätes Mittelalter, S. 257, mit Literatur.

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nicht mehr dem Wollen nach an. Er beweist die Gottesminne als einzig wirkliche minne, indem er auf sie die Züge der m i t allem Reiz noch empfundenen, aber i n ihrer A r t als I r r t u m und A b f a l l begriffenen zitlichen Minne überträgt. Die Bezeichnung Seuses als »geistlicher Minnesänger i n Prosa« (W. Scherer) nimmt den Sachverhalt zu einfach. Es ist die Überwindung einer Welt durch eine andere, deren Reiz Seuse kennt und noch so zu empfinden vermag. D a r i n mag der Eindruck begründet sein, den man v o n seiner U n zuverlässigkeit oder Zweideutigkeit hatte. M a n darf hier aber nicht von einer Auslieferung des Heiligen an die Welt sprechen 67 ; sondern es ist die Überführung der Welt ins Heilige im Gewand der Welt, die Aufnahme des Giftes zur Vertreibung der Krankheit, ein Sichhineingeben i n die Welt, um ihrer H e r r zu werden. Das führt freilich zu einer Gefahr, auf die auch Muschg abzielt: das Selbständigwerden dieser weltlichen »Form«. Das eingefangene und gegen seinen Sinn verwendete Höfische nimmt gleichsam Rache, wuchert, sucht seinen Wert zurückzugewinnen: das Spiel, den sinnlichen Reiz. Das Eingesperrte sucht sich freizumachen. Was als Gehalt überwunden wurde, befreit sich als Gestalt, als spielerische Form. Die Gefahr Seuses besteht darin, daß sein Ausgangspunkt, anders als derEckharts und Taulers, im weltlichen Minniglichen liegt; so sehr, daß er, als er sich befreite, es tat i n den geliebten Formen dieser Welt. Sein Fall ist der des Uberwindens, des Verwandeins, des Umbildens, nicht immer der des Besitzes. I n der Minnestelle des achten Briefes heißt es, und das kennzeichnet seine Situation: Es tuot nüt wirs y denn sich selber überwinden, es tuot aber nüt bass denne sich selber überwunden han (431,27). Das Problem des geistlichen Seins bei Seuse, das gleichzeitig sein Sprachproblem ist, ist das: Er bleibt oft im Vorgang des Überwindens und gelangt nicht immer i n den Stand des Überwundenhabens. A n dem Ernst und der Aufrichtigkeit seines Bemühens sollte aber nicht gezweifelt werden. Der Unterschied Seuses gegenüber anderen Predigern, z . B . Berthold v o n Regensburg, liegt darin, daß nicht nur beide Welten verglichen und hart geschieden werden, sondern daß das Weltliche durch Umwandlung überwunden w i r d , und das auf Grund einer starken Liebe zur ritterlichen Welt. Es ist eine Form v o n Rettung vor dem Ritter- und Minnewesen durch Bejahung in der Erhöhung dieser Welt. W i r müssen also, was das Ritterliche und Minnigliche bei Seuse angeht, zwei Dinge unterscheiden. Erstens: offenbare Kenntnis höfischer Zustände und Empfindungen, vermutlich unmittelbar und über literarische Überlieferung gewonnen. Zweitens: Gegenüberstellung von weltlichem und 67 Vgl. Walter Muschg, Die Geschichte der Mystik in der Schweiz, Leipzig und Frauenfeld (1935); besonders das Kapitel 'Mystische Poesie', S. 242 ff. Dazu meine Besprechung AfdA 56 (1937), S. 165 ff.

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geistlichem Rittertum in der Form der Überwindung der weltlichen Weise durch die geistliche. Also nicht bloß Vergleich, sondern Geistliches in Weltliches aufgenommen, wie etwa das geistliche Leben des Paradieses in den natürlichen Mai. Der geistliche Dienst der Ewigen Weisheit ist Ritterdienst. Das bedeutet aber — und darin liegt die Rechtfertigung dieses Empfindungs- und Sprachstils als eines echten — , daß eine naturgemäße Neigung zum Minniglichen v o m Religiösen her entwertet w i r d , gegen die Natur. Der Grund bleibt erhalten: er w i r d nur erhöht und darin anders gewertet. Der Heilige ist ein Ritter und ein Minner. Seuse nimmt das zu Überwindende in das Neue mit hinein und macht es so unschädlich. Dieser Stil der Ersetzung und Überwindung einer Welt durch eine höhere ist von großer Bewußtheit. Seuse tut den Schritt über Edihart hinaus v o m Schauen zum Bewußtwerden des Schauens, und den nächsten, dafür die Form eines preziösen Realismus zu schaffen, auf der Grundlage der zeitgenössischen Dichtung. Das nicht-seusesche 'Minnebüchlein' mit seiner wuchernden, haltlosen Form ist das Gegenbeispiel zu Seuses echtem Stil. Auch die in der Seuse-Nachfolge stehenden geistlichen Minnelieder vor allem der späten Nonnenmystik (s. die Bernhartsche Sammlung 'Cyperwein') zeigen den A b stand von der Größe Seuses, auch wenn neben Anempfundenem einzelnes Eigene erscheint. Seuses Form ist das stilistische Schicksal seines Zeitalters, das man als Ganzes verwerfen muß, wenn man Seuse verurteilen w i l l . Meister

Eckhart

Eine von der Seuseschen sehr verschiedene Form des Verhältnisses von Mystik und höfischer Dichtung findet sich bei Meister Eckhart. Seiner weniger sinnlichen und empfindsamen, dafür verschlossenen, herben, ganz von geistiger Leidenschaft und einem unbedingten Drang nach Erkenntnis erfüllten A r t waren Bilder und Empfindungen des Minnewesens nicht gemäß. Seine Bildhaftigkeit ist die des Aufbrechens geistiger Wesenheit, nicht des sinnlichen Umschreibens. Deswegen hat er Ritterliches weder als M o t i v noch als Form, sondern als adelige Gesinnung, als v o n Leid und Demütigung unbeirrte H a l t u n g aufgenommen. Die ritterliche, vor allem aber minnigliche Vorstellungswelt hat er sorgfältig ferngehalten, um die Grenzen nicht zu verwischen und um zu verhindern, daß Menschliches mit der Form in die Lehre gelange. Seuses Wagnis ist es, diese Gefahr auf sich genommen zu haben. So hat er sich der Mißdeutung ausgesetzt. Seuse, trotz seines cor valde amorosum, i m Menschlichen nicht weniger unbedingt, hat wie Eckhart ein Äußerstes gesucht und gewagt. Er im Durchdringen des Geistlichen mit dem Weltlichen, Eckhart in der Leidenschaft des Paradoxes. D a r u m ist Eckharts Sprache weniger v o m Höfischen

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geprägt, wenigstens nicht in Wortwahl, lyrischer Formel und im dichterischen Bild. Höfisch an ihr ist die Adeligkeit der Gesinnung und die sich daraus ergebende Klarheit der D i k t i o n . Diese Sprechweise ist neben der geistigen Erkenntniskraft von eben jener höfischen Adeligkeit bestimmt. Für Eckhart ist es kennzeichnend, daß die Wörter adel, herze, Udert und warheit eine innige Verbindung eingehen. D a r i n prägt sich eine Noblesse der Gesinnung aus, in der die Auserwähltheit der Ritter dieser Welt und der Ritter Gottes eine untrennbare Einheit bilden. V o r allem die Schlußteile des 'Buches der göttlichen Tröstung', bereits unter dem Schatten der kommenden Verurteilung stehend und das stolze Bekenntnis zu sich selbst und seinem Schicksal in der Rechtfertigungsschrift vorwegnehmend, bilden diese Durchdringung von geistlichem und weltlichem Adel aus 6 8 . Sein aus adeliger Gesinnung auf sich genommenes gewolltes Udert, ist das Leiden um der Wahrheit, das ist um Gottes willen. So konnte er zu der äußersten Formulierung kommen, daß G o t t sein Leiden und seine Wahrheit sei (BgT, D W V , 54,1 ff.). I n den Teilen des Trostbuches, in denen von diesen Dingen die Rede ist, w i r d auf ritterliche Verhältnisse direkt angespielt, ohne daß aber diese Gesinnung in dichterischen Formeln und Bildern erschiene. Der Hintergrund w i r d nur leicht faßbar in dem Hinweis auf das Verhältnis des Ritters zu seinem königlichen H e r r n (BgT 48, 10 ff.; 54,10, 15), der an seinen Diener die höchsten Anforderungen stellt, so daß er, der König, den von ihm geliebten Knappen selbst im K a m p f versucht; und der es nicht duldet, daß seine vriunde, guote Hute (das heißt doch wohl: adelig in Gesinnung und H e r k u n f t 6 9 ) ohne Leiden seien. Frei sein von Leiden und Anfechtung ist nach Eckhart A n t e i l der Geringen 7 0 . Daneben sind einzelne Andeutungen (über königliche Gefäße, die stärker geglüht werden müssen als einfache; über das, was man von Gott erbitten soll) von geringerem Gewicht. Folgerungen I n den vorauf gehen den Abschnitten dieses Grundrisses ist mehrfach eine Schwierigkeit aufgetaucht, daß nämlich das Verhältnis geistlicher Aussage zur weltlichen nicht immer eindeutig zu beantworten ist. W i r müssen in 68 Vgl. des näheren meine Deutung Meister Eckharts. Offenbarung und Gehorsam, besonders Abschnitt V I , S. 31 ff. 69 Hier liegen unscheidbar ineinander die Vorstellung der durch Abkunft Adeligen dieser Welt und des durch Gottes Willen mit der Ebenbildlichkeit Gottes ausgestatteten inneren Menschen, dem der im Zusammenhang mit dem Trostbuch vor der Königin Agnes von Ungarn gehaltene Sermon ,Von dem edeln menschen gilt ( D W V , S. 106 ff.). 70 BgT 56.8. Die Geringen sind die Nicht-Ritterlichen und übertragen die, die dise weit minnen.

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den Fällen, w o höfische Vorstellungen und Bilder innerhalb der geistlichen Literatur auftreten, m i t zwei Wegen rechnen. Der erste, in jüngster Zeit am entschiedensten von Schwietering dargelegt, ist die Übernahme geistlichen Gutes in die weltliche Dichtung. Sie ist sicherlich nicht zu bestreiten; nur sollte grundsätzlich deswegen der zweite Weg, die Umbildung weltlicher, ursprünglich aus dem Kirchlichen stammender Formen und Formeln ins Geistliche zurück, nicht geleugnet werden. Schon A . E. Schönbach, der gelehrte Kenner sowohl der scholastischen und vorscholastischen geistlichen Literatur wie der mittelhochdeutschen Dichtung, hat immer wieder auf die geistliche Bildung der höfischen Dichter hingewiesen (der provenzalischen Literatur, Friedrichs v o n Hausen, Morungens, Hartmanns) und reiches Material dafür bereitgestellt, vor allem in den Büchern über H a r t mann von Aue, die Heldendichtung und in den 'Erklärungen zu den älteren Minnesängern* (Wiener SBB 1899). Dabei geht es nicht nur um den Nachweis der »Vertrautheit« mit der »kirchlichen Literatur«, also um »geistliche Bildung«, sondern um die Deutung des Prozesses der Umsetzung des Religiösen ins Dichterische: also Poetisierung der Religion durch Benutzung ihrer Sprache und Psychologie zur Verherrlichung des Minnelebens, und dadurch der Verweltlichung der Religion. Schönbachs Zeuge ist neben H a r t m a n n von Aue vor allem Morungen, auf den auch Schwietering mit Nachdruck verweist. Diese Tatsache aber schließt nicht aus, daß die Mystiker ihre Vorstellungen und ihr Begriffsmaterial nicht nur direkt aus der geistlichen Literatur übernehmen (daß sie es tun, darüber braucht nicht mehr diskutiert zu werden), sondern daß sie der höfischen Dichtung verpflichtet sind, also Bilder und Empfindungen ins Geistliche zurückübertragen, die ihren U r sprung in der Bibel und der kirchlichen Literatur hatten. Das ist weder für Mechthild und Hadewych noch für Seuse zu leugnen. Einfach weil sie auch, als Deutschsprechende, der Empfindungs- und Vorstellungswelt ihrer Zeit angehören, ganz abgesehen davon, daß sie nachweisbar, wie auch die nichtmystischen Prediger und Moralschriftsteller, Kenntnis der weltlichen Zustände und ihrer sprachlichen Verlautbarung haben. I m Einzelnen ist oft nicht m i t Sicherheit zu unterscheiden, ob ein in der Dichtung vorkommender, ursprünglich dem geistlichen Bereich angehöriger Ausdruck aus der weltlichen Literatur in die M y s t i k übernommen w i r d , oder ob die mystische Formulierung direkt auf kirchliche Tradition zurückgeht. So etwa Seuse (14,11): si (die Ewige Weisheit) luhte als der morgensterne und schein als du spilndü sunne. Das Nebeneinander der im Minnesang häufigen spilnden sunne und des morgensterns läßt auf Übernahme aus der Dichtung schließen. Andererseits sind morgenstern und das

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verwandte morgenrot aus der geistlichen Sprache in die Dichtung gelangt 7 1 , so daß sie auch ohne Vermittlung durch die Dichtung in die Mystik übernommen sein könnten. Der Vergleich mit der entsprechenden Stelle des 'Horologium' aber zeigt, daß sich die deutsche Fassung unabhängig von der lateinischen Formulierung bewegt: Eximii namque ac miri decoris thronus eburneus in columpna nubis appamit, in qua predicta sponsa nimium formosa refulsit, in vestitu deaurato circumamicta varietate (20,33 ff.). Der deutsche Wortlaut benutzt Sprachmittel, deren Prägung, selbst wenn ihr Ursprung i m Lateinischen liegt, durch die damalige deutsche Sprachübung geschieht. A n die Stelle der lauschenden sponsa t r i t t in der ' V i t a ' der morgenstern, der im 'Horologium' also keine direkte Entsprechung hat; was doch der Fall hätte sein müssen, wenn morgenstern an lateinischgeistlichen Gebrauch anschlösse und nicht aus deutschem Sprachvorrat entnommen wäre. H ä t t e Seuse den morgenstern als Anlehnung an die alte geistliche Vorstellung gebraucht als B i l d Mariens, dann hätte diese (als Stella matutina) schon i m 'Horologium' stehen müssen. I h m muß doch für die strahlende Geliebte (mehr läßt der lateinische Text nicht erkennen; die Vorstellung im 'Horologium' ist unbestimmt, jedenfalls nicht die des M o r gensterns für Maria) der Morgenstern als weltliche Minneformel vorgeschwebt haben. Daher dann auch die i m weltlichen Minnesang benachbarte spilnde sunne in unmittelbarer Nähe. Seuse 17,17 w i r d mit dem morgenstern die Tageliedsituation verbunden, wodurch die Annahme einer weltlichen Abstammung dieser Vorstellung, unbeschadet ihrer ursprünglich geistlichen Herkunft, noch mehr Gewicht bekommt. Völlige Sicherheit ist freilich kaum zu erreichen. Beispiele dieser A r t lassen sich vermehren; besonders der Vergleich der Eingangskapitel der 'Vita', des 'Büchleins der Ewigen Weisheit' mit der 'Horologium' liefert, worauf oben schon mehrfach hingewiesen wurde, eine Fülle von Material für den Nachweis, daß die deutschen Formulierungen sich im deutschen Sprachmedium unmittelbar entfalten. V o n größerer Schwierigkeit sind vor allem die Fälle, in denen eine Formel, die wie aus deutscher H e r k u n f t stammend aussieht, lexikalisch nicht sicher bestimmt werden kann. Die oben angeführte Wendung: min einger uzerwelter

trost, die im späteren Liebeslied begegnet, läßt sich, was ihre

Herkunft angeht, nicht eindeutig bestimmen. Die größere Wahrscheinlichkeit hat die Ableitung, wie oben geschehen, aus der weltlichen Liebesdichtung.

71 Vgl. etwa Theodor Kochs, Das geistliche Tagelied, Münster (1928), S. 21, 25; A. E .Schönbach, Altdeutsche Predigten 1 (1886), S. 60 f., in den Anmerkungen Hinweise auf Honorius Augustodunensis und Alanus ab Insulis; 3 (1891), S. 214, 12 ff. Maria als Morgenrot des jüngsten Tages Trudp. Hohes Lied 100, 29; ähnlich Mechthild 210, 8.

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Zusammenfassend darf gesagt werden, daß bei einigen Vertretern der mittelalterlichen Mystik, vor allem Hadewych, Mechthild, Seuse und der späteren Nonnenmystik, eine Verschmelzung von Geistlichem und WeltlichHöfischem geschehen ist; und zwar derart, daß ursprünglich Geistliches, das dann dem Höfischen säkularisiert eingeschmolzen w i r d , wieder i n die Mystik übernommen und damit ins Geistliche zurückgebildet w i r d . Dieser Vorgang ist aufs Ganze gesehen reich ausgeprägt, auch wenn im Einzelfalle eine sichere Entscheidung nicht möglich ist. Es ist ein Ereignis von großer Bedeutsamkeit und weist über das Sprachliche hinaus in den Raum geistiger Auseinandersetzungen. Josef Bernhart, der unserer Auffassung am nächsten steht, ist der Meinung, daß mystische »Dichtung« seit Mechthild vom Minnesang »borgt, um sein Widerpart zu werden« 7 2 . Minne innerhalb der M y s t i k geht einmal in die Welt des 1. Korintherbriefes zurück und bezeichnet dann agape und Caritas, dann aber weist sie in »den völlig anderen Bereich einer bestimmten Geschichtswelt, von der w i r in den Begriffen Minnezeit und Minnesang sprechen« 73 . I n diesem Sinne nennt er die geistliche Minnedarstellung der M y s t i k ein »geistliches Widerspiel« zur Minnekultur der höfischen Welt, spricht er, wie oben bereits angeführt, von Mechthild als der »Testamentsvollstreckerin« Walthers von der Vogelweide. Dieses »Gegenspiel« konnte entstehen, da in dem »Vorspiel« bereits die Möglichkeit zu solcher Vergeistlichung angelegt war. Das konnte um so mehr geschehen zu einer Zeit, da der ungebrochene Glanz der Stauferzeit bereits i m Schwinden war, und nun i m geistlichen Raum jene Verklärung gerettet wurde, die im weltlichen sich zu verdunkeln anfing. Höfische U n bedingtheit und seelischer Adel w i r d , nachdem bereits in der weltlichen K u l t u r die Loslösung von dem Hintergrunde eines letztlich auf G o t t gerichteten Daseins geschehen war, in der geistlichen K u l t u r der edelen herzen neubegründet. So gesehen, ist die M y s t i k eine Parallelerscheinung zu den Armutsbewegungen und dem Geißlerwesen der Zeit; einer der Versuche also, das Grobmaterielle und Sinnliche dieser Formen ins Geistige und Wesentliche zu befreien. Eckharts Lehre von der blozheit der Seele und dem Gewinnen des Höchsten im Aufgeben aller Dinge dieser Welt ist die Umbildung der Armutsforderungen, die ihm in verschiedenen Formen entgegentreten. Dahinter mag in einer Zeit, die an tiefen Bedrängnissen im staatlichen, sozialen und kirchlichen Leben l i t t , das gestanden haben, was Huizinga in seiner Deutung des späten Mittelalters die »Sehnsucht nach schönerem Leben« genannt hat. Eine Zeit ist nicht nur groß in dem, was sie tatsächlich leistet, sondern auch in dem, was ihr als Ideal ihres inneren und äußeren Lebens vorschwebt. D a r i n richtet sie ein geistliches Ideal auf 72 73

Cyperwin, S. 20. Ebenda, S. 26 f.

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dem Grund der vergehenden, in kunstvollen Stilisierungen noch für kurze Zeit geretteten Ritterkultur auf. Was die einzelnen Begnadeten als im Grunde n'cht mitteilbare Wirklichkeit erfahren, eigneten sich die vielen von der N o t der Zeit und einem dunklen Drange nach Läuterung Getriebenen an. W i r stehen damit vor dem Problem der Ausdehnung der den Einzelnen aus Gottes Handeln zuteil gewordenen und im »Gehorsam« angenommenen »Offenbarung« 7 4 auf eine Vielzahl von Gläubigen, die in der Tiefe von einem Unerklärbaren ergriffen sind, ohne daß ihnen Auftrag und Erleuchtung in der unio geschieht. Sie nehmen Sprache und in ihr eine geistliche H a l t u n g an und ergreifen darin eine Möglichkeit wesentlicheren Daseins, das ihnen von einzelnen Begnadeten vorgesprochen und vorgelebt worden ist. Soweit ist die M y s t i k ein kultureller Vorgang, eine Bewegung. M a n darf das nicht gering einschätzen. Die Mystiker betonen immer wieder, daß es Grade des geistlichen Lebens gibt und nicht jeder Auge und Ohr sein kann; es müssen auch Hände und Füße da sein. Die K r a f t und der Ernst, m i t denen zahlreiche den Kern der mystischen Verkündigung zu ergreifen und für ihr geistliches Leben fruchtbar zu machen suchen, sind großartig und verdienen Bewunderung. Wenn in Ausnahmefällen Verwirrung und Entstellung das Ergebnis war, so lag das eben an der Besonderheit des Vorganges. Wie soll das im Wortelosen Erfahrene, das selbst über alle worte und wise hinaus liegt, Besitz der Nachahmer und Nachfühlenden werden? Daß es in immer neuen Ansätzen versucht wurde, ze : gt, wie gefährdet und bloßgelegt die innere religiöse Lage der Zeit war. Die sprachliche Form solcher Aneignung in zahlreichen 'Mosaiktraktaten', in denen zwischen taubem Gestein das Leuchten edlen Metalls sichtbar w i r d , in Spruchsammlungen, Moraltraktaten der Gottesfreunde und Liedern ist ein getreuer Ausdruck eines Bemühens, das trotz aller gelegentlichen A b wegigkeit dem späten Mittelalter einen rührenden Zug verleiht. Die Treue der Nachfolge auf einem nicht gangbaren Weg ist ein bewegendes Ereignis dieser Zeit. U n d das Ergebnis war, wenn auch nicht M y s t i k im eigentlichen Sinn, so doch eine Auflockerung, Befreiung und Bereicherung des geistlichen Lebens vieler. Das bedeutet für die religiöse Sprache, daß fortan andere Seiten geistlichen Daseins als nur Moralwerte, Laster und Tugenden auch in der Moralliteratur aussprechbar geworden sind. Seuse sah seine Aufgabe als eine Hinführung seiner Jünger zur schoem geistlichen Lebens. D a m i t ist kein Schmuck gemeint, sondern eine dem Wesen verhaftete geistliche Haltung. I n dieser schceni w i r d die geistliche und materielle A r m u t der Zeit überwunden und geschieht Neubegründung 74 Vgl. meine Deutung der geistlichen Existenz Eckharts. M. Eckhart. Offenbarung und Gehorsam, S. 25.

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eines der N o t entrückten Daseins als armuot des Geistes, die Eckhart als höchste Form geistlichen Adels gefeiert hat, in der Wahrheit und Adel eins geworden sind 7 5 .

Nachwort. Eine Skizze des obigen Grundrisses erschien 1940 auf Veranlassung von Friedrich von der Leyen in den 'Mitteilungen der Deutschen Akademie München' (S. 25—33). Es handelte sich um einen E n t w u r f zu einer Darstellung der Sprache der deutschen M y s t i k für eine von Friedrich von der Leyen geplante Schriftenreihe zur Geschichte der deutschen Sprache. Die damaligen Zeitumstände haben eine Ausführung des Entwurfes verhindert. Der jetzige »Grundriß« faßt alte, bis in jene Zeit zurückreichende und neuere Beobachtungen zusammen; ihn dem verehrten Altmeister zueignen zu dürfen, ist mir eine große Freude. Z u m Druck ist anzumerken, daß aus technischen Gründen u mit übergeschriebenem e oder o unzureichend mit ue und uo wiedergegeben werden mußten.

75 Zur Frage des Verhältnisses von Mystik und höfischer Welt vgl. die mehrfach genannten Arbeiten von A. E. Schönbach, Jul. Schwietering, Jos. Bernhart (zu diesem Problem vor allem seine Sammlung mystischer Lieder 'Cyperwein', 1940, Einleitung). Ferner die wichtigen Arbeiten zur niederländischen Mystik von Jan van Mierlo SJ (vor allem die Einleitung zu den Ausgaben von Hadewych und Beatrijs von Nazareth in den Leuvense Studieen en Textuitgaven), Eduard Wechsler, Das Kulturproblem des Minnesangs, Halle 1909; Theodor Kochs, Das geistliche Tagelied, 1928; Ernst Benz, Über den Adel in der deutschen Mystik, DVS 14 (1936), S. 505 ff., und die Arbeiten von J.-A. Bizet, Suso et le Minnesang, Paris 1947, und Henri Suso et le declin de la scolastique, Paris 1946. Zu vergleichen ist auch die Einleitung zur Seuse-Übersetzung von Jeanne Ancelet-Hustache, Paris 1943.

GEDICHTE U M CHRISTI

HIMMELFAHRT

V o n Hans Rheinfelder Hans Sckommodau zum 60. Geburtstag. Jacob Burckhardt hat in seinem 'Cicerone' (1855) den Versuch unternommen, die Werke der antiken Plastik in den italienischen Museen, zumal die Götterbildnisse, dem Betrachter nach »stehenden Typen« oder »stehenden Motiven« nahezubringen und verständlich zu machen. Er bemerkt dazu selbst, die Anordnung nach Typen solle keineswegs als die einzig mögliche oder als besonders methodisch gelten, sondern nur als »derjenige Leitfaden, der am leichtesten in die Sache hineinführt«. Mutatis mutandis mag dieselbe Methode, mit denselben Einschränkungen auch in der Vergleichenden Literaturwissenschaft zur Anwendung kommen, und wäre es auch nur als heuristisches Prinzip, um feste Standpunkte und brauchbare Kriterien für die Interpretation sprachlicher Kunstwerke zu finden. Freilich liegt bei diesen eine viel verzweigtere Differenzierung vor als bei den Kunstwerken der Plastik. So w i r d sich diese Methode von selbst überall verbieten, wo die Mannigfaltigkeit grenzenlos und unüberschaubar geworden ist, wie etwa beim Liebeslied oder beim Frühlingsgedicht — nicht allgemein bei jedem Naturgedicht, da sich hier ja zweifellos sehr leicht bestimmte Gruppen der seelischen H a l t u n g gegenüber der N a t u r als Typen unterscheiden lassen . Sehr geeignet scheinen i m Bereich sprachlicher Kunstwerke für Burckhardts Typen- und Motivbetrachtung religiöse Gedichte zu sein, wenn sie besondere Heiligengestalten oder besondere Festgeheimnisse zum Gegenstand haben. So sehr bei einzelnen dieser Gruppen, etwa bei Marienliedern, Weihnachtsgedichten (villancicos!), Ostergesängen, wegen der Vielzahl der vorliegenden Werke die Untersuchung auf große praktische Schwierigkeiten stoßen mag, so lassen sich doch auch bei ihnen Typen unterscheiden, die nicht nur zeitlich, sondern auch nach dem wechselnden Blickpunkt, unter dem das Festgeheimnis gesehen wird, eigenartig ausgeprägt sind. Leichter w i r d die Typenmethode dann anzuwenden sein, wenn man einen Gegenstand ins Auge faßt, der seltener in dichterischer Form behandelt worden ist. I m folgenden soll dies an dem Ereignis der Himmelfahrt

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Hans Rheinfelder

Christi gezeigt werden. Zahlreich sind in der religiösen Literatur der Völker die Gedichte, die des Erlösers Geburt, Leiden, T o d und A u f erstehung besingen. Viel seltener begegnet man Dichtungen über Christi Himmelfahrt. Nicht auf die Himmelfahrt, sondern auf die Höllenfahrt Christi hat der junge Goethe »auf Verlangen« ein Gedicht »entworfen«, Alessandro Manzoni besingt in seinen ' I n n i sacri' Geburt, Leiden und A u f erstehung Christi, das Pfingstgeschehnis, den Namen Marias und das Erlebnis der Erstkommunion. Auch bei Jacopone da T o d i w i r d man vergeblich nach der Himmelfahrt suchen. Andererseits darf man da, w o ein solches Gedicht vorliegt — wofern es nicht bloß, um in einer Reihe nicht zu fehlen, entstanden ist — , eine besonders eigentümliche N o t e erwarten, wie sich dies am schönsten bei Luis de León zeigt. M a n w i r d sich fragen müssen, woher es denn eigentlich kommt, daß das Ereignis der Himmelfahrt Christi so verhältnismäßig selten dichterisch gestaltet worden ist. Der tiefste Grund liegt w o h l darin, daß tatsächlich das Himmelfahrtsfest eines der tiefsten christlichen Glaubensgeheimnisse feiert, das eben wegen dieser dogmatischen Tiefe nur selten verstanden worden ist und daher im Gedicht auch nicht ausgedrückt werden konnte. W o h l ist auch das Weihnachtsgeheimnis verniedlicht worden; aber immerhin war die Tatsache der Menschwerdung Gottes überall im Glaubensbewußtsein lebendig und hat nur geringe theologische Anforderurngen an den Gläubigen gestellt. Ganz anders die Himmelfahrt Christi. Der fromme Christ pflegt dabei an den Abschied Christi von der Erde zu denken, erlebt aber in diesem Abschied eines allgegenwärtigen Gottes nichts Erschütterndes, sondern nur die Vollendung dessen, was schon in der Auferstehung wesentlich vollzogen worden ist. K e i n Wunder also, wenn in der religiösen Dichtung die Himmelfahrt gleich in die Auferstehung m i t hineingenommen wird, wie es auch. Goethe empfindet, wenn er in seinem Taust' die Ostergesänge unwillkürlich in Himmelfahrtsgesänge hineingleiten läßt. Das Lied beginnt zwar mit dem Preis der Auferstehung, »Christ ist erstanden!«, geht aber bald in folgenden Chor der Jünger über: Hat der Begrabene schon sich nach oben, lebend Erhabene, herrlich erhoben, ist er in Werdelust schaffender Freude nah: ach, an der Erde Brust sind wir zum Leide da! Ließ er, die Seinen, schmachtend uns hier zurück, ach, wir beweinen, Meister, dein Glück!

Gedichte um Christi Himmelfahrt Hier

fallen

Auferstehung

und

Himmelfahrt

in

93 Eins

zusammen:

der

H e r r nimmt Abschied, die Jünger bleiben trauernd zurück. W o r i n beruht die eigentliche Bedeutung der Himmelfahrt Christi? Die altchristlichen Symbola geben nur ganz schlicht die Tatsache an, daß Christus mit seinem Leibe aufgefahren ist und zur Rechten des Vaters sitzt. Kirchlicher Gesang, der durch das Hinaufklettern der Töne die Auffahrt Christi begleitet (im I I I . Credo), gehört erst dem 17. Jahrhundert an, während sich in der Melodie des 11. Jahrhunderts ein Ansatz zu derartiger musikalischer Interpretation nicht findet. Dogmatische Traktate müssen im allgemeinen von unserer Untersuchung ausgeschlossen bleiben, da sie nur durch einen engen Kreis von Theologen studiert und meditiert werden. Was aber am ehesten und am lebendigsten auf die Gestaltung von Liedern einwirken könnte, das sind gewisse Stellen der Liturgie: die laut gesungene Himmelfahrtspräfation und das stille Communicantes-Gebet des Canons, das zum mindesten allen Priestern — und von ihnen mußte ja w o h l Festtagsdichtung zunächst ausgehen — aus ihrer Meßfeier geläufig ist. I n der Tat ist gerade für das Himmelfahrtsfest aus diesen beiden Stücken der Liturgie viel zu entnehmen. Der Einschub in die Präfation lautet: » . . . qui post resurrectionem suam omnibus discipulis suis manifestus apparuit et, ipsis cernentibus, est elevatus in caelum, ut nos divinitatis suae tribueret esse participes.« Auch hier begegnet also die ausdrückliche Anknüpfung an die Auferstehung, des weiteren w i r d die Realität der Auferstehung (manifestus apparuit) und der Himmelfahrt (ipsis cernentibus) betont, schließlich auf den Sinn der Ereignisse angespielt: durch Christi Himmelfahrt w i r d der Mensch teilhaftig der Gottheit Christi. Wie dies zu verstehen sei, verdeutlicht der Einschub im Communicantes-Gebet: » . . diem . . q u o D o minus noster, unigenitus Filius tuus, unitam sibi fragilitatis nostrae substantiam in gloriae tuae dextera collocavit.« H i e r w i r d ausgesagt: im Vollzug der Himmelfahrt hat Christus die m i t ihm seit der Inkarnation unlöslich verbundene Menschennatur in die rechte H a n d der göttlichen Glorie hineingelegt; Christus hat in der Inkarnation zu seiner göttlichen N a t u r die menschliche N a t u r angenommen und in seiner Himmelfahrt diese unsere menschliche N a t u r in den Schoß des dreifaltigen Gottes hineingetragen; so findet sich unsere N a t u r (natura i m philosophischen Sinn der Scholastik), seit der Auffahrt des Herrn, inmitten der göttlichen Dreifaltigkeit, wie es am grandiosesten Dante im Schlußgesang seiner 'Commedia' geschaut hat. (Die menschliche Person — persona im philosophischen Sinn der Scholastik — ist erstmals m i t Maria, exemplarisch für uns, i n Gott eingegangen.) Eine Dichtung, die das Himmelfahrtsgeschehen zutiefst ausschöpfen wollte, hätte also den Einzug unserer Menschennatur i n Gott als frohes

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Ereignis zu feiern. Zugegeben, daß die Unterscheidung zwischen N a t u r und Person sich in der Dichtung nicht ebenso leicht ausdrücken kann wie in der Philosophie; aber es gibt immerhin auch philosophische Gedankenlyrik und theologisch-dogmatische L y r i k : man denke nur an die Sakramentslieder des Aquinaten. D a ist es freilich verwunderlich, wenn — jedenfalls soweit ich sehe — in der westlichen Dichtung das dogmatische Urerlebnis der H i m m e l fahrt Christi so selten gestaltet worden ist. Selbst in der für weitere Kreise geschriebenen theologischen Literatur w i r d der Himmelfahrtsgedanke seit dem späten Mittelalter nicht mehr vertieft, wie es doch in der Zeit der Kirchenväter durchaus üblich war. So schreibt z . B . Prosper Aquitanus 433 in seiner Psalmenauslegung: » . . . mortuus, sepultus, resuscitatus, ascendit in cáelos, naturam humanam super omne nomen exaltans.. A und Papst Leo I., der Große sagt M i t t e des 5. Jahrhunderts in einer Predigt: »Magna et ineffabilis erat causa gaudendi, cum in conspectu sanctae multitudinis super omnium creaturarum caelestium dignatem humani generis natura conscenderet, supergressura angélicos ordines, et ultra archangelorum altitudines elevanda, nec ullis sublimitatibus modum suae provectionis habitura, nisi aeterni Patris recepta consessu illius gloriae sociaretur in throno, cuius naturae copulabatur in Filio. Q u i a igitur Christi ascensio nostra provectio est, et quo praecessit gloria capitis, eo spes vocatur et corporis, dignis, dilectissimi, exultemus gaudiis, et pia gratiarum actione laetemur. Hodie enim non solum paradisi possessores firmati sumus, sed etiam caelorum in Christo superna penetravimus, ampliora adepti per ineffabilem Christi gratiam, quam per diaboli amiseramus invidiam. N a m quos virulentus inimicus p r i m i habitaculi felicítate deiecit, eos sibi concorporatos Dei Filius ad dexteram Patris collocavit.« 2 H i e r w i r d ganz deutlich das christliche V o l k am Himmelfahrtstag zur Freude aufgerufen, und diese Freude w i r d damit begründet, daß wir Menschen, d. h. unsere Menschennatur, mit Christus bereits in die himmlische Glorie eingezogen sind. Ansätze zu solcher Auffassung des Festes finden sich w o h l auch später noch, so z. B. in Spanien bei Luis de Granada (1504—1588), wenn er sagt: »De esta manera, pues, con estas alabanzas, con estos cantares y con esta tan gloriosa compañía, sube aquella sagratísima humanidad sobre todos los cielos, hasta llegar a ser colocada a la diestra del Padre; por que el que se había humillado más que todas las criaturas por la obediencia y gloria del Padre, fuese sublimado sobre todas ellas y asentado a su diestra. De modo que aquella naturaleza a quien fue dicho: Polvo eres y en polvo te volverás, ahora es levantada del polvo de tierra y subida sobre 1 2

Ench. Patr. 2040. Ench. Patr. 2211.

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todos los cielos.« 3 Aber man beachte hier, daß zwar die menschliche N a t u r Christi genannt w i r d , daß aber der Hinweis darauf, daß es sich um unsere N a t u r handelt — das W o r t nuestro kommt an dieser Stelle nicht vor! — nur sehr unklaren Ausdruck findet. Es heißt lediglich, daß aquella naturaleza (Christi) die gleiche ist, zu der einst gesprochen wurde: »Du bist Staub und wirst zum Staub zurückkehren.« Nicht einmal in den liturgischen Hymnengesang des Westens ist das Himmelfahrtsgeheimnis eingegangen. Der Laudes- und Vesper-Hymnus des kirchlichen Stundengebetes 'Salutis humanae sator' ist ein allgemeines Erlösungslied, in dem der Himmelfahrt nur i n zwei Zeilen m i t ihrem Ergebnis, für Christus, nicht für uns, gedacht w i r d : Victor triumpho nobili ad dexteram Patris sedes. Ähnliches bemerkt man in einem Gedicht des Magnus Felix Ennodius (474—521), das aber nicht in der Liturgie verwendet w i r d : zwar beginnt es mit der Himmelfahrt Christi, ist aber dann ein reiner Erlösungshymnus, in dem die incarnatio mehr gefeiert w i r d als die ascensio , und klingt in den Preis des siegreich heimkehrenden Erlösers und Triumphators aus. Die Himmelfahrtsgedichte des Abendlandes knüpfen nicht an, den theologischen Gehalt dieses Festes an, sondern an den äußeren Verlauf, wie er in den Evangelien und in der Apostelgeschichte erzählt w i r d 4 . I n diesen Berichten w i r d bereits eine doppelte Auswirkung des Ereignisses erwähnt: die Apostel kehren von der Stätte der Himmelfahrt nach Jerusalem zurück [lexa xa(?äg neya^g, xat fjaav öiä Jtavtog ev tco ieqü) ei^oYOuvtsg tov fteov (Luk. 24, 52/53). N u r Freude spricht sich hier aus. I n dem anderen Lukasbericht (Markus erzählt einfach das Ereignis), in der Apostelgeschichte, hören w i r nicht von Freude, aber von sprachlosem Staunen, das sich in dem unverwandten Blick ausdrückt, mit dem die Apostel dem auffahrenden Christus nachschauen (dtevi^ovteg und iaxi]KaxB ßXejrovteg), bis ihnen die einstige Wiederkehr Christi in Aussicht gestellt wird. H i e r freilich läßt sich bemerken, daß die Worte des Engels Trost bedeuten, daß also die Apostel des Trostes bedürftig sind, d. h. in ihrem Nachsehen sich Trauer bekundet, wenn dies auch nirgends deutlich gesagt ist. Richten w i r nun unser Augenmerk auf »stehende Motive« des H i m m e l fahrtsgedichtes, so bleiben zwei Arten solcher Dichtung von unserer Betrachtung ausgeschlossen. Erstens jene mehr epischen Dichtungen, die nichts 3 Adiciones al 'Memorial de la vida cristiana', Vida de Cristo, t. I V , p. 493; zitiert nach der Kompilation 'Obra selecta' in der 'Biblioteca de Autores cristianos', Madrid 1947, p. 887. 4 Mark. 16, 19/20; Luk. 24, 51/53; Apostelgesch. 1, 3—14.

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weiter als eine Nacherzählung oder Paraphrase des biblisdien Berichtes sein wollen, wie z. B. Rudolf Alexander Schröders Gedicht ' A m H i m m e l fahrtstag' zu Markus 16, 14—20, das unter seinen 'Geistlichen Liedern' im 8. Buch steht 5 . Auch Klopstocks 'Messias' (Ges. 23 und 24) bietet die Paraphrase des biblischen Textes, vermehrt um recht allgemeine, besonders aus der Apokalypse, den Psalmen und den Propheten inspirierte Preisgesänge. Zweitens bleiben ausgeschlossen jene Himmelfahrtsgedichte, die von dem biblischen Ereignis zwar den Namen tragen, aber keinen unmittelbaren Bezug zur Himmelfahrt Christi enthalten. Hierher gehört z. B. der 'Ascension-Hymn' von H e n r y Vaughan (1622—1695). Der Dichter trauert seinen im T o d vorangegangenen Freunden nach 5 a : They are all gone into the world of light and I alone sit lingring here... so beginnt er seine Totenklage. Er sehnt sich selbst nach dem Tod, nach einer »Himmelfahrt« — das W o r t erscheint nur in der Überschrift: Either disperse these mists, which blot and fill my perspective (still) as they pass, or eise remove me hence unto that hill, where I shall need no glass. — Das dogmatische Festgeheimnis ist auffallend selten dichterisch behandelt worden. Ferne Anklänge daran darf man freilich immer dann vermerken, wenn uns gesagt wird, daß etwas von uns bereits uns vorangegangen ist, wobei dieses Etwas als unser H a u p t , w i r hingegen als die Glieder des zugehörigen Körpers bezeichnet werden. Es ist gewiß nur ein sehr ferner A n klang, in dem nichts mehr von dem philosophischen Paar »Natur und Person« zu vernehmen ist, dafür aber das sinnverschiedene mystische Paar »Haupt und Glieder« verwendet wird, das im Neuen Testament, in der Theologie des Apostels Paulus, bereits vorgebildet 6 und an zahllosen Stellen von den Kirchenvätern ausgestaltet worden ist 7 . Immerhin kann von solcher Sicht des Himmelfahrtsgeschehens aus in ganz ähnlicher Weise wie von der dogmatischen weitergedacht und weiterempfunden werden: Ist unser H a u p t zum H i m m e l aufgefahren, dann ist dort nun unser Wesentliches beheimatet — Anlaß zu großer Freude; dann sind w i r auf Erden nur noch als Torso zurückgeblieben — Anlaß zu großem Schmerz; so werden w i r alles daran setzen, wieder zu unserem H a u p t zu gelangen — Anlaß zu großer Sehnsucht und Ansporn zu ent5

'Das Sonntagsevangelium in Reimen', Ges. Werkel, S. 1130f. Metaphysical Lyrics and Poems of the Seventeenth Century. Ed. Herbert J. C. Grierson, Oxford 1952, S. 149 f. 6 Eph. 1, 20—23; 4, 12—16; Kol. 1, 18; 2, 16—19; u.ö. 7 Vgl. die Leo-Stelle oben S. 94.. 5a

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sprechender Lebensführung. A u f solche Folgerungen hat auch Thomas von A q u i n hingewiesen, der in seiner 'Summa Theologiae* bei der Behandlung der Himmelfahrt Christi ( I I I , 57) nicht auf den in der Liturgie ausgesprochenen Gedanken aufbaut, sondern von dem i m Neuen Testament überlieferten Faktum ausgeht und von hier aus die Eigenart und die Heilsbedeutung der Himmelfahrt untersucht. I m letzten A r t i k e l der Quaestio stellt er die Frage, inwieweit die Himmelfahrt Christi Ursache unseres Heiles sein kann, und kommt zu der Feststellung: »Quia enim ipse est caput nostrum, oportet illuc sequi membra quo caput praecessit« und beruft sich auf Joh. 14,2: » . . . ut ubi sum ego, et vos sitis.« Noch einmal sagt er dann ( A d secundum): »Ascensio Christi est directe causa ascensionis nostrae, quasi inchoando ipsam in capite nostro, cui oportet membra coniungi.« So erscheint die Himmelfahrt Christi als Pfand für unsere eigene Himmelfahrtshoffnung. Zugleich aber erkennt auch Thomas die H i m m e l fahrt Christi als den großen Ansporn für uns »Per Christi ascensionem mens nostra movetur in i p s u m . . r e v e r e n t i a nostra augetur ad ipsum, dum iam non existimamus eum sicut hominem terrenum, sed sicut Deum caelestem.« Thomas weist schließlich — aber bei anderer Anordnung der Argumente — darauf hin, daß nach Hebr. 7,25 Christus »ad interpellandum pro nobis« in den H i m m e l eingegangen sei: »Ipsa enim repraesentatio sui ex natura humana, quam in caelum intulit, est quaedam interpellatio pro nobis; ut ex quo Deus humanam naturam sie exaltavit in Christo, etiam eorum misereatur pro quibus Filius Dei humanam naturam assumps/f.« 8 Aus solchen Überlegungen ergibt sich also: Mitfreude mit dem erhöhten H e r r n ; Freude im eigenen Interesse der Menschheit über die im H i m m e l nun bereite H i l f e ; Sehnsucht nach dem vorangegangenen H e r r n ; Ermutigung zu seiner Nachfolge. Solche Aspekte des Himmelfahrtsgeschehens konnten nun tatsächlich viel leichter in die Dichtung Eingang finden als der philosophische theologische Gedanke der Liturgie. So seien denn im folgenden unter sen Gesichtspunkten aus der Reihe der Himmelfahrtsgedichte einzelne ausgegriffen. Reine Mitfreude und seine Glorie (1697—1769) aus, und zum K a m p f Strophen lauten 9 :

auch und dieher-

mit dem Aufgefahrenen, Staunen über seinen T r i u m p h spricht sich i n einem Lied v o n Gerhard Tersteegen so jedoch, daß aus dieser Freude Bereitschaft zum Opfer für Christus dem Menschen zuströmt. Die zwei ersten

8

Vgl. Deutsche Thomas-Ausgabe Bd. 28, 1956, S. 288—292. Nach dem Gesangbuch für die Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, danach auch die anderen zitierten Kirchenlieder. 0

7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 6. Bd.

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Hans Rheinfelder Siegesfürst und Ehrenkönig, du verklärte Majestät! Alle Himmel sind zu wenig, du bist drüber noch erhöht. Sollt ich nicht zu Fuß dir fallen und mein Herz vor Freude wallen, wenn mein Glaubensaug* entzückt deine Herrlichkeit erblickt? Seh ich dich gen Himmel fahren, seh ich dich zur Rechten da, seh ich, wie der Engel Scharen alle rufen Gloria, sollt* ich nicht zu Fuße fallen und mein Herz vor Freude wallen, da der Himmel jubiliert, weil mein König triumphiert?

I n den Jubel des himmlischen Empfanges stimmt auch der Sänger ein: Prächtig wirst du aufgenommen, freudig heißt man dich willkommen. Schau, ich armes Kindlein hier schrei auch Hosianna dir! I n der 4. und 5. Strophe vollzieht der Mensch seine Hingabe an den Aufgefahrenen, in Leid und Streit; in der 6. w i r d Christus zur Einkehr ins Menschenherz eingeladen: Komm, du König aller Ehren, du mußt auch bei mir einkehren; ewig in mir leb und wohn, als in deinem Himmelsthron! Damit erstreckt sich der Bereich des Himmels, in den Christus aufgefahren ist, bis in die Seele des Menschen hinein. U n d nun erahnt der Sänger in der letzten Strophe die in der Himmelfahrt erfolgte geheimnisvolle Heimkehr der Menschennatur in den H i m m e l : Deine Auffahrt bringt mir eben Gott und Himmel innig nah. Lehr mich nur im Geiste leben als vor deinen Augen da: fremd der Welt, der Zeit, den Sinnen, bei dir abgeschieden drinnen, in das Himmelreich versetzt, da mich Jesus nur ergötzt! Das gleiche M o t i v des Einlebens und Mitlebens mit dem Auffahrenden — jedoch stilistisch ganz anders gestaltet — findet sich in einem Sonett von

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Gerolamo Savonarola , 'De Ascensione Domini', in dem der Dichter seine Gedanken mit Christus durch die H i m m e l aufschweben läßt und sich die Frage stellt, wie es dem H e r r n bei seiner Siegesfahrt zumute sein mag. W i r Menschen finden i n der Himmelfahrt Christi unsere höchste Hoffnung begründet; denn der H e r r ist Mensch und dennoch reicht seine Herrschaft über jede Herrschaft hinaus: Questa Aquila gentil che si disparte e al ciel va del suo trionfo altiera, poich£ passata avrä la quarta spiera, so che in la quinta non staria con Marte. E, se io mi fido ne le sante carte, di tanto onor l'ottava non se spiera; ma de lo Empireo vargar^ ogni schiera, e prenderä la pitj beata parte. Spirto gentil de la cittä, superna, che fai, dimmi: che pensi or mai, die miri? Questa h pur nostra altissima speranza. Omo k (chi il nega ?), e tutto il ciel governa; e tal trionfo porta di martiri, die ogni splendor di Cherubin avanza. 10 Wie es in diesem Gedichte nur angedeutet ist, so t r i t t in einer anderen Gruppe von Himmelfahrtsgedichten ganz klar zur Mitfreude m i t dem A u f fahrenden unsere menschliche Freude über das Pfand, das uns in Christi Himmelfahrt verliehen ist: w o das H a u p t ist, dahin werden die Glieder kommen; oder, mit einer Abwandlung des Gedankens: wo der Schatz ist, da ist auch unser Herz. Hierher gehört ein Kirchenlied von Josua Wegelin (1604—1640), w o r i n aus dem Wissen um das im H i m m e l weilende H a u p t die Sehnsucht nach ihm und die Bitte um göttliche H i l f e zur »Nachfahrt« sich zwanglos ergeben: Auf Christi Himmelfahrt allein ich meine Nachfahrt gründe; und allen Zweifel, Angst und Pein hiemit stets überwinde. Denn weil das Haupt im Himmel ist, wird seine Glieder Jesus Christ zur rechten Zeit nachholen. 10

7*

Gerolamo Savonarola, Poesie, Torino (1926), S. 29.

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Weil er gezogen himmelan und große Gab empfangen, mein Herz auch nur im Himmel kann, sonst nirgends Ruh erlangen. Denn wo mein Schatz gekommen hin, da ist auch stets mein Herz und Sinn; nach ihm mich sehr verlanget. Ach, Herr, laß diese Gnade mich von deiner Auffahrt spüren, daß mit dem wahren Glauben ich mög meine Nachfahrt zieren und dann einmal, wenn dir's gefällt, mit Freuden scheiden aus der Welt. Herr, höre dies mein Flehen! V o n einem Zeitgenossen Wegelins, Ernst Christoph Homburg (1605—1681) stammt das Lied »Ach, wundergroßer Siegesheld«, in dem sich so typische Stellen finden, wie diese: Du bist das Haupt, hingegen wir sind Glieder, ja es kommt von dir auf uns Licht, Trost und Leben... (3), und:

Zeuch, Jesu, uns, zeuch uns nach dir! Hilf, daß wir forthin für und für nach deinem Reiche trachten... (4)

und: Laß suchen uns, was droben ist; auf Erden wohnet Trug und L i s t . . . (5). Auch in den Alexandrinern des etwa gleichzeitigen Liedes »Gott fähret auf gen Himmel« von Gottfried Wilhelm Sacer (1635—1699) strebt die Seele in der Nachfahrt Christi zum H i m m e l : Der Heiland geht voran, will uns nicht nach sich lassen, er zeiget uns die Straßen, er bricht uns sichre Bahn. Hier ist ein Gedicht von Paul Verlaine anzureihen, das aus durchaus selbständiger Meditation über die Himmelfahrt des H e r r n zu ganz ähnlichen Anmutungen gelangt, wobei dem viermaligen »Jésus au ciel est monté« jeweils eine weitere Stufe der Gedankenführung entspricht: Aufstieg Christi zum H i m m e l — zu unserer Beschenkung mit Gnaden — unter Zurücklassung seines Schattens in den Evangelien — zur Überwachung unserer Hinfälligkeit, die Er, der Menschgewordene, kennt und versteht; aber w i r können ihm in seiner Auffahrt noch nicht folgen, denn w i r sind Nacht, Er Helligkeit: weilen w i r indessen geistig bei ihm!

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Jésus au ciel est monté pour nous envoyer sa grâce: espérance et charité, foi qui jamais ne se lasse, patience et tous les dons que l'esprit porte en ses flammes, et les trésors de pardons, de zèle au salut des âmes, de courage durant les tentations de ce monde, ah! surtout, oui, devant les tentations de ce monde, ces scandales étalés, tour à tour beaux puis immondes, pauvres cœurs écartelés, tristes âmes vagabondes! Jésus au ciel est monté, mais en nous laissant son ombre: l'Évangile répété sans cesse aux peuples sans nombre. Jésus au ciel est monté pour mieux veiller, Lui, fait homme, sur notre fragilité qu'il éprouva . . . Mais nous, comme Jésus au ciel est monté, notre nuit n'y pourrait suivre avant la mort Sa clarté: ah! d'esprit allons y vivre! Was am Schlüsse hier zwar nicht ausgesprochen aber doch vorhanden ist, das ist die Sehnsucht nach dem Herrn, der uns durch seine Himmelfahrt verlassen hat. Dieses M o t i v der Sehnsucht charakterisiert eine weitere Gruppe von Dichtungen, verhältnismäßig groß an Zahl: denn nicht mehr die im Glauben erfaßten Heilswahrheiten, sondern tief menschliche Regungen sind es, die hier anklingen und die um so leichter ihren dichterischen Ausdruck finden können. Das »Zeuch uns nach dir!« in Homburgs Gedicht (dem aus dem Hohen Lied 1,3 zusammengefügten »Trahe me post te!« nachgebildet) w i r d zum Grundmotiv eines kurzen Sehnsuchtsliedes von Friedrich Funke (1642—1699), das auch stilistisch, i n dem viermal gleichen Beginn der Strophen, der sehnsüchtigen Stimmung Ausdruck verleiht:

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Zeuch uns nach dir! So laufen wir mit herzlichem Verlangen hin, da du bist, o Jesu Christ, aus dieser Welt gegangen. Zeuch uns nach dir, Herr Christ, und führ uns deine Himmelsstege! Wir irr'n sonst leicht und sind verscheucht vom rechten Lebenswege. Zeuch uns nach dir! So folgen wir dir nach in deinen Himmel, daß uns nicht mehr allhier beschwer* das böse Weltgetümmel. Zeuch uns nach dir nur für und für und gib, daß wir nachfahren dir in dein Reich, und mach uns gleich den auserwählten Scharen!

^#

Noch stärker spricht sich die Sehnsucht aus in dem Lied eines unbekannten Verfassers des 18. Jahrhunderts. Das Lied beginnt: Zum Himmel bist du eingegangen, mit Preis gekrönt, Herr Jesu Christ; wie sollte mich nun nicht verlangen, auch dort zu sein, wo du nun bist? Ich bin ja nur ein Pilgrim hier: nimm in die Heimat mich zu dir! U n d die letzte, die 6. Strophe ersehnt den Übergang des irdischen Glaubens in himmlisches Schauen: Einst wirst du herrlich wiederkommen, gleich wie du aufgefahren bist; dann werd ich völlig aufgenommen, wo mir bereit mein Erbteil ist. So leb ich nun im Glauben hier, im Schauen aber Gott mit dir. Das M o t i v dtr Sehnsucht ist in dem Himmelfahrtsgedicht der Annette von Droste-Hülskoff aus der Sehnsucht nach vorn, i n eine dichterische

Gedichte um Christi Himmelfahrt Sehnsucht nach rückwärts, in die Zeit schaltet. M a n muß sich bewußt bleiben, Sehnsucht vorliegt, abermals einen Grad rischen Möglichkeiten näher. So beginnt

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von Christi Erdenwandel, umgedaß hier eine ganz andere A r t der menschlicher, abermals auch dichtedie Droste:

Er war ihr eigen dreiunddreißig Jahr. Die Zeit ist hin, ist hin! Wie ist sie doch nun alles Glanzes bar, die öde Erd, auf der ich atm' und bin! Warum dürft ich nicht leben, als sein Hauch die Luft versüßte, als sein reines Aug gesegnet jedes Kraut und jeden Stein? Warum nicht mich? Warum nicht mich allein? O Herr, du hättest mich gesegnet auch! D a n n träumt die Dichterin, wie sie sich w o h l verhalten hätte, wenn sie zur Zeit Jesu und in seiner Umgebung hätte leben dürfen (Str. 2 und 3) und fährt fort: Umsonst! Und zwei Jahrtausende nun fast sind ihrem Schlüsse nah, seitdem die Erde ihren süßen Gast zuletzt getragen in Bethania. . . . Aus der Mühsal ihrer Zeit trauert die Dichterin der Urzeit des Christentums nach. Doch ahnt sie, daß in all dem Leid doch vielleicht Christus näher ist als in der Freude festlicher Tage. Diese sieben Strophen bilden in ihrer Eigenwilligkeit nicht eigentlich ein Himmelfahrtsgedicht, sondern einfach ein Gedicht v o m Scheiden des H e r r n und von seiner Ferne. K e i n dogmatischer Gedanke t r i t t hier auf, auch kein theologischer Gedanke des Evangeliums. Was hier spricht, ist das Leid des Herzens im Abschiednehmen und aus der Ferne, einer Ferne, der nicht abzuhelfen ist und der ein Mensch nur m i t Gottvertrauen begegnen kann: Wir sehen deine Hand und sind getrost, ob über uns die Wetterwolke tost, wir sehen deine Hand, wir stehen fest. Das Ergebnis aus Christi Himmelfahrt ist hier nur noch menschliches Leid des Verlassenseins. Solches Leid, bei staunender Ergriffenheit und trotz aller Himmelfahrtsfreude, verspürt auch Rudolf Alexander Schröder am Ende des letzten seiner vier Gedichte ' A m Himmelfahrtstag 1946' 1 1 . I n mannigfachen, geheimnisvollen Eindrücken, die das Ohr des Dichters treffen, w i r d die H i m 11

Ges.Werkel, S.894f.

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melfahrt des Herrn, über O r t und Zeit hinweg, mystisch miterlebt: etwas Mächt'ges dringt durch die Wolken, erschüttert Erde und H i m m e l , tönt in Glocken und in Stimmen, meldet Freude und meldet Leid: Still, o still! Ich höre doch? Schwingen? Schwillt ein Klingen? Schwebt das Singen Über Erd und Himmel hoch, Land und Lüfte zu durchdringen? Wiegt und wankt der Klöppel noch? Wär die Wandung nicht zerschroten, Stockt nicht heiser, dumpf und barsch, Hart und harsch Stammeln, dem das Wort verboten? Schweig und horch: es ist kein Traum, Zungen! Ja durchdrungen, Ja durchrungen, Erdenrund und Himmelsraum, Ins Geläut hineingezwungen, Schüttert bis zum letzten Saum Unterm Geistersturm der Glocken, Wenn er aufstand, singt das Erz! Menschenherz, Du darfst klagen, darfst frohlocken! M i t der reinen Trauer, mit der Klage über den Abschied des Herrn, erlangt Himmelfahrtsdichtung ihr menschlichstes Gesicht, zugleich aber auch die stärkste Eignung für lyrischen Ausdruck. Das bedeutendste Beispiel dafür sind w o h l die fünf Strophen von Luis de León, in denen sich das gleiche Empfinden ausspricht — auch hier in einer Jüngerklage — wie in Goethes Versen Ließ er, die Seinen, schmachtend uns hier zurück, ach, wir beweinen, Meister, dein Glück! Die ersten vier Strophen werden von den Jüngern an den aufschwebenden und noch sichtbaren Christus gerichtet, die letzte Strophe an die Wolke, die ihn den Blicken entzieht. Die traurig nachblickenden Jünger empfinden sich als eine führerlose Herde, im dunklen Gebirgstal und in der Einsamkeit, da ihr heiliger H i r t e ihnen entschwebt: Er zieht gesicherter Unsterblichkeit entgegen — sie bleiben bekümmert und ratlos zurück, und waren doch vorher im großen Glück des Verkehrs mit ihm! Was soll dem Auge und

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dem O h r künftig noch gefallen, nachdem ihr Gegenstand so lange der Herr selbst gewesen ist? Jetzt ist das Lebensschifflein der Jünger auf dem wilden Meer ohne Steuermann, ohne den Wegweiser des Nordsterns. Denn in diesem Augenblick verschwindet der H e r r am H i m m e l hinter einer Wolke. So wendet sich der Dichter jetzt an diese Wolke: »Mißgünstige Wolke! Nicht einmal diese kurze Freude des Schauens willst du uns lassen! Wohin fliegst du so eilig? Ja, du entschwebst, reich geworden durch den Herrn, den du tragen darfst — uns aber machst du dadurch arm und blind.« K a r l Vossler hat in seiner meisterhaften Nachdichtung diese letzte Strophe geglaubt abändern zu müssen: er läßt die Jünger nicht zur Wolke sondern weiterhin zu dem entschwundenen H e r r n sprechen: Ein neidischer Wolkenzug mißgönnt uns Deine kurze Gegenwart und trägt Dich weg im Flug. Wohin die Gottesfahrt? Wir stehen arm und blind und unbewahrt. Ich möchte ihm bei diesem harten Eingriff nicht folgen. Erscheint es doch sehr natürlich, daß die Jünger nach dem Entschwinden des H e r r n die an derselben Stelle aufgetauchte Wolke anreden. Auch der ergreifende Gegensatz zwischen der durch die Aufnahme Christi reich gewordenen Wolke und den dadurch verarmten Jüngern, die ihn nicht einmal mehr sehen können, ist bei Vossler weggefallen. Das ganze Gedicht kündet nur vom Leid der Verlassenheit, von tiefsten menschlichen Regungen — und hier hat sich der vollendete dichterische Ausdruck einem großen Dichter darbieten dürfen: ¿Y dejas, Pastor santo, tu grey en esté valle hondo, escuro, con soledad y llanto; y tú rompiendo el puro aire, te vas al inmortal seguro ? ¿Los antes bienhadados, y los agora tristes y afligidos, a tus pechos criados, de ti desposeidos a do convertirán ya sus sentidos ? ¿Qué mirarán los ojos que vieron de tu rostro la hermosura, que no les sea enojos ? quien oyó tu dulzura, ¿qué no tendrá por sordo y desventura ?

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Hans Rheinfelder ¿Aqueste mar turbado quién le pondrá ya freno ? quién concierto al viento fiero, airado ? estando tú encubierto, ¿qué norte guiará la nave al puerto ? ¡Ay! nube envidiosa, aun deste breve gozo, ¿qué te aquejas ? ¿dWer's hier nicht sucht, der findet's nimmerc, rief ich, >durch! und wenn's am Monde hinge.c Aber wie ich anstieß, sprang mein Glas mitten entzwei, mir graute — da rief's auf einmal vom Mastkorbe: >Land!könnt Ihr etwa im Venusberg wissen, was es der Zeit ist? Wißt Ihr nicht, daß mancher als schlanker Jüngling in den Venusberg gegangen und mit grauem Bart zurückgekommen, und meint doch, er sei ein Stündlein oder vier zu Biere gewesen, und keiner im Dorfe kannte ihn mehr?Ihr habt euchc, sagt er, >alle sehr verändert in der einen langen Nacht, da wir uns nicht gesehen !«< (762). Das Lügenmärchen des Sanchez wird im Gegenspiel von Schein und Wirklichkeit bitterer Ernst in der Gestalt des Greises Alonzo. Sanchez ist wie gewöhnlich betrunken, Alonzo offenkundig wahnsinnig. Der Scheintod des Sanchez am Strande ist ein Beispiel komischer Erleichterung, gleichzeitig Hinweis auf Alonzos wirklichen Tod. Diese Doppelung der Gestalten in Eichendorffs Erzählung verweist uns auf eine gemein-romantische Stiltendenz, die zur Aufdeckung des alter ego, der Schattenseite der Welt dient. So ist es nicht verwunderlich, daß überall in diesen Landschaften in den Bergen und während der Seefahrt Doppelgänger erscheinen; sie sind Konfiguration der Ambivalenz der menschlichen Natur. Deshalb auch ist die Gestalt des Alvarez in dieser Erzählung deutlich herausgehoben, weil sie als einzige keine Verbindung zu Frau Venus hat, weil sie nicht betrogen werden kann, weil sie Charakterstärke besitzt. Zu Alvarez gibt es kein Gegenbild, es sei denn das Chaotische selbst, das gestaltlos weite Meer, auf dem er den rechten Weg zu finden weiß. Sein Leitwort ist: » . . . ein Weltentdecker muß den Kompaß in den Füßen haben« (773). Die Unsicherheit, oder, wie er sagt, »Fortuna« behagt ihm (756). Während Antonio sich im Anblick des schönen toten Weibes verliert, erkennt Alvarez diese Erscheinung sofort als »ein Symbolium der heidnischen Liebe«, die zum Wahnsinn führt, als ein »Luftbild, eine Schimäre« und er versteht, daß sie in einen Abgrund blicken: » . . . da sind die geheimen Fenster der Erde erleuchtet, daß man bis ins Zentrum schauen kann« (757). Seine Fähigkeit, den richtigen Weg zu sehen, in der dumpfen Schwüle der tropischen Inseln nüchtern zu bleiben, stellt ihn in Gegensatz zur ganzen übrigen Mannschaft, die sich umstricken und verführen läßt. In einer besonderen Funktion stehen die Liedeinlagen der Erzählung. Schon das erste Gedicht, das der schwärmerische Antonio vor sich hinsingt, faßt keimhaft die ganze Erzählung zusammen. Er träumt von dem Oheim auf der Warte »da unten tief« und von der »Heimat im Meeresgrunde« (752 f.), er sieht ein trügerisches, halbwahres Traumbild und doch ist gerade dieses Lied die genaue, fast graphisch genaue Darstellung der zauberhaften

Zum Aufbau von Eichendorffs 'Eine Meerfahrt*

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und gefährlichen Tiefen des Geistes. Das Gedicht ist nicht allein Stimmungsrequisit, sondern in seiner Vielschichtigkeit bedeutsames Erzählelement. Es charakterisiert Antonios Gemüstzustand, vergegenwärtigt die Gestalt und das Schicksal des Oheims und verbindet die tropische Natur mit dem Meeresgrund. Im Lied erforscht Eichendorff die sonst unsichtbare Lage des Geistes und verführt uns zu weitreichenden Assoziationen. Die Liedeinlagen bilden also gleichsam im Bereich der Doppelungen ein vereinheitlichendes Stilmittel und bilden eine höhere Ebene der Erzählungen, außerhalb des mehr realistischen, epischen Erzähl Vorganges; sie weisen auf die überzeitlichen Wahrheiten hin, die immer wieder in der Zeit zum Ausdruck kommen. Die Erzählung lebt aus der Spannung zwischen zeitlicher und überzeitlicher Wirklichkeit. Der Welt mangelt es an etwas Wesentlichem und dieser Mangel erzeugt das Gefühl der Sehnsucht; so wird in der »Entfremdung« der Wirklichkeit die Welt in einen Traum verwandelt, aus dem es zu erwachen gilt. Der Traum aber gewährt Einblick in die Wirklichkeit eines ewigen Dramas. Eine Untersuchung der Traummotivik unserer Erzählung ergibt demnach die Vorstellung der Zeit als Theater, des Lebens als Rolle, der Erde als Bühne der Geschichte19. »>Es ist mir noch alles wie ein Traumdie fröhlichen Gesellen meiner Jugend, die sich daran ergötzen könnten, sind lange tot, andere Geschlechter gehen unbekümmert über ihre Gräber, und ich stehe zwischen den Leichensteinen allein wie im tiefen Abendrot überschriebene kleine Skizze stammt der Schrift und dem Inhalt nach etwa aus der Zeit um 1905. — Zur selben Zeit, als in der Erstausgabe des Bandes 'Gesichte' der Essay 'Die Odenwaldschule' erschien, schrieb die Dichterin für die Zeitung ihre Berichte über das Schulheim Hellerau bei Dresden. »Im Berliner Tagblatt den Essay über Hellerau (unterzeichnet E. L.) hatte ich geschrieben. Ich geb mir Müh, aber ich kann nur spielen, auch in der Schreiberei«, heißt es in einem Brief an Karl Kraus (1.11.1913). — Die beiden dann folgenden Gedichte aus der 'Weltbühne' gehören in die wohlbekannte Reihe der prosanahen Portraitgedichte. Sie wurden inzwischen, dem heutigen Schreibgebrauch angepaßt, abgedruckt in: Else Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, München 1966, S. 342—344. — Die abschließende Werberede für den Bau einer Synagoge stammt aus dem Jahre 1939 und wurde von Else Lasker-Schüler im Bezalel-Museum in Jerusalem gehalten. Der Abdruck der Texte erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Herrn Manfred Sturmann, Jerusalem, Herrn Professor August Buck, Osnabrück, und Herrn Oberrabbiner Professor Dr. Kurt Wilhelm f> Stockholm. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Texte Nachtregen Wenn ich morgen die Augen öffne, werden sie eine ganz andere Welt sehen. Ich liege zwischen meinen blauen Gedanken, die entspringen in der Furche meiner Stirn. Und wie zwei Meere breiten sie sich und überströmen meinen Körper, der ist eine Landzunge aus Bernstein aus Muschelgestein. 15*

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Margarete Küpper

Meine Wunderstunde vor dem Schlaf. — Seidengekleidete — o, Du leise Prinzessinstunde, in Deinem Arme blühen Lauschegärten. Es vertönt bange eine Glocke in mir, es ist die Glocke der Erde und ich bin zu müde, um zu läuten und doch hängt sie im Turm meiner Seele. Ich möchte niederknieen, aber meine Kniee bluten und sie würden einen grausamen Schatten über die Welt werfen. Aber wenn ich morgen die Augen öffne, ist der alte Himmel tot und die verrunzelte Erde fressen die Geizigen und Lichte fallen in meinen Schoß und erlöst werde ich sein aus Tausendschwere. Ich fühle schon den Keimschmerz meiner Flügel — auf! Eine Möve bin ich, schwingen werde ich mich. Wie die Lüfte rauschen.... Ich glaube an Dich, Du kommender Himmel — ich bin nackt — schon flattert mein Atem, wie wildes Lenzwehn hin und her. Else Lasker-Schüler [Unveröffentlichtes Manuskript, der Schrift und dem Inhalt nach um 1905, im Besitz von August Buck, Osnabrück.]

Ein

"Schulheim"

Vom Bahnhof Dresden-Neustadt fährt man noch zwanzig Minuten mit der Elektrischen nach Hellerau, in das einzige Dorf, das von Städtern bewohnt ist. Jede Familie besitzt ihr eigenes Häuschen, vor jedem Häuschen blüht ein Garten aus allerlei bunten Farben. Ueberall spielen Kinder, und die Hügel sind da für die Purzelbäume. Schlanke Mädchen in griechischen Gewändern steigen herab ins Thal aus ihrem kleinen Griechenland, das Dalcroze oben auf dem Gipfel des städtischen Dörfchens erschuf. Unten liegt das Schulheim an der Soldatenwiese und inmitten vieler, vieler Nadelbäume. Frische Luft und Waidesdüfte dringen durch seine Fenster und färben die Backen der Kinder rot. Am Morgen mit dem ersten Kikeriki kommt die Dresdner Jugend herauf in die junge Schule, und manches von den Kindern kehrt erst abends wieder heim. Am liebsten möchten sie alle ganz dort bleiben, wie die Kinder aus Berlin. Und sie beneiden die Kameraden und Kameradinnen. Freilich, eine solch schöne Schule sollte man sich zu Weihnachten wünschen, mit so einem guten, freimütigen Direktor und seinen lustigen Lehrern und Lehrerinnen. Die Kinder nehmen die Unterrichtsstunden wie Geschenke mit heim. Die Knaben und Mädchen brauchen nicht zu zittern, ob sie das Rechenexempel können oder nicht; darum lernen sie eben das Doppelte, weil ihre Aufnahmefähigkeit nicht durch Furcht geschwächt wird. In den Pausen wird der Schulgarten lebendig, an den Turngeräten üben sich die

Wiederentdeckte Texte Else Lasker-Schülers I I

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Kinder, und ihr Lachen schallt bis zum Weißen Hirsch herüber. Viel Obst und Milch, aber auch Fleisch und gemischte Kost bekommen die Kleinen zu den Mahlzeiten, und ihre Schlaf- und Wohnräume sind warm, weiß und gold. Ueberall Fröhlichkeit und Gemütlichkeit, wie es sich Kinder wünschen. Nicht weit vom Schulheim liegt verwunschen zwischen lauter Holz und Brombeeren das Waldhaus. Von der Großstadt geschwächte oder nervöse Kinder finden dort bei einem Arzt und seiner Frau, die ebenfalls Aerztin ist, Aufnahme. Die haben selbst einen kleinen Sohn und wissen mit Kindern umzugehen. Ein Knabe sagte: "Der Doktor weiß, wie es ist, wenn man selbst noch ein Kind ist." Kann ein Erwachsener etwas aussprechen, das mehr Elternsorgen zu beruhigen vermag? [Berliner Tageblatt, Nr. 541, 24.10.1913.]

Kleine

Skizze

Ein Dorf mit Stadtbewohnern ist Hellerau. Oben auf dem höchsten Gipfel liegt Jung-Athen, von griechischen Girls und Masters bewohnt. Die studieren bei Dalcroze Tanz und Rhythmus und sind lauter stud. dancing und lovely american-Studentinnen, alle in griechischen Gewändern, das Reifband um die Stirnen geschlungen. Von diesem Athenerhügel sieht man das eigentliche Dörfchen liegen in Blume und Frucht. Eine ganze Straße Spielhäuschen; Girlanden verbinden wie zum Fest Dach mit Dach. Am Ende des Dorfes steht das Schulheim. Jeden Tag kommen die Kinder aus Dresden und verbringen dort in den weiten, frischen Räumen den Lehrmorgen. Den Mädchen und Knaben aus Berlin und aus der Dresdener Umgebung ist das Schulheim ein Elternhaus geworden. Goldblonde Haare und braune Locken flattern durcheinander und Bubenköpfe, frisiert wie ihr Herr Direktor. Die Mädchen mit der liebreichen Stimme ihrer Fürsorgerin eilen mir entgegen. Dogessa versteht Geschichten zu erzählen und Schwänke von ihrem Ahn, dem Baron von Münchhausen. Vor dem Schulheim blüht eine grüne, grüne, grüne Wiese. Die Soldaten exerzieren dort in der Frühe und blasen in die Trompete. Aber nach der Essenszeit spielen die Kinder des Schulheims Fußball, Reifen und Federball in dieser ungehemmten Freiheit. Hell ist es im Schulheim, ein Haus für die Mädchen, ein Haus für die Knaben; zwei weiße Häuser mit zitronenfarbenen Türen, aus denen die Kinder wie Schmetterlinge ein- und ausschweben. Gemeinsames Mahl, Zusammenspiel im Garten, und im Winter in den gemütlichen Stuben. "Der Direktor ist schrecklich streng," erzählen die Kleinen scherzend. Eben balgt er sich mit dem Günther herum,

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Margarete K p p e r

und seine blauen Augen sind zwei lustige Streiche. Und die BaroninGroßmutter ist eine Großmutter und ein Kind zugleich und immer in Sorge für jedes einzelne Kind. Heute wird bei Tische überlegt, wohin die Wanderung gehen soll. Nach Böhmen!!! Der Direktor Koehler selbst marschiert voran, den Rucksack auf dem Rücken. Hinter ihm die kleinen Bergsteiger. Ich möchte wahrhaftig noch einmal in die Schule müssen. Die Stunden im Schulheim sind nicht anstrengend, man wünscht sie sich nicht zum Kuckuck. Und doch kommen die Kinder ordnungsgemäß vorwärts; die Jungens werden Einjährige und den Mädchen bleibt die Anmut. Milch und allerlei Säfte trinken die Kinder zu den Mahlzeiten. Wenn ich dort zwischen ihnen sitze, meine ich, ich bin auch noch ein Schulkind. Ich liebe dieses Haus, als ob es mir mitgehört. [Der Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tageblatt, Nr. 29, 20. 7.1914.]

Aribert

Waescher

Zur Zeit des Nazareners War er ein starker Jünger. „Arib"! So nenne ich meinen herrlichen Freund. Tief religiös ist er. Jedes Jahr pflückt er das Evangelium Glitzernd vom Weihnachtsbaum. Aber auch vergoldete Aepfel und Nüsse Und Herzen aus Chocolade. Freut sich darauf wie der fünfjährige Ari, Der so viel Liebe von Mutter und Vater empfing. Er sehnt sich noch immer nach süßen Beteurungen — Der Riese. Schlägt er die Fransen seiner Lider auf, Wird es blaublaublau. Sein Schritt auf die Bühne Hob seinen Traum nicht auf, erhöhte ihn. Seine Stimme wurde antik: Ein Hektor in des Theaters Arena. Thau im Klang, bebend vor Kraft, Dennoch Zurückhaltung im Ausbruch bewahrt.

Wiederentdeckte Texte Else Lasker-Schülers I I

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Wie vornehm spielte er den Holofernes; Und nicht als ungeschlacht Raubtier. Dabei freut sich Niemand neidloser Am Spiel des Andern wie mein Freund. Namentlich weiß er den Bassermann Unendlich zu verehren. Wie erst versteht er Freund zu sein Dem Freunde brüderlich. In der Passion saß Aribert zur Rechten Jesu, Ein junger Petrus: Knecht und Wille zugleich. Ergriff es mich mächtig, ich weinte, Als er schlicht und entsetzt zu Ischariot sagte: „ D u wirst dir doch von unserm Herrn Nicht die Füße waschen lassen!" Dann — mit welchem Blutbeben Er selbst seinen Fuß dem Rabbuni reichte. Sehr oft wandeln wir beide Durch die alte und neue Testamentwelt; Und waren schon im Himmel einmal — bei Gott. [Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft, 19. Jg., Nr. 4, 25.1.1923.]

Paul

Leppin

Er ist mein liebster Freund, Er ist der König von Böhmen. Wenn ich von ihm spreche Lege ich mein Feierkleid an. Gedenkt er meiner — Spielen die Spieldosen am Schrank; Oder die Uhr an der Wand Schlägt eine tiefe Stunde. Er läutet Selbst und läutert, Paul Daniel Jesus, ein junger Papst.

Margarete K p p e r

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Sein Herz pilgert immer Fromm in die Ewigkeit... Ganz einsam, aber in großen Zügen Trinkt er die bittere Traube der Welt. Sein Antlitz, ein schimmernder Totenkopf: Die große Auferstehung. Der erschafft aus einem Blutstropfen Das Werk, Und gibt ihm den Namen Von seinem Gebein. Paul und sein Sohn der kleine Ritter: Ein Goldgemälde: Alter Meister, Im Rahmen der Stadt Prag. [Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft, 19. Jg., Nr. 34, 23. 8.1923.]

[ W e r b e r e d e f ü r den Bau einer

Synagoge]

Gewarott und Rabbotei! Von Kind an wünschte ich mir, dem "Lieben Gott" einen Tempel zu bauen. Wie ich zu meiner mir teuren Mutter oft sagte: einen himmelblauen. . . Ich beabsichtige mit diesem Ihnen anvertrauten Wunsch, nicht etwa zu behaupten, ich bin ein besonders frommes Kind gewesen, aber sicherlich ein dichterisches. Da nun einst Gott den königlichen Psalmendichter David erwählte, die "Glorie" wieder nach Jerusalem zu tragen, nehme ich an, der Heilige Gott schätzt den Dichter und blickt auch ein wenig bevorzugend auf mich herab und Er es ist der mich erfüllte gotteigen mit dem Gedanken schon in meinen Kinderjahren Ihm einen Tempel aufzurichten, Ihm Gott dem Melech aller Welten. Mich dünkt, heute stehe ich vor dem Bauplatz, der von mir ersehnten Tempelsynagoge. Das heisst, die erste Sekunde der grossen gebenedeiten Minute tickt. " I n Gottes Ohr" — höre ich einige Gäste im Raum flüstern, wie man hier so oft ungläubig zu bemerken pflegt. Doch nur der "gläubige Wille" macht stark und vollbringt Gelingen! Das zur Synagoge umgeräumte Museum ist im Grunde keine Synagoge. Verhängte Bilder im Kittel, gekleidete Kunst wirkt nüchtern. Aber es geht wohl nicht anders zu arrangieren, denn ein Museum ist keine Sy-

Wiederentdeckte Texte Else Lasker-Schülers I I

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nagoge; auch würden die Gedanken der betenden Gemeinde vom frommen Thema Gottes abgeschweift werden. Oft wünschte ich auf Flügeln des cantoralen Gesanges eine Orgel oder ein Harmonium herbei, dessen Töne das Wort emporheben zu den Himmeln. Aber auch dem sangeskundigen Herrn Weissfisch das Vorbeten erleichtere; die Andächtigen vor Ermüdung bewahrt. Orgelspiel sei in der Synagoge nicht erlaubt. Wer sagte das je? Zu Moses Zeiten gab es weder eine Orgel noch ein Harmonium, aber König David spielte zum Lobgesang Psalter und Harfe und sicher trug gerade er Schellen an den Schuhen, so daß jeder seiner Schritte tönte. Meines Erachtens ist Gott die Orthodoxie total fremd. Ich weiss noch nicht mal wie das Wort geschrieben wird. Orthodoxie gleicht der alten Tasse aus den achtziger Jahren, aus ihr trinkt der Urenkel, hat sie auch keinen Henkel mehr und ist der Pietätvolle auch genötigt das mit Urgrosspapas goldverblichenen Namen versehene, schon gesprungene Porzellan zwischen beiden Händen zu nehmen, es an die Lippen zu setzen. Er verwechselt Gott mit Urgrosspapa. Gott aber ist nicht in Zeit gehüllt und Raum. In jedem Kinde wächst Er voll Vertrauen von Neuem auf, in der Hoffnung einen edlen Gefährten zu beseelen. Am Versöhnungstag, dem liebreichsten Tage Jeschuruns, bedauerte ich fast paradox, mit unserm prachtvollen Rabbiner Dr. Kurt Wilhelm nicht irgend böse zu sein. Merkwürdig nicht? Ich hätte mich nämlich so gerne mit ihm versöhnt. Er war der, dessen "Seele" fastete. Darauf kommt es vor allem an. Wir, die wir hier alle heute versammelt, verehrte Rabbotei und verehrte Gewarott, wir können uns nur für die ruhigen frommen Stunden in seiner Obhut getreu erzeigen und dankerfüllt, indem wir helfen seine Sorgen zu tragen, die Sorgen um das Bestehen dieses Betraums, den ich mir zwar erlaubte anzutasten, aber der eine Vorstufe ist zu dem "himmelblauen" Tempel, den ich schon als Kind Gott zu erbauen mich sehnte. Ein kindlicher Urplan, den ich nun lege in die weiseren Hände unseres Rabbunis. Ich sprach vom Fasten der Seele — meine Seele fastete immer, jedes Dichters Seele fastet, und ich gerade bitte Sie, verehrte Gewarott und Rabbotei, mit der Bitte mit unserem herrlichen, herzlichen Kurt Wilhelm zu überlegen, wie sich weiter diese aus einem Museum geschälte Synagoge im Stande zu bestehen? Dem nüchternen Menschen gelüstet es nach den Münzen, n:cht nach Gott. Doch wir sind nüchtern. Wenn erst diese Arbeit überwunden, dann wollen wir gemeinsam vom himmelblauen Tempel miteinander reden, der schon im Herzen unseres feinen Rabbiners lebt und nach Gott ausblickt. [MB, Wochenzeitung des Irgun Oleg Merkas Europa, Nr. 40/41, Tel-Aviv 2.10.1959, S. 10.]

Z U RILKES GEDICHT 'TODES-ERFAHRUNG' Von John Hennig Todes-Erfahrung Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund, Bewunderung und Liebe oder Haß dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund tragischer Klage wunderlich entstellt. Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen. Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen, spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt. Doch als du gingst, da brach in diese Bühne ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt, durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne, wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald. Wir spielen weiter, bang und schwer Erlerntes hersagend und Gebärden dann und wann aufhebend; aber dein von uns entferntes, aus unserem Stück entrücktes Dasein kann uns manchmal überkommen, wie ein Wissen von jener Wirklichkeit sich niedersenkend, so daß wir eine Weile hingerissen das Leben spielen, nicht an Beifall denkend. Das in den 'Neuen Gedichten' im Dezember 1907 unter dem Titel 'Todeserfahrung* (ebenso in der Ausgabe von 1919) erschienene Gedicht Rilkes ist im Manuskript 'Todes-Erfahrung' betitelt. Es entstand auf Capri am 24. Januar 1907 zum Gedächtnis der am 24. Januar 1906 verstorbenen Gräfin Luise Schwerin, die im März/April 1905 Rilke im Sanatorium Weißer Hirsch bei Dresden kennengelernt und in ihren Freundeskreis eingeführt hatte.

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John Hennig

Aus Rilkes Brief vom 4. Mai 1905 geht hervor, daß dies nicht der erste von Rilke an die Gräfin gerichtete Brief war. Für unseren Zusammenhang ist interessant, daß die Empfängerin sich zu der Zeit auf Capri befand und daß in diesem Brief ein Begriff von »Wirklichkeit« vorkommt (»aus dieser Wirklichkeit [des Parks von Schwetzingen] zurück in die fremde . . . Stadt«), der in 'Todes-Erfahrung« ('T.') wieder anklingt (»Grün wirklicher Grüne, wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald . . . von jener Wirklichkeit«). Aus dem Brief vom 5. Juni 1905, ebenfalls aus Worpswede, lernen wir, daß die Gräfin Rilke ein Buch über Meister Eckhart gesandt hatte, was hinsichtlich 'T.' nicht uninteressant ist, und daß Clara Rilke auch mit Gudrun, der Tochter der Gräfin Schwerin und Gattin von Jacob Baron von Uexküll, der Rilke die erste Buchausgabe des 'Cornet' widmete1, in freundschaftlicher Verbindung stand. An dem dritten Brief vom 10. September 1905 ist bemerkenswert, daß ihn Rilke nur mit seinen Vornamen unterzeichnete2. Die Gräfin Luise Schwerin war eine geborene Freiin v. Nordeck zu Rabenau, mütterlicherseits britischer Abstammung; ihr Gatte war 1901 gestorben. Unmittelbar unter dem Eindruck der Nachricht vom Hinscheiden der Gräfin hatte Rilke ein Gedicht geschrieben, das jetzt die Abteilung 'Vollendetes* im zweiten Band seiner 'Sämtlichen Werke' eröffnet und dem Ernst Zinn den Titel 'Auf den Tod der Gräfin Luise Schwerin* gegeben hat. Im Gegensatz zu diesem Gedicht spricht 'T.' kaum direkt von der Dahingegangenen. An dem biographischen Anlaß ist für das Verständnis von 'T.' wichtig, daß die Grafin Schwerin, als sie Rilke kennenlernte, 56 Jahre alt war. Der jüdisch-christlichen Sitte des Jahrgedächtnisses folgend, hat Rilke in 'T.' die Erfahrung niedergelegt, die er mit dem Tod der »Erhabenen« während des seither verflossenen Jahres gemacht hatte. Wenn ich versuche, 'T.' aus der philologischen Analyse des Textes monographisch als einen Grundtext existentieller Bewußtheit zu interpretieren 3, 1 'Im Gedächtnis einer Erhabenen' [Rilke, Sämtliche Werke, Wiesbaden 1955, Bd. 1, S. 518, 862 u. 786, u. Bd. 2, S.753]. 2 Rilke, Briefe, Leipzig 1939, Bd. 2, S. 69, 72 u. 85, u. Bd. 6 (1936), S. 488. 3 Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der 'Neuen Gedichte' ließ Robert H . Heygrodt [Die Lyrik R.M.Rilkes, Diss. Köln 1921] 'T.' übersehen. Emil Casser [Grundzüge der Lebensanschauung R.M.Rilkes, Diss. Bern 1925] widmete (81) 'T.' eine kurze Bemerkung. Jürgen Petersen [Das Todesproblem bei Rilke, Würzburg 1935, S. 31 f.] konnte nur mutmaßen, daß es sich bei diesem Gedicht um eine Frau handele. Walther Rehm [Orpheus, Düsseldorf 1950, S. 604 f.] erkannte den Zusammenhang zwischen 'T.' und 'Der Tod der Geliebten' (s. u.). Erstaunlich ist das Fehlen des Bezugs auf 'T.' in Werken, die Rilkes Beziehungen zur Existenzphilosophie, vor allem natürlich im Hinblick auf die Todesvorstellungen, besonders behandelt haben (Otto F. Bollnow y Joseph F. Angelloz, Erich Simenauer). Auch Martin Heideggers Vortrag über 'Rilke als Dichter in dürftiger Zeit' ['zum zwanzigsten Todestage im engsten Kreise

Zu Rilkes Gedicht 'Todes-Erfahrung'

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so berufe ich mich auf das, was i m Jahre der Entstehung und des Erscheinens dieses Gedichtes Theodor v. Grienberger im Bezug auf das älteste Gedicht i n deutscher Sprache sagte: Verstehen, würdigen, erklären kann man es nicht aus dem Sinne eines Anderen, der viele Jahre vor unserer Gegenwart lebte, sondern einzig und allein philologisch, d. i. nach den Sätzen, die dastehen, nach den Potenzen, die es birgt 4. Meine Zitate aus anderen Gedichten sowie aus Briefen Rilkes beanspruchen nicht eine Einordnung in das Gesamtwerk oder Leben; vor allem ist nicht beabsichtigt, Rilkes Todeserfahrung hier noch einmal darzustellen. Für das Werk sei nur auf die Bedeutung dieses Gedichtes für die Entwicklung vieler Grundwörter Rilkes hingewiesen 5 . Hinsichtlich des Lebens sei aus dem Brief an Clara v o m 2. Februar 1906 zitiert, was als M o t t o meiner Arbeit dienen könnte: Da ist kaum ein Schimmer erst vom Nächsten . . . es kann fast nie erscheinen, das kleine Grün. Dein langer Brief mit allen den Fragen, was das Leben uns will. Und Morgens und Nachmittags mit der Bibel auf dem Lesepult. Unser Gedicht und besonders sein Anfang klingt an in den Worten von L o u Albert-Lasard: Niemals zu seinen Lebzeiten war Rilke so gegenwärtig, als während der Wochen nach seinem Tode, dieses Todes, den ich wußte, ehe man ihn mir mitgeteilt . . . Er ist derjenige, welchen alles durchdringt, auf daß er alles durchdringe. Selbst das Schreckliche hielt ihn nicht zurück. Er enthüllte unsere Zwiespältigkeit, die wir nicht wahrhaben wollen6. gesprochen', 'Holzwege', Frankfurt 1950, S. 252—295] erwähnt C T / nicht, da sich nach ihm »das gültige Gedicht Rilkes in geduldiger Sammlung auf die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus zusammenzieht«. Aber 'T.' klingt an in Heideggers Worten: »Noch sind die Sterblichen nicht im Eigentum ihres Wesens. Der Tod entzieht sich in das Rätselhafte.« Nach Hans Berendt [Rilkes Neue Gedichte, Bonn 1957, S. 138] ist der Bezug von 'T.' auf die Gräfin Schwerin nur »wahrscheinlich«, nach dem unten zu zitierenden Brief vom 16. Juni 1922 jedoch ist dieser Bezug als sicher anzunehmen. Berendts 'Versuch einer Deutung' (S. 41, 138—141) beruht einerseits auf der Einordnung von 'T.' in eine Reihe, wobei die Eigenart zu kurz kommt, anderseits auf der Vernachlässigung der Originalschreibung des Titels (die Berendt bekannt war), woraus sich das Eingangsurteil (»schildert noch nicht eigentlich die Verwandlung des Sterbenden, sondern nur die Wirkung des Scheidens«) erklärt. Vorbildlich als monographische Untersuchung eines Rilke-Gedichtes: H . Heimann, Der Turm (18. Juli 1907), Publications of the English Goethe-Society 32 (1962), S. 70 ff. 4 Das Hildebrandslied, Wiener Sitzungs-Berichte, phil.-hist. Kl. 158 (1907) nr. 6; s. meine Arbeit: 'Ik gihorta dat seggen', DVS 1965, S. 5. ö Grundlegend hierzu Hermann Kunisch, R. M. Rilke. Dasein und Dichtung, Berlin 1944, Anm. 8, S. 103—105. 6 Wege mit Rilke, Wiesbaden 1952, S. 9.

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Hinsichtlich der Geschichte von Rilkes Todeserfahrung lernen wir aus dem Brief, den Rilke am 16. Juni 1922 an Gräfin Alexandrina Schwerin nach dem Tode ihres Vaters und ihres Söhnleins schrieb, welche Schlüsselstellung 'T.' einnimmt: Der Tod ist nur ein unerbittliches Mittel, uns auch mit der uns abgekehrten Seite unseres Daseins (was soll ich mehr betonen: »unseres« oder »Daseins?« Beides ist hier von der schwersten Betonung, wie mit dem Gewicht aller Sterne aufgewogen!) vertraut, vertraulich zu machen... Meine eigene lange Schulung in diesen Dingen begann mit dem Tod der Gräfin Schwerin, Ihrer Schwiegermutter. Was ich damals staunend, ungläubig zunächst, zu erlernen begann, wie sehr bestätigte es sich später [14. 3.1906] beim Verlust meines Vaters 7.

Beachten wir nur den Zusammenhang zwischen den Worten »die uns abgekehrte Seite unseres Daseins« mit dem Ausdruck »dein von uns entferntes, aus unserem Stück entrücktes Dasein« in 'T.' sowie den Gebrauch des Wortes »erlernen« in beiden Texten. Wenn Hermann Pongs in seinem vor 1935 in Stuttgart gehaltenen Rilke-Vortrag bezüglich der »Neuromantik, aus der Rilke hervorgegangen ist« meinte, daß »der Weltkrieg sie von uns abgerückt« habe8, so können wir sagen, daß die Erfahrungen, die wir im politischen, geistigen und persönlichen Leben seither gemacht haben, die »Potenzen«, die Rilkes Gedicht »birgt«, herausgestellt haben. 'T.' gehört zu den Texten, von denen bezeugt werden sollte, daß sie in Grenzsituationen standgehalten haben. Todeserfahrung ist das, was wohl am ehesten Karl Jaspers* Begriff »Grenzsituation« klarzumachen vermag. Indem aber Rilkes Gedicht 'Todes-Erfahrung' betitelt ist, scheidet es klarer, als es das existentielle Denken gemeinhin tut, zwischen Gegenstand und Inhalt der Erfahrung. Hier wird nicht vom Tode, sondern von der Erfahrung, dem Leben mit dem Tode, vom Tode her, eher denn auf den Tod hin, gehandelt, wobei es dahingestellt bleibe, ob man diese Worte im traditionellen Sinne des Lebens im Angesicht des Todes, im Sinne Kierkegaards, Heideggers oder noch anders verstehen will. Todes-Erfahrung steht im Gegensatz zum Wissen vom Tode. Daß wir nichts vom Tode wissen, sondern ihn >nur< erfahren, ist, wenn man so sagen darf, die erkenntnistheoretische Grundlehre von Rilkes Gedicht. Wir wissen vom Tode nur eins, daß er existiert, andere hat hingehen lassen und uns wird hingehen lassen. Jedes weitere Wissen, was der Tod für den Verstorbenen bedeutet, wann, wo, wie wir hingehen werden, ist uns versagt 9. Zwischen dem 22. August und dem 5. September 1907 schrieb Rilke das Gedicht 'Der Tod der Geliebten': 7

Rilke, Briefe, Frankfurt 1950, Bd. 2, S. 363. Euphorion 32 (1931), S. 35—74. Zur Stellung von T . ' in der Reihe von Rilkes Abschieds-Gedichten s. Behrendt, Rilkes Neue Gedichte, S. 138. Zum Thema Bollnow, Rilke, Stuttgart 1951, 8 9

Zu Rilkes Gedicht 'Todes-Erfahrung'

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Er wußte nur vom Tod, was alle wissen: daß er uns nimmt und in das Stumme stößt. Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen, nein, leis aus seinen Augen ausgelöst, hinüberglitt zu unbekannten Schatten, da wurden ihm die Toten so bekannt, als wäre er durch sie mit einem jeden ganz nah verwandt; er ließ die andern reden und glaubte nicht und nannte jenes Land das gutgelegene, das immersüße10.

Ein biographischer Hintergrund scheint für dieses Gedicht nicht ermittelt worden zu sein. Ich möchte annehmen, daß es nicht autobiographisch ist. In TV nimmt Rilke durch die Worte: »Wir wissen nichts« das Schicksal derer auf sich, die der um seine Geliebte Trauernde »alle« und »die anderen« nennt. Wissen können wir vom Tode nur durch Mitteilung Hingegangener, aber nicht einmal der, den Rilke den »Auferstandenen« nannte, hat uns davon etwas mitgeteilt. Der Tod ist das Hingehn, das nicht mit uns teilt. Anderes Hingehn kann mit uns teilen: Vergangenheit wird Geschichte durch Mitteilung, die wesentliche Mitteilung des Lebens im Hinblick auf sein Ende in Tod und Vergessenheit11. Im Anschluß an das Gebet für die Toten bittet die Liturgie: partem aliquam et societatem donare digneris cum tuis sanctis (sanctus eher im ursprünglichen Sinne des >AbgeschiedenenNädistenSache< und >Ding< (beide ursprünglich Gegenstand von Gerichtsverhandlungen 15) nicht Gegenstand, sondern Inhalt meinen. Der Tod ist der eigentümliche Gegenstand, dessen Wesen wir in der Abkehr von ihm als Gegenstand und in der Zuwendung als Inhalt unserer Erkenntnis, unserer Erfahrung mit ihm eher denn von ihm, gerecht werden. Keinem anderen Gegenstand gegenüber ist die kopernikanische Wendung so eindeutig nicht Methode, sondern Wesen der Erkenntnis. Die Abkehr von der Entstellung des Todes durch den Maskenmund tragischer Klage eröffnet den Weg zu echter Erfahrung von ihm. Erfahren ist die der Welt als Zeit—Raum—Bereich eigene Weise des Wissenserwerbs. Erfahren ist notwendig wegen der Stückhaftigkeit unseres Wissens. Wir können durch Erfahrung die uns gegebene pars aliqua etwas erweitern. Indem wir uns von dem seinem Wesen widrigen Versuch abwenden, vom Tod direkt etwas zu wissen, erfahren wir von ihm. Daß der Tod der Maßstab des Lebens sei, wird gemeinhin so verstanden, daß er die Nichtigkeit aller oder der meisten Dinge zeigt. Wenige Tage nach TV schrieb Rilke die dann als zweiter Teil von 'Die Spitze* veröffentlichten Verse: »Und wenn uns eines Tages dieses Tun und was an uns geschieht gering erschiene.« In 'T.' hatte er gezeigt, daß den Tod so im Rücken zu haben, die Erfahrungstiefe der Welt entscheidend verändert. In der Abwendung von der entstellenden Wesensinterpretation des Todes werden wir des Abstands zur Welt inne, zu dem uns TV zwingt und wodurch wir die Wirklichkeit verstehen. »Noch ist das Leben...« heißt nicht: solange wir leben, sondern: in der Unbetroffenheit von der existentia des Todes in der Welt, die wir in dem nicht mit uns teilenden Hingang des Nächsten wahrnehmen. Der tragische Maskenmund ist eine der Rollen, die wir in der Welt spielen. Die Abkehr von Klage, von Bewunderung und Liebe oder Haß weitet die Sicht auf die abendländische Konzeption des Welttheaters. Ebensowenig wie bei Calderon haben hier die Worte »Rolle« und »spielen« den abwertenden Sinn 36 . Die Abwertung kommt erst durch das den modernen Menschen als modernen konstituierende Bewußtsein und Unecht15

Vgl. auch griech. rbema, lat. res. S. Hermann Kunisch, R. M. Rilke und die Dinge, Köln 1946, ein schon durch Ort und Datum (Berlin 21.1.1945) besonders bedeutsamer Vortrag. 16 Zu Calderons Worten: »Es spielen auf dem großen Welttheater die Menschen, und jeder findet, was seine Rolle« vgl. Urs von Balthasars Nachwort zu seiner Übersetzung, Einsiedeln 1959, S. 66 f. Anderseits etwa den Vergleich des Lebens mit einem »schalen Marionettentheater« in Schillers 'Räuber* I V , 5.

Zu Rilkes Gedicht 'Todes-Erf ahrung*

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heit hinein. »Was Rilke suchte, ist der Kern, das Wesen, die Echtheit des Seins, das, worauf es ankommt«. 17 Eine Woche ehe er "17 schrieb, schrieb er an Clara: In gewissen Pflichten glaube ich einen Stützpunkt zu erkennen, eine Hülfe . . . ein Nichtverschiebbares, Dauerndes, Wirkliches. Ich plante eigentlich etwas für das Entstehen und Dasein dieser Wirklichkeit zu tun, ich meinte, sie käme, wie alles Wunderbare kommt, aus der Tiefe unseres Zusammenschlusses, aus seiner ungeheuren Notwendigkeit und Reinheit. Ich ersehnte Verantwortung für das tiefste innerste Dasein einer lieben, mit mir unzerstörbar zusammenhängenden Wirklichkeit.

Und zwei Tage später: . . . etwas Wirkliches, eine Wirklichkeit, die in unerhörter Weise mit dem Wunderbaren verbunden, von ihm kaum zu unterscheiden war und doch wirklich,

während am 15. Dezember die Verse entstanden waren: Von irgendwo bringt dieser neue Wind über das Meer her, was wir sind. Wären wirs doch, so wären wir zuhaus. (Die Himmel stiegen in uns auf und nieder 18.)

Diese Stellen, deren Zusammenhang mit 'T.' erst durch das Bekanntwerden des genauen Datums seiner Entstehung deutlich geworden ist, umreißen das, was in unserem Gedicht als der Gegensatz zwischen »Rolle« und »Wirklichkeit« erscheint. Die Sorge, ob wir auch gefielen, ist zunächst das Gegenstück zu dem Trieb der Erfahrung und des Wissens, der Beurteilung zu unterwerfen. So wird das Goethe-Wort, das Beste an der Geschichte sei der Enthusiasmus, den sie in uns erweckt, mißverstanden: Dieser Enthusiasmus speist sich keineswegs aus einzelnem Wesen, sondern aus der Definition der Geschichte als dem Hingehn, das mit uns teilt. Die Sorge, ob wir auch gefielen, entstellt uns, so wie unsere Sorge, daß das Dahingegangene gefallen möge, es entstellt. Das Wort »gefallen« wird hier von Rilke ohne den Dativ des sogenannten indirekten Objekts gebraucht. Der Wegfall des Dativobjekts ist heute weit verbreitet, um der Urteilskraft die Allgemeingültigkeit der reinen Vernunft zu verleihen. Kants Definition des Schönen hat hier verwüstend gewirkt, indem in ihr an die Stelle des konkreten Dativs der Person das Adverb »allgemein« trat. In dieser Form hat Kants Definition den Prozeß der Abwirtschaftung des Begriffs »gefallen« vollendet, der sich in Werthers Ausruf andeutet: »Gefällt! das Wort hasse ich auf den Tod.« 19 17 18

16*

Pongs, a.a.O. S. 39. Sämtl. Werke, Bd. 2, S. 12 u. 885.

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Tassos Wort: »Erlaubt ist, was gefällt« 20 kann die Prinzessin schon deshalb verwerfen, weil als indirektes Objekt der Dativ von »man« (»einem«) impliziert ist — »sie sagen: Ich und Ich und meinen: Irgendwen« ('Menschen bei Nacht', 'Buch der Bilder' I, 2), während »was sich ziemt« als Reflexivform schon sprachlich in sich vollendet ist. Was »gefällt«, ist »gefragt« — wem etwas gefällt, wer nach etwas fragt, bleibt unspezifiziert, das Gegenteil von 'Ernste Stunde' (B.B. I, 2): »Wer jetzt geht irgendwo in der Welt, geht zu mir«. Das unscheinbare »auch« drückt weiter aus, daß die hier gemeinte Sorge die Unschuld verloren hat, die die dem Menschen aufgegebene Sorge, seine Sache recht zu machen, wo Gott ihn hingestellt hat, also etwa die berufliche Sorge des Schauspielers, dem Publikum zu gefallen 21, hat. Der Wegfall des Dativs der Person zeigt, daß die Verzerrung dieser Sorge in Eitelkeit, etwa in der Frage des Artisten: »Gefalle ich auch?«, gemeint ist. Der Tod würde nicht spielen, wenn wir nur einfach unsere Rolle in Calderons Sinne spielten ohne Selbstgefälligkeit, ohne die große und absolute Sorge, auf die uns 'T.' hinweist, in die Vielzahl von Sorgen zu zerlegen, mit denen Individualpsychologie, Psychoanalyse, Marxismus und Existentialismus sich abgeben, in denen das Spielen einer Rolle verstanden wird als eine Rolle spielen und die Sorge, ob man auch gefiele, zum Selbstzweck wird. Abseits erwägen gelassene Leute langsam ihre besonderen Sorgen, das Warum und das Wann und das Wie, und man hört sie sagen: Ich glaube—; aber in ihrer Spitzenhaube ist sie sicher, als wüßte sie ('Die Greisin', 'N. G.' II).

Wenn wir spielerisch im Leben stehen, »spielt auch der Tod«. Natürlich spielt er nicht selbst: Nur der Mensch spielt, und wenn er meint, etwas außer ihm spiele, so ist es seine Spielerischkeit, die es ihm so erscheinen läßt. Das Spiel des Todes, das uns entgegentritt, wenn wir Sorgen spielen, ist anderer Art. Hier ist es voll Sinn, das indirekte Objekt weglassend, zu sagen: »obwohl er nicht gefällt«, denn die dadurch zum Ausdruck gebrachte Bezugslosigkeit ist dem Tode angemessen. Auch hier teilt er nicht mit uns. 191

Weimarer Ausgabe I, Bd. 19, S. 51. 'Tasso' I I , 1, V. 994 ff. Zu Goethes Begriff »Respekt vor dem Publikum« s. meine Arbeit 'Goethes Schottlandkunde', Goethe 25 (1963), Anm. 92. 20

21

Zu Rilkes Gedicht 'Todes-Erfahrung

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Der Durdibruch durch die Selbstgefälligkeit wird in den ersten Worten der dritten Strophe vollzogen. Die Erfahrung des eigenen Todes ist nur in der Vorstellung möglich, wenn auch an ihr wie an nichts sonst die uns aufgegebene Vielschichtigkeit unseres Wirklichkeitsbewußtseins abgelesen werden kann. Als Erfahrung, als Wirklichkeitszuwachs, der uns über uns selbst hinausführt, begegnet uns der Tod nur im Tod des Nächsten. Da wird die Welt nicht etwa brüchig, sondern es bricht in sie die Wirklichkeit ein. Der Tod ist nicht Maßstab oder Katalysator der Wirklichkeit. Die Worte »Grün wirklicher Grüne, wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald« 22 sind gerade in ihrem konkreten Bezug Ausdruck der Wandlung des Begriffs »Wirklichkeit«: Gemeint ist nicht die äußere Wirklichkeit (die Wirklichkeit ist), so etwa daß das Gegenteil wäre: »imaginäre Grünec, sondern die innere (die Wirklichkeit hat, eignet eher denn besitzt, mehr oder weniger — den Komparativ »wirklicher« findet man etwa in 'Damenbildnis aus den achtziger Jahren', geschrieben im Herbst 1907 — ) 2 3 : Parallel zu den Begriffen »Wahrheit« und »Existenz« hat sich der Begriff »Wirklichkeit« von der substantiellen zu der funktionellen Bedeutung gewandelt. Die »Ungeduld« nach dieser »Wirklichkeit« ('Übung am Klavier', 'N. G.' I I , ebenfalls Herbst 1907) ausgesprochen zu haben wie keiner zuvor, ist das, wofür Rilke jedenfalls die ihm folgende Generation leidenschaftlich dankte. An dieser entscheidenden Wendung seines Gedichtes — und nur hier — redet Rilke die Dahingegangene an. In der Kargheit des Bezugs auf die konkrete, bis vor kurzem in diesem Zusammenhang unbekannt gebliebene Person wird deutlich, daß sie eine »Erhabene« gewesen sein muß. Aber es gilt, Bewunderung und Liebe auszuschalten, denn es war nicht die Besonderheit dieses Menschen, sondern das Widerfahrnis des Todes überhaupt in seinem Hingehn, das die Verwandlung hervorrief. Es wurde bereits gesagt, daß in 'T.' der Dichter sich mit denen identifiziert, die in 'Der Tod der Geliebten1 als »alle« oder »die anderen« bezeichnet werden. Das »Wir« in »Wir wissen nichts« und »wir spielen weiter« ist nicht der Plural der Majestät, sondern echte Identifikation des Dichters mit der Menschheit. So spricht er auch nicht von einer Toten, sondern von den Toten. 22 S. »das kleine Grün« in dem oben zitierten Brief an Clara vom 1. 6.1906. Nach Behrendt (a.a.O. S. 139, 335) ist Grün bei Rilke »die Farbe geistiger Wirklichkeit«. Was aber hätte es dann mit der Folge »Grün, Sonnenschein, Wald« auf sich (s. auch die eingangs zitierte Stelle aus dem Brief an die Gräfin Schwerin vom 4. 5.1905)? Auf Capri suchte Rilke natürlich »wirklichen Sonnenschein«. Der aus dem Norden Stammende sehnt sich dort wohl nach »wirklichem Wald«, aber eben diese »Wirklichkeit« ist hier nicht gemeint. Vgl. hierzu Hermann Kunisch, R. M.Rilke, Berlin 1944, S. 69 u. 74, und R. M. Rilke, Köln 1946, S. 17 u. 22. 23 Die Umkehrung ist: »Das nimmt aber von Stufe zu Stufe ab an Wirklichkeit« (Uwe Johnson, Mutmaßungen über Jakob, Frankfurt 1959, S. 273).

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I n den Worten »durch den du hingingst« wird die erste Zeile des Gedichtes und die erste dieser Strophe wieder aufgenommen. In 'Der Tod der Geliebten' war das Hingehn nicht ein Fortgerissenwerden, sondern ein Ausgelöstwerden aus den Augen der Lebenden. In 'T.' aber bewirkt das Hingehn einen Bruch. Es entsteht ein Spalt in dem sonst so dichten Hintergrund, gegen den wir sicher spielen zu können glauben. Das Wort »Spalt« gehört zu den scheinbar zweitrangigen Wörtern in diesem Gedicht, deren Verfolgung durch Rilkes Werk zu Einsichten verhelfen würde. Ich erinnere nur an 'Am Rande der Nacht' (B.B. 'I, 2): (das Licht, das) durch schmale, schmachtende Spalten in die alten Abgründe ohne Ende f ä l l t . . .

oder an den Schluß von 'Der Berg' (N. G.' I I ) : »um auf einmal wissend, wie Erscheinungen sich heben hinter jedem Spalt«. Zwar ist die Änderung, die das »doch«, das die Wendung in 'T.' bezeichnet, elementar, aber sie ist nur pars aliqua: Durch einen Spalt bricht ein Streifen; keineswegs die ganze Welt, das ganze Leben wird verändert. Der räumlichen Partialität entspricht die zeitliche: Wir spielen weiter, und nur manchmal überkommt uns die Erfahrung und auch sie ist nur »wie ein Wissen...«. Was durch den Spalt einbricht, ist ja nicht unmittelbares Wissen vom Wesen des Todes, sondern eine Blendung im Leben. Aber dies genügt, es ist das Eine, worauf wir warten, das dein Leben unendlich vermehrt, das Mächtige, Ungemeine, das Erwachen der Steine, Tiefen, dir zugekehrt. ('Erinnerung', 'B. B.' 1,2).

Die Menge der Rollen in der Welt verwirrt. Wir halten uns daran, Erlerntes herzusagen. Das Erlernen ist nicht mehr ein Kinderspiel, sondern »bang und schwer«. Nur noch dann und wann heben wir eine Gebärde auf — eine »schwere«, mit der sich »Menschen bei Nacht« (B.B. I. 2) »bei ihren Gesprächen verstehn« oder eine aus der »Million kleiner Gebärden, wie jemand der austeilend durch eine Menge geht« (an Clara 20. Januar 1907) — man denkt an die Kommunion als Grund der Kommunikation. Wir fragen uns, ob wir uns nicht durch eine Maske verstellen. Gegenüber dieser Brüchigkeit im Eigenen steht die Erfahrung des Todes des Anderen unverbrüchlich. Wir haben die Dahingegangenen nur in der Erinnerung und wissen sie doch als dahingegangen. Hingehen des Es nehmen wir hin;

Zu Rilkes Gedicht 'Todes-Erfahrung*

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wir erwarten nicht, daß es mit uns teilt. Es versinkt, wenn auch die zerebrale Spur von ihm verschwunden sein wird, im Orkus der Vergessenheit. Hingehn des Du dagegen — das »du« in TV ist ja als absolutes Du zu verstehen — wird als aus unserem »Stück« (pars sowohl wie Theaterstück) entrückt, oder, wie wir, der Todeserfahrung angemessener, sagen: entrissen erfahren. Diese Erfahrung macht das Dahingehende vielfach erst zum Du, von dem wir erwarten, daß es mit uns teilt, uns im Zeugnis die Möglichkeit an die Hand gebend, es als innere Wirklichkeit zu bewahren. Selbst die geisterhafte Scheinexistenz des Dahingegangenen in der geschichtlichen Erinnerung wird zu Ende kommen. Das absolute Du, das absolut Dahingehende schenkt uns mehr als Erinnerung: In der Plötzlichkeit der Entrückung, der Entstellung des Leibes zur Leiche, der radikalen Unumkehrbarkeit des Hingangs, der letzten Unmitteilsamkeit bricht ein Streifen Wirklichkeit ein. Vernichtung würde das Du zum Es degradieren. Das dahingegangene Du ist weiter da, aber nicht als konkretes Wesen, Bewunderung und Liebe oder Haß heischend oder auch nur zulassend, sondern als reine existentia in dem Ort, in dem Wirklichkeit beheimatet ist. Die Entrückung erweist sich als der Mittelpunkt dessen, was wir heute Geschichtlichkeit nennen. Vergleichen wir noch einmal mit dem Gedicht 'Der Tod der Geliebten': »[Er] nannte das Land das gutgelegene, das immer süße.« Wesensbezeichnung, voller Bewunderung und Liebe, Gegenstand meinend. »Wirklichkeit« dagegen ist kein Ort, ist frei von Beurteilung, und dadurch das 'Mächtige, Ungemeine'. »Wirklichkeit« nimmt ihren Namen nicht von der verursachenden Wirkung. Die Worte: »Dein von uns entrücktes Dasein kann uns manchmal überkommen, wie ein Wissen von jener Wirklichkeit sich niedersenkend« sind ein Ausdruck dessen, was Husserl die phänomenologische Reduktion nannte. Das Komma steht vor und nicht hinter den Worten »wie ein Wissen«: »Ein Wissen von jener Wirklichkeit« ist das, was nur im Gleichnis {»wie«) auf uns sich niedersenkt, nicht als ein Wissen von einem Ding auf uns zukommen kann. Als »von uns entferntes, aus unserem Stück entrücktes« ist das Dasein der Hingegangenen »nur noch« innere Wirklichkeit, Er-innerung. Als solche überkommt es, ist 6s »wie ein Wissen von jener Wirklichkeit«. Die Worte »überkommen« und »sich niedersenken«, die vom Materiellen genommen sind, bezeichnen ganz eigentlich die neu gewonnene innere Wirklichkeit, deren Verteidigung gegen die Übermacht der äußeren immer stärker unser Schicksal geworden ist. Der Tod als das unweigerliche Ende der äußeren Wirklichkeit ist an dieser Stelle deutlich der Geburtsort der inneren Wirklichkeit. Der Ernst, den der Tod gebietet, seine Entzogenheit von allem

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John Hennig

Beurteilen macht das Wissen der inneren Wirklichkeit zum würdigen Partner des ernsten und verantwortungsbewußten Wissens um äußere Wirklichkeit, das sich mit Recht als Maßstab von Wissenschaft vorstellt. Die Beachtung der Interpunktion in der letzten Strophe zeigt, daß hier nicht von einem Als-ob Wissen die Rede ist, sondern von der Aufdringlichkeit des Wissens der inneren Wirklichkeit, die in 'Erinnerung' als »Erwachen der Steine« bezeichnet wird. Jetzt scheiden sich die Menschen nicht mehr in solche, die an ein Leben nach dem Tode glauben, und solche, die nicht mehr daran glauben, sondern in solche, die die Wirklichkeit der Todes-Erfahrung haben und »die anderen«. Inhaltliche Aussagen des Glaubens und Nichtglaubens haben sich vor dieser Wirklichkeit auszuweisen. Würdige Partner sind Wissen der inneren Wirklichkeit und Wissen der äußeren Wirklichkeit, wo sie, die Frage »Was können wir wissen?« übersteigend, vorstoßen zu der Frage »Was sollen wir tun?« und tiefer noch zu der »Was ist der Mensch?«. Indem das Du aus unserem Stück entrissen wird, werden wir entlang dem Streifen Wirklichkeit, der einbricht, hingerissen24. Die Wirkung dieser Hingerissenheit beschreibt Rilke mit sparsamen Worten, die jedoch Glück und Elend des modernen Menschen schlechthin zusammenfassen. Alle Vorstellungen von Theater sind versunken. Nun »spielen wir das Leben« selbst so wie die Weisheit vor aller Zeit vor Gott spielte, und in der Hingerissenheit von jener Wirklichkeit gelingt es, die tiefste Eitelkeit, die Kierkegaard auch noch im Beter aufspürte, »eine Weile« zu verlieren. Die Selbstvergessenheit an das Ding kann die gleiche Würde erreichen, die hier dem Leben in innerer Wirklichkeit zuerkannt wird. Im Angesicht des Todes erfährt sich der Mensch als das Wesen, das sich im Selbstverlieren gewinnen kann, Worte, die nur am Maßstab von Todes-Erfahrung gemessen von furchtbaren Perversionen bewahrt bleiben. Es ließ sich nicht vermeiden, in der Interpretation der »Sätze, die dastehen«, auf die »Potenzen«, die dieses Gedicht »birgt«, vorzugreifen. Der erste, der in der deutschen Literatur die zugrundeliegende Situation beschrieben hat, ist Gottfried Keller gewesen. Die Beschreibung von TodesErfahrung in dem 'Annas Tod und Begräbnis' betitelten 7. Kapitel des 3. Buchs des 'Grünen Heinrich' gehört ebenso wie 'T.' zu den Grundtexten des Existentialismus. Hier erscheint zum ersten Male (wenn auch schon bei Heine vorgebildet) in der schönen Literatur das Wort »objektiv« in der abwertenden Bedeutung als eine »Erfindung« der »Gelehrsamkeit« (Urfassung: »der deutschen Ästhetik«) und hier wird m. W. erstmalig die 24

»Anders, wirklicher, wie in Romanen, hingerissen und verhängnisvoll« ('Damenbildnis aus den achtziger Jahren', 'N. G. II').

Zu Rilkes Gedicht 'Todes-Erfahrung

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Erfahrung des Todes des Nächsten als die Grenzsituation beschrieben, an der die Objektivität als Seinsverfehlung erscheint und Existenz gefordert wird. Keller konnte zweifeln, ob »Genießen«, eher denn Erdulden an dieser Stelle »Stärke oder Schwäche« war. Während der folgenden Generationen sollte es immer klarer werden, daß die Herausforderung der inneren Wirklichkeit durch den Tod Bewunderung und Liebe oder Haß oder auch nur tragische Klage zur »Entstellung« werden läßt. In der historischen Perspektive wird auch erst die Bedeutung des merkwürdigen Details klar, daß man in Annas Sarg »der Sitte gemäß« eine Glasscheibe eingelassen hatte, auf der in diesem Falle sich noch die ursprünglich darauf abgebildeten Engel sehen ließen. Ist es purer Zufall, daß in seinem Brief vom 19. Dezember 1906 Rilke an seine Frau schrieb: » . . . wie ein nur teilweise belegter Spiegel, an manchen Stellen spiegelnd, an anderen durchsichtig«? Das Einbrechen der Wirklichkeit wird hier als das beschrieben, was dann in erstaunlicher Unabhängigkeit voneinander Schriftsteller unserer Zeit als »Transparenz« bezeichnen sollten 25 . Keller begann seine Schilderung der Totenwache des grünen Heinrich mit den Worten: »Ich ward durch das unmittelbare Anschauen des Todes nicht klüger aus dem Geheimnis desselben.« Ihm ging auf, daß TodesErfahrung Transparenz ist. Keller und Rilke gehören zu den Quellen, aus denen sich die Entdeckung des Todes des Anderen als eines der entscheidenden Themen der Philosophie herleitet. Der zentrale Abschnitt 'Tod des Nächsten' in Jaspers 'Philosophie'26 ist als eine Interpretation von Rilkes Gedicht 'Todes-Erfahrung' zu lesen.

25 S. meinen Artikel: 'Karl Jaspers und Gottfried Keller', Baseler Nachrichten 26. Juni 1953. 26 München 21948, S. 484. Auch die mit 'T.' eng verbundene Stelle aus 'Malte', Leipzig 1914, Bd. 2, S. 145: »Wir entdecken wohl, daß wir die Rolle nicht wissen . . . wir möchten wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stück Verkleidung an, das wir vergessen . . . weder Seiende, noch Schauspieler« führt eher zu Jaspers als zu Heidegger hin. Vgl. auch Hugo von Hofmannsthals Gedenkwort auf Kainz: 'Der aufgeflogene Sperber'.

DER NACHLASS ERNST TOLLERS Ein Bericht Von John M. Spalek Dieser Beficht über den Nachlaß Ernst Tollers basiert auf einer Bibliographie, die soeben im Manuskript abgeschlossen wurde. Die Bibliographie hatte sich zum Ziel gesetzt, das zerstreute Werk Ernst Tollers erstmals möglichst vollständig zu sammeln. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten sind typisch für all die Hindernisse, denen man bei der Suche nach Werken der deutschen Literatur im Exil begegnet. Die Werke der deutschen Exilliteratur sind buchstäblich in alle Winde zerstreut; Beschlagnahme, Enteignung, Flucht, Internierung, Krieg, im besten Fall das ständige Reiseleben der Autoren haben dies bewirkt. Trotzdem ist es gelungen, den wohl größten Teil des unveröffentlichten und des veröffentlichten Werkes von Ernst Toller zu erfassen, so daß nun sowohl Manuskripte (bzw. Typoskripte), wie auch verstreutes Material in Zeitungen und Zeitschriften nachgewiesen werden kann. Der vorliegende Bericht gibt erstmals Auskunft über Tollers unveröffentlichtes Werk, vor allem über den Nachlaß im Archiv der Yale-UniversityLibrary, New Häven, Connecticut, USA. Um einen Überblick zu ermöglichen, geben wir hier zunächst, nach Gattungen gegliedert, einen Aufriß von Tollers Gesamtwerk. Es läßt sich gliedern in: 1. drei Lyrikbände; 2. drei »Chorwerke«; 3. drei Szenarien zu den Massenfestspielen auf den Leipziger Gewerkschaftsfesten 1; 4. vierzehn Dramen; 5. ein Hörspiel; 1 Die Massenfestspiele wurden in den Jahren 1922—1924 jeweils im August in Leipzig veranstaltet. 1924 nahm Toller daran teil. Tollers Rohentwürfe wurden von den Spielleitern genauer ausgearbeitet. Mit Ausnahme des Spieles 'Erwachen* (1924) existieren nur Inhaltsangaben. Vgl. Klaus Pfützner, Die Massenfestspiele der Arbeiter in Leipzig (1920—1924), Leipzig 1960.

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John M. Spalek

6. zwei Drehbücher; 7. zahlreiche Reden und Aufsätze über Politik, Literatur und Theater; 8. Reisebeschreibungen über Rußland, die USA, Spanien, Skandinavien und Nordafrika. (Nach Toller sind die Aufzeichnungen von seiner Palästinareise, der ersten großen Reise nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, verlorengegangen 2); 9. eine Autobiographie, sowie autobiographische Aufsätze und Erzählungen; 10. eine Vielzahl von Briefen. (Die 'Briefe aus dem Gefängnis' wurden vom Autor selbst, einige wenige Einzelbriefe von verschiedenen Empfängern veröffentlicht. Ein großer Teil des Briefwerkes ist noch unveröffentlicht.); 11. Dokumente zu seiner aktiven politischen Tätigkeit während der Revolutionszeit in Bayern. (Dazu gehören Tollers Reden und Diskussionsbeiträge in den »Verhandlungen des provisorischen Nationalrates des Volksstaates Bayern« und in den »Verhandlungen des Kongresses der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte« in München, die Verordnungen der Revolutionsregierung, unterzeichnet von Toller und anderen Regierungsmitgliedern 3, sowie Tollers Aussagen vor dem Standgericht in München, enthalten in den Akten seines Hochverratsprozesses im Bayerischen Staatsarchiv, München.). Die genaue und vollständige Aufzählung der deutsch- und fremdsprachigen Buchausgaben, sowie deren Scheidung in die verschiedenen überarbeiteten Auflagen, würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen4; außerdem wurde ein Großteil dieser Arbeit schon in der wertvollen kritischen Studie von Wolfgang Frühwald geleistet5. Wir weisen hier deshalb nur auf einige, weniger bekannte Werke Tollers hin, die bisher ausschließlich in fremder Sprache gedruckt wurden: Das Stück Mary Baker Eddy, deutschsprachig nur als hektographiertes Bühnenmanuskript unter dem Titel Wunder in Amerika (1931) ausgeliefert, erschien in der britischen (1935) und der amerikanischen Ausgabe (1936) von Seven Plays*. 2

Vgl. Ernst Toller Discusses Palestina. Playwright and Social Rebel Is Ardent Spirit in German Intellectuäl Arena, in: American Hebrew 121, 4 (1927), S. 178 und 192. 3 Der größte Teil dieser Verordnungen wurde gesammelt und veröffentlicht in: Max Gerstl, Die Bayerische Räte-Republik, München 1919, passim. 4 Insgesamt konnten bisher etwa 125 Buchausgaben (Bühnenmanuskripte eingerechnet) erfaßt werden. Diese Zahl schließt Ubersetzungen in 17 Fremdsprachen mit ein. Toller ist der meistübersetzte Dramatiker seiner Generation. 6 Vgl. Literaturwissenischaftliches Jahrbuch, N F Bd. 4 (1963), S. 279—312. 6 Seven Plays. Comprising The Machine-Wreckers, Transfiguration, Masses and Man, Hinkemann, Hoppla! Such Is Life!, The Blind Goddess, Draw the Fires!,

Der Nachlaß Ernst Tollers

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Die Komödie No more Peace/, die sehr w o h l eine Aufführung in deutscher Sprache verdiente, erschien in einer britischen (1937) und zwei amerikanischen Ausgaben (1937 und 1939) 7 . Blind Man's Buff, d. h. »Blindekuh«, von Ernst Toller und Denis Johnston, erschien i n einer britischen (1938) und i n einer amerikanischen Ausgabe (1939). Tollers letztes Drama, Pastor Hall, erschienen 8. Eine Rede Tollers: Kulturne

ist in England und in Amerika 1939

posljedice

pozara

raijhstaga

(Der Reichs-

tagsbrand und seine Folgen für die deutsche K u l t u r ) wurde 1933 als Broschüre in serbokroatischer Sprache veröffentlicht 9 .

Tollers mit der Entlassung aus dem Gefängnis (1924) einsetzendes Reiseleben brachte es mit sich, daß er häufig i n ausländischen Zeitungen und Zeitschriften schrieb; besonders aus den Absenderangaben seiner Briefe geht hervor, daß er sich nie lange an einem O r t aufhielt. A u d i finden sich in seiner unveröffentlichten Korrespondenz häufig Hinweise auf Beiträge in ausländischen Zeitungen, die dann nur mit großer Mühe lokalisiert werden können. Daß alle diese Unterlagen sich bis 1933 in Tollers Besitz befanden, steht fest, doch ist das Material seit der Beschlagnahme von together with Mary Baker Eddy by Ernst Toller and Hermann Kesten. With a new introduction by the author, John Lane The Bodley Head, London [1935], X I I u. 434 SS. Die gleichlautende amerikanische Ausgabe erschien bei der Liveright Publishing Co., New York [1936], sie erscheint wieder 1965 mit einem neuen Vorwort von Arthur Miller. 7 No More Peace! A Thoughtful Comedy by Ernst Toller. Trans. Edward Crankshaw, Lyrics translated and adapted by W. H . Auden, Music by Herbert Murrill, Farrar & Rinehart, New York and Toronto [1937], X u. 166 SS.; unveränderte Bühnenausgabe: No More Peace! Comedy in Two Acts by Ernst Toller, Dramatists Play Service, New York 1939, V I I I u. 166 SS.; britische Ausgabe: No More Peace! A Thoughtful Comedy by Ernst Toller. Trans. Edward Crankshaw. Lyrics adapted by W. H . Auden. Music by Herbert Murrill, John Lane, London 1937, X I u. 103 SS. 8 Blind Man's Buff. A Play in Three Acts. By Ernst Toller and Denis Johnston, Jonathan Cape, London [1938], 125 SS. (New Play Series.); Pastor Hall. A Plav in Three Acts, trans, by Stephen Spender Tund Hugh Hunt], John Lane The Bodley Head, London 1939, 125 SS.; amerikanische Ausgabe: Pastor Hall. Translated from the German by Stephen Spender & Hugh Hunt. Blind Man's Buff. By Ernst Toller and Denis Johnston, Random House, New York [Copyright 1938 und Copyright 1939], 172 SS. Außerdem existiert eine spanische Übersetzung: El Pastor Hall, in: Sur. Revista Mensual (Buenos Aires) 9, 56 (1939), S.39—69 [Erster Akt]; 9, 57, S. 43—64 [Zweiter Akt]; 9, 58, S. 21—34 [Dritter Akt]. Als Übersetzer zeichnet M. R. O. 9 Kulturne posljedice pozara raijhstaga. Govor u londonskom protuprocesu, übertr. von Mirko Kus-Nikolajev, Nakladna knij^ara Epoha 1933, 16 SS.

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John M. Spalek

Tollers Besitz verschollen oder in den Archiven ehemals nationalsozialistischer Behörden heute schwer zugänglich. Die fremdsprachigen Beiträge Tollers in Zeitschriften, Zeitungen, Anthologien und Jahrbüchern 10 steigen in den Jahren des Exils (also ab 1933) sprunghaft an. Etwa 20 Einzelbeiträge sind nur, oder zuerst in fremder, nämlich englischer, russischer oder französischer Sprache veröffentlicht worden. Daß noch weitere fremdsprachliche Arbeiten im Laufe der Zeit gefunden werden können, ist sehr wahrscheinlich. Das T o l l e r - A r c h i v

der

Y a1 e - U n i v e r s i t y - L i b r ar y

Tollers Nachlaß ist heute auf mehrere Archive verteilt. Wir beginnen mit der Beschreibung der Bestände im Archiv der Yale-University-Library, da hier der größte zusammenhängende Teil des Nachlasses verwahrt wird. Tollers Nachlaß wurde der Bibliothek der Yale-University 1955 von Herrn Sidney Kaufman, der sämtliche Rechte am Werke Tollers besitzt, übergeben. Sidney Kaufman hat den Nachlaß 1949, zusammen mit den Rechten am Gesamtwerk, von Frau Christiane Grautoff, der Witwe Tollers erworben. Die Bibliothek hat ihrerseits nicht versucht, die Bestände zu vermehren. Der Nachlaß enthält fast ausschließlich Manuskripte (bzw. Typoskripte) des Dichters aus den Jahren der Emigration; die ältesten Schriftstücke stammen aus dem Jahre 1933. Das Archiv enthält Dramen, Aufsätze und Vorträge, Briefe von und an Toller, Zeitungsausschnitte über den Dichter und seine Werke, Fotografien, vermischte Schriftstücke über Tollers Hilfsaktion für Spanien während des Spanischen Bürgerkrieges 11, sowie Hanns Eislers Partitur der Bühnenmusik zu Draw the Fires! (Aufführung in Manchester 1935). Die Typoskripte sind mit nur wenigen Ausnahmen doppelzeilig geschrieben, Blattgröße meist 25 X 20 cm. Mehrere Schriften sind außer im Original auch in einigen Durchschlägen vorhanden; besonders aufschlußreich aber schienen uns jene Vortragsmanuskripte 10 Bisher konnten etwa 450 Beiträge in deutscher Sprache und in 14 Fremdsprachen erfaßt werden. Davon sind etwa 150 Beiträge Vorabdrucke oder Nachdrucke von Gedichten, Chorwerken und Dramen. 11 Die Hilfsaktion für Spanien war ein Plan Tollers, die spanische Zivilbevölkerung, die während des Bürgerkrieges schwer gelitten hatte, durch Nahrungsmittel zu unterstützen. Die Aktion sollte nach dem Hoover-Plan von 1918 gestaltet sein und unparteiisch die Not der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten lindern. Während eines Besuches von 7 Wochen in Spanien (Ende Juli bis Mitte September 1938) war Toller selbst Zeuge dieser Not geworden. Nach langen Bemühungen und nach der Überwindung zahlloser Schwierigkeiten gelang es ihm schließlich, die Unterstützung der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der skandinavischen Länder für seinen Plan zu finden, dessen Ausführung der Zusammenbruch der Spanischen Republik Anfang 1939 dann vereitelte.

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zu sein, die in einer Reinschrift und einem maschinenschriftlichen Entwurf mit handschriftlichen Korrekturen erhalten sind 12 . Zwei Dramen, nämlich Pastor Hall und Draw the Fires/, sowie eine Reihe von Aufsätzen und Vorträgen sind in mehreren Fassungen erhalten. Pastor Hall und etwa 10 der insg. 85 kleineren Schriften sind in deutscher Sprache und in englischer Übersetzung vorhanden. Ein großer Teil des Nachlasses besteht aus Manuskripten (bzw. wieder Typoskripten) schon veröffentlichter Werke. In der Regel handelt es sich hier um Werke, die in deutscher Sprache oder in Übersetzungen während der Emigration veröffentlicht wurden. Einige wenige Typoskripte sind Auszüge aus Arbeiten, die, vor 1933 erstmals erschienen, häufig in veränderter Gestalt nachgedruckt wurden. Von den 53 im Archiv aufbewahrten Briefen sind 46 nur als Durchschläge vorhanden, die Suche nach den Originalen wird dadurch erschwert, daß die Mehrzahl der Empfänger nicht mehr am Leben ist. 1. Dramen und Drehbücher Das Archiv enthält drei Fassungen von Draw the Fires!, der englischen Übersetzung des Dramas Feuer aus den Kesseln/. Alle Fassungen basieren auf der englischen Übersetzung von Edward Crankshaw 13 , weichen aber an mehreren Stellen von ihr ab. a) Draw the Fires! An Historical Play. Diese Fassung wurde von Toller bei der erfolgreichen englischen Uraufführung am 10. Februar 1935 im Repertory Theatre in Manchester benutzt. Das Stück wurde von Toller zusammen mit Dominic Roche inszeniert. Der Text besteht aus losen Blättern, die aus dem Band Seven Plays herausgeschnitten und auf größere Bogen aufgeklebt wurden. Die Blätter sind mit zahlreichen Änderungen, Streichungen und Bühnenanweisungen, meist von Tollers Hand, versehen. Zu dieser Fassung gehören über 20 Seiten zusätzliche Notizen zur Inszenierung, sowie eine Mappe mit der erwähnten Partitur von Hanns Eisler. b) Draw the Fires! An Historical Play by Ernst Toller. Trans. Edward Crankshaw. With Music Specially Composed by Hanns Eisler. Diese zweite Fassung besteht aus elf Szenen und umfaßt 80 sauber mit Maschine beschriebene Seiten. Sie ist undatiert, aber vermutlich 1935 hergestellt worden. Der Name des Bühnenvertriebs, Leah Salisbury, New York ist durchstrichen. 12 Vgl. dazu: John M. Spalek und Wolf gang Frühwald, Ernst Tollers amerikanische Vortragsreise, dieses Jahrbuch S. 267 ff. 13 Draw the Fires! An Historical Play, trans. by Edward Crankshaw, John Lane The Bodley Head, London [1935], 96 SS., nachgedruckt in: Seven Plays.

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c) Draw the Fites! By Ernst Toller. Music by Hanns Eisler. Trans. Edward Crankshaw. Revised for the American Stage by Joseph Liss and Oscar Saul. Diese dritte und letzte Fassung des Dramas besteht aus 10 Szenen und einem neuen Vorspiel. Der Text ist undatiert und umfaßt 76 sauber mit Maschine beschriebene Seiten. In dem vierseitigen Vorspiel, das erst 1938 geschrieben wurde 14 , warnt der Autor vor Hitlers Kriegsabsichten, indem er einen Vergleich mit Kaiser Wilhelm I I . anstellt. Das Vorspiel besteht aus Filmstreifen mit Begleitmusik, Zitaten aus Hitlers Reden, einem Chor und einer Lautsprecherstimme. Obwohl sich nur das Vorspiel genauer datieren läßt, darf man annehmen, daß die ganze Fassung c) erst 1938 hergestellt worden ist. Von dem Typoskript besitzt das Archiv zwei Exemplare. Als Bühnenvertrieb wird Curtis Brown Ltd., New York angegeben. Zusammen mit der britischen Fassung, die 1935 veröffentlicht wurde, haben wir also vier englischsprachige Fassungen von Feuer aus den Kesseln!. Eine deutsche Fassung ist im Yale-Ardiiv nicht vorhanden 15. Nie wieder Friede! Komödie von Ernst Toller. Musik von Hanns Eisler, ist bisher nur in englischer Sprache, allerdings in drei verschiedenen Ausgaben10 gedruckt. In deutscher Sprache wurden nur einzelne Szenen in Zeitschriften veröffentlicht 17 . Das Yale-Archiv besitzt die meines Wissens einzige deutsche Fassung dieses Stückes. Sie besteht aus 7 Szenen auf 62 sauber mit Maschine beschriebenen Blättern mit nur wenigen Berichtigungen. Das Typoskript ist undatiert, muß aber schon 1936 fertiggestellt gewesen sein, da No More peace! am 11. Juni 1936 im Gate Theatre in London uraufgeführt wurde. Die weibliche Hauptrolle spielte Tollers Frau, Christiane Grautoff. In den folgenden Jahren wurde das Stück mehrfach in den USA inszeniert, wobei ein Teil der Aufführungen durch das Federal Theatre Project ermöglicht wurde 18 . Gelegentlich wird es noch 14 Nach schriftlicher Mitteilung von Curt Trepte an den Verfasser vom 13. Januar 1965. 15 Zu den deutschen Fassungen des Stückes vgl. vorläufig Frühwald a.a.O., S. 301—303, bes. Anm. 55. 16 Vgl. oben Anm. 7. 17 Olympische Szene, in: Das Neue Tagebuch, Paris und Amsterdam 2, 51 (1934), S. 1220—1221; Nie wieder Friede. Zwei Szenen aus der unveröffentlichten Komödie. Zweites Bild, in: Das Wort, Moskau, 1, 2 (1936), S. 32—37. In englischer Sprache sind zwei Auszüge veröffentlicht worden: Three Poems by Ernst Toller. Adapted by W. H . Auden: Socrates' Song; Rachel's Song; Duet, in: The London Mercury 24, 204 (1936), S. 484 f., und Noah's Song, in: The New Statesman and Nation, N i l , 277 (1936), S. 931. 18 Das »Federal Theatre« (1. Oktober 1935 bis 1. Juli 1939) ist bis heute das einzige Beispiel eines nationalen Theaters in den USA geblieben. Es wurde

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heute im angelsächsischen Raum von Amateurgruppen und Studentenbühnen aufgeführt. Der Weg nach Indien. Das Epos vom Suezkanal, ist das Manuskript eines Drehbuches zu einem Film über Ferdinand de Lesseps, den Erbauer des Suezkanals. Trotz längerer Arbeit daran hat Toller das Drehbuch, das nie verfilmt worden ist, nicht vollendet. Das Manuskript umfaßt 132 Seiten (Blattgröße 23 X 18 cm), die zum Teil mit Maschine und zum Teil von Toller mit der Hand beschrieben sind, zahlreiche Berichtigungen und Streichungen finden sich auf jeder Seite. Der Text ist undatiert, muß aber schon vor Oktober 1936 in England entstanden sein, da ihn Toller in einem Interview bei seiner Ankunft in New York im Oktober 1936 19 erwähnt. Blind Man's Buff. Das Archiv besitzt 36 nicht numerierte Seiten, von Toller mit der Hand in englischer und deutscher Sprache beschrieben, die Notizen und Dialogbruchstücke des Dramas enthalten. Eine vollständige Manuskriptfassung des Stückes ist nicht erhalten. Obgleich Tollers Name mit auf der Titelseite des 1938 veröffentlichten Werkes erscheint, handelt es sich, streng genommen, um ein Werk von Denis Johnston, dem die Anfangs- und die Schlußszene von Die blinde Göttin eingepaßt wurde 20 . Johnston ist also keineswegs der Übersetzer oder der Bearbeiter des Tollerschen Stückes, wie immer wieder irrtümlich behauptet wird. Die blinde Göttin erschien 1934 in der Übersetzung von Edward Crankshaw 21 . Pastor Hall. Schauspiel von Ernst Toller. Von diesem Stück besitzt das Archiv sechs Exemplare, zwei deutsch- und vier englischsprachige, alle von der »Works Progress Administration« (WPA) ins Leben gerufen, um die Arbeitslosigkeit unter den Berufsschauspielern zu beseitigen. Das Unternehmen wurde von Washington aus geleitet und beschäftigte seinerzeit etwa 10 000 Menschen. Der Höchstpreis für Eintrittskarten betrug 1 Dollar, die meisten Aufführungen waren unentgeltlich. Aufgeführt wurden klassische und moderne Stücke, bevorzugt wurden Dramen mit sozialökonomischen Themen. Formal machten sich deutsche und russische Einflüsse geltend, besonders bei der sog. »Lebenden Zeitung«. Das Unternehmen wurde durch den Kongreß am 30. Juni 1939 aufgelöst, nachdem die Sozialkritik einiger Stücke als »un-American« bezeichnet worden war. Vgl. dazu: Hallie Flanagan, Arena, Duell, Sloan and Pearce, New York [Copyright 1940] und Douglas McDermott, The Living Newspaper as a Dramatic Form, in: Modern Drama 8, 1 (1965), S. 82—94. 19 Vgl. John T. McManus, Mr. Toller on the Cinema, in: The New York Times, 1. November 1936, Teil 10, S. 5. 20 Vgl. oben Anm. 8. 21 The Blind Goddess. A Play in Five Acts, trans. by Edward Crankshaw, John Lane The Bodley Head, London 1934, 104 SS. Nachgedruckt in: Seven Plays. 17 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 6. Bd.

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sauber mit Maschine geschrieben. Die deutschsprachigen Exemplare unterscheiden sich von den englischsprachigen durch die veränderte Fassung der Schlußszene. Bekanntlich sind zwei Fassungen der Schlußszene zu unterscheiden: in der ersten Fassung stirbt Hall in dem Augenblick, als er seine Furcht überwunden hat und sich seinem Verfolger stellt; in der zweiten Fassung begibt er sich zu einer letzten Predigt in die Kirche, um vor der versammelten Gemeinde offen die Wahrheit über den Nationalsozialismus zu verkünden; damit besiegelt er sein Schicksal. Die englischsprachigen Exemplare enthalten sämtlich die erste Fassung der Schlußszene, die deutschsprachigen die zweite. Die beiden deutschen Exemplare weichen außerdem noch untereinander ab. Das ältere Exemplar enthält nämlich beide Fassungen der Schlußszene, das jüngere nur die zweite. Jene Blätter des älteren Exemplars aber, auf denen die zweite Fassung der Schlußszene steht, sind anders gefärbt als die übrigen Blätter des Typoskripts. Daraus ist zu erkennen, daß Toller die zweite Fassung erst nachträglich hinzugefügt hat. Auch in der Akteinteilung weichen die beiden deutschen Exemplare geringfügig voneinander ab. Die ältere deutsche Fassung ist undatiert, sie umfaßt (mit der ersten Fassung der Schlußszene) 99 Seiten, bzw. 104 Seiten (mit der zweiten Fassung der Schlußszene). Das jüngere Exemplar zählt 105 Seiten, Copyright 1938. Blattgröße beider Exemplare 28 X 21V2 cm, beide Male wird als Bühnenvertrieb J. B. Pinker, London angegeben. Außer diesen beiden deutschsprachigen Exemplaren sind noch zwei weitere deutsche Exemplare des Stückes bekannt, eines im Besitz von Sidney Kaufman und eines im Besitz von Curt Trepte, dem der Autor das Manuskript bei einem Besuch in Schweden 1938 überlassen hat. Damals bestand Hoffnung auf eine schwedische Aufführung, die aber dann nicht zustandekam. Uraufgeführt wurde Pastor Hall am 24. Januar 1947 im Deutschen Theater in Berlin. Dabei wurde die erste Fassung der Schlußszene verwendet. Der Verlag Bruno Henschel und Sohn stellte 1946 ein hektographiertes Bühnenmanuskript des Dramas her, worin die Schlußszene in zweiter Fassung enthalten ist. Im Druck sind in deutscher Sprache bisher nur einzelne Szenen erschienen, vornehmlich eben die beiden Fassungen der Schlußszene22. 22 Teil drucke von 'Pastor Hall' in chronologischer Reihenfolge: Pastor Hall, in: Pariser Tageszeitung Nr. 929, 25. Februar 1939, S. 4 (1. Fassung); Friedrich Halls Flucht. Dritter Akt des Dramas 'Pastor Hall', in: Das Wort, Moskau, 4, 1 (1939), S. 42—51 fl. Fassung); Pastor Halls Flucht. Dritter Akt des Dramas 'Pastor Hall', in: Theater der Zeit, Berlin, 1, 5 (1946), S. 18—21 (1. Fassung);

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Pastor Hall Play in Three Acts by Ernst Toller. Trans, by Stephen Spender. Das Archiv besitzt vier Exemplare dieser Fassung in sauberer Maschinenschrift, die sämtlich die erste Fassung der Schlußszene aufweisen. Abgesehen von kleinen Berichtigungen sind drei dieser vier englischsprachigen Exemplare identisch (es handelt sich um ein Original mit zwei Durchschlägen), während das vierte Exemplar eine neue, abweichende Fassung darstellt. Die drei zusammengehörigen Exemplare sind undatiert, sie umfassen je 73 Seiten, als Bühnenvertrieb wird J. P. Pinker, London angegeben. Das vierte Exemplar umfaßt 75 Seiten, enthält ein Copyright 1938, als Bühnenvertrieb wird Richard Madden Play Co., New York angegeben. Blattgröße aller vier Exemplare: 26 X 2OV2 cm. Die gedruckten Fassungen von Pastor Hall weichen ebenfalls in der Schlußszene voneinander ab; während die englischsprachigen Ausgaben die zweite Fassung übernehmen, enthält die spanische Übersetzung noch die erste Fassung. 2. Prosaschriften Im Archiv befinden sich zur Zeit 85 Einzelschriften mit insg. etwa 530 Seiten Text, meist handelt es sich um Typoskripte, einseitig, doppelzeilig mit Maschine beschrieben. Im Einzelnen konnten diese Prosaarbeiten noch nicht geordnet und identifiziert werden, da häufig nur Fassungsunterschiede bestehen und Toller die Durchschläge seiner Vortragsmanuskripte oft nur mit neuen Vorworten versehen und sie so zu mehr oder weniger neuen Reden umgearbeitet hat. Wir geben daher hier einen vorläufigen Überblick und eine repräsentative Auswahl von Einzelarbeiten. Von den 85 im Archiv lagernden Arbeiten ist eine in französischer Sprache, 24 sind in deutscher und 60 in englischer Sprache abgefaßt. Die Länge der Einzeltexte schwankt zwischen 2 und 33 Seiten, die meisten Arbeiten überschreiten nicht einen Umfang von 10 Seiten. Die englischen Texte sind zum Teil lediglich Übersetzungen der vorhandenen deutschen Arbeiten, so daß die Zahl der Originalarbeiten geringer als 85 ist. 26 Arbeiten etwa sind gedruckt. Ein Drittel aller Aufsätze und Vorträge befaßt sich mit Tollers spanischer Hilfsaktion. Wir finden Berichte über die politische Lage in Spanien während des Bürgerkrieges, über die Not Überwindung der Furcht. Der echte Schluß des Schauspiels 'Pastor Hall', in: Die Zeichen der Zeit, Berlin, 1, 8/9 (1947), S. 335—337 (2. Fassung); Überwindung der Furcht. Die richtige Fassung der Schlußszene von Tollers 'Pastor Hall', in: Der Sozialdemokrat, Berlin, Nr. 110, 13. Mai 1947, S. 3 (2. Fassung); Pastor Hall, in: Dramaturgische Blätter, Berlin, 1, 2 (1947), S.40—42 (beide Fassungen); Überwindung der Furcht. Die richtige Fassung der Schlußszene von Tollers 'Pastor Hall', in: Volksbühnenspiegel 5, 5 (1959), S. 8 f. (2. Fassung). 17*

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der Zivilbevölkerung, Interviews mit deutschen Gefangenen, die auf der Seite Francos kämpften, sowie Berichte über Reisen durch Skandinavien, Großbritannien und die USA, mit denen Toller sich die nötigen Geldmittel für die Spanienaktion beschaffen wollte. Ein Fragment von 33 Seiten ist der Anfang eines Buches, das Toller nach der erfolgreichen Ausführung der Hilfsaktion darüber veröffentlichen wollte. Nach dem Zusammenbruch der Spanischen Republik und damit auch seiner Bemühungen aber hielt er eine solche Veröffentlichung wohl nicht mehr für sinnvoll. Weitere Vorträge und Aufsätze befassen sich mit der Gefahr des Nationalsozialismus, mit der Unterdrückung der Freiheit in Deutschland, mit der Verfolgung der Juden in Deutschland, der schweren Lage der deutschen Emigranten und immer wieder mit der politischen Verantwortung des Schriftstellers. Bevorzugt beschäftigt sich Toller mit dem Problem des Pazifismus, dem Zentralthema seines Werkes. In diesen Zusammenhang gehört auch die vermutlich bedeutendste Prosaschrift aus Tollers letzten Lebensjahren, die aber leider seit einigen Jahren verschollen ist. Nach Mitteilung von Herrn Sidney Kaufman handelt es sich hier um einen längeren Aufsatz über Mahatma Ghandi. Auf nicht ganz erklärbare Weise ist dieser Aufsatz aus dem Archiv entliehen und bisher nicht wieder zurückgegeben worden. Die restlichen Texte befassen sich mit dem modernen Theater, sind Begrüßungsansprachen, Aphorismensammlungen (9 Seiten) und eine biographische Skizze über Carl vom Stein, sämtlich in englischer Sprache. Von den 7 Kurzgeschichten sind drei deutsch geschrieben. Die Aufrufe zur Hilfsaktion für Spanien, sowie die antifaschistischen Reden und Aufsätze behandeln immer wieder dieselben Themen und wiederholen dieselben Beispiele, Abschnitte aus früheren Reden werden oft wörtlich übernommen. Da Toller auf seinen Vortragsreisen fast täglich und oft an einem Tag mehrmals sprach, blieb wenig Zeit zu tiefgreifenden Überarbeitungen, auch wurden ja die Vorträge kaum zweimal vor demselben Publikum gehalten. Die wichtigsten, bisher unveröffentlichten Arbeiten werden hier kurz angeführt: a) Arbeiten in deutscher Sprache: »Ankunft in Spanien Ende Juli 1938 . . . « Typoskript, ohne Titel, undatiert, einzeilig geschrieben, 9 SS. (Stichwortaufzeichnungen über Tollers Bemühungen für Spanien). »Dieser Kongreß beginnt unter dem Zeichen tiefer Trauer...«, eigenhändiges Manuskript, ohne Titel, undatiert [1936], 3 SS. (Nachruf auf Gorki).

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»Ende Juli 1938, nach zwei Jahren Krieg, kam ich nach Spanien...« Typoskript, ohne Titel, undatiert [1938], vorhanden in zwei Fassungen mit je 33 SS. Länge (Anfang des Buches über die Spanienaktion). »Helmut Heinz. Schlank, graustaubblondes H a a r . . . « Typoskript, ohne Titel, undatiert [1938], 16 SS. (Interviews mit deutschen Gefangenen, die auf Seiten Francos kämpften). 'Sind wir verantwortlich für unsre Zeit?' Typoskript, undatiert [1936/37], vorhanden in zwei Fassungen mit 28, bzw. 24 SS. Länge. (Vgl. dieses Jahrbuch S. 278 ff.). 'Das Versagen des Pazifismus in Deutschland. Von Ernst Toller', Typoskr'pt, undatiert, 10 SS. (Vgl. dieses Jahrbuch S. 305 ff.). »Wer die Berichte der reaktionären Presse über Spanien liest...«, eigenhändiges Manuskript, ohne Titel, undatiert [1936], 23 SS. (Bericht über die Spanienreise im Frühjahr 1936). '20. Jahrestag des Krieges.' Eigenhändiges Manuskript, undatiert [1934], 10 SS. (Rede zum 20. Jahrestag des Ersten Weltkrieges). b) Arbeiten in englischer Sprache: 'Cultural Consequences of the Reichstag Fire.' Übersetzer: Alexander Henderson, Typoskript, undatiert [1933], 8 SS. (Teile davon sind an verschiedenen Stellen veröffentlicht). »In every modern war the civilian population suffers more than in the wars of past times. ..«, Typoskript, ohne Titel, undatiert [1938], 16 SS. (Rede über die Spanienaktion, gehalten in New York am 8. Dezember 1938). 'Intellectual Dishonesty.' Typoskript, undatiert, 6 SS. (Rede). 'Man and the Masses: The Problem of Peace.' Typoskript, undatiert, 9 SS. »The responsibility of the writer is embodied in the fact ...« Typoskript, ohne Titel, undatiert, 9 SS. (Über die politische Verantwortung des Schriftstellers). 'Spanish Help Action. Memo by Ernst Toller.' Hektographie, 1938, 13 SS. Vorhanden ist auch ein 24 Seiten umfassendes Typoskript dieses Aufrufes, der zur Hälfte aus Briefen besteht, die aus Spanien und anderen Ländern an Toller gelangten. 'Whither are we going.' Typoskript, undatiert, 12 SS. (Rede). 3. Briefe Der größte Teil der Briefe, die Toller während seiner fünfjährigen Festungshaft geschrieben hat, ist von ihm selbst im Exil unter dem Titel

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John M. Spalek

Briefe aus dem Gefängnis veröffentlicht worden, wenig später schon erschien das Werk in englischer, spanischer und japanischer Übersetzung 23. Die englische Übersetzung erschien gleichzeitig in Großbritannien und den USA. Daß Tollers Briefe überhaupt schon damals veröffentlicht werden konnten, ist Dora Fabian zu danken, die Tollers Manuskripte (insg. zwei Koffer mit Handschriften gefüllt) aus seiner Berliner Wohnung retten und dann im Ausland dem Zugriff der Gestapo entziehen konnte. Sie büßte ihre mutige Tat mit einer Gefängnisstrafe. Außer diesen von Toller selbst veröffentlichten Briefen sind nur wenige weitere Briefe in Anthologien und von ihren Empfängern veröffentlicht worden 24 . 200 unveröffentlichte Briefe und Karten Tollers konnten bisher erfaßt werden, 53 davon befinden sich im Archiv der Yale-University-Library. Etwa die Hälfte dieser Briefe betrifft wieder das Spanien-Hilfsprojekt, der Rest ist Verlagskorrespondenz, nur 10 Briefe sind persönlicher Natur. Ihrem Zweck entsprechend sind die Briefe meist kurz, was für Toller überhaupt bezeichnend ist. Allein die »Muße« des Gefängnisses scheint ihm lange Briefe ermöglicht zu haben. Toller war sich der Kürze seiner Briefe bewußt und entschuldigte sich häufig deshalb bei den Empfängern. Das Archiv verwahrt über 100 Briefe an Toller, die größtenteils wieder die Spanienaktion betreffen. Darunter sind auch Briefe von Privatpersonen, von Ärzten und Geistlichen, die über die Not der spanischen Bevölkerung berichten und Toller um Hilfe bitten. 23 Briefe aus dem Gefängnis. Querido Verlag N . V., Amsterdam, 1935, 262 SS.; Letters from Prison. Including Poems and a New Version of 'The Swallow Book', trans, by R. Ellis Roberts, John Lane The Bodley Head, London 1936, X I X und 369 SS.; Look Through the Bars. Letters from Prison, Poems, and a New Version of 'The Swallow Book', trans, by R. Ellis Roberts, Farrar and Rinehart, New York and Toronto [Copyright 1937] X X I V und 310 SS.; Gokuchu kara no tegami, übertr. von Tautomu Udiiyma, Shiba Shoten, Tokyo 1936, V und 332 SS.; Cartas de la Pris6n, übertr. von Sergio Grejo, Edici6nes Iman, Buenos Aires 1942, 242 SS. (Collecciön Vida y Obra). Die amerikanische Ausgabe unterscheidet sich von der britischen durch ein neues Vorwort des Verfassers und des Übersetzers. 24 Folgende Briefe verdienen namentliche Erwähnung: An Kasimir Edschmid, Oktober 1919; an Adolf von Hatzfeld, 26. Januar 1922; an Alfred Kerr, 6. April 1923; zwei aus dem Jahre 1923 an Anna Schickele, einer vom 26. Januar, einer undatiert; sämtlich enthalten in: Briefe der Expressionisten, hrsg. von Kasimir Edschmid, Frankfurt (Copyright 1964), Ullstein-Bücher Nr. 471, S. 131—137. — An Willi Bredel, in: Willi Bredel, Dokumente seines Lebens, Berlin 1961, S. 83. — An Gustav Landauer, 20. Dezember 1917, in Ernst Toller, Quer durch. Berlin 1930, S. 189—191. — An Hallie Flanagan, 20. Januar 1930, in: Hallie Flanagan , Dynamo, New York (Copyright 1943), S. 102 f. — Drei Briefe an Nehru, 21.Juli 1936, 30. März 1937, 23. August 1937, in: Jawaharlal Nehru, A Bunch of Old Letters Written Mostly to Jawaharlal Nehru and Some Written by Him, Asia Publishing House, London [1960], S. 205 f., 226 f., 250 f.

Der Nachlaß Ernst Tollers

4. Tollers

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Belegsammlung

Dem Hilfsprogramm für Spanien värdankt auch eine Mappe mit etwa 90 Zeitungsausschnitten ihren Ursprung, welche die Reaktion der internationalen Presse auf Tollers Aktion ziemlich vollständig widerspiegelt. Der Verlauf der Aktion läßt sich an diesen Ausschnitten deutlich ablesen. Der Zweifel an seiner Unparteilichkeit war hier ein Vorwurf, der Toller hart treffen mußte. Eine zweite Mappe enthält Materialien für diese Aktion, wie etwa Fotografien und Statistiken über die spanische Zivilbevölkerung, die Toller vermutlich bei seinen Vorträgen verwendet hat. Etwa 100 Zeitungsausschnitte befassen sich mit Tollers Vorträgen und mit den Aufführungen seiner Werke. Fast vollständig vertreten sind die Besprechungen der Inszenierung von Draw the Fires! im Repertory Theatre in Manchester 1935 und von der Uraufführung von Blind Man's Buff am 26. Dezember 1936 im Abbey Theatre in Dublin; eine Reihe von Besprechungen befaßt sich mit den Aufführungen von No More Peace! an verschiedenen amerikanischen Theatern. Eine große Gruppe von Zeitungsausschnitten aus amerikanischen Zeitungen befaßt sich mit der Kunst im Dritten Reich, eine Reihe von Nachrichten aus Schweizer Zeitungen beschäftigt sich mit einem Rechtsfall, Material, das Toller für seine Arbeit benutzte oder wenigstens benutzen wollte. Die Belegsammlung enthält auch zahlreiche Fotografien, darunter 25 Porträts Tollers, etwa ebensoviele Gruppenaufnahmen mit ihm und Bühnenfotos, vornehmlich der Inszenierungen von No More Peace!.

Verstreutes

Archivmaterial

1. Schiller-National-Museum

und

Privatbesitz

in Marbach am Neckar

Nach dem letzten Stand besitzt das Schiller-National-Museum 40 Briefe und 58 Postkarten an Fräulein Betty Frankenstein, sowie 8 weitere Briefe an andere Empfänger, u. a. an Kurt Hiller, René Schickele, Arthur Kutscher und Emil Ludwig. Betty Frankenstein, mit Toller seit 1925 befreundet, war die Geschäftsführerin der zionistischen Wochenschrift 'Jüdische Rundschau' in Berlin und Sekretärin der Zionistischen Vereinigung in Deutschland25. In Marbach finden sich außer kleineren Schriftstücken auch 17 Seiten hand25 Nach schriftlicher Mitteilung von Dr. Alfred Frankenstein fasser vom 7. Februar 1964.

an den Ver-

John M. Spalek

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geschriebener Notizen aus dem Ersten Weltkrieg 26 , eine handgeschriebene und eine maschinenschriftliche Rede 27 , sowie ein sechszehnseitiges Manuskript von fremder Hand aus Tollers Gefängnisjahren, das ein Konvolut von mehreren Einzelarbeiten darstellt. 2. Archiv der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Dahlem Das Archiv besitzt 9 Briefe und Postkarten, sowie eine Erklärung Tollers, sämtlich an Alfred Kerr gerichtet. 3. Bundesarchiv

in Koblenz

Das ehemalige NSDAP-Hauptarchiv — heute im Bundesarchiv in Koblenz —, von dessen Beständen die Hoover-Bibliothek der StanfordUniversity in Kalifornien Mikrofilme angefertigt hat, enthält eine Ernst Toller/Max Hölz-Mappe, die Abschriften von 15 Briefen Tollers an Hölz und die Abschrift eines Briefes von Toller an Hölz' Anwalt enthält, 28 Originalbriefe von Hölz an Toller liegen ebenfalls in Koblenz 28 . Die Hoover-Bibliothek besitzt außerdem den Durchschlag eines Lebensabrisses von Toller, der vermutlich für die Verhandlung vor dem Standgericht 1919 bestimmt war. Das Manuskript weist zahlreiche Berichtigungen auf, leider fehlen die beiden ersten Seiten. 4. Bayerisches Staatsarchiv

in München

Im Bayerischen Staatsarchiv liegen die Akten des Hochverratsprozesses gegen Ernst Toller im Jahre 1919. Es handelt sich um drei dickleibige Bände mit je etwa 600 Blättern, zum Teil doppelseitig mit der Hand beschrieben, die bisher noch nicht ausgewertet werden konnten. 5. Harvard-University-Library In der Bibliothek der Harvard-University entdeckte ich vor kurzem das Manuskript eines Hörspieles von Toller: Berlin, letzte Ausgabe. Hörspiel. 26

Nach Mitteilung von Dr. Wolfgang Frühwald handelt es sich hierbei um Bleistiftentwürfe zu Tollers Autobiographie 'Eine Jugend in Deutschland*. 27 Vgl. dazu die Beschreibung der Manuskripte in: Dr. Ernst Hauswedell, Antiquariatskatalog 151, Auktion 97, Dienstag, den 31. Mai 1960, Nr. 318—321. 28 Vgl. das Inhaltsverzeichnis des Archivs: NSDAP Hauptarchiv. Guide to the Hoover Institution Microfilm Collection. Compiled by Grete Heinz and Agnes F. Peterson y Hoover Institution on War, Revolution, and Peace, Stanford University, Stanford, California 1964, X I I und 175 SS. (Hoover Institution, Bibliographical Series, Nr. 17). Vgl. auch Max Hölz, Briefe aus dem Zuchthaus, hrsg. von Egon Erwin Kisch y Berlin [1927].

Der Nachlaß Ernst Tollers

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Es handelt sich hier um ein hektographiertes Manuskript von 53 Seiten, Blattgröße 19V2 X 15V2 cm. Die Hektographie ist undatiert, muß aber erst nach Tollers Entlassung aus dem Gefängnis und noch vor Hoppla, wir leben!, also zwischen 1924 und 1927 entstanden sein, da nach einem Bericht aus dem Jahre 1927 Toller während eines Vortrages eine Szene daraus gelesen hat 2 9 .

6. Sonstige Archive und Privatbesitz Vereinzelte Schriftstüde und Briefe Tollers besitzen folgende Bibliotheken und Archive: The New York Public Library New York: einen antimilitaristischen Aufruf an die Jugend aller Länder aus dem Jahre 1919, in englischer Sprache, 4 SS., maschinenschriftlich. The Jewish National and University Library, Jerusalem: einen eigenhändigen Brief an Kurt Eisner und eine eigenhändige Postkarte an Albert Ehrenstein. Die English Library der University of Illinois in Urbana, Illinois, USA: drei Briefe an H . G. Wells, davon einer eigenhändig. Das Thomas Mann-Archiv, Zürich: einen eigenhändigen Brief an Thomas Mann, 3 SS. Wesentlich ergänzt wird der Bestand an Manuskripten Tollers durch Briefe und Schriftstücke, die sich noch in Privatbesitz befinden und hier nicht einzeln vorgeführt werden können. Hingewiesen sei aber auf das folgende Manuskript: Sidney Kauf man (Forest Hills, New York, USA), Tollers Freund, Mitarbeiter und Nachlaßverwalter besitzt das Drehbuch der Filmkomödie Heavenly Sinner, das er gemeinsam mit Toller 1937 in Los Angeles für die Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer geschrieben hat. Heavenly Sinner ist die Lustspielbearbeitung eines früher politisch orientierten Lola Montez-Dramas, an dem Toller schon vor seiner Ankunft in Amerika gearbeitet hat. Das Drehbuch wurde von Sidney Kaufman ins Englische übersetzt und sollte verfilmt werden. Von Bearbeitern der Filmgesellschaft wurde es dann so stark überarbeitet, daß von dem eigentlichen Text fast nichts mehr übriggeblieben ist. Verfilmt wurde es nicht. 29 Vgl. H[einz] M[ichaelis], Berliner Vorträge: Vortragsabend Ernst Toller, in: Die literarische Welt 3, 17 (1927), S. 2.

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Daß dieser vorläufige Bericht über Tollers Nachlaß nur wenige Manuskripte aus der Zeit vor 1933 erfassen konnte, ist Verlust und Gewinn zugleich. Verlust, weil Tollers Ruhm auch heute noch auf den Dramen der Zwanziger Jahre gründet, Gewinn aber, weil damit erstmals Tollers Spätwerk in den Blick gerückt wird. Der Umfang dieses Spätwerkes widerlegt die Behauptung, daß des Dichters schöpferische Kräfte wesentlich nachgelassen hätten. Auch bedeutet das Spätwerk kaum einen merklichen Abstieg gegenüber dem Frühwerk, verändert hat sich wie die politische Thematik der Zeit auch die politische Thematik des Werkes. Zentralthema auch des Spätwerkes ist Tollers Auseinandersetzung mit dem Pazifismus und nichts ist bezeichnender für die Wandlung seiner Anschauungen als sein Wort, daß die Demokratie die Pflicht habe, sich mit Waffengewalt zu verteidigen. Während der sechs Jahre der Emigration vollzog sich in Tollers Werk eine Wandlung zur Prosa, er schrieb zwei neue Dramen, zwei Drehbücher und vollendete seine Autobiographie. Die Aufsätze der späten Jahre füllten einen ansehnlichen Band, Tollers Vortragstätigkeit während dieser Jahre, besonders während seiner mehrere Monate dauernden Reise durch die USA (Oktober 1936 bis Februar 1937) und während der Spanienaktion (Oktober bis Dezember 1938) ist noch schwer zu überschauen, vermutlich hat Toller in den Jahren von 1933 bis 1939 mehr als 200 Vorträge und Ansprachen gehalten. Es wäre heute an der Zeit, Tollers kleine Prosa in einem ersten Sammelband einem größeren Publikum zugänglich zu machen.

ERNST TOLLERS AMERIKANISCHE VORTRAGSREISE 1936/37 Mit bisher unveröffentlichten Texten und einem Anhang Von John M. Spalek und Wolfgang Frühwald »Ich muß Sprachmund sein für Viele, die Gewalt am Sprechen verhindert; jene Gewalt, die auch vom Schrei der Gequälten sagt: >Du verleumdest Dein Vaterland. Emigranten< . . . haben je ein einziges gültiges und gemeinsames Prinzip der sogenannten >Emigrantenliteratur< aufzustellen vermocht. Diesem Wort liegt meist ein Vorwurf, aber niemals ein Begriff zugrunde, es ist ein falscher Name. Hüten wir uns davor!« Dagegen vgl. Walter Arthur Berendsohn, Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur, Teil 1, Berlin 1949, S. 79: »Aus all diesen Gründen würde ich es für einen verhängnisvollen Fehler halten, die Bezeichnung Emigranten-Literatur zu vermeiden. Sie ist eine klingende Losung!« Walter A. Berendsohns genanntes Buch ist der erste Versuch einer Darstellung der deutschen Exil-Literatur, es erschien nur Teil 1: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939. Der zweite Teil (1939—1946) ist nicht veröffentlicht, das Manuskript befindet sich im Besitz der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main. Dem ersten großen biobibliographischen Versuch (Wilhelm Sternfeld und Eva Tiedemann, Deutsche Exil-Literatur 1933—1945. Eine BioBibliographie. Mit einem Vorwort von Hanns W. Eppelsheimer, Heidelberg und Darmstadt 1962) gingen voraus die noch heute sehr instruktiven Kataloge der Buchhandlung Gerd Rosen (Die deutsche Literatur seit 1890, Katalog zusammengestellt von R. F. Krümmel, Berlin 1961) und des Antiquariats Amelang (Deutsche Literatur im Exil, Erstausgaben, 2 Folgen, Frankfurt am Main 1961 f.). Ein neues und unentbehrliches Hilfsmittel ist nun der von Werner Berthold zusammengestellte Katalog: Exil-Literatur 1933—1945. Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main, Mai bis August 1965 = Sonderveröffentlichungen der Deutschen Bibliothek, hrsg. von Kurt Köster, Nr. 1. Vgl. auch Richard Drews und Alfred Kantorowicz, Verboten und verbrannt. Deutsche

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John M. Spalek und Wolfgang Frühwald

der eben erst andeutend bibliographisch erfaßten und für Deutschland meist neu entdeckten Namen und Daten einzelne bekannte Gesichter auf. Die Gestalt Ernst Tollers, des bekanntesten deutschen Dramatikers der zwanziger Jahre, dessen Werke in 27 Sprachen übersetzt wurden, scheint uns für diesen Vorgang symptomatisch. »Auf rauschende Erfolge und lärmende Skandale in den Jahren von 1919 bis 1933 folgte für Toller im nationalsozialistischen Deutschland die Grabesstille der Ächtung, in den Ländern des Exils ein nur oberflächliches aus Mitleid und Sensationslust gemischtes Interesse«2 und noch heute ist Toller trotz den jüngst erschienenen Auswahlausgaben seiner Werke ein Fremdling in seinem Vaterland 3 . Teuer aus den Kesseln', 1930, das Drama des Matrosenaufstandes von 1917 war Tollers letzter Erfolg in Deutschland, schon'Wunder in Amerika', ein mit Hermann Kesten gemeinsam verfaßtes Stück, wurde in Deutschland nicht mehr gedruckt und das Schauspiel 'Die blinde Göttin', das 1933 als letztes seiner Werke noch in einem reichsdeutschen Verlag erscheinen konnte, fand keine Resonanz mehr 4. Am 27. Februar 1933 brannte das Reichstagsgebäude, Toller, der sich wegen eines Rundfunkvortrages in dieser Nacht in der Schweiz aufhielt, entging der Verhaftung damit nur durch Zufall. Sein Besitz wurde beschlagnahmt, ihm selbst am 23. August 1933 die deutsche Staatsbürgerschaft Literatur — 12 Jahre unterdrückt, Berlin und München 1947, und Hildegard Brenner, Deutsche Literatur im Exil 1933—1947, in: Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, hrsg. unter Mitwirkung von Hans Hennecke von Hermann Kun'^ch, München 1964, S. 677—694. 2 Vgl. Wolfgang Frühwaldy Rezension der Tollerauswahlausgaben, in: Literaturwissenschaftliches Tahrbuch, NF. I V (1963), S. 279. 3 Vgl. Ernst Toller, Ausgewählte Schriften. Mit Geleitworten von Bodo Uhse und Bruno Kaiser. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, 2. Aufl., Berlin 1961, und Ernst Toller, Prosa, Briefe, Dramen, Gedichte. Mit einem Vorwort von Kurt Hiller, Hamburg 1961. — Zu Tollers 70. Geburtstag am 1. Dezember 1963 ist uns in den großen deutschen Zeitungen einzig die Würdigung von Michael Buselmeier aufgefallen: M. B., Ein politischer Schriftsteller. Am 1. Dezember wäre Ernst Toller siebzig geworden, in: Die Zeit, Nr. 48, 1963. 4 Feuer aus den Kesseln. Historisches Schauspiel. Anhang: Historische Dokumente, Berlin 1930. Uraufführung am 31. August 1930 im Theater am Schiffbauerdamm, Berlin. — Zu der erfolgreichen englischen Uraufführung vgl. John M. Spalek, Der Nachlaß Ernst Tollers. Ein Bericht, dieses Jahrbuch S. 251 ff. — Wunder in Amerika. Schauspiel in fünf Akten von Ernst Toller und Hermann Kesten. Einzige deutsche Fassung: Unverkäufliches Bühnenmanuskript der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH, Berlin 1931. Erstdruck (in englischer Sprache): Mary Baker Eddy. By Ernst Toller and Hermann Kesten, in: Ernst Toller, Seven Plays, London 1935. Deutsche Uraufführung am 17. Oktober 1931 im Nationaltheater Mannheim. — Die blinde Göttin. Schauspiel in fünf Akten, Berlin 1933. Uraufführung am 30. August 1932 im Raimund-Theater, Wien. (Vgl. zu dem zuletzt genannten Drama auch John M. Spalek, a.a.O. S. 253.)

Ernst Tollers amerikanische Vortragsreise 1936/37

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entzogen, seine Bücher wurden auf den vor den deutschen Universitäten errichteten Scheiterhaufen mit verbrannt, das Vorwort seiner 1933 — schon im Exil — erschienenen Autobiographie ist unterzeichnet: »Am Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland«. Der Weg des nun beginnenden Wanderlebens läßt sich noch nicht exakt verfolgen; erst zwei Stationen sind schon genauer zu fixieren: einmal Tollers groß angelegte Hilfsaktion für die vom Bürgerkrieg heimgesuchte Bevölkerung Spaniens5 und zum anderen seine Vortragsreise durch die USA 1936/37, die hier näher beleuchtet werden soll. In Großbritannien, wo Toller 1935 mit der britischen Uraufführung von T>raw the Fires!' und 1936 mit der Welturaufführung von 'No More Peace!'6 Erfolg hatte, wurde die amerikanische Vortragstournee vorbereitet. Unmittelbarer Anlaß dazu war wohl Tollers mißliche finanzielle Lage, doch liegen die Gründe für den Plan dieser Reise tiefer. Toller steht in Deutschland, wie später in der Emigration, immer in der vordersten Linie des Kampfes gegen den Nationalsozialismus. Das erklärte Ziel seines Kampfes in der Emigration ist der Sturz der Tyrannei in Deutschland, diesem Ziel ordnet sich die Mehrzahl seiner späten Arbeiten unter. Schon 1930, nach den überraschenden Erfolgen der Nationalsozialisten bei den Septemberwahlen, hat Toller die Ereignisse von 1933 exakt vorhergesagt: »Reichskanzler Hitler wird die Errungenschaften der Sozialdemokratie, auf die die Partei so stolz ist, mit einem Federstrich beseitigen. Über Nacht werden alle republikanischen, sozialistischen Beamten, Richter und Schupos ihrer Funktionen enthoben sein, an ihre Stelle werden fascistisdi zuverlässige Kader treten.« 7 Nachdem der Widerstand im Inneren gescheitert war und die Schreie der in Deutschland Gefolterten ungehört verhallten, suchte Toller die öffentliche Meinung der Welt gegen das Hitler-Regime in Deutschland wachzurufen; der politischen Verantwortung des Schriftstellers war er sich stets eindringlich bewußt, jede Zeile des Spätwerkes beschwört das Ge5 Am 25. Juli 1938 reist Toller von Paris aus nach Spanien, wo er sich bis Mitte September, meist in Barcelona, der Hochburg der Republik, aufhält. Er faßt den Entschluß, eine unparteiische Hilfsaktion für die spanische Zivilbevölkerung einzuleiten und sucht auf Reisen durch Großbritannien, Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland und die USA Unterstützung für seine Aktion zu erhalten. Bei der amerikanischen Regierung hat er erst im Dezember 1938 Erfolg. Der Zusammenbruch der Spanischen Republik macht der Aktion vorzeitig ein Ende. V^l. dazu auch Spalek, a.a.O. S. 259 f. 6 Draw the Fires ( = Feuer aus den Kesseln), britische Uraufführung am 10. Februar 1935 im Repertory Theatre in Manchester. — No More Peace! Welturaufführung am 11. Juni 1936 im Gate Theatre in London. — Vgl. auch Spalek, a.a.O. S. 255 f. 7 Ernst Toller, Reichskanzler Hitler, in: Die Weltbühne 26, 2, 1930, S. 538.

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wissen der Welt. Diese — wenn man will — politische Tendenz ist ein die künstlerische Qualität nicht beeinträchtigender Wesenszug auch des künstlerischen Werkes, dessen Zeitlosigkeit8 sich gerade in dieser Tendenz manifestiert, wie umgekehrt die eigentlich politische Prosa Tollers stets über das unmittelbare Zeitgeschehen hinausweist und die geistesgeschichtlichen Grundlagen der jeweiligen politischen Konstellation zu erfassen sucht. Am 12. Oktober 1936 kam Toller in New York an und trat sofort seine Tournee an, während der er fast täglich und oft mehrmals täglich sprach. Über die Vortragsthemen sind wir durch einen vierseitigen Werbeprospekt der Firma William B. Feakins unterrichtet. Da im Nachlaß der YaleUniversity-Library aber isg. etwa 80 Vortrags- und Aufsatzmanuskripte Tollers erhalten sind9, ist anzunehmen, daß die auf Seite 4 des Prospektes angeführten Themen und Inhaltsangaben lediglich einen repräsentativen Querschnitt durch ein viel reicheres Programm geben. Der Prospekt bringt auf Seite 1 Pressestimmen, die wir nachfolgend mit abdrucken, da sie vor allem Auskunft geben über die Wirkung Tollers auf englische Zuhörer, auf den Seiten 2 und 3 zu einem Foto Tollers einen kurzen Lebensabriß und auf Seite 4 die erwähnten »lecture subjects«. [Text des Werbeprospektes] [S. 1] Ernst Toller Author of: " I Was a German", "Letters from Prison", "Masses and Man", "The Swallow Book", "Seven Plays", etc. "Toller is one of the most interesting figures of post war Europe." — The New Statesman and Nation, London "What a man! He is a great speaker and he speaks English fluently." — Manchester, England, Evening News "Here is a dramatist who deserves our respectful attention, a man of prophet-like passion and pity who demands the spiritual life for the many as well as for the few." — New York Times Book Review, May 10, 1936 "Whether or not you agree with him, he is, of course, one of the most important authors of this time. I heard him speak at the P.E.N. Inter8 Wir halten an dieser Deutung trotz Martin Walsers brillantem Essay 'Imitation oder Realismus* fest (in: M. W., Erfahrungen und Leseerfahrungen, edition suhrkamp 109, S. 66 ff., bes. S. 76 f.); eine Auseinandersetzung mit Walser ist an dieser Stelle leider nicht möglich, doch sei darauf hingewiesen, daß die moderne Dramentheorie Ernst Toller mehr verdankt, als man anzunehmen geneigt ist. 0 Spalek, a.a.O. S. 259 ff.

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national Convention in Edinburgh two years ago. He spoke in English and he was certainly understood by the entire audience. He is a dramatic, appealing person." — Mrs. William Brown Meloney of The New York Tribune, May 13, 1936

Herald

" I have known Ernst Toller for ten years and heard him speak when he was last in this country, both in German and English. He has a fine presence on the platform; earnest, direct and often quite moving. He speaks with an accent, but it is rather attractive and does not stand in the way of his beeing clearly understood. He knows English so well that his sentence structures are good and his use of language fluent." — Roger Baldwin, Director, American Civil Liberties New York City, May 11, 1936

Union,

" A lovely personality — an extremely intelligent mind." — Lee Simonson "He is a brave man as well as an artist." — Joseph Wood Krutch American Lecture Tour Exclusive Management William B. Feakins, Inc. 500 Fifth Avenue New York

530 Mason Street San Francisco *

[S. 2] Ernst Toller, exiled from Germany, now lives in London. His autobiography, " I Was a German" (published by Morrow) has been widely read in many countries, having been reviewed with high praise by hosts of distinguished critics. At the age of twenty-five he was president of the Bavarian Free State. He has spent six out of the past eighteen years in prison. Though Ernst Toller subscribes to no political platform he has continually struggled for the enlightenment of the German people and for a spirit of peace. He has fought all forms of political oppression. At eighteen Toller entered the University of Grenoble. He was in France when the war broke out and, inspired by a fiery patriotism, he made his way bade to Germany at once to join the army. Because of poor health he was accepted only after much persuasion. A l l that was romantic in him thrilled at the thought of war. In March, 1915, tired of inactivity and of playing at being a soldier, he insisted that he be

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John M. Spalek und Wolfgang Frhwald

sent to the front. Soon his ardent patriotism and sense of adventure were worn down to a hard realization of the meaning of war. Following an illness he was discharged from the army as unfit for further service. He had become a zealous pacifist. He then entered the University of Munich, trying to forget war and to escape into music, study and poetry. Here he met Thomas Mann, Wedekind, Richard Dehmel, etc. Subsequently he went to Heidelberg, which was then a university composed mainly of war-injured students. There he found great unrest and dissatisfaction and the feeling among all the students that the old order in Germany had betrayed them and that it was the mission of youth to begin the work of reorganization of their country. Toller tried to shift their talking into constructive action. He founded the "Cultural and Political Band of German Youth", which had as its aims pacifism and the abolishment of poverty. The police broke up the organization and Toller fled to Berlin. The end of the war came with its confusion and the revolution. Toller was in Munich in the center of the new movement. Eisner was elected President-Minister of Bavaria. When the latter was assassinated by a monarchist, Toller became President of the short-lived Free State. He was then twenty-five years old. The white Army conquered Munich, hundreds of republicans were shot. Toller, who commanded the Free State's Army, was forced to go into hiding. A price of 10,000 Marks was on his head, he was hidden in friends' houses, but was finally captured and led to prison. When his trial was held, even the military judges acknowledged his honest motives and his attempts to fight violence. He was sentenced to five years "fortress," the confinement for people whose honest motives are not doubted. During this time, much of which was spent in solitary confinement, he was allowed no papers, but he read what material he could smuggle in and wrote six famous plays, among them "The Machine-Wreckers," 10 "Hinkemann" ("Bloody Laughter") and "Masses and Man," which was later produced in Berlin and which was a triumph when produced by the Theatre Guild in New York. It was during this imprisonment that Hitler's first uprising occured. Toller, after the international success of his first play "Transfiguration," was offered pardon by the government after six months' imprisonment, but he refused the pardon and declared he would prefer to stay in prison if his friends would not be released too. 10

Korrigiert aus der im Prospekt verballhornten Form »Marhimorerkers«.

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At the age of thirty Toller was released from "fortress." His plays, translated into twenty-seven languages, were produced all over the world. Toller lived in Berlin, until Hitler came to power. Only by chance he escaped the concentration camp. Two hours after the Reichstag fire, the [S. 3] Nazis tried to arrest him. But Toller was on this night in Switzerland where he gave a literary radio-broadcast. The Nazis confiscated his property and manuscripts. His books were publicly burned. He was, together with Einstein, Heinrich Mann, and Feuditwanger, deprived of his citizenship. Toller was driven into exile. England welcomed him with great hospitality and today he takes an outstanding part in modern English literary life. Last year his plan to help German emigrants received the help of Conservatives, Liberals, and Labor Members of Parliament and was favorably accepted by the British government. His volume "Seven Plays," published by Liveright in the United States in May, 1936, was exceedingly well reviewed. His "Letters From Prison" recently aroused great interest in England and the publication of this volume in the United States is anticipated at an early date. Ernst Toller's lectures, like his writings, have a compelling appeal for those interested in a humanitarian approach to the problems of the modern world. [S. 4] Ernst Toller Lecture Subjects •

HITLER — T H E PROMISE A N D T H E REALITY Restlessness in post war Germany. The economic crisis. Personal meeting with Hitler. Hitler's life. Hitler's access to power. His program. What has he kept of it? The Jew-baiting program of the Nazis. Jews in revolutionary movements. Is the Jewish question a German question? Present situation in Germany—political, cultural, economic. Who has power in Germany? Consequences of militarism. Does Hitler want peace? Hitler and the future of Europe. Nazi propaganda abroad. The duty of democracies. How to preserve freedom and world-peace.



ARE Y O U RESPONSIBLE FOR YOUR TIMES? Ideals of the modern man. The leaders and the seducers. The part of the politician, of the philosopher, of the poet. Is the seducer the Literaturwissensaftliches Jahrbuch, 6. Bd.

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only culprit or are we also to blame? The fear of truth and refusal to think over questions demanding an answer. Evasion of reality. How we mould the future not by action but by failure to act. Is a new war at hand? Can it be circumscribed in a certain area? Ideals versus economics. War and its profiteers. The varying attitudes of the old and the young toward war. Relation of the dictator to war and peace. What can you do about it? •

THE PLACE OF THEATRE I N OUR C H A N G I N G WORLD The theatre's function in society. Entertainment and education. Differences between modern drama and drama of the past. Theatre in Germany. Differences between expressionism and the new and old realism. The social drama. Some misinterpretations of the modern theatre. The task of the producer and of the author. The experimental theatre. The people's theatre. The part of the theatre and of the free writer and actor in Nazi-Germany. Freedom of art. The outlook.



DRAMA AS A N EXPRESSION OF Y O U T H

Zahlreiche Zeitungskritiken zeugen davon, daß der Vortrag 'Hitler- the Promise and the Reality' in Amerika häufig gehalten wurde, ein Text des Vortrages ist aber im Archiv der Yale-University-Library nicht vorhanden; ob der letzte der genannten Vorträge 'Drama as an Expression of Youth' jemals gehalten wurde, ist sehr fraglich, da keine Belege, auch kein Text erhalten sind; die fehlende Inhaltsangabe im Prospekt läßt zudem darauf schließen, daß keine ausgearbeitete Fassung des Vortrages existiert. Der Vortrag 'The Place of Theatre in Our Changing World' wurde dagegen wieder häufig in Zeitungen besprochen und u. a. auch im Rundfunk gehalten. Tollers Nachlaß im Archiv der Yale-University-Library enthält drei stark voneinander abweichende Fassungen der Rede, eine vierte Fassung wurde unter dem Titel 'The Function of Drama' in der 'New York Times' vom 24. Januar 1937, Teil 10, S. 1 und 3 veröffentlicht. Von dem Vortrag 'Are You Responsible for Your Times?' besitzt das Yale-Archiv zwei Typoskripte in deutscher Sprache, eine Reinschrift und einen Entwurf, die hier mit freundlicher Genehmigung von Herrn Sidney Kaufman (14 Fairway Close, Forest Hills, New York) abgedruckt werden. Der Text fügt sich Tollers oben skizziertem Kampf gegen den Nationalsozialismus ein. A l l diese Reden wurden ja vor verschiedenstem Publikum, vor jungen Hörern in Colleges und an Universitäten, vor poli-

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tischen und kulturellen Vereinigungen und auf antinationalsozialistischen Massenkundgebungen gehalten. Toller hat in 'Are You Responsible.. / ein konkretes politisches Ziel: er will die öffentliche Meinung der USA gegen den Terror in Nazideutschland mobilisieren und dadurch den Völkerbund zu direktem Eingreifen zwingen. »Der Völkerbund hat nur dann einen Sinn, wenn er über die Rechte aller wacht. Es ist seine Aufgabe und seine Pflicht, Staaten, die die Grundrechte der Menschen, die Menschenrechte mißachten, zur Aufgabe dieser Verfolgung zu zwingen. Die Judenverfolgungen sind eine Form des Krieges nach innen.« Das »tua res agitur«, die Betonung der internationalen Bedeutsamkeit des Problems folgt der schon 1930 formulierten These, daß der Faschismus in einem Land den Faschismus im anderen nach sich ziehe. Die Gefahr des Krieges nach außen, der dem Krieg nach innen unweigerlich folgen wird, ist klar erkannt. Auch dieser Vortrag enthält, wie so manches Drama Tollers, ein Bekenntnis zum Weltfrieden, das Bekenntnis aber auch zur eigenen Vergangenheit und die Bereitschaft, aus den Erfahrungen zu lernen. Wenn Tollers Analyse richtig ist, daß es schon 1936 nicht um einen Kampf zwischen Bolschewismus und Faschismus ging, sondern daß die Konfrontation von wahrer Demokratie und Diktatur nur eine Spielart des alten Kampfes von Verantwortung und Opportunismus ist, so wäre dieser Konflikt mit dem Untergang des Dritten Reiches noch lange nicht ausgestanden.

Zum Text: Der Vortrag 'Are You Responsible for Your Times?' ist in drei Fassungen erhalten: Fassung A: Maschinenschriftlicher Entwurf mit zahlreichen handschriftlichen und maschinenschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen. 25 gezählte Blätter + 3 Blätter Beilage, jeweils einseitig, doppelzeilig beschrieben, breiter Korrekturrand (8 cm) links, zahlreiche hand- und maschinenschriftliche Ergänzungen auf beigefügten Zetteln. An den handschriftlichen Korrekturen sind vermutlich wenigstens drei Hände beteiligt. Handa ( = deutsche Schrift) greift nicht produktiv in den Text ein und gehört offensichtlich einer Schreibkraft, die kürzere Einfügungen Tollers in den Text notiert oder handschriftlich jene Stellen markiert, an denen längere Passagen eingeschoben werden sollen. Diese Hand also bereitet den Entwurf für die Reinschrift vor, die Reinschrift selbst hat sie vermutlich nicht ausgeführt. Handb ( = deutsche Schrift) findet sich vornehmlich auf beigefügten Zetteln, die eventuell einem ersten handschriftlichen Entwurf des Vor*

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trags entstammen. Auf einem dieser Zettel sind u. a. Stichworte notiert, die dann erst durch die Handc ( = lateinische Schrift), die eindeutig Toller selbst zugehört, zu ganzen Sätzen umgebildet werden. Es ist unwahrscheinlich, daß auch Handb Toller zugehört (handschriftliches Vergleichsmaterial fehlt), es ist eher anzunehmen, daß Toller evtl. schon den ersten Entwurf diktiert hat. Toller selbst nun richtet den Vortrag, der offensichtlich Ende 1935 entstanden ist, für amerikanische Verhältnisse ein, ändert z.B. Preise, die in Mark angegeben sind, in Dollars, reduziert das marxistische Vokabular, streicht Passagen, die politisch mißdeutet werden könnten, wie überhaupt die zahlreichen Streichungen und Unterstreichungen von seiner Hand stammen. Fassung B: Die zugrundeliegende maschinenschriftliche Fassung (A), die dann in der angegebenen Weise korrigiert wurde, hat Toller wohl einer Schreibkraft diktiert (vgl. den Hörfehler: »Flug-Kultur« statt »PflugKultur«), deren Muttersprache deutsch war (vgl. »That can't happen hier«). Nach dem korrigierten Typoskript A hat dann eine Schreibkraft die endgültige deutsche Fassung hergestellt, die isg. stark gekürzt und auf die amerikanische Zuhörerschaft ausgerichtet ist. Diese Reinschrift umfaßt 24 gezählte Blätter, Größe 25 X 20 cm, einseitig, doppelzeilig beschrieben, mit breitem Korrekturrand links. Fassung C: Am 20. Mai 1944, anläßlich des 5. Todestages von Ernst Toller, erschien in der amerikanischen Zeitschrift The Saturday Review of Literature' (Band X X V I I , Heft 21, S. 5—8) ein Aufsatz Tollers unter der Uberschrift 'Are We Responsible for Our Time? Prophetic Commentaries from the Unpublished Papers of a Literary Giant Ernst Toller'. Die Vorbemerkung des Herausgebers sagt zur Herkunft des Manuskriptes nur: »The Saturday Review has come into the possession of a hitherto unpublished manuscript by Toller, from which the following excerpts have been taken.« Diese Auszüge aus der englischen Fassung unseres Aufsatzes — ein Typoskript in englischer Sprache ist nicht vorhanden —, die zusammen mit erstmals ins Englische : übersetzten Exzerpten aus Tollers Aufsatz 'Reichskanzler Hitler' (Weltbühne 26,2 1930) und der Abbildung eines Toller-Porträts von Frances O'Brien Garfield hier erstmals gedruckt wurden, können nicht als Übersetzung der Fassungen A oder B angesprochen werden, sondern geben eine neue, um wenigstens 10 Abschnitte erweiterte Fassüng wieder. Im übrigen aber iolgt — abgesehen von den neu eingefügten Abschnitten und abgesehen von der Reihenfolge der Abschnitte — der Text frei der deutschen Fassung B, lediglich die Zeilen 215 bis 259 sind eine wörtliche Übersetzung der

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Zeilen 387 bis 435 der Fassung B. Die gegenüber A und B neu hinzugefügten Abschnitte von C finden sich so oder ähnlich auch in anderen Arbeiten Tollers aus derselben Zeit. Da die Druckvorläge von C nicht bekannt ist, kann nicht gesagt werden, wie weit der Herausgeber h ! er eingegriffen und kompiliert hat. Daß zumindest die Reihenfolge der Abschnitte .in C erst durch den Herausgeber festgelegt wurde, ist wahrscheinlich. Zur Edition: Aus technischen Gründen und aus Platzmangel können wir die drei Fassungen nicht, wie es wünschenswert wäre, im Paralleldruck bieten. Wir drucken daher nachfolgend nur die voneinander stark abweichenden Fassungen B und C ganz ab.. Fassung A, also die Schreibvorlage für B, wird isg. mit B verglichen. Von A werden im Zusammenhang abgedruckt nur der in B stark gekürzte Anfang des Typoskripts, sowie die später , wieder größtenteils gestrichene dreiseitige Beilage. Um aber die Entstehung, von B genau abzubilden und in die Arbeitsweise Tollers einzuführen, geben wir sämtliche Lesarten, die A gegenüber B aufweist. In B findet sieh keine handschriftliche Korrektur, die Korrekturen in A sind dagegen überwiegend handschriftlich vorgenommen worden. Die Streichungen in A stammen, soweit sich dies feststellen läßt, von der Hand des Autors Toller. Die Lesarten zur Fassung B sind also, soweit sie nicht besonders, d„ h. meist durch den Zusatz B gekennzeichnet wurden, der Fassung A entnommen. Zeichenerklärung: < >

= vermutlich vom Autor (c) x meist mehrfach, schräg durchstrichen;

((

= vermutlich vom Autor (c) quer durchstrichen; ms. Durchstreichungen werden gesondert vermerkt! ( ) stehen so im Text;

))

hs.

= handschriftlich;

ms;

=±= maschinenschriftlich;

Sperrdruck

== handschriftlich oder maschinenschriftlich unterstrichen;

Kursive, sowie [ ] bezeichnen Zusätze der Herausgeber, die Ziffern innerhalb der Lesärtenapparate beziehen sich auf die Zeilenzählung der Texte, Offensichtliche Schreibfehler (auch falsch geschriebene Namen, wie z. B. . »Dronthheim« für »Trondheim« etc.) werden stillschweigend korrigiert. In den beiden Typoskripten A und B steht immer ae, oe, ue für ä, ö, u, sowie ss für ßj üni mögliche Fehlerquellen auszuschließen, wurde dieses Kolorit der Emigration (englische Schreibmaschine!) nicht beibehalten.

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[Fassung B] Sind wir v e r a n t w o r t l i c h

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für unsere

Zeit?

Im allgemeinen fürchten die Menschen die Wahrheit. Jede Wahrheit, die wir in der Natur oder in der Gesellschaft entdecken, zerstört die Krücken, auf die wir uns bisher gestützt haben. Am meisten aber fürchten die Menschen, Wahrheiten, die Weise entdeckt haben, zu verwirklichen, und zwar aus zwei Gründen: (1) müssen viele die errungenen traditionellen Machtpositionen aufgeben und alle Gewohnheiten, ohne die sie sich ihr Leben bisher nicht denken konnten. Als im alten Griechenland der Philosoph Sokrates die Autorität der Priesterkaste anzweifelte und die Vernunft zum höchsten Gebot erhob, mußte er diese Kühnheit mit dem Tode bezahlen. Die Wissenschaftler, die im 18. und 19. Jahrhundert der Menschheit die segensreichsten Erfindungen brachten, wie z.B. Pasteur, Koch, Neisser (Salvarsan), Semmelweis (Kindbettfieber) und andere, wurden verfemt und verfolgt. Die alte Strafe für Ketzer war dramatisch: Der Tod. Die moderne ist unauffälliger: Boykott. Die Nationalökonomen, die die Rolle der ökonomischen Kräfte in der Gesellschaft erkannten und ihren Einfluß auf die Gesetze, auf die Moral und auf das tägliche Leben aufzeigten, wurden als Staatsfeinde erklärt. Was früher Beleidigung Gottes war, ist heute Beleidigung des Staates. Dabei zeigt sich, daß in diesem Sinne die größten Männer eines Landes ihr Land am heftigsten angegriffen haben. Wenn Kant, Goethe, Schopenhauer, und Nietzsche heute leben würden, wären sie Public Enemy No. 1 und im Konzentrationslager. Überall in der menschlichen Geschichte sehen wir den Kampf zwischen Wahrheit und Aberglaube, zwischen Fortschritt und menschlicher Denkträgheit, zwischen Unverantwortlichkeit und zwischen Verantwortlichkeit. Auch der große Kampf, den wir heute auf politischem Gebiet sich abspielen sehen, der Kampf zwischen Diktatur und sozialer Demokratie, ist, psychologisch gesehen, ein Kampf zwischen Unverantwortlichkeit und Verantwortlichkeit. Hierbei ist es ein großer Unterschied, ob man die Diktatur für einen notwendigen Durchgang hält und sie

Lesarten: 6 Eine Entsprechung zu (1) findet sich weder in Fassung A noch in B. Der Text ist daher nach C zu korrigieren: But what people fear most is that they may have to put into practice truths which wise men have discovered. Many people have to surrender old Privileges and everybody has to give up old customs without which life seem hardly worth living.; 7 alle A und B]

old C.

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35 nur widerwillig bejaht — mit dem Ziel einer Demokratie (wie der Marxismus) oder ob man sie vergöttlicht und aus denen, welche die Macht haben, Götter macht. Der Kampf ist akut geworden seit dem Weltkrieg. Als der Krieg begann, war ich ein neunzehnjähriger Jüngling in Deutschland. Ich 40 stammte aus einer bürgerlichen Familie und war in den Traditionen des deutschen Bürgertums erzogen. Auf der Schule lernte ich, das größte Ideal des Menschen sei, auf dem Schlachtfeld für das Vaterland zu sterben. Wenn unsere Lehrer vom Kriege sprachen, dann leuchteten ihre Augen und ihre Stimme bekam einen heißen Klang. 45 So kam es auch, daß wir jungen Menschen den Krieg viel mehr verehrten als den Frieden. Wir glaubten, daß der Krieg Wunder vollbrächte, daß der Krieg eine Neugeburt der Nation bedeute, eine Reinigung der Welt. Als dann 1914 der Krieg ausbrach, jubelten wir ihm zu und wir 50 setzten unseren Stolz darein, als Freiwillige in den Krieg zu ziehen. Im Krieg sahen wir das wahre Gesicht des Krieges. Wir sahen die sinnlose Vergeudung von menschlichem Leben und menschlicher Kraft, die sinnlose Vergeudung von Kulturgütern und die Verlogenheit des Ideals, das man uns gelehrt hatte. 55 Was ich draußen in den Schützengräben in Frankreich angesichts meiner toten und verwundeten Kameraden mich fragte, fragten sich Millionen junger Menschen in allen Ländern: ist dieser Tod unseres Opfers wert? Sinnvoll war das Einzelne: wie man einen Schützengraben baute, 60 wie man eine Kanone abschoß, wie man eine feindliche Stellung erkundete. Sinnlos war das Ganze: Zerstörung, Verwüstung, Mord. Die Reichen wurden reicher und die Armen wurden ärmer. Ein Statistiker hat festgestellt, daß jeder Tote des Weltkrieges $ 25,000 gekostet hat. Von diesen $ 25,000 hatten die großen Kriegs65 industrien $ 12,500 Reingewinn pro totem Soldaten. Um einen jungen Menschen bis zum 16. Lebensjahr groß zu ziehen, um ihm eine gute Erziehung zu geben, brauchen Staat und Elternhaus $ 4,000 auszugeben. Aber die Zerstörung materieller Güter ist nur die eine Seite. Die 70 Sinnlosigkeit, die wir damals spürten, wurde bestätigt durch zwei Lesarten: 51 Im Krieg] I m Krieg; 64 $ 25,000] am Rande hs. c in Dollars oder Pfunden!; 64 $ 25,000] hs. von c korrigiert aus M 100 000.—; 65 $ 12,500] hs. von c korrigiert aus M 50 000.—; 68 $ 4,000] hs. von c korrigiert aus M 15 000.—; 69 ff. Aber die Zerstörung bis Werte gebracht.] ms. auf beigefügtem Zettel ergänzt.

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Jahrzehnte europäischer Kultur. Der Krieg hat den Menschen nicht neue Hoffnungen und neue Kraft, sondern einen tiefen Pessimismus und Mißtrauen gegen geistige und intellektuelle Werte gebracht. Angesidits der Leichen unserer sogenannten Feinde, angesichts der 75 Leichen von Franzosen, Engländern, Amerikanern und Russen, gelobten wir den heiligen Schwur: diesen Krieg und alle zukünftigen Kriege zu bekämpfen. Wir gingen nach Hause mit dem festen Vorsatz, das Volk aufzuklären, und Deutschland in ein Land zu verwandeln, in dem die 80 Bürger ihr Schicksal selbst verwalten und den Spruch über Leben und Tod nicht mehr dem Kaiser, den Generälen und den Junkern überließen. Aber das deutsche Volk war seit Jahrhunderten so sehr Objekt des Staates geworden, so sehr an Gehorchen gewöhnt, so sehr im Unter85 tanengeist erzogen, daß nur eine zahlenmäßig kleine Schicht von Pionieren die Idee der Republik begriff, die aktive Teilnahme und Verantwortlichkeit jedes einzelnen erforderte. Es ist hier nicht der Ort über die politischen und ökonomischen Gründe des Zusammenbruchs der deutschen Republik zu sprechen, aber eines kann gesagt werden: 90 nicht Wirtschaftskrisen, nicht die Folgen des Versailler Friedensvertrages sind allein verantwortlich für den Zusammenbruch. Ein wesentlicher psychologischer Grund war die Scheu des deutschen liberalen Bürgertums und gewisser Arbeiterschichten vor Verantwortung. Nicht nur die unzulänglichen Führer, und es hat an ^nzu95 länglichen Führern in der deutschen Republik nicht gefehlt, tragen die Verantwortung, ebenso verantwortlich waren die Geführten. Auf diesem besonderen psychologischen Boden wurde Hitler groß. Die Menschen waren müde des Denkens und Nachdenkens. Sie fühlten nur, „so kann es nicht mehr weitergehen", und als dann ein falscher 100 Messias auftrat, der ihnen die Last des Denkens und die Last der Verantwortung abnahm, da vergotteten sie ihn und folgten ihm in sklavischem Gehorsam. Hitler, der falsche Messias war nicht der erste, der in Deutschland auftauchte, sondern nur der erfolgreichste. Zahllos waren die modernen Medizinmänner, die damals Deutschland durch105 zogen und dem Volke das Paradies auf Erden versprachen. Einer namens Weißenberg erklärte, daß er alle Krankheiten der Seele und des Leibes heilen könne, wenn er weißen Käse auf die Stirn und das Herz legte. Einer, namens Häusser, sagte, daß er eine Reinkarnation von Bismarck und Christus in einer Person sei. Er prophezeite, daß Lesarten:

84 geworden] hs. c eingefügt; 102 ff. Hitler, der. falsche Messias bis

ähnlichen Männern.] ms. auf beigefügtem Zettel ergänzt.

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110 er Deutschland wieder groß und mächtig [madien] und den Thron als Kaiser besteigen werde. Hunderttausende von deutschen Kleinbürgern, deren traditionelle Welt zusammengebrochen war, folgten diesen und ähnlichen Männern. Betrachten wir einmal das Weltbild des erfolgreichen falschen 115 Messias: Adolf Hitler. Was tut er: gleich den Medizinmännern der primitiven Völker erfindet er zuerst das Opferlamm, auf das er alle Sünden der Vergangenheit und alle Sünden der Zukunft ablädt. An allen Sünden, sagt er, sind die Juden und die Marxisten und die Franzosen schuld. 120 Seine Anhänger stürzten sich auf diese Phrase. Wie einfach ist es, wenn man die Schuld nicht bei sich suchen muß, sondern sie auf andere abwälzen kann. Beweise und Statistiken helfen da garnichts, es wird alles geglaubt.

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Ein bestimmter Typus Mensch glaubt an das, was er glauben will, gleichgültig, ob das Geglaubte vernünftig oder unvernünftig ist. Darum ist ja Aufklärung so schwierig, darum wird jede Propagandalüge, jedes Wort dieses falschen Messias für eine heilige, göttliche Offenbarung gehalten. Deshalb ist der ganze deutsche Propaganda130 Apparat nicht aufgebaut darauf, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, sondern die gerade notwendige Lüge in die Seele einzurammen. Man hat es hier mit einer Psychologie zu tun, die alle Schwächen im Menschen vollendet herausgearbeitet hat und benutzt. Was sich in Deutschland auf nationalem Gebiet abgespielt hat, spielt 135 sich heute auf internationalem ab. Man sagt zwar, es handle sich um den Kampf zwischen Bolschewismus und Faschismus, aber diese Gegenüberstellung dient nur dazu, den eigentlichen Tatbestand zu verschleiern. Es handelt sich in diesem Moment nicht um den Kampf Lesarten: 114 des erfolgreichen falschen] hs. c über ((dieses falschen)); vor ((falschen)) am Rande hs. c ((des letzten)); 115 Messias] B ms. korrigiert aus Propheten; Adolf Hitler] hs. c eingefügt; 118 und die Franzosen] hs, b eingefügt; 123 es wird alles g e g l a u b t ] es wird ((eben)) alles ((einfach)) g e g l a u b t ; 129 fF. Deshalb ist bis benutzt] hs. b auf beigefügtem Zettel ergänzt. 129 der ganze] dieser ganze B; Der Text des Zettels ist. wie folgt korrigiert: 132 Man hat es hier mit] hs. c über ((Erfindung)) einer ((tödlich großartigen)); zu tun] hs. c eingefügt; 133 Schwächen] hs. c «¿er ((Einbruchs-Stellen)); benutzt] folgt hs. b ((D a r s t e l l u n g v o n H i t l e r s P o d i u m a l s B e i s p i e l !) (Mischung [darüber hs. c Es ist eine] von Trance und Rationalismus. Entspricht [darüber hs. c Es] ((dieser)) [darüber hs. c der] Kultur, die eine [darüber hs. des Staates] Mischung von rechenhaftestem Kalkül (Industrie) und mystischen Anschauungen ist.) 135 auf internationalem] auf internationalem Gebiet; vor Man sagt zwar] neuer Absatz; 137 Gegenüberstellung]./?$. c über ((Fragestellung)). . . . . . . .

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zwischen Faschismus und Bolschewismus, es handelt sich um den Kampf 140 zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Barbarei und Zivilisation, zwischen Unverantwortlichkeit und Verantwortlichkeit, zwischen der Diktatur eines Mannes und w a h r e r Demokratie.

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Weil in einigen Staaten die Demokratie verfälscht wurde und in eine Oligarchie der Finanzgewaltigen ausartete, darum kann man noch nicht von einem Versagen und der Überlebtheit der Demokratie sprechen. Demokratie war ein Meilenstein auf dem Weg der fortschrittlichen Entwicklung der Menschheit. Für die Ideen der Demokratie haben die Besten der Menschheit seit Jahrhunderten gelebt und gestritten. Demokratie brachte uns die Freiheit des Gewissens. Der Bürger errang das Recht, nach seinem eigenen freien Willen in allen Fragen des Glaubens und Wissens zu forschen und zu entscheiden. Er entscheidet selbst darüber, ob er eine Erkenntnis, einen Glauben annehmen will, ob er ihn ändern, oder aufgeben will. Es steht ihm frei, Anschauungen oder Überlieferungen, mit denen er nicht übereinstimmt, aufzugeben. Demokratie bedeutet auch politische Freiheit, und beruht auf der freien Selbstverantwortlichkeit des Menschen. Im 19. und 20. Jahrhundert gewannen die Bürger das Recht, Gesetze zu machen und zu ändern, die Staatsfinanzen zu kontrollieren und über Krieg und Frieden selber zu entscheiden. Die Arbeiterschaft erkämpfte sich ihr Recht zum Zusammenschluß und zum Kampf für ihre eigenen Interessen. Audi die Frauen eroberten sich ihre politische Gleichberechtigung. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatten die Frauen kein Wahlrecht und verheiratete Frauen konnten nicht selbständig über ihr eignes Einkommen entscheiden und konnten nicht vor Gericht als Zeugen auftreten. Hand in Hand mit dieser politischen Freiheit entwickelte sich die ökonomische Freiheit. Das Motto hieß: „Laisser faire, laisser aller." Aber die ökonomische Freiheit führte in der Praxis zu Anarchie und zu rücksichtsloser Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft. Der große französische Schriftsteller, Anatole France, umschrieb diese sogenannte ökonomische Freiheit einmal mit den Worten: „Jeder hat das Recht, unter den Brücken von Paris zu schlafen." Hier haben wir in witziger Form die Grundwahrheit.

Lesarten: 139 Bolschewismus] hs. c über ((Kommunismus)); 141 f. der Diktatur eines Mannes] der und eines Mannes hs. c eingefügt; w a h r e r ] ms. eingefügt; 152 zu forschen und] hs. c eingefügt; 153 eine Erkenntnis,] hs. c ein-

gefügt;

155 aufzugeben] folgt nach Absatz ((Der Wissenschaftler gewinnt das

Recht zu freier Forschung.)); 171 France] folgt ((kleidete)) [ms. durchstrichen].

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Der Begriff der ökonomischen Freiheit ist sinnlos, wenn dem Menschen nicht ein gewisses Existenzminimum garantiert wird. Wahre Freiheit besteht nur dann, wenn jeder Staatsbürger nicht nur auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Kultur und das Recht auf Erholung hat. 180 Das ist ein gutbürgerlicher, kein marxistischer Gedanke. Das hat das Bürgertum, als es noch jung und stark war, selbst eingesehen. Im Jahre 1800, als von Sozialismus noch keine Rede war, erschien in Deutschland das Buch des bürgerlich-idealistischen D e n k e r s , Fichte, in dem es hieß: „Es sollen erst alle satt werden 185 und erst wohnen, ehe einer seine Wohnung verziert, erst alle bequem und warm bekleidet sein, ehe einer sich prächtig kleidet."

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Ohne eine Einschränkung der ökonomischen Freiheit ist das nicht möglich. Jeder wird zugeben müssen, daß Freiheit nicht bedeutet, daß wir das Recht haben, zu stehlen, zu morden, zu betrügen. Ebensowenig haben wir ein Recht, menschliche Kraft zu vergeuden. In der Welt von heute wird aber mensdiliche Kraft vergeudet, wenn die einen in Luxus leben und die anderen hungern, wenn hier Weizen verbrannt wird und dort Weizen fehlt, wenn hier die Kohlen sich auf den Halden anhäufen und dort die Menschen frieren. Das ist Verantwortungslosigkeit und nicht Freiheit. Was uns not tut, ist eine planvolle Gestaltung von Produktion und Verbrauch nach dem Bedarf der Gemeinschaft. Anstelle der Planlosigkeit, die heute die Weltkrise heraufbeschwört, muß eine planvolle und vernünftige Organisation der irdischen Güter einsetzen. Denn es ist Überfluß in Hülle und Fülle auf dieser Erde — an allem, was der Mensch wünscht. Die meisten Menschen sträuben sich gegen eine gründliche Änderung, weil sie fürchten, daß ihnen genommen werden soll, was sie besitzen, um es anderen zuzulegen. Das ist ein Ammen-Märchen. Was für den Haushalt des einzelnen Bürgers gilt, muß auch für den Haushalt der Menschheit gelten.

Lesarten: 180 ff. Das ist ein bis kleidet."] hs. b auf beigefügtem Zettel ergänzt. Der Text dieses Zettels ist wie folgt korrigiert: 183 das Buch desl des hs. c über ((eines)); 184 Fichte] hs. c eingefügt; 185 erst wohnen] fest wohnen; verziert] v e r z i e r t ; 189 wird zugeben müssen] B im Text: will zugeben müssen. Korrigiert nach A; Jeder wird] Jeder ((will)) \ms. durchstrichen] wird; 195 frieren. Das ist] frieren, ((so ist es)); Das] hs. c korrigiert aus das; ist] hs. c eingefügt; 198 Gemeinschaft] hs. c über ((Einzelnen und nicht gemäß der Profitgier einiger Kapitalisten.)); 201 ff. Denn es ist bis Ammen-Märchen] hs. b auf beigefügtem Zettel ergänzt; 205 ein Ammen-Märchen.] ein ((gemeines)) AmmenMärchen.

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Was würden Sie von einer Hausfrau sagen, die, weil es ihr grade so paßt, im Kamin Brot verfeuert und Kohlen ins Schwimmbad wirft? 210 Was ein Ehemann seiner Hausfrau nicht erlauben würde, darf ein verantwortlicher Bürger der Gesellschaft nicht zugestehen. Ich sagte, die Ideen der Demokratie, die in Amerika formuliert wurden, bevor sie durch die französische Revolution ihren Siegeszug durch Europa antraten, haben nicht bankrott gemacht. Was wir 215 brauchen ist eine Vertiefung der Demokratie, d.h.: politische Freiheit plus sozialer Gerechtigkeit. Versuche dazu sehen wir heute in verschiedenen Ländern. Amerika versucht es und Rußland versucht es. Demokratie bedeutet steigende Verantwortlichkeit des Individuums 220 und steigende Verantwortlichkeit der Staaten. Man könnte auch sagen, Demokratie will die Menschen aus der Unverantwortlichkeit des Kindes in die verantwortliche Haltung des Erwachsenen führen. Was dagegen bedeutet der Faschismus? Faschismus etabliert die Selbstherrschaft eines Mannes, der niemandem verantwortlich ist und 225 die völlige Unverantwortlichkeit des Volkes, das die Gebpt$ des Autokraten in blindem Gehorsam ausführen muß. Der Faschismus schafft keine politische und soziale Ordnung, sondern die durch Terror aufrecht erhaltene eiserne Unordnung. Die Verantwortlichkeit für die Staatsgeschäfte, für die Verwaltung der 230 Städte und Dörfer wird den Bürgern abgenommen. Ohne öffentliche Kontrolle, willkürlich, werden die Geschäfte des Staates verwaltet. Der Bürger hat nicht einmal mehr das Recht, zu fragen. Schon Zweifel ist ein Verbrechen, das bestraft wird. Der Bürger wird so behandelt, wie ein unvernünftiger Lehrer einen 235 kleinen Jungen behandelt. Nun weiß man aus der Pädagogik, daß blinder Gehorsam Verantwortlichkeit erstickt und allmählich eine pervertierte Lust am Gehorchen-einsetzt, die zum allgemeinen Masochismus führt. An den Grundlagen der Gesellschaftsordnung wird im faschistischen 240 Staat nichts geändert. Lesarten: 209 wirft?]? bs. c ergänzt; 212 ff. die in Amerika bis antraten] hs. b . [?] auf beigefügtem Zettel ergänzt; 217 Ländern.] folgt ((Rußland versucht es und)); 218 und Rußland versucht es] bs. b eingefügt; versucht es] folgt nach Absatz (Da ich ein Gast in diesem Lande bin und mich nicht in die politischen Verhältnisse dieses Landes einmischen darf, kann ich leider über diese Frage, die die amerikanische Welt so interessiert, nicht eingehend sprechen. Ich fasse zusam_.men:) folgt Demokratie etc.; 224 eines Mannes] folgt ((und die v)) [ms. durchstrichen]; 234 unvernünftiger] hs. c über ((reaktionärer)).

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Hitler nennt zwar sein System Nationalsozialismus, aber in Wirklichkeit wird der arbeitende Mensch rechtlos. Um nun dem Bürger einen Ersatz für die fehlende Verantwortlichkeit als aktiver Staatsbürger zu geben, wird er in Uniformen gesteckt und gedrillt. Er lernt, wie wir Jungen es unter Kaiser Wilhelm getan haben, daß der Tod auf dem Schlachtfelde tausendmal wertvoller ist, als ein friedliches Leben der Arbeit für die Allgemeinheit. Er wird auf den Krieg vorbereitet, und er wird ein Element der Unruhe und der Bedrohung für die übrige friedliche Welt. Da die Wirklichkeit ihm nicht genügt, und nicht genügen kann, verliert er sich, wie das Kind, in Träume. Eroberung von Ländern, Unterdrückung anderer Kulturen und Rassen sind sein Traum. Um diese Eroberungen vor seinem Gewissen zu rechtfertigen, muß er sagen, daß andere Länder und Rassen minderwertig sind. Darum hat er das Märchen von der auserlesenen arischen Rasse erfunden, die berufen ist, die Welt zu regieren. Darum hat er erklärt, daß die Juden, Neger und Franzosen moralisch verdorbene und verbrecherische Rassen sind. Die ernsthafte moderne Wissenschaft kennt keine arische Rasse. Selbst die heutige deutsche Wissenschaft muß noch zugeben, daß von einer deutschen Rasse überhaupt keine Rede sein kann. Der Heidelberger Universitätsprofessor Hermann Güntert gibt zu, daß die Wissenschaft als „Arier" lediglich die gemeinsamen unbekannten Vorfahren der Inder und Perser bezeichnet. Auch nur die Indogermanen „Arier" zu nennen — geschweige denn die Germanen, geschweige denn die Deutschen — ist von wissenschaftlichem Standpunkt aus (selbst vom wissenschaftlichen deutschen Standpunkt der Gegenwart aus) eine Willkür. Ja, der nationalsozialistische Professor Güntert muß sich auf die vorsichtige Erklärung beschränken, daß „nach dem h e u t i g e n S t a n d der F o r s c h u n g eine U r v e r w a n d t s c h a f t zwischen Indogermanisch und Semitisch trotz manchen auffallenden Einzelheiten nicht nachgewiesen z u s e i n s c h e i n t . " Auf deutsch: diese Verwandtschaft liegt durdiaus im Bereich der Möglichkeit. Selbst ein nationalsozialistischer Professor muß also, wenn er der Wahrheit dient, zugeben, daß sogar eine Verwandtschaft zwischen Deutschen und Juden möglich ist. Der französische Gelehrte M. Michel Honorat wies in seinem Buch „Über eine einheitliche Ursprache auf der Erde" an 8000 Worten der semitischen

Lesarten: 242 rechtlos] folgt ((und dem Profitstreben sind keine Grenzen gesetzt.)); vor Mensch am Rande Jos. c ((streichen)); 245 getan] gelernt.

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280 Sprache nach, daß sie mit den entsprechenden arischen Worten eine gemeinsame Wurzel haben. Aus der Vermischung einer aus Asien stammenden indogermanischen Gruppe mit einem ursprünglich aus Vorderasien stammenden, westeuropäischen Ableger und den von Asien herkommenden Jäger285 und Fischervölkern — entstanden in Nordosteuropa die Germanen. Aber selbst die „Indogermanen" waren nicht „reinrassig", als sie nach Europa kamen. Denn — abgesehen von dem Verdacht, daß sie mit den Juden verwandt sind — vermischten sie sich auf ihren Wanderungen mit anderen Gruppen. 290 Auch dieses Rassegemisch, aus dem die Germanen hervorgingen, hielt sich nicht „rassenrein", denn die Germanen mischten sich im ersten Jahrtausend vor Christi namentlich im heutigen Süddeutschland mit anderen Völkern. In hunderttausenden von Jahren, in denen die Menschen ein histo295 risdi nachweisbares Leben auf dieser Erde führen, haben sich alle Völker vielfach vermischt und gekreuzt. Landschaft und Sprache, Kultur und nationale Geschichte haben ihre physiologische Struktur und ihren Charakter modelliert. Am besten ist das in diesem menschlichen Schmelztiegel, Amerika, 300 zu sehen. Kein Rassegläubiger kann vor dem Forum ernster Wissenschaft bestehen. Das ist einer der Gründe, warum die freie Wissenschaft heute in Nazideutschland unterdrückt wird. Mit diesen falschen Rassetheorien werden die minderwertigsten 305 Leidenschaften des Menschen entfesselt und gerechtfertigt. Kein Volk ist ein Volk von Engeln. In jedem Volk leben moralisch Starke und moralisch Schwache, leben Edle und Unedle, soziale und asoziale Elemente. Niemand wird leugnen, daß die Juden keine Ausnahme machen. 310 Das Verbrecherische ist, die Juden, deren Rassereinheit ebenso zweifelhaft ist, wie die Rassereinheit aller anderen Völker, zu einem Volk von Parias zu degradieren und sie recht- und schutzlos zu machen. In einer Zeit, in der der Völkerbund die Rechte der Minderheiten feierlich garantiert hat, sind die Judenverfolgungen keine innenpoli315 tische Angelegenheit eines Staates, in die sich einzumischen andere Staaten kein Recht haben. Der Völkerbund hat nur dann einen Sinn, Lesarten: 295 alle Völker] alle hs. c über ((die)); 305 entfesselt] folgt ((und der freie Geist als staatsgefährlich verfemt.)) Ehe und gerechtfertigt hs. c eingefügt wird, wird und der freie Geist als staatsgefährlich verfemt hs. c korrigiert in ((Der freie Geist wird als staatsgefährlich verfemt.))

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wenn er über die Redite aller wacht. Es ist seine Aufgabe und seine Pflicht, Staaten, die die Grundrechte der Menschen, die Menschenrechte mißachten, zur Aufgabe dieser Verfolgung zu zwingen. Die JudenVerfolgungen sind eine Form des Krieges nach innen. Der Völkerbund befaßt sich mit den Fragen der Sklaverei und der Epidemien und er versucht, die Sklaverei auszumerzen und internationale Konventionen zur Verhütung von Epidemien zu schaffen. Da die Rassentheorie eine geistige lebensgefährliche und Leben gefährdende Epidemie ist, wäre es seine Aufgabe, dieser Epidemie vorzubeugen. Nein, Recht und Unrecht sind keine nationalen Fragen. Das Unrecht, das an einem Menschen begangen wird, ist ein Unrecht, das an der Menschheit begangen wird, und für das jeder verantwortlich ist. In meinem Heimatland sind mehr als hunderttausend Menschen in Zuchthäusern, Gefängnissen, und Konzentrationslagern eingekerkert aus keinem anderen Grunde, als weil sie an eine hellere und bessere Welt glauben, an eine Welt der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit. Sie sind eingekerkert und sie werden mißhandelt. Die öffentliche Meinung der Welt weiß es. Niemand darf schweigen. Ich appelliere an Sie, unermüdlich für die gefangenen Vorkämpfer der Freiheit und des Friedens zu wirken. Nun werden Sie mich fragen: was geht Sie das in Amerika an? Für diese Verrücktheiten und Tollheiten sind Sie nicht verantwortlich. "That can't happen here." Diese Frage, die Sinclair Lewis in seinem Buch zu beantworten versuchte, will ich hier nicht erörtern. Sie sind verantwortlich! Unsere Herzen müssen bluten, wenn wir an all das Elend denken, an das Leiden, an das stumme Martyrium von ungerecht verfolgten Menschen, die sich nicht verteidigen können. Menschen, die gehetzt, gemartert und ermordet werden wegen ihrer Meinung, ihres Glaubens, ihrer Rasse. Unser Herz muß bluten, wenn wir an die hilflosen Kinder denken, die erbarmungslos einem irrsinnigen Rassevorurteil geopfert werden. Wir müssen erkennen, daß wir alle durch diese Geschehnisse erniedrigt und bedroht werden, daß wir zusammenkommen müssen zu gemeinsamen Taten und gemeinsamer Verteidigung. Das ist ein Akt des Selbstschutzes. Die Nazipropaganda vergiftet nicht nur das deutsche Volk. Mit raffinierter List und immensen Geldmitteln schleudert sie ihre Gift-

Lesarten: 324 lebensgefährliche und Leben geführdende] hs. c eingefügt; 331 Grunde] Grund; 339 here] hs. c über ((hier)); 349 und bedroht] hs. c eingefügt; 350 Verteidigung] folgt hs. c ((Das verlangt)); 351 Das ist ein Akt des Selbst-

schutzes] hs. c eingefügt.

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bazillen in alle Länder und bereitet eine Weltepidemie geistiger Toll355 heit vor. Der Mensch als solcher ist bedroht. Die Grundlagen der Zivilisation sind bedroht. Es gibt Menschen, die das wissen und die, trotz aller politischen und religiösen Gegensätze gewillt sind, in einer gemeinsamen Abwehr360 front zusammenzuarbeiten. An diese Menschen appelliere ich und fordere sie auf, sich zusammenzuschließen, damit eine gemeinsame Aktion vorbereitet werden kann. Der Gegner, oder um das alte Wort zu gebrauchen, der „böse Feind" kämpft mit allen nur möglichen Waffen. Er beherrscht das 365 Radio, den Film, die Zeitungen, das Theater. Bewußte Lüge ist eine lobenswerte Waffe. Hitler schrieb in seinem Buch: „Je größer eine Lüge ist, um so leichter wird sie geglaubt." Heudielei ist eine andere Waffe. Die großen Ideale, für die die Besten der Menschheit gelebt und 370 gekämpft haben, werden verfälscht, und es wird ihnen eine fremde, entgegengesetzte Bedeutung unterschoben. Worte, die gestern noch der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit, dem Frieden dienten, sind heute die Waffen der Unmenschlichkeit, der Ungerechtigkeit und des Krieges. 375 Wo Lüge und Heuchelei nicht ausreichen, setzt der Terror ein. Die Diktaturen wollen einen Geisteszustand schaffen, in dem der Bürger sagt: „Hier stehe ich, ich kann auch anders." Können Sie sich vorstellen, daß einem offiziellen Bericht zufolge, in Bremen zwei Ehepaare zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden 380 sind, aus keinem anderen Grunde, als weil sie am Radio einen ausländischen Sender gehört haben. Mit diesem selben Ziel im Auge werden „Exempel statuiert", wie z.B. der deutsche Arbeiter Klaus, ein Kriegsbeschädigter, der hingerichtet wurde, nicht für eine verbrecherische Tat, sondern, wie der 385 Richter offen zugab, für eine Überzeugung, die nicht die Überzeugung der Herrschenden war. Lesarten: 377 auch anders."] folgt ((Für dieses Ziel werden die Bürger unter der Diktatur täglich bedroht.)); 386 der Herrschenden war] folgt nach Absatz: (Die Diktatoren wollen die Welt in ihren Reden und diplomatischen Noten glauben machen, daß sie den Frieden lieben. Aber warum verfolgen sie in ihrem eignen Lande die Freunde des Friedens und sperren sie ein? (Unter ihnen Carl von Ossietzky, der von bedeutenden Männern und Frauen aus allen Ländern für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden ist und Ernst Thälmann, den Millionen von Arbeitern verehren.) Warum geben die Diktatoren Millionen Pfunde für Aufrüstung aus? Man sollte nicht auf ihre schönen Worte, sondern auf ihre Taten achten.)

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Wir alle und besonders die, die die Schrecken des letzten Krieges gesehen und gespürt haben, hassen den Krieg und lieben den Frieden. Wir wissen, daß ein neuer Krieg das Ende der Zivilisation bedeuten 390 würde. Aber es ist nicht genug, den Frieden zu wollen. Man muß klar sagen, welchen Frieden man will und mit welchen Mitteln man ihn erreichen will. Nur der Friede ist erstrebenswert, der großen und kleinen Nationen in gleicher Weise erlaubt, nach ihren eigenen Ideen und Maßstäben zu leben. Vor allem setzt solch ein Friede innere 395 Freiheit und Gerechtigkeit voraus. Aber wenn eine Regierung dem eignen Volke gegenüber brutale Gewalt, Ungerechtigkeit und Unterdrückung walten läßt, muß man nicht annehmen, daß sie auch in ihrer Außenpolitik denselben Grundsätzen folgen wird? 400 Keine Regierung kann im eignen Lande Grundsätze mißachten, die sie nach außen preist. Der Diktator, der nach außen den Frieden preist, sollte auch alle Kriegspropaganda von den Schulen und Universitäten, aus den Zeitungen und Lehrbüchern verbannen. 405 Der Diktator, der den Friedensfreunden außerhalb seines Landes schmeichelt und die Freunde des Friedens wie Ossietzky, Thälmann und Mierendorff im eignen verfolgt und ins Gefängnis wirft, beweist damit nur, daß er den Frieden von heute dazu benützt, um den Krieg von morgen vorzubereiten. 410 Nationales und internationales Vertrauen beruht auf freier Selbstverantwortlichkeit des Volkes. Wer wahren Frieden wünscht, muß bereit sein, auch für den Frieden zu kämpfen. Wahrer Frieden verlangt heldenhafte Taten und Opfer. Kein Pazifist wird das bestreiten wollen. 415 Wir sind mitten in einem Kreuzzug gegen den Geist, gegen das menschliche Gewissen. Wir müssen eine Entscheidung treffen. Generationen um Generationen haben jahrhundertelang für die geistige Freiheit des Menschen gekämpft. Märtyrer haben für dieses Ideal gelitten und sind dafür gestorben. Lesarten: 406 wie Oss.[ietzky] u. Thälmann u. Mierendorff] hs. c eingefügt; 410 beruht auf] beruht ((dar))auf; 413 zu kämpfen] folgt hs. c zwischen den Zeilen und am Rande (Die Demokratien haben heute die Pflicht sich zu verteidieen. ((Die Diktatoren)) [darüber ((Hitler))] rechne((n))t mit dem kurzen Gedächtnis der Menschen. ((Sie)) [darüber Er] ((haben)) war((en)) es, ((die das)) der dadurch, daß er Deutschland ein Kriegsl); 413 verlangt] folgt ((,mehr noch als der Krieg,)); 414 Kein Pazifist] Kein ((wahrer)) Pazifist. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 6. Bd.

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Heute ist es unsere Pflicht, diesen kostbarsten Besitz der Menschheit zu verteidigen.

Ich habe gesagt, daß eine gemeinsame Kampffront geschaffen werden sollte, in der sich alle die zusammenfinden, die über alle religiösen und politischen Differenzen hinaus gewillt sind, die Zivilisation zu 425 verteidigen. Wir einzelnen mögen nach verschiedenen Zielen streben, mögen verschiedenen religiösen und politischen Richtungen angehören, aber in der Stunde drohender Gefahr sind diese Unterschiede unbedeutend. Wir werden wieder für unsere speziellen Ziele kämpfen, wenn es uns 430 gemeinsam gelungen ist, die Grundlage zu stärken, die unser Leben erst lebenswert macht: geistige Freiheit und Selbstverantwortlichkeit. Denn heute kommt wieder der Schrei zu uns: die Barbaren sind an den Toren! Wir sind alle bedroht, ohne Ausnahme! Von der verantwortlichen Entscheidung jedes Einzelnen hängt das Schicksal unserer 435 Zeit ab. Tua res agitur! Deine Sache wird verhandelt!

[Fassung A] Sind w i r v e r a n t w o r t l i c h für unsere Zeit? (Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Menschen sehr stolz sind auf die Errungenschaften der modernen Technik. Wir überwinden den Raum durch Flugzeuge und das Radio. Es erscheint uns „natür5 lieh" und gewohnt, den Hörer vom Telefon zu nehmen und mit Freunden in Afrika, Australien und Japan zu sprechen. Ja, Mr. Smith ist sogar fähig, Mr. Brown, der tausende von Meilen entfernt am anderen Ende des Telefons steht, zu sehen. Mit einem Griff am Hebel erhellen wir die Finsternis der mo10 dernen Riesenstädte durch das Edison'sche Wunder des elektrischen Lichtes. Ein Mensch, der auf dem Mars lebt und uns Erdenbewohner beobachtet, müßte annehmen, daß parallel zur Entwicklung der Technik Lesarten: 433 an den Toren] folgt ((Europas! und)); Wir sind alle] Wir hs. c korrigiert aus wir; ohne Ausnahme!] folgt ((und)) von; Von der verantwortlichen] Von hs. c korrigiert aus von; 434 Entscheidung] folgt ((eines)); 435 Tua res bis verhandelt!] hs. c eingefügt. Lesarten: 10 Wunder des] folgt

((Radios)) ms. durchstrichen.

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auch die Finsternis des menschlichen Geistes durch die Erleuchtung der 15 Weisheit überwunden würde. Leider ist das nicht der Fall. Es ist eine Binsenwahrheit, daß Millionen heutiger Menschen in allen Lebensfragen nicht viel weiter sind als ihre Urgroßväter es waren. Elektrizität, Television, Radio, Relativitätslehre usw. sind zwar 20 Worte, die fast jeder kennt und über die fast jeder spricht, aber nur ein kleiner Kreis von Spezialisten versteht ihren Sinn. Mit anderen Worten: man gewöhnt sich an die Errungenschaften der Technik, aber man begreift ihre Methoden nicht. Diese ungeheure Spanne zwischen technischem Fortschritt und rück25 ständigem Geist, führt Tausende dazu, das, was sie den Sinn des Lebens nennen, in abergläubischen Lehren, in Spiritismus, Astrologie, Mystizismus, Rassenideologie, Okkultismus usw. zu suchen. Die alten Römer fanden die Weisheit in den Eingeweiden von geschlachteten Tieren. Gänse wurden von ihnen heilig gesprochen. Die 30 Gänse von heute hören auf die Prophezeiungen von Hitler in Deutschland, von Mussolini in Italien — und einige sogar von Aimee Macpherson in Los Angeles. Der Unterschied zwischen politischem und religiösem Aberglauben und Erkenntnis ist der, daß Erkenntnis das Wissen komplizierter 35 Fakten notwendig macht, also strenge und verantwortliche Arbeit voraussetzt: Man hat die Schlußfolgerungen selber zu finden. Während der Aberglaube das Weltbild vereinfacht und die eigne Verantwortung aufhebt: Man bekommt das fertige Resultat geliefert.) Im allgemeinen fürchten die Menschen die Wahrheit. Jede Wahrheit, 40 die wir in der Natur oder in der Gesellschaft entdecken, ((stellt die Forderung, daß man sich mit ihr auseinandersetzt. Sie)) zerstört die Krücken, auf die wir uns bisher gestützt haben. Am meisten aber fürchten die Menschen Wahrheiten, die Weise entdeckt haben, zu verwirklichen und zwar aus zwei Gründen: 1. müssen viele die errun45 genen traditionellen Machtpositionen aufgeben und alle Gewohnheiten, ohne die sie sich ihr Leben bisher nicht denken konnten. Als im alten Griechenland der Philosoph Sokrates die Autorität der Priesterkaste anzweifelte und die Vernunft zum höchsten Gebot erhob, mußte er diese Kühnheit mit dem Tode bezahlen. Lesarten: 16 Binsenwahrheit] Wahrheit bs. b über ((weisheit)); 34 das Wissen] hs. c über ((die Erkenntnis)); 39 Im allgemeinen] am Rande bs. c Hier anfangen darüber hs. a Anfang; 42 wir uns bisher gestützt haben] wir uns hs. c über ((man sich)); haben] hs. c aus hat korrigiert; gestützt haben] folgt hs. a Am meisten aber; 42 ff. Am meisten bis nicht denken konnten] ms. auf einem Zettel ergänzt. 19*

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